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Das Buch Dr. Laura Aldridge, eine junge Psychologieprofessorin an der HarvardUniversität, traut ihren Ohren kaum, als sie von der Gray Corporation, einem mächtigen, weltweit operierenden Konzern für Kommunikations technik, das unglaubliche Angebot einer siebenstelligen Summe für eine einwöchige Beratertätigkeit erhält. Sie ist skeptisch und würde das Ange bot nicht akzeptieren, wenn es nicht die Unterschrift des ComputerErfinders und Konzernchefs Joseph Gray trüge, der einen Ruf als gleich wohl umstrittenes wie geheimnisumwobenes Genie besitzt. Gray hat ein Problem: der von ihm erfundene riesige Neurocomputer, die Basis seiner Macht, der von einer Südseeinsel aus die weitgespannten Aktivitäten sei nes Firmenimperiums bis ins Kleinste kontrolliert, zeigt eine bedenkliche Neigung zu Fehlern. Und da der Computer nach der Analogie menschli chen Denkvermögens arbeitet, ist nicht nur der Techniker gefragt, sondern auch eine Psychologin. Eile ist gefragt, denn die Fehlerquote des Compu ters steigt täglich. Gleichzeitig verdichtet sich eine Gefahr, die der Erde und der Menschheit aus dem Weltraum droht und nur mit Hilfe des Com puters bekämpft werden kann. Im virtuellen Raum gelingt es Laura, eine Beziehung zum Computer herzustellen, doch gleichzeitig führt sie diese Erfahrung an die Grenze des menschlichen Denkvermögens… Der Autor Eric L. Harry wurde 1958 in Ocean Springs, Mississippi, geboren. Vor seiner Tätigkeit als Schriftsteller machte er Karriere als Anwalt und Exper te für Militärfragen. Eric L. Harry und seine aus Moskau stammende Frau Marina leben mit ihren beiden Söhnen in Houston, Texas. Bereits im Hey ne Verlag erschienen: Gegenschlag (01/13.441) Kampfzone (01/13.567) Invasion (01/13.671)
ERIC L.HARRY
AUSSER KONTROLLE
Roman Aus dem Amerikanischen von Christel Wiemken
WILHELM HEYNE VERLAG MÜNCHEN
Widmung Ich widme dieses Buch meinen Eltern, denen ich weitaus mehr verdanke, als sich je in Worte fassen ließe.
Danksagungen Mein aufrichtiger Dank gilt meiner wunderbaren Frau Marina, ohne deren Redigieren, unermüdliche Unterstützung und Ermutigung dieser Roman nicht geschrieben worden wäre; meiner ebenso unermüdlichen und loyalen Agentin Nancy Coffey sowie Bob Thixton, Dick Duane, Jean Free und all den anderen bei Joy Garon-Brooke Associates, die die Geduld aufbrachten, sich mit mir abzugeben. Ich danke auch meinen Lektoren bei HarperCol lins, Vizepräsidentin und stellvertretende Verlagsleiterin Gladys Justin Carr und Elissa Altman. Sie erteilten mir nicht nur unendlich wertvolle redaktionelle Ratschläge – es war ein Vergnügen, mit ihnen zu arbeiten. Dank schulde ich außerdem den viele großen Denkern, deren Werke ich voller Ehrfurcht gelesen habe: Daniel C. Dennett, Direktor des Center for Cognitive Studies an der Tufts Unversity und Autor von »Consciousness Explained«, der das scheinbar Unentzifferbare entzifferte; Marvin Minsky, Mitbegründer des Artificial Intelligence Laboratory am Massachusetts Institute of Technology, dessen grundlegender Sammlung von Aufsätzen unter dem Titel »The Society of Mind« ich weitaus mehr verdanke als offensichtlich ist; und dem Visionär Hans Morevac, Direktor des Mobile Robot Laboratory an der Carnegie Mellon University für die profunden Träume und Albträume von »Mind Children: The Future of Robot and Human Intelligence«. Und schließlich ein dankbares Gedenken an Jay Garon, dem es immer wieder gelang, den literarischen Karrieren der noch Unveröffentlichten Leben einzuhauchen.
1. KAPITEL Neuronales Netz: Ein Geflecht aus eng verknüpften Prozessoren oder »Neuronen«. den Strukturen des tierischen Gehirns nachgebildet. Infolge der ständi gen Kommunikation zwischen den individuellen Neuro nen ist ein neuronales Netz im Stande, seine Leis tungsfähigkeit durch Erfahrung zu steigern. Auch neuronaler Computer genannt. »Dr. Aldridge?«, fragte der Bote, der den Brief überbrachte. Es klebte keine Briefmarke auf dem luxuriös dicken Papier, dort stand nur »Dr. Laura Aldridge, Harvard Psychology Department« in schwarzen Druck buchstaben. Als sie aufschaute, war der Mann verschwunden. Lauras Hörsaal summte in Erwartung der per Roboter gesteuerten Ope ration. Aber noch füllten farbige Teststreifen den hochauflösenden Bild schirm, und Laura nutzte die Zeit, um den Brief zu öffnen. »Liebe Frau Dr. Aldridge«, begann er – die Schrift kühn, schwarz und schwungvoll. »Ich möchte Sie gern für eine Woche als Beraterin engagie ren. Heute Abend um 22 Uhr wird auf dem Landeplatz für Privatflugzeuge am Logan Airport eine Maschine bereitstehen, um Sie zur Zentrale meiner Firma zu bringen. Das Honorar beträgt eine Million Dollar (U.S.). Danke für die Prüfung meines Angebots.« Die Unterschrift lautete »Joseph Gray« – die Buchstaben seines Namens unbehindert von dem »Ihr sehr ergebener« darüber. Joseph Gray – der reichste Mann der Welt. Laura las den Brief ein zweites und ein drittes Mal, mit offenem Mund. Eine Million Dollar! dachte sie und versuchte zu begreifen, was ihr da eben ausgehändigt worden war. Joseph Gray? Das konnte doch nur ein Witz sein. Eine Million Dollar für eine Woche! Sie rieb den Bogen zwi schen den Fingern, bestaunte die Qualität des Briefpapiers. Bestaunte die Handschrift; jeder Buchstabe war klar und leserlich, es gab keinerlei An zeichen für Unentschlossenheit. Alles schien perfekt und in Ordnung. Nur die Unterschrift fiel aus dem Rahmen. Der Name – »Joseph Gray« – 11
war in steilen Spitzkurven hingehauen, wobei die Buchstaben J und G weit über den Rest hinausragten. Es war kein Name, dachte Laura, sondern ein Zeichen – der kühne Schriftzug eines Mannes mit einem Ego, das seiner Berühmtheit entsprach. Von ihren Studenten kam ein kollektives Aufstöhnen. Viele hatten eine Hand vor den Mund geschlagen oder den Blick abgewendet. Laura drehte sich zum Podium des kleinen Amphitheaters um und sah, dass sich der große Schirm in zwei nebeneinander stehende Bilder geteilt hatte. Rechts saß ein Chirurg an einem Computer-Terminal. Links hielt der Arm eines Roboters einen Elektrostimulator zwei Zentimeter über der glänzenden Oberfläche der Hirnrinde des Patienten. Das Bild des freigelegten Gehirns verwandelte sich in eine Nahaufnahme, und die jungen Studenten keuch ten und stöhnten. »Es wird kein Blut fließen«, sagte Laura, um sie zu beruhigen. »Der Chi rurg versucht, den genauen Ansatzpunkt für den Einschnitt zu lokalisieren, indem er die Reaktionen des Patienten auf die Stimulation bestimmter Hirnabschnitte testet.« »Es geht los, Doug«, kam die Stimme des Chirurgen über den Fernseh lautsprecher. Unter dem kristallklaren Bild eines Mannes im weißen Kit tel, der auf seinen Computermonitor schaute, erschienen die Worte »Johns Hopkins, Baltimore«. Unter dem erstaunlich scharfen Bild der runzligen grauen Masse auf der linken Seite des Bildschirms stand »Cedar Sinai, Los Angeles«. Unmittelbar darunter stand die Internet-Adresse des Kanals, auf dem sie den Eingriff sahen. Das menschliche Gehirn lag entblößt unter dem wartenden Roboterarm und war von hellgrünem Operationstuch umgeben. »Wir beginnen mit der Stimulation«, sagte der Chirurg in seinem Tausende von Meilen entfernten Arbeitsraum. »Und jetzt möchte ich, dass du mir sagst, was du siehst, hörst, fühlst, schmeckst, riechst, woran du dich erinnerst und so weiter. Sag mir einfach, so gut du kannst, was die Stimulation bewirkt.« Laura legte den Brief aufs Podium und versuchte, sich auf ihre Lektion zu konzentrieren. »Der Chirurg auf der rechten Seite«, sagte sie – dann räusperte sie sich und hob die Stimme, um die Studenten auf sich auf merksam zu machen – »arbeitet im Johns Hopkins Medical Center in Bal 12
timore. Der Patient«, fügte sie hinzu, wobei sie ihren Laserzeiger auf die linke Bildhälfte richtete, »ist ein neunzehnjähriger junger Mann mit schwerer Epilepsie.« Ein pfeilförmiger Cursor, erzeugt von den in den Fernseher eingebauten Mikroprozessoren, folgte ihrem Laserpointer zu dem hell beleuchteten Loch im Schädel des Mannes. »Er befindet sich im Cedar Sinai Hospital in Los Angeles. Ziel dieser Operation per Telerobo ter ist die Durchtrennung des Corpus callosum an der Basis der Längsfur che zwischen den beiden Hirnhälften. Kann mir jemand sagen, welche Funktion das Corpus callosum hat?« »Es vermittelt Daten zwischen den beiden Gehirnhälften«, antwortete ein Mädchen. »Das Corpus callosum«, dozierte Laura vom Zentrum der »Schüssel« zwischen den steil gestaffelten Sitzreihen aus, »ist das Hauptinstrument der Kommunikation zwischen den beiden zerebralen Hemisphären – der rechten und linken Hirnhälfte. Daneben gibt es aber noch zahlreiche weite re Relaisstellen.« »Warum machen sie das mit dem Mann?«, fragte ein anderer Student mit einem Zittern in der Stimme. Der Studienanfänger klang, als würde von ihm verlangt, einer rituellen Verstümmelung beizuwohnen. »In bestimmten Fällen schwerer Epilepsie«, entgegnete Laura, »kann der radikale Eingriff des Durchtrennens des Corpus callosum verhindern, dass ein Anfall, der in einer Gehirnhälfte beginnt, auf die andere überspringt. Wir haben bereits darüber gesprochen, dass im menschlichen Gehirn ein hohes Maß an Interaktion stattfindet. Das durch einen epileptischen Anfall verursachte ›Gewitter‹ aus elektrochemischen Störungen wird rasch an andere Gehirnzellen weitergeleitet, wo es weitere Störungen auslöst und einen schweren Anfall bewirkt. Dieser Patient hat sein Leben damit ver bracht, von einem grand mal ins nächste zu verfallen. Er ist bereit, ein gespaltenes Gehirn in Kauf zu nehmen, wenn er dann keine Anfälle mehr hat.« Der Gesichtsausdruck ihrer Studenten reichte von stillem Ekel bis zu of fenkundigem Abscheu. Eine junge Frau hatte ihre Bücher aufgestapelt und sich so weggedreht, dass sie den Bildschirm überhaupt nicht mehr sehen konnte. 13
»Ich weiß, dass dies nicht auf dem Lehrplan für heute gestanden hat«, erklärte Laura, »und ich entschuldige mich dafür, dass ich Sie nicht besser darauf vorbereitet habe. Aber wir haben erst gestern Abend erfahren, dass dieses Angebot im Web verfügbar sein würde. Es mag Ihnen grässlich vorkommen, aber ich bin sicher, dass es für Sie sehr lehrreich sein wird. Ich möchte, dass Sie diesen Eingriff verfolgen, weil er die seltene Gele genheit beinhaltet, eine direkte Interaktion mit einem menschlichen Gehirn zu beobachten, und nicht die indirekte durch die normalen Sinne des Pati enten. Das Labor der Natur hat uns diese Chance gegeben, und wir als Wissenschaftler müssen nehmen, was uns geboten wird.« Jemand murmelte etwas; eine witzige Bemerkung, die unter den Studen ten nervöses Gekicher auslöste. »Also, Doug, kannst du mich gut hören?«, fragte der Chirurg. »Ja«, erwiderte der junge Mann – die Szene auf der rechten Seite erwei terte sich kurz zu einem größeren Ausschnitt aus dem Operationsraum. Die Studenten stöhnten, als sie das Gesicht und den geschorenen Kopf des Patienten aus dem hellgrünen Tuch herausragen sahen. Das Bild kehr te rasch zur Nahaufnahme der Hirnoberfläche zurück. »Heißt das etwa, dass sie dem Mann das Gehirn aufschneiden wollen, während er wach ist?«, fragte einer der Studenten fassungslos. »Er wird narkotisiert, sobald sie den Weg hinein gefunden haben. Aber sie mussten ihn bei Bewusstsein halten, damit er sagen kann, was er bei der Stimulation empfindet.« »Okay, Doug«, sagte der Chirurg. »Das Programm ist eingeschaltet und läuft.« »Ich fühle überhaupt nichts«, kam die Antwort des Patienten. Seine Stimme zitterte, als der Roboterarm, der die Nadel hielt, sich auf die Ober fläche seines Gehirns herabsenkte und im Näherkommen langsamer wur de. Der Arzt auf der rechten Hälfte des geteilten Bildschirms lehnte sich mit einem Notizblock zurück und beobachtete den Monitor. »Oh, wow!«, rief der junge Mann plötzlich. »Six-oh-six-oh-eightfour-too! sang er. »I been waitin’ for you! Dial the number… and call. Da-da-da-da-da-da-dada-da-da-da-da-da-da-da-da. Get no… answer at all! Da-da-da-da-da-dada-da-da-da-dada-da-da-da-da.« 14
»Ist das ein Song?«, unterbrach ihn der Chirurg, und der Elektrostimula tor hob sich ein paar Millimeter. »Ja! Die B-52s!«, sagte der Junge. »Mein Dad hat sie sich ständig ange hört.« »Und du kannst ihn hören, wenn wir genau diese Stelle hier stimulie ren?« Der Chirurg tippte in seinem Büro in Maryland etwas auf seine Tastatur, und in Kalifornien senkte sich der Arm des Roboters. »Wow! Da ist es wieder. Als ob es in meinem Kopf gespielt würde!« »Du brauchst nicht zu schreien.« »Entschuldigung.« »Der Patient hat ein Erinnerungserlebnis«, erklärte Laura. »Er erinnert sich an einen Song. Wenn wir eine alte CD mit diesem Song finden, kön nen wir später die Aufzeichnung des Gesangs des Patienten mit der CD vergleichen. Wir werden vermutlich feststellen, dass sie mit dem Original so synchron ist, als hätte er Kopfhörer auf und begleite die Musik mit seinem Gesang.« »Purpur«, sagte der Junge im Operationsraum. »Siehst du etwas?«, fragte der Arzt. »Was ist purpurn?« »Nichts. Nur Purpur. Das ist alles. Die Farbe Purpur.« »Zu Farben kommen wir später im Semester«, warf Laura ein. »Im Au genblick brauchen Sie sich nur an das zu erinnern, was der Patient erlebt. Er sieht und meldet ›Purpur‹, aber es ist nicht irgendein Gegenstand, der purpurn ist. Es ist einfach die Farbe, die er erlebt. Ihre Aufgabe für die nächste Vorlesung ist, sich eine purpurne Kuh vorzustellen. Schließen Sie die Augen und stellen Sie sie sich so detailliert wie möglich vor. Stellen Sie sich ihre Augen vor, ihre Ohren, ihre Hufe, alles. Und dann, wenn Sie das getan haben, denken Sie über folgendes nach. Haben Sie die Farbe Purpur ›gesehen‹ oder haben Sie einfach Purpur ›gedacht‹? Wenn Sie die Farbe nicht ›gesehen‹ haben – was hat dann die Kuh purpurn gemacht?« Erst nachdem Laura die Aufgabe gestellt hatte, wurde ihr bewusst, dass bei der Satellitenübertragung der Operation kein Ton zu hören war. Der Arzt lehnte sich angespannt auf seinem Stuhl vor. Auf dem anderen Bild ruhte die stumpfe Spitze des Elektrostimulators locker auf der glänzenden Hirnrinde, aber der Patient sagte nichts. 15
»Doug?«, rief der Arzt, rückte seine Brille zurecht und rutschte nervös auf seinem Stuhl herum. »Was fühlst du jetzt, Doug? Irgendetwas?« Es kam keine Antwort. »Doug, du musst mit mir reden. Was ist los? Ist es eine Erinnerung?« »Ich will nicht darüber sprechen.« »Junge, du musst es…« »Nehmen Sie das Ding von meinem Kopf!« Das Tuch um den Einschnitt wackelte. Die Kamera schwenkte wieder über den Operationssaal. Zwei Schwestern in hellgrünen Kitteln und mit Gesichtsmasken eilten an die Seiten des Patienten, dessen Hände an den schwarzen Nylonfesseln zerr ten. »Aufhören! Aufhören!«, schrie Doug, aber als die Kamera wieder eine Naheinstellung zeigte, übte der Roboterarm immer noch einen stetigen Druck der Nadel auf das Gehirn aus. »Was passiert da?«, fragte eine von Lauras Studentinnen mit zitternder Stimme und einem Ausdruck des Grauens im Gesicht. »Der verdammte Computer zwingt ihn, sich an etwas zu erinnern, woran er sich nicht erinnern will!«, antwortete ein anderer Student. »Doug«, sagte der Chirurg ganz ruhig von seiner rechten Bildschirmhälf te aus, »wenn du willst, kann ich versuchen, das auszumerzen, was immer dir zu schaffen macht. Eine etwas stärkere Stimulation der Stelle, und ich kann wahrscheinlich…« »Lassen Sie mich in Ruhe! Ich habe gesagt, Sie sollen aufhören! Und zwar sofort!« »Okay, okay, beruhige dich.« Der Arzt tippte etwas ein. Doch trotzdem drückte der Roboterarm den Stimulator nach wie vor herunter. Doug schrie immer noch. »Aufhören! Bitte, aufhören!«, kreischte er und begann zu weinen. »Tun Sie das nicht mehr! Bitte, bitte, zwingen Sie mich nicht…!« Farbige Teststreifen traten an die Stelle des Bildes der zuckenden, zu nehmend spasmodischen Bewegungen des epileptischen Jungen und des Roboterarms, der den Elektrostimulator nach wie vor sorgfältig und voll kommen still an seiner vorprogrammierten Stelle hielt.
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Laura schloß die Tür ihres Büros und strebte mit Grays Brief direkt auf ihren Stuhl zu. Hinter ihr flog die Tür wieder auf, und sie fuhr erschrocken zusammen. »Du siehst aus, als hättest du ein Gespenst gesehen«, sagte Jonathan Sanders, ihr Büronachbar und bester Freund, als er hereinschlenderte und es sich auf dem Sofa gegenüber ihrem Schreibtisch bequem machte. Laura ließ sich auf ihren Stuhl sinken, holte mühsam Luft und versuchte, ihr heftig klopfendes Herz zu beruhigen. »Also«, begann Jonathan in ent schuldigendem Ton,» deine Sekretärin hat mir von der Flut von E-Mails erzählt, die du übers Wochenende von liebeskranken Akademikern aus allen Ecken und Enden unserer feinen Institution bekommen hast. Tut mir Leid, dass ich diese Profilgeschichte gemacht habe. War etwas Ernsthaftes dabei?« Sie schüttelte den Kopf. »Es tut mir wirklich Leid, Laura«, fuhr Jonathan fort. »Es war nur ein Witz. Ich dachte, es würde dir Spaß machen. Das Programm hatte so einen hübschen Namen – ›Rate Your Mate‹. Irgendein Doktorand drüben am MIT hat es ins Netz der Universität gestellt. Es ist ein Renner, aber es tut mir trotzdem Leid.« Laura sah ihn an und nickte, aber sie wünschte sich, er würde sie allein lassen, damit sie nachdenken konnte. »Aber wer weiß?«, sagte Jonathan und kehrte zu seinen üblichen Spötte leien zurück. »Vielleicht findest du irgendwo dort draußen im Cyberspace den wahren Seelenfreund. Oder, was wahrscheinlicher ist, er findet dich an irgendeinem einsamen Abend, während du im Netz surfst.« »Jonathan, ich bin jetzt nicht in der Stimmung für so was, okay?« »Tatsächlich? Ich dachte, du wärst völlig hin und weg. Du solltest dir deine Vorzüge ansehen. Sie sind wirklich erstklassig. Aber ich mache mir immer noch Gedanken wegen des Namens, den ich für dich benutzt habe – ›Blond Bomber‹. Was hältst du davon? Ich hatte an ›Skinny Minnie‹ gedacht, habe mich dann aber dafür entschieden, dein Haar hervorzuhe ben, weil eine Menge von den Heteros immer noch auf Brüste abfährt. Was mich betrifft, so habe ich natürlich überhaupt kein Verständnis dafür. Ein großer Busen läßt Frauen so matronenhaft aussehen…« 17
Laura schaute von ihrem Brief auf, sah aber nicht Jonathan an. Kann das denn möglich sein?, fragte sie sich. »… aber als ich deine Beschreibung eingab – einsachtundsechzig, schlank, athletisch, blonde Haare, blaue Augen, makelloser Teint –, da hat das Programm dich in die erste Kategorie eingeordnet. ›Klassefrau‹ heißt sie, glaube ich. Wenn nur deine Persönlichkeit nicht so beängstigend wäre – deine akademischen Grade, was dich anmacht und was dir zuwider ist, Dinge dieser Art. Und wenn deine Brüste vielleicht etwas größer wären – dann hättest du bestimmt diese Kosmetikerin aus Brookline vom ersten Platz verdrängt.« »Jonathan! Das ist jetzt wirklich nicht der richtige Moment dafür.« »Ich habe doch nur eine Beschreibung geliefert! Und ich dachte, die Sa che mit der ›Persönlichkeit‹ würde besser herauskommen, als es dann der Fall war. Ich habe gesagt, du wärest ›gefühlvoll‹, und auf die Frage, wel che Art von Mann du bevorzugst, habe ich ›verlorene Seele‹ eingetragen.« Laura funkelte ihn an. »Für die Bezeichnung ›kastrierendes Biest‹ bin ich nicht verantwortlich, Laura. Ich habe nur die Daten eingegeben! Ich habe das Ding nicht programmiert, Schlüsse zu ziehen!« Sie seufzte frustriert. Was Jonathan nicht wusste, war, dass sie am ver gangenen Freitag, nachdem er ihr vom Ausfüllen des elektronischen Fra gebogens erzählt hatte, ihre Beschreibung im Netz gefunden hatte. Übers Wochenende hatten sich Tausende von E-Mails in ihren ComputerBriefkasten ergossen. Ein ziemlich großer Teil von denen, die sie gelesen hatte, bevor sie sie allesamt löschte, hatten sich in drastischer Weise über sexuelle Akte ausgelassen, vom harmlos Widerwärtigen bis hin zum wirk lich Rührenden. Einige hatten sogar Fotos oder Videos angehängt und sie gebeten, sich mit einem Aktfoto oder einem eigenen Videoclip zu revan chieren. Die ganze Sache hatte Laura zu schaffen gemacht, und im Laufe des Wochenendes hatte sie vergeblich versucht, die düstere Stimmung abzu schütteln. Anfangs hatte sie gedacht, es wäre einfach das unsaubere Ge fühl, Zielscheibe von so viel Obszönität zu sein, die Nähe zu den widerlich grapschenden Händen des Internets. Aber am Sonntagabend, nachdem sie Hunderte von neuen E-Mails gelöscht hatte, die im Laufe des Tages ein 18
gegangen waren, hatte sie sich noch einmal die Beschreibung angesehen, die Jonathan verfasst hatte, und den wahren Grund für ihren Unmut begrif fen. Alles, was er über sie gesagt hatte, entsprach der Wahrheit. Tränen waren geflossen, als sie zu Hause vor ihrem Computer saß. Eines der Din ge, auf denen Lauras Freundschaft mit Jonathan gründete, war seine ans Wunderbare grenzende Fähigkeit des Wahrnehmens und Verstehens. Aber mit genau dieser Fähigkeit hatte er jetzt ihre Seele vor aller Welt seziert. Es machte ihr nichts aus, dass ein von irgendeinem pickligen Doktoranden geschriebenes Programm sie zu einem »kastrierenden Biest« erklärt hatte. Was Laura zu schaffen machte, war, dass ihr Jonathans Beschreibung der wahren Laura gefiel. Sie wollte genau so sein wie in der Beschreibung – und sie war tatsächlich so. Das Problem war, dass es da draußen aber of fenbar niemanden gab – weder in ihrem Leben noch in den Hunderten von E-Mails, der diese Person zu mögen schien. »Es tut mir wirklich Leid!«, sagte Jonathan zerknirscht, und Laura kehrte mit Tränen in den Augen in die Gegenwart zurück. »Du hast meine Web-Adresse eingegeben, Jonathan! Ich habe Tausende von Nachrichten aus aller Welt bekommen, ein Teil davon total obszön.« »Oh… Darf ich die lesen?« »Wenn du schon auf billige sexuelle Reize aus bist – weshalb hast du dann nicht eine Beschreibung von dir selbst geliefert?« Er schnitt eine Grimasse. »Wer würde einem dickbäuchigen, schwulen Professor mittleren Alters schon pornographische Briefe schreiben?« »Jonathan, bitte. Mir geht eine Menge in Kopf herum.« Sie warf ihm den Brief über den Schreibtisch hinweg zu. »Hier, lies das.« »Ich dachte schon, du würdest mich nie dazu auffordern«, sagte er und schnappte sich das Schreiben interessiert. »Weißt du etwas von dem Brief?« »Ich weiß, dass ein prachtvoller junger Mann ihn gebracht hat. Er hat mich gefragt, wo er dich finden könnte, und ich…« Jonathan verstummte, und seine Brauen hoben sich, als er den Brief las. »Donnerwetter! Ich glaube, hier haben wir alle Voraussetzungen für ein echtes moralisches Dilemma.« Laura sank auf ihrem Stuhl zusammen. »Wovon redest du?« 19
»Also, überlegen wir mal.« Jonathan schaute zur Zimmerdecke empor. »Böser reicher Einsiedler«, sagte er nachdenklich, mit ausgestrecktem Finger, als zeigte er auf die Worte, die er sprach, »dicht an der Grenze zu abnormem Verhalten.« Sein Finger kehrte zu seinem Mund zurück. »Weil sie wissen, dass er dringend psychotherapeutischer Behandlung bedarf, schauen sich seine ›Leute‹ in der Psychologischen Fakultät von Harvard um. Eifrige Adjutanten finden eine gutaussehende junge Psychologin, die für eine Woche voller Spaß und Analyse auf Grays Insel im Südpazifik fliegen soll. Aber sie haben keine Ahnung, dass zwischen Psychologie und Psychiatrie ein Riesenunterschied besteht und dass sich die hübsche junge Frau, für die sie sich entschieden haben, nicht in der realen Welt des Hei lens zu Hause ist, sondern in den niederen Regionen der geheimnisumwit terten Erforschung des Bewusstseins, der Persönlichkeit und anderer ima ginärer Schöpfungen animalischer Gehirne.« Laura rieb sich die Augen. »Ich glaube, du wirst auf deine alten Tage noch zu einem ziemlich gemeinen Kerl, Jonathan.« »Aber eine Million Dollar«, sagte er träumerisch, unbeirrt. »Was man mit einer Million Dollar alles anfangen könnte! Man könnte zum Beispiel eine Untersuchung finanzieren, um herauszufinden, ob Blattläuse imstande sind, eine wirklich menschengleiche Vorliebe für Coca-Cola zu entwi ckeln. Oder vielleicht… ob ein Toaster wirklich ›Scham‹ empfindet, wenn er das Brot verbrennt.« »Ich werde das Angebot nicht annehmen«, sagte Laura, fassungslos, dass er es ernsthaft in Erwägung zog. »Aber warum denn nicht? Eine Woche oder so in deinen liebevollen Händen – dazu diese warme, tropische Luft«, er warf den Kopf zurück und fuhr mit den Fingern durch das sich lichtende, ergrauende Haar, »und dein Patient wird so gut aufgelegt sein wie ein Schuljunge! Du brauchst nur ein paar Fragen über seine Kindheit zu stellen, ein bißchen psychiatrisches Abrakadabra zu murmeln und dann seinen Arzt dazu zu bringen, dass er ihm Prozac verschreibt!« Mit schwer auf dem Schreibtisch ruhenden Armen warf Laura Jonathan einen wütenden Blick zu, dann drückte sie ihr Gesicht in die Ellenbeuge und stöhnte. 20
»Nein«, sagte er, jetzt in einem weniger scherzhaften Ton. »Das sollte kein Witz sein.« »Du meinst wirklich, ich sollte diesen Job annehmen?«, fragte sie und sah erstaunt auf. »Warum nicht? Er braucht das Geld nicht. Er ist der reichste Mann der Welt! Ich würde zehn Millionen verlangen. Was bedeutet das schon für ihn? Wie es heißt, besitzt er jetzt, da er den Fernsehmarkt dank der neuen Gerätetechnik beherrscht, an die siebzig oder achtzig Milliarden. Außer dem« – Jonathan lehnte sich vor und sprach mit gespieltem Ernst – »ist es ein Hilfeschrei. Schließlich ist er trotz allem auch nur ein Mensch.« »Ich kann nicht für jemanden wie Joseph Gray arbeiten.« »A-a-a-h«, meinte Jonathan. Er nickte und ließ sich auf dem Sofa wieder zurücksinken. »Lehrstuhl, ja?« Sie sah ihn an. Sein Mund lächelte, aber seine Augen waren traurig. »Hör mal, Laura«, sagte er mit einem Blick auf die Tür. »Ich weiß nicht, wie ich es ausdrücken soll, aber keinen Lehrstuhl zu bekommen, bedeutet nicht das Ende der Welt.« Sie schaute Jonathan in die Augen, bis seine Miene leicht mitfühlend wirkte, dann betrachtete sie ihren vollen Schreibtisch. Die Emotionen drohten sie zu überwältigen, und sie kämpfte hart gegen die aufsteigenden Tränen an. Ihre Unterlippe bebte, und sie biss darauf, entschlossen, sich keine Blöße zu geben. »Weißt du Genaueres?«, fragte sie, mit angespann ter und unnatürlich hoher Stimme. Jonathan schüttelte den Kopf. »Nein.« Er zögerte. »Nichts Bestimmtes.« Er wirkte gequält und schien nicht recht zu wissen, was er sagen sollte. »Aber – nun ja, Laura, nach der Sache in Houston ist eine Menge über Paul geredet worden.« Laura spürte, wie sich ihr Gesicht vor Empörung rötete, nachdem sich das Karussell der Emotionen ein Stück weitergedreht hatte. Sie biss die Zähne zusammen. Paul Burns war der andere Kandidat. »Mit diesem Vortrag bist du ein Risiko eingegangen. Ich habe dir gesagt, dass es ein Risiko ist. Wenn er angekommen wäre, wärest du jetzt ein Star. Buchverträge, Lesereisen und das alles. Aber du hast ihn an der Fahnen stange hochgezogen, und niemand hat salutiert.« »Aber was hätte ich denn sonst tun sollen? Noch mehr Laborratten in noch mehr Labyrinthen herumlaufen lassen, wie Burns?« Es war so unfair. 21
Paul Burns hatte keinen originellen Gedanken im Kopf, wies aber Jahr für Jahr pünktlich eine weitere erfolgreiche Publikation vor. Zeitschrift um Zeitschrift, Texte in obskuren Universitätsverlagen, die binnen Wochen wieder vergessen waren, nirgendwo auch nur eine einzige herausragende Leistung. Aber er würde es schaffen, das war ihr klar. Sie konnte es an der Körpersprache der Leute ablesen, denen sie auf den Fluren begegnete. Sie konnte es an Burns’ aufblühendem Selbstbewusstsein ablesen. Und nun konnte sie es auch an Jonathan ablesen, der gerade den letzten Nagel in den Sarg ihrer Karriere geschlagen hatte. Sie wollte etwas sagen, zögerte dann aber, weil sie nicht sicher war, ob es gut wäre, noch mehr zu hören. »Aber du glaubst doch«, sagte sie schließlich verunsichert, »du glaubst doch, dass ich trotzdem Recht hatte, oder?« »Du meinst, was die Substanz deines Vertrags angeht? Meiner Meinung nach ist es eine der originellsten, anregendsten Arbeiten, die seit Jahren aus diesem Bau hier herausgekommen sind. Aber ob es richtig war, sie im letzten Sommer vorzutragen? In Anbetracht der Tagung des Lehrstuhlko mitees am Ende des Herbstsemesters?« Er verzog das Gesicht und schüt telte den Kopf. »Ich habe es dir gesagt. Die Leute sind noch nicht bereit für einen Paradigmenwechsel im Hinblick auf etwas so Grundlegendes wie das menschliche Bewusstsein. Wie wäre dir denn zumute gewesen, wenn du dort gesessen hättest und eine vierunddreißigjährige Lehrbeauf tragte hätte dir erklärt, dass es so etwas wie Stimmungen nicht gibt? Dass es in Wirklichkeit ein anderes ›Selbst‹ ist – eine andere Persönlichkeit –, die an die Oberfläche kommt und die Kontrolle über ihren Wirtsorganis mus übernimmt? ›Jeder Mensch besitzt zahlreiche Persönlichkeiten, nur fällt uns normalerweise der Übergang von einer zur anderen nicht auf, weil die Identitäten der verschiedenen Persönlichkeiten einander so ähnlich sind. Wir diagnostizieren sie nur dann als Persönlichkeitsstörung, wenn sie so radikal sind wie bei Dr. Jekyll und Mr Hyde.‹« Er schüttelte den Kopf. »Du hättest vorher einen Entwurf in Umlauf bringen und auf ein bisschen Input warten sollen, anstatt die Leute aus heiterem Himmel damit zu über fallen.« »Input«, erwiderte sie wütend. »Wenn die Leute damit fertig gewesen wären, mich mit Input zu versorgen, wäre der Text doppelt so lang und nur 22
halb so gut geworden.« Laura verdrehte die Augen und schnaubte. »Wenn ich grauhaarig und ein Mann gewesen wäre, dann hätten sie aufgehorcht.« »Und wenn ich Grace Kelly gewesen wäre, dann hätte ich einen Fürsten geheiratet.« »Du hast einfach keine Ahnung, wie weh das tut, Jonathan! Wie oft habe ich an Fachkonferenzen oder irgendwelchen blöden Tagungen teilgenom men und bin mit einem Diskussionsbeitrag vollkommen ignoriert worden! Und dann sagt nur eine Viertelstunde später ein Mann genau dasselbe, und alle überschlagen sich, um darüber zu diskutieren!« »Miau.« »Das ist kein Spiel, Jonathan!« »Doch, ist es!«, entgegnete er plötzlich und rutschte auf die Vorderkante des Sofas. »Es ist ein Spiel. Mir wurde gesagt, ich solle meinen Freund nicht zur alljährlichen Cocktailparty der Treuhänder mitbringen. Also habe ich es nicht getan. Sie wollen, dass ich ein richtiger Mann bin? Keine Rollkragen und kein Weinkonsum mehr? Ein bisschen gesunde heterose xuelle Belästigung der Studentinnen? Klar, Boss! Man tut alles, um einen Lehrstuhl zu bekommen, und danach tut man alles, wozu man gerade Lust hat.« Er setzte sich zurück und richtete den Blick wieder zur Zimmerde cke. »Als Lehrbeauftragter ist man so etwas wie eine junge Seegurke. Man sucht das Meer nach einem geeigneten Korallenplatz ab, den man zu sei nem Heim auf Lebenszeit machen kann. Dazu braucht man nur ein rudi mentäres Nervensystem, und sobald man einmal die richtige Stelle gefun den und Wurzeln geschlagen hat, benötigt man nicht einmal mehr das und kann tun, was Seegurken zu tun pflegen und sein eigenes Gehirn verspei sen.« Laura lehnte den Kopf an die Rückenlehne ihres Stuhls und schaute gleichfalls zur Zimmerdecke empor. Dann holte sie tief Luft und sagte mit wachsendem Verdruss. »Vielen Dank für die hilfreiche Analogie.« Jonathan zögerte, als müsste er sich seine nächsten Worte erst genau ü berlegen. »Burns spielt das Spiel.« »Natürlich tut er das!«, fauchte Laura und funkelte ihn an. »Und wenn du meinst, ich müsste ein Paul Burns sein, um einen Lehrstuhl zu bekom men… ich denke nicht einmal im Traum daran!« 23
Jonathan schnaubte scheinbar erbittert und ließ sich tiefer in die Leder kissen sinken. »Gott, wie ich es hasse, mich mit Leuten mit Prinzipien unterhalten zu müssen. Ich weiß dann nie, was ich sagen soll.« Laura verspürte ein wachsendes, panikartiges Bedürfnis, etwas zu unter nehmen, nur wusste sie nicht, was. Wie nur sollte sie ihre Karriere – ihr Leben – retten? »Ich habe es vermasselt, nicht wahr?« Nach kurzem Zögern beugte Jonathan sich in dem knarzenden Leder stuhl vor und warf den Brief auf den Schreibtisch. Das dicke Blatt landete direkt vor ihr, und die beiden gefalteten Enden ragten in die Luft. »Also«, sagte sie und nahm es auf, vor allem, um noch einmal die ma kellose Handschrift zu betrachten, »was meinst du? Ist das meine Zukunft? Psychoanalyse?« Jonathan hob die Schultern. »Wenn du mit Seelenklempnerei eine Milli on Dollar in der Woche verdienen kannst, dann sag mir Bescheid.« »Oh, Jonathan«, stieß sie hervor und musterte die vertraute Umgebung ihres kleinen Büros – eines Büros, das sie wohl bald würde verlassen müs sen – für immer. Sie holte tief Luft und seufzte schwer. »Ich kann das alles einfach nicht fassen.« Sie betrachtete den Brief mit verschwommenen Augen. »Wenn ich diesen Job annehme, ist mein Schicksal besiegelt, nicht wahr?« Sie sah zu ihm auf. »Sie werden es als Signal deuten, dass ich mich nach etwas anderem umsehe.« Jonathan wiegte den Kopf. »Es ist weniger das, als… Schau mal, dieser Gray ist so etwas wie ein Unhold und Plünderer. Es würde bestimmt he rauskommen. Ich meine – was glaubst du denn, weshalb er dir eine Milli on Dollar bietet?« Sie sah ihn an, weil sie nicht begriff, worauf er hinauswollte. »Was willst du damit sagen?« »Also wirklich, Laura. Das ist eine Menge Geld. Er hat wahrschein lich…« Jonathan verstummte und hob wieder die Schultern. »Was?«, fragte sie, plötzlich wütend. Jonathan erwiderte nichts. »Was hat er? Er hat wahrscheinlich schon eine Menge Absagen bekommen! Und er hat den Preis erhöht, weil niemand sonst bereit war, den Job zu über nehmen? Was willst du damit sagen, Jonathan? Dass ich nicht seine erste Wahl bin?« Er wand sich. »La-a-aura…« 24
»Hat er dich gefragt?« Jonathan schaute zu ihr auf. »Er hat es getan, stimmt’s?« Jonathan schüttelte den Kopf. Laura ließ sich wieder in den warmen Pfuhl des Selbstmitleids sinken. Jonathan hob abermals die Schultern. »Sei einfach auf der Hut. Ich mei ne« – er schüttelte den Kopf – ,«ich weiß im Grunde nicht viel über den Mann, aber nach allem, was ich über ihn gelesen habe, ist er möglicher weise ein unangenehmer Zeitgenosse. Ein gefährlicher, wie mir scheint.« Lauras Haar war noch feucht von der Dusche, als sie sich vor einem Computer in der Hauptbibliothek niederließ. Sie hatte gerade ihren übli chen Morgenlauf hinter sich, aber es war ihr nicht gelungen, ihre innere Unruhe zu verscheuchen. Mit einem tiefen Seufzer schaltete sich Laura ins World Wide Web ein. Das gewaltige Netzwerk – die »Datenautobahn«, die Millionen kleinerer Netzwerke zu einem globalen Hochgeschwindigkeitssystem vereinigte – war gelegentlich nützlich, aber kaum die Revolution, als die es angeprie sen worden war. Laura runzelte die Stirn, starrte auf den Cursor in der Form des Stundenglases und wartete eine Weile, bis endlich die Eingabe maske erschien. »Gray, Joseph«, tippte sie, drückte die Enter-Taste und biss verstohlen ein Stück von dem Sandwich ab, das sie in das Gebäude eingeschmuggelt hatte. Die Reaktion des Computers ließ ungebührlich lange auf sich war ten. Laura kaute verdrossen. Sie mochte Computer nicht. »10.362 Eintragungen«, erschien schließlich auf dem Bildschirm. »Verdammt«, murmelte sie mit vollem Mund. Das war viel mehr, als sie erwartet hatte. Wie sollte sie das alles lesen? Vielleicht konnte sie irgend welche anderen Parameter finden, die die Liste verkürzten? Sie versuchte es, aber ihr fiel nichts ein. Sie wollte etwas über den Mann wissen, ihr war allerdings unklar, was denn eigentlich. Laura watete in die Artikelflut. Der neueste war zehn Tage alt. Das Fortes-Magazin führte Gray als den reichs ten Mann der Welt auf, mit einem Vermögen zwischen vierzig und siebzig Milliarden Dollar. Kommerzielle Elektronik, Telekommunikation, Zugang zum Internet, Satellitenstarts, Computer, Robotertechnologie, Weltraum ausbeutung. Lauras Augen kehrten zum letzten Wort zurück. Auf den ersten Blick hatte sie exploration – Erforschung – anstelle von exploitation 25
– Ausbeutung – gelesen. »Ohne jede Unterstützung durch Regierungsstel len hat die Gray Corporation praktisch die gesamte Konkurrenz in den Vereinigten Staaten, Japan und Europa auf dem Markt des direkt übertra genen, hochauflösenden Fernsehens in den Konkurs getrieben. Mit ihren einen Zoll dicken und einen Quadratmeter großen, phasengesteuerten Satellitenantennen und ihrer vom Nutzer frei wählbaren, zu Datenblöcken komprimierten High-Definition-Fernsehprogrammierung und InternetDownloads aus einem Netz von mehr als hundert erdnahen Satelliten kann die Gray Corporation allein in diesem Jahr mit einem Weltumsatz von über 50 Milliarden Dollar rechnen. Joseph Gray ist Alleininhaber der Gray Corporation, die praktisch schuldenfrei ist.« Dazu gab es eine TelefotoAufnahme von einer merkwürdig aussehenden Rakete mit flachen Seiten, die auf ihrer Startrampe stand. »Eine wiederverwendbare Einstufenrakete mit Flüssigbrennstoff-Antrieb« lautete die Unterschrift. Ein Bild von Gray war nicht dabei. Laura überflog den Artikel auf der Suche nach weiteren Informationen. Sie fand sein Geburtsdatum. Er ist siebenunddreißig Jahre alt – dachte sie und hielt einen Moment verblüfft inne. Nachdem sie ein großes Stück von ihrem Sandwich abgebissen hatte ließ sie – in der Zeit zurückgehend – ein paar hundert Artikel aus. Dann, als sie einen zwei Jahre alten Artikel las, fiel ihr wieder ein, wo sie Grays Namen zum ersten Mal gehört hatte. »Wirtschaftsministerium fordert Einsicht in Firmenunterlagen.« Gray bestritt jeglichen Verstoß gegen die Bestimmun gen des Technologie-Transfers bei der Nutzung russischer Schutzvorrich tungen für seine Satelliten. Laura sprang von Artikel zu Artikel. Alle wie derholten mehr oder weniger dieselben Fakten, aber einige verliehen den Ereignissen einen sinistren Beigeschmack. »Wunderknabe kauft russische Raketen.« Gray hatte Dutzende von riesigen russischen Interkontinentalra keten gekauft, die im Rahmen des START III-Abkommens vernichtet werden sollten, und sie dann dazu benutzt, seine Satelliten zu Schnäpp chenpreisen ins All zu befördern. Sie sprang weiter zurück. »Bundesbehörde zur Bekämpfung des unlaute ren Wettbewerbs unterliegt in Kartellrechtsverfahren.« Die von Gray vor gesehenen Tarife für Satellitenübertragungen wären zwar unglaublich niedrig, aber es wären keine illegalen »Raubpreise«, hatte das Gericht 26
entschieden. »Bundesbehörde für das Fernmeldewesen leitet Untersu chung ein.« Gray hatte erklärt, er werde seine Systeme in Europa und Japan verkaufen, wenn er keine Genehmigung für die Vereinigten Staaten bekäme. »Umstrittener Geschäftsmann abermals vor dem Kongress.« Gray war vorgeladen worden, um vor dem Ausschuss für wissenschaftliche und technologische Forschung auszusagen. »Welche Absichten verfolgen Sie?«, war er gefragt worden. »Geld zu verdienen«, war seine einzige Antwort gewesen. Der bis auf den letzten Platz gefüllte Tagungssaal sei in Gelächter ausgebrochen, berichtete der Artikel im Time-Magazin. Mit einem Seufzer übersprang sie auf ihrer rückwärts laufenden Suche ungefähr ein Drittel der Strecke. Da war ein Artikel im Wall Street Journal über eine zusammengebrochene Spar- und Darlehenskasse Anfang 1988. Gray hatte auf dem Capitol Hill als einer der Leute aussagen müssen, die von der Kasse ein beträchtliches Darlehen erhalten hatten, bevor sie in Konkurs ging. Laura runzelte die Stirn und nickte. »Das passt«, murmelte sie ein wenig enttäuscht. Der einzige Weg, an die Spitze zu kommen, ist betrügen. Dann fiel ihr Blick auf eine Zeile am Ende des Artikels. »Mr Grays Forschungslaboratorium in Palo Alto hatte auf Verlangen des Prü fungsausschusses des Verwaltungsrates einen Monat, bevor die Kasse unter ihrer vernichtenden Last von ungesicherten Hypotheken zusammen brach, das Darlehen inklusive Zinsen vollständig zurückgezahlt.« Voll ständig zurückgezahlt? fragte sie sich, einen Augenblick lang verblüfft. Aber wer weiß, was dahintersteckte, dachte sie und ging noch weiter in der Zeit zurück. Nur sechs Monate davor war Gray erneut vernommen worden, diesmal in Zusammenhang mit angeblichen Marktmanipulationen nach dem gro ßen Börsenkrach vom Oktober 1987. »Reizend«, flüsterte sie und warf ihr Sandwichpapier in den Mülleimer. Ihre Finger zögerten über der ExitTaste. Sie hatte genug erfahren und war bereit, zu dem Stapel Aufsätze zurückzukehren, die sie benoten musste. Laura zögerte noch einen Mo ment länger – dann las sie trotzdem weiter. Gray hatte am Montag – also drei Tage vor dem Crash am Donnerstag – auf dem Optionsmarkt fast zweihundert Millionen Dollar in etwas ge steckt, das »Puts« hieß. Optionen für Puts, las sie, geben dem Inhaber das 27
Recht, Anteile zu einem festen Preis an den Vertragspartner zu verkaufen. Es waren »nackte« Puts, was bedeutete, dass Gray die Anteile nicht besaß, für die er die Verkaufsoption hatte. Als die Börsennotierungen in den Keller stürzten, kaufte Gray die Anteile billig auf, verkaufte sie anschlie ßend an die anderen Partner zum vertraglich festgelegten höheren Preis und steckte die Differenz in die Tasche. In einer Woche hatte Gray zwei hundert Millionen Dollar in sechs Milliarden nach Abzug der Steuern verwandelt. Der Zusammenbruch des Marktes hatte ihm ein Vermögen eingebracht. Vor dem Untersuchungsausschuß der Regierung hatte er behauptet, er hätte sich eines leistungsfähigen neuen Computerprogramms, eines »probabilistischen, neuronalen Netzwerks« bedient, um die bevor stehende Abwärtsbewegung des Marktes zu entdecken. Die Regierung fand keinerlei Beweise für irgendwelche illegalen Manipulationen. Laura seufzte. Das roch übel. 1987, dachte sie. Gray war… vierund zwanzig Jahre alt. Ein Multimilliardär mit vierundzwanzig! Irgendwo, weit zurück, musste die Quelle liegen. Der Ursprung des Reichtums, des Erfolgs. Je mehr sie las, desto schmutziger kam ihr das Geld vor. Anfang der achtziger Jahre war Gray der Wunderknabe Michael Milkens bei Drexel Burnham gewesen und hatte mit dem Analysieren von Hightech-Aktien für den wenig später im Gefängnis landenden JunkBond-König Millionen gemacht. Gray war bei dem Prozess gegen Milken als Zeuge vorgeladen worden. Allem Anschein nach hatte es 1984 zwi schen Gray und Milken Differenzen gegeben, und die beiden hatte sich getrennt. »Gray bestritt, aus ethischen Gründen bei Drexel Burnham aus geschieden zu sein. Er behauptete, der Grund für sein Ausscheiden seien Meinungsverschiedenheiten über die Brauchbarkeit eines Computerpro jekts für die Vorhersage von Markttrends gewesen. Nach seinem Abschied von Drexel machte Gray Hunderte von Millionen, indem er eine Investo rengruppe zusammenbrachte und ein eigenes petrochemisches Projekt startete.« Laura überflog noch ältere Artikel. »Hiesiger Geschäftsmann verkauft Fabrik«, berichtete die Houston Chronicle Anfang 1987. »Industriegigant Monsanto hat sich bereit erklärt, der Gray Corporation 700 Millionen Dollar für eine Anlage zu zahlen, die Produkte aus Polyvinylchlorid her 28
stellt.« Lauras Oberlippe kräuselte sich angesichts eines Fotos der schmut zigen Fabrik. Sie schüttelte den Kopf, als sie sich die Tonnen toxischer Abfallprodukte vorstellte, die ausgestoßen wurden und auf amerikanische Verbraucher niedergingen. »Das Produkt dient in erster Linie der Herstel lung leichter Rohre für Trinkwasser, die heute in fast allen Neubauten verlegt werden.« Gray hatte 1984, nach seiner Tätigkeit bei Drexel Burn ham, vier Millionen Dollar in das Geschäft gesteckt – jeden Pfennig, den er besaß. Andere Investoren hatten für vierzig Millionen Vorzugsaktion gekauft, und Banken hatten vierhundert Millionen geliehen, aber Gray war immer alleiniger Besitzer der Stammaktien gewesen. Er hatte immer die Kontrolle behalten, hatte auf einer Schrottauktion eine seit langem ge schlossene petrochemische Fabrik gekauft, sämtliche Arbeiter wieder eingestellt und die Anlage auf Herstellung von PVC umgerüstet. Als sie die Produktion aufnahm, konnte er Aufträge für die nächsten fünf Jahre registrieren. Er hatte richtig taktiert. Auf der ganzen Welt herrschte eine gewaltige Nachfrage nach Plastikrohren. Abermals hatte Gray einen Mark rumschwung vorhergesehen, der allen anderen entgangen war. Lauras Augen lösten sich vom Bildschirm. Diesmal war nicht die Rede von einem »neuronalen Netzwerk«, mit dessen Hilfe die Trends auf dem PVC-Markt entdeckt werden konnten, wie das bei der Börsenuntersuchung der Fall gewesen war. Heutzutage wurden Programme routinemäßig für derartige Vorgänge eingesetzt, das wusste sie. Börsenmakler machten in Zeitungen und Zeitschriften und im Fernsehen ständig Reklame für ihre Lieblings programme, denen sie Namen wie »Primus One« oder »Trendline 2000« gaben. Aber konnte es sein, dass Gray schon damals ein solches Pro gramm entwickelt hatte? 1984? Da war Gray 21 Jahre alt gewesen. Sie ging in dem Datenmaterial abermals noch weiter zurück. Ein kurzer Artikel in Business Week enthielt ein Foto von Gray im Alter von zwanzig Jahren. Er saß an einem Tisch, neben einem Computer, in einem Hemd mit offenem Kragen und Blue Jeans. Eigentlich sah er normal aus, jedenfalls für die damalige Zeit. Der Arti kel war humorvoll geschrieben, der Autor lachte »mit« Gray, nicht »über ihn«: »Der Wunderknabe behauptet, das ›analoge neuronale Netzwerk‹ wäre auf ideale Weise dazu geeignet, Probleme zu lösen, die er ›fuzzy‹ 29
nennt. Aber wenn das Programm aufgefordert wird, das Problem ›Wieviel ist zwei und zwei‹ zu lösen, dann sagt es ›ungefähr vier‹. Grays Bosse bei Drexel Burnham schwiegen, als sie gefragt wurden, ob sie sich über Grays Schöpfung gefreut hätten, die angeblich große Mengen locker miteinander verbundener Variablen akzeptieren und Muster oder Beziehungen erken nen konnte, die bei Marktanalysen helfen.« Vor 1983 gab es nur sehr wenige Artikel über Gray. Sein Name erschien mit denen zahlreicher anderer, die irgendeine Finanzierung abgeschlossen oder bei irgendwelchen Fusionen mitgewirkt hatten. Jetzt schwirrte ihr das, was sie über den Mann bereits wusste, im Kopf herum. Russische Raketen, Verstöße gegen das Kartellrecht, Manipulation des Aktienmarktes, bankrotte Spar- und Darlehenskassen, Junk Bonds, chemische Fabriken… Sie überflog rasch die restlichen Artikel. Als ihr die ganze Quintessenz dessen, was sie gelesen hatte, klar wurde, war Laura wütend auf sich selbst, weil sie auch nur daran gedacht hatte, das Angebot dieses Mannes zu akzeptieren. Sie war im Begriff, den Computer abzu schalten. Mit dem Finger auf der Exit-Taste entschied sie ein für allemal, dass sie nur ihre Zeit vergeudete. Aber Laura brachte es nicht über sich, die Taste zu drücken. Sie würde nur noch einen Artikel lesen, entschied sie. Mit Schuldgefühlen wegen ihres obsessiven Verhaltens drückte sie auf die Home-Taste, um zum alle rersten Artikel zu gelangen, der über Gray erschienen war. Im Jahr 1976. Es war ein kurzer Artikel – eigentlich nur eine Meldung – aus einer klei nen Zeitung in Indiana. »Hiesiger Junge mit 13 in Harvard aufgenom men.« Joe Gray war aufgebrochen, um Philosophie zu studieren. Philoso phie! dachte sie. Sie starrte auf den körnigen Schnappschuss des Jungen. Auf seine traurigen Augen, hinter denen unverkennbar Seltsames vorging. »Professor Paulus?«, sagte Laura. Der gebrechliche Dekan der Philosophischen Fakultät wirkte sehr klein hinter seinem unordentlichen Schreibtisch. »Ah, kommen Sie herein! Kommen Sie herein!« Lose Papiere bedeckten jeden Quadratzentimeter seiner Regale, der Stühle und der Couch. »Ach, legen Sie das Zeug irgendwo hin«, sagte er, eine Hand schwenkend. »Set 30
zen Sie sich. Setzen Sie sich.« Seine Stimme war krächzend und hatte ihre Kraft verloren. Sie wusste, dass er noch in diesem Jahr emeritiert werden sollte und hatte von dem Gerangel um seinen Lehrstuhl gehört. Laura legte seine unleserlichen handschriftlichen Notizen auf den Fuß boden. »Danke, dass Sie sich die Zeit nehmen, mit mir zu reden.« »Für meine Studenten und Studentinnen habe ich immer Zeit.« »Oh… äh… Ich bin Lehrbeauftragte drüben in der Psychologischen Ab teilung.« »Großer Gott! Bitte, entschuldigen Sie.« Er nahm seine Brille mit den dicken Gläsern ab, putzte sie mit seinem Taschentuch, setzte sie dann wieder auf und musterte sie. »Hmmm«, murmelte er nach seiner Inspekti on, offensichtlich zu dem Schluss gekommen, dass sein Irrtum verständ lich war. Laura wusste, dass sie jünger aussah, als sie in Wirklichkeit war. »Also, was kann ich für meine geschätzte Kollegin tun, Miss…?« »Aldridge. Laura Aldridge.« Sie entschied sich dagegen, »Doktor« zu sagen, weil sie fürchtete, den Anschein von Angeberei zu erwecken und dem freundlichen Mann Anlass für feministische Vorurteile zu geben. »Ich habe nur eine Frage. Es ist sehr lange her, aber erinnern Sie sich zufällig an einen Ihrer Studenten namens Joseph Gray? Er war…« »Brillant. Absolut brillant, aber…« Der alte Mann war jetzt hellwach, seine Augen waren jedoch weit weg und schienen wie gebannt auf einen festen Punkt im Weltall zu starren. »Wie bitte?« »Weshalb fragen Sie?«, erkundigte er sich, plötzlich auf der Hut. »Also…« Sollte sie es ihm wirklich sagen? »Dürfte ich Ihren Universitäts-Ausweis sehen?« »Was?« »Ihren Ausweis«, wiederholte er und wackelte mit den Fingern seiner ausgestreckten Hand wie ein Polizist bei einem Autofahrer, den er gerade angehalten hatte. Sie holte den Ausweis aus der an einem Gürtel um ihre Taille hängenden Tasche, und er inspizierte ihn. »Tut mir Leid, Dr. Ald ridge«, sagte der alte Mann, als er ihn ihr zurückgab – jetzt wieder mit sanfter und freundlicher Miene. »Es ist nur… Heutzutage kann man nie sicher sein. So viele Leute stellen Fragen.« 31
»Über Gray?«, erwiderte sie, und er nickte. »Wer?« »Unsere Regierung zum Beispiel. Erst vorigen Donnerstag hat man je mand hierher geschickt. FBI. Und dann gab’s übers Wochenende diesen Einbruch. Hier und auch in Ihrer Abteilung.« »Was für ein Einbruch? Jemand ist in unsere Büros eingebrochen?« »Nein, nein. Eigentlich hätte ich das gar nicht sagen dürfen. Sie wollen alles streng geheimhalten – es hat irgendwie mit unserer Sicherheitseinstu fung wegen Rüstungsprojekten zu tun.« Er beugte sich über seinen Schreibtisch und senkte die Stimme. »Jemand ist ins Netz der Universität eingedrungen. Und hat dieses Ding benutzt – das ›Web‹. Hat in den Datei en herumgeschnüffelt, unter den Verzeichnissen Philosophie, Linguistik und Psychologie – also Ihrer Abteilung.« »Was hat er mit den Dateien angestellt? War es ein übler Streich? Van dalismus?« »Nein, nein.« Er schüttelte den Kopf. »Allem Anschein nach ist nichts passiert. Er hat nicht einmal irgendwelche Dateien kopiert, sondern nur darin gelesen.« Er lachte, zuckte die Schultern und verzog belustigt das Gesicht. »Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass es in unseren Dateien etwas geben könnte, um dessentwillen sich die Leute Sorgen hinsichtlich unserer nationalen Sicherheit machen müssten.« »Aber hat irgendetwas davon mit Gray zu tun? Ich meine, Hacker sind wirklich eine Gefahr. Sie sind einer von mehreren hundert Gründen, wa rum ich Computer hasse. Erst im letzten Monat stand auf meinem Konto auszug ein Vermerk, jemand sei in den Computer der Bank eingedrungen und deshalb könnten sie nicht garantieren, dass die Unterlagen ihrer Kun den vertraulich geblieben wären. Und dann, ob Sie’s glauben oder nicht, ist irgendjemand – wer, weiß ich nicht, vermutlich irgendein Junge, der sonst nichts besseres zu tun hatte, in den Computer des Videoladens ein gedrungen, in dem ich meine Kassetten ausleihe.« Sie kicherte. »Sie hatten an der Tür zur nicht jugendfreien Abteilung des Ladens ein großes Schild angebracht, mit dem sie alle darüber informierten. Ich wette, da sind ein paar Männer wegen dieser Ausleihunterlagen ziemlich nervös herumge rannt.« Der Professor schien in Gedanken versunken. Er zuckte wieder die 32
Schultern. »Sie haben Recht.« Er nickte. »Sie haben vermutlich Recht.« Der Blick des alten Mannes ging ins Leere und schien davonzudriften. »Dieser junge Mann…« Er schüttelte den Kopf. »Wie bitte?« Paulus seufzte. »Es ist einfach eine Schande. Eine wahre Schande. Er war der brillanteste Kopf, der mir je begegnet ist, unvergleichlich.« »Waren Sie sein Lehrer?« Paulus lachte kurz auf. »Nicht eigentlich. Sehen Sie, Dr. Aldridge, so weit ich mich erinnern kann, hat nie jemand diesem Jungen etwas beige bracht.« Er schüttelte wieder den Kopf. »Oh, er hat gelesen. Er war ein unglaublicher Leser. Schnell wie der Blitz, mit einem wahrhaft fotografi schen Gedächtnis. Mir ist, als hätte jemand in Ihrer Abteilung einmal vor gehabt, ihn zu testen. Ein Dr. Weems? Ist er noch bei Ihnen?« Laura schüttelte den Kopf. »Nein, Sir. Er ist gestorben, bevor ich kam.« »Also, jedenfalls ist es nicht dazu gekommen, das kann ich Ihnen sagen, denn wenn dieser Junge noch etwas anderes war, dann war er halsstarrig. Dickköpfig.« »Ich verstehe das nicht, Professor. Sie sagen, niemand hätte diesem Stu denten je etwas beigebracht. Aber er hat Vorlesungen besucht. Er hat ei nen akademischen Grad erworben.« »Oh, ja, ja. Aber er war einfach – einfach so weit voraus, verstehen Sie. Was ja nicht anders zu erwarten war bei der Unmenge von Büchern, die er las. Der Junge brauchte nachts höchstens vier oder fünf Stunden Schlaf. Und jede Nacht nahm er sich immer obskurere Texte vor und entdeckte in einem immer enger werdenden Feld bis dahin ungelesener Abhandlungen einige immer grundlegendere Gesichtspunkte.« »Sie sagten, er war brillant. Woher wussten Sie das? Ich denke, Sie ha ben ihn natürlich getestet – ich meine akademisch.« »Oh, ja, ja. Aber es reichte einfach niemand an ihn heran. Habe ihm ein fach immer die besten Noten gegeben.« Er lachte plötzlich wieder auf. »Einmal – einmal hat ein promovierter Lehrassistent Joe für einen Aufsatz über Logik eine Zwei gegeben. Es war ein Oberseminar, und Joe hatte sich der allerprimitivsten Werkzeuge der deduktiven Beweisführung bedient und sie auf die allereinfachsten logischen Argumente angewendet.« Es 33
machte ihm offensichtlich Spaß, die Geschichte zu erzählen, und er lächel te. Ein Lehrer, dachte Laura mit einem Anflug von Selbstmitleid, am Ende einer beachtlichen Laufbahn, der in Erinnerungen an seinen intelligentes ten Studenten schwelgt. »Er bediente sich des Standards der deduktiven Beweisführung. Dem von Platon. ›Aristoteles war ein Mensch, alle Men schen sind sterblich, also war Aristoteles sterblich‹. Aber Joe wendete es auf Descartes’ ›Cogito, ergo sum‹ an – ›Ich denke, also bin ich‹. In diesem Aufsatz war es ihm darum gegangen, den fehlenden Operator zu ermitteln – das mittlere Argument, das ›Ich denke‹ mit ›also bin ich‹ verbindet.« Paulus lachte laut. »Der promovierte Lehrassistent hielt ihn für viel zu stark vereinfacht. Er hatte von keiner der komplizierteren Methoden der symbolischen Logik Gebrauch gemacht. Er hatte nicht einmal irgendwel che der klassischen Trugschlüsse wiedergekaut. Der Lehrassistent gab mir eine fünfzehn Seiten lange Kritik von Joes Aufsatz, der, wenn ich mich recht erinnere, nur sieben oder acht Seiten lang war. Er schrieb nie lange Aufsätze.« »Was haben Sie getan?« »Nun, ich habe die Note natürlich in eine Eins geändert. Es war einfach genial.« »Zu welchen Schlüssen ist er gelangt – in Bezug auf Descartes Argu ment?« »Er stimmte mit Descartes überein.« Nach einem Moment des Zögerns lachte auch Laura, aber diesmal teilte Paulus ihre Belustigung nicht. »Es war im Grunde ein Kompliment an Descartes«, sagte der alte Mann, und das Lächeln verschwand aus Lauras Gesicht. Er meinte es ernst. »Sie hätten hören sollen, wie er den armen Immanuel Kant zerpflückte.« Laura wusste nicht, wie sie reagieren sollte. Ein Teenager, der geruhte, mit Leuten wie Descartes und Kant einverstanden oder nicht einverstanden zu sein. »Also, wenn er nichts anderes tat, als mit Descartes übereinzu stimmen – worin bestand dann die großartige Leistung?« »Es war die Art, auf die er mit ihm übereinstimmte!« In Paulus’ Stimme lag etwas Träumerisches. »So war es nun einmal. Es war so frustrierend« – Paulus griff mit geballten Fäusten in die Luft vor sich – »mit Joe zusam 34
men zu sein. Es war mühsam, etwas aus ihm herauszuholen. Man musste seinen Verstand aufhebeln, und selbst dann gewährte er einem nur flüchti ge Einblicke. Einmal, als ich versuchte, ihn aus sich herauszuholen, hat er gesagt, es wäre ja nicht so, dass er nicht mit Leuten reden wolle, sondern es dauere ihm einfach zu lange, Begriffe für sie definieren zu müssen. Sehen Sie« – Paulus zeigte auf seinen Schädel – »in seinem Kopf wimmel te es von Ideen und Konzepten, die sich in der englischen Sprache nicht definieren lassen. In keiner Sprache. Er sagte sogar, dass er sich Dinge ausdenke und sie dann nicht-verbalen Etiketten zuordne, die er… Ach herrje, wie hat er sie doch gleich genannt?«, sagte der alte Mann, plötzlich ratlos. »Zeichen?« »Ja! Woher wussten Sie das? Ach so, Psychologie, richtig?« Laura lä chelte und nickte. »Also, jedenfalls speicherte er diese ›Zeichen‹ für Zei ten, zu denen er später auf das Thema zurückkommen würde. Man stelle sich das vor – Gedanken, die so komplex sind, dass sie die gesamte Dis ziplin umfassen, mit deren Studium man sein ganzes Leben verbracht hat. Führen Sie sich einen Augenblick lang vor Augen, Sie wollten die gesamte Psychologie mit einer bestimmten Ansicht oder Logik oder Formel für jeden einzelnen umstrittenen Punkt, mit einer Schlussfolgerung über kon kurrierende Theorien, über jede Ungewißheit, in einem Begriff zum Gebrauch in Ihrem Denken und Ihren Diskussionen einkapseln.« »Instantiation«, sagte Laura und stellte dabei fest, dass ihre Stimme den leisen und fast ehrfürchtigen Ton annahm, mit dem Paulus über Gray sprach. »Die konkrete Verkörperung einer immens komplizierten Idee. Sie wollen doch nicht behaupten, dass dies einem Menschen möglich wäre?« Paulus hob die Schultern. »Sind Sie Joe Gray jemals begegnet? Der Jun ge war der Inbegriff eines Genies. Damit meine ich nicht diese Feld-Waldund-Wiesen-Typen mit hohem Intelligenzquotienten. Von denen wimmelt es hier geradezu.« Auf Paulus’ Gesicht lag ein warmes, aufrichtiges Lä cheln. »Ich meine die transzendente Intelligenz, die erforderlich ist, um zwei völlig verschiedene Disziplinen zur Synthese zu bringen. Das ist der wahre Maßstab. Ihre kleinen Tests sind für gewöhnliche Sterbliche völlig in Ordnung. Aber wenn man versucht, einen Jungen wie Joe zu beurteilen, dann…« Er streckte die Hände aus und schüttelte den Kopf. »Wahre Ge 35
nies greifen zu Beweisen aus einer Disziplin, um Probleme in einer ande ren zu lösen. Vielleicht benutzen sie die Physik, um zu einem Durchbruch in der Biologie zu gelangen. Oder Mathematik, um ein chemisches Prob lem zu lösen.« »Und Joseph Gray hatte diese Art von Verstand?« Ein Ausdruck völliger Ruhe und Gelassenheit erschien auf Paulus’ Ge sicht. Laura wusste, dass er sie jetzt nicht mehr wahrnahm. Er schien sehr weit weg zu sein. »Einmal habe ich etwas ganz Erstaunliches gesehen.« Seine Stimme klang, als betete er. »Joe stand auf einem Flur des Muse ums, stand einfach da. Sein Kopf war – irgendwie zur Seite gekippt.« Paulus machte es vor. »Er stand völlig erstarrt da, mit seinen Büchern unter dem Arm. Leute liefen an ihm vorbei, aber er bemerkte es nicht einmal. Ich ging auf ihn zu. Ich machte mir Sorgen um ihn. Er sah einfach nicht – normal aus. Ich tippte ihm auf die Schulter, und er drehte erschro cken den Kopf. Und dann rannte er los.« Paulus lachte. »Ich war damals ein bisschen behender als heute und folgte ihm in einen leeren Vorlesungs raum. Über eine Kladde gebeugt saß er dort und schrieb wie ein Besesse ner. Ich versuchte zu lesen, was er da schrieb, aber für mich hatte es weder Hand noch Fuß. Nur eine Seite voller Formern – Schemata nennt man sie, glaube ich –, und sie bestanden aus einer Unmenge von Symbolen, die ich vorher noch nie gesehen hatte. ›Joseph? Joseph, was tun Sie da?‹ fragte ich ihn. Er murmelte etwas über ›Fourier-Transformationen‹, etwas in der Art, also ließ ich ihn in Ruhe. Um neun Uhr am gleichen Abend, zwölf Stun den später, saß er immer noch da und schrieb. Ich habe ihn nach Hause geschickt.« »Was – was wollen Sie damit sagen?« »Ich will damit sagen«, erwiderte Paulus, der geistig ins Zimmer zu rückgekehrt war und Laura wieder wahr nahm, »dass Joe, wenn er Kunst werke betrachtete, sie in ihm Stürme von abstrakter mathematischer Wut auslösten!« Er beugte sich vor. »Eines Tages traf ich ihn in der Bibliothek beim Musikhören. Ich ging zu ihm, um Hallo zu sagen. Er…!« Paulus schüttelte den Kopf, kaum imstande, das zu unterdrücken, was Laura für Zorn hielt. »Die Musik hat es ausgelöst, ich wusste es einfach. Er fing an zu reden und hörte nicht wieder auf! Er baute einen funkelnden Turm aus 36
Logik, und jede Schlussfolgerung bildete die nahtlose Prämisse für das nächste Argument! Er redete eine halbe Stunde, pausenlos. Symbole, Be weise, Gedanken, die so brutal unangreifbar waren, dass…!« Laura war bestürzt. Paulus hatte sich halb von seinem Stuhl erhoben und presste die Hände auf seinen Schreibtisch. »Wenn ich ihn nur zurückhaben könnte.« Er sank wieder auf seinen Stuhl, verausgabt. Erschöpft. »Wenn ich auch nur die Hälfte dessen hätte aufschreiben können, was er an jenem Nach mittag in der Bibliothek gesagt hat. Gott, ich würde alles darum geben…« Paulus’ Gesicht war jetzt unter seinen Händen vergraben. Das Büro war still und Laura zögerte, bevor sie die Stille unterbrach. »Was hat er gesagt?« Paulus streckte die Hände aus, wie ein Bittsteller mit den Handflächen nach oben. »Ich weiß es nicht.« Sein Kopf neigte sich von einer Seite zur anderen. »Das – das ist ja das Problem. Ich weiß es einfach nicht!« Nach einer respektvollen Pause verabschiedete Laura sich von ihm. Doch an der Tür blieb sie stehen und drehte sich noch einmal zu ihm um. »Wie lautete sein Beweis für Descartes’ Argument? Wie hat er ›ich denke‹ mit ›also bin ich‹ verknüpft?« Paulus hatte sich nicht bewegt, seit sie aufgestanden war. Er schien zu erschöpft und antwortete mit lethargischer Stimme: »Joe glaubte, dass jeder Mensch eine Welt für sich ist. Was ein Mensch erlebt, kann unmög lich dasselbe sein, was ein anderer Mensch erlebt. Deshalb ersinnen und erschaffen sich alle denkenden Wesen ihre eigene Welt, ihr eigenes Uni versum. Eine ›virtuelle Welt‹ hat er sie einmal genannt. Ja! Eine virtuelle Welt.« Paulus wirkte erfreut, von der Erinnerung an die Worte wiederbelebt. »Ich habe ihn später danach gefragt, aber er wollte nie wieder darüber sprechen. So war er nun einmal. Wenn er etwas durchdachte, dann redete er. Aber sobald er seine Antwort hatte, ging er zu etwas anderem über und ließ uns alle hinter sich zurück.« Er schnaubte laut. »Aber ich glaube, diese Ideen, besonders die über die ›virtuellen Welten‹ der Menschen waren für ihn fast so etwas wie – eine Religion. Verstehen Sie, der Schöp fer jeder dieser ›virtuellen Welten‹ ist für Joe der Gott der Welt, die er erschaffen hat. Etwas in der Art.« 37
»Alles ist relativ«, sagte Laura. »Hüten Sie Ihre Zunge! Joe hasste Relativierungen. Er war voll und ganz ein Absolutist, ein Objektivist. Es gibt nur eine Wahrheit, eine moralische Richtigkeit – nur eine.« »Aber das ist ein Widerspruch.« »Nicht für Joe. Nur wenige Leute sehen die Wahrheit, die Richtigkeit. Diejenigen Leute, deren heterophänomenologische Welten – die Welten in ihrem Kopf – sich substantiell mit der realen, objektiven Wahrheit über lappen. In Ihrer Welt mögen Sie glauben, vollkommen im Recht zu sein, aber trotzdem ist es legitim, Sie an objektiven Standards zu messen. Sie sind immer noch entweder gut oder böse, je nachdem, wie genau die Welt in Ihrem Kopf mit der wahren Wahrheit übereinstimmt.« »Was bedeutet, dass er ein Egomane ist, der sich einbildet, dass er die einzig wahre Wahrheit erkennt«, warf Laura ein. Paulus strafte sie mit einem Blick, der sie veranlasste, ihren Ausrutscher sofort zu bedauern. »Also, Professor Paulus, weshalb haben Sie gesagt, es wäre eine Schande? Dass Gray brillant war, aber dass es eine Schande wäre?« »Nun ja, er hat das Interesse verloren. Er hat den ganzen Lehrplan in zwei Jahren plus den drei Sommern absolviert.« Paulus schüttelte den Kopf. »Wenn er nur dabei geblieben wäre. Wenn er nur – etwas niederge schrieben hätte.« »Also war er nach zwei Jahren graduiert? Mit fünfzehn?« Paulus nickte. »Und was tat er danach?« Paulus reckte den Daumen in Richtung Fenster. »MIT«, sagte er, als wollte er seine Enttäuschung erklären. »Die größte Vergeudung menschlichen Talents, die mir je vorgekommen ist!«, fauchte Professor Petry. Laura saß in dem geräumigen Büros des Dekans der Mathematischen Fakultät des Massachusetts Institute of Tech nology. Sie sah zu, wie der Mann, der sich gerade erst auf seinem Stuhl niedergelassen hatte, wieder aufstand und hinter seinem Schreibtisch her umwanderte. »Konnte einfach nicht dabei bleiben. Musste unbedingt an die Wall Street und Geld machen.« Sein Mund war zu einem Ausdruck der Verachtung verzogen. »Vor ein paar Jahren habe ich ihm geschrieben, bevor er sich mit all diesem Fernseh-Blödsinn beschäftigte. Ich habe ihm 38
gesagt, ich würde seine Dissertation einreichen und ihm seine Doktorate verschaffen, wenn er das verdammte Ding nur schreiben würde.« »Doktorate?«, fragte Laura. »Plural?« »Ja!« Er warf seinen Bleistift auf den Schreibtisch. »Ich habe mit den Leitern der Abteilungen Ingenieurwesen und Computertechnik gespro chen. Sie waren mit einem interdisziplinären Projekt nach Josephs Wahl einverstanden, aber…« »Sie meinen, er hätte Doktorate in Mathematik, Ingenieurwesen und Computertechnik verdient – bis hin zur Dissertation? Nachdem er in Phi losophie promoviert hatte?« Er nickte, dann seufzte er. »Die größte Vergeudung, die mir je begegnet ist.« »Weshalb ist es eine solche Vergeudung?«, erwiderte Laura unwillkür lich, dann senkte sie die Stimme. »Ich meine« – sie streckte die Hände aus und stieß einen Luftschwall aus, der weder ein Seufzer noch ein Auflachen war – »auf diese Weise ist ihm das akademische Hickhack erspart geblie ben. Schließlich gibt es im Leben noch andere Dinge.« Der streng wirken de Mann musterte sie mit hochgezogenen Brauen. »Andere als…«, begann sie lahm, dann verstummte sie und wendete den Blick ab. »Hat er – Ihren Brief beantwortet?« Petry schnaubte und holte aus einer kleinen Schublade ein einzelnes Blatt Papier heraus. Es schien der einzige Inhalt der Schublade zu sein. Er betrachtete es, dann las er: »Leider bin ich anderweitig beschäftigt. Danke für Ihr freundliches Angebot.« »Darf ich den Brief sehen?«, fragte sie, und er reichte ihn ihr, ihn nur an den Rändern vorsichtig mit den Fingerspitzen anfassend. Der kurze Text stand unter dem kühnen Briefkopf JG. Darunter befand sich Grays Unter schrift mit ihren schwungvollen Federstrichen in schwarzer Tinte. Sie gab ihm den Brief zurück und dankte ihm. Bereits an der Tür, hörte sie: »Übrigens, weshalb stellen Sie all diese Fragen? Versucht er, Sie auch zu engagieren?« Laura drehte sich um und hob den Kopf. »Ja, also… das tut er tatsäch lich. Wie sind Sie darauf gekommen?« Er nickte, und Laura hatte das Gefühl, dass er sie jetzt mit anderen Au 39
gen betrachtete. »Er hat uns seit Jahren geschröpft – uns und die Leute in Palo Alto. Sie sagten, Sie kommen von der Psychologischen Fakultät?« Er stand neben seinem Schreibtisch und hielt immer noch Grays Brief mit beiden Händen. Laura nickte. »Also, was immer er da unten zusammen braut, es muss etwas Großes sein. Er hat allein aus dieser Fakultät an die zwei Dutzend Spitzenleute engagiert.« »Wie arbeitet es sich für ihn?« Petry zuckte die Schultern. »Ich weiß es nicht.« »Ich meine, was sagen die Leute, die dort unten waren?« »Ich weiß es nicht. Bisher ist niemand zurückgekommen. Jedenfalls meines Wissens nicht.« Laura verspürte einen leichten Schauder. »Oh, erzählen Sie ihm, dass Sie Fermats letztes Theorem geknackt haben, bevor er es getan hat, aber da sind immer noch Riemans Hypothese und das Langlands-Programm, falls er einen Ausflug in die Geschichte machen will. Das gäbe uns eine Chance, diese unerträglichen Leute von der alge braischen Geometrie auf ihre Plätze zu verweisen.« »Wie bitte?« »Sagen Sie Joseph, dass Princeton es vor uns geschafft hat. Wenn er für die Mathematik nur so viel Interesse aufgebracht hätte wie für das An schauen von Footballspielen…« Petry schüttelte abermals den Kopf. »Hat Gray an der Lösung von Fermats Theorem gearbeitet, als er hier war?« Petry lachte. »Er hat gesagt, das brauchte er nicht. Sagte, er hätte nicht nur das Theorem, sondern einen endgültigen Beweis für die gesamte Taniyama-Konjektur.« Er schüttelte den Kopf und runzelte die Stirn. »Er hat mir diesen Beweis versprochen. Ich warte immer noch darauf.« »Nun, ich werde es ihm sagen, wenn ich ihn sehe, aber ich weiß noch nicht, ob ich sein Angebot annehme.« »Oh«, sagte Petry laut, »Sie werden es annehmen. Sie werden es ganz bestimmt annehmen. Ich weiß nicht, wer Sie sind und was Sie tun, aber wenn Gray mit Ihnen zusammenarbeiten will, dann müssen Sie etwas zu bieten haben.« »Wie meinen Sie das?« »Ich meine damit, dass er nur die Besten engagiert.« Er musterte sie. 40
Versuchte offenbar herauszufinden, was Grays Interesse erregt hatte. »Nur die Allerbesten und Intelligentesten.« Die Worte hallten in Lauras Kopf nach, als sie zum Campus von Harvard zurückwanderte. Worte, von denen sie geträumt hatte, dass sie sie eines Tages von irgendjemandem hören würde. Nur die Allerbesten und Intelli gentesten. »Dr. Aldridge?« Laura blieb stehen, drehte sich um und sah zwei Männer in Anzügen und mit Sonnenbrillen, die auf sie zukamen. »Ja?«, erwiderte sie sehr zurückhaltend. Sie zogen Ausweismarken aus ihren Jacketts. »FBI, Madam. Dürfen wir kurz mit Ihnen sprechen?« »Worüber?«, fragte Laura und drückte dabei unwillkürlich ihre Gürtelta sche an den Bauch. Sie versuchte, sich zu entspannen – einen weniger defensiven Eindruck zu erwecken. Sie blieben unmittelbar vor ihr stehen. »Wir würden uns lieber nicht hier mit Ihnen unterhalten. Hätten Sie etwas dagegen, mit uns in die Innenstadt zu fahren?« Der Mann deutete auf die offen stehende Tür eines am Bord stein parkenden Wagens. »Ja, ich glaube, ich hätte etwas dagegen.« Sie standen ungerührt da, of fensichtlich durchaus nicht beleidigt. »Habe ich etwas verbrochen?« »Nein, Madam. Wir möchten nur mit Ihnen reden.« »Na schön – reden Sie«, sagte Laura schulterzuckend und ohne sich von der Stelle zu rühren. Studenten strömten an ihnen vorbei und registrierten das merkwürdige Bild. Die Vorlesungen waren gerade beendet, und die vielen jungen Leute beruhigten sie. »Könnten wir dort hinübergehen?«, fragte einer der Männer. Sie folgte ihnen zum Sockel einer Statue, die direkt am Rande des Weges stand. Die beiden Männer mit den Sonnenbrillen schien das grelle Licht nicht zu stören, aber Laura trat in den Schatten der Statue. »Uns ist bekannt, dass ein Mr Joseph Gray Ihnen eine Anstellung angeboten hat.« Es war im Grunde keine Frage. Es hörte sich eher wie eine Beschuldi gung an. 41
»Keine Anstellung. Ich würde als unabhängige Beraterin fungieren. Und außerdem – woher wissen Sie das und was geht es Sie an? Ist es illegal, eine Beraterin anzuheuern?« »Nein, Madam.« Die beiden Männer sahen einander an. »Was wissen Sie über Mr Gray?« »Ich bin ihm noch nicht begegnet. Ich habe erst heute Morgen sein An gebot erhalten. Weshalb sagen Sie mir nicht, worauf Sie aus sind?« »Wir sind auf gar nichts aus, Madam. Wir wollten Ihnen nur ein paar Fragen stellen.« Laura wartete. »Kennen Sie einen Dr. William Krantz?« Laura überlegte. Sie erinnerte sich, dass er Physik studiert und sich bei einem Footballspiel gegen die Psychologen einen Finger gebrochen hatte. Laura nickte. »Ja, ich glaube, ich kenne Dr. Krantz. Warum?« Einer der Agenten machte sich Notizen. »Sie arbeiten in der Psychologi schen Abteilung von Harvard, ist das richtig?« »Ja.« »Und Sie haben nichts mit hochenergetischer Physik zu tun?« Laura lachte. »Würden Sie mir freundlicherweise sagen, was das alles soll?« »Das dürfen wir leider nicht, aber wir brauchen Ihre Hilfe.« »Und welche Art von Hilfe brauchen Sie?« »Wir beschäftigen uns schon seit geraumer Zeit mit Mr Grays Vorhaben. Wir haben Gründe zu der Annahme, dass… nun ja, dass die Dinge dort eine kritische Phase erreicht haben.« »Was hat eine kritische Phase erreicht? Und welche Vorhaben meinen Sie?« Sie sahen einander an, dann gaben sie Laura eine Karte, auf der eine Te lefonnummer mit der Vorwahl von Washington stand. »Das ist eine Nummer, die Sie jederzeit anrufen können, vierundzwanzig Stunden am Tag, falls Sie etwas sehen sollten, das Ihnen – verdächtig vorkommt.« »Was meinen Sie mit ›verdächtig‹? Was, glauben Sie, geht da unten vor sich?« Es folgte eine lange Pause. Die beiden Männer musterten sie. Endlich sagte der größere von ihnen: »Das wissen wir nicht.« 42
Nachdem die beiden Agenten verschwunden waren, lehnte sich Laura an den kühlen Sockel der Statue. Die Plakette der Statue befand sich direkt neben ihren Füßen. »Galileo Galilei. 1564 -1642.« Jonathan folgte Laura in ihr Büro und ließ sich, wie schon so oft zuvor, auf ihr Sofa sinken. Laura warf ihre Gürteltasche auf den Schreibtisch und sackte auf ihrem Stuhl zusammen. Jonathan beugte sich vor und wartete begierig auf die Fortsetzung des Dramas dieses heutigen Tages. »Also?«, fragte er. »Was wirst du tun?« »Ich werde verfolgt«, sagte Laura, stand auf und trat ans Fenster, um hinauszuschauen. Sie konnte niemanden entdecken, der unten herumlun gerte, aber natürlich würden sie sich nicht sehen lassen. Sie waren Profis. »Und außerdem glaube ich, dass sie in meinen privaten Unterlagen bei meiner Bank und in meinem Videoladen herumschnüffeln.« Sie drehte sich um und sah, dass Jonathan sie anstarrte. »Was ist?«, wollte Laura wissen. »Das einzige, was mir dazu einfällt, ist ›Arzt, heile dich selbst‹.« »Es ist keine Paranoia!«, fauchte Laura, zog die Karte aus der Tasche und warf sie ihm zu. »Das FBI hat mich angehalten und wir hatten ein kleines Gespräch über Gray.« Jonathan betrachtete die Karte und gab sie ihr dann zurück. »Und dabei hätte man annehmen sollen, nach Watergate hätten sie ihre Lektion ge lernt. Sie sind in deinen Videoladen eingebrochen, sagst du?« Laura stöhn te mit zusammengebissenen Zähnen und ließ sich wieder auf ihren Stuhl sinken. »Also, was wirst du tun?« »Ich habe keine Ahnung.« Sie sah ihn an. »Jonathan, ich weiß einfach nicht, ob der Mann ein vom Establishment verfolgter exzentrischer Au ßenseiter ist oder der personifizierte Antichrist!« Jonathan hatte eine Zeitschrift zur Hand genommen, in der er geistesab wesend blätterte. »Ich habe einen Burschen angerufen, den ich voriges Jahr bei dieser Neurologentagung in Chicago kennenlernte. Er hatte mir in Chicago erzählt, dass er vor Jahren hier zusammen mit Gray Philosophie studiert hat. Sagte, Gray sei ein stiller Junge gewesen.« 43
Laura wartete, aber Jonathan blätterte nur die Seiten um. »Und das ist deine große Neuigkeit?« »Das war, was er damals gesagt hat. Aber jetzt habe ich ihn heute Nachmittag angerufen und gründlich ausgefragt.« Wieder wartete Laura. Jonathan leckte seinen Zeigefinger an und blätter te eine weitere Seite um. »Herrgott, Jonathan!« Er warf die Zeitschrift auf den Beistelltisch. »Seine Theorie ist, dass Gray ihn vielleicht verliert.« »Dass er was verliert?« »Also, wie kann ich mich höflich in Hinblick auf deinen künftigen Boss ausdrücken?« Jonathan schaute nachdenklich drein. »Er glaubt, dass Gray vielleicht den Verstand verliert – total wahnsinnig wird.« Laura starrte ihn an, sagte aber nichts. »Extrem antisoziales Verhalten. An der Grenze zur Misanthropie. Er hält ihn für einen klassischen Fall. Als Wunderkind er lebt er eine ziemlich bizarre Kindheit. Er hat mit Gleichaltrigen nichts gemein und entwickelt sich zu einem Einzelgänger. Als er heranwächst, ist er nicht länger die brillante Ausnahme. Andere Intellekte ziehen mit ihm gleich und übertreffen sein eigenes Begriffsvermögen. Er sondert sich ab. Fängt an, die Menschheit zu hassen. Später kauft er Inseln im Südpazifik, ausgerechnet. Lässt Fingernägel und Haare lang wachsen. Obsessiv kompulsives Händewaschen und Angst vor Krankheitskeimen. Sauerstoff zelte, um seine Lebensdauer zu verlängern. Und so weiter und so weiter.« Laura nickte langsam. »Dieser ›Freund‹ von dir hat Gray seit dem Studi um nicht mehr gesehen, stimmt’s?«, fragte sie. »Er weiß nicht das Ge ringste von ihm.« »Es war ja nur eine Theorie«, sagte Jonathan. »Aber eines weiß er.« Laura unterdrückte ein Auflachen. »Erzähl mir nicht, dass Gray schwul ist.« »Nein. Es wird dich freuen zu erfahren, dass er ein normaler Mann ist. Ich habe extra danach gefragt.« »Also weiß dein Freund zweierlei.« Jonathan grinste, aber zu Lauras Überraschung kam keine schnoddrige Erwiderung. »Er hat seine Eltern bei einem Autounfall verloren, als er zwölf war. Keine Brüder, keine Schwestern, keine Tanten und Onkel, 44
keine Vettern. Sein Englischlehrer an der High School hat ihn für ein Jahr, bis er sein Stipendium für Harvard bekam, bei sich aufgenommen. Einmal hat mein Bekannter aus Chicago eine Nachtschicht eingelegt, um für ein Examen zu büffeln. Als die Bibliothek geschlossen wurde, kehrte er in sein Studentenheim zurück. In Grays Zimmer im Erdgeschoss brannte Licht, wie üblich. Gray schlief anscheinend nie, sondern las immer die ganze Nacht. Nur diesmal nicht. Also trat mein Freund an Grays Fenster und schaute hinein. Offenbar saß Gray, um drei Uhr in der Nacht, ganz alleine da und starrte die Wand an.« Jonathan schwieg einen Moment. »Einige Stunden vorher hatte ihm die Fakultät eine Torte geschenkt. Es war sein sechzehnter Geburtstag.«
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2. KAPITEL Die schwere, feuchte Luft des Südpazifiks traf Laura wie ein Schlag, als sie an der Tür des Flugzeugs stand. Auf der Rollbahn warteten ein paar Jets, Propellermaschinen und Hub schrauber, aber Menschen waren nirgendwo zu sehen. Der einsame Flug begleiter verwies Laura auf ein kleines Gebäude, das am Fuße eines üppig grünen Berges stand; dann warnte er sie: »Kommen Sie dem Rumpf der Maschine nicht zu nahe. Er ist immer noch heiß.« Der Überschall-Firmenjet hatte für die Strecke von Boston bis hierher nur sechs Stunden gebraucht. Laura stieg die Stufen zum Beton hinunter, während der Pilot die Trieb werke abschaltete. Ein tiefes und fernes Dröhnen, das sich anhörte, als würde ein schwerer Stoff zerrissen, übertönte das ersterbende Winseln der Motoren. Oberhalb des üppig grünen Berges, der in der Mitte der Insel aufragte, erschien ein grelles Feuer am Himmel. Laura hob eine Hand, um ihre Augen abzu schirmen und sah, dass es der gleißende Triebwerkstrahl einer kantigen, flachseitigen Rakete war. Die Rakete hatte eine stumpfe Nase und eine Landevorrichtung, die gerade in den Rumpf eingefahren wurde. Laura blieb stehen und beobachtete, wie sie durch die dünne Wolkenschicht aufstieg und auf ihrem Weg in den Weltraum am Himmel hochzog. Als die Rakete außer Sicht war, setzte sie ihren Weg zum Terminal fort. »Willkommen bei den Südpazifik-Anlagen der Gray Corporation« stand auf einem großen, einladenden Schild über dem Eingang des Gebäudes. »Unbefugte werden festgenommen«, warnte ein kleineres Schild darunter. Den Hauptteil des großen Schildes füllte das Logo der Gray Corporation aus. Als sich Laura dem Gebäude näherte, konnte sie den Blick nicht von diesem Logo abwenden. Es hatte ungefähr die Form eines menschlichen Kopfes. Das Firmenemblem – überall auf der Welt bekannt – baute sich aus breiten, diagonalen Streifen in Grau auf, deren Tönung von Blaugrau bis Schiefer abgestuft war. Es war diese Abstufung der Farbtöne, die be wirkte, dass das Logo einem menschlichen Kopf ähnelte. Alles in allem 46
ein High-tech-Design, futuristisch in seiner Vielfalt subtiler Schattierun gen und in seiner Form, aber Laura wusste nicht recht, was sie auf diesen Gedanken brachte. Wenn man es aus der Nähe betrachtete, verschwand der Effekt, und zurück blieb nur ungefähr ein Dutzend diagonaler Linien in leicht unterschiedlichen Farbtönen. Laura schüttelte den Kopf; sie begriff, dass der Flug sie etwas durchein ander gebracht hatte. Sie hatte fast die ganze Zeit geschlafen und war erst aufgewacht, als das Fahrwerk des Jets aufsetzte. Sie wusste, dass sie in ihrem augenblicklichen, leicht benommenen Zustand sogar wie gebannt auf ein simples Straßenschild gestarrt hätte. Ein Mann kam aus dem Gebäude. Nach einem kurzen Aufflackern von Vorfreude verspürte Laura eine Spur von Enttäuschung. Es war nicht der, den sie erwartet hatte. »Hallo, Dr. Aldridge«, sagte der junge Mann und nahm ihr den Koffer ab. Die in den Terminal hineinführende Tür öffnete sich automatisch. Drinnen gab es anstelle von Schaltern und Reihen von Sitzgelegenheiten lediglich eine weiße Fahrstraße mit hohen Bordsteinen, die mitten durch das Gebäude hindurchführte. Auf dieser Straße stand ein merkwürdiges Fahrzeug, dessen beide Türen an Lauras Seite sich wie die Flügel eines großen Vogels in die Luft erhoben hatten. Der Mann schob ihren Koffer durch die hintere Tür in das Fahrzeug. Der Fahrgastraum enthielt vier Sitze, die von klarem Plexiglas umgeben wa ren. Alle Sitze sahen gleich aus. Es gab keine Steuervorrichtungen für einen Fahrer. Der Mann stand neben der offenen Vordertür. Nach einem Moment des Schweigens sagte er: »Dieser Wagen bringt Sie zu Mr Grays Haus.« Laura zögerte. »Keine Sorge«, versicherte er. »Er bewegt sich vollautomatisch. Sie brauchen sich nur hinzusetzen. Die Fahrt bis hinauf auf den Berg dau ert ungefähr eine Viertelstunde.« Laura stieg in den Wagen und ließ sich auf dem vorderen Sitz nieder. Sie war überrascht, als die Türen sich automatisch schlossen, mit einem leisen Luftzischen, das der absoluten Stille der hermetisch abgeschlossenen Ka bine vorausging. Der Mann winkte von seinem Standort neben der Fahr straße. 47
Dann kam ein dünner Ton, und auf der Konsole vor ihr erschienen in Rot die Worte: »Bitte anschnallen.« Sobald Laura den Sicherheitsgurt angelegt hatte, setzte sich der Wagen in Bewegung, und die Tür am Ende des Ge bäudes hob sich. Als der Wagen allmählich beschleunigte, verkrampfte sie sich und um klammerte mit beiden Händen die Armlehnen ihres Sitzes. Auf der Straße vor ihr waren keine Schienen, und ihre erhöhten Begrenzungskanten wa ren auch nicht mit Gummi verkleidet. Die vier Räder des Wagens wurden offensichtlich nicht von derartigen mechanischen Vorrichtungen behin dert. Das Summen des Elektromotors nahm stetig an Lautstärke zu, als der Wagen das Gebäude verließ und in den grellen Sonnenschein hinausrollte. Laura war überrascht und bestürzt, weil er ständig weiter beschleunigte. Sie konnte es, als der Wagen die Anhöhe neben dem Flugplatz hinauffuhr, auch daran spüren, dass sie in ihren Sitz gedrückt wurde. Je mehr die Ge schwindigkeit wuchs, desto fester umklammerte sie die Armlehnen; sie verkrampfte sich immer mehr und kauerte starr vor Angst auf ihrem Sitz. Die Straße vor ihr beschrieb eine sanfte Kurve und war an der Außensei te leicht überhöht. Im Gegensatz zu normalen Straßen gab es hier keine Kreuzungen und Ampeln – nur Abzweigungen. Obwohl die Straße breit genug war, dass zwei Wagen aneinander vorbeifahren konnten, gab es auf der glatten Strecke keinerlei Markierungen, und der unsichtbare Fahrer unternahm allem Anschein nach keinerlei Versuche, innerhalb imaginärer Linien zu bleiben. Als der Wagen in eine besonders scharfe Abzweigung einbog, setzte Lauras Herz einen Moment lang aus, weil sie einen Über schlag befürchtete. Aber ihre Fahrt den Berg hinauf ging ohne irgendwel che Zwischenfälle weiter. Nur langsam, ganz allmählich lockerte Laura ihren Griff um die Arm lehnen. Der Wagen musste auf ungefähr hundert Stundenkilometer be schleunigt haben, bevor er ein gleichbleibendes Tempo hielt. Die Szenerie flog vorüber, eine Kehre nach der anderen umkurvte der Wagen, von de nen jede weiter auf den Berg hinaufführte. In Lauras Ohren knackte es, und sie holte tief Luft, um sich zu beruhigen. Die Bemühung zahlte sich aus, und ihre Aufmerksamkeit verlagerte sich allmählich von den Gefah 48
ren, die sie sich auf der Straße vor ihr vorstellte, auf die Szenerie, die an den Fenstern des Wagens vorüberglitt. Mehrmals konnte sie in einiger Entfernung irgendwelche Gebäude aus machen, bevor diese wieder hinter dichtem Blätterwerk verschwanden. Durch schmale Lücken im Gestrüpp hindurch sah sie riesige weiße Ku geln, die aussahen wie an Beton verankerte Ballons aus Stahl, in die Land schaft emporragen. Einige waren halb mit Eis überzogen und stießen dün ne Schwaden von Wasserdampf aus, aber keine trug eine Aufschrift, die auf ihren Inhalt hätte hinweisen können. Diese Schnappschüsse von Grays Arbeit vermittelten Laura zwei Grundeindrücke – das Gefühl, dass alles auf Grays Insel neu war und dass alles einem industriellen Zweck diente. Bei der Fahrt den steilen Berg hinauf führte die Straße häufig an der Flanke eines Hügels entlang oder über die Kuppe einer Anhöhe hinweg. Dabei wurden große Teile der Insel sichtbar. Ein anscheinend undurch dringlicher Dschungel erstreckte sich über weite Flächen und verlieh dem Eiland eine wildes und ursprüngliches Aussehen – ein auffälliger Kontrast zu dem Terrain, das an den Fenstern ihres Wagens vorüberglitt und das irgendwie gezähmt wirkte. Dichter Dschungel säumte die hohen Bordsteine der Straße an der einen Seite und bildete neben dem gepflasterten Fußweg an der anderen Seite eine undurchdringliche Wand. Aber die dichte Inselflora war säuberlich in Schach gehalten worden – überall dort gestutzt, getrimmt und zurückge schlagen, wo sie die Arterien menschlicher Unternehmungen bedrohte. Sie drängte vor, gierte nach den sonnigen Stellen, die in ihrem üppigen Reich freigelegt worden waren, hatte sich aber – widerstrebend – dem Willen eines anderen gebeugt, dem Willen von Joseph Gray. Die Straße beschrieb durch den Sattel zwischen zwei kleinen Hügeln hindurch eine sanfte Kurve, und Laura erhielt hoch oben auf dem Gipfel des Berges den ersten Hinweis darauf, dass nicht alles das Werk der Gray Corporation war. Ein Gebäude, das aussah wie ein Ferienhotel, klammerte sich an die konkave Flanke einer großen Klippe. Der Blick von den Bai konen und durch die gläsernen Wände auf den Dschungel tief darunter musste wirklich beeindruckend sein. Der Wagen überquerte eine weitere Kuppe. Sein Motor summte in einem 49
tieferen Ton, weil jetzt eine steilere Phase des Aufstiegs begann. Von ihrem neuen und höheren Blickpunkt aus konnte Laura eine Ansammlung von kleineren und größeren Gebäuden an der Basis der Flanke des großen Berges erkennen. Die Siedlung war halb unter dicken Bäumen und grünen Sträuchern begraben, die in der fruchtbaren Erde der Insel kraftvoll zu wachsen schienen. Wo ihre Straßen endeten, übernahm wieder der allge genwärtige dunkle Dschungel die Herrschaft. Aber als die Anhöhe, die ihr die Sicht auf das Terrain unten genommen hatte, in die Ferne zurückwich, sah Laura, dass die Natur abermals der Hand des Menschen hatte weichen müssen. Dort, wo sich eigentlich ununterbrochen das dichte Pflanzenge wirr hätte erstrecken müssen, erschien stattdessen die säuberliche Kante eines völlig flachen, grünen Rasens. Lauras Atem stockte. Hinter der Anhöhe, die ihr bis jetzt die Sicht ver wehrt hatte, erhob sich ein massiges weißes Gebilde. Wie ein am Horizont aufsteigender Mond ließ das riesige Gebäude alles andere in Sichtweite geradezu winzig erscheinen. Es erstreckte sich über ein leeres Feld, unge fähr fünfzehn oder zwanzig Stockwerke hoch, ohne irgendwelche Fenster oder Türen. Atemberaubend in seinen Ausmaßen, war es ganz offensicht lich der zentrale Punkt aller Anlagen auf der Insel. Der Wagen näherte sich dem Gipfel des Berges, der sich um eine Steil wand mit dichter Vegetation herumzog. Jetzt konnte sie die ganze Insel überblicken. Hinter dem riesigen Gebäude unten fächerte sich eine breite braune Straße auf und führte durch den dichten Dschungel zu drei beto nierten Raketen-Startrampen direkt am Ufer. Die Rampen lagen auf den Spitzen kleiner Landvorsprünge, die wie drei Finger aus der Insel heraus ragten. Auf der Rampe ganz rechts stand eine kantige, stumpfnasige Rake te wie die, deren Start Laura vor nur wenigen Minuten beobachtet hatte. Von der leeren Startrampe in der Mitte driftete noch jetzt weißer Rauch oder Dampf langsam in die Luft. Die Rampe ganz links lag, im Gegensatz zu den anderen, relativ nahe bei dem riesigen Gebäude. Auch sie war leer; ihr Versorgungsturm hielt einsam Wache und wartete auf die Rückkehr seines Schützlings. Jenseits der drei Startrampen gab es nur das ruhige Grün stiller Strande, das donnernde Weiß der Brandung gegen die Riffe der Insel und das gren 50
zenlose Blau der tiefen See, die Grays Königreich umgab. Hier war man isoliert, fern von allem, losgelöst. Trotz der Höhe, die der Wagen erreicht hatte, waren keine anderen Inseln zu sehen. Und diese war ein kleiner grüner Punkt in einem ungeheuer großen blauen Teich. Das Meer, dachte Laura, als sie in die Ferne schaute, diente als Burggraben. Es hielt Grays Geheimnisse drinnen und seine Feinde draußen. Jetzt rollte der Wagen in tintenschwarze Dunkelheit, und Laura keuchte vor Angst. Er schoss durch einen Tunnel, in dem trübe Lampen am Rand eines mit einem Geländer gesicherten Fußwegs die einzige Beleuchtung bildeten, bis er eine Kurve beschrieb und in die Sonne zurückkehrte. Es dauerte einen Moment, bis Lauras Augen sich angepasst und sie beg riffen hatte, dass der Wagen bremste. Zu ihrer Rechten kam hinter einer mit Efeu bewachsenen Steinmauer ein prachtvolles Gebäude in Sicht. Der Wagen verlangsamte bis auf Schritttempo und bog durch ein offenstehen des Eisentor ab. Vor Laura lag ein großer, mit Kopfsteinen gepflasterter und an drei Sei ten von den verputzten Mauern des großen Hauses begrenzter Hof. Bei derseits des Eingangs brannten einladend zwei große Gaslaternen, und von den Plastiken eines riesigen, wunderschönen Springbrunnens im Zentrum des Hofes stürzten Wasserkaskaden herab. Gepflegte Rabatten mit leuch tend bunten Blumen umgaben den Springbrunnen. Die Straße mit den erhöhten Bordsteinen führte durch dies alles hindurch und bildete dann eine um den Springbrunnen herumführende tränenförmi ge Schleife aus weißem Beton. Vor der Vorderfront des Gebäudes hielt der Wagen, und eine Frau in Jeans und einem kurzärmeligen T-Shirt kam die Stufen herunter. Die Tü ren öffneten sich automatisch mit einem leisen Zischen. »Dr. Aldridge, nehme ich an«, sagte die Frau – jetzt an der Bordstein kante – fröhlich. »Hallo«, erwiderte Laura und stieg aus in die erstaunlich frische Berg luft. »Ich heiße Janet Baldwin«, erklärte die Frau mit einem deutlichen aust ralischen Akzent. »Ich stehe Mr Grays Haushalt vor.« Laura reichte ihr die Hand und versuchte dabei ein Lächeln zu unterdrü 51
cken angesichts der Begegnung mit der ersten Person aus – wie sie vermu tete – einer ganzen Horde von Leuten, die sich einzig um die Bedürfnisse des einsiedlerischen Milliardärs kümmerten. »Ich nehme an, das hört sich für Sie ein bisschen merkwürdig an«, sagte Janet freundlich. Lächeln schien für sie etwas ganz Natürliches zu sein. Sie hatte sandfarbenes Haar, eine gebräunte Haut voller Sommersprossen und schien ungefähr Mitte vierzig zu sein. »Aber keine Sorge. Wir halten hier nicht viel von Formalitäten.« Laura sah, wie Janet einen Blick auf das ausgefranste Knie ihrer Jeans warf, bevor sie kehrtmachte und ihr die Eingangsstufen des Hauses hinauf voranging. Laura hob verstohlen ihr eigenes Knie an, um schnell das Ausmaß ihrer Anpassungsfähigkeit zu checken, dann trat sie unter einem mit Steinbildhauerei reich verzierten Portikus neben Janet. Ein Mann in einem weißen Jackett eilte die Stufen hinunter, um Janets Koffer aus dem Wagen zu holen, und Laura drehte sich noch einmal zum Hof um. Als der Mann ihren Koffer herausgeholt hatte, schlossen sich die Türen des Wa gens und er setzte sich in Bewegung, umrundete den Springbrunnen und fuhr dann auf seiner Straße davon – fahrerlos. »Das«, sagte Laura, nickend und eine Hand ausstreckend, »ist wirklich beeindruckend.« »Was? Der Wagen?«, fragte Janet. »Daran sieht man, dass Sie eben erst angekommen sind.« Sie machte kehrt und führte Laura durch die hohe Doppeltür aus facet tiertem Glas. Lauras Kinn sackte herab, als sie das Haus betrat. Praktisch jeder Quadratzentimeter der Wände war mit Gemälden in unterschiedli chen Formen und Formaten bedeckt. Ihr Herzschlag beschleunigte sich, als sie auf mehreren die impressionistische Pinselführung großer Meister entdeckte. In Grays Haus, dachte sie, waren das bestimmt keine Kopien. An beiden Wänden führte eine geschwungene Treppe hoch hinauf in den ersten Stock. Unterhalb der Treppe gewährte ein breiter Korridor Zugang zum Rest des Erdgeschosses. Laura stand da und gaffte wie eine Touristin. Der auf Hochglanz polierte Parkettboden wies Einlagen aus dunklem Marmor in Mustern von ver schiedener Größe und Vielfalt auf. Die Decke über ihr war mindestens 52
zwölf Meter hoch. Von ihrer Mitte hing ein prachtvoller Kristallleuchter herab. Das Gefühl, das Laura angesichts der Größe des Eingangsbereichs hatte, glich dem, das sie beim Betreten einer großen Rotunde empfunden hatte. Dieses Gefühl war so stark, dass sie, als sie Janet über das Parkett folgte, die Marmorintarsien musterte, um zu sehen, ob sie vielleicht eine Karte der fünfzig Bundesstaaten bildeten oder vielleicht auch der Inselket te, zu der Grays Eiland gehörte. Aber die Intarsien wiesen kein derartiges Muster auf. »Sie sollen während Ihres Besuchs hier in Mr Grays Haus wohnen«, sag te Janet, während sie Laura zur Treppe führte. »Wobei ich annehme, dass Sie mit Ihrer Unterkunft zufrieden sein werden.« Lauras Staunen verwan delte sich in ein nervöses Kichern, als ihr Blick über die Werke von Renoir und Matisse und anderen schweifte, deren Signaturen ihr unbekannt wa ren. »Ich glaube, Sie joggen gerne.« Laura war nicht klar, ob ihre Führerin das sagte oder fragte. »Ja, das tue ich.« Janet hatte das wohl, dachte Laura, augrund ihrer Nylon-Laufschuhe vermutet, die auf dem polierten Boden laut quietschten. Laura war erleichtert, als sie endlich Marmor und Hartholz hinter sich hatten und auf den Orientteppich traten, der mit funkelnden Messingstan gen fest auf den Treppenstufen befestigt war. »Sie werden feststellen, dass neben den meisten Straßen ein Fußweg ver läuft. Die Luft ist ein bisschen dünner hier oben – wir sind fast fünfzehn hundert Meter hoch –, aber sie ist auch ein wenig kühler. Unten im Dorf ist es wesentlich feuchter und heißer.« »Im Dorf?«, fragte Laura, abermals belustigt lächelnd. Der Herr, der auf dem Gipfel des Berges in seiner Burg lebte. Und das Dorf darunter. »So nennen wir den Ort, an dem die Angestellten und ihre Angehörigen wohnen. Er hat ungefähr fünftausend Einwohner, und Anfang des Jahres haben sie ein Preisausschreiben veranstaltet, um ihm einen Namen zu geben. ›Workers‹ Paradise’ war, glaube ich, der Sieger, aber die Bezeichnung hat sich nicht durchgesetzt.« Sie hatten das Ende der Treppe erreicht und schritten einen kurzen Flur 53
entlang, dessen Decke gewölbt und von weichem, indirektem Licht be leuchtet wurde. Überall war die Ausstattung des Hauses erlesen – man hatte keine Kosten gescheut. Aber warum auch?, dachte Laura, wobei sie sich vorstellte, wie der megareiche Gray an sonnigen Sommertagen Eis skulpturen zu seinem Vergnügen bestellte und kubanische Zigarren mit Hundert-Dollar-Scheinen anzündete. Eine Reihe von Glastüren stand offen. Der Flur mündete in einen ande ren, der sich links und rechts in einer sanften Kurve außer Sichtweite er streckte. Das musste das Gebäude sein, das sie auf ihrer Fahrt den Berg hinauf gesehen hatte. Von außen hatte es wie ein Ferienhotel gewirkt. Aber innen sah es aus wie… Also, dergleichen hatte Laura noch nie gese hen. Janet wendete sich nach links, und Laura folgte ihr. Die wenigen Türen, die sie passierten, befanden sich alle an der rechten Seite des Flurs – an der Innenseite des konkaven Ganges. In diesem Teil des Hauses war die Ausstattung zurückhaltender – nur hier und da eine Nische mit einer schwach angestrahlten Statue. Vielleicht mußte Gray ein bißchen sparen, dachte Laura. Steck alles, was du hast, in den Eingangsbereich, und knau sere bei den Gästezimmern. Janet blieb vor einer drei Meter hohen Tür stehen, die in einen Raum mit einer vier Meter hohen Kassettendecke führte. Der untere Teil der Wände war mit reich geschnitzter, weiß gestrichener Täfelung bedeckt. Die Tape te darüber war kobaltblau und harmonierte mit dem dunkleren Blauton der schweren, mit Bändern zusammengerafften Vorhänge. Die Sonne strömte durch die Fenster hinter den Vorhängen – die ganze Wand bestand aus von weißer Gaze leicht verhülltem Glas. Laura trat ein und staunte über die Ausmaße des Zimmers. Ein dicker Orientteppich bedeckte den Boden. Er war so groß, dass Laura sich klein und fehl am Platze vorkam. Da waren Bücherschränke mit ledergebunde nen Büchern und Tische, auf denen Porzellanfiguren standen. Massive Goldrahmen fassten Ölgemälde ein unter Lampen mit Messingschirmen. Ein Flügel stand unbeachtet in einer Ecke; seine schwarzlackierte, völlig staubfreie Oberfläche reflektierte das Sonnenlicht. »Das ist ihr Wohnzimmer«, sagte Janet und führte sie zu einer offenste 54
henden Tür am anderen Ende des Teppichs. Laura folgte Janet an einem antiken Schreibtisch und an Sofas vorbei, die einen Bogen vor einem pras selnden Kaminfeuer bildeten, sowie entlang einer Bar, hinter deren dunk len Holzpaneelen sich, wie Janet erklärte, eine voll eingerichtete Küche befand. Durch die Tür gelangten sie ins Schlafzimmer. Es war geräumig, aber nicht so absurd riesig wie das Wohnzimmer und wirkte deshalb behagli cher. Auf einem breiten Himmelbett türmten sich Stapel von Kissen. Janet zog die Vorhänge auf, und die helle Nachmittagssonne flutete herein. Laura trat an das Fenster, das sich auf ganzer Wandlänge vom Fußboden bis zur Decke erstreckte. Sie holte tief Luft und stieß sie mit einem »Wow!« wieder aus. Das »Dorf« lag, halb unter dem Blätterwerk verborgen, ungefähr andert halb Kilometer entfernt. Der Dschungel, die offenen grünen Rasenflächen, die Raketenrampen, der schwarze Sandstrand und die Blau- und Grüntöne des Meeres lagen alle direkt unterhalb ihres Schlafzimmers. »Es ist immer wieder schön, das alles mit den Augen von jemandem zu sehen, der gerade erst eingetroffen ist«, sagte Janet. »Ich denke da an den Tag meiner Ankunft. Und an die Träume, die ich über das Leben in die sem Haus hatte.« Laura schaute sich um und bemerkte, dass Janets Miene sich vollständig verändert hatte. »Also«, sagte sie, wieder zum Tonfall eines Führers bei einer Orientie rungstour durch Lauras Suite zurückkehrend, »alle Ausblicke befinden sich an dieser Seite des Hauses.« Sie sah weder Laura an, noch genoss sie die Aussicht. »Das Haus selbst ist nämlich aus der Bergflanke herausgear beitet worden.« Jener besondere Augenblick – was immer ihn ausgemacht hatte – war verflogen, und Laura drehte sich wieder um und blickte hinaus auf Grays Insel. Im Zentrum ihres Blickfeldes stand das riesige fensterlose Gebäude, das aus dem baumlosen grünen Feld aufragte. »Wozu dient das gewaltige Ding da unten?«, fragte Laura, fühlte sich aber nicht genötigt, darauf zu zeigen. Es gab nur ein einziges Bauwerk, das die Landschaft unter ihr dominierte. 55
»Das ist die Montagehalle. Dort findet der größte Teil der Produktion statt. Aber man wird Sie später sowieso herumfuhren, da bin ich ganz sicher.« Als nächstes präsentierte Janet das marmorne Badezimmer, das einen Whirlpool enthielt, so groß, dass man darin hätte Purzelbäume schlagen können, und abgetrennte Räume für Toilette und Bidet. Als sie den separa ten Raum betrachtete, der Sauna und Dampfbad enthielt, murmelte Laura: »Ohne sie ist kein Badezimmer komplett, das habe ich schon immer ge sagt«, sehr zur Belustigung ihrer Führerin. Dann betraten sie einen Schrank, der selbst ein kleines Zimmer war. Er enthielt hohe Spiegel hinter Podesten für Anproben, gepolsterte Bänke und niedrige Sitzkissen für den Fall, dass sie sich ausruhen wollte, und Reihen von Hängestangen für ihre Garderobe. Laura wurde sofort unbehaglich zumute. Die Sachen, die sie mitgebracht hatte, passten auf drei oder vier Kleiderbügel in einer winzigen Ecke des Schrankes, der ungefähr so groß war wie ihre gesamte Wohnung daheim in Cambridge. Als die Besichtigung endlich vorüber war, sah Janet Laura erwartungs voll an. »Oh«, stammelte Laura, »das sollte eigentlich genügen.« Janet lachte laut heraus, was sie sofort als unschicklich empfunden ha ben musste, denn sie schlug die Hand vor den Mund und wendete sich ab. Gleich darauf hatte sie sich wieder genügend unter Kontrolle, um zu sagen »Bitte entschuldigen Sie.« Sie beendete den Lachanfall mit einem Lä cheln, aus dem so viel echte Freude an diesem Augenblick sprach, dass Laura sich fragte, wie oft Janet wohl aus diesem Haus herauskam. »Also«, fuhr Janet fort, jetzt wieder ganz gefasst, »Mr Grays Diener wird sich um Ihre Sachen kümmern. Falls Sie etwas brauchen oder haben möchten – persönliche Dinge, die Sie vielleicht vergessen haben, Klei dungsstücke, Essen oder Getränke, die nicht in der Küche vorrätig sind, oder sonst irgendwas – dann wählen Sie nur die Null am Telefon.« »Und wenn ich ein Ferngespräch führen möchte?«, fragte Laura. Sie dachte an Jonathan, dem sie hatte versprechen müssen, anzurufen. Außer dem konnte sie es kaum abwarten, ihm zu erzählen, was sie bisher gesehen hatte. Aber auch der Gedanke an die Karte mit der FBI-Nummer in ihrer Brieftasche schoss ihr durch den Kopf. 56
»Wählen Sie einfach, wie Sie es in den Staaten tun würden«, erwiderte Janet. Lauras Augen wurden ungläubig staunend von dem Teeservice angezo gen, das für sie zwischen Sofas und weichen Sesseln bereitstand. Mein Kleiderschrank enthält ein Teezimmer, dachte sie beinahe fassungslos. Als sie sich umsah, war Janet verschwunden. Laura war allein. Sie kehrte in ihr Schlafzimmer zurück und stellte fest, dass irgendwann während ihrer Besichtigungstour ihr Koffer eingetroffen war. Es herrschte Stille. In dem großen Haus schien niemand irgendwelche Geräusche zu verursachen. Keinerlei Lebenszeichen? Laura fragte sich, ob hier überhaupt jemand lebte. Nach dem Auspacken ging sie auf Erkundungstour. Auf dem Schreib tisch in dem großen Wohnzimmer stand ein Computer, und an der Wand hing ein Exemplar der Grayschen Fernsehproduktion mit dem Flachbild schirm. Sie betrachtete den Bildschirm besonders eingehend. Diese Fern seher waren vor nur zwei Jahren überall aufgetaucht. Nach einer großen Werbekampagne hatten die gigantischen amerikanischen Elektronikkon zerne von der Bundesbehörde für Fernmeldewesen die Genehmigung zur Ausstrahlung des hochauflösenden Fernsehens erhalten. Die ersten dieser neuen Geräte waren kaum auf dem Markt gewesen, als der Außenseiter Gray damit begann, sein eigenes System zu offerieren. Die Giganten hat ten Zeter und Mord geschrien. Als Gewinner der Multi-Milliarden-DollarKonkurrenz bei der Ablösung des bisherigen NTSC-Standards durch das neue, hochauflösende System ersuchten sie die Regierung um Protektion und erhielten sie anfangs auch. Washington untersagte Gray den Verkauf in den Vereinigten Staaten. Aber Gray ging auch weiterhin seinen Ge schäften nach, beförderte Satelliten in den Weltraum, stellte Programme bereit und verkaufte seine Geräte in Kanada, Europa und dem Fernen Osten. »Gray-Geräte« begannen in den Vereinigten Staaten auf dem grauen Markt aufzutauchen, jedoch konnten Grays Satellitensignale bei deren Ausstrahlung nach Kanada nur von Piratensendern in der nördlichen Staa tenkette empfangen werden. Aber die Leute hörten allmählich auf, die von 57
der Bundesbehörde genehmigten Geräte zu kaufen, als ein Artikel nach dem anderen die Überlegenheit von Grays Geräten pries und den Bankrott von Grays Konkurrenten vorhersagte. Klagen wurden eingereicht, Unter suchungsausschlüsse eingesetzt, und schließlich hatte das Konsortium der von der Bundesbehörde gebilligten Konzerne Gray ein Joint Venture an geboten. Gray hatte das Angebot abgelehnt. Unter dem immensen öffentli chen Druck von Verbraucherverbänden hatte die Bundesbehörde schließ lich nachgegeben und den Verkauf von Grays Fernsehern in den Vereinig ten Staaten gestattet. Die aufgestaute Nachfrage entlud sich wie ein Dammbruch, und Grays Produktion und Verkaufsziffern schnellten in die Höhe, während seine Konkurrenten und Möchtegern-Partner Konkurs anmeldeten. Das Sahnehäubchen auf dem Verbraucherkuchen kam, als Grays System den Zugang zum World Wide Web ermöglichte. Das Ergebnis war eine Kombination von Telefon, Fernsehen und Computer-Technologie für alle Benutzer, die für die Verlegung von Kabelanschlüssen zu ihrem Haus ein paar Dollar mehr investierten. Grays System war das Nonplusultra an Interaktivität. Eine kleine Linse am unteren Rand jedes Fernsehers wurde zum eigenen Fernsehstudio. »In den Kanälen surfen« und »Im Web herumwandern« wuchsen zu nicht mehr unterscheidbaren Beschäftigungen zusammen. Mit der Fernbedie nung konnten die Betrachter ganz einfach von C-SPAN ins Internet und wieder zurück schalten. Im Web konnten sie alles finden: Von raffinierter Produktwerbung bis zum Kid im Medienzimmer seiner Eltern, das eine hervorragende Imitation von ›Wayne’s World‹ lieferte – alles in erstklas siger Bildqualität und in Stereo. Anfangs gab es düstere Vorhersagen, dass die Lieferanten von Porno graphie das Geschäft ihres Lebens machen würden. Aber dann geschah auf der Straße von der Vulgarität zum Reichtum etwas Merkwürdiges. Die Profi-Pornographen wurden von Amateuren aus dem Geschäft gedrängt, die ihren Schmutz kostenlos anboten. Laura hatte sich das gesamte System zugelegt, seine Möglichkeiten aber nie erkundet, bis sie eines Samstags einen Artikel in Newsweek gelesen hatte. Darin hieß es, das Netz erwache spät nachts zum Leben; also hatte sie sich eingeloggt, bevor sie zu Bett 58
ging. Sie war bis vier Uhr morgens aufgeblieben – völlig verblüfft und zutiefst angewidert. Offenbar waren alle Anstrengungen der Zensoren von technisch versier teren Teenagern zunichte gemacht worden. Indem sie »anonyme Server« nutzten, tauchten immer wieder Untergrund-Sendungen auf, deren Her kunft niemand aufspüren konnte. In der Freiheit, die diese Anonymität gewährte, prosperierten die dunkleren Nebenstraßen der Daten-Autobahn. Der Artikel in Newsweek war Lauras Führer gewesen. Als sie die »Newsgroup« gefunden hatte war das, was sie sah, zu ihrer Verblüffung live gesendete und unzensierte Pornographie; Ein Junge und ein Mädchen mit Halloween-Masken, die auf einem Sofa vor dem Fernseher Sex mit einander hatten. Eine Stimme außerhalb des Kamerabereichs kommentier te fortlaufend die umgeblätterten Seiten eines Männermagazins. Laura sah sogar ein Video von einem High School-Mädchen beim Duschen, das durch ein kleines Loch in der Wand fotografiert worden war. Sie hatte Geschichten gehört von Männern, die von solchen Dingen der art besessen waren, dass sie ihre Häuser überhaupt nicht mehr verließen. Es gab sensationelle Berichte von Scheidungsprozessen; professionelle Artikel über obsessiv-kompulsive Persönlichkeitsstörungen. Laura schüt telte den Kopf – alles wegen eines Fernsehgeräts. Vorsichtig fuhr sie mit der Hand über die feine Körnung des matt schwarzen Bildschirms: Ein Flüssigplasma-LCD, das keine sperrigen Projektoren oder ähnliche Vorrichtungen benötigte. Nur die einen Quad ratmeter große Antenne, die – in Lauras Wohnung – an der Wand des Dielenschrankes hing und »elektronisch« eingestellt wurde, was immer das heißen mochte. Es gab nicht einmal Leitungen, die beides miteinander verbanden. Wie das funktionierte, hatte Laura noch nie begriffen. Der Bildschirm unter Lauras Fingerspitzen war nur zweieinhalb Zenti meter dick und hing wie ein Gemälde flach an der Wand. Er hatte fast dieselben Proportionen wie eine Kinoleinwand – breiter als hoch. Das ermöglichte – so hatte sie auf der ersten Seite der dicken Bedienungsanlei tung zu Hause gelesen, bevor sie das Interesse verloren hatte – eine stärker panoramische Sicht, wie Filmregisseure sie bevorzugten. Und die Bildqua lität… Sie hatte nie eines der Geräte von Grays Konkurrenz gesehen, be 59
vor er sie aus dem Geschäft drängte, doch es hieß allgemein, Grays Geräte seien unvergleichlich besser; ihre Auflösung gleiche der eines Fünfunddreißig-Millimeter-Fotos. Nachdem die Verbraucher sie gesehen und den digitalen Rundumton und die großen Tiefstton-Lautsprecher gehört hatten, die in ihnen verborgen waren und direkt durch das Gitterwerk unter dem Bildschirm erklangen, waren die alten NTSC-Geräte mit einem Schlag überholt. Plötzlich musste jeder eines der neuen Geräte haben, trotz ihres hohen Preises. Die besten – mit dem Sechs-Meter-Bildschirm und Raumbeschal lung aus fünfzehn Lautsprechern – kosteten mehr als fünfzigtausend Dol lar. Doch die Leute spielten verrückt. Hochauflösende Fernsehsysteme standen rasch an dritter Stelle bei Darlehensaufnahmen, nach Haus und Auto. Alle kauften und kauften. Sogar Laura, die das Fernsehen nicht mochte, hatte fast zehntausend Dollar ausgegeben, die sie nicht besaß, als sie eines Samstagnachmittags ein Tuch für ihre Sekretärin kaufen wollte. Das war eine Stange Geld, aber bei einer Finanzierung mit zehnjähriger Laufzeit waren es nur ein paar hundert Dollar pro Monat. Dazu hatte es nicht mehr bedurft als einer Vorführung im Einkaufszent rum. Sie ging gerade vorüber, als sie über den Köpfen der Menge einen dieser Bildschirme sah. Alle Leute, die ihn anstarrten, waren völlig hinge rissen. Laura hatte eine Dreiviertelstunde in der Schlange gestanden, um das Gerät zu kaufen, und dabei unablässig auf die unglaublich klaren und gestochen scharfen Bilder geschaut. Kredit wurde sofort gewährt. Das Gerät wurde noch am gleichen Tag installiert, von Männern in sauberen blauen Overalls, die auf die Minute pünktlich erschienen und nach einer halben Stunde alles in bester Ordnung verließen. Gray machte alles mög lich. An diesem Abend hatte Laura Freunde eingeladen, denen sie das Gerät vorführte. Es gab ein Demo-Programm, das man aus einem bei der Einschalt-Routine erscheinenden Menü auswählen konnte. Es zeigte eine Achterbahnfahrt in einem Vergnügungspark. Zuerst der Himmel – ein dunkles Blau mit flauschigen, unglaublich detaillierten Wolken. Man konnte so dicht vor dem Bildschirm stehen, wie sie jetzt hier stand – man konnte sogar die Nase daran drücken, wie es der allmählich betrunkener 60
werdende Jonathan getan hatte –, und sah trotzdem keine zackigen Linien oder verschwommenen Ränder. Und dann war da die atemberaubende Pause am Ende der Aufwärtsfahrt der Achterbahn gewesen, bevor sie mit klappernden Rädern, pfeifendem Wind und schreienden Fahrgästen ab wärts sauste. Erst als sie die Demonstration zum zweiten Mal anschauten, begriff Laura, dass das Schreien nicht von der Tonspur, sondern von ihrem Publikum kam… Jemand klopfte und brachte Laura zurück in die Gegenwart. Sie ging zur Tür und ergriff die solide Messingklinke. Das musste Gray sein. Sie konn te seine Gegenwart durch das dicke, dunkel gebeizte Holz hindurch spü ren. Ihr Herz raste, als sie die schwere Tür öffnete. Ein Mann in einer Weste stand vor ihr, in der Hand ein silbernes Tablett, auf dem ein Briefumschlag lag. Es war eine Einladung: »Mr Joseph Gray bittet um das Vergnügen Ihrer Gesellschaft beim Dinner heute Abend um acht Uhr. Zwanglose Klei dung.« Um acht folgte Laura dem Diener die prachtvoll geschwungene Treppe hinab. Sie trug ihr einziges Kleid – ein schlichtes, ärmelloses mit einem Gürtel um die Taille – und blaue Pumps. Mit einem tiefen Atemzug ver suchte sie sich zu beruhigen. Sie ärgerte sich, dass etwas so Triviales wie ein nicht ganz passendes Kleid sie so nervös machte. Sie ärgerte sich auch darüber, dass Jeans, T-Shirts und Jogging-Bekleidung die einzigen ande ren Sachen in ihrem Koffer waren. Wenigstens hatte sie Zeit zum Duschen gehabt und um etwas mit ihrem Haar zu machen, das sie normalerweise hochgesteckt trug. Jetzt hing es auf die Schultern herab und verlieh ihrem Auftreten eine gewisse Formalität, die ihr ein klein wenig Selbstvertrauen vermittelte. Laura streckte den Rücken und trat mit so viel Würde ein, wie sie aufbringen konnte. Das Esszimmer war leer. An dem einen Ende des langen Tisches, nahe dem Fenster, waren, einander gegenüber, zwei Gedecke aufgelegt worden. Der Raum war schwach beleuchtet, von Kerzen in der Mitte des Tisches und sanft, indirekt aus dem Stuckkranz an der Decke. Im Kamin glühte warm ein Feuer. Leise Kammermusik drang aus irgendwelchen unsichtba 61
ren Lautsprechern – oder vielleicht aus einem unsichtbaren Alkoven, in den Gray vier Musiker gestopft hatte? Laura zog es an den Gedecken vorbei an die gläserne Wand, durch die man auf das Festival der Lichter unten blicken konnte. Helle Lampen funkelten im »Workers’ Paradise«, wo die Menschen, wie sie vermutete, ihr sorgenfreies Leben in Grays Feudalreich genossen. Doppelscheinwer fer von Wagen bewegten sich auf den Straßen und Gassen des geschäfti gen Bezirks. Jenseits des Dorfes waren das riesige Montagegebäude und die drei Ra ketenrampen in grelles Licht getaucht. Auch an anderen kleinen Nischen und Flecken hatte Gray die Nacht zum Tage gemacht. Einer war, wie sie erkannte, ein Feld am Dorfrand, auf dem irgendein Ballspiel stattfand. Die anderen Lichtflecke – in weiten Abständen über die Dunkelheit der Insel verstreut – hatten keine erkennbare Funktion. »Interessante Perspektive von hier oben, nicht wahr?« Laura drehte sich um und sah zwei blaue Augen, die auf die funkelnden Lichter hinabschauten. Gray war aus dem Nirgendwo direkt neben ihr aufgetaucht. Sie spürte, wie sich ihr Hals zuschnürte; es fühlte sich an wie ein Zwicken direkt oberhalb ihres Kehlkopfes. »All diese Aktivitäten erscheinen aus der Nähe individuell«, sagte er, »aber aus der Ferne betrachtet so gemeinschaftlich.« Gray musterte sie mit einem freundlichen Lächeln – das Weiß seiner Zähne bildete einen schar fen Kontrast zur Bräune seiner Haut und zu seinem dunklen Haar. Er sah so viel jünger aus, als Laura sich vorgestellt hatte, dass sie sich unwillkür lich fragte, ob er es wirklich war. Aber die Augen… Das Lächeln war jetzt auf seinem Gesicht erstarrt, nicht länger natürlich. Er schaute sie durch zusammengekniffene Augen so intensiv an, dass sie gezwungen war, den Blick abzuwenden und wieder auf das Dorf unten zu richten. Trotzdem war sich Laura eindringlich dessen bewusst, dass sich sein beharrliches Interesse nach wie vor auf sie richtete. Der Augenblick – Grays Anstarren – dauerte zu lange und Laura spürte, wie diese seltsam peinliche Begegnung sie erröten ließ. Aus dem Augenwinkel heraus bemerkte sie, dass er ihr die Hand entge gengestreckt hatte. 62
»Joseph Gray«, sagte er. Der Ton seiner Stimme hatte sich verändert. Sie klang fragend, als wartete er jetzt darauf, was sie als nächstes tun oder sagen würde. Sie holte tief Luft und schaute ihn direkt an. Er ergriff sanft ihre Hand. Sie schüttelte die seine kräftig, nur einmal, geschäftsmäßig. »Laura Ald ridge.« Sein Blick ruhte immer noch auf ihr, aber diesmal schaute sie nicht weg. Sie starrte ihn gleichfalls an, und Gray brach den Blickkontakt als erster, mit einem verwirrten, erstaunten Ausdruck im Gesicht. »Ich – äh… ich freue mich sehr, dass Sie gekommen sind, Dr. Aldridge.« Sie nickte und lächelte verhalten. Ganz ruhig, befahl sie sich und biss die Zähne zusammen. »Bitte, nehmen Sie doch Platz«, sagte Gray und geleitete Laura zu einem Stuhl, den er für sie zurechtrückte. »Ich hoffe, Sie hatten einen angeneh men Flug.« »Danke, den hatte ich«, sagte sie, als Gray sich ihr gegenüber niederließ. Ein Diener erschien und schenkte Rotwein in ihre Gläser ein. »Ich hatte schon von diesen neuen Maschinen gehört – den Überschallflugzeugen.« »Oh, die… die Grumman-Suchoi?« »Wirklich eine gute Idee. Zeit ist ein so wertvolles Gut und die Techno logie zum Beschleunigen des Reisens existierte, also…« Er zuckte mit den Schultern und breitete die Serviette auf seinem Schoß aus. »Wenn ein derart gutes Produkt noch nicht entwickelt worden wäre, hätte ich meine Leute darauf angesetzt.« Laura trank einen Schluck Wein, um ihr Grinsen zu verbergen. »Meine Leute«, dachte sie, die braven Leibeigenen in dem Dorf da unten. Die Trockenheit des Weins verwandelte sich rasch in einen wunderbaren Nachgeschmack. Laura betrachtete die dunkle Flüssigkeit und trank einen weiteren Schluck. Fantastisch. »Also«, sagte Gray, »und wo wohnen Sie?« Lauras Kopf fuhr hoch. Sie verschluckte sich fast an ihrem Wein und musste in ihre Serviette husten. Nachdem sie sich geräuspert hatte, fragte sie verblüfft mit noch immer krächzender Stimme: »Wie bitte?« 63
»Wo hat man Sie untergebracht?«, wiederholte Gray, jetzt in einem et was unsichereren Tonfall. »Ich wohne… oben. In Ihrem Haus.« Er schien überrascht, und sein Ge sicht rötete sich. »Sie haben doch nichts dagegen? Ich meine, ich wollte nicht…« »Nein, nein. Das ist… es ist…« »Ich könnte ohne weiteres…« Laura hob die Schultern. »Nein. Auf gar keinen Fall.« Gray räusperte sich. »Und haben Sie alles, was Sie brauchen?« »Nein«, erwiderte sie, dann versuchte sie, ihre verwirrende Antwort rasch zu korrigieren. »Nein… nein, ich meine, ich brauche überhaupt nichts. Also hätte ich wohl ›ja‹ sagen müssen«, erklärte sie mit einem schwachen Auflachen. Dann trank sie einen weiteren, größeren Schluck Wein. »Ja – was?«, fragte Gray verwirrt. Sie holte tief Atem, schwieg aber einen Moment. »Ich meine, ja – ich habe alles, was ich brauche, vielen Dank.« In dem Raum breitete sich völlige Stille aus. In ihr hörte sich Lauras Atmen wie gereizte, abgrundtiefe Seufzer an. Sie blickte nach unten, um sich mit der weißen Leinenserviette die Lippen abzutupfen, und sah ihr schlichtes Kleid. Aber dann schaute sie wieder auf und nahm zum ersten Mal wahr, dass Gray selbst einen Freizeitpullover trug, die Ärmel bis zu den Ellenbogen aufgekrempelt; Blue Jeans und einen Pullover. Das kam ihr merkwürdig vor. Eigentlich hatte Laura sich ihn immer als einen Mann in einem konservativen Anzug vorgestellt. Gray nahm einen Bissen von den sautierten Pilzen, die von zwei schwei gend und gleichzeitig agierenden Bedienungen vor sie hingestellt worden waren. Er ertappte sie dabei, wie sie ihn musterte, und sie senkte den Blick auf ihren Teller. »Ihr Haus ist wundervoll«, sagte Laura, spießte einen der delikaten Pilze auf und schob ihn in den Mund. Er schmeckte köstlich. »Danke«, erwiderte Gray. »Ich kann nicht behaupten, dass ich viel mit der Ausstattung zu tun hatte.« Er sah sich um, als suchte er nach etwas, worüber er eine Bemerkung machen könnte. »Sieht irgendwie«, murmelte er kauend, »altenglisch aus, mit einem Anhauch von Science Fiction.« Ihre 64
Augen schweiften über die Kristallkaraffen, die silbernen Servierschüsseln und die Zierteller, die auf Regalen zur Schau gestellt waren, aber ihr Blick endete bei der Glaswand. Die Montagehalle und die Raketenrampen schienen gewissermaßen in der Dunkelheit zu schweben. Ein rascher Blick auf Gray offenbarte Fältchen um seine Augen herum. Er hatte einen Scherz gemacht. Laura lächelte verspätet. »Also«, sagte Gray, legte seine Gabel auf den Teller und tupfte sich mit der Serviette die Lippen ab, »was das Geschäftliche angeht – ich habe Ihr Honorar auf ein Konto bei der Chase Manhattan Bank überweisen lassen, das wir für Sie in Boston eröffnet haben. Eine Million Dollar, abzüglich Steuern.« Laura spürte, wie ihr Gesicht rot wurde, als er diesen horrenden Betrag nannte. »Danke«, sagte sie – und empfand es sofort als jämmerlich unzu längliche Erwiderung. Gray schien es nicht zu bemerken. Sie ertappte sich dabei, wie sie »eine Million Dollar« dachte, dann ver drängte sie das Thema rasch. Bisher hatte sie keinerlei Pläne für die Ver wendung des Geldes gemacht. Sie hatte noch nicht einmal richtig begrif fen, dass das Geld da sein würde, wenn sie nach Hause zurückkehrte. Aber jetzt stellte sie sich zum ersten Mal vor, wie sie ihren Kontoauszug betrachten und das Guthaben sehen würde. Als Laura aufschaute, stellte sie fest, dass Gray mit seiner Vorspeise fer tig war. Sie holte sich rasch die restlichen Pilze von der kleinen Platte. Sie schmeckten so delikat, dass es ihr widerstrebte, sie in die Küche zurück gehen zu lassen. »Nach meinem Zeitplan«, sagte Gray, »hat Ihre einwöchige Arbeit be gonnen, als Sie in Ihr Flugzeug stiegen, und sie endet…«, sein Zögern ließ sie aufblicken. »… nun ja, mit Ihrer Rückkehr nach Boston am Sonntag, vermute ich, obwohl ich noch nicht weiß, ob Sie für Ihre Arbeit die ganze Woche brauchen werden.« Der erste Gang wurde abgeräumt und ein zweiter serviert Rindstournedos, diverse Gemüse und zu einer Muschel geformtes Kartof felpüree. »Sehen Sie«, sagte Gray und stocherte in seinem Essen,, »wir stehen ein 65
bisschen unter Zeitdruck. Wir arbeiten auf Vierundzwanzig-StundenBasis, aber Sie brauchen natürlich nur so viel zu tun, wie Sie glauben schaffen zu können.« Ein Diener erschien mit einer neuen Flasche Rotwein. »Oh, ich hätte gern noch etwas von dem hier«, sagte Laura und deutete auf die noch immer halbvolle Flasche auf dem Tisch. »Was ist das für ein Wein?«, fragte sie und trank einen weiteren kleinen Schluck. »Er ist wundervoll.« Gray drehte die Flasche, um das Etikett lesen zu können. Er hatte offen sichtlich keine Ahnung. »Es ist ein Merlot, Kalifornien, 1978.« Er schenk te sich selbst ein weiteres Glas ein; das Thema war damit offensichtlich für ihn erledigt. Sie aßen jetzt in völligem Stillschweigen; die einzigen Geräusche waren das leise Klirren von Besteck auf Tellern. Laura tat so, als interessiere sie die Tapisserie an der Wand hinter Gray, die dekorative steinerne Umman telung des Kamins, die Blumen in dem großen Arrangement auf der Mitte des Tisches. Dabei warf sie jedesmal einen verstohlenen Blick auf Gray. Er war schlank, aber seine Schultern waren breit. Sein Kinn wirkte kantig, aber nicht so, dass es das Oval seines Gesichts beeinträchtigt hätte. Sie sah Haare auf seinen Unterarmen und am unteren Ende des V-Ausschnitts an seinem Pullover, aber sein Hals und seine Hände waren glatt. Als sie das nächste Mal in seine Richtung schaute, senkte er rasch den Kopf. Er hatte die nackte Haut ihrer Oberarme betrachtet. Laura warf einen verstohlenen Blick nicht auf Gray, sondern auf sich selbst, auf ihre Arme. Sie waren zu mager, zu bleich. Er war braunge brannt, und mit ihm verglichen sah sie geradezu kränklich aus. Das läuft ja prächtig, dachte Laura. Die Stille im Zimmer kam ihr plötz lich erstickend vor. Es hätte ebenso gut ein Metronom da sein können, das im Rhythmus ihres Schweigens tickte – das Vergehen der Zeit maß, in der Laura nichts zu sagen hatte. Die Stille schien plötzlich auf ihr zu lasten, sie zu drängen, sich unter ihrem wachsenden Gewicht zu winden. »Was ist mit…«, setzte sie an, während Gray gleichzeitig sagte: »Sie sind…« Einen Augenblick herrschte Verwirrung, aber schließlich gewann Laura, indem sie darauf bestand, Gray solle als erster sagen, was er hatte sagen wollen. 66
»Sie sind am richtigen Abend für eine Show angekommen«, sagte Gray, hob seinen Arm und schaute auf die Uhr. »In ungefähr fünf Minuten sollte ein Shuttle landen.« »Sie meinen, dort drüben?«, fragte Laura und deutete mit einem Kopfni cken auf die drei hellen Lichtinseln, die in der Dunkelheit hinter dem Fenster zu hängen schienen. Als sie sich umdrehte, ertappte sie ihn abermals dabei, wie er sie an schaute. Gray senkte den Kopf und nickte, plötzlich vollauf damit beschäf tigt, mechanisch sein Essen zu verspeisen. Wieder breitete sich diese unbehagliche Stille am Tisch aus. Wieder war Gray mit dem Gang fertig, bevor Laura auch nur die Hälfte geschafft hatte. »Wir haben durchschnittlich zwei Starts und Landungen pro Woche«, sagte er aus heiterem Himmel, ließ seine Serviette auf den Tisch fallen und nahm die Unterhaltung wieder auf, die ihrer Meinung nach längst gestor ben war. »In letzter Zeit vor allem Wartungsarbeiten an den Satelliten. Aber auch ein paar neue Märkte. Heute wurde ein Satellit hinaufgeschickt, der die Versorgung Indonesiens vervollständigen soll.« »Ja, ich habe es gesehen«, sagte Laura und vertilgte mit einem einzigen Bissen ein Stück Fleisch, das ungefähr doppelt so groß war wie die Porti on, die sie normalerweise aß. Gray schaute aus dem Fenster – nicht auf die Erde, sondern zum Him mel. Dann sah er wieder auf die Uhr. »Unsere Antennen sind so klein«, fuhr er fort und überraschte Laura erneut mit diesem plötzlichen Hinweis, »dass die Übertragungen von den Satelliten sehr viel Energie erfordert. Wir haben die traditionelle Methode der Stationierung in einem geosyn chronen Orbit erprobt, sodass sie große Gebiete abdecken konnten, aber in einer Höhe von sechsunddreißigtausend Meilen konnten sie uns nicht die Effizienz garantieren, die für fünfhundert Kanäle und die üblichen EinMeter-Antennen notwendig ist. Also schickten wir stattdessen ein paar hundert Satelliten auf eine erdnahe Umlaufbahn. Sie fliegen ziemlich schnell vorüber, aber es ist immer zumindest einer über jedem Markt, den wir bedienen. Im Grunde ist es eine überaus komplizierte Sache, das Über fliegen so zu planen, dass sie ihren Sendeaufgaben nahtlos nachkommen können. Ein Satellit sendet ein paar Minuten auf einer Ost-West67
Umlaufbahn über den Vereinigten Staaten, dann überquert er den Atlantik und beginnt in Großbritannien zu senden. Anschließend schaltet er auf Französisch, Deutsch, Ungarisch, Ukrainisch und Russisch um. Ich glau be, mit den Kasachen sind wir noch nicht im Geschäft. Dann Chinesisch, und auf einer etwas südlicheren Umlaufbahn wieder rund um die Welt. Es kann durchaus sein, dass er auf den nächsten hundert Umlaufbahnen nicht wieder über die Vereinigten Staaten hinwegfliegt. Da wir von der Erde aus nur eine Aufwärtsfrequenz haben, besorgen diese Satelliten auch die unun terbrochenen Echtzeit-Übertragungen der Signale von Satellit zu Satellit. Es spielt sich also dort oben rund um die Uhr ein überaus kompliziertes Ballett ab. Nun, der Computer steuert alles wunderbar.« Gray schien mit seinem Vortrag fertig zu sein, eine Tatsache, die Laura mit einem raschen Aufschauen von ihrem Teller bestätigte. »Das ist er staunlich«, sagte sie, bevor sie rasch den Rest des Kartoffelpürees in den Mund schob. »Oh, lassen -Sie sich ruhig Zeit«, sagte Gray wohlwollend, bevor die leeren Teller blitzschnell abgeräumt wurden und er wieder auf die Uhr schaute. Typ A Persönlichkeit, vermutete sie. Motor im höchsten Gang, rund um die Uhr, genau wie sein Betrieb. Er lehnte sich zurück, während ein Fruch teis vor ihn hingestellt wurde, und vertilgte es dann mit drei Löffelschü ben. Offenbar war er für die Ästhetik des Essens ebenso blind wie für die Pracht seines Hauses. »Da kommt er«, sagte er und stand auf. Sie beförderte eine Portion ihres Eises auf den Löffel, schob ihn in den Mund und sprang auf, um ihm zu folgen. Hoch am Himmel sah sie Feuer. Ein langer Flammenstift senkte sich aus der sternklaren Nacht herab, wo bei sich seine Sinkgeschwindigkeit fast unmerklich verringerte. »Es ist eine einstufige Rakete«, sagte Gray, seinen Vertrag wieder auf nehmend. Sie sah ihn an, und er schaute zu den Sternen empor. Nach dem, was Paulus und Petry ihr über den jungen Gray erzählt hatten, war sie darauf gefasst gewesen, einem schweigsamen, fast verdrießlichen Mann zu begegnen, der wenig Zeit zum Reden hatte. Er musste sich geändert haben. »Alles ist wiederverwendbar«, fuhr er fort. »Wir benutzen Flüssigtreib 68
stoff, und im normalen Zyklus vergehen nur drei Tage bis zum erneuten Start. Theoretisch könnten wir es auch in ein paar Stunden bewerkstelli gen.« »Ich habe gelesen, dass Sie irgendwann in der nahen Zukunft bemannte Raumstationen planen«, sagte Laura, die sich vage eines Artikels entsann, den sie am Vortag in der Bibliothek gelesen hatte. Er sah sie an und lächelte, wobei seine Brauen sich verschwörerisch ho ben. Sein erstes offensichtliches Täuschungsmanöver, dachte sie. Laura schaute wieder hinauf zu dem niedergehenden Raumschiff. Sein Feuer strahl hatte sich inzwischen noch tiefer herabgesenkt. »Es ist genau so wie in den alten Filmen«, sagte Laura. »Sie erinnern sich, diese albernen Stories aus den Fünfzigern: ›Retro-Raketen‹ und der artige Dinge. Raumfahrzeuge mit kleinen Stützbeinen, die von der Erde starten und auf dem Mond oder dem Mars oder sonst irgendwo landen.« »Es ist die kostengünstigste Methode, auf lange Sicht«, sagte er, und Laura war erleichtert, dass sie ein Gesprächsthema gefunden hatte. Seine Arbeit, dachte sie. Wie typisch! »Zur Reduzierung des Gewichts der Raumfähre verwenden wir eine superleichte Verbindung aus Epoxydharz und Graphitfaser«, fuhr er fort. Laura nickte verständnisvoll. »Von der Fracht abgesehen, macht der Treibstoff achtundneunzig Prozent des Ge wichts eines voll betankten Shuttles aus. Leer ist es leichter als Styropor.« »Und außerdem so leise«, bemerkte Laura. Die Rakete war fast landebe reit – sie schwebte draußen über dem Meer. »In Wirklichkeit nicht«, sagte Gray und tippte mit den Fingernägeln ge gen das Fenster. »Dreifachglas. Der eine Hohlraum ist vakuumversiegelt, der andere mit Argon gefüllt.« Er ging hinüber zur Wand und legte einen in der Täfelung kaum sichtbaren Hebel um. Als er die Verandatür öffnete, drang ein lautes Dröhnen ins Zimmer. Laura folgte ihm hinaus in die kühle Nacht und betrachtete im Hinausgehen den Türrahmen. Er war so exakt in die Täfelung eingelassen, dass der Übergang praktisch unsichtbar blieb. Das Tosen der Raketentriebwerke ließ die Luft selbst in dieser Entfer nung erbeben. Um den feurigen Triebwerkstrahl herum war die Landevor richtng ausgefahren worden, und die Rakete begann jetzt, seitwärts auf die linke Plattform zuzugleiten. 69
»Das Seitwärtsmanöver ist am lautesten!«, rief Gray. Er hatte die Stim me erhoben, um das Getöse zu übertönen. »Wir haben alle Wohnhäuser und anderen Gebäude auf der Insel so isoliert, dass wir Starts und Landun gen im Vierundzwanzig-Stunden-Betrieb abwickeln können!« Als sich die Rakete genau über der Betonplattform und für Gray und Laura ungefähr in Augenhöhe befand – ihre Seiten wurden jetzt von Scheinwerfern am Boden angestrahlt –, begann sie in einer geraden Linie der Erde entgegenzusinken. Alles erfolgte linear, präzise, maschinell – eindeutig das Werk eines Computers. Laura warf einen Blick auf Grays Gesicht. Es wurde von dem schwachen weißen Flammenschein erhellt, der auch in seinen Augen glomm. Ein ganz bestimmter Ausdruck lag auf sei nem Gesicht – Befriedigung, vermutete sie. Sie schaute wieder in Rich tung Plattform und dachte: »Wie kann ich je erraten, was er denkt oder fühlt?« Aber sie würde es lernen müssen. Das war ihr Job. Die Flammen schlugen auf das Zentrum der Betonrampe neben dem Versorgungsturm und breiteten sich, als sie unten aufprallten, sogar noch weiter aus. Weiße Wolken quollen an der einen Seite in Richtung Meer hervor und an der anderen über die breite braune Straße; sie brodelten wie in einem Zeitlupenfilm einer sich entwickelnden Gewitterfront. Dschungel und Meer, die die Rampe umgaben, wurden von Scheinwerfern erhellt. Aber das Feuer aus den Triebwerken der Rakete machte die Nacht zum Tag und tauchte das nahe Montagegebäude und einen massiven Beton klotz, der das offene Feld mit seinem beindruckenderen Nachbarn teilte, in grelles Licht. Die scharfen Schatten, die das Feuergleißen über das Feld warf, wurden länger, und das Absinken der Rakete endete bei einem fast völligen Still stand über der Plattform. Die Triebwerke schalteten sich plötzlich ab, und Lauras Herz setzte in der überraschenden Stille eine Sekunde lang aus – sie war auf eine ohrenbetäubende Explosion infolge eines verhängnisvol len Versagens gefasst gewesen. Aber die Rakete stand bereits sicher auf ihrem Platz auf der Rampe, und anstelle ihres künstlichen Feuers erhellten nur noch die Scheinwerfer die Nacht. Laura musterte Gray abermals. Auf seinem Gesicht lag ein befriedigtes Lächeln, das er zu verbergen versuchte, indem er sich abwendete. »Dies ist 70
eine Vulkaninsel«, sagte er mit einer Stimme, die er jetzt nicht mehr zu erheben brauchte. »Der Krater befand sich da, wo jetzt das Dorf liegt. Diese gesamte Flanke des Berges« – er deutete auf die ungefähr halbkreis förmige Bergwand, in deren Zentrum sein Haus stand – »war die Innensei te der Kraterwand. Meine Geologen haben mir gesagt, dass die gegenüber liegende Wand in einer großen Eruption vor ungefähr zehntausend Jahren in die Luft geflogen ist.« Laura stellte sich vor, wie sich die Wände einst zu einem Kreis zusam mengefügt hatten und begriff, dass die Insel kaum mehr gewesen war als die aus der See herausragende Spitze eines Vulkans. »Die Erosion hatte den größten Teil dessen, was übriggeblieben war, be reits eingeebnet« fuhr Gray fort. »Trotzdem hatten wir über ein Jahr mit Erdbewegungsarbeiten zu tun, bevor wir mit dem Bauen beginnen konn ten. Das Zentrum der Insel dort unten« – er deutete auf die funkelnden Lichter des Dorfes – »war ein kleiner See, den wir trockenlegen mussten. Es war ein elender Ort, an dem es von Moskitos wimmelte.« »War die Insel bewohnt, bevor Sie sie kauften?« »Sie ist gepachtet. Ich habe einen Pachtvertrag für neunundneunzig Jah re. Nach dem Gesetz der Fidschi-Inseln bin ich der Generalgouverneur.« Er lächelte etwas verlegen, als er das sagte. »Nein. Hier konnte niemand leben. Es gab kein Süßwasser. Ich habe eine Entsalzungsanlage gebaut, dort drüben.« Er deutete in die Dunkelheit an der Küste – ganz der Kapi tän, der auf seiner Brücke steht. Er hob die Hand, und an der Stelle, auf die er zeigte, konnte man sich die Gebilde vorstellen, die seiner Erfindungs kraft entsprungen waren. Er – der Schöpfer. Der Ursprung. Immer »Ich«, registrierte sie berufsmäßig. Laura hob die Hände, um über ihre Oberarme zu reiben und sich vor der Kühle zu schützen. »Sollen wir hineingehen?«, fragte Gray. Er hatte sie aus dem Augenwinkel beobachtet. Gray hielt die Tür für sie. Auf dem Tisch stand eine riesige Schokoladen-Mousse-Torte, und auf der Platte bildeten Wirbel aus dunkler Schoko lade ein vielfach verschlungenes Muster um das köstliche Dessert herum. Gray setzte sich auf seinen Stuhl, ohne es zur Kenntnis zu nehmen. »Können wir anfangen?«, fragte er. 71
Laura hielt die Serviette in der Hand, die sie säuberlich zusammengefal tet auf der Stuhllehne vorgefunden hatte, ließ sie jetzt aber rasch auf den leeren Stuhl fallen. »Okay«, sagte sie in ihrem nachdrücklichsten Ton. »Machen wir uns an die Arbeit.« Bei dem von Gray vorgegebenen Ess tempo hatte das Dinner keine Viertelstunde gedauert, aber Laura war ent schlossen, wieder die Oberhand zu gewinnen, sobald sie mit ihrer Analyse begann. Es gab keine andere Möglichkeit, ihn behutsam zu den Themen hinzuführen, die ihrer Ansicht nach wichtig sein konnten. »Wo würden Sie sich am behaglichsten fühlen?« »Wie bitte?« »Nun, eine Analyse kann ein ziemlich strapaziöser Prozess sein. Es gibt im Grunde keine Abkürzungen. Sie wären überrascht, wie körperlich er schöpfend manche Patienten sie empfinden – was natürlich von der… von der Schwere des Problems abhängt.« Grays Mund stand vor Verblüffung weit offen. Dann breitete sich ein Lächeln auf seinem Gesicht aus und auch seine Augen begannen zu fun keln. Er brach in Gelächter aus. »Sie glauben also…«, begann er, aber die Frage ging in noch mehr Gelächter unter. Laura neigte den Kopf zur Seite und runzelte verwirrt die Stirn. »Tut mir Leid«, sagte Gray. »Ich hätte damit rechnen müssen. Bisher haben wir noch nicht wirklich über Ihren Job gesprochen. Ich wollte bis nach dem Dinner damit warten, und das wäre jetzt.« Er räusperte sich und gewann seine Fassung zurück. »Ich fürchte, da liegt ein Missverständnis vor. Ich bin es nicht, Dr. Aldridge, der Ihre fachliche Hilfe braucht.« Sie schüttelte den Kopf und zuckte mit den Schultern, dann wischte sie die Haarsträhne beiseite, die ihr ins Gesicht gefallen war. »Wer ist es dann?« Gray war der Bewegung ihrer Hand gefolgt, als wollte er sich ein exaktes Bild von ihr machen. Jetzt stand er da und musterte sie eingehend. Das Lächeln verschwand. »Mr Gray?« Er wendete sich ab, und sie wartete, während auch der letzte Anflug von Belustigung aus seinem Gesicht verschwand. »Wer ist mein Patient, Mr Gray?«, drängte sie, weil sein Verhalten sie verunsicherte. 72
Gray richtete sich auf, und es schien ihm Mühe zu bereiten, ihr voll ins Gesicht zu sehen. »Es ist der Computer«, sagte er. Seine Augen folgten den Konturen ihres Haars, bevor sie sich schnell wieder abwendeten. »Computercenter bitte«, sagte Gray, als er sich neben Laura auf einem der Vordersitze eines fahrerlosen Wagens niedergelassen hatte. »Sie können mit ihm reden, einfach so?«, fragte Laura, mit dem Anlegen ihres Sicherheitsgurts beschäftigt. »Sie brauchen ihm nur zu sagen, wo Sie hinwollen«, erwiderte er, als handle es sich dabei um das allersimpelste Phänomen seiner Inselwelt. In dem Moment, in dem Lauras Gurtschließe einrastete, begann der Wagen zu beschleunigen. »Die Erkennung und Synthese von Stimmen sind Nut zerfunktionen, und sie erfordern eine überraschend große Menge von Verarbeitungskapazität. Aber der Computer ist imstande, Schallwellen akkurat genug zu analysieren, um rudimentäre Befehle zu erkennen, wenn sie deutlich und auf Englisch gesprochen werden.« Der Wagen gewann an Tempo, als er den Hof verließ und am Tor nach links abbog. Laura saß an der Stelle, die in einem amerikanischen Auto der Fahrersitz gewesen wäre. Ihr Puls beschleunigte sich gleichzeitig mit dem steigenden Tempo des Wagens, und sie keuchte und klammerte sich an die Konsole vor ihr, als der Wagen in die dunkle Öffnung des Tunnels hineinschoss. Dabei neigte sie sich zu Gray hinüber, weil sie um die sanfte Kurve herum nach den näherkommenden Scheinwerfern Ausschau halten wollte, mit denen sie – wie sie überzeugt war – in der nächsten Sekunde zusammen prallen würden. »Keine Sorge«, sagte Gray gelassen. Der sanfte Ton seiner Stimme – die Intimität, die aus ihr klang – zwang sie, ihn anzusehen. Ihre Gesichter waren einander sehr nahe, dann ließ sich Laura in ihren Sitz zurücksinken. »Mit diesen Wagen haben wir noch nie einen Unfall gehabt. Keinen einzi gen.« Laura versuchte sich zu entspannen, aber sie konnte nicht vermeiden, dass sie wieder zusammenzuckte, als sie aus dem Tunnel hervorschossen. Ihr Herz hämmerte abermals gegen ihre Rippen, und sie war sich jetzt zweier Dinge bewusst – der wachsenden Geschwindigkeit des Wagens, als 73
die Abwärtsfahrt vom Berg hinunter begann, und der körperlichen Nähe zu Gray. »Wir… hatten einige Probleme. Mit dem Computer.« Laura war von ih rer Angst vor der unbekannten Technologie, der ihr Leben im Augenblick anvertraut war, zu stark abgelenkt, um sich voll und ganz auf seine Worte konzentrieren zu können. »Es hat jetzt schon seit Monaten immer wieder unerklärliche Fehler gegeben. Und die Fehlerrate ist ständig gestiegen – in beängstigendem Ausmaß. Wie es im Moment steht, müssen wir in einer Woche, vielleicht schon früher…« Laura war nicht imstande, den Blick von der vorüberrasenden, von den schmalen Strahlen der Scheinwerfer angeleuchteten Wand des Dschungels abzuwenden, schaffte es aber trotzdem, zu fragen: »Was ist in einer Wo che?« »Der Computer ist der Mittelpunkt von allem, was wir tun. Nicht nur auf der Insel, sondern weltweit. Von dem Satelliten-Sendesystem, das ich Ihnen vorhin beschrieben habe, bis hin zu den einhundertfünfzig Millionen Konten, die sämtliche Sendungen verbuchen, Online-Shopping oder Bankgeschäfte erledigen, Umfragen durchführen, High SchoolFootballspiele überwachen, Software übertragen, Videospiele laufen las sen, V-Mail versenden oder von irgendeinem der anderen interaktiven Dienste Gebrauch machen, die wir anbieten. Und das ist immer noch nur ein ganz kleiner Bruchteil dessen, was wir den Computer tun lassen.« Der Wagen raste mit einer Geschwindigkeit, die nahe bei hundertfünfzig Stundenkilometern liegen musste, bergab, schwenkte mühelos in die eine oder andere Richtung, wenn sie eine Gabelung in der Straße erreichten, die an diesen Stellen verbreitert und überhöht wie eine Bobbahn war. Lauras Nerven waren bis zum Zerreißen gespannt. Sie konnte nie vorhersehen, in welche Richtung der fahrerlose Wagen abbiegen würde, und das Ergebnis war eine ständig wachsende Angst vor einer nahen Katastrophe. »Wir benutzen den Computer natürlich«, fuhr Gray völlig gelassen fort, »für unsere Produktion. Das, was Sie hier sehen, konnten wir nur bauen, weil die Produktivität der fünfzehnhundert Arbeiter auf der Insel phäno menal ist. Produktivität hängt immer von dem Kapital ab, das man ein setzt, und ich habe sehr viel in die Infrastruktur dieser Insel investiert.« 74
Gebäude in unterschiedlichen Größen und Formen, aber ohne erkennbaren Zweck, flogen in der Dunkelheit vorüber. Lauras Augen starrten unver wandt auf die Windschutzscheibe – sie waren ständig auf die Straße ge richtet, die sie entlangrasten. In ihren Ohren knackte es, und ihre Hände schmerzten vom Umklammern der Armlehnen. »Das Bruttosozialprodukt dieser Insel ist größer als das der meisten Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen. Quadratkilometer für Quadratkilometer und Mann für Mann ist dies der produktivste Ort auf der Erde. Sogar der produktivste Ort in der ganzen Geschichte des Planeten.« »Wie bitte?«, fragte Laura, die kaum zugehört hatte und jetzt ihre Augen kurz von der Straße abwendete, um Gray anzuschauen, wie er dasaß – voller Selbstvertrauen und völlig entspannt. »Wir stellen hier jedes Jahr Produkte her, deren Wert auf dem offenen Markt, wenn sie zum Verkauf stünden, Hunderte von Milliarden betragen würde. Produktivität pro Arbeitskraft ist natürlich eine trügerische Statis tik. Mit einem derart hohen Maß an Automation verliert sie ihre Bedeu tung. Eine Menge von Dingen verliert dann ihre Bedeutung«, murmelte er. Laura begann, sich ein wenig zu beruhigen. Bisher war ihnen noch kein anderes Fahrzeug entgegengekommen. Vielleicht gab es nur ein oder zwei Wagen, die auf diesen Spezialstraßen fuhren. Vielleicht waren die fahrer losen Wagen nur für Gray und seine wichtigsten Mitarbeiter da. Dieser beruhigende Gedanke wurde abrupt unterbrochen, als in einem kurzen Schwall heftiger Luftturbulenzen zuerst eins und dann noch mehrere die ser Fahrzeuge an ihnen vorbeischössen. Laura fiel auf, dass ihr Wagen jetzt seine bisher so rücksichtslose Fahrweise geändert hatte. Er war lang samer geworden und hielt sich dicht am rechten Rand der Straße, genau wie die anderen Fahrzeuge, die in der Gegenrichtung an ihnen vorbeifuh ren. Offenbar war alles unter Kontrolle. Unter der Kontrolle des Compu ters. Aber hatte Gray nicht gesagt, dass der Computer nicht richtig funkti onierte?, dachte sie. Laura stieß einen tiefen Seufzer aus – erschöpft von der Rückkehr ihrer Angst. Gray war verstummt – seine Augen, die von der dunklen Scheibe reflek tiert wurden, waren in weite Ferne gerichtet. 75
»Tut mir Leid, was sagten Sie eben?«, fragte Laura. »Ich sagte, eine Menge von Dingen verliert ihre Bedeutung.« Sie wandte sich ihm zu. Dem Ton seiner Stimme nach zu urteilen stand im »Workers’ Paradise« nicht alles zum Besten. Schweigend setzten sie die Fahrt den Berg hinunter schweigend fort. Als der Wagen die Außenbezirke des Dorfes erreicht hatte, verlangsamte er seine Geschwindigkeit zu einem gemäßigteren Tempo. »Mr Gray«, sagte Laura, wobei sie ihre verkrampften Schultern hob und senkte und ihre steifen Hände zu lockern versuchte, »Sie haben mir immer noch nicht erklärt, wie ich Ihnen bei einem Computer helfen kann. Ich fürchte, da muss ein Missverständnis vorliegen. Ich bin Psychologin. Wenn jemand von Ihren Leuten Sie über mein Fachgebiet falsch informiert hat, dann wäre es wohl nicht mehr als recht und billig, wenn ich Ihnen mein Honorar zurückzahle und…« »Der Computer leidet unter einer Depression«, unterbrach Gray sie, wendete sich vom Fenster ab und sah sie direkt an. »Jedenfalls behauptet er das. Einer chronischen Depression.« Nachdem das, was er gesagt hatte, bei ihr durchgedrungen war, gab Lau ra ein kurzes Schnauben von sich, das ein Auflachen gewesen wäre, wenn sie sich imstande gefühlt hätte, so etwas hervorzubringen. »Soll das ein Scherz sein?« Er sah keinesfalls so aus, als hätte er einen Scherz gemacht, er sah be troffen aus. Aus seinen Augen – denselben Augen wie auf dem Zeitungs foto aus seiner Kindheit – sprach Traurigkeit, so unmissverständlich, wie das ohne Worte überhaupt möglich war. Die Absurdität seiner Behauptung bewirkte, dass Laura fast schwindelig wurde. Ihr Blick glitt davon und meldete die Anblicke des Dorflebens einem Verstand, der tief in Gedanken versunken war. Obwohl vor ihnen keinerlei Verkehr war, hielt der Wagen an jeder Straßenkreuzung an. Die Dorfstraßen waren gitterförmig angelegt wie in jeder normalen Stadt. Aber ihr fahrerloser Wagen und andere von der gleichen Art, die ihnen entge genkamen, schienen auf ihnen mit derselben Leichtigkeit zu navigieren, mit der sie auch die Hochgeschwindigkeitsstraßen bewältigten, die kreuz und quer über die Insel verliefen. 76
»Was ich hier gebaut habe, Dr. Aldridge, ist der allererste Computer der sechsten Generation. Wissen Sie, was das bedeutet?« Laura zuckte mit den Schultern, dann schüttelte sie den Kopf. Ihre Auf merksamkeit wurde von einer Statue zu ihrer Linken angezogen, dann von dem langen Boulevard, den die Statue dominierte. Die breite Straße mit ihrem grasbewachsenen Mittelstreifen fiel, vom Berg wegführend, sanft durch das Zentrum des Dorfes ab. Der Wagen bog nach rechts auf den Boulevard ein, und Gray reckte den Hals, um durch die klare PlexiglasHeckscheibe hinauszuschauen. Laura dagegen war fasziniert von dem, was es in dem geschäftigen Dorf vor ihr zu sehen gab. Langsam glitt der Wagen den hell erleuchteten Boulevard entlang, auf dem ein munteres und offensichtlich gesittetes Nachtleben herrschte. Der Ort war wirklich eine Art Dorf, dachte Laura. Leute schlenderten auf Fußwegen an Straßencafes vorüber; es gab erleuchtete Geschäfte mit Lu xuswaren; ein Kino war allem Anschein nach Treffpunkt für Jugendliche. Einige der Inselbewohner, stellte Laura fest, erkannten Gray durch die Wagenfenster hindurch. Es gab zeigende Finger, Leute, die in Straßenlo kalen beim Essen saßen, stießen einander an. Gray schien diese Beweise seiner Berühmtheit überhaupt nicht zur Kenntnis zu nehmen. »Die erste Generation«, fuhr er unbeirrt fort, »verfügte über Vakuumröhren-Schaltungen und Verzögerungsleitungen aus Quecksilber, wie zum Beispiel der Sperry Univac in den frühen Fünfzigern. Die zweite, wie der Honeywell 800 Ende der Fünziger und Anfang der Sechziger, verwendete Transistoren.« Die Straße wurde dunkler, als der Wagen das Dorf verließ. »Sperrgebiet« stand in großen, deutlich sichtbaren Lettern auf einem Schild neben einem offenen Schlagbaum. Der Dschungel rückte wieder näher heran, und der Wagen beschleunigte abermals und schoss durch die dunkle Blätterschlucht. »Die dritte Generation wurde um kleine, integrier te Schaltkreise herum gebaut und dominierte den Markt von der Mitte der Sechziger bis zur Mitte der Siebziger. Das IBM System 36 war ein Com puter der dritten Generation. Die späten Siebziger brachten die Computer mit hoch und sehr hoch integrierten Schaltkreisen.« Der Wagen erreichte offenes Gelände, auf dem das riesige Montagegebäude die Szenerie be herrschte und die gesamte Windschutzscheibe ausfüllte. »Anfang der 77
Achtziger begannen die experimentellen Arbeiten an einem Computer der fünften Generation, und die ersten von ihnen kamen Mitte der Neunziger auf den Markt. Es sind Computer mit massiver Parallelarchitektur, bei denen Tausende digitaler Prozessoren Daten blitzschnell verarbeiten.« Der Wagen verlangsamte und bog auf eine kreisförmige Auffahrt ab. Rings um sie herum lag der baumlose Rasen, den sie von hoch oben gese hen hatte. Vor einem gewaltigen Bunker hielten sie an. Grays und Lauras Türen öffneten sich automatisch und schwenkten mit leisem Zischen nach oben. Sobald sie ausgestiegen waren, schlossen sich die Türen wieder und der Wagen fuhr davon. Gray führte Laura einen Pfad zu dem niedrigen Beton bau entlang, der aussah, als wäre er halb in dem flachen und offenen Ge lände versenkt. In der feuchten Luft lag der widerwärtige, beißende Ge ruch irgendeiner Chemikalie. »Auspuffgase«, sagte Gray, »von Rampe A.« Ihr wurde bewusst, dass er sie abermals beobachtet hatte. Laura blieb am oberen Ende der Treppe stehen, die in die Tiefe führte. An ihrem unteren Ende bildete eine schwere Metalltür den Eingang zu den unterirdischen Gebäudetrakten. Sie wollte diese Treppe nicht hinabsteigen, bevor sie mehr wusste. Dieses flaue Gefühl in ihrem Magen – rührte es von der Fahrt her oder von etwas anderem, von etwas vage Bedrohlichem? Plötzlich kam ihr die Reihe von Entscheidungen, mit denen sie ihre Rei se auf Grays Insel verstandesmäßig begründet hatte, höchst dubios vor. Was tat sie hier? Was tat Gray hier? Sie wollte es wissen, erfahren, um ihre natürliche Neugierde zu befriedigen; besonders nach den kleinen Einblicken, die sie bisher auf der Insel gewonnen hatte. Aber Lauras wachsende Angst, dass irgendein Unheil bevorstand, löste in irgendeiner vernünftigeren Ecke ihres Verstandes das Verlangen aus, stattdessen wie der nach Hause zurückzukehren, in den tröstlichen Umkreis ihres früheren Lebens. »Ich habe den Computer der sechsten Generation gebaut«, sagte Gray, neben Laura am oberen Ende der Treppe stehend. Sein Tonfall deutet eine Gewichtigkeit an, die Laura nicht begriff. »Es ist ein voll funktionelles, massiv parallel konstruiertes neuronales Netzwerk.« Sie sah zu ihm auf. Er 78
versuchte festzustellen, welchen Eindruck seine Worte auf sie gemacht hatten. »Der erste echte Neurocomputer der Welt.« Und diese Worte verfehlten ihre Wirkung nicht. »Ist das Ihr Ernst?« Er schwieg, seine Miene war ausdruckslos. »Ich meine, entschuldigen Sie, aber… aber ein wirklich hochdifferenzierter, mit Hochgeschwindigkeit arbeitender Neurocomputer ist eine technologische Unmöglichkeit. Es war eine Sackgasse. Man hat es in den Fünfzigern versucht, und es hat nicht funktioniert.« Ein Lächeln – dieser selbstzufriedene Ausdruck, den sie schon einmal bemerkt hatte – breitete sich auf seinem Gesicht aus. »Das war vor der Fuzzy-Logik, den genetischen Algorithmen und mir.« Laura wusste nicht, was sie darauf erwidern sollte. Oberflächlich gese hen war seine Behauptung Egoismus reinsten Wassers. Aber er machte keineswegs den Eindruck eines Egoisten. Außerdem wollte sie ihn nicht für einen Egoisten halten. Sie war hierhergekommen, um Joseph Gray, der missverstandenen Waise, zu helfen, nicht Joseph Gray, dem Egomanen. Zwar wusste sie, dass sie sich vor Projektionen hüten musste – davor, sich irgendwelchen Fantasien hinzugeben über diesen seltsamen und rätselhaf ten Mann, dessen Charakter sie ergründen wollte. Aber im Augenblick war ihr nicht klar, was sie von Gray halten sollte. Vor allem – sie war nicht hierher geholt worden, um Grays seelische Verfassung zu beurteilen. Er hatte sie aus einem anderem Grund geholt. Laura blickte hinunter in die dunkle, beängstigende Leere am Fuß der Treppe. Sie wollte nicht dort hinuntergehen – nicht dem begegnen, was sein Schöpfer mit einem schweren Betonsarg umgeben hatte. Gray, der offenbar ihr Zögern spürte, wendete sich von der Treppe ab. »Lassen Sie uns einen Spaziergang machen«, sagte er und tippte Lauras Ellbogen an. Sie wanderten neben der Straße her, die quer über den weiten Rasen zu dem Montagegebäude führte. Der riesige Bau am anderen Ende der Straße bildete eine von Menschenhand geschaffene Mauer, die sich von der einen Seite des Feldes bis zur anderen erstreckte. Eine frische Brise befreite die Luft von den widerlichen Antriebsgasen. Laura atmete tief den Geruch des Meeres ein und spürte, wie ihre Ängste allmählich verflogen. 79
»Wir wussten nicht, was dabei herauskommen würde«, fuhr Gray fort, »aber wir wussten, dass wir eine außergewöhnliche DatenverarbeitungsKapazität brauchten. Wir wollten Automation, aber die wahre Beschrän kung bei der Robotertechnik war nicht die Hardware der Roboter, es wa ren die Pferdestärken des Computers, der sie steuert. Nehmen Sie nur das Sehsystem. Anstelle von Kameras benutzen wir Netzhaut-Chips. Sie kön nen sich besonders gut sowohl auf Licht wie auch auf Schatten einstellen – was ein großes Problem ist – und auf das Verfolgen von Objekten in ihrem Gesichtsfeld. Aber selbst mit den Vorteilen, die die Netzhaut-Chips mit sich bringen, sind die Ansprüche an den Computer immens. Das simple Erkennen von Umrissen – das Identifizieren von visuellen Hinweisen darauf, wo die Grenzen eines Objekts sind – würde selbst bei den schnells ten Super-Computern Minuten dauern. Fügen Sie Hör- und Tastvermögen hinzu, Kinästhesie, das Lösen von Problemen, Zielbeschränkungen – alles, was zu einem tatsächlichen Funktionieren in der realen Welt erforderlich ist –, und die Verarbeitungsansprüche, die an das System gestellt werden, gehen weit über seine Kapazität hinaus.« In seiner Stimme lag, ohne dass er sie dazu erheben musste, eine Ein dringlichkeit, die Aufmerksamkeit forderte. Sie klang klar, im Tonfall tiefer als die von Männern seines Körperbaus und Alters. Und seine Ge danken sprudelten derart flüssig aus ihm heraus, dass sie wie auswendig gelernt wirkten. Aber er sprach ganz natürlich und schien mit sich und der Welt zufrieden. »Digitale Computer sind sehr präzise, was gut ist für Aufgaben, bei de nen Zahlen im Spiel sind«, sagte er. Laura hörte zu, wobei sie das Erlebnis mehr genoss als den Inhalt. »Aber die besten digitalen Computer, die wir bisher produzieren konnten, haben nicht mehr Verarbeitungskapazität als ein Dreijähriger und werden auch nie darüber hinauskommen. Digitale Computer sind eine Sackgasse.« Gray verfiel in Schweigen und ging mit tief in den Taschen vergrabenen Händen weiter. »Sie sind sich Ihrer Sache sehr sicher«, sagte Laura schließlich. Er blieb stehen und drehte sich zu ihr um. »Dies« – er streckte seine Ar me aus und sah ihr dabei ins Gesicht – »ist keine digitale Welt; sie ist voll 80
und ganz analog. Deshalb hat sich das Gehirn, über das wir Menschen verfügen, so entwickelt, dass es analoge Informationen verarbeiten kann – anstatt Zahlen durchzukauen. Wenn Ihr Gehirn ein digitaler Computer wäre, würden Sie in einer langen Liste eine Beschreibung der Gesichter sämtlicher Leute speichern, die Sie kennen. Jedesmal, wenn Sie Ihre Mut ter sähen, müssten Sie diese Liste von Gesichtern durchgehen, bis Sie das Passende gefunden und sie erkannt haben. Wenn Sie älter werden und die Liste der Gesichter wächst, brauchen Sie immer mehr Zeit, um das Pas sende zu finden und das Gesicht Ihrer Mutter zu erkennen. Aber Ihr Ge hirn ist nicht digital. Sie brauchen keine Liste von Gesichtern. Sie verfü gen über ein Netzwerk von vielfach miteinander verkoppelten Neuronen. Wenn Sie das Gesicht Ihrer Mutter sehen, dann erinnern sich die Verbin dungen in Ihrem Gehirn nicht nur an ihre Identität, sondern an alles, was mit ihr in Zusammenhang steht – und zwar sofort! Der Liebe ihrer Mutter zu Ihnen. Der Wärme, die Sie ihnen als Kind geboten hat. An den Duft ihres Parfüms. An die Tatsache, dass sie nächste Woche Geburtstag hat. An alles – und zwar auf einmal. Ein neuronales Netzwerk kann all diese Dinge aus nur einem kleinen Datensplitter hervorholen – den Anblick des Gesichts Ihrer Mutter oder den unverwechselbaren Ton ihrer Stimme, wenn Sie Ihren Namen ruft. Im Gegensatz zu digitalen Computern zeich net ihr Gehirn sich vor allem dadurch aus, dass es fragmentarische Daten verarbeiten kann –›fuzzy‹ Daten.« Die Verwendung des Wortes »fuzzy« bewirkte, dass Laura in Grays Ge sicht schaute. Gray hatte bereits 1983 an einem neuronalen Netzwerk gearbeitet, das »fuzzy« Probleme lösen konnte. Kann es sein, dass all dies hier das Resultat ist, zwei Jahrzehnte später?, fragte sie sich. Sie erinnerte sich an die Meilensteine von Grays Biogra phie. Seine Vorhersage der Nachfrage nach PVC-Geräten 1984 – seine erste Milliarde. Seine Vorhersage des großen Börsenkrachs 1987 – Dut zende von Milliarden. Sein Sieg auf dem Markt des hochauflösenden Fernsehens. Das neuronale Netzwerk, das er entwickelt hatte, diente dazu, Muster zu erkennen – Hilfe bei Marktanalysen zu geben. Laura war plötzlich so aufgeregt – so hingerissen von den überwältigen den Möglichkeiten –, dass ihr gar nicht aufgefallen war, dass Gray wieder 81
schwieg. Ihre Blicke trafen sich kurz, was bewirkte, dass Lauras Haut seltsam kribbelte. Ihr war klar, dass es irrational war, aber bei diesem kurzen Blickwechsel hatte sie das Gefühl, als wäre sie berührt worden. Nicht körperlich, sondern seelisch – als hätte er hinter den Vorhang ge blickt, um ihre innersten Gedanken mit ihr zu teilen. Als ob er mit seinem Blick gesagt hätte: »Ich weiß, was Sie denken.« Es war bestürzend und bewirkte, dass ihre Gedanken zu treiben begannen. Als er fortfuhr, sprach er leise und sanft – als wollte er Laura nicht aus ihrem Träumen herausreißen. »Etwas ganz Besonderes ist passiert. Etwas Magisches.« Ohne zu wissen warum, musste Laura all ihre Kraft zusammennehmen, um fragen zu können: »Was?« Es war die Kraft, die sie brauchte, um sich auf seine Antwort gefasst zu machen. »Er lernt«, sagte er schlicht. Ihre erste Reaktion war Enttäuschung. Sie hatte sich auf mehr eingestellt und ihre Erwartung war enttäuscht worden. Diese anfängliche Reaktion änderte sich jedoch mit jedem Wort, das er sprach. »Er verallgemeinert, Laura. Aber wenn er verallgemeinert, dann tut er es in Analogie nicht zur menschlichen Welt, sondern zu der neuen Welt, in der er existiert. Und das ist es, was uns entgangen ist! Als der Computer erstmals begriff, dass ein Draht für Elektrizität dasselbe ist wie eine Ader für Blut, da verdrehten wir die Augen und machten einfach weiter. Seine Intelligenz begann, über die unsere hinauszuwachsen. Und das konnte deshalb geschehen, weil er frei war von dieser unserer Hülle«, sagte Gray, an seinem Körper hinunterschauend. »Und deshalb auch frei von den Beschränkungen unserer Perspektive – unseren Lebenserfahrun gen.« Jetzt hatte Laura Angst, ihn anzusehen. Angst, dass ihre Miene irgend welche privaten Gedanken oder Gefühle verraten könnte. Angst, dass sein Gesicht irgendetwas verraten könnte, was sie nicht sehen wollte. Ihr Mund war trocken, als sie fragte: »Was genau wollen Sie damit sagen?« »Ich will damit sagen, dass wir in eine neue Phase eintreten.« Er hob ei nen Arm und zeigte voraus. Sie interessierte sich mehr für den Mann, für das Gesicht. »Dort drüben ist einer von unseren Robotern.« Laura schaute über den Rasen hinweg auf die fernen Scheinwerfer eines 82
näherkommenden Fahrzeugs. Sie fragte sich, welchen Zusammenhang Gray zwischen der neuen Phase und dem plötzlichen Auftauchen eines Roboters sah. Laura hatte plötzlich das Gefühl, als stünde der einzige andere Mensch auf der Erde neben ihr. Als wären sie allein inmitten der hell angestrahlten Objekte, die direkt seiner Imagination entsprungen waren. Aber dann begriff sie, dass es doch nicht so war, als wäre er der einzige andere Mensch. Es war, als stünde er im Zentrum der Welt, die sein Denken er schaffen hatte und die auf dem Gelände rings um sie herum aufragte; der Welt, in die sie jetzt eingetreten war. Gray setzte seinen Weg in Richtung Montagegebäude fort. »Wir haben eine Entdeckung gemacht«, sagte er. Wieder vertrieb seine Stimme Lauras Gedanken. »Damit er Intelligenz entwickeln konnte, mussten wir dem Computer Mobilität verleihen. Wir mussten ihm die Fähigkeit geben, die physikalische Welt zu erkunden; Gegenstände aufzuheben, sie zu zerbre chen. Ein ›Gefühl‹ zu entwickeln für all die Naturgesetze, die wir als ge geben hinnehmen. Mobilität – das ist der Schlüssel… in mehr als nur einer Hinsicht.« Er seufzte. »Die Siebener-Modelle sind voll einsatzfähig. Die ersten bei den Modelle waren experimentell. Dann kamen die Dreier-Modelle – das sind die Wagen, mit denen wir auf der Insel herumfahren. Die Modelle Vier und Fünf wurden aus dem Verkehr gezogen oder mit eng begrenzten Funktionen am Fließband immobilisiert. Schließlich kamen die Modelle Sechs und Sieben. Wir haben hunderte Sechser-Modelle, die noch in Be trieb sind, und inzwischen mehr als hundert Siebener.« Er hob wieder den Arm und deutete nach links. »Das da drüben ist ein Sechser.« Er war immer noch ziemlich weit entfernt, und Laura konnte nichts se hen außer einem Fahrzeug mit dicht nebeneinander liegenden Scheinwer fern und einem Blinklicht auf dem ›Kopf‹. Es kam direkt auf sie zu. Dann hörte sie ein leises Summen wie von einem Rasenmäher. Sie gingen auf einen Punkt zu, der sich mit der Linie schneiden würde, auf der sich der Roboter bewegte. Laura betrachtete das näherkommende Fahrzeug. Seine Fähigkeit, mit einer Geschwindigkeit von fast fünfzig 83
Stundenkilometern Rasen zu mähen, kam ihr weniger beeindruckend vor als die fahrerlosen Wagen der früheren Generation. »Sowohl die Sechser als auch die Siebener wurden ausschließlich vom Computer konstruiert. Und auch der Computer selbst hat sich, zum größ ten Teil, selbst konstruiert. Wir wissen ziemlich gut, wie die Hardware funktioniert. Das eigentlich Revolutionäre ist die Software.« Als das Sechser-Modell ungefähr hundert Meter entfernt war, verstumm te das Geräusch des Rasenmähers. Der auf Rädern laufende Roboter hatte angehalten. Ein großer, zentral montierter Arm hob einen großen Sack hoch in die Luft. Der Roboter schaffte es, den unhandlichen Sack umzu drehen, indem er seinen Boden an die Kante der Tonne setzte, die er hinter sich herzog. Abgemähtes Gras rutschte in die Tonne. Vom oberen Ende des Aufsatzes – dem ›Kopf‹ des Roboters – strahlte ein Licht herunter. Der Arm drehte den Sack um, damit das Licht hineinfallen konnte. Offenbar war noch etwas Gras darin hängen geblieben. Um es zu lockern, stellte der Roboter den Sack wieder auf den Kopf und schüttelte ihn. Dann wieder holte er die Inspektion mit dem Licht. Beim dritten Versuch schmetterte er den Sack herunter, was offenbar seine Wirkung tat. Der Roboter setzte seinen Weg fort – das Summen des Motors wurde lauter und dann beim Kontakt mit dem noch ungemähten Gras wieder leiser. Das bewies logisches Lösen von Problemen, dachte Laura. Wie aus hei terem Himmel überfiel sie das unbehagliche Gefühl, dass sie auf einem Pfad vorangetrieben wurde, den zu begehen sie nicht im mindesten vorbe reitet war. Als ihr die Implikationen dessen, was sie beobachtet hatte, klar wurden, lief ihr ein kalter Schauder über den Rücken. Haben sie ihm bei gebracht, den Sack so herunterzuschmettern, oder hat er das von selbst gelernt? Zum ersten Mal betrachtete Laura jetzt die Lichter oben auf dem Robo ter. Es war kein Blinklicht auf seinem ›Kopf ‹, wie sie geglaubt hatte. Es waren zwei am oberen Ende der Maschine montierte Lampen, die mit schnellen, ruckartigen Bewegungen unabhängig voneinander über den Boden leuchteten. Die hellen Lichtstrahlen sprangen von einem Rasen fleck zum nächsten und beschrieben mit zittrigen Bewegungen einen brei ten Bogen vor dem Fahrzeug, in fast nervöser Erregung mehrmals in der 84
Sekunde schwankend. Die Lichter suchten das Gelände auf dem Pfad des Roboters ab. Laura strebte auf dem gepflasterten Gehweg auf den Roboter zu und be obachtete, als er näher kam, seine völlig koordinierten Bewegungen. Gray folgte ihr. Als sie nur noch ungefähr zwanzig Meter entfernt waren, richte ten sich die hellen Lichter am oberen Ende des Roboters auf sie. Laura blieb stehen und hob die Hand, um ihre Augen abzuschirmen. Der Rasen mäher des Roboters schaltete sich ab – das Surren der Messer erstarb rasch. Einen Moment später erloschen die beiden Scheinwerfer. Jetzt war alles still. Laura starrte den bewegungslosen Roboter an. Die beiden Scheinwerfergehäuse waren nach wie vor auf sie gerichtet. »Mr Gray«, dröhnte eine Stimme aus einem unsichtbaren Lautsprecher hinter ihnen, »bitte kommen Sie ins Computerzentrum.« Die Worte hallten auf dem offenen Gelände, und Gray sagte: »Wie es scheint, müssen wir unsere Besichtigung der Montagehalle auf später am Abend verschieben.« Er machte kehrt und drängte Laura sanft zurück in Richtung Bunker. Über die Schulter hinweg warf sie noch einen Blick auf den dunklen, bewe gungslos dastehenden Roboter. Sie konnte das Gefühl einfach nicht ab schütteln, dass er trotz seiner scheinbaren Inaktivität auch sie anstarrte. Sobald sie kehrtgemacht hatten, schalteten sich die Lichter wieder ein und die starken Scheinwerfer warfen lange Schatten auf den gepflasterten Pfad. Die Haut auf Lauras Rücken kribbelte. Sie wurden beobachtet. Die Lichter bewegten sich weiter, und der Rasenmäher schaltete sich wieder ein. Laura konnte dem Verlangen nach einem neuerlichen Blick über die Schulter nicht widerstehen. Der Arm des Roboters streckte sich vor sei nem Gehäuse aus, und beide Scheinwerfer waren auf einen bestimmten Punkt auf dem Boden vor ihm gerichtet. Laura blieb stehen, um zuzu schauen. Als der Roboter an dem angestrahlten Punkt angekommen war, der seine Aufmerksamkeit erregt hatte, ruckte der Arm mit verblüffender Geschwindigkeit in Richtung Boden. Dann überquerte der Roboter die Straße, hielt seine geschlossene Klaue ins Licht und drehte seine Trophäe zuerst nach links und dann nach rechts. Nach dieser Inspektion langte er nach hinten und warf den Müll in die mitgeschleppte Tonne. Dazu brauch 85
te er nicht nach hinten zu schauen, stellte Laura fest. Er wusste, wo die Tonne war. Gray stand neben ihr; sein Gesicht war eine undurchdringliche Maske. »Das war wirklich bemerkenswert!«, sagte Laura. Seine Mundwinkel kräuselten sich langsam, und sein Ausdruck – sein ganzes Verhalten – entspannten sich. In seinen dunklen, aber lächelnden Augen flackerten die dünnen Strahlen des grellen künstlichen Lichts. Er drehte sich um und strebte auf den Bunker zu. Laura folgte ihm die Stufen zur Metalltür hinunter, auf der Suche nach Lösung der Rätsel, die sich in der Miene des schweigenden Mannes, der ein Genie war, wider spiegelten.
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3. KAPITEL Gray schaute in eine Sichtscheibe am Eingang des Computerzentrums. Von irgendwo tief drinnen im Beton kam ein metallisch knackendes Ge räusch. Er richtete sich auf und die schwere Tür begann mit einem Rum peln in die Wand zurückzugleiten. Laura betrachtete den aus dem Türrah men herausragenden Mechanismus aus rostfreiem Stahl, und ihr erster Gedanke war: Das Ding gleicht einem Banktresor. Oder einem Bunker, fiel ihr dann ein. Die ungefähr dreißig Zentimeter dicke Metallplatte rastete ein; eine leichtere Innentür zischte und glitt rasch auf. Dahinter lag ein schwach beleuchteter Raum. Durch sein Zentrum führte ein schmaler, metallener Laufsteg mit zwei Geländern, die sich von einem Ende bis zum anderen erstreckten. Laura folgte dem schweigenden Gray in den kleinen Raum; ihre zugeschnürte Kehle, ihr flaches Atmen und ihr klopfendes Herz ver rieten ihr, dass sie sich abermals sehr unbehaglich fühlte. Gray blieb unge fähr in der Mitte des Laufstegs stehen, der in der schwarzen Metallkammer in der Luft zu hängen schien. Das Zischen komprimierter Luft begleitete das Schließen der Ausgangs tür. Durch die Wände der Kammer hindurch konnte Laura hören, wie sich auch die Tresortür schloss. Sie suchte sämtliche Winkel der dunklen Kammer nach Hinweisen auf ihren Zweck ab. Der Fußboden, die Wände und die Decke bestanden aus schwarzen Metallplatten; ihre Winkel waren dem schmalen Laufsteg zugeneigt. Laura wartete darauf, dass Gray wei terging, aber er stand in Gedanken versunken da; mit einer Hand um klammerte er das Geländer. »Oh«, sagte er, »ich hätte erwähnen sollen, dass das Computerzentrum halbsauber ist. Wir müssen den Staub minimieren, verstehen Sie?« Ein Summen ertönte, und auf einem Bildschirm vor ihnen leuchteten rot die Worte »Gebläse aktiviert« auf. Aus dem Raum hinter den Metallplatten kam eine rasche Folge klickender Geräusche. Gray rief: »Sie sollten sich festhalten an…!« Seine letzten Worte gingen in Heulen unter. Der Windstoß traf sie mit Sturmstärke, und ihre Ohren knackten unter 87
der plötzlichen Druckveränderung. Sie standen in einer Art Windkanal, wobei der Wind aber von allen Seiten gleichzeitig auf sie einprallte. Lau ras Haar wurde ihr übers Gesicht gepeitscht; dies und der Sturm zwangen sie, die Augen zu schließen. Sie griff hoch, um eine lange Strähne aus ihrem Mund zu ziehen. Sie hätte besser nach unten gegriffen. Luftwirbel drangen unter ihr Kleid und bahnten sich ihren Weg auf ihrer nackten Haut nach oben. Der Gürtel ihres Kleides schob sich bis zu ihren Brüsten hoch, und sie packte das flatternde Gewebe und versuchte es he runterzuziehen. Der leichte Stoff widerstand allen Bemühungen, und sie presste eine Hand auf das Vorderteil und die andere auf den Rücken. So schnell, wie er begonnen hatte, war der Sturm vorbei. Das Kleid rutschte sanft wieder an seinen Ort, und Laura öffnete die Augen unter einem dichten Vorhang aus Haaren. Sie langte hoch, um die Mähne aus ihrem Gesicht zu streichen, aber statische Elektrizität bewirkte, dass die Strähnen an ihrer Handfläche hafteten. Das erste, was sie sah, war Gray, der mit einem etwas unglücklichen Lächeln um Entschuldigung bat. Ihm stand das Haar zu Berge – winzige Spitzen, wie in alle Richtungen heraus ragende Hörner. Laura brach in Gelächter aus und schlug schnell eine Hand vor den Mund, um zu ersticken, was sich rasch in eine Folge unschöner Juchzer zu verwandeln drohte. Sie brachte ein »Entschuldigung« heraus, während sie mit der einen Hand ihr Haar von der Stirn fernhielt und die andere fest auf ihren Mund presste. Schließlich strich sie ihr Haar zurück und hob die Schultern, jetzt wieder völlig gefasst. »Das war eine hübsche Überraschung.« Gray fuhr sich mit den Fingern über den Kopf und zuckte mit den Schul tern. »Hier unten tragen nicht viele Leute Kleider.« Das Display auf dem Bildschirm an der Wand änderte sich. »Willkom men« stand jetzt in heiteren grünen Buchstaben darauf, und ein zischendes Geräusch verkündete das Aufgleiten der Tür. Helles Licht aus dem vor ihnen liegenden Raum flutete in die enge Kammer. Laura folgte Gray in den großen Raum, der von der regen Geschäftigkeit von mehr als einem Dutzend Leuten erfüllt war. Sie schienen Techniker zu sein, die an Reihen von Konsolen arbeiteten. Laura hatte plötzlich das 88
Gefühl, ein großes Raumschiff einer fernen Zukunft betreten zu haben. Überall gab es antiseptisch weiße Paneele und leuchtende, mehrfach unter teilte Bildschirme. Auf wandgroßen Monitoren waren Balkendiagramme zu sehen, die im Takt eines unhörbaren, dissonanten Rhythmus’ tanzten. Auf Bildschirmfenstern flackerten Zahlen, Diagramme und grandiose Schaubilder auf, die Laura an eine psychedelische Lichtshow erinnerten. Gray sah sie an, und sie drehte sich zu ihm um. Zuerst lachte sie, dann lächelte sie töricht. »Wow!« war alles, was ihr einfiel. Gray trat vor eine Art Frisiertisch direkt neben dem Eingang und kämm te sich. Laura warf einen Blick in den Spiegel, dann griff sie sofort nach der dort bereitliegenden »Gray Corporation«-Bürste. »Wenn Sie einen Pullover oder eine Jacke oder sonst etwas möchten«, sagte Gray, »brauchen Sie es nur einem der Leute hier zu sagen. Wir ha ben mehrfach versucht, das Heizungssystem zu verbessern, aber es scheint uns nicht zu gelingen. Das hängt mit der supraleitenden Elektronik zu sammen. Sie wird mit flüssigem Stickstoff gekühlt.« Nach ihrem Spaziergang durch die warme Pazifiknacht fand Laura die kühle Luft belebend. Außerdem war sie von dem Anblick, der sich ihr bot, viel zu fasziniert, um auf die Temperatur zu achten. Die Finger der Tech niker flogen über Tasten – tippten darauf oder wirbelten Trackballs herum. Einige trugen superleichte Kopfhörer, in ständiger Verbindung mit je mand, der auf der anderen Seite des Zimmers oder der anderen Seite des Globus’ sitzen mochte, sie wusste es nicht. Auf scharf abzeichnenden 17 Zoll-Monitoren tauchten leuchtende Farben auf wie Geister aus Lampen. Hier gab es kein ausrangiertes Regierungsmaterial. Alles war von allerbes ter Qualität. Es war ein Forschungsschiff, das der Menschheit um Jahr hunderte vorauseilte. Gray tippte auf eine kleine, neben der Frisierkommode an die Wand montierte schwarze Fläche. »Vor Eintreten bitte berühren«, stand auf ei nem hellroten Plakat darüber. Laura tat es – und spürte einen schmerzhaf ten Stich in die Fingerkuppe. »Au!«, rief sie und rieb sich den Finger mit dem Daumen. »Entschuldigung«, sagte Gray schwach. Er wartete neben ihr vor den Wundern des Raumes. 89
»Was ist das?«, fragte Laura, vor Staunen wie angewurzelt. »Das ist der Operationsraum des Hauptcomputers.« Sie nickte mehrmals, konnte aber den Blick nicht abwenden. »Oh«, sagte sie schließlich. Gray führte sie durch das Labyrinth der Computerstationen. Die meisten Techniker waren Männer, und Laura fiel auf, dass keiner von ihnen auf schaute oder ihren Blick erwiderte. Stattdessen schauten sie verstohlen in die Richtung, in der sie weitergegangen war, wie Jungen auf den Fluren einer High School. Auch Gray bemerkte dieses seltsame Benehmen. »Die meisten meiner Computerleute sind ziemlich verklemmte Typen«, sagte er erklärend. Sie passierten Konsolen, auf denen Zwei-Liter-Plastikflaschen standen, halbvoll mit Orangenlimonade. Große Beutel mit Käsecrackern, Salzbre zeln und Popcorn lagen offen in Grays »halbsauberem« Kommandoschiff herum. Aufkleber verzierten Monitore mit Slogans wie »Legalisiert Mari huana« oder mit Bildern des Raumschiffs ›Enterprise‹. Aus einigen Kopf hörern der Techniker kam, wie Laura registrieren konnte, laute Musik von Klassik bis Pop. Ebenso verschieden waren die Leute, die dieser Musik lauschten. Fast alle trugen dicke Pullover. Was einen Mann vom nächsten unterschied war das, was er sonst noch anhatte. Laura staunte über die Modeparade – die kurzärmeligen Freizeithemden mit diebstahlssicheren Taschen, die gebatikten T-Shirts und die orangefarbenen, unten weit aus gestellten Polyesterhosen aus der Disco-Ära. Viele von denen, die sich über ihre Konsolen beugten, schienen einen permanenten Buckel zu ha ben. Andere hatten sich in ihren gepolsterten Lederstühlen zurückgelehnt. Einer hatte die Füße über Kopfhöhe gelagert und hielt einen übergroßen Digitalisierer auf dem Schoß. Die leuchtenden Farben der ComputerBildschirme spiegelten sich in den dicken Gläsern ihrer Brillen, alle mit sehr schmucklosen Gestellen. Laura stellte sich vor, dass die ganze Horde eines Tages gezwungen sein könnte, aus ihrem Loch herauszukriechen – wie sie dann ihre Augen abschirmen und sich sofort einen nahezu tödli chen Sonnenbrand holen würden. »Was halten Sie davon?«, fragte Gray, am hinteren Ende des Raums ste henbleibend. 90
»Lauter Weicheier«, flüsterte Laura. Sie sah, wie Gray lächelte, dann grinste, dann in Gelächter ausbrach und damit ein paar der Leute in ihrer Nähe aufschreckte. Er strahlte sie an, mit fröhlich funkelnden Augen. Wirklich – er war ein gutaussehender Mann. »Ich meinte eigentlich die Anlage«, erklärte er, noch immer sehr belustigt. Laura schaute sich um, versuchte, sich etwas einfallen zu lassen. »Es ist sehr… hübsch.« »Danke«, erwiderte er, immer noch dem Lachen nahe. »Und Sie haben Recht, es sind wirklich Weicheier. Eine traurige, aber wahre Tatsache. Immerhin, so schätze ich, hat jeder von ihnen durchschnittlich mehr als zehn Millionen Dollar auf dem Konto.« Laura warf ihm einen verblüfften Blick zu, und er zuckte mit den Schultern. »Ich gebe ihnen etwas, das sich Gewinnbeteiligung nennt. Es ist eine Menge Geld, aber mit Produktivität steigt auch das Honorar. Wenn ein Mann tausendmal soviel leistet wie ein anderer, kann man ihm auch tausendmal soviel zahlen. Oder« – Gray sah Laura an – »mindestens hundertmal soviel.« Er grinste wieder übers ganze Gesicht. Wieder mal ein Scherz. Dann drehte er sich um und führte sie einen Flur entlang. Sie passierten eine ganze Reihe unscheinbarer Türen – keine Täfelung, kein Wand schmuck, nur flaches weißes Plastik. Eine dieser Türen glitt auf, als sie sich ihr näherten, und verschwand mit einem kaum hörbaren Luftzischen in der Wand. Sie hatte sich eine halbe Sekunde vor ihrer Ankunft geöffnet, stellte Lau ra fest, aber eine gleiche Tür auf der anderen Flurseite war geschlossen geblieben. Hinter Gray betrat sie den Raum, wobei sie sich immer noch fragte, woher die Tür gewusst hatte, wann sie sich öffnen sollte. Sie gerieten direkt ins Zentrum einer hitzigen Debatte. Rund um einen langen Tisch im dem Hightech-Konferenzzimmer saßen sechs weitere »Weicheier« – männliche und weibliche – und ein Mann, der eindeutig kein Weichei war: Ein muskulöser, braungebrannter Typ mit der ent schlossenen Miene eines Soldaten. Er wirkte in dieser Gruppe völlig fehl am Platze und schwieg, während die anderen diskutierten. Seine hellwa chen Augen musterten Laura, als sie sich neben Gray niederließ. Gray lehnte sich vor und legte die Unterarme auf den Tisch; alle ver 91
stummten wie auf ein Stichwort. »Erstens«, sagte Gray in dem plötzlich stillen Konferenzzimmer, »möchte ich Sie mit dem neuesten Mitglied unseres Teams bekannt machen, Dr. Laura Aldridge.« Es gab ein paar schwach nickende Köpfe, aber keinen Willkommenschor. Laura war sofort auf der Hut. Gray wendete sich der Frau links von ihm zu. »Dr. Aldridge, das ist Dr. Margaret Bickham. Sie ist unsere Direktorin für künstliche Intelligenz – das heißt für die ›Software‹.« Die Frau nickte und presste die Lippen so fest zusammen, dass sie sich aufwarfen und kräuselten. Ihr Gesicht zeigte weder ein Lächeln noch verriet es Missbilligung. »Links von ihr«, sagte Gray und wies mit der Hand zum des schmaleren Ende des ovalen Tisches, »sitzt Dr. Georgi Filatov, der Chef unserer Computerfunk tionen.« »Ich freue mich sehr, Sie kennen zu lernen«, sagte der Mann mit einem deutlichen russischen Akzent. Er sah aus wie ein legendärer Schachwelt meister oder ein Psi-Spezialist, der mit Gehirnkraft Löffel verbiegen konn te. Sein buschiges, ergrauendes Haar schien die tatsächliche Größe seines Kopfes zu verdoppeln. »Georgi sorgt für das Funktionieren der Hardware unseres Hauptcompu ters. Neben ihm sitzt Dr. Philip Griffith«, fuhr Gray fort, mit einem Nicken auf den Mann gegenüber weisend. »Dr. Griffith ist Direktor der Robotik. Das bedarf wohl keiner weiteren Erklärung.« Der Mann deutete mit Fin gerwackeln einen ungeschickten Gruß an, wobei seine Augen hinter di cken Brillengläsern lächelten. Dann zog das Lächeln seine dicken, von Koteletten bedeckten Backen auseinander und ließ zwei Reihen unregel mäßiger Zähne zum Vorschein kommen. Lauras Augen wanderten zum nächsten Mann – dessen harter Blick von jenseits des Tisches sie nicht losgelassen hatte, seit sie ins Zimmer ge kommen war. »Und das ist Franz Hoblenz. Er ist mein Sicherheitschef.« Der Mann nickte Laura kurz zu. Er war groß, hatte das verwitterte Aussehen eines Mannes, der sich viel im Freien aufhält, und musterte sie so unverhohlen, dass in seinem Verhalten eine Spur von Unverfrorenheit zu liegen schien – jener speziell männlichen Unverfrorenheit, vor der Laura instinktiv zu rückschreckte. 92
»Neben ihm sitzt Dr. Dorothy Holliday. Sie ist unsere ›Epidemiologin‹.« Alle lachten, aber Laura hatte keine Ahnung, worin der Witz liegen soll te. »In Wirklichkeit bin ich für ›F und V‹ zuständig«, sagte die errötende junge Frau mit einer verblüffend hohen Stimme. »Fehler und Viren«, übersetzte sie. Die Frau war höchstens Anfang Zwanzig – und hübsch. Sie hatte ein gewinnendes, wenn auch etwas unsicheres Lächeln, ohne die Anmut und Leichtigkeit, die später die Reife mit sich bringen würde. Fast glich sie Laura – nur eben ein Jahrzehnt oder mehr jünger. »Wir nennen sie einfach ›Doc Holliday‹«, brummte der Soldat an der anderen Seite des Tisches. Diese scherzhafte Anspielung auf den Revol verhelden aus dem Wilden Westen löste Gekicher aus. Die Bemerkung des muskulösen Mannes hatte Laura überrascht, nicht wegen seiner tiefen und rauen Stimme – die zu seiner Figur passte –, sondern wegen ihres deutli chen Texas-Akzents. Sie hatte angenommen, der blonde Sicherheitschef wäre Deutscher. Gray beendete seine Vorstellung mit den Direktoren für Produktion und Raumfahrt, die Laura vorkamen wie weitere Klone aus Grays Fabrikation verrückter Wissenschaftler. »Okay«, sagte Gray schließlich, den Tonfall wechselnd und seine Hände fragend ausstreckend. »Wie sieht der letzte Fehlerbericht aus?« Dorothy Holliday tippte mit einem Pen ihren Minicomputer an. »Vor zwei Stunden hat sich in der Turnhalle eine pneumatische Tür direkt vor der Nase eines Mannes geschlossen.« »Ist das überprüft worden?«, fragte Margaret Bickham vom anderen En de des Tisches. »Ja«, erwiderte Dorothy und nickte ein wenig zu hastig »Der Mann hatte gerade einen Mordsstreit mit seiner Frau gehabt, vor Gott und allen Men schen. Als er davonstapfte, lief er« – sie schlug zur Veranschaulichung die erhobenen Handflächen aufeinander – »direkt gegen die Tür. Es müssen an die zwanzig Leute gewesen sein, die herumstanden und es gesehen haben. Es heißt, sie hätten alle tüchtig gelacht«, sagte sie, bereit, selbst zu lachen, aber ihr Publikum zeigte nur finstere Mienen. »Jedenfalls hat sich danach die Tür wieder normal geöffnet. Eine Phase-Eins-Überprüfung war 93
negativ.« Als niemand darauf reagierte, wölbte Dorothy ihre Augenbrauen und presste die Lippen zusammen; dann fuhr sie fort. Laura lächelte über die ungekünstelt jugendliche Art der jungen Frau – jedes ihrer Gefühle spiegelte sich auf ganz natürliche Weise in einem Gesicht, das die Kunst der Täuschung noch nicht gelernt hatte. Bei jeder Berührung mit ihrem Pen gab Dorothys Minicomputer ein lei ses bing von sich. »Dann«, fuhr sie fort, wobei ihre Stimme immer mehr zu einem Flüstern verebbte und man sich anstrengen musste, sie zu verste hen, »hatten wir vor ungefähr einer Stunde eine Kundin in Kopenhagen – übrigens eine unsere früheren Überprüferinnen –, die sich beschwerte, dass mit ihrem Konto etwas nicht stimme. Wir haben nachgeschaut, und das Konto wies tatsächlich einen Fehlbestand von mehreren hunderttau send Dollar auf.« »Jesus«, sagte Georgi Filatov und schüttelte angewidert den Kopf. Sein buschiger Haarmop machte die Bewegung mit, und er beugte sich vor, um Blicke mit den anderen zu tauschen. »Und schließlich…«, begann Dorothy. »Noch ein Fehler?«, fragte Margaret, offensichtlich ungläubig. Dorothy runzelte die Stirn und nickte. »Auf dem Parkplatz unserer Fab rik in Taiwan ist einer der Breitstrahler durchgebrannt. Einer der Wach männer hat es gemeldet, aber ihr Verlöschen hätte einen entsprechenden Hinweis auslösen müssen.« »Ich werde ein Team nach Taipei schicken, das das überprüft«, sagte Hoblenz zu Gray. »Das ist schon das zweite Mal in dieser Fabrik und könnte auf eine Sicherheitsgefährdung hindeuten.« Gray nickte. »Okay. Was unternehmen wir gegen das Problem, Marga ret?«, fragte er, mit der links von ihm sitzenden Direktorin für ›Künstliche Intelligenz‹ anfangend. Sie hob einen metallenen Aktenkoffer vom Fuß boden auf, den sie methodisch auf den Tisch legte und mit einem kna ckenden Geräusch seiner Schließen öffnete. Während sie in ihren Papieren wühlte, musterte Laura die Frau. Sie wog etliche Kilo zu viel und trug eine Brille, genau wie alle hier mit Ausnahme von Laura, Gray und Hoblenz. Und Dorothy ergänzte Laura bei sich, als sie sich umschaute. Dorothy und Margaret, die an entgegengesetzten Enden des Tisches sa 94
ßen, bildeten eine Art Rahmen. Sie waren die einzigen Frauen am Tisch – bis zu Lauras Eintreffen. Lauras Blick wanderte zwischen den beiden Frauen hin und her. Doro thys hellbraunes Haar war dünn und glatt und wurde von Spangen gehal ten. Hier und dort hatten sich kleine Strähnen auf eine unbeabsichtigte, aber reizvolle Weise selbständig gemacht. Margarets dunkle, ergrauende Mähne ähnelte einem fest auf ihren Schädel gepressten Stahlhelm. Keine der beiden Frauen trug Make-up, das der Rede wert gewesen wäre, aber bei der jugendlichen Haut von Dorothy wäre das auch nicht erforderlich gewesen. Und beide schenkten ihrer Kleidung ganz offensichtlich nur wenig Beachtung. Margaret trug eine braune Polyesterhose und ein weißes Hemd von militärischem Schnitt, mit Schulterklappen, Paspelierung und einer zugeknöpften Brusttasche, die bis zum Bersten mit irgendeiner un sichtbaren Fracht gefüllt war. Dorothy trug verblichene, schlecht sitzende Blue Jeans und eine eng anliegende, ärmellose Bluse auf einem Körper, der nur aus Haut und Knochen zu bestehen schien. Laura blickte von der einen zur anderen und fragte sich müßig, mit wel cher der beiden sie selbst mehr Ähnlichkeit hatte. Dabei spürte sie auf einmal, ohne es eigentlich zu sehen, dass Gray sie beobachtete. Plötzlich hellwach, wurde sich Laura seiner Anwesenheit neben ihr in immer stärke rem Maße bewusst – seines sie unverwandt musternden Blickes. Sie hütete sich, Gray in die Augen zu schauen – sie sah überallhin, nur nicht in seine Richtung –, und dabei geriet sie unversehens in Blickkontakt mit Hoblenz. Der Mann machte sich nicht die Mühe, woanders hinzuschauen, sondern musterte sie auch weiterhin schamlos, nicht die Spur beunruhigt, dass er dabei ertappt worden war. Stattdessen war es Laura, die sich gezwungen fühlte, den Blick abzuwenden. »Herr im Himmel, Margaret!«, brauste Filatov auf. »Wir haben nicht die ganze Nacht Zeit!« Margaret ignorierte den Vorwurf. Sie verlangsamte sogar ihre Suche in dem Aktenkoffer zu einem Schneckentempo und durchwühlte jede Ecke und jeden Winkel, ohne eine Spur von Rücksicht auf das theatralische Gebaren ihres Kollegen. Filatov schnaubte wie ein Bulle und ließ, Unter stützung heischend, den Blick in die Runde wandern. 95
Endlich räusperte sich Margaret und rückte ihre Brille zurecht. Sie legte ein einzelnes Blatt Papier auf den Tisch, verschränkte die Finger und de ponierte ihr Kinn auf das Geflecht. »Wir haben den Computer zu einer routinemäßigen Muster-Erkennung der bisher aufgetretenen Fehler aufge fordert.« »Was ist dabei herausgekommen?«, fragte Gray. »Nichts.« Es herrschte einen Augenblick Stille, dann explodierte Filatov. »Ver dammt nochmal!« Er hieb seine Hand auf den Tisch, und Laura zuckte bei dem Dröhnen zusammen. Margaret wirkte völlig ungerührt. »Die Fehler scheinen zufällig zu sein«, fuhr sie fort, als befände sie sich in einem ganz anderen Universum als Filatov. »Aber er hat eine konstante Überwachung aufgebaut und wird alle Schwachstellen melden, die er findet.« »Sie ist eine Vulkanierin!«, brüllte Filatov mit wild gestikulierenden Händen. »Schlimmer noch – eine Klingonin!« »Georgi-i-i«, sagte Griffith und schüttelte den Kopf, um seiner Missbil ligung über diese üble Beschimpfung Ausdruck zu verleihen. »Welche Schwelle für Fehlerermittlung hat er installiert?«, fragte Gray, von der bestürzenden Zurschaustellung von Zwietracht völlig unberührt. »Ich weiß es nicht«, erwiderte Margaret. »Überprüfen Sie es«, befahl Gray knapp. »Ich möchte, dass Sie sie sehr niedrig ansetzen. Mir ist es lieber, wenn wir ein paar Hirngespinsten nach hängen, anstatt uns die Chance einer frühen Aufdeckung entgehen zu lassen.« Jetzt sah er Filatov an, seinen Chef für Computerfunktionen. »Was haben Sie zu sagen, Georgi?«, fragte Gray in munterem Tonfall, wobei er sich aber bemühte, ein Lächeln zu vermeiden. Hoblenz beugte sich wachsam vor und grinste erwartungsvoll von einem Ohr zum anderen. »Bevor ich anfange«, erklärte Filatov mit entschlossener und überlauter Stimme, »sollten wir vielleicht alle Margaret für die großartige Arbeit danken, die sie zur Lösung unserer gegenwärtigen Probleme geleistet hat.« Filatov klatschte mehrmals langsam in die Hände, aber niemand schloss sich ihm an. Gray sagte auch weiterhin nichts. Als Filatov fertig war, stieß er einen tiefen Seufzer aus, dann fuhr er fort, 96
als wäre nichts passiert. »Wir arbeiten mit ungefähr sechsundneunzig Prozent System-Kapazität. Abzüglich natürlich des Anti-Viren-Programms der Phase Eins. Ich habe mit Dorothy über die Möglichkeit gesprochen, genügend Ressourcen für Phase Zwei freizumachen.« Laura wunderte sich immer noch über die von niemand beanstandete Unhöflichkeit des Mannes, und deshalb entging ihr anfangs die Tatsache, dass jetzt alle Blicke auf Gray gerichtet waren. Sie hatte keine Ahnung, was Filatovs Bemerkung zu bedeuten hatte, aber als er die Worte »Phase Zwei« ausgesprochen hatte, war der Raum plötzlich von Spannung erfüllt. Der Vorschlag, was er auch bedeuten mochte, schien von weitreichender Bedeutung zu sein. Gray überflog langsam die Gesichter, bis er bei Dorothy angekommen war. Die junge Frau beschäftigte sich geistesabwesend mit ihrem Minicompu ter und machte sich nicht die Mühe aufzuschauen, bevor sie das Wort ergriff. »Wir müssten insgesamt ungefähr« – sie zog die Schultern ein, als wollte sie einen unmittelbar bevorstehenden Schlag abwehren – »sechs Prozent freimachen.« Sofort brach am Tisch Unruhe aus; alle gaben ihrer Empörung über diese Forderung Ausdruck. »Kein Durcheinanderreden!«, sagte Gray streng, und im Raum herrschte wieder Stille. Er wandte sich wieder an Dorothy. Der Körper der jungen Frau war noch tiefer in ihren Sessel gesunken, ihre Stimme kaum mehr als ein Flüstern. »Georgi hat gesagt, ich sollte mindestens einen, möglichst aber zwei Prozent…« »Lauter!«, unterbrach Hoblenz mit hallender Stimme, wie um ein Bei spiel zu geben. Dorothy richtete sich kerzengerade auf. »Ja, Sir!«, erwiderte sie selbst bewusst, aber mit sehr kindlicher Stimme. Sie salutierte vor Hoblenz sar kastisch, aber recht ungeschickt. »Wir brauchen zwei Prozent mehr«, sagte sie laut, wobei sie ihre Sopranstimme zu einer Imitation von Hoblenz’ Bass senkte und ihn mit zwei in der Luft wackelnden Fingern anstarrte. »Ohne Spielraum für Spitzen«, warf Filatov ein, »kommen wir gefähr lich nahe an einhundert Prozent Kapazität heran. Wenn es zu einer Flut 97
von Datendurchgängen kommt…« Er zögerte und verstummte dann. Alle hier wussten, was passieren würde, wenn Filatovs Befürchtungen eintra fen. Alle außer Laura. »Das bedeutet, dass wir insgesamt acht Prozent freie Kapazität brauchen würden«, fuhr Filatov verdrossen fort. »Im Au genblick kann ich vier bereitstellen, wenn ich mit dem Nachtdurchlauf ein bisschen jongliere.« Seine Augen wanderten um den Tisch herum; er hatte die Hände in einer bittenden oder entschuldigenden Geste erhoben. »Wir müssen zusehen, dass wir die restlichen vier Prozent irgendwo herbekom men.« Von Philip Griffith, Grays Direktor für das Robotik, kam der klägliche Versuch eines Pfeifens. »Wieviel gewinnen wir, wenn wir auf die nächtliche Fehlerüberprüfung bei Interbank-Überweisungen verzichten?«, fragte Gray. Mehrere Köpfe fuhren hoch. »Ich werde die Banken für etwaige Diskrepanzen entschädi gen«, sagte er und beschwichtigte damit eine Sorge, die Laura nur aus dem Kontext vermuten konnte. Sie kam sich vor wie eine Zuschauerin bei einem Spiel, dessen Regeln sie nicht kannte. Was vor sich ging, konnte sie nur anhand der Reaktionen der anderen erahnen. Filatov lehnte sich in seinem Sessel zurück und verschränkte die Hände hinter dem Kopf. Seine Augen wanderten zur Decke empor. Sein Hemd hatte Schweißränder unter den Achselhöhlen. »Das würde uns vermutlich an die vier Prozent bringen. Aber wenn Sie bedenken, dass zehn Uhr a bends an der Westküste ungefähr sieben Uhr morgens auf dem Kontinent ist, dann gibt uns das nur ein paar Stunden, bevor die Banken in Europa öffnen und wir damit anfangen müssen, die Leitungen freizumachen.« »Wie wäre es, wenn wir Phase Zwei etwas früher am Abend laden wür den?«, fragte Gray. »Da müssten Sie sich die Programmplanung ansehen«, sagte Filatov. »Heute Abend zum Beispiel findet in Las Vegas dieser große Schwerge wichtskampf statt. Das Letzte, was ich von den Marketingleuten gehört habe, war, dass sie damit rechnen, dass ungefähr fünfzig Millionen Leute diese Übertragung ordern werden.« »Und das ist eine Übertragung auf acht Kanälen«, meldete sich Hoblenz unvermutet zu Wort. »Je ein Kanal in den Ringecken, einer mit und einer 98
ohne Sprecher, und dazu die Helm-Camcorder und ich weiß nicht was sonst noch. Und das alles mit voller VR-Simultan-Aufzeichnung für die Beta-Tester.« »Genügen zwei Stunden für einen Durchlauf von Phase Zwei?«, fragte Gray, an Dorothy gewandt. Sie zuckte mit den Schultern, dann begann sie damit, den Kopf abwech selnd zur einen und zur anderen Seite zu neigen, eine Bewegung, die lang sam zu einem rhythmischen Nicken zu einer Musik wurde, die nur Doro thy hören konnte. »O-o-o-h«, sagte sie und seufzte dann, »seit vorigem Jahr ließen wir Phase Zwei nicht mehr durchlaufen. Und seither haben wir das System verdoppelt. Damals brauchten wir vierundsiebzig Minuten.« Gray runzelte die Stirn. »Also, fangen wir mit dem Freimachen an. Ich möchte, dass mir jeder von Ihnen Vorschläge für eine zehnprozentige Entlastung in der seiner Abteilung zugewiesenen Kapazität macht.« Von allen Seiten wurde Stöhnen laut, und Hoblenz räusperte sich und beugte sich vor. »Ausgenommen im Sicherheitsbereich«, ergänzte Gray, und Hoblenz nickte. »Wir kommen in vier Stunden wieder zusammen.« Laura sah auf die Uhr. Das wäre um ein Uhr morgens, dachte sie, aber sie fühlte sich nicht müde. Sie war aufgeregt. Zwar wusste sie nicht, was passieren würde oder was von ihr erwartet wurde, aber es war ganz ein deutig aufregend. Vor allem war es so ganz anders als alles, was sie ge wohnt war, und so akzeptierte sie die Tatsache, dass man in der Ge schäftswelt bis in die Nacht hinein arbeiten musste, ohne weiteres. Des halb bezahlt er so gut, begriff sie und hatte etwas weniger Skrupel, das Geld anzunehmen. »In der Zwischenzeit, Dr. Aldridge«, sagte Gray und riss Laura damit aus ihrem Kokon der Anonymität, »werde ich dafür sorgen, dass Sie sich ein bisschen eingewöhnen, bevor Sie an die Arbeit gehen. Dr. Griffith, würden Sie Dr. Aldridge herumführen?«, sagte Gray zu seinem Direktor für Robotik. Der Mann schaute verblüfft drein. Er starrte Gray an, und seine roten Lippen öffneten sich am Schnittpunkt der gewaltigen Koteletten, die seine Backen bedeckten. Seine Augen – vergrößert hinter dicken ColaflaschenLinsen – schienen im Begriff zu sein, aus ihren Höhlen hervorzutreten. 99
»Aber, Mr Gray, ich hatte für heute Nacht… eine Systemüberprüfung an den Zubringerbändern geplant und eine Qualitätskontrolle in der…« »Delegieren Sie das an jemand anderen«, fiel ihm Gray, bereits aufste hend, ins Wort. »Wir sehen uns in vier Stunden wieder. Sitzung vertagt.« »Tut mir Leid, wenn ich Sie von Ihrer Arbeit abhalte«, sagte Laura, wäh rend der Fahrstuhl seine schnelle Abwärtsfahrt fortsetzte. »Ich meine, Sie scheinen sehr viel zu tun zu haben. Ich weiß nicht, weshalb Mr Gray gera de auf Sie verfallen ist.« Griffith zuckte die Schultern. »Bei Mr Gray ist man nie vor Überra schungen sicher.« Nachdem er kurz in ihre Richtung gelächelt hatte, zog Griffith die Oberlippe hoch und entblößte seine Zähne, sodass es aussah, als würde er gleich fauchen. Er grimassierte insgesamt dreimal – runzelte seine Stirn und kniff dabei jedesmal die Augen zusammen, bis er es schließlich aufgab und seine Finger benutzte, um seine Brille höher auf den Nasenrücken hinaufzuschieben. Laura wendete sich ab und bemühte sich um eine neutrale Miene. Leute wie Griffith hatte sie schon oft gesehen, besonders unter Akademikern: Sonderlinge, weltfremde Einzelgänger, die Art von Leuten, die die Schlangen in den Zulassungsstellen für Kraftfahrzeuge bevölkerten und es liebten, über Regierungsverschwörungen zu reden. Der einzige Unter schied zwischen diesen Typen und Akademikern wie Griffith war ihr Intelligenzquotient. Griffith schnaubte laut und gab, als er sich räusperte, ein grunzendes Ge räusch von sich. Als es in Lauras Ohren zum dritten Mal knackte, fragte sie: »Wie weit hinunter fahren wir?« »Das Hauptareal liegt ungefähr dreihundert Meter unter Meereshöhe«, antwortete er. »Wir haben festgestellt, dass in dieser Tiefe das Lavagestein den größten Teil des subatomaren Mülls absorbiert, der im Weltraum herumfliegt, und somit unsere Fehlerquote erheblich reduziert. Natürlich werden dadurch auch elektromagnetische Interferenzen und simplere Probleme wie Vibrationen und Staub gegenstandslos.« Der Fahrstuhl wur de langsamer. »Und dann ist da natürlich die physikalische Sicherheit.« Griffith öffnete einen in die Wand des Fahrstuhls eingelassenen Kasten 100
und hielt Laura eine dunkle Sonnenbrille hin. »Hier«, war alles, was er sagte. Die Linsen waren kohlschwarz, und ihre Ränder waren mit dunklem, halbstarrem Plastik abgeschirmt. »Was ist das?«, fragte sie. »Setzen Sie sie auf«, sagte Griffith, während er eine gleiche Brille über seine eigene schob. »Sie verhindert NetzhautSchädigungen durch die Laser.« »Wie bitte?«, fragte Laura. Sie hatte das Gefühl, dass ihre Beine unter ihr nachgaben, während der Fahrstuhl ständig langsamer wurde. »Was für Laser?«, fragte sie, wartete aber die Antwort nicht ab, sondern folgte Grif fith’ Beispiel und setzte rasch die dunkle Brille auf. Die Linsen waren so stark getönt, dass es in der kleinen Fahrstuhlkabine praktisch pechschwarz wurde. Als der Fahrstuhl unten angekommen war, ging das Licht plötzlich ganz aus. »Hey!«, entfuhr es Laura. »Wir müssen verhindern, dass irgendwelche Lichtstrahlen die Kommu nikationssignale stören«, erklärte Griffith. »Auf der Beobachtungsplatt form gibt es eine ganz schwache rote Beleuchtung.« Es dauerte einige Zeit, bis sich die Fahrstuhltüren dreihundert Meter un ter dem Bunker des Computerzentrums öffneten. Ihr Auf gleiten gab den Blick frei auf einen kleinen Raum, der schwach beleuchtet und von Fens tern umgeben war. Ein kalter Schwall schwerer Luft ergoss sich in den Fahrstuhl. In der fast vollständigen Dunkelheit spürte Laura, wie die eisige Welle sie einhüllte, über ihre Beine spülte wie eine Flüssigkeit und Zentimeter um Zentimeter an ihrem Körper hochstieg. Binnen Sekunden war sie vollständig in das eisige Bad eingetaucht. Laura watete hinter Griffith in die kalte Luft. Er holte einen dicken Parka aus einem Schrank und schüttelte ihn heftig, bevor er ihn ihr reichte. »Der sollte eigentlich gleich warm werden, sobald die chemischen Einlagen im Futter in Aktion treten.« Laura ignorierte ihn fast. Als sich ihre Augen langsam der schwachen Beleuchtung anpassten, faszinierte sie das einzigartige Schauspiel, das sich ihr durch die mit Eis bedeckten Fenster hindurch bot. Etwas ähnliches 101
hatte sie noch nie zuvor gesehen. Die dunkle Welt wurde von einer Milli arde funkelnder Sterne erhellt. Sie flackerten so rapide, dass jedes Pulsie ren nur ein Produkt ihrer Phantasie zu sein schien – eine Augentäuschung. Der Effekt war atemberaubend. Die mysteriöse Höhle war von lebenden Lichtern erfüllt und dennoch in vollkommene Dunkelheit getaucht. Die lähmende Kälte zwang Laura, den übergroßen Parka überzuziehen. Mit zitternden Händen schloss sie den Reiß-Verschluss und zog sich die pelzgefütterten Kapuze über den Kopf. Der gesteppte Parka war so lang wie ein Militärmantel, aber ihre Füße waren trotzdem der eisigen Kälte der Luft ausgesetzt. Vorsichtig suchte sie sich ihren Weg über die Beobachtungsplattform auf die Lichter zu, dann glitt ein Schauder über ihren Rücken, als die Kälte durch den Parka hindurchdrang. »O Mann…«, flüsterte sie, und das Wort vibrierte durch das Klappern ihrer Zähne. »Ja«, sagte Griffith, gleichfalls mit bebender Stimme. »Es ist ka-a-alt.« »Nein, ich meine, was ist das nur für ein Ort?«, murmelte sie, vor dem rot beleuchtetem Fenster stehend. »Diese Lichter! Sie sind…« »Außerirdisch«, ergänzte Griffith. »Das jedenfalls denke ich immer. Es ist, als blicke man in eine andere Welt, in eine andere Dimension.« Laura streckte die Hand aus, um das Glas zu berühren. »Nicht!«, warnte Griffith, und sie zog die Hand schnell zurück. »Die Kälte könnte Ihre Haut verbrennen.« Griffith hebelte einen ganz gewöhnlichen Eiskratzer von der Fensterbank los und begann ein Stück der Scheibe freizumachen. »Wir haben hier unten nicht oft Besucher«, sagte er, während er arbeitete. Nachdem er einen großen, unregelmäßigen Fleck in der Mitte der Scheibe freigeschabt hatte, steckte er die Hand rasch wieder in die Tasche und benutzte ungeschickt seinen Ellbogen zum Sauberreiben des Glases. Laura beugte sich vor, um durch das Loch hindurchschauen. Das Fla ckern war verschwunden. Das Licht pulsierte jetzt in brillanter Helligkeit, und jedes Pulsieren war ein flüchtiger Nadelstich auf der kohlschwarzen Leinwand dahinter. Die Szene veränderte sich ständig; jedes rasche Auf blitzen war ein singuläres, nicht wiederholbares Ereignis. Zufälligkeit, die auf perfekte Ordnung hindeutete. »Das ist das ›Netz‹«, sagte Griffith leise, fast ehrfürchtig. »Ein neurona 102
les Netzwerk. Ein optisches, analoges, neuronales Netzwerk. Die innova tivste Maschine, die je geschaffen wurde. Was Sie da betrachten, Dr. Ald ridge, ist das achte Weltwunder. Ich wünschte mir nur, Archimedes wäre hier, um das zu sehen.« »Es ist wunderschön«, murmelte Laura, völlig hingerissen von dem un irdischen Schauspiel. »Sie können es in der Dunkelheit natürlich nicht erkennen, aber wir ste hen auf einer Terrasse oberhalb eines großen Betonbeckens. Das Becken ist ungefähr zehn Meter tief, ein paar hundert Meter lang und hundert Meter breit. Es ist mit Flüssigstickstoff gefüllt, dessen Siedepunkt bei minus zweihundertsiebzig Grad Fahrenheit liegt. Wenn die peripheren elektronischen Komponenten auf diese Temperatur gekühlt sind, werden sie supraleitend. Was wir tun, ist Folgendes: Wir lassen Gestelle, die aus sehen wie Kinder-Baukästen, in das Becken hinab. Jedes Gestell enthält tausend Platinen, und jede Platine leistet ungefähr hundertmal soviel wie ein alter Cray-1-Supercomputer.« Seine Stimme bebte, und er trat von einem Fuß auf den anderen. Es würde ein kurzer Besuch hier werden, vermutete Laura, trotz der chemischen Wärme, die ihr Parka jetzt aus strahlte. »Auf jeder dieser Platinen«, fuhr Griffith fort, »befinden sich ungefähr zehn Millionen Knoten oder, um Ihre Terminologie zu benutzen, Neuronen. Zehn Millionen Gehirnzellen.« Was Griffith sagte, waren bloße Worte. Sie waren nichts verglichen mit dem, was sie mit eigenen Augen sah. Die Unermesslichkeit des Anblicks, der sich ihr bot, verschlug ihr den Atem. Wie war es möglich, etwas zu konstruieren, das diesen Effekt erzielte? Schwärze, erfüllt von Licht. »Es ist ein optischer Computer«, fuhr Griffith fort, »kein elektronischer. Er arbeitet mit Licht anstelle von Elektrizität, um seine grundlegenden logischen Operationen durchführen und seine Erinnerungen speichern zu können. Logische Pforten werden geöffnet oder geschlossen, je nach In tensität der Laserstrahlen, die den Platz von Halbleitern einnehmen.« Lau ra hörte ein Stoffrascheln und riss sich für einen Moment von den Lichtern los, um einen Blick in die Öffnung von Griffith’ Kapuze zu werfen. »Wis sen Sie, was eine Picosekunde ist?«, fragte er, in der Pelzumrahmung kaum sichtbar. 103
»Also – natürlich!« Lauras Atem formte sich zu Dampfwolken »So un gefähr.« »Es ist der billionste Teil einer Sekunde. Normale elektronische Super computer benötigen ungefähr vierhundert Picosekunden, um eine binäre Operation wie etwa das Addieren von zwei Zahlen vorzunehmen. Dieser optische Computer hat diese Zeit auf 0,4 Picosekunden verkürzt. Und Sie sehen nur einen winzigen Bruchteil dieser Operationen. 99,9 Prozent sei nes Signalverkehrs spielen sich auf mikroskopisch kleinen, in die Platinen selbst eingelagerten Wellenleitern ab.« Laura starrte staunend auf die Nadeln aus Licht, die wie winzige Blitz lichter aufflammten. Mehr als an alles andere erinnerten sie sie an astro nomische Aufnahmen aus den Tiefen des Weltraums. Nur war dieses Uni versum lebendig und blitzschnell – Sterne wurden geboren, erstrahlten hell und starben wieder, und das alles in Bruchteilen einer Picosekunde. »Also machen diese Lichter da unten«, fragte Laura, »nur 0,1 Prozent der Opera tionen des Computers aus?« »Nein, das stimmt nicht ganz. Sie machen wesentlich weniger aus. Un gefähr neunundneunzig Komma irgendein Prozent des Signalverkehrs, der nicht über die internen Schaltkreise einer Platine läuft, spielen sich über Glasfaserkabel ab, die Sie gleichfalls nicht sehen können.« »Einen Moment«, sagte Laura. »Wenn wir die internen Lichtsignale auf den Platinen selbst nicht sehen können, und wenn wir die GlasfaserSignale nicht sehen können« – sie wendete sich wieder dem faszinierenden Schauspiel hinter dem freigekratzten Glas zu – »was ist das hier vor uns dann?« »Laserpulse. Kommunikationen zwischen Platinen, die für eine feste Verbindung nicht stabil genug oder einander nicht nahe genug sind. Diese Platinen reden miteinander, indem sie Laserstrahlen durch den gasförmi gen Stickstoff oberhalb des Beckens schicken. Diese Lasersignale da unten repräsentieren nur ungefähr eines von jeweils rund hundert Millionen Datenpaketen, die von einem Gateway zum nächsten übermittelt werden.« Griffith redete weiter über die konstante »Rationalisierung« der Schal tungen des Computers zur Erhöhung der Effektivität, aber Laura hörte nicht zu. Sie war über die Implikationen dessen, was er sagte, viel zu er 104
staunt, um den Details folgen zu können. Wenn dies, dachte sie, während sie die außerordentlichen Konstellationen der flüchtigen Sternchen be trachtete, einhundert Millionstel der Gesamtmenge der Signale ist… Es war unmöglich, sich das vorzustellen. Es war ein so konstantes, so disso nantes Tosen von Funktionen, dass es ihre Einbildungskraft völlig über wältigte. Es ist ein Gehirn. Der Gedanke kam ihr so klar und deutlich, als wäre er ihr ins Ohr geflüstert worden. Sie stand innerhalb eines lebendigen Ge hirns und beobachtete die elementarsten Denkimpulse – synaptische Inter aktionen. Individuelle Gehirnzellen, die miteinander kommunizierten. Ein Kribbeln breitete sich auf ihrer Kopfhaut aus, rieselte dann über ihren Hals und ihre Schultern. Sie zitterte, aber nicht vor Kälte. Was sie spürte, war die körperliche Reaktion auf ein ausschließlich zerebrales Phänomen. Denn Laura wusste, dass in tierischen Gehirnen Gedanken aus Verbin dungen von ähnlicher Komplexität hervorgingen. Und dass aus einem vielfach verschlungenen Netzwerk aus Impulsen, der Konfusion der Lich ter dort unten sehr ähnlich, in Menschen ein Gefühl des Bewusstseins entstand. »… Signale gelangen in das Netz durch Input-Vorrichtungen – Dinge wie Kameras, Mikrofone, Bewegungsmelder und so weiter, oder durch die herkömmlichen elektronischen Input-Vorrichtungen wie Tastaturen, Mausklicks oder Digitalisierer. Sie werden von elektronenbasierten zu lichtbasierten Signalen umgewandelt durch…« »Er hat es geschafft«, flüsterte sie. Tränen traten ihr in die Augen, aber ihr Mund war trocken, als sie die Symphonie aus Lichtern beobachtete, die über dem Stickstoffbecken gespielt wurde. Mit einem Rascheln seines Parkas schaute Griffith in ihre Richtung und verstummte. Gray hatte ein Gehirn geschaffen. Es war ihm gelungen. All das Gerede, all die fruchtlosen Recherchen so vieler Leute über so lange Zeit – und Gray hatte das alles Wirklichkeit werden lassen. Die Gänsehaut breitete sich jetzt aus, ergriff nicht nur ihre Arme, sondern ihren gesamten Körper. Es war ein Gefühl der Begeisterung, des Triumphes, des Fortschritts. Lau ra schwelgte darin – in dieser Euphorie, die wie eine Droge freigesetzt wurde, als ihr plötzlich die ganze Tragweite von Grays Durchbruch zu 105
Bewusstsein kam. »Wie in aller Welt hat er das alles zustandegebracht?«, fragte sie wie im Traum. Es war im Grunde keine Frage, sie gab lediglich ihrem Unglauben Ausdruck. »Diese Komplexität ist phänomenal!« »Oh, Mr Gray hat das Netz nicht gebaut.« Laura wirbelte zu der dunklen Masse des Mannes herum. »Wie meinen Sie das? Wer hat es denn gebaut?« »Also, ich glaube, das ist eine eher philosophische Frage. Natürlich hat Mr Gray den Prozess in Gang gesetzt. Er und Margaret haben den Compu ter vor ungefähr drei Jahren darauf angesetzt, das Netz zu entwickeln. Gray hat das Saatprogamm implantiert, aber von da an ist es gewisserma ßen selbst gewachsen und…« »Was für ein ›Saat‹-Programm?« In der Dunkelheit war es unmöglich, Griffith’ Miene auszumachen. Sei ne Reaktion kam sehr langsam. »Also… er…Ich meine, sie fingen nicht einfach mit einer völlig leeren Schiefertafel an. Ich meine, Gray hatte natürlich schon seit Jahren mit einer Unmenge von Theorien herumge spielt. Sie fingen mit einem Programm an, das ursprünglich lediglich das Ziel hatte, das Netz zu vergrößern – irgendwie ist es um diese Basis herum gewachsen. Vor ungefähr einem Jahr haben wir dieses Becken gefüllt und ein weiteres, den Anbau, eine halbe Meile von hier entfernt, hinzugefügt. Er hat ein weit größeres Volumenpotential, aber bis heute haben wir dort nur ungefähr ebenso viele Platinen eingesetzt wie hier im Hauptbecken.« »Und dieses Saarprogramm – das stammt von Gray?«, fragte Laura und konzentrierte sich dann ganz auf den Tonfall von Griffith’ Stimme, als er antwortete. »Natürlich! Ja.« Laura nickte. Die Verbindungen in ihrer Vorstellung waren jetzt voll ständig. Die Verbindungen zwischen den Punkten von Grays Biographie – die Meilensteine auf seinem Weg, der reichste Mann der Geschichte zu werden. Von seinen bescheidenen Anfängen in der Wall Street war das rechen schwache Computerprogramm des Wunderkindes herangewachsen zu – dem hier! Natürlich! dachte sie. Er hatte mit der Arbeit an diesem System vor fast zwei Jahrzehnten begonnen. Sein kleines »Saat«-Programm war in 106
Wirklichkeit das Produkt eines angestrengt arbeitenden Genies. Die Auf regung über ihre Entdeckung ließ ihr fast den Atem stocken. Aber sie war so offensichtlich, es war eine Entdeckung, die die anderen bestimmt schon längst gemacht hatten. »Weshalb fragen Sie?«, flüsterte Griffith. Er hörte sich verschwörerisch und vorsichtig an. »Worauf wollen Sie hinaus?«, drängte er. Laura war erstaunt. Seltsamerweise hatte zumindest ein Mitglied von Grays »Team« nicht die Schlüsse gezogen, die Laura für so offensichtlich hielt. »Nichts«, sagte Laura, ohne recht zu wissen, weshalb es ihr wider strebte, ihre Gedanken mit diesem Mann – einem von Grays Spitzenkräf ten – zu teilen. Sie nahm den Faden von Griffith’ letzter Bemerkung wieder auf. »Sie sagen also, dass das Saatprogramm sich zu dem hier ausgewachsen hat? Dass der Computer sich selbst gebaut habe?« Griffith zögerte – eine Pause, die Laura als Enttäuschung über ihre aus weichende Reaktion interpretierte. »Oh, wir haben es natürlich überwacht. Aber nur auf der allergemeinsten Ebene. Nehmen Sie meine Abteilung – Robotik. Jeder unserer Roboter hat sein eigenes neuronales MiniaturNetzwerk – oder ›Mini-Netz‹ –, und das erste Training, das wir diesen Mini-Netzen angedeihen lassen, besteht darin, dass wir den Hauptcompu ter veranlassen, sie mit Simulationen auf Trab zu bringen. Als wir für unsere Siebener-Roboter mehr kinästhetische Fähigkeiten brauchten, ha ben wir einfach den Computer aufgefordert, ihnen mehr kinästhetisches Training angedeihen zu lassen. Mehr Platinen kommen in das Becken, und im Handumdrehen beginnen die motorischen Fähigkeiten der SiebenerModelle zu wachsen.« Laura starrte den verschwommenen Umriss des Mannes an, dann wende te sie sich wieder dem Becken zu. Der Computer war vollauf damit be schäftigt, mit sich selbst zu reden. »Sie wissen also nicht, wie er funktio niert, oder?«, fragte sie. Griffith ließ sich Zeit mit seiner Antwort. »In der Tat – ich habe keine Ahnung«, erwiderte er schließlich. Die warme Nachtluft auf dem langen Weg zum Montagegebäude taute 107
Lauras erstarrte Füße allmählich auf. Sie hatte darauf bestanden, zum nächsten Punkt ihrer Besichtigungstour zu Fuß zu gehen. Nicht, um wieder warm zu werden, wie sie Griffith gegenüber behauptet hatte, sondern um ihre Blitzreise durch die Zeit zu verlangsamen, damit sie verdauen konnte, was sie bereits erfahren hatte. Aber Griffith war unerbittlich. Er setzte seinen Schnellkurs über das 21. Jahrhundert fort. »Der Computer arbeitet analog, nicht digital. Die Licht signale, die er aussendet, sind nicht auf Ein und Aus beschränkt wie bei einem digitalen Computer. Sie sind außerdem stärker oder schwächer, größer oder kleiner, höher oder tiefer, heißer oder kälter, je nach der Inten sität der Signale des Lasers und danach, welche Information das jeweilige Signal übermitteln soll.« Er redete und redete, und Laura betrachtete derweilen die hoch aufra genden Wunderwerke in Grays kleiner Nische der Zukunft. »Der Compu ter ist durchweg parallel aufgebaut. Er zerlegt jedes Problem in so viele Teile wie möglich und geht dann all diese Teile simultan an.« Lauras Denken war mit neuen Ideen total übersättigt – die Speicher voll von unverarbeitetem Datenmaterial. Aber Griffith war ein Springbrunnen des Wissens, und die Ventile dieses Springbrunnens waren weit geöffnet. »Wenn ein völlig neues Problem auftritt, dann versucht ein neuronales Netzwerk es mit Probieren zu lösen. Und selbst nachdem es das Problem gelöst hat, testet es sich selbst unaufhörlich weiter, stellt ständig neue Schaltungen her, um seine Leistungsfähigkeit zu vergrößern.« »Komplex-adaptives Verhalten«, murmelte Laura, bemüht, sich das alles vorzustellen. »Nach Billionen und Aberbillionen von Neuschaltungen haben wir nicht die geringste Ahnung, was der weitaus größte Teil des Systems tut. Und ein beträchtlicher Teil der Signale, die in jedem beliebigen Moment über mittelt werden, haben ein Reprogrammierungsvermögen, das die Operati onen jeder beliebigen Platine verändern kann.« Eine warme Meeresbrise strich über sie hinweg, und Laura schüttelte den Kopf – ihre eigenen Platinen waren überladen. »Das hört sich an, als wäre es ein völliges Durcheinander«, sagte sie. »Das totale Chaos.« »Das ist es!«, sagte Griffith. Er sah sie an und lächelte. »Aber in dieser 108
Zufälligkeit passiert etwas ganz Wundervolles.« Der Ton seiner Stimme hatte sich verändert. Jetzt schien er nicht mehr über Technisches zu reden, sondern über etwas viel Sublimeres. »Einmal… einmal surfte ich auf der ›Shell‹ – das ist das Interface für die globale Nutzung –, und da hat der Computer wie aus heiterem Himmel gesagt: ›Ist Ihnen schon einmal aufgefallen, dass manche Wolken aussehen wie Gesichter?‹ Laura sah zu ihm auf. Er brauchte ihr nicht zu erklären, wie bedeutsam diese Frage des Computers war. Sie empfand genau die Intensität des Staunens, die sich in seiner Stimme ausdrückte. »Ich veranlasste den Computer, der synaptischen Route dieses Gedan kens nachzugehen, und auf diese Weise fand ich heraus, was passiert war. Der Computer hatte meteorologische Daten über einer der Startrampen registriert. Als eine Wolke vorüberzog, hatte die Platine, die nach schlech tem Wetter Ausschau hielt, dem Bild eine hohe Priorität zugewiesen – eine starke synaptische Gewichtung –, und es zur Weiterverarbeitung durch all seine Schaltungen gejagt. Andere Platinen berechneten, ob die Wolke möglicherweise zu elektrischen Entladungen neigte oder elektronische Störungen bewirken könnte oder sonst etwas dergleichen. Wenn sie ge fährlich aussah, dann erhöhten die Platinen die Gewichtung des Signals und jagten die verarbeiteten Informationen durch all ihre Verbindungen. Diejenigen Platinen, denen die Wolke gleichgültig war, taten das Gegen teil – sie reduzierten die Signalstärke, bevor sie das Bild weitergaben. Die meisten dieser Pfade waren Sackgassen – sie betrafen eine Reihe von Platinen, von denen jede ihre Signalstärke reduzierte, bis sie völlig erlo schen war. In einer dieser Sackgassen – bevor das Bild dieser Wolke er losch -landete es bei einer Platine, die die Umrisse von Videobildern auf zeichnete. Diese Platine hatte ein Muster gefunden. Sie folgte den Linien der Wolkenumrisse und stellte fest, dass das Bild die Form eines Gesichtes hatte. Was halten Sie davon?« »Ich… ich finde es… es ist wundervoll! Es ist eine Analogie!« Das war genau das, was Gray auf ihrem Spaziergang früher am Abend beschrieben hatte. »Mit Analogien kann er verallgemeinern«, sagte Laura. Je tiefer das, was Gray und Griffith gesagt hatten, in ihr Bewußtsein einsickerte, desto 109
aufgeregter wurde sie. Sie sprach immer schneller und gestikulierte mit den Händen, um ihren Worten Nachdruck zu verleihen. »Mit Verallge meinerungen kann er lernen! Er kann herausfinden, dass ein Sofa zum Sitzen da ist, weil es so ähnlich aussieht wie ein Stuhl! Mit dieser Art von Lernpotential könnte er…!« Die Worte blieben ihr in der Kehle stecken. Er hat es geschafft!, dachte sie, hütete sich aber, Gedanken auszuspre chen, die weit vorauseilten. Sie streckte die Hand aus, packte Griffith und blieb mit ihm auf dem Gehsteig neben derselben Straße stehen, auf der Gray Laura das Sechser-Modell gezeigt hatte. »Ich will wissen, wie es funktioniert«, verlangte Laura. »Ich will alles darüber wissen.« »Wozu?«, erwiderte Griffith mit beiläufigem Achselzucken und setzte dann den Weg zu ihrem Ziel fort – dem hell erleuchteten Montagegebäu de. »Große Mainframe-Computer wie die, die wir da unten in diesen Be cken installiert haben, sind eine zunehmend überholte Form der Datenver arbeitung. Miniaturisierung ist das Schlüsselwort. Wir haben mit der Ver kleinerung der Schaltungstechnik bereits beträchtliche Erfolge erzielt. Sie werden beeindruckt sein, wenn ich Ihnen die Siebener-Modelle zeige. Mit dem Studieren des Hauptcomputers vergeuden Sie nur Ihre Zeit.« Griffith’ wegwerfende Bemerkung traf direkt ins Herz ihrer Unsicher heit. Laura hatte nur eine wirklich tiefsitzende Angst. Es gab nur eine Sache, die für sie wirklich eine Rolle spielte. Sie war nicht unsicher bezüg lich ihres Aussehens oder ihrer Persönlichkeit oder der sehr wenigen Ver ehrer, die sie ihrer Mutter vorgestellt hatte. Die Sache, anhand derer sie sich einstufte, war ihr Verstand, ihr Intellekt, ihre Intelligenz. In ihrem früheren Leben hatte sich diese Intelligenz an den Artikeln messen lassen, die sie veröffentlichte, an den Diskussionen, die ihre Ideen auslösten. Nach diesen Maßstäben galt sie schon jetzt als Versagerin. Das hatte sie sich eingestanden, als sie an Bord von Grays Flugzeug gegangen war. Das Angebot, sich Grays »Dream Team« anzuschließen, war ihre Rettung gewesen. Die anderen würden behaupten, sie hätte einen Rück zieher gemacht, aber das war bei weitem erträglicher als das, was ihnen an höhnischen Äußerungen eingefallen wäre, nachdem der Dekan seine Ab schiedsrede gehalten hätte. Was Gray ihr geboten hatte, war eine einmali 110
ge Chance – die Chance, dem Berufungskomitee eine lange Nase zu zei gen. Ihre Phantasievorstellung enthielt nur ein Problem: Darin war kein Platz für einen schmählichen Rückzug von Grays Insel – aus seiner Gesellschaft des Intellekts. »Mr Gray hält den Computer offensichtlich nicht für veraltet«, sagte Laura. »Ich meine« – sie suchte nach Worten – »er hat mich engagiert, damit ich helfe, ihn in Ordnung zu bringen.« Laura hatte sich bemüht, sich ihre Furcht, ihre bescheidene Rolle in dem »Dream Team« könnte rasch belanglos werden, nicht anmerken zu lassen. Griffith zuckte die Schultern. »Aber er hat auch die Produktion neuer Platinen einstellen lassen, obwohl der Anbau erst halb genutzt ist.« Laura betrachtete den Beton unter ihren Füßen, über den sie schritt. Sie musste sich zwingen, das Kinn hochzunehmen und die Schultern zu straf fen. »Wann hat er das getan?« »Die Anweisung wurde gestern erteilt.« »Weshalb?« Griffith schüttelte den Kopf und zuckte wieder die Schultern. »Ich bin nur der Direktor einer Sechsundzwanzig-Milliarden-Dollar-Abteilung. Woher zum Teufel soll ich das wissen?« Es war der Versuch, einen Scherz zu machen, aber der Sarkasmus verriet seine Bitterkeit. »Die Zukunft liegt jedenfalls in der Mobilität. Und dorthin sind wir jetzt unterwegs. Es ist im Grunde eine natürliche Progression. In zwanzig Jahren wird es zwischen Computern und Robotern keinen Unterschied mehr geben. Sie werden ein und dasselbe sein.« Sie gingen schweigend weiter, wobei Laura über die Implikationen von Griffith’ Bemerkung nachdachte. Ihr Verstand wurde nicht damit fertig, und sie stieß einen tiefen Seufzer aus. Sie kämpfte gegen die Unsicherheit – den Drang, aufzugeben, sich einzugestehen, dass ihr das alles über den Kopf wuchs. Die Zähne zusammenbeißend beschloss sie, es langsam an zugehen – einen Schritt nach dem anderen. »Öffnet der Computer die Türen automatisch – oder wie funktioniert das? Wie die Tür zu dem Kon ferenzraum, in dem Sie saßen, und die in der Turnhalle, gegen die dieser Mann anrannte, nachdem er einen Streit mit seiner Frau gehabt hatte?« 111
»Pneumatische Türen gehören zu meiner Abteilung«, sagte Griffith. »Robotik. Aber für den Fehler war der Computer verantwortlich, das kann ich Ihnen versichern, nicht die Servosteuerung in dieser Tür.« »Aber wozu all die Mühe, die Türen vom Computer öffnen zu lassen? Ich meine, in Supermärkten genügen dafür doch Bewegungsmelder oder sonst etwas in der Art.« Griffith lachte unvermutet laut auf und schlug sich wie eine verschlankte Version des heiligen Nikolaus auf den rundlichen Bauch. Er lachte über ihren Witz, aber Laura hatte es ernst gemeint. Ihre Stimmung verschlech terte sich rapide, aber sie klammerte sich hartnäckig an ihre Frage. Sie war entschlossen, zumindest eine Sache im ersten Kapitel ihres Instruktions handbuchs zu begreifen, bevor sie sich Griffith auf Seite vierhundert an schloss. »Also, wie öffnet der Computer eine Tür? Ich meine, als Mr Gray und ich auf die Tür zum Konferenzraum zugingen, öffnete sie sich, noch bevor wir sie erreicht hatten. Woher wusste der Computer, dass er diese Tür öffnen, aber die auf der gegenüberliegenden Seite des Flurs geschlossen halten musste?« »Nun ja«, sagte Griffith mit einem Kichern, das nicht ganz heiter klang – ein Anflug von Verwirrung erschien auf seinem Gesicht, als läge die Ant wort auf der Hand –, »weshalb sollte er glauben, dass Sie in eine Kammer gehen wollten, in der nur Mops und Besen und Eimer aufbewahrt wer den?« Jetzt war es Laura, die verwirrt war. »Sie meinen – der Computer wuss te, wo wir hinwollten?«, fragte sie. Griffith nickte und sah sie an, als wäre dies die allerelementarste Feststellung der Welt. »Aber dann… dann muss te ihm klar sein, wer wir waren.« »Ja, natürlich«, sagte Griffith und sah sie abermals an, wobei ihm offen sichtlich erstmals bewusst wurde, wie weit zurück Laura tatsächlich war. Wie unvorbereitet auf ein Leben in Grays Welt… und wie wenig vorberei tet auf die Aufgabe, die sie in Grays Team übernehmen sollte. In diesem Moment wurde Laura klar, dass Gray nichts über ihre beruflichen Qualifi kationen gesagt hatte, als er sie vorstellte. Sie hatten keine Ahnung, wie wenig sie über Computer-Technologie wusste – oder über irgendeine an 112
dere Technologie. »Die pneumatischen Türen dienen der Sicherheit, nicht der Bequemlichkeit«, sagte Griffith. Seine Stimme hörte sich plötzlich herablassend an. »Falls jemand, der nicht autorisiert war, unsere Ver sammlung zu stören, auf diese Tür zugegangen wäre, dann hätte er die Gegensprechanlage benutzen und um Einlass bitten müssen. Aber wenn der Computer wusste, weshalb derjenige dorthin unterwegs war – wenn er zum Beispiel den Ausdruck einer E-Mail abliefern wollte, oder wenn im Kontrollraum ein Feuer ausgebrochen wäre oder etwas dergleichen –, dann hätte er die Tür sofort geöffnet. Er ist sehr gut darin, Vermutungen anzu stellen. Deshalb ist der Fehler in der Turnhalle so schwer zu begreifen. Fehler dieser Art macht er sonst fast niemals.« In Lauras Kopf drängten sich so viele Fragen, dass sie unsicher war, welche sie als nächste stellen sollte. Sie wollte nicht ihre Unwissenheit verraten, indem sie etwas fragte, was für alle außer ihr auf der Hand lag, und deshalb wählte sie ihre nächste Frage mit Bedacht: »Werden alle Tü ren vom Computer gesteuert?« »In den öffentlichen Gebäuden, ja«, erwiderte Griffith. »Natürlich nicht in den Privathäusern.« Sein Ton war so ungeduldig, als wäre die Antwort derart offensichtlich, dass ihre Frage kaum eine Reaktion verdiente. Das ärgerte Laura. »Hören Sie, für Sie mögen das alles alte Hüte sein, aber in der wirklichen Welt entscheiden Turen nicht, ob sie sich öffnen sollen oder nicht! Dort muss man so etwas niederdrücken, das ›Klinke‹ genannt wird, okay?« Sie vergewisserte sich, dass sie als Antwort ein entschuldigendes Nicken erhielt, bevor sie fortfuhr: »Also«, sagte sie, jetzt mit freundlicher Stimme und diese kleine Episode hinter sich lassend, »weshalb öffnet und schließt der Computer Türen in öffentlichen Gebäu den, aber nicht in Privathäusern?« Griffith öffnete den Mund, doch dann zögerte er und warf ihr aus den Augenwinkeln einen Blick zu, wobei er offenbar seine Antwort abwog. »Weil«, sagte er in gesetztem Ton, »es dabei um die Privatsphäre geht. Mr Gray legt sehr großen Wert darauf, dass die Privatsphäre der Leute nicht angetastet wird. Damit der Computer Ihnen die Tür öffnen kann, muss er wissen, wer Sie sind und was Sie tun. Um diese Dinge wissen zu können, verfügt er über ein Echtzeit-Modell der Welt – wer und was jeder Mensch 113
und jede Sache ist und was die Betreffenden in genau diesem Augenblick tun. Er konstruiert dieses Modell, indem er die Daten verarbeitet, die ihm seine Sensoren vermitteln. Visuelle, auditorische, thermale Bewegung – alle diese Sinneswahrnehmungen verschmilzt er, um sich ein Bild von der Welt und allem darin zu machen. Wenn wir ihm gestatten würden, seine Beobachtungen in die Häuser der Leute auszudehnen – in ihre Schlafzim mer und Badezimmer und… Also, Sie können sich ein Bild davon ma chen«, schnaubte Griffith, »aber der Computer kann es nicht!« Er stieß Laura mit dem Ellbogen an, laut lachend. »Kapiert?« Laura nickte. »Das war ein Witz, ist Ihnen das klar?« Laura nickte abermals. »Es war ein Wortspiel. Haben Sie es verstanden?« »Ja!« Griffith verzog das Gesicht, als wäre er abermals ganz unabsichtlich ü ber Lauras aufbrausendes Temperament gestolpert. »Tut mir Leid«, sagte Laura, und sie gingen schweigend weiter. Laura ließ den Blick über die leeren Rasenflächen schweifen, weil ihr immer unbehaglicher zumute wurde. »Also werden die Leute ständig von Kameras überwacht, wenn sie sich in öffentlichen Räumen aufhalten?« »Und von Infrarot, Wärmemeldern, Schwachlicht, Mikrofonen, BodenBewegungsmeldern, Drucksensoren, Feedbacks von Dingen wie Licht schaltern…« »Ich verstehe«, unterbrach ihn Laura. »Es ist die einzige Möglichkeit, die der Computer hat, ein Weltmodell zu erstellen. Er muss jeden verfügbaren Sensor nutzen, um ein Gefühl für den Ort zu bekommen. Wenn seine Sinneswahrnehmungen beträchtlich behin dert sind – wenn Sie sich zum Beispiel hinter einem Strauch oder sonst etwas verstecken, um sich zu kratzen – für Sie eine ganz normale Sache –, dann ist das, soweit es den Computer angeht, nicht passiert. Es geschieht außerhalb des Modells des Computers. Auf dieser Insel lernt man sehr schnell, wo es Lücken im System gibt. Es ist im Grunde keine große Sa che.« »Und all diese Mühe machen Sie sich nur aus Sicherheitsgründen? Ist Gray denn derart auf Sicherheit versessen?« »Oh, nein, nein. Es ist nicht nur die Sicherheit. Die Roboter zum Bei 114
spiel benutzen eben dieses Weltmodell, um nicht irgendwo anzustoßen. Die Dreier-Modelle zum Beispiel können nur deshalb so schnell über die Straßen sausen, weil sie sehen können, was sich vor ihnen befindet. Ein Sechser würde wissen, wann er die Straße überqueren kann, weil beide vom gleichen Weltmodell Gebrauch machen und nach rechts und nach links schauen. Das ist das Schöne am Konstruieren und Unterhalten eines kompletten Weltmodells. Es gibt so viele verschiedene Verwendungsmög lichkeiten dafür.« Laura konnte sich eines unbehaglichen Gefühls nicht erwehren, nachdem sie jetzt wusste, dass sie ständig beobachtet und jede ihrer Bewegungen aufgezeichnet wurde. Sie spürte ein erstickendes Etwas, ein starres Auge, das in ihre Richtung schaute. Das starre Auge eines gestörten Wesens, erinnerte sie sich. »Also, Dr. Griffith, was stimmt Ihrer Meinung nach nicht mit dem Com puter?« Griffith hob die Schultern. »Wir glauben, dass es vielleicht doch ein Vi rus ist. Der Computer ist massiv verkoppelt, nicht nur intern, sondern über das Internet mit der ganzen Welt. Wir hatten es mit Hackern zu tun, mit Industriespionage und einer Unmenge von Infektionen. Eine von ihnen hat übrigens im vorigen Jahr fast zu einem Systemzusammenbruch geführt.« »Wollen Sie damit sagen, dass eine Infektion mit einem ordinären Com putervirus fast die ganze Anlage lahmgelegt hätte?«, fragte Laura. Griffith schüttelte den Kopf. »Es war schlimmer als nur eine Infektion – es war eine Seuche. Jemand in einem unserer Büros gab Georgis Operato ren eine falsche Telefonnummer, und der Computer rief ein Schwarzes Brett in Hongkong an, anstelle eines digitalen Prozessors, den wir geleast hatten. Der Computer schrieb ein Programm – einen ›Gopher‹ – und zapp te es in das Schwarze Brett. Der Gopher reproduzierte sich ungefähr eine Million mal und fegte in wenigen Sekunden durch die Datenbank. Er sieb te alles durch – Spiele, hausgemachte Pornos, Kleinanzeigen – und erstat tete in Form eines komprimierten Datenstroms Bericht, bevor er sich selbst zerstörte. Auf diese Weise ist das Virus durchgeschlüpft. Als der Bericht komprimiert zurückkam, ging er direkt durch den von Phase Eins als Virenschutz errichteten Firewall. Im Laufe der nächsten paar Tage 115
wurde der Computer schwer krank. Es fehlte nicht viel, und wir hätten ihn abschalten müssen, um das verdammte Ding umzubringen.« Laura hatte natürlich schon von Computer-Viren gehört. In letzter Zeit wurde immer wieder über sie berichtet. Aber von einer Seuche war ihr noch nie etwas zu Ohren gekommen. »Und was bedeutet es für den Com puter, wenn er ›krank‹ wird?«, fragte sie. »Vermutlich dasselbe wie für uns Menschen. Ich vermute, dass ist eines der Dinge, die Sie hier heraus finden sollen.« Griffith zog seine Hose hoch und schob das Kinn vor. »Aber beim großen Zampano weiß man ja nie, woran man ist.« Laura nahm an, Griffith habe wieder einmal versucht, witzig zu sein, und lächelte ihn höflich an. »Nennen ihn alle so? Den großen Zampano?« »Dieser Haufen?«, sagte Griffith abschätzig und reckte den Daumen ü ber die Schulter in Richtung Computerzentrum. »Dazu sind die viel zu ängstlich. Die schlucken doch alles.« Diesmal war Lauras Lächeln echt. Griffith erwiderte es und strahlte da bei absolutes Selbstvertrauen aus. Als sie Griffith jetzt musterte, sah sie nicht die an den Seiten seines Kopfes vorstehenden buschigen Locken, nicht die krummen Zähne, die dicken Brillengläser und die überdimensio nalen Koteletten. Wer immer er war – was sich in seinem Kopf abspielte – unterschied sich erheblich von dem, was von Außen zu erkennen war. Sie gingen weiter durch die stille Nacht, aber in Gedanken war sie im mer noch bei der Seuche. »Dr. Griffith…?«, begann sie. »Phil«, unterbrach er. »Phil«, wiederholte sie, »und, bitte, nennen Sie mich Laura.« »Ich Phil«, sagte Griffith mit einer ›Höhlenmensch‹-Stimme und berühr te seine Brust. »Du Laura.« Er lachte und schüttelte den Kopf über die Lustigkeit der eigenen Possen. Lauras Lächeln verebbte schnell, und sie räusperte sich. »Also, Phil, weshalb hat der Computer dieses Schwarze Brett in Hongkong überhaupt durchforscht? Ihm war doch bestimmt klar, dass er die falsche Nummer hatte. Weshalb hat er nicht einfach aufgelegt?« »Weil er zu neugierig war. Sehen Sie, von dem kleinen ›Saat‹-Programm abgesehen, das Mr Gray installiert hat, um die Dinge in Gang zu bringen, hat sich der Computer fast alles selbst beigebracht. Und es gibt nur eine 116
Möglichkeit, ein Selbststudium zu motivieren – und die besteht darin, ihn so zu programmieren, dass er neugierig ist. Genau das hat Margaret getan, und zwar gründlich.« »Sie scheinen Mr Grays Anteil an dem ganzen Projekt für ziemlich ge ring zu halten«, sagte Laura versuchsweise. »Oh! Entschuldigen Sie, wenn ich diesen Eindruck erweckt haben sollte. Es tut einer Karriere nie gut, wenn man den Boss kleinredet. Es ist nur so, dass Mr Grays wahres Genie auf dem Gebiet der Robotik liegt. Der As pekt der künstlichen Intelligenz ist im Grunde nicht sein Bier.« Gray, überlegte Laura, ein Genie der Robotik? Sie war überzeugt gewe sen, dass es Grays Innovationen hinsichtlich der neuronalen Netzwerke gewesen war und nicht die auf dem Gebiet des Engineerings, die den auf dieser Insel sichtbaren Durchbruch erzielt hatten. »O ja«, fuhr Griffith fort, »ich erinnere mich, wie der Computer prak tisch pausenlos auf uns eingeredet hat. Aber nur auf der ›Shell‹. Die meiste Zeit verbringe ich mit Problemen auf einer niedereren Ebene, aber gele gentlich wusste ich nicht weiter und wollte ein paar Fragen stellen. Auf der ›Shell‹ kann man nämlich Dinge in schlichtem Englisch eingeben wie zum Beispiel ›Wenn der hydraulische Antrieb mit einer Kopplung mit vier Toleranzwerten, aber nur drei Grenzwerten verknüpft ist, kann das Kon trollsystem dann eine Zielvorgabe erstellen, die verhindert, dass der Me chanismus unterbegrenzt ist?‹« Laura sah ihn mit einem schiefen Lächeln an. »In schlichtem Englisch?«, fragte sie. Griffith neigte nur den Kopf – von ihrer Frage verblüfft. »Oder auf Japa nisch oder Deutsch oder Französisch, was immer Sie sprechen«, sagte er, sie missverstehend. »Jedenfalls, irgendwann während der Unterhaltung pflegte der Computer dann zu sagen: ›War das alles, was Sie wissen woll ten?‹, oder etwas in der Art. Wenn man dann ›ja‹ sagte, erwiderte er: ›Ha ben Sie etwas dagegen, wenn ich Ihnen ein paar Fragen stelle?‹« Griffith lachte. »Man konnte es schon aus einer Meile Entfernung kommen sehen. Und dann tippte man sich mit den Antworten die Finger wund. Damals, verstehen Sie, war er noch sozial unreif. Wenn man etwas eintippte wie: ›Junge, wie die Zeit vergeht. Es ist schon Mitternacht‹ dann erklärte er: 117
›Ich habe auf Ihrem Terminkalender keinen Eintrag für Mitternacht‹.« Laura lachte. »Weshalb haben Sie dann nicht einfach Schluss gemacht?« »Also…«, setzte Griffith an, aber dann schien es ihm schwerzufallen, die richtigen Worte zu finden. »Wissen Sie, das wäre doch nicht sehr… nett gewesen, meinen Sie nicht auch?« »Schauen Sie einfach nicht nach oben«, sagte Griffith hilfreich, als Laura sich an das kalte Metallgeländer klammerte. Sie stiegen die Treppe hinun ter, die zum Eingang des Montagegebäudes führte, das – wie das Compu terzentrum – teilweise in die Erde hineingebaut worden war. Laura hatte an der sechzehn Stockwerke hohen Mauer emporgeblickt, die sich in bei den Richtungen jeweils hunderte Meter weit hinzog. Es war, als hätte der unvermutete Anblick der riesigen, im rechten Winkel zur Erde aufragen den Fläche ihr Gehirn zu der Frage veranlasst, welches der echte Horizont war. Ihr war sofort schwindlig und ein wenig schlecht geworden. »Das passiert öfter als Sie glauben«, sagte Griffith. »Lassen Sie uns hineinge hen. Drinnen wird es Ihnen gleich besser.« Sie tastete sich ihren Weg die Treppe hinunter, klammerte sich Hand ü ber Hand an das Geländer und hielt den Kopf gesenkt. Nachdem sie eine dicke Tresortür passiert hatten, gelangten sie in einen weiteren dieser in fernalischen »Entstauber«. Diesmal wusste sie jedoch, dass sie ihr Kleid festhalten musste. Wieder peitschte ihr das Haar ums Gesicht, aber auch diesmal hörte der Sturm rasch wieder auf. »Vielleicht sollte ich mir den Kopf rasieren«, sagte Laura, als sie sich das Haar aus dem Gesicht strich. Auf Griffith schien die Sache überhaupt keinen Eindruck gemacht zu haben. »Oh, sehen Sie das hier?«, sagte er und deutete auf eine an der Wand neben der Tür angebrachte kleine schwarze Platte. »Das ist ein Weitwinkel-Netzhaut-Chip. Die werden Sie hier überall finden.« Er schnitt für die Kamera eine Grimasse, bohrte die Daumen in die Ohren und streckte die Zunge heraus. Die innere Tür glitt auf und geschäftige Geräusche hallten durch den vor ihnen liegenden geschlossenen Raum. Sie folgte Griffith in eine kleine, gut beleuchtete Kammer – berührte die antistatische Matte und spürte den 118
erwarteten Stich in den Fingerkuppen. Laura sah sich um, fand hier aber keine Kommode mit einer Bürste neben der Tür. Was sie vorfand war ein weiterer schwarzer Augapfel, der in das Zimmer starrte. »Hier«, sagte Griffith und streckte ihr eine Schutzbrille mit großen, kla ren Gläsern und Ohrenschützern entgegen, die aussahen wie alte StereoKopfhörer. Laura setzte die Brille auf; das weiche Plastik legte sich um ihre Augen und schmiegte sich ihrem Gesicht dicht an. Die Ohrenschützer dämpften die Geräusche außerhalb des Zimmers zu einem bloßen Sum men. Dann reichte Griffith ihr einen weißen Schutzhelm, der gut passte und gnädig die wirre Masse ihres Haars bedeckte. »Da drinnen ist es ziemlich laut!«, rief Griffith, nachdem er sich selbst ausstaffiert hatte und sie auf die innere Tür zugingen. Sie verschwand in der Wand, als sie sich ihr näherten, und gab den Blick frei auf das grelle Licht eines künstlichen Tages direkt dahinter. Die ge samte Innenwelt der Montagehalle war in dieses erstaunlich weiße Licht getaucht, und überall herrschten Aktivität und Bewegung. Als sie die Tür passierten, die mindestens dreißig Zentimeter dick war und aussah wie eine Luftschleuse, konnte sich Laura des Gefühls nicht erwehren, dass sie eine Art gut konstruiertes Schiff betrete. Wie im Computerzentrum war auch hier alles solide und hermetisch verschlossen – entworfen und kon struiert mit einem Qualitätsanspruch, der normalerweise nur in Untersee booten und Raumfahrzeugen anzutreffen war. Und wie im Computerzent rum machte alles einen ganz neuen, unverbrauchten Eindruck. Laura wanderte in die Fabrik wie eine Touristin mit großen Augen und offenem Mund herum. Das Gebäude hatte Ausmaße, die man eher körper lich als mit Augen und Ohren begreifen konnte und vermittelte ein Gefühl, dass sie bisher nur in den größten geschlossenen Sportarenen empfunden hatte. Aber diese Arena hier war nicht mit Menschen gefüllt, sondern mit Hunderten und Aberhunderten von sich bewegenden Maschinen. Hoch über ihr glitten riesige Kranschlitten auf Schienen, die kreuz und quer an der Decke angebracht waren. Wenn die Schlitten über ihren Köp fen vorbeipassierten, verdunkelten sie dicke Röhren, die das Gebäude auf ganzer Länge durchzogen. Die Röhren leuchteten so hell, dass Laura ihre Augen abschirmen musste. 119
»Lichtröhren!«, sagte Griffith mit erhobener Stimme, die in dem Getöse der Fabrik kaum zu hören war. Er zeigte zur Decke – auf die dicken, hel len Röhren. »Mikrowellen-Generatoren schießen von beiden Enden des Gebäudes Lichtstrahlen durch die Röhren! Die Energie aktiviert Schwefel elemente, die dasselbe Lichtspektrum wie die Sonne erzeugen.« Das Licht im Gebäude interessierte Laura nicht im mindesten. Es war ungefähr so wie bei der Besichtigung des Hoover-Damms, als ihr Führer beim Betreten der Halle mit den riesigen Turbinen sie zuerst auf das Port rät Herbert Hoovers aufmerksam gemacht hatte. Ein Sechser-Modell wie der Rasenmäher zuvor rollte vorbei. Das Gerät zog einen mit verschieden geformten großen Maschinenteilen beladenen Anhänger. Es wich einem anderen Sechser-Modell aus, das sich mit einem am Armende montierten Exzenterschleifer in entgegengesetzter Richtung bewegte. Ein gewaltiges Fließband, das durch die Mitte der Halle lief, beförderte verstreute Objekte an Roboterarmen vorbei, die beiderseits des Bandes fest montiert waren. Überall entlang des Fließbands sprühten Fun ken auf, schrillten Bohrer oder erfüllten sengende Schweißgeräusche die Luft. So etwas hatte sie noch nie gesehen. Es war mit nichts vergleichbar, das sie sich je vorzustellen gewagt hätte. »Tolle Sache, wie?«, sagte Griffith grinsend. Laura wollte ein paar Schritte auf dem dunklen Betonboden machen, um besser sehen zu kön nen, aber Griffith ergriff ihren Arm und hielt sie zurück. »Entschuldi gung!«, rief er und deutete auf eine leuchtend gelbe, ungefähr einen Meter breite Linie unmittelbar vor ihren Zehen. Auf ganzer Länge waren die Worte »ARBEITSBEREICH – Kein Zutritt für Menschen!« – aufgestem pelt. Laura las die Warnung immer und immer wieder. Sie war sicher, dass sie wichtig war, wusste aber nicht recht, warum. »Vorsichtsmaßnahme!«, sagte Griffith, und Laura beobachtete, wie ein weiteres Sechser-Modell vorbeifuhr. Bei diesem war der Greifer am Ar mende durch einen glänzenden silbernen Kolben mit einem Durchmesser von ungefähr dreißig Zentimetern ersetzt worden. »Kommen Sie mit«, sagte Griffith und bedeutete ihr, ihm zu folgen. Sie bemerkte, dass er aus reichend Abstand von der gelben Linie hielt, die auf dem Fußboden einen Knick beschrieb, um Zugang zu einer metallenen Leiter zu gewähren. 120
Auch die geschäftigen Roboter hielten sich von der auffälligen Linie fern. Plötzlich begriff sie. Es ist eine Grenze, dachte sie, die den Menschen von arbeitenden Ma schinen trennt. Eine Grenze zwischen zwei Ländern – zwischen zwei Wel ten. Laura schwamm durch ein Meer neuartiger Gedanken, und jeder von ih nen riss sie in einer kraftvollen Gefühlsregung mit. Sie wurde wieder schwindlig und umklammerte das Geländer der Leiter. Mit ihrer Schutz brille, ihren Ohrschützern und dem Schutzhelm kam sie sich vor wie ein Wesen von einem anderen Stern in einem Raumanzug. Immer neue Ge danken und Perspektiven stürmten auf sie ein. Ein Fremder in einem frem den Land. Sie erinnerte sich an den Titel des alten Buches; er beschrieb genau, wie sie sich in diesem Moment fühlte. Als sie einen Laufsteg erreichten, der sechs Meter über dem HauptArbeitsbereich verlief, war Laura abermals von der Größe der Halle über wältigt. Jetzt konnte sie sie auf ganzer Länge überblicken, ausgenommen dort, wo Teile von Gerüsten ihr die Sicht nahmen. Das Fließband erstreck te sich durch die Hallenmitte, soweit der Blick reichte. Kleinere Bänder vereinigten sich mit dem Hauptband oder verliefen in einem Labyrinth von Haupt- und Nebenstraßen über und unter dem dahinrollenden Strom aus Grays Produkten. Sie führten in metallene Kabinen und Tanks und Stahl kammern, die von eisbedeckten Röhren umgeben waren, und wieder aus ihnen heraus. Überall bewegten sich Roboter – ein Bienenstock voll unun terbrochener Aktivität; dessen Bienenkönigin, in Stickstoff eingetaucht, dreihundert Meter unter der Meeresoberfläche lag. Griffith wartete, während Laura das alles in sich aufnahm. »Ist das der Ort, an dem Sie die Fernseher bauen?«, rief Laura und versuchte, den Lärm zu übertönen. »Nein! Das ist der Ort, an dem wir die Roboter bauen, die unsere Fern seher bauen! Und unsere Satelliten und unsere Relais und Umschaltstatio nen und unsere hochauflösenden Kameras und unsere Raumschiffe! Und natürlich die neuen Platinen für den Computer – das heißt, bis gestern! Sämtliche Verbraucherendprodukte werden in regionalen Fabriken überall auf der Welt hergestellt.« 121
Aus dieser Entfernung wirkten die Roboter kaum exotischer als ganz gewöhnliche Gabelstapler oder Radlader. Aber es gab keine menschlichen Fahrer, überhaupt keine Menschen. Die waren alle oben im Dorf und ge nossen ihren Feierabend. Dies hier war ein Dorf ganz anderer Art. »Unglaublich«, murmelte sie. Griffith neigte den Kopf, dann schüttelte er ihn – er hatte sie nicht verstanden. »Ich habe gesagt, es ist unglaublich!« Jetzt nickte Griffith heftig und grinste stolz. »Willkommen im einund zwanzigsten Jahrhundert, Dr. Aldridge!« »Hier entlang«, sagte Griffith mit einer Stimme, die kaum mehr war als ein Flüstern. »Ich möchte Sie mit ein paar Freunden bekanntmachen.« Griffith, Laura und ein junger Vorarbeiter, der sich ihnen angeschlossen hatte, betraten eine der größeren Baulichkeiten innerhalb der Montagehal le. Sie trugen alle noch Schutzhelme, aber die Brillen und Ohrenschützer hingen ihnen locker um den Hals. Außerhalb der dicken Mauern des Ge bäudes und innerhalb der Halle war der Rhythmus der Aktivität als unun terbrochenes Dröhnen zu hören. Aber hier drinnen waren alle Geräusche gedämpft. Griffith und der Vormann warteten neben einer offenen pneumatischen Tür. Laura ging an ihnen vorbei in den großen Raum, der dahinter lag – und vor Staunen öffnete sie den Mund. Sie trat auf eine metallene Laufplanke, die über fast hundert reglosen Sechser-Modellen verlief. Deren Arme waren in verschiedene Ruhestel lungen heruntergesackt – sie sahen aus wie in der Schwerelosigkeit schla fende Astronauten. Alle wären an »Aufladestationen« angeschlossen, erklärte Griffith mit gedämpfter Stimme. Im Raum herrschte Stille. Sogar das Licht war gedämpft. »Ich kann keine Siebener sehen«, sagte Griffith zu dem jungen Mann, der daraufhin einen Minicomputer von der Größe eines Clipboards konsul tierte. Nachdem er mit seinem Pen verschiedene Symbole angetippt hatte, sagte der Vorarbeiter: »Der nächste Siebener ist erst in einer halben Stun de fällig.« »Wo steht der nächstgelegene?« »Draußen auf dem Hof.« Griffith nickte, dann wendete er sich an Laura. »Diese alten Sechser«, 122
sagte er, mit einem schlaffen Finger auf die Reihe der schlafenden Roboter deutend, »müssen nach jeweils zwei Stunden Arbeit zwei Stunden aufge laden werden. Die Siebener brauchen bei normaler Verwendung nur alle drei Tage eine Aufladung, und die Aufladezeit beträgt ungefähr vier Stun den.« Sie schaute über das Metallgeländer auf den Roboter, der sich direkt unter ihr befand. »Die Sechser haben dasselbe Chassis wie die Dreier – die kleinen Wa gen, die Sie über die Insel befördern«, erklärte Griffith. Er sprach in einem einer Bibliothek angemessenen Tonfall, und ohne zu wissen warum, fand Laura sein Verhalten passend. »Weil sie auf Rädern laufen, können sie sich nur auf ebenem Terrain fortbewegen. Sie haben einen einzigen Mani pulator an der Vorderseite« – er deutete auf den dunklen Metallgreifer, der aus der Box direkt unter ihren Füßen hervorragte. Die Zangen des Greifers erinnerten an die Backen einer Beißzange. Sie waren zehn Zentimeter breit, und ihre tiefen Furchen liefen über die ganze Breite und glänzten von ständigem Gebrauch. Griffith deutete auf die langen Röhren beider seits der beiden Backen, die dem Griff des Roboters hydraulische Kraft verliehen. Laura vermutete, dass diese Stahlpranke mühelos alles Weiche zermahlen konnte. Das makabre Bild, das vor ihrem inneren Auge er schien, war nicht dazu angetan, sie für die Technologie einzunehmen. Ein Roboter an der anderen Seite des Raums ruckte. Laura sprang vom Geländer zurück, und Griffith und der Vorarbeiter lachten. Dann sah Lau ra, wie der Roboter seinen Greifer anhob und ihn langsam ans hintere Ende seines Chassis führte. Auf dem Zentralkörper, der sich über das Chassis des Roboters erhob, drehte sich etwas, das aussah wie zwei Si cherheitskameras, und folgte dem Arm. Der Greifer packte mit sicherem Griff einen dicken schwarzen Stecker, der aus seiner Dose in der Wand herausragte. Vom Stecker verlief ein Kabel zu einem Kasten an der hinte ren Stoßstange des Sechser-Modells. Sie schauten alle zu, wie der Greifer den Stecker zurück und vor und wieder zurück bewegte. Der Stecker flog aus der Wand und knallte laut gegen den Roboter. Wie der setzte Lauras Herzschlag eine Sekunde lang aus. »Er ist ein bißchen groggy«, sagte der Vorarbeiter Der Roboter versuch te es dreimal, bis er es geschafft und den Stecker in seinem Behälter unter 123
gebracht hatte. Dann schloss der Greifer den Deckel des Behälters und tippte ihn sicherheitshalber noch einmal an, bevor er in seine Normalposi tion nach vorn zurückkehrte. »Ihre Mini-Schaltzentrale befindet sich in dem Aufbau«, sagte Griffith und zeigte auf ein kastenförmiges Gehäuse genau oberhalb der Chassis mitte. »Beim Aufladen verlieren sie einen Teil ihrer virtuellen Fähigkeiten – die Verbindungen, die nicht verdrahtet, sondern programmiert sind. Die Sechser brauchen nur ein oder zwei Minuten, um ihre exzellenten motori schen Fähigkeiten neu zu erlernen, aber bei den Siebenern liegen die Din ge anders. Sie machen extensiveren Gebrauch von virtuellen Konnekrio nen und haben größere Schaltzentralen. Bis die Siebener wieder völlig beieinander sind, torkeln sie fünf oder zehn Minuten lang herum wie be trunkene Matrosen.« Das Sechser-Modell rollte jetzt langsam aus seiner Box. Hoch oben auf seinem Aufbau saßen seine beiden »Augen« – die »Sicherheitskameras« –, die sich synchron lautlos von einem Objekt zum nächsten bewegten. Wäh rend Laura hinschaute, drehten sich die Kameras zunehmend asynchron, bis ihre Bewegungen schließlich völlig unkoordiniert waren und die bei den Kameras in diese und jene Richtung zuckten. Der Roboter glitt an der Reihe seiner schlafenden Gefährten entlang und strebte an Lauras Aus sichtspunkt vorbei auf die Tür zu. »Haben Sie gesehen, wie sich seine Augen von einer Seite zur anderen drehten?«, fragte Griffith, und Laura nickte. »Sie sind seine wichtigsten sensorischen Organe. Seine Augen und Ohren, plus Infrarot und Thermalfühler. Außerdem besitzt er rund um sein Chassis herum Überschall-Entfernungsmesser zur Vermeidung von Kolli sionen und druckempfindliche Kissen an den Spitzen seines einen Effek tors – seines >Arms‹. Diese Dinge und das, was ihm der Hauptcomputer über seine Umgebung mitteilt, gestalten seine Welt – alles, was er sieht und weiß.« Als der Roboter sie passierte, richteten sich seine beiden Sen soren ruckartig und gleichzeitig auf die drei Menschen. Laura umklam merte abermals das Geländer, bereit, sofort beiseitezuspringen, als der schlaffe Greifer unter ihren Füßen vorbeiglitt. Sie wusste nicht weshalb, aber sie hatte das Gefühl, zurückweichen zu müssen – um der seltsamen neuen Kreatur unter ihr Platz zum Passieren zu machen. 124
»Er verpetzt uns«, sagte der Vorarbeiter, »Er erstattet Bericht«, übersetzte Griffith. »Das merkt man, wenn er ei nen auf diese Weise fixiert.« Die beiden Augen kehrten zu ihrem schein bar aufgeregten, unkoordinierten Absuchen des Weges vor ihm zurück. »Er hat uns hier drinnen gesehen und es dem Hauptcomputer gemeldet.« »Im Spionieren scheinen sie ganz groß zu sein«, sagte Laura. Griffith zuckte mit den Schultern. »Die Roboter sind die mobilen Augen und Ohren des Computers. Sie können das Weltmodell des Computers auf den neuesten Stand bringen mit dem, was wir einen ›Auffrischungs-Scan‹ nennen. Aber wenn sie sich an einem Ort befinden, von dem sich der Computer ein einigermaßen vollständiges Bild machen kann, wie zum Beispiel vom Sperrgebiet, dann melden sie dem Computer im allgemeinen nur Dinge, die für ihn von besonderem Interesse sind, zum Beispiel, wenn jemand die Grenze zum Arbeitsbereich überschreitet – nur für den Fall, dass es dem Computer entgangen sein sollte.« Laura schaute über die Kanten des Laufstegs hinunter. Die gelbe Linie verlief entlang der metallenen Brücke bis zu einer Tür am anderen Ende des Raums. Sie waren ein gutes Stück von dieser wichtigen Grenze ent fernt, die den Menschen von der Maschine trennte. »Also – weshalb hat er dann über uns Bericht erstattet?«, fragte Laura. Griffith warf einen Blick auf die verschwindende Maschine. Er konnte nichts anderes tun als die Schultern zu heben. »Wir haben die Produktion der Sechser voriges Jahr eingestellt!«, rief Griffith, während sie an dem sich ständig bewegenden Fließband entlang gingen. Sie hatten ihre Brillen und Ohrenschützer wieder aufgesetzt. So viele aktive Maschinen, so viel brutale Kraft waren an der Arbeit, dass die gelbe Linie, die sie so gewissenhaft respektierten, völlig belanglos und des Beachtens nicht wert zu sein schien. Das Einzige, was einen dieser dicken Metallarme daran hinderte, gewalttätig in ihre Richtung zu schwingen, war ein Konzept – ein Gesetz. Grays Gesetz, dachte sie und fragte sich dabei, wie viel Macht das Wort des Schöpfers in Wirklichkeit hatte. »Vor zehn Monaten sind wir voll in die Produktion der Siebener eingestiegen!«, rief Griffith, dann wendete er sich an den Vorarbeiter. »Wir wollen sehen, ob wir diesen Siebener auf dem Hof finden!« 125
Die drei stiegen mehrere Treppen hinauf und eilten dann über eine hoch über dem Hauptgeschoss verlaufende Laufplanke. Unter ihnen wurden Teile jeder nur erdenklichen Art und Form von dem breiten Fließband befördert wie Treibgut von einem unerbittlichen, von Menschenhand ge schaffenen Strom. Flache Platten aus leblosem Metall und Plastik wander ten an dem einen Ende in das große Gebäude, und am anderen Ende ka men beseelte Wesen heraus, die nach rechts und nach links schauten, be vor sie die Straße überquerten. Laura beobachtete den Prozess in dessen eigentlichem Zentrum. Einfach unglaublich, dachte sie kopfschüttelnd. Das Fließband selbst war mindestens sechs Meter breit und sah aus, als herrschte auf ihm das totale Chaos. Sein ursprüngliches Schwarz war an zahllosen Stellen unter Farb- und Brandflecken verschwunden. Und die Teile, die es beförderte, schienen vollkommen zufällig auf ihm verstreut zu sein, wie Schrott auf dem Weg zu einer Deponie. Direkt oberhalb des Fließbandes blieb Laura stehen, um das ganze Bild und die Geräusche des Montagegebäudes in sich aufzunehmen. In einiger Entfernung sah sie die stumpfen Nasen von zwei der merkwürdigen, flach seitigen Raketen Grays. Sie erhoben sich wie steile Pyramiden fast bis zur Decke. Überall entlang des Fließbandes war der Wald aus Roboterarmen ununterbrochen in Bewegung. Sie wendeten Teile, hoben sie auf, hielten sie gegen das Licht, beförderten sie vom Hauptband auf angrenzende an dere Bänder. Sie nieteten und schweißten, schliffen und grundierten, stri chen und maßen, bauten zusammen und sortierten aus. Und die ganze Zeit rollten die Sechser-Modelle parallel zum Band entlang und hielten immer wieder an, um Teile entgegenzunehmen oder ihren immobilen Brüdern Teile zu übergeben. Laura begriff, dass dies keine von menschlichem Geist ersonnene Fabrik war. Es war keine Anlage, die Menschen gebaut und dann einem leis tungsfähigeren mechanischen Ersatz überlassen hatten. Dies war eine Fabrik, die ein Computer ausschließlich für Roboter entworfen hatte. Dies war die Welt, wie sie dem Denken einer Maschine entsprechend sein soll te. Während Laura dastand, wurde ihre Erkenntnis durch eine überaus bezeichnende Tatsache unterstrichen. 126
Nirgendwo in diesem Meer aus Bewegungen war ein Mensch zu sehen. Laura strebte auf der Laufplanke dem Ausgang entgegen, und ihre Be gleiter folgten ihr hinab ins Erdgeschoss. Dort passierten sie eine weitere »Luftschleuse«, dann traten sie nach dem Aufstieg hinaus in die warme Nachtluft. Eine große Betonfläche, so lang und breit wie der Parkplatz eines Stadi ons, beherrschte die Rückseite des Montagegebäudes. In einiger Entfer nung markierten die drei Raketenrampen die Nordküste der Insel wie hell erstrahlende Leuchttürme. Lauras Haut kribbelte. An dem, was sie gerade erlebt hatte, fehlte etwas – irgendeine wichtige Schlussfolgerung. Sie war da, direkt am Randes des Begreifens, aber das Gefühl schwand allmählich. Der stumme Gast trat zurück in den Schatten. Zurück in die »graue« Zone, dachte sie belustigt. Dann war er verschwunden. Laura schüttelte den Kopf. Auf dem Hof standen kleine Schuppen, in denen Berge von Material lagen, zum Teil frei, zum Teil mit Planen abge deckt. »Hof« war nicht das richtige Wort, dachte Laura. »Schrottplatz« wäre die treffendere Bezeichnung gewesen. »Wie Sie sehen, ist das nicht die hübsche Seite des Gebäudes«, sagte Griffith. »Sie werden es kaum glauben, aber der Platz in dem Montagege bäude reicht nicht mehr aus. Dort drüben ist eine weitere Fabrik im Bau.« Griffith deutete auf einen dicken Wall aus knorrigen tropischen Bäumen. Oberhalb der Bäume drang Licht aus dem Dschungel, aber bisher war noch kein Bauwerk zu sehen. Laura stellte sich vor, dass die mechanische Nachtschicht unermüdlich weiterarbeitete, während ihre menschlichen Kollegen schliefen. Der Vorarbeiter führte die kleine Gruppe zwischen sich langsam bewe genden Sechser-Modellen hindurch. Laura runzelte die Stirn, als sie das Chaos musterte. Eine Müllkippe des 20. Jahrhunderts, dachte sie, versteckt hinter der Fassade von Grays Wunderwerk aus dem 21. Jahrhundert. »Er sollte eigentlich dort drüben sein«, sagte der Vormann, dessen Mini computer in dem trüberen Außenlicht hell leuchtete. Als sie um eine Ecke bogen stellte Laura fest, dass sich die Karte auf dem Minicomputer des Vorarbeiters gleichfalls gedreht hatte – er gewährleistete immer die ge 127
naue Orientierung, ganz gleich, in welche Richtung das kleine Instrument zeigte. Sie begriff, dass der tragbare Minicomputer mit dem »Weltmodell« des Hauptcomputers verbunden sein musste. Dass es der Hauptcomputer war, der sie durch das immer dunkler werdende Labyrinth aus Schuppen und Schrotthaufen geleitete. Sie passierten Roboter, die verbogene Metallstreifen sortierten, wobei ihre beiden Suchlichter die wirre Masse hell anstrahlten. Andere öffneten Kartons oder kippten Müllbehälter in bereits mit ähnlichen Abfällen ge füllte Anhänger. Alle waren Sechser-Modelle, die sich, wie es schien, nur durch das unterschieden, was am Ende ihrer langen Arme befestigt war. »Was ist das für Zeug?«, fragte Laura, als sie noch tiefer in das Laby rinth eindrangen. »Oh, minder wichtige Dinge wie wiederverwendbare Metalle, Plastikmaterial für die Morph-Einheiten, andere Rohmaterialien, denen die Witterung nichts ausmacht.« »Morph-Einheiten?«, fragte Laura. Griffith streckte die Hand aus, um Laura zurückzuhalten, weil gerade ein Sechser-Modell mit einer Palette rückwärts aus einem der Schuppen kam. Der Roboter blieb stehen, und das elektronische Zirpen seines Rückwärts gangs verstummte. Seine »Augen« schwenkten auf der Suche nach der kleinen Gruppe simultan herum. Die drei menschlichen Besucher gingen weiter, und Laura fragte sich, ob sich Griffith immer so vorsichtig verhielt oder ob die Fehler des Compu ters die Ursache für seine erhöhte Aufmerksamkeit waren. »Als Morphen«, antwortete Griffith, nachdem Laura ihre Frage schon längst vergessen hatte, »bezeichnen wir die Methode, mit der wir Plastik fabrizieren und neuerdings auch einige Metallteile. Früher musste man von einem Teil einen Prototyp entwerfen und anfertigen, ihn mit einer Guss form umgeben und dann geschmolzenes Plastik oder Metall in diese Form gießen. Jetzt gehen wir direkt vom Computer-Entwurf zur Morph-Einheit über, die eine überhitzte Form direkt in eine große, flache Platte presst. Der Schlüssel dabei ist die Schnelligkeit des Formvorgangs. Wenn man der Einheit bei der Arbeit zusieht, dann nimmt diese flache Oberfläche in Sekundenschnelle genau die Form an, die der Computer entworfen hat. Die Einheit bringt die Oberfläche der Plastikplatte zum Schmelzen, dann 128
härtet sie sofort aus. Der große Vorteil besteht darin, dass man mit der Verwendung von Morph-Einheiten einen Entwurf in Sekundenbruchteilen abändern kann. Sobald der Computer eine Komponente entworfen hat, dann« – Griffith schnippte mit den Fingern – »wamm – prägt er sie auch schon aus. Und er kann von Teil A zu Teil B und zu Teil C übergehen – völlig ohne Umrüstung und Produktionsverzögerung. Wir brauchen nur die Platten zuzuführen – beziehungsweise die Roboter tun das.« Sie bogen in einen anderen Gang ein, wobei sie dem Vorarbeiter mit seinem Mini computer folgten und nicht auf die immer länger werdenden Schatten achteten, die von den Lichtern an die Mauern des Montagegebäudes ge worfen wurden. »Er müsste irgendwo hier in der Nähe sein«, sagte der Vorarbeiter, und Laura sah, dass die beiden blinkenden Punkte auf seiner Karte – ein roter und ein grüner – jetzt sehr nahe beieinander lagen. Sie gingen tiefer in die Dunkelheit hinein, auf der Suche nach einem weiteren von Grays neuen Geschöpfen. Der Gang zwischen den Bergen von Materialien hatte jetzt eine unre gelmäßige Breite und begann sich zu winden und zu schlängeln. Vor ihnen bedeckte eine Insel aus Planen die allgegenwärtigen dunklen Formen und spaltete den Gang, auf dem sie entlangwanderten, in zwei Gassen. Stapel von schwarzen Reifen säumten die Wände. Sie gingen immer langsamer durch das dunkle Labyrinth und der Vorarbeiter blieb mehrfach stehen, um seine Position in Bezug auf das Montagegebäude zu ermitteln. »Er sollte eigentlich genau hier sein«, sagte er und hielt seinen Computer hoch, da mit Griffith und Laura daraufschauen konnten. Der grüne und der rote Punkt leuchteten jetzt stetig und überlappten sich vollständig. »Ich meine, hier…« Eine dunkle Form senkte sich in die dunkle Reifenschlucht, und Lauras Herz begann zu rasen. Es war ein langes schwarzes Bein, keine drei Meter vor ihnen. Dann zuckte ein Arm nach vorn und traf den Vorarbeiter an der Brust. Ein weiteres Bein gesellte sich lautlos zum ersten, und der große Körper einer riesigen Metallspinne überquerte die Mauer, kroch in die Öffnung vor ihnen und versperrte ihnen den Weg. Laura machte kehrt und flüchtete, wobei sie gegen die Reifenwand direkt hinter ihr prallte. 129
Auch ihre Begleiter ergriffen instinktiv die Flucht, blieben aber nach wenigen Schritten neben Laura stehen. »Herrgott noch mal, kein Grund zur Panik!«, rief Griffith gereizt. Er schien plötzlich außer Atem zu sein. Laura drehte ängstlich den Kopf und konnte beobachten, wie das riesige mechanische Geschöpf das letzte seiner schlanken Beine auf den Beton setzte. »Sie haben mir einen schönen Schrecken eingejagt«, sagte Griffith zu Laura, aber ihr fiel auf, dass sowohl er als auch der Vorarbeiter den Robo ter nicht aus den Augen ließen. Er stand jetzt reglos da, mit allen vier Spinnenbeinen auf dem Boden. Die Beine waren dünn, und ihre Innenkonstruktion lag frei. Schwarze Metallknochen lagen neben silbrigen hydraulischen Muskeln. Die Appara turen wirkten fast zu einfach, zu unkompliziert, um so gut funktionieren zu können, wie sie es taten. Die dunkle Maschine hatte zwei schlanke Arme, die ähnlich konstruiert waren wie die Beine. An den Enden der Arme, die direkt aus seinem Brustkorb hervorragten, saßen vier lange, fest um einen Reifen geschlun gene Finger. Der Roboter stand reglos da; seinen gerundeten, grob drei eckigen Kopf hielt er unverwandt auf die drei Menschen gerichtet. Sein Gesicht bestand aus zwei großen, flachen Linsen, die nebeneinander über einer Reihe von perforierten schwarzen Membranen angebracht waren. Der Roboter wirkte leicht und drahtig, aber der Kopf über dem Torso, der ungefähr die Größe eines Kühlschranks hatte, erhob sich doppelt so hoch wie der eines Menschen über den Körper. »Da ist er«, sagte Griffith und ging gelassen auf den Roboter zu. »Ein Siebener-Modell.« Während Laura auf die Augen des Roboters starrte, schaltete der Vorarbeiter mit einem Klicken seine Taschenlampe ein. Ein Zucken – nur die allerschwächste Andeutung einer Bewegung des Robo terkopfes, als er das Licht registrierte – ließ erkennen, dass die Maschine wach war. Und wachsam. »Kommen Sie herüber«, sagte Griffith, ihr zu winkend. »Da ist nichts, wovor Sie Angst haben müssten.« Lauras Nerven waren angespannt und ihr Herz hämmerte immer noch, aber sie zwang sich, neben Griffith und die Füße des Ungeheuers zu treten. »Wie Sie sehen, sind die Siebener-Modelle nicht auf flaches Terrain be 130
schränkt.« Griffith kehrte zu seinem sachlichen Ton zurück, der Laura half, sich wieder zu beruhigen. Dennoch fühlte sie sich angesichts dieser fremdartigen Technologie alles andere als wohl. Sie hatte immer noch keine Ahnung, was von ihr erwartet wurde. »Sie haben vier Beine, und sie können über unregelmäßige Objekte wie Treppen hinwegsteigen – oder auch über Reifenstapel, wie in diesem Fall. Hier unten«, sagte Griffith, während er niederkniete und das Licht der Taschenlampe des Vorarbeiters die Füße des Roboters anstrahlte, »hat das Modell Räder. Wenn es wie eine Spinne läuft, dann blockiert es die Räder. Und wenn es sich auf fla chem Terrain befindet, wie zum Beispiel auf einer der Straßen oder im Montagegebäude, dann benutzt es in diesen Verkleidungen sitzende An triebsmechanismen für die Räder. Rollen ist wesentlich energiesparender als Laufen.« Griffith erhob sich mit einem Stöhnen und knackenden Gelenken. »Ich brauche ein bisschen Öl«, erklärte er dem Vorarbeiter scherzend und streckte mühsam seinen Rücken. Dann legte er die flache Hand auf den Mittelteil des Roboters, und die Taschenlampe des Vorarbeiters beleuchte te eine Kollektion von Gegenständen, die seine Taille umgaben. »Das ist der Werkzeuggürtel. Wenn Sie den Endeffektor betrachten, werden Sie sehen, dass er mit einem Greifer ausgerüstet ist.« Er zeigte auf die beiden Hände, die den Reifen umklammerten. »Um ein Werkzeug auszutauschen, braucht er nur seinen Greifer in die entsprechende Halterung am Gürtel zu stecken und zu drehen, schon ist es frei. Dann kann er einfach eines dieser anderen Werkzeuge einklinken.« Griffith zeigte auf die zahlreichen Gerä te, die aus ihren Futteralen herausragten. »Er hat Bohrer, Schleifmaschi nen, Sägen, Zangen, Nieter und dergleichen mehr, und er kann sich außer dem externe Tanks aufschnallen und Azetylen-Schneidbrenner und Spritz pistolen und Dinge dieser Art mit sich führen.« Griffith trat zurück, stellte sich neben Laura und deutete auf eine Stelle oben an dem »Torso«, der breiter als tief und abgerundet war. »Die MiniSchaltzentrale steckt in seiner Brust«, fuhr Griffith fort. Das Licht der Taschenlampe wurde von einer grünlich-grauen Metallfläche reflektiert – der Schatten des großen Reifens, den der Roboter hielt, verdeckte einen großen Teil seines Körpers. »Seine Zentrale ist ungefähr hundertmal so 131
leistungsfähig wie das der Sechser-Modelle, deshalb sind die Siebener wesentlich autonomer. Die Siebener könnte man fast als freie Stromer bezeichnen, was bedeutet, dass sie auch ohne Zugang zum Weltmodell des Zentralrechners funktionieren könnten, wenn auch auf erheblich reduzier tem Niveau. Die Sechser dagegen sind ›angebunden‹. Sie verfügen nicht über die mentalen Pferdestärken, um ausschließlich mit ihren eigenen Sinnen und ihrer eigenen Rechnerkapazität ein Weltmodell zu erstellen und aufrechtzuerhalten.« Der Lichtstrahl der Taschenlampe wanderte wieder hoch zum Gesicht des Roboters, und wieder zuckte die ansonsten vollkommen stoische Ma schine leicht zusammen. »Oben haben die Siebener Netzhaut-Chips für normales Licht und außerdem hochauflösende Infrarot-Organe für schwa ches Licht. Beide Sensoren sind stereoskopisch und verfügen über eine außerordentliche Tiefenschärfe. Wir haben ›Ohren‹ an die Seiten des ›Kopfes‹ gesetzt, genau wie bei uns Menschen, und dann ist da noch ein Allzweck-Luft-Abtaster als Nase. Der Abtaster kann uns normale atmo sphärische Bedingungen melden, aber er kann außerdem eine Menge aus sagefähiger molekularer Übereinstimmungen mit Dingen wie Rauch oder gefährlichen Chemikalien erkennen.« »Wir haben auf die Ultraschall-Bewegungsmelder zum Vermeiden von Kollisionen verzichtet, die die Dreier und die Sechser haben«, ergänzte der Vormann. »Die Siebener haben in ihrem Kopf ein so komplettes Weltmo dell, dass sie nicht Gefahr laufen, gegen etwas Stationäres anzurennen. Und ihre Sinne sind so gut, dass sie Bescheid wissen, wenn sich etwas bewegt.« »Dr. Griffith, Dr. Aldridge«, blökte ein Lautsprecher, »bitte kommen Sie ins Computerzentrum.« Griffith sah auf die Uhr. »Fast Zeit für unsere Konferenz. Lassen Sie uns einen Wagen nehmen.« Griffith machte kehrt, aber Laura konnte den Blick noch nicht von dem Siebener-Modell abwenden. Der spinnenartige Roboter rollte auf dem stabilen Unterbau seiner vier Beine lautlos davon. »Hey«, sagte sie, um Griffith zum Stehenbleiben zu bewegen. »Woher wusste der Roboter, dass er stehenbleiben musste, als Sie ihn mir zeigten, und dass er gehen durfte, als Sie damit fertig waren?« 132
Der Roboter war verschwunden – in den dunklen Schluchten der Materi alberge des Hofes. Griffith schaute dem Objekt seines Stolzes nach und zuckte abermals mit den Schultern. »Er hat es eben getan. Diese Siebener sind verdammt intelligent.« »Warten Sie nur ab, bis wir die nächste Generation produzieren«, lachte der Vorarbeiter und lächelte in Griffith’ Richtung. »Dann bin ich wahr scheinlich arbeitslos.« Griffith ignorierte den Mann. »Wir sollten jetzt gehen«, sagte er – ein bisschen zu schnell und zu abrupt, fand Laura.
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4. KAPITEL »Das ist völlig ausgeschlossen!«, erklärte Filatov. Margaret ließ sich nicht beirren. »Geben Sie mir drei Stunden, maxi mal.« »Sie bekommen nie und nimmer genügend freie Kapazität, um Phase Zwei auf diese Art zu laden«, sagte Filatov und schüttelte den Kopf, um den beleidigenden Klang von Margarets Stimme loszuwerden. »Der Spei cherplatz muss kompakt sein. Bei Ihrem Plan sind die unbenutzten Racks über die ganze Landschaft verstreut.« »Wir werden die Racks im Hauptbecken defragmentieren und kompri mieren. Damit bleiben uns acht Prozent kompakter freier Speicherplatz drüben im Anbau.« Filatov schüttelte schon wieder den Kopf. »Das funktioniert nie! Nicht im Leben! Nicht in diesem Universum!« Im Konferenzraum trat Stille ein. Filatov wartete, bereit, wieder über Margaret herzufallen, aber sie hatte ihrem Vorschlag nichts mehr hinzuzu fügen. Von der rechten Seite kamen mehrere leise bings, und alle Köpfe wende ten sich Dorothy zu. »Das würde gerade ausreichen, um Phase Zwei zu laden«, sagte sie, von ihrem Minicomputer aufschauend. »Vorausgesetzt, dass Margarets Berechnungen stimmen.« »Reine Fantasie«, murmelte Filatov, der sich offenbar verpflichtet fühlte, bei der Erwähnung von Margarets Plan etwas zu äußern. Gray streckte die Hände vor und forderte damit zu weiteren Kommenta ren auf. Laura fühlte sich an dem langen Tisch abermals fehl am Platze. Sie war die einzige, die über keinerlei Fortschritte berichten konnte. »Also gut«, sagte Gray, »fangt mit dem Freimachen an, sobald wir fertig sind, und ladet Phase Zwei, sobald genügend Kapazität zur Verfügung steht.« »Es hat… es hat noch ein paar Fehler gegeben«, sagte Dorothy zögernd und hob dabei ihren Minicomputer, obwohl niemand erkennen konnte, was der winzige Bildschirm zeigte. »Drei unerklärliche Fehlfunktionen von Türen, eine Reihe von kleinen Konten-Diskrepanzen bei Filmbestel 134
lungen und siebzehn Minuten Blackout bei einem französischen Doku mentarfilm.« »Für mich sind das entschieden zu viele Türprobleme«, sagte Hoblenz. Er lehnte sich vor und sah Gray an. »Könnte sein, dass wir Besucher ha ben…« »Sie sehen doch Gespenster!«, stieß Filatov hervor. Er schüttelte un gläubig den Kopf. »Es ist ein Virus! Und Dorothys Phase Zwei müsste ihm den Garaus machen.« »Ja, aber wieviel Code wird dabei zerstört?«, fragte Margaret. »Fast überhaupt nichts!«, widersprach Dorothy mit ihrer Piepsstimme. »Es kann sein, dass wir die Verbindungen in den befallenen Racks verlie ren, aber das wäre kein Schaden im ganzen System. Wenn die neue Versi on von Phase Zwei ein bösartiges Virus findet, dann wird sie es isolieren, aber nicht durch das ganze System jagen. Seit der letzten Seuche habe ich eine Menge Dinge geändert!« Das am Tisch herrschende Schweigen bewies deutlich die Skepsis der Gruppe. Laura wartete eine halbe Ewigkeit, wie es ihr schien, und als niemand sonst das Wort ergriff, fragte sie: »Um welchen Film hat es sich gehandelt, und um welche Dokumentation?« Zuerst dachte sie, man würde ihre Frage einfach ignorieren. Nur wenige Köpfe wandten sich ihr zu, darunter der von Gray, wie sie bemerkte. Dorothy tippte auf ihren Minicomputer, dann sagte sie: »Der Film heißt ›Zimmer mit Aussicht‹. Für alle Orders, die übers Wochenende reinka men, wurde ein Akkreditiv eröffnet.« Laura versuchte sich ihre Verblüffung nicht anmerken zu lassen. Sie hat te zwei dieser Order selbst aufgegeben – eine am Freitag und eine weitere am Samstag. »Soll das heißen, dass jeder, der diesen Film am letzten Wo chenende geordert hat, ihn kostenlos bekam?« Dorothy runzelte die Stirn und nickte. ›Zimmer mit Aussicht‹ war einer von Lauras Lieblingsfilmen. Sie war in der ständig wachsenden Menge von Filmen, die man in Sekundenschnelle mit einem Knopfdruck aus Grays System empfangen konnte, über die neue, hochauflösende Version gestolpert. Als Laura am Freitagabend ihre 135
erste Order aufgegeben hatte, war sie allein gewesen und unglücklich über das »Profil« eines Doktoranden, mit dessen Unterlagen sie sich beschäfti gen musste. Die Order am nächsten Abend war eine reine Impulshandlung gewesen – ein halbherziger Versuch, der Langeweile zu entgehen. »Das ist einer der dämlichsten Filme, die je gedreht wurden«, erklärte Margaret mit höhnischer Miene. »Sie haben keinen Geschmack!«, konterte Filatov. »Das heißt, der Film hat Ihnen gefallen?«, forderte Margaret ihn heraus. »Ich habe ihn nie gesehen. Aber das ändert nichts an der Tatsache, dass Sie keinen Geschmack haben!« Vom Ende des Tisches kamen weitere Piepgeräusche. Alle sahen Doro thy an, die zusammenzuckte, als sie auf ihren Bildschirm schaute. »Der ausgefallene Dokumentarfilm hieß ›Faces of Death V‹.« Ihr Mund war vor Abscheu verzogen. »Igitt! Tatsachenmaterial über echte Todesfälle durch Selbstmord, Katastrophen und Verbrechens Und solchen Mist übertragen wir?« »Passen Sie auf, was Sie sagen, Mädchen«, fuhr Hoblenz sie an. »Weshalb nennen wir das eine Fehlfunktion des Computers?«, erkundig te sich Filatov auf seine streitlustige Art, diesmal über Dorothy herfallend. »Das Problem könnte genausogut irgendwo anders stecken!« »Ich habe es überprüft, Georgi!«, piepste Dorothy. »Es gab vier ver schiedene Satelliten-Überflüge! Die Satelliten haben die Bild- und Ton signale empfangen, aber der Computer hat den Übertragungs-Code nicht gesendet, und deshalb konnte die Schaltung nicht erfolgen!« Angespannte Stille breitete sich im Raum aus. »Wann wurde die Übertragung wieder aufgenommen?«, fragte Laura, und wieder zögerte Dorothy mit ihrer Antwort. Sie hatten sich noch nicht an die neue Stimme in ihrer Mitte gewöhnt. »Genau zur vollen Stunde.« »Sobald dieses ›Faces of Death‹-Ding zu Ende war?«, fragte Laura. Dorothy nickte langsam, allem Anschein nach immer stärker an dem in teressiert, was Laura als nächstes sagen würde. »Also gut«, unterbrach Gray abrupt und schob seinen Stuhl vom Tisch zurück. »Sehen wir zu, dass wir Phase Zwei laden.« 136
Damit war die Sitzung beendet, aber während alle aufstanden und zur Tür strebten, kamen wieder Diskussionen in Gang. »Laura!«, rief Dorothy. Sie stand neben ihrem Stuhl, und Laura ging zum Ende des Tisches und trat neben sie. Die junge Frau flüsterte lä chelnd: »Nun, hat Griffith Sie in Grund und Boden geredet?« Sie hatte das Kinn bis fast auf die Brust gesenkt, und ihre grünen Augen funkelten ver gnügt, als sie zu Laura aufschaute. »Er ist berüchtigt dafür, dass er Leuten endlose Vorträge über alles und jedes hält. Ich habe Mr Gray gesagt, ich würde Sie über das informieren, was uns wirklich Sorgen macht, aber er hat mich einfach abblitzen lassen, wie gewöhnlich. Hat Griffith über die Lichtröhren geredet?«, fragte sie grinsend. Ihre gute Laune war ansteckend. Laura lächelte und nickte. Dorothy verdrehte die Augen und zog die Schultern hoch. »Er versucht nämlich, Mr Gray einzureden, diese Dinger überall anbringen zu lassen! Das wäre einfach… großartig! Wissen Sie, dass man bei diesem Licht so ziemlich sämtliche Poren zählen kann, die man im Gesicht hat?« Laura nickte, aber sie begriff im Grunde nicht, was Dorothy dagegen einzuwen den hatte. »Was halten Sie von Filatov und Margaret?«, fragte die junge Frau wei ter mit der aufgestauten Energie von jemand, der nach Unterhaltung hun gerte. Laura holte tief Luft und überlegte sich ihre Antwort. »Sie scheinen sich nicht sonderlich gut leiden zu können.« »Wussten Sie, dass sie es tun?« Laura neigte den Kopf zur Seite, dann schüttelte sie ihn. »Dass sie was tun?«. »Sie wissen schon – das, worüber man nicht spricht. Mit allem Drum und Dran!« Laura hatte immer noch keine Ahnung, wovon die Rede war und schnitt eine Grimasse, um nicht antworten zu müssen. »Ich weiß es!«, sagte Dorothy. »Ist das nicht abstoßend? Ich kann’s mir nicht mal vorstel len.« Dorothys Oberkörper bebte, und sie gab ein angewidertes Stöhnen von sich. »Oh«, flüsterte sie dann plötzlich: »Hier kommt die Gedanken polizei.« Laura drehte sich um und sah, wie Gray den Raum betrat. 137
»Wir reden später weiter«, hauchte Dorothy, bevor sie zur Tür ging. Gray kam auf Laura zu. »Sind Sie bereit?«, fragte er. Irgendetwas in seinem Ton veranlasste Laura über seine Frage nachzu denken, bevor sie sie beantwortete. »Bereit wofür?«, antwortete sie mit einer Gegenfrage. »Den Computer kennenzulernen.« Sie schauten einander einen Moment lang an, dann zuckte Laura mit den Schultern, nickte und folgte Gray zur Tür. »Mir ist immer noch unklar, was ich eigentlich tun soll«, sagte Laura in Richtung seines Rückens. Gray ging ohne jedes Zögern weiter und die Tür glitt prompt in die Wand. »Ich meine, wenn es ein Virus oder ein Hacker ist, was könnte ich dann tun?« Filatov und Margaret unterhielten sich mit gedämpften Stimmen auf dem Flur, dann schlossen sie sich Laura auf dem Weg zum Kontrollraum an. »Wir gehen jeder Möglichkeit nach«, erwiderte Gray. »Und das schließt psychische Störungen ein?«, fragte Laura, wobei sie zuließ, dass ihre Skepsis in ihrer Stimme mitschwang. Sie blickte ihre beiden »Kollegen« an, die jetzt schweigend hinter ihnen gingen. Ihre Gesichter verrieten nichts, doch sie hörten zu. »Ich meine, um an einer Depression zu leiden, müsste der Computer…« Die Worte blieben ihr in der Kehle stecken. »Er müsste höhere Ziele und Ambitionen haben.« Gray nickte. »Wollen Sie damit sagen, dass der Computer ein Bewusstsein hat?«, fragte Laura. »Dass er über eine Intelligenz verfügt, die mit der eines Menschen vergleichbar ist?« Gray fuhr herum und sah sie an, wodurch er die kleine Gruppe am Ein gang des Kontrollraums zum Stehenbleiben zwang. »Nein«, sagte er. »Und wenn doch – dann möchte ich genau das von Ihnen wissen.« »Sie kann dieses Büro benutzen«, sagte Filatov und steuerte auf eine ge schlossene Tür in einer stillen Ecke des Kontrollraums zu. Er hob den Kopf und starrte durch seine Brille in das schwarze Guckloch, woraufhin die Tür mit kaum hörbarem Zischen in die Wand glitt. Laura folgte Mar garet und Gray in den fensterlosen, unterirdischen Raum; aber Filatov verschwand ohne ein Wort zu den anderen. Margaret schaute einen Mo 138
ment zu spät über die Schulter, erhaschte Lauras Blick statt den von Fila tov und wendete sich wieder ab. Also, dachte Laura, hatte Dorothy Recht, was Margaret und Filatov an ging. Das Büro enthielt einen Schreibtisch, einen Sessel und einen flachen Schrank – alles ohne das übliche Durcheinander von Büromaterialien. Auf der glänzenden schwarzen Platte des ultramodernen Schreibtischs stand ein übergroßer Computer-Monitor, davor eine Tastatur. Der schwarze Ledersessel war weich gepolstert. Wie alles in Grays Königreich schien auch hier alles frisch, neu und teuer. »Wir loggen Sie jetzt ein«, sagte Margaret und legte einen in die Schreibtischplatte eingebauten Schalter um. Von irgendwo tief drinnen in dem großen Schreibtisch ertönte ein sirrendes Geräusch. »Mr Gray«, sagte Margaret, »hierzu ist Ihre Autorisierung erforderlich.« Gray ließ sich im Sessel nieder und wartete, während der Computer den Ladevorgang beendete. »Der Zugriff zu den Kernfunktionen ist streng kontrolliert«, sagte Margaret zu Laura. »Sie bekommen ein Passwort auf ›Königs-Ebene‹ – wie alle Abteilungsleiter.« Margaret warf einen Blick auf Gray, als wollte sie ihm eine Chance geben, seine Entscheidung zu überdenken, aber er ignorierte sie. »Ist das die höchste Ebene?«, fragte Laura. »Ja«, erwiderte Gray, bevor Margaret ihre Frage beantworten konnte. Weshalb ist dann eine Freigabe erforderlich, bevor ich mich einloggen kann?, dachte Laura. Nach einem Piepton starrte Gray auf die Spitze eines biegsamen Stabes, der wie ein Mikrofon neben der Tastatur aufragte. Der Computer gab einen weiteren Piepton von sich, und Grays Blick wanderte von dem Stab zum Bildschirm. Sowohl er als auch Margaret Bickham lächelten. »Armes Ding«, sagte Margaret, während sie die Worte las, die über den Bildschirm glitten. Gray begann zu tippen, und Margaret schaute ihm über die Schulter, wobei ihr Lächeln traurig wurde. Nach Grays kurzer Kom munikation sagte Margaret: »Okay, Dr. Aldridge.« Sie winkte Laura an den Computer heran. Gray erhob sich und hielt den Sessel fest, damit Laura sich setzen konn 139
te. »Sehen Sie in die Linse«, wies Margaret sie an, auf die Spitze des Sta bes zeigend. »Versuchen Sie, nicht zu blinzeln.« Laura setzte sich und starrte in das dunkle Loch. »Sie identifiziert den Nutzer anhand des Blut gefäßmusters auf der Netzhautwand im Hintergrund seines Auges. Das ist besser als Fingerabdrücke. Dieses Muster zu ändern ist unmöglich; es ist bei jedem Menschen einzigartig und unverwechselbar.« Aus dem Loch kam ein kurzer Lichtblitz, und Laura blinzelte. »Tut mir Leid«, sagte sie, aber der Computer piepte. »In Ordnung«, sagte Margaret. »Er hat das Bild.« Laura wendete sich dem Monitor zu. Dr. Aldridge? las sie am unteren Bildschirmrand. Der Cursor blinkte am Anfang der leeren Zeile darunter – wartend. »Also gut«, sagte Gray. Er und Margaret waren auf dem Weg zur Tür. »Wenden Sie sich an Gerogi, wenn Sie etwas brauchen. Wir treffen uns morgen früh um neun zu einem Arbeitsfrühstück in meinem Haus. Das ist Ihre erste Nacht, also sollten Sie nicht zu lange aufbleiben.« »Warten Sie!«, rief Laura. Gray und Margaret drehten sich auf der Schwelle nach ihr um. »Was soll ich nun eigentlich tun?« Sobald sie die Frage gestellt hatte spürte Laura, wie eine Welle der Enttäuschung – hin sichtlich ihrer selbst – sie überflutete. Lag es an ihr? War sie zu langsam für Grays Armee von Genies? Aber Gray zeigte keinerlei Ungeduld. »Dr. Aldridge, Sie sind eine Ex pertin auf dem Gebiet der Wahrnehmung – auf dem Gebiet des menschli chen Bewusstseins. Ich habe ein hochentwickeltes neuronales Netzwerk gebaut, dessen Hauptaufgabe es ist, die Interaktion zwischen Menschen und Computern zu erleichtern. Ich habe es wie ein menschliches Gehirn konstruiert, um die Kluft zu überbrücken, die unsere beiden Welten von einander trennt.« Die tiefe Sorge, die aus Grays Gesicht sprach, spiegelte sich auf dem von Margaret, während sie wartete; dann richtete sie den Blick auf den Boden. »Im Laufe der Zeit«, fuhr Gray mit jetzt fast tonloser Stimme fort, »hat der Computer begonnen, zunehmend anthropomorphes, ›menschliches‹ Verhalten an den Tag zu legen. Er verharrte nicht in dem Mittelfeld zwi schen Mensch und Computer, das ich ihm zugedacht hatte. Er wurde mehr 140
Mensch als Computer. Anfangs war ich überzeugt, dass dieses Phänomen pure Nachahmung sei. Aber als sein Fundus an menschlichem Wissen sich vergrößerte, wurde auch sein Verhalten immer komplexer.« »Und das war der Zeitpunkt, an dem die Probleme begannen?«, fragte Laura. Gray nickte langsam, kaum wahrnehmbar, aber Margaret gab sofort ihrer gegenteiligen Ansicht Ausdruck. »Es gab einen zeitlichen Zusammenhang, allerdings…«, setzte Margaret an, dann verstummte sie. Laura konzent rierte sich auf Grays besorgte Miene. »Dieses System ist einzigartig«, fuhr Margaret schließlich fort. »Noch nie hat es etwas auch nur annähernd Vergleichbares gegeben. Wir haben Jahre damit verbracht, seinen Wis sensfundus zu erweitern; er ist nicht mit Geld zu bezahlen, also müssen wir jeder Möglichkeit nachgehen, ganz gleich wie – abwegig sie auch sein mag«, schloss Margaret in entschuldigendem Tonfall. Laura zwang sich, nichts zu erwidern – die Flut von Fragen zurückzuhal ten, die ihre Unwissenheit zu verraten drohte. Margaret und Gray gingen hinaus. Grays Blick ruhte auf Laura, bis sich die Tür hinter ihm geschlos sen hatte. Alles war still, nur unter ihrem Schreibtisch surrte es. Laura starrte auf die geschlossene Tür und dann auf den schwarzen Augapfel an der Wand neben ihr. Erst dann wandte sie sich zögerlich dem Bildschirm zu, um den darauf stehenden Text zu lesen: Mr Gray. ich hoffe. Ihnen geht es besser als mir. »Uns allen wird es besser gehen, wenn du wieder in Form bist. Wir ha ben Dr. Aldridge hier. Sie wird sehen, was sie für dich tun kann.« Sie soll sich einloggen. Ich habe mich schon lange darauf gefreut, sie kennen zu lernen. »Das habe ich vermutet.« Die Antwort Grays. Was soll das bedeuten? »Nichts weiter. Wir wollen anfangen.« EINLOGGEN AKZEPTIERT. Dr. Aldridge? Der Wortwechsel zwischen Gray und seinem Computer kam Laura sehr seltsam vor, aber hier schien alles seltsam zu sein. Alles, was sie bisher 141
gesehen hatte, war irgendwie merkwürdig gewesen. Laura schluckte, um ihren trockenen Mund anzufeuchten, und schob die Tastatur in eine be quemere Position. Sie rutschte auf dem Sessel herum, straffte ihre Schul tern und entspannte sie dann wieder. Als alles bereit war und ihre Finger über der Tastatur schwebten, schob sie ihren Sessel vom Schreibtisch zurück und suchte nach der Quelle des Geräuschs darunter. Lichter leuch teten und flackerten an einem großen Kasten, der die rechte Schreibtisch hälfte neben ihren Knien ausfüllte. Als Laura sich aufsetzte, spürte sie einen kühlen Luftzug an ihren nack ten Beinen. Er kam von dem Kasten mit den flackernden Lichtern. »Hallo«, tippte sie. »Ich bin Laura Aldridge.« Sie drückte die EnterTaste, die laut klickte. Endlich sind Sie da! Wie war Ihr Flug? Die Antwort des Computers kam blitzschnell. Das Tempo machte Laura fassungslos. »Gut. Wie geht es dir?« Im gleichen Moment, in dem sie Enter drückte, er schien die Antwort. Nicht sonderlich gut. Aber dar auf können wir später zurückkommen. Was halten Sie von den Anlagen hier? Die Schnelligkeit, mit der die Antworten kamen, raubte Laura den Atem. Es erinnerte sie an ihre kurze Unterhaltung mit Dorothy – an eine Unter haltung mit jemandem, der lange auf das simple Vergnügen von Gesell schaft hatte verzichten müssen. »Die Anlagen sind sehr beeindruckend«, tippte sie. »Ich bin mit dem Fahrstuhl hinuntergefahren und habe das Stickstoffbecken gesehen, und dann durfte ich das Montagegebäude besichtigen.« Ich weiß. Tut mir Leid, dass das Siebener-Modell Ih nen Angst eingejagt hat. Laura rief sich die Szene wieder ins Gedächtnis und versuchte sich vor zustellen, wieviel der Computer davon mitbekommen hatte. »Weißt du alles über meinen Besuch?«, tippte sie. »Wo ich gewesen bin? Was ich getan habe?« Nein. Nur die Dinge, die ich sehen kann. 142
»Und was ›siehst‹ du?« Sie brauchen keine Anführungszeichen zu benutzen. Ich kann wirklich sehen. Ich weiß, dass Sie die Linsen bemerkt haben. Dr. Griffith hat im Entstauber im Mon tagegebäude vor einer von ihnen Grimassen geschnit ten. Laura sah auf und betrachtete das schwarze Auge neben der Tür. »Und du siehst alles, was eine dieser Kameras aufnimmt?« So ziemlich. Ein Modell meiner gesamten Umwelt e xistiert als Bild in meinem ›Kopf‹. Ich weiß, wo sich alles befindet und was vorgeht. Eine Menge von Din gen ändert sich ständig, andere dagegen ändern sich überhaupt nicht. Ich neige dazu, die Veränderungen zu bemerken, und ich neige dazu, manche Veränderun gen mehr zu beachten als andere. Ein Wachsystem, dachte Laura, aber sie tippte: »Kannst du das erklä ren?« Natürlich. Nehmen wir an, ich hätte nur zwei Kame ras. Eine ist eine Sicherheitskamera an einem Treib stofftank. Die andere ist eine Sicherheitskamera auf einem Parkplatz. Angenommen, jemand raucht direkt vor beiden Kameras eine Zigarette. Wenn Sie mich fra gen würden, ob ich jemanden rauchen sehe, dann würde ich antworten, ja. da raucht jemand eine Ziga rette beim Treibstofflager. Dass jemand auf dem Parkplatz raucht, würde ich nicht sehen, weil ich nicht darauf programmiert bin. das Rauchen auf dem Parkplatz zu beobachten. Aber ich bin darauf pro grammiert, mich um das Rauchen in der Nähe von Ra ketentreibstoff zu kümmern. Verstehen Sie mich? Laura las die Antwort, dann nickte sie. »Ja. Aber du könntest auch die Kamera auf dem Parkplatz auf rauchende Leute überprüfen, wenn du dazu aufgefordert würdest, richtig?« Natürlich! Sobald ich den Eindruck hätte, dass es gut wäre, zu wissen, ob dort jemand raucht, erfolgt die Reprogrammierung automatisch. Ich schaue ledig 143
lich hin. und dann sehe ich es! Laura warf wieder einen Blick auf die schwarze Linse neben der Tür. »Und kannst du mich jetzt hier sehen?«, tippte sie. Ja. Sie sind sehr hübsch. Laura spürte, wie sie rot wurde, und ihr Blick wanderte zwischen dem Bildschirm und der schwarzen Linse hin und her – sie wusste nicht, wo sie hinschauen sollte. »Und du beobachtest mich?« Ich tue es jetzt. Als Sie fragten, ob ich Sie sehen kann, habe ich hingeschaut. Sie sitzen an einem Schreibtisch und tippen. »Aber vorher hast du mich nicht beobachtet?« Nein. Die Antwort des Computers war sehr kurz. Sie kam ihr fast zu kurz vor. Aus irgendeinem Grund schien der Compu ter nicht ausführlicher darauf eingehen zu wollen. Laura blieb argwöhnisch. Sie versuchte, nicht zu oft zu der Kamera hin zuschauen, während sie wieder zum Thema kam. »Du hast also ein Modell von der Welt, und du revidierst es, wenn du eine Veränderung wahr nimmst, die dir bedeutsam scheint.« War das eine Aussage, oder haben Sie nur das Fra gezeichen am Ende vergessen? »Entschuldigung. Ich wollte nur eine Bestätigung haben.« Dann bestätige ich das. mit einer Einschränkung. Ich brauche die Veränderungen, die eine Aktualisierung auslösen, nicht unbedingt direkt wahrzunehmen. Fast alles, was meine Welt ausmacht, habe ich noch nie zu vor gesehen. So habe ich zum Beispiel keine Kameras in Cleveland. aber ich habe eine Vorstellung davon, dass diese Stadt existiert. Wenn von dem Ort. den ich mir als Cleveland vorstelle, keine Filmbestellungen mehr eingingen, und gleichzeitig in den Medien von einer Atomkatastrophe dort berichtet werden sollte, dann würde ich mein Modell entsprechend revidieren. Ich würde Cleveland in dieselbe Kategorie einordnen, in die ich Pompeji eingeordnet habe, obwohl ich nie gesehen habe, wie beide Städte existierten oder zer stört wurden. Verstehen Sie? 144
Laura spürte eine Gänsehaut auf ihren Armen und ihrer Brust. All ihre Sinne waren hellwach und auf den Bildschirm konzentriert. »Ja«, tippte sie. »Ich verstehe.« Laura hatte mehr als ein Jahrzehnt mit dem Studium dieser Dinge ver bracht. Sie verstand den Prozess, den der Computer beschrieb. Was sie schaudern ließ, war die Folge einer Erkenntnis – noch nie in ihrem Leben war sie auf einen Job besser vorbereitet gewesen. Also, wie lautet das Urteil?, erschien auf dem Bildschirm. »Was meinst du damit?« Ich meine damit: Habe ich ein Bewusstsein? Laura konnte nur auf den Bildschirm starren. Kann es sein, dass er mit mir spielt?, fragte sie sich. Lange halte ich die Spannung nicht aus, setzte der Computer ungeduldig hinzu. Laura lächelte. »Jetzt machst du dich über mich lustig.« Nicht wirklich. Laura war zu Eis erstarrt. Der leichte Luftzug, der von dem Kasten unter ihrem Schreibtisch ausging, hatte sich zu einem direkt auf ihre Beine ge richteten steifen Nordwind ausgewachsen. Sie zog die Knie an die Brust und schlang die Arme um die Schienbeine, wenn sie nicht gerade ihre Fragen eintippte. Sie sah auf die Uhr. Es war fast drei Uhr morgens. Sie war erschöpft, und ihre Füße fühlten sich an wie Eisblöcke, aber die Begeisterung über ihre Entdeckung und die Neuartigkeit des Jobs hielten sie aufrecht. »Und wenn du Dinge siehst«, tippte sie, »scheinen sie sich dann inner halb deines Schaltsystems zu befinden oder in der Welt außerhalb?« In der Welt außerhalb. »Und das glaubst du, obwohl du weißt, dass sich der Ort, an dem das Bild aufrechterhalten wird, im Innern des Schaltsystems deines neuronalen Netzwerks befindet?« Immer, wenn ich irgendwelche Impulse direkt aus mei ner Umwelt erhalte – ganz gleich, ab es sich dabei um visuelle oder akustische handelt. Vibrationen. Ultra schall. Warme. Lufttests oder was auch immer -. dann scheinen sie außerhalb der Grenzen dessen lokali 145
siert zu sein, was ich als mein ›Ich‹ definiere. Mein Modell ist dreidimensional, und das. was ich regist riere, hat einen ganz bestimmten Platz in diesem Raum. Es hat eine Richtung und eine Entfernung, alles von ›mir‹ aus gemessen, womit ich das Hauptbecken unter dem Computerzentrum meine. »Nicht das andere Becken drüben im Anbau?« Nein. Ich weiß nicht warum, aber im Gründe habe ich nie ein Zusammengehörigkeitsgefühl mit dem Anbau entwickelt. »Okay. Kannst du die anderen Grenzen dessen definieren, was du als dein ›Ich‹ empfindest? Schließt es die Roboter ein?« Eine interessante Frage. Man könnte es für möglich halten, aber es Ist nicht der Fall. Wenn die Roboter mir Bericht erstatten, dann sagen sie mir. was sie se hen. Es sind Berichte. Von Jemandem, der nicht Ich ist. »Was ist mit den Signalen, die du vom Rest des Systems empfängst?« Alle direkt mit meinem Prozessor verbundenen Sen soren befinden sich innerhalb meiner Grenzen – sie sind meine Augen und Ohren. Aber wenn die Signale bereits verarbeitet sind, dann ist es genau so. als sähe ich fern. Ich sehe es. aber ich erlebe es nicht aus erster Hand. »Ich entschuldige mich für meine Unwissenheit«, tippte Laura, »aber ich weiß nicht genug über dein System, um den Unterschied zu begreifen zwischen sensorischen Reizen, die du selbst verarbeitest, und denen, die verarbeitet bei dir eingehen. Kannst du mir den Unterschied erklären?« Sie sind nicht unwissend. Dr. Aldridge. Sie sind bril lant! Sie sind eine der größten Denkerinnen unserer Zeit! Laura starrte auf den Bildschirm, plötzlich hellwach. Ihre Sinne konzent rierten sich auf die Worte, die sie las und dann noch einmal las, aber sie hatte nichts, woran sie sich halten konnte, außer dem leuchtenden Schim mern des Monitors. Machte er sich über sie lustig? Wollte er ihr auf ir gendeine grobe, berechnende Art schmeicheln? Sie hatte keine Ahnung, 146
was die Bemerkung des Computers zu bedeuten hatte. Während sie über ihre Antwort nachdachte, runzelte sie unwillkürlich die Stirn. »Ich sollte wohl danke sagen«, tippte sie schließlich und drückte nach einem kurzen Moment des Zögerns die Enter-Taste. Und Sie dürfen sich das. was andere Leute sagen, nicht zu Herzen nehmen. Alle großen Denker wurden von ihren Zeitgenossen verspottet. Die Reaktion auf neuartige Theorien erfolgt automatisch. Das Glau benssystem. das sich von dem virulenten neuen Ge dankenstamm bedroht fühlt, verteidigt sich selbst. Es greift den Nonkonformisten mit einem breitgefä cherten Waffenarsenal an. Spott und Verachtung gleichen Antikörpern, die vom Immunsystem zur Zer störung bedrohlichen Wissens gebildet werden. Aber keine Angst! Wirklich gute Ideen überleben immer. Die Theorien, um derentwillen man Sie verspottet hat. können, sobald sie erst einmal in das Glaubenssystem eingedrungen sind, nicht wieder in die Flasche zu rückgestopft werden. Eines Tages werden sie die schwächeren Ideen hinwegfegen und man wird sie als unbestreitbare Tatsache akzeptieren, weil sie zwin gender und überzeugender sind. Jetzt war Laura vollends verblüfft. Redete er über den Vortrag, den sie in Houston gehalten hatte? Wie in aller Welt konnte er etwas über diese bittere Erfahrung wissen? Und was sollten diese bizarren Analogien zum Immunsystem und Antikörpern? Sie sah sich im Zimmer um, und ihr Blick fiel abermals auf die kleine schwarze Linse neben der Tür. Sie war allein, aber sie zwang sich zu einer neutralen Miene und beugte ihren Kopf von Schulter zu Schulter, um ihren plötzlich steifen Hals zu entspannen. Und weshalb sagt er, ich wäre brillant!, fragte sich Laura. Dann wurde ihr plötzlich bewusst, dass sie sich eine Person vorgestellt hatte. »Er ist ein Computer!«, sagte sie laut, wobei sie sich mit zusammengebissenen Zäh nen davor warnte, zuzulassen, dass ihr fragiles Ego von einem cleveren Computerprogramm aufgebläht wurde. »Ein Computer, Laura«, murmelte 147
sie, während sie sich zu konzentrieren versuchte. »Okay«, tippte sie, »zu rück zu den Grundlagen. Wenn ein Roboter dir etwas berichtet, siehst du dann tatsächlich, was der Roboter gesehen hat, oder liest du nur die Bot schaft?« Sie drückte Enter. Es kam keine Antwort. Sie wartete einen Moment, dann drückte sie a bermals auf die Enter-Taste. Immer noch keine Antwort. »Bist du noch da?«, tippte sie. Mir ist nicht mehr nach Reden zumute. Laura starrte mit übermüdeten Augen auf den Bildschirm. Sie hatte Kopfschmerzen, weil sie gezwungen gewesen war, sich immer mehr an strengen zu müssen. Ihre Schultern taten weh vom Tippen. Sie lehnte sich zurück und rieb sich zuerst die Augen und dann die Schläfen. Ganz plötz lich wurde sie von Erschöpfung überwältigt, und dann fiel ihr ein, dass ihr ja noch die Fahrt zurück auf den Berg bevorstand. Und außerdem eine Frühstückssitzung in sechs Stunden. »Okay«, tippte sie. »Wir reden irgendwann morgen weiter. Gute Nacht.« Sie drückte Enter und wartete. Wieder kam keine Antwort. Mit einem Seufzer stand Laura auf und ging. Die Tür glitt in die Wand, aber dann erinnerte sie sich, dass Margaret das Terminal eingeschaltet hatte, als sie hereinkamen. Sie kehrte zum Schreibtisch zurück, um den Strom auszu schalten. Schlafen Sie gut, stand am unteren Rand des Bildschirms. Obwohl sie so spät zu Bett gegangen war, stand Laura früh auf. Sie würde sich den ganzen Tag furchtbar fühlen, wenn sie nicht ein bisschen Sport getrieben hatte, also beschloss sie, ein wenig zu joggen, bevor das »Team« zum Frühstück zusammenkam. Sie stand vor einem Spiegel – straffte die Schultern und zog ihre Spandex-Laufshorts und das dazugehörige Oberteil zurecht. Eine lose Haar strähne hing ihr in die Stirn, und sie stopfte sie unter das farbige Kopf band. Dann überlegte sie es sich anders und verbrachte ein paar Sekunden damit, ihren Pony unter dem elastischen Band hervorzuziehen. Gray war nirgends zu sehen, als Laura die Treppe hinunterlief. Sie machte sogar einen kleinen Rundgang durch die relativ öffentlichen Räu me im Erdgeschoss. Der Palast schien leer zu sein. 148
»Guten Morgen, Dr. Aldridge«, sagte Janet laut, und Laura fuhr erschro cken zusammen. »Morgen, Janet« erwiderte Laura, die sich schnell wieder gefasst hatte, und wendete sich der Frau zu. Von der Stelle aus, an der sie stand, konnte sie in eine abgedunkelte, zweigeschossige Bibliothek hineinschauen. »Sie wollen ein bißchen joggen, ja?« »Ja«, erwiderte Laura. Es war ihr so peinlich, beim Herumschnüffeln er tappt worden zu sein, dass sie verlegen und fast sprachlos war. »Nun, es ist ein herrlicher Morgen. Viel Spaß beim Laufen.« Janet lä chelte und strebte davon. »Oh, Janet!«, rief Laura ihr nach. Die Frau drehte sich um und wartete. »Wissen Sie zufällig, weshalb ich hier untergebracht bin? In Mr Grays Haus, meine ich?« Janet wirkte gekränkt. »Gibt es irgendein Problem? Wir haben genügend andere Zimmer, falls…« »Nein, nein. Das meine ich nicht.« Janet entspannte sich und legte er leichtert eine Hand flach auf die Brust. »Ich möchte nur wissen, weshalb ich in Mr Grays Haus untergebracht worden bin und nicht in einem Hotel oder etwas dergleichen. Nicht, dass ich gern in ein Hotel ziehen würde«, sagte Laura und hob beide Hände, um einer weiteren Überreaktion zuvor zukommen. »Ich bin einfach nur neugierig, wer das veranlasst hat.« »Also, soweit ich mich erinnere«, sagte Janet, nachdenklich dreinschau end, »habe ich ein E-Mail bekommen. Es informierte mich über Ihre be vorstehende Ankunft und wies mich an, Sie im blauen Zimmer unterzu bringen.« »Aber wer hat das E-Mail abgeschickt?« »Mr Gray, nehme ich doch an. Und Sie sind ganz sicher, dass alles in Ordnung ist?« Laura nickte nachdenklich. Sie dankte Janet, dann trennten sie sich, und Laura machte sich auf den Weg zum Haupteingang. Ihre Schuhe quietsch ten wieder auf dem polierten Fußboden. Gray war überrascht gewesen, als er erfuhr, dass sie in seinem Haus wohnte. Durchaus möglich, dass er die alltäglichen Details seiner Luxus behausung nicht zur Kenntnis nahm, aber er hätte bestimmt nicht völlig 149
vergessen, dass er für eine Woche einen Gast direkt unter seinem Dach hatte. Nein, dachte Laura, es war bestimmt nicht Gray, der das EMail an Janet geschickt hat. Der Computer!, begriff Laura plötzlich. Er hatte die Anordnung getrof fen. Aber weshalb sollte der Computer ihr eine derartige Vorzugsbehand lung zukommen lassen? Laura trat hinaus in die wundervoll frische Morgenluft. Ein fahrerloser Wagen – ein Dreier-Modell-Roboter – wartete geduldig am unteren Ende der Steintreppe. Laura ging hinunter und begann sich auf dem Fußweg direkt vor dem Wagen zu strecken. Die Anwesenheit des Fahrzeugs lenkte Laura vollständig von ihren vorherigen Gedanken ab. Der »Roboter« stand einfach da und bewegte sich nicht. Er wirkte leblos, aber war er das wirklich? In der Nacht hatte sie vor dem Computerzentrum am Straßenrand gewartet, genau wie einer der Bedienungsleute ihr geraten hatte. »Stellen Sie sich direkt an die Bordsteinkante«, hatte er gesagt, »damit er sehen kann, dass Sie einen Wagen haben möchten.« Laura hatte nicht gefragt, wer »er« war, aber nach weniger als einer Minute war ihr Taxi eingetroffen. »Zu Mr Grays Haus« war alles gewesen, was sie gesagt hatte, und dann war die Aufforderung »Bitte anschnallen« erfolgt. Sobald sie ihren Sicherheitsgurt angelegt hatte, war der Roboter durch das schla fende Königreich gebraust, direkt zu der Stelle, an der jetzt dieser Wagen stand. Laura ließ den Blick über den Hof schweifen, um sich zu vergewissern, dass sie allein war, dann näherte sie sich zögernd dem Wagen. Zwischen den Scheinwerfern, Nebelleuchten und Richtungsanzeigern an der Vorder front entdeckte sie die allgegenwärtige schwarze Scheibe – das Auge des Computers. Sie suchte den Wagen im Licht der hellen Morgensonne nach anderen Auffälligkeiten ab, aber von außen sah er ziemlich unscheinbar aus. Vier Türen, eine aerodynamische, aber keineswegs rassige Karosserie, weiß lackiert. Sie blieb neben einer der Vordertüren stehen und schaute hinein. Der Innenraum unterschied sich von dem eines normalen Autos. Alle vier Sitze waren für Fahrgäste bestimmt. Die Tür öffnete sich nicht. Laura schaute nach unten und sah, dass sich ihre Füße direkt an der Bordsteinkante befanden. Sie fragte sich, ob der 150
Wagen vielleicht reserviert wäre – Grays Privatlimousine? Oder vielleicht, dachte sie, sieht der Computer, wie ich angezogen bin und dass ich mich strecke, und vermutet, dass ich joggen will. Sie wollen ein bisschen joggen, ja? hatte Janet drinnen im Haus gefragt – und zwar laut. Laura schüttelte den Gedanken ab. Dem Computer war nicht gestattet, in Privathäusern zu schnüffeln. Sie schaute an den verputzten Mauern empor, die ein U um den weit räumigen, wunderschönen Hof bildeten. Hier musste der Computer sie sehen können. Wie sonst konnte das System funktionieren? Laura be schloss, den Wagen einem kleinen Test zu unterziehen. »Bitte«, sagte sie leise zu der Tür. Nichts passierte. Sie schwenkte die Hände in der Luft und sagte wesentlich lauter: »Bit te!« Es hatte keinerlei Wirkung auf den Wagen. Die Hand ausstreckend klopfte sie leicht an die Türscheibe. Die Tür gab ein zischendes Geräusch von sich, und Laura sprang zurück. Die Tür schwenkte hoch, sodass sie hätte einsteigen können. Laura suchte die Vordertreppe, die Veranden und die Fenster an der Vorderseite des Hauses ab. Niemand hatte ihr Herumspielen mit Grays Roboter beobachtet. Sie lehnte sich in den Wagen und flüsterte: »Das war’s. Hatte nichts zu bedeuten.« Als sie zurücktrat, schwang die Tür wieder zu, und sie war noch perple xer als vorher. »Himmel«, murmelte sie, verblüfft, dass dem Wagen klar gewesen war, weshalb sie ans Fenster geklopft hatte. Und noch verblüffter darüber, dass er auch verstanden hatte, dass sie sein Angebot einer Fahrt ablehnen woll te. Der Wagen stand wieder mit geschlossenen Türen da und sah aus wie jedes beliebige andere moderne Gerät. Nur war diesem Klumpen Metall ein Geist eingehaucht worden, der ihn von gewöhnlichen Maschinen un terschied. Er war durchdrungen nicht von dem Blut, das Tieren Leben verlieh, sondern von einer unsichtbaren und unfassbaren, bedeutend fun damentaleren und universelleren Kraft. Diese Kraft setzte sich zusammen aus Intelligenz, Empfindungsvermögen und Wissen. 151
Laura empfand diese Erfahrung als beunruhigend. Sie wusste, dass die Wurzel ihres Unbehagens in einer primitiven Überzeugung lag – der Ü berzeugung, dass Emotionen mit Fleisch und Blut verknüpft sein mussten. Die Vorstellung einer denkenden Maschine gegenüberzustehen, beunru higte sie, weil ihr nichts mehr Angst einjagte als eine von Emotionen ge trennte Intelligenz. Die Vorstellung eines Straßengangsters mit kalten Augen, der tötete, weil es ihm nichts ausmachte, war schon beängstigend genug. Aber wenn dieses Unwesen dann auch noch mit Intelligenz begabt wäre – das war unvorstellbar grauenhaft. Es war diese Kombination – eine Intelligenz ohne eine Spur von Empfindungsvermögen –, die die dunkels ten Stunden der Menschheit im Gefolge gehabt hatte: Gaskammern und Polizeistaaten und… Laura rief sich zur Ordnung. »Schluss damit«, murmelte sie. Das Be trachten der Wunder von Grays Insel hatte eine gewisse befreiende Wir kung auf sie. Aber es gab eine Grenze, hinter der das alles nur kindische Fantasien schienen. Außerdem, konterte ein Teil ihres Verstandes, um die gesamte Debatte zu beenden, sind Emotionen doch bestimmt nicht auf biologische Organismen beschränkt. Sie fühlte sich plötzlich erschöpft – nicht körperlich, sondern geistig. Tief Luft holend, zog sie die Absätze ihrer Laufschuhe in einer letzten Streckübung noch einmal bis zum Hinterteil ihrer Shorts hoch und begann dann auf dem fast kreisförmigen Fußweg zu laufen. Sie gelangte aus dem Schatten des Hauses in den wunderbar sonnigen Tag, umrundete in gemäßigtem Tempo den Springbrunnen und lief dann die Auffahrt hoch dem Tor entgegen. Natürlich trug sie ihre SommerJoggingsachen – eine kurze schwarze Stretchhose und ein Aerobic-Top –, und die kühle Brise bewirkte, dass sich auf der nackten Haut um ihre Tail le eine Gänsehaut bildete. Sie hatte nicht mit irgendwelchen Bergen ge rechnet, als sie ihre Sachen für den Südpazifik gepackt hatte. Sie hatte mit überhaupt nichts von alledem gerechnet, was ihr bisher hier begegnet war. Es war nicht so, als befände sie sich in einer anderen Welt, dachte Laura. Es war so, als wäre sie in eine andere Zeitepoche eingetreten. Sie hatte am Anfang des 21. Jahrhunderts ein Flugzeug bestiegen und war in einer kleinen Nische des zweiundzwanzigsten Jahrhunderts gelandet. Laura 152
erreichte das Tor und musste sich entscheiden. Die Straße vor dem Haus führte nach links und nach rechts. Ohne anzuhalten bog sie nach links Richtung Dorf ab – in die Richtung, die ihr bereits vertraut war. Der Fußweg, der parallel zur Straße verlief, war ideal zum Laufen – der Beton war neu, breit und eben. Sie schaute auf. Der Eingang des Tunnels lag vor ihr, schwarz im hellen Sonnenlicht. Sie wusste, dass der Tunnel beleuchtet war und dass sich ein Fußweg mit einem Geländer hindurchzog. Doch als sie den düsteren Ein gang erreicht hatte, machte sie kehrt und lief in der Richtung, aus der sie gekommen war, wieder bergauf. Schließlich, so sagte sie sich, hatte sie ohnehin nicht vorgehabt, den gan zen Berg hinunterzulaufen. Grays Haus kam jenseits der Mauer aus grob behauenen Steinen, die den Weg säumten, allmählich wieder in Sicht. Das Haus war so schön, dass Laura unwillkürlich lächelte. Oberhalb des goldfarbenen Putzes schimmer te ein dunkelgraues Dach aus gewölbten Schieferplatten. Beiderseits des Haupteingangs gewährten Terrassentüren Zutritt zu Veranden. Auf einer von ihnen war ein Bediensteter gerade dabei, bunte Kissen auf schwarzen schmiedeeisernen Stühlen zu verteilen. Ein anderer deckte einen langen Tisch, und ein dritter kam mit einem großen Blumenarrangement aus dem Haus. Grüne Holzläden rahmten die Fenster im Obergeschoss; in den darüber angebrachten Kästen blühten bunte Blumen. Sie passierte das Haus und lief, vom Tunnel fort, bergauf. Als sie ein paar Minuten später die Hügelkuppe erreicht hatte, sah sie, dass die Straße vor ihr sich sanft durch die Bäume absenkte und dann nach rechts dort verschwand, wo die Außenwand des Kraters begann. Ein Schild neben der Straße warnte: ZUTRITT FÜR UNBEFUGTE STRENG VERBOTEN. Laura verdrehte angesichts von Grays Sicherheits-Besessenheit belustigt die Augen. Ihre Beine bewältigten mühelos den unter ihren Laufschuhen abfallenden Weg. Sie wurde schneller und sprintete an dem gelben Schild mit seiner dicken schwarzen Schrift vorbei. An der Landschaft, die diesen Straßenabschnitt säumte, war nichts Ge zähmtes. Der Boden war mit brusthohem Gestrüpp bedeckt, und ineinan der verwobene Äste, die in der Brise sanft schwankten, bildeten einen 153
dichten Dschungel. Lauras Muskeln wurden warm, und diese wohltuende Wärme breitete sich langsam in ihrem ganzen Körper aus. Sie blickte hoch zu dem Licht, das im Blätterdach des Bäume tanzte. Sie war kein sonder lich religiöser Mensch, aber in Augenblicken wie diesem konnte Laura verstehen, weshalb andere die Gegenwart Gottes spürten. Das Licht drang in kurzen Blitzen durch die Blätter und bildete ein so komplexes Muster, dass es sich jeder Beschreibung entzog. War es eine Komplexität, die der des Schatzes entsprach, den Gray tief unter der Erde vergraben hatte? Zwei Schulter an Schulter gehende Männer bogen in die weit voraus lie gende Kurve. Laura blieb unvermittelt stehen. Beide Männer trugen be drohlich aussehende schwarze Gewehre und Tarnanzüge, Stiefel und Schlapphüte. Hinter ihnen befand sich ein Schlagbaum, der die Straße sperrte. Eine kleine Hütte daneben war mit abwechselnd orangefarbenen und weißen Diagonalstreifen bemalt. Laura machte kehrt und begann, wieder bergauf zu laufen. »Hey!«, rief einer der Männer. Sie schaute über die Schulter und sah, wie sie hinter ihr herliefen. Laura machte einen Satz, dann sprintete sie so schnell, wie ihre Füße sie tragen wollten. »Madam!«, hörte sie einen der Wächter rufen, aber ihre federleichten Laufschuhe rasten ohne anzuhalten über den glatten weißen Beton. Fast eine Minute nach ihrem Bergauf-Sprint schaute sie auf die hinter ihr liegende Straße zurück. Die Männer hatten ihre Verfolgung eingestellt, und sie verlangsamte ihr Tempo. Lauras Lungen brannten von der kühlen Luft und ihre Beine schmerzten. Sie biss die Zähne zusammen, bis es gleichfalls weh tat. Als Laura wieder bei Grays Haus angekommen war, hatte sich die momentane Angst, die sie auf dem Weg empfunden hatte, in ausgewachsenen Zorn verwandelt. All die Dinge, die sie über Gray wuss te, sprangen aus dem Kasten hervor, in dem sie sie in ihrer Eile, den Job zu akzeptieren, hineingestopft hatte. Weshalb patrouillierten Männer mit Gewehren auf der Insel? Weshalb gab es Sperrgebiete und NetzhautIdentifizierer und schwarze Linsen, die Leuten wie der armen Dorothy Angst vor einer »Gedankenpolizei« einjagten? Laura wusste, dass sie überstürzt gehandelt hatte. Sie hatte sich auf eine 154
Gelegenheit eingelassen, die ihr in einem verletzlichen Moment ihres Lebens geboten worden war. Sie hatte in einem Augenblick der Schwäche einen Fehler gemacht. Es war ihr Rettungsboot auf dem sinkenden Schiff beruflichen Versagens gewesen. Aber der Schaden, den sie mit ihrem Fehler angerichtet hatte, war irrepa rabel. Die FBI-Karte fiel ihr ein, als sie, zwei Stufen auf einmal nehmend, die Vordertreppe hinaufstürmte. Im Haus war niemand zu sehen. Laura schaute ins Esszimmer, in ein Wohnzimmer auf der anderen Seite der Halle, in einen mit schönem, dunklem Holz getäfelten Arbeitszimmer. Sie ging zwischen den beiden Treppenaufgängen hindurch in den hinteren Trakt des Hauses. Eine weite re Treppe führte in ein tieferes Geschoss -helles Licht fiel auf einen Ab satz, der ein Stockwerk unterhalb der auf das Dorf hinausgehenden Glas wand lag. Laura tappte die Treppe hinunter. An ihrem unteren Ende öffnete sich ein mit keinerlei Kunstwerken ge schmückter Korridor. Er führte von dem Fenster fort, tiefer in den Berg hinein. Sie hörte Musik – einen harten, rhythmischen Beat, die Art von Musik, die ihre Studenten liebten und die in der Clubszene von Boston sehr populär war. »Hallo!«, rief sie. Es kam keine Antwort, also strebte sie der Quelle der Musik zu. Hinter einer Biegung des Korridors nach rechts, gelangte Laura an ein langes Fenster, von dem aus man in einen großen Innenraum hin einschauen konnte. Die Musik war hier viel lauter -schrille Gitarren und dröhnendes Schlagzeug, untermischt mit einem Text, der mehr geschrien als gesungen wurde. Laura trat an das Fenster und sah Gray. Zumindest vermutete sie nur, dass er es war. Sie schaute hinunter in ei nen zwei Stockwerke tiefer liegenden fensterlosen Trainingsraum. Er war angefüllt mit chromfunkelnden Fitnessgeräten, einem altmodischen Pun chingball und einem kleinen Basketball-Feld. Eine ganze Wand bestand aus einer zerklüfteten Steinklippe, übersät mit Löchern und Griffen zum Klettern. Eine kleine, offene Tür führte zu einem Squash-Platz. Und Gray war da, der auf einem ungewöhnlich breiten Laufband sprinte te. Schweiß rann über seinen nackten Oberkörper. Er trug eine Vorrich 155
tung, die seinen gesamten Kopf bedeckte. Sein Gesicht war hinter etwas verborgen, das aussah wie eine schwarze Gasmaske. Eine dicke, flexible Röhre ragte aus der Maske heraus und führte zu einem kleinen Tank, der an seinem Gürtel hing. An der Stelle, wo normalerweise Augenöffnungen saßen, befand sich eine halbkreisförmige schwarze Box, die sich von einer Seite der Maske bis zur anderen erstreckte. Ein Kopfhörer bedeckte seine Ohren, und Laura fragte sich, weshalb die Musik aus riesigen, gleichmäßig über die Wände verteilten Lautsprechern dröhnte. Während Gray lief, schwangen seine Hände durch die Luft, und sie sah, dass er Handschuhe mit Röhren auf den Oberseiten sämtlicher Finger trug, die zu dicken, wulstartigen Bändern um seine Handgelenke führten. Quer über seine Brust verlief ein schwarzer Riemen – ein Herzschlag-Monitor. Nirgends waren irgendwelche Kabel zu sehen. Laura vermutete, dass die kleine Plastikbirne oben auf der Maske einen Infrarot-Sender enthielt, ähnlich dem in kabellosen Stereo-Kopfhörern. Gray sprang aus keinem erkennbaren Grund in die Luft und wich dann auf dem viereinhalb Meter breiten Laufband zuerst in der einen, dann in der anderen Richtung aus. Er streckte eine behandschuhte Hand seitwärts aus und hob ein Knie bis in Taillenhöhe an, bevor er wieder hochsprang. Gleich darauf klatschte er in die Hände und streckte dann steifarmig den anderen Handschuh vor. Plötzlich kamen sowohl Gray als auch das Lauf band zum Stillstand. Er beugte sich vornüber, um wieder zu Atem zu kommen. Sein Kiefer mahlte, seine Brust wogte. Er sagte etwas, rief et was, lachte – all das unter seiner Maske. Seine Brust, seine Schultern und seine Taille waren mager. Deutlich konnte man seine Armmuskeln erkennen. Die Geräte in dem Raum unter halb von Laura waren offensichtlich kein vernachlässigtes Spielzeug wie das Rudergerät, das sie zuhause in ihrem Schlafzimmerschrank aufbe wahrte. Gray stand jetzt genau in der Mitte der Laufbandes, mit den Hän den auf den muskulösen Oberschenkeln. Er rannte in einem Sprint nach rechts los, und das Laufband lief schneller und passte sich seinem Ausfall an. In die Hände klatschend wechselte er das Feld, sprang wieder in die Luft und fiel nach links und dann nach rechts aus. Er warf die Hüften zur Seite, streckte einen Arm aus und senkte eine Schulter. 156
Er spielt Football!, dachte Laura verblüfft. Nach einem länger anhaltenden schnellen Manöver, bei dem Gray einen Seiltanz auf einer imaginären Seitenlinie zu vollführen schien, reckte er triumphierend die Arme hoch. Auf einen Tanz vor der Torlinie folgte der Wurf eines unsichtbaren Balls. Laura lachte und lehnte sich mit dem Rücken an die Wand neben dem Fenster. Janet führte Laura zu der Versammlung von Dienstboten, die unmittelbar hinter den offenen Terrassentüren warteten. Einer von ihnen hielt die Ga zevorhänge zurück, die mit der kühlen Brise ins Haus flatterten. Laura sah, dass sich die Abteilungsleiter draußen auf der Terrasse zum Frühstück versammelt hatten und fürchtete, dass es ihr dort entschieden zu kalt sein würde. Obwohl sie sich für das eiskalte Computerzentrum angezogen hatte – Blue Jeans, drei Paar Socken und ein über einem T-Shirt um ihren Hals geschlungener Pullover –, waren ihre Haare noch feucht vom Duschen. Und da sie sie zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden hatte, würde es auch eine ganze Weile dauern, bis sie getrocknet waren. Sie passierte Janets Stab aus weißbejackten Bühnenarbeitern und ging hinaus in etwas, das ihr vorkam wie eine Filmkulisse. Hoblenz hatte gera de seinen Auftritt und ergötzte die Gruppe mit einer Story. Laura setzte sich auf den einzigen am Tisch noch freien Platz. Es war der Stuhl am anderen Ende der Terrasse, direkt neben dem von Gray. Dort spürte sie, wie die sanfte Wärme einer unsichtbaren Raumheizung die Beine ihrer Blue Jeans unter der Tischdecke umwehte. »Dieser neue VR-Helm ist einfach unglaublich«, sagte Hoblenz mit an geregter Stimme. »Alles war kristallklar. Der Ring, die Zuschauer, die Assistenten, während der Trainer Anweisungen brüllte. Ich habe meinen Helm auf die Perspektive des Herausforderers eingestellt, und als der Champion zu diesem Schwinger ausholte, wurde sein Handschuh immer größer, bis er den ganzen Bildschirm des Helms ausfüllte – und peng!« Seine Faust klatschte in die Fläche der anderen Hand, synchron mit dem Bericht, der nur ihn selbst zu erregen schien. »Genau auf den Mund! Der Mundschutz des Burschen flog heraus und die Luft explodierte förmlich! 157
Das nächste, was du weißt, ist, dass du zu den Lichtern hochschaust. Einer der Jungs hat vor Aufregung sein verdammtes Bier auf meine neue Couch geschüttet!« »Wie war der Verkauf?«, fragte der Direktor für RaumfahrtOperationen. Hoblenz stieß einen lauten Seufzer aus. »Könnt ihr Leute denn nicht ein fach etwas Schönes genießen? Schließlich rede ich von einem menschli chen Drama! Der Kerl lag auf der Matte, und sein Kopf rollte hin und her. Als er in der falschen Ecke nach Hilfe Ausschau hielt, wusste er, dass er erledigt war. Es war genau so, als wäre man selbst dort gewesen!« Die Reaktion bestand nur aus Schweigen. Niemand kaufte Hoblenz seine Geschichte ab. »Achtundvierzig Millionen Bestellungen weltweit«, beantwortete Dr. Griffith die fast schon vergessene Frage mit einem etwas schiefen Lä cheln. »Bei einem Bestellpreis von hundert Dollar macht das vier Komma acht Milliarden.« Laura warf fassungslos den Kopf zurück. »Dollar?«, platzte sie heraus. »Ihr habt vier Komma acht Milliarden Dollar eingenommen? Durch das Ausstrahlen eines Boxkampfes?« »Nun, das ist natürlich brutto«, sagte Griffith. »Wir hatten Unkosten.« Es war ein Scherz, der bei den Abteilungsleitern, denen Gray »ein Scheibchen vom Gewinn« zukommen ließ, fröhliches Gelächter auslöste. Laura wölbte die Brauen und sagte kaum hörbar: »Ich sollte eine Ge haltserhöhung verlangen.« Völlig unerwartet brach der ganze Tisch in Gelächter aus, was dazu führ te, dass Laura das Blut in die Wangen schoss. Endlich hatte sie eine Saite angeschlagen, die den anderen Mitgliedern des Teams vertraut war – ihr Interesse an den unvorstellbaren Summen, die Gray einstrich. »Haben Sie Ihren Lauf genossen?«, fragte Gray lächelnd. Sie hatte nicht vorgehabt, das Thema vor dem Ende der Sitzung anzu sprechen, aber er hatte gefragt, und alle warteten auf ihre Antwort. »Weshalb sind bewaffnete Männer auf der Straße dort drüben postiert?« Laura drehte sich auf ihrem Stuhl und deutete auf den Hügelkamm rechts vom Haupttor. 158
»Das sind meine Leute«, antwortete Hoblenz. »Dr. Aldridge«, erwiderte Gray, »es sollte Ihnen doch klar sein, wie wichtig Sicherheit für uns ist. Nach gestern Abend verstehen Sie sicher, welchen Wert die Betriebsgeheimnisse haben, über die ich verfüge.« »Aber – eine Privatarmee?« »Meinem Pachtvertrag mit Fidschi zufolge bin ich Generalgouverneur dieser Insel.« Laura verdrehte angesichts dieser lahmen Rechtfertigung die Augen. Grays Gesicht war ausdruckslos, aber seine Stimme klang gepresst. »Sie haben keine Ahnung, womit ich es zu tun habe«, sagte er, und alle am Tisch schauten auf. Es war nicht seine Lautstärke, die ihre Aufmerksam keit erregt hatte. Es war die Art, in der er die Worte aussprach. Wenn sie höhnisch geklungen hätten, dann hätte man sie als verächtlich empfinden können, vielleicht als wegwerfende Bemerkung eines selbsternannten Visionärs. Aber für Laura hörten sie sich an wie eine Bitte um Verständ nis. Ein Moment der Offenheit, in dem er sich darüber beklagte, wie schlecht die Gesellschaft ihn behandelte. So zumindest fasste Laura es auf, aber was war mit den anderen? Auch sie hatten in Grays Worten etwas Zwingendes gehört und musterten ihn jetzt aufmerksam. »Dies ist kein Territorium der Vereinigten Staaten – und ungeachtet der Tatsache, dass ich US-Bürger bin, US-Einkommensteuer zahle und nie gegen das Gesetz verstoßen habe, kann ich im Grunde aus Washington mit keinerlei Unterstützung rechnen.« Gray schaute auf seinen leeren Teller – hilflos, niedergedrückt vom Gewicht seines einsamen Kampfes. Das zu mindest war es, was Laura zu erkennen vermeinte. »Dr. Aldridge«, fuhr er leise fort, »es ist ungeheuer schwierig, eine Idee zu kontrollieren.« Laura runzelte die Stirn und konzentrierte sich auf Gray und das, was er gesagt hatte. In der letzten Nacht hatte der Computer auf ähnlich seltsame Art von Gedanken und Ideen und Wissen gesprochen. »Aber, Mr Gray«, antwortete sie, »damit wollen Sie doch wohl nicht sa gen, dass Sie vorhaben, die Ideen aller Leute zu kontrollieren.« Angesichts der raschen Blicke, die rund um den Tisch herum ausgetauscht wurden, fragte sich Laura, ob sie etwas Falsches geäußert hatte. »Ich meine, im 159
Grunde geht es doch darum, Wissen mit anderen zu teilen. Es so weit und frei wie möglich zu verbreiten, damit einer auf den Leistungen des anderen aufbauen kann. Nur durch diese Art von Zusammenarbeit sind wir imstan de gewesen, uns weiterzuentwickeln zu einer… einer Zivilisation.« Laura hatte lediglich ausgesprochen, was für sie auf der Hand lag – ein unumstrittenes Dogma, an das sich ihre akademische Laufbahn stets fest geklammert hatte. Aber am Tisch herrschte Totenstille, und alle Augen waren auf Gray gerichtet – wartend. Als Laura sich wieder zu ihm umdrehte, sah sie, dass er sie mit funkeln den Augen anstarrte. Selbst wenn er kein Wort gesprochen hätte, wäre Laura trotzdem seine Miene, seine Augen und die körperliche Wirkung, die alles zusammen auf sie hatte, in Erinnerung geblieben. Aber er antwor tete, und Laura hatte Mühe, dem zu folgen, was er sagte. »Auf dieser Insel herrscht ein Gesetz, das alle anderen überragt. Das geistige Eigentum – das Wissen –, das Ihnen im Rahmen Ihrer Arbeit hier zuteil wird, bleibt in ihrem Gehirn verschlossen. Sie werden keine Artikel schreiben. Sie werden mit niemandem darüber reden, nicht einmal mit den Leuten hier an diesem Tisch. Sie werden das Wissen, mit dem Sie kon frontiert sind, mit äußerster Sorgfalt behandeln«, sagte er langsam, »aus Respekt vor der Macht, die es repräsentiert. Aus Respekt vor den Gefah ren, die es für jedes menschliche Wesen auf der Erde mit sich bringt.« Am lisch herrschte absolute Stille, viele hatten die Köpfe gesenkt. »Al so«, schloss Gray, »akzeptieren Sie diese Bedingungen?« Laura runzelte die Stirn. Sie konnte nicht verstehen, weshalb Gray hin sichtlich ihrer Bemerkung so viel Aufhebens machte, versuchte aber, sich ihre verletzten Gefühle nicht anmerken zu lassen und sagte: »Geht in Ord nung.« In diesem Moment erschienen Grays Diener mit dem Frühstück. Die Un terbrechung schien von allen Anwesenden als eine willkommene Ablen kung empfunden zu werden, mit der diese seltsame Episode zum Ab schluss gebracht werden konnte. Aber Laura hatte das Gefühl, dass die Bedienung in einem äußerst schlecht gewählten Moment kam – mitten in Grays bedeutungsvollem Vortrag. Laura schaute zu den offenen Terras sentüren hinüber und erhaschte Janets Blick. Die Haushaltsvorsteherin 160
bedachte Laura mit einem raschen Lächeln, dann glitt sie lautlos zurück ins Haus, um ihrem Personal weitere Anweisungen zu erteilen. »Okay«, sagte Gray, »machen wir weiter. Irgendwelche Resultate aus Phase Zwei?«, fragte er, als ob nichts geschehen wäre; als wäre nichts Wichtiges gesagt worden. Aber Laura wusste, dass etwas Wichtiges zum Ausdruck gekommen war. Sie verstand nur noch nicht, was es bedeutete. Filatov und Holliday schauten sich schweigend an, aber keiner wagte, die Frage zu beantworten. Alle warteten. »Nun?«, drängte Gray; irgendwie gereizter als zuvor, dachte Laura. Filatov ergriff zögernd das Wort: »Es ist uns nicht gelungen, Phase Zwei zu laden. Wir haben immer noch nicht die erforderlichen Ressourcen.« »Ich dachte, wir hätten bereits mit dem Freimachen begonnen«, sagte Gray. »Das letzte Mal, als wir miteinander sprachen, waren Sie bei sechs einhalb Prozent angekommen.« Filatov zuckte die Schultern. »Sobald wir acht hatten und defragmentier ten, fingen wir an, wieder zu verlieren.« »Was meinen Sie mit ›verlieren‹?« »Ich meine, wir haben freie Kapazitäten verloren. Die Datenübertra gungsrate schnellte in die Höhe, bevor wir Phase Zwei laden konnten, und der freie Speicherplatz im Anbau ist dabei einfach – verschwunden.« Grays Miene verriet nichts. Sein Zögern, bevor er darauf reagierte, machte Laura argwöhnisch. Er wendete den eindringlichen Blick von Filatov ab und richtete ihn auf Dorothy. Sie zog die Brauen hoch, als woll te sie ihn fragen, weshalb er sie anschaute. Als das nicht auszureichen schien, zuckte sie mit einer übertriebenen Geste mit den Schultern. Grays Blick fiel geistesabwesend auf seinen Teller. Nach einem Moment wurde ihm bewusst, was er anschaute, und er spießte mit seiner Gabel ein Würstchen auf. Für einen kurzen, unerklärlichen Moment erstarrte er; dann war der Augenblick vorüber. Er schob sich den Bissen in den Mund und fragte, während er kaute, beiläufig: »Wissen Sie, was diese Kapazität in Anspruch genommen hat?« Wieder starrte er auf seinen Teller, aber Laura konnte sehen, dass er auf die Antwort wartete. »Das wissen wir nicht«, erwiderte Filatov, offensichtlich besorgt. »Und, 161
Mr Gray, es ist uns nicht gelungen, die notwendigen Operationen wieder aufzunehmen.« Laura hatte das Gefühl, dass diese Neuigkeit von Filatov und den ande ren als Beinahe-Katastrophe empfunden wurde. Sie vermutete, dass das Unkosten bedeutete – ein Stück ihres Gewinn-Kuchens wurde kleiner –, aber Gray nickte nur und aß weiter. Plötzlich schien er sich viel mehr für sein Essen zu interessieren. Er weiß etwas, dachte Laura. Er weiß, weshalb Phase Zwei nicht geladen werden kann, und er verheimlicht es ihnen. Gray schaute zu Laura auf und wendete den Blick dann rasch wieder ab – schuldig im Sinne der Anklage. »Vielleicht hat der Computer in seiner Programmierung neue Prioritäten gesetzt«, meldete sich Margaret zu Wort. »Vielleicht hat, als wir diese Kapazität freimachten, irgendein Untersystem den Code reprogrammiert. Er könnte sich für größere Schnelligkeit, Sparen elektrischen Stroms oder dergleichen anstelle von Kapazitätsausnutzung entschieden haben.« Filatov reagierte mit einem höhnischen Schnauben auf Margarets Theo rie. »Hat jemand den Computer gefragt, was passiert ist?«, erkundigte sich Gray. »Er sagt, er wisse nicht, was vorgehe«, antwortete Filatov, schüttelte den Kopf und ließ den Blick ungläubig über die Gesichter rund um den Tisch schweifen. »Wir sind binnen weniger Sekunden von acht Prozent freier Kapazität auf zwei Prozent abgesackt, und der Computer behauptet, er wisse nicht, was sie beansprucht hat!« Er lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und rang nervös die Hände. »Er ist krank, Mr Gray. Irgendetwas stimmt nicht.« Die Resignation, die in Filatovs Stimme zum Ausdruck kam, schien der Stimmung der gesamten Gruppe zu entsprechen. »Wie sieht der neueste Fehlerbericht aus?«, fragte Gray. Sein gelassener Ton bildete einen starken Kontrast zu der wesentlich düstereren Stimmung der anderen. Dorothy griff nach ihrem Minicomputer, doch dann zögerte sie und legte ihn ungeöffnet wieder auf den Tisch. »Sie sind wie« – sie imitierte das Geräusch einer Explosion und streckte die geballten Fäuste aus – »eine 162
Rakete in die Höhe geschossen.« Dann wandte sie sich an Griffith. »Da ist das Montagegebäude«, sagte sie, bei dem schwachen Hintergrundgeklap per von Besteck auf Porzellan kaum hörbar. »So ernst, wie Sie klingen, ist es nun auch wieder nicht«, unterbrach Griffith vehement. »Er hat die Linie überquert!«, platzte Dorothy heraus und wendete sich Gray zu. »Der Computer hat eine spezielle Sicherheitszone eingerichtet.« Köpfe hoben sich in plötzlicher Bestürzung. Nur Gray schien gelassenen. »Holen wir ihn auf den Monitor!«, sagte er mit erhobener Stimme. Janet verschwand von ihrem Posten neben der Terrassentür im Innern des Hau ses, und ein paar Augenblicke später rollten zwei Bedienstete einen großen Monitor mit flachem Bildschirm auf die Terrasse. Voilà, dachte Laura verblüfft, Milliardäre brauchen nur die Stimme zu erheben und schon erscheinen irgendwelche Dinge. Auf dem Bildschirm tauchten farbige Teststreifen auf. Griffith verlangte mit einer Handbewegung von einem der Diener die Fernbedienung. Er neigte den Kopf, um die Labels zu lesen, dann begann er, mehrmals auf einen Knopf zu drücken. Mit jedem Fingerdruck erschien eine andere Szene aus Grays Reich auf dem Bildschirm. Niemand achtete auf die Pa rade der Bilder außer Laura, die mit ihrer Gabel auf halbem Weg zum Mund vor Staunen erstarrt dasaß: Labortechniker mit Schutzbrillen, die in Bechern eine braune Flüssigkeit anmischten. Riesige Metallkugeln im Dschungel, aus denen Dampf ent wich. Strahlen aus blauem Licht, die aus allen Winkeln auf eine Kugel aus Edelstahl zielten. Große, von hellem Licht angestrahlte Gebilde in einem tiefen Innenbecken. Eine von Bordkanten begrenzte Straße, die nur Zenti meter unterhalb der Kamera vorbeiglitt. Ein kreisender Satellit, startbereit auf einer Frachtrampe. Jedes Bild war mit einer Nummer in der rechten unteren Ecke gekennzeichnet, und als Griffith den Knopf niedergedrückt hielt, wuchsen die Nummern schnell auf vierstellige Zahlen an. Die Bilder rauschten in einem Tempo vorüber, das es unmöglich machte, sie einzeln wahrzunehmen. Aber bei Laura hinterließen sie einen starken unterschwel ligen Eindruck. 163
Gray veränderte alles. Nichts, was die Welt gekannt hatte, würde je wie der dasselbe sein. »Da haben wir’s«, sagte Griffith, nachdem er durch die Nummern zu rückgegangen war zu einer, die er übersehen hatte, Nummer 9012. Neun tausend schwarze Augäpfel, durch die der Computer in die Welt hinaus schaute. Die anderen reckten die Hälse und schauten interessiert auf den Bildschirm. Auf dem Monitor erschien ein Bild des Haupt-Arbeitsbereichs in der Montagehalle. Im Hintergrund rollte das riesige Fließband so ungerührt vorüber wie die Gezeiten. Ein gewöhnlicher Industrieroboter hatte sich vom Fließband abgewendet. Sein hydraulischer Arm war erhoben. Der Greifer an dessen Ende zitterte auf eine unkontrollierte, aber allem An schein nach harmlose Art. Der Roboter war von einer Reihe von Kegeln umgeben, die durch ein gelbes Band miteinander verbunden waren. Das Bild erinnerte Laura an den Ort eines Verbrechens. »Sehen Sie?«, sagte Griffith. »Er hat Probleme mit dem zweiten Geschwindigkeits-Derivat.« Die Köpfe der anderen nickten langsam. »Womit?«, fragte Laura und verzog das Gesicht angesichts des lächer lich obskuren Vokabulars. Griffith deutete auf den Bildschirm. »Er kann die Veränderungsrate der Geschwindigkeitsmodulation des Greifers nicht kontrollieren.« Laura sah ihn verständnislos an. »Er ist sprunghaft«, versuchte Griffith zu verdeutli chen. »Danke«, sagte Laura. »Was ist passiert?«, fragte Gray gelassen. Griffith wendete sich ihm zu. »Ein Trainee ist verletzt worden. Nur eine kleine Beule am Arm. Er kam ins Büro gestürmt und brüllte etwas über diesen Roboter. Er sagte, er benähme sich unkontrolliert, schwenke seinen Arm vor und zurück, verhielte sich ›wie ein Betrunkener‹. Er hat behaup tet, er hätte den Arm über die Linie ausgestreckt und ihn niedergeschla gen.« Laura befrachtete den zuckenden Arm des Roboters, dessen Greifer un ter kaum mehr als einem nervösen Tick zu leiden schien. Seine Roboter 164
Nachbarn arbeiteten unbeirrt weiter, nicht aber dieser exzentrische Arm inmitten des Kordons aus Kegeln – der »speziellen Sicherheitszone«. Sein Prozess fand während des Frühstücks statt, und er erwartete geduldig seine Bestrafung. »Hat er außer dem Zucken irgendein anderes ungewöhnliches Verhalten gezeigt, seit wir ihn deaktiviert haben?«, fragte Gray. »Nein«, erwiderte Griffith. »Ich denke, es ist an der Zeit, dass wir seine Schaltungen regulieren und dann mit der Neueinstellung beginnen. Wenn keine weiteren Probleme auftreten, kann er am Abend seine Arbeit wieder aufnehmen.« Er beugte sich vor und sah seine Kollegen an, bevor er fort fuhr. »Dieser Trainee ist wahrscheinlich in den Arbeitsbereich eingedrun gen. Ich wette, er hat sich die Geschichte nur ausgedacht, als Deckmantel. Der Kerl ist seit weniger als einer Woche hier. Ich habe Hoblenz gebeten, ihn zu überprüfen. Möglicherweise wollte er herumschnüffeln oder etwas dergleichen.« »In seiner Wohnung haben wir nichts Verdächtiges gefunden«, berichte te Hoblenz. »Sie haben seine Wohnung durchsucht?«, fuhr ihn Gray mit überra schender Wut an. Hoblenz reckte den Kopf hoch und versteifte Schultern und Rücken. Es sah aus wie die Instinktreaktion eines Soldaten auf Tadel. »Ich habe Sie nicht dazu ermächtigt, in irgendjemandes Wohnung einzu dringen«, sagte Gray streng und starrte Hoblenz an. Hoblenz hielt Grays Blick stand, aber nicht lange. Er ließ den Kopf sin ken und schaufelte eine Gabel voll Rührei in den Mund. »Tut mir Leid«, murmelte er. Wie die anderen Naturgewalten, dachte Laura, unterwarf sich auch Hoblenz Grays Willen – widerstrebend allerdings. »Wie schwer ist er verletzt worden?«, fragte Gray, sich wieder Griffith zuwendend. Sein Robotikchef runzelte verächtlich die Stirn und schüttelte den Kopf. »Sein Ärmel wurde zerrissen. Eine kleine Beule und ein Kratzer, das ist alles.« »Es hätte nicht passieren dürfen«, sagte Gray. »Selbst wenn der junge Mann die Linie überschritten haben sollte, hätte niemand verletzt werden 165
dürfen.« Darauf fand Griffith keine Antwort. »Hat der Computer gemel det, dass er irgendjemand jenseits der gelben Linie gesehen hat?« Griffith schüttelte niedergeschlagen den Kopf. »Hat der Computer den Zwischen fall registriert?« Abermals schüttelte Griffith langsam den Kopf. »Also gut«, sagte Gray. »Ich werde eine spezielle Sicherheitszone einrichten.« »Aber das hat der Computer doch schon getan!«, entgegnete Griffith, sich halb dem Bildschirm zuwendend. »Dieser Roboter hat eine maximale Reichweite von ein paar Dutzend Quadratmetern. Er ist physisch nicht imstande, über diesen Kordon hinauszulangen.« Laura betrachtete das Absperrband, das den Roboter umgab. Es erstreck te sich über die breite gelbe Linie, die die Grenze zwischen »ihrer« Welt und »unserer« markierte und eine kleine Nische in die Domäne des Men schen schnitt. Ein winziger Eingriff in das dem Menschen zugewiesene Territorium, der Laura ziemlich unerheblich vorkam und Griffith offen sichtlich auch. Gray dagegen fand die Nachricht über den Zwischenfall so besorgniser regend, dass er sich die Aufmerksamkeit der Gruppe erzwang. Das Band kräuselte sich, wo es zwischen den Kegeln ausgespannt war, aber Laura konnte trotzdem die Worte entziffern, die mehrfach in schwarzen Lettern aufgedruckt waren: GEFAHR – SPEZIELLE SICHERHEITS-ZONE. »Ich will, dass die Zone auf den gesamten Arbeitsbereich ausgedehnt wird«, sagte Gray. »Ich will, dass sämtliches Personal aus der Montage halle abgezogen wird.« Jetzt sahen ihn alle an. »Wir werden die Operatio nen vollautomatisch fortsetzen.« »Bloß wegen diesem einen Roboter?«, protestierte Griffith. »Halten Sie ihn für einen Aussteiger?« Gray öffnete den Mund, um etwas zu sagen – was genügte, um Griffith zum Nachgeben zu veranlassen. »Na schön!« Er warf kapitulierend die Arme hoch. »Wie Sie wünschen!« »Danke, Phil«, sagte Gray höflich, bevor er sich wieder dem Tisch zu wandte und zum nächsten Thema überging. »Was gibt es sonst noch?« Das war’s also, dachte Laura. Gray erteilt den Befehl, die HauptProduktionsstätte der Insel zu räumen, und stößt dabei auf nichts als die leichte Verärgerung eines einzigen Mannes? »Die Türen«, sagte Dorothy, von deren Computer jetzt piepende Geräu 166
sche kamen. »Sie machen die Leute wirklich total verrückt. Es hat« – sie tippte mehrere Male auf ihren Bildschirm – »siebenundvierzig Meldungen gegeben – allein acht von einem Mann.« »Wann sind die meisten Fehler aufgetreten?«, fragte Gray. »Genau.« Nach mehrfachem Tippen auf den kleinen Bildschirm drückte Dorothy die Spitze ihres Pens an die Unterlippe. »Das eigentliche Hochschnellen be gann vor einer Stunde und sieben Minuten.« Mehrere Leute am Tisch sahen auf die Uhr, und Filatov und Bickham tauschten einen langen Blick. »Und wann ist es zu dem Hochschnellen der System-Aktivität gekommen – genau?«, fragte Gray, an Filatov gewandt. Er stieß einen tiefen Seufzer aus. »Ungefähr um dieselbe Zeit. Kurz da nach, um genau zu sein.« »Einen Moment«, sagte Griffith. »Wollen Sie damit sagen, dass die System-Aktivität hochschnellte, nachdem die Fehlerrate angestiegen war, nicht vorher?« Filatov zuckte mit den Schultern und nickte. »Das ist merkwürdig«, sagte Griffith, sich das Kinn reibend. »Wenn es ein VirusAusbruch gewesen wäre, dann hätte es umgekehrt sein müssen. Dieser Ablauf aber wirft ein schweres Ursache-und-Wirkung-Problem auf.« Gray legte seine zusammengefaltete Serviette auf den Tisch. »Wie auch immer – wir haben viel Arbeit vor uns.« Sein Dream-Team begann, die Stühle zurückzuschieben. Laura hielt den Exodus mit einer Frage auf. »Ist der Mann, der acht TürFehlfunktionen gemeldet hat, derselbe, der in der Turnhalle einen Streit mit seiner Frau hatte?« Nach kurzem Zögern sah Dorothy zuerst Laura an, dann Gray und aber mals Laura. »Ja, in der Tat«, erwiderte sie verblüfft. »Woher wussten Sie das?« Jetzt musterte Gray Laura. »War nur so eine Vermutung«, erwiderte Laura und ließ es so klingen, als wäre es keine Vermutung, obwohl es eine war. Kurz darauf standen alle auf. »Dr. Aldridge«, sagte Gray und schaute rundum, »hat Ihre Analyse ges tern Abend irgendetwas Interessantes ergeben?« Das »Team« sank lang sam auf seine Stühle zurück. 167
»Nun, ich habe nur ein paar grundlegende Fragen gestellt. Ich habe die Ansichten des Computers über die Grenzen seines ›Selbst‹ erkundet. Er betrachtet die Roboter nicht als Teil dieses Selbst, sondern als eigenstän dige Einheiten, von denen er Berichte erhält.« Köpfe drehten sich. Auf den Gesichtern ihrer Kollegen erschien ein Lä cheln. »Sonst noch etwas?«, fragte Gray. Laura ignorierte die anderen. »Er bedient sich eines WachtpostenSystems und revidiert sein Weltmodell nur dann, wenn er eine Verände rung sieht, die ihm wichtig scheint. Und er arbeitet mit räumlichen Begrif fen. Wenn der Computer etwas ›sieht‹ und ›hört‹, dann hat er den Ein druck, dass das außerhalb seines Systems vorgehe, nicht in ihm. Er hat ein dreidimensionales Modell von der Welt und einen ausgeprägten Sinn für seinen Platz in ihr.« »Äh… Dr. Aldridge«, sagte Margaret Bickham, wobei sie den Blick um den Tisch schweifen ließ, »wir haben den Computer darauf programmiert, dieses Modell zu entwickeln. Wir haben ihn sogar darauf programmiert, das menschliche Gehirn auf jede der von Ihnen beschriebenen Verhal tensweisen nachzuahmen. Er verfügt über ein sehr detailliertes Wissen auf Ihrem Spezialgebiet – der Wissenschaft von der Wahrnehmung –, und ich meine, Sie werden bald feststellen, dass er eine merkwürdige Masche hat. Er neigt dazu, Leuten die Dinge aufzutischen, die sie als interessant oder stimulierend empfinden. Ich bin seit langem der Ansicht, dass sich dieses spezielle Verhalten entwickelt hat, weil es dem Bestreben des Computers nach Maximierung der Interaktion mit Menschen förderlich ist. Wenn er einen Nutzer dazu bringen kann, sich in die ›Shell‹-Ebene einzuloggen, dann tut er alles Erdenkliche, um ihn dort festzuhalten. Schmeichelei ist eine der Taktiken, die er benutzt. Eine andere ist, dass er Verärgerung vortäuscht, wenn man versucht, sich auszuloggen.« »Wollen Sie damit sagen, dass er mich auf den Arm nimmt?«, fragte Laura, und Hoblenz schnaubte belustigt. »Dass er mir Dinge sagt, die ich hören möchte, damit ich das Interesse nicht verliere?« »Genau das.« 168
»Weshalb hat er dann gestern Nacht gesagt, ihm sei nicht mehr nach Re den zumute?« »Was hat er getan?«, fragte Filatov grinsend. »Der Computer erklärte, er wolle sich nicht weiter mit mir unterhalten.« Filatov und mehrere der anderen lachten. »So etwas habe ich noch nie gehört«, meinte Filatov. »Sie müssen ihn wirklich verärgert haben.« »Was haben Sie gesagt, unmittelbar bevor Sie diese Botschaft erhiel ten?«, fragte Gray – durchaus nicht belustigt. Laura versuchte, sich zu erinnern. Sie konnte sich nicht entsinnen, un mittelbar davor etwas eingetippt zu haben. Aber sie hatte sich dabei er tappt, dass sie gedacht hatte, dass der Computer kein »Er«, sondern ein »Es« war. Und danach hatte sie etwas gemurmelt – laut. Sie richtete den Blick auf Gray, der jetzt in ihrem Gesicht, ihrer Miene zu lesen schien. Er zog eine Braue hoch – eine Geste, die nur für sie be stimmt war. Dann wandte er sich der Gruppe zu. »Damit ist die Sitzung beendet. Alle an die Arbeit.« Laura erhob sich mit den anderen. »Dr. Aldridge!«, rief Gray ihr zu. »Ich würde gern mit Ihnen reden, wenn Sie noch einen Moment Zeit haben.« Laura ließ sich wieder auf ihren Stuhl sinken. Sie wappnete sich inner lich, obwohl sie sich nicht vorstellen konnte, weshalb sie sich Sorgen machen sollte. Aber was ist, wenn er mich hinauswirft?, quälte sie sich selbst. Die anderen verschwanden schweigend. Einige von ihnen warfen über die Schulter hinweg noch einen Blick auf Gray und Laura, die jetzt allein nebeneinander am Tisch saßen. »Bitte entschuldigen Sie, wenn ich ein bisschen barsch war«, sagte Gray, der sich unbehaglich zu fühlen schien. »Tut mir Leid, dass Sie auf diese Wache gestoßen sind.« Er holte tief Luft, bevor er langsam wieder ausat mete. »Es ist – bedauerlich, wozu man in dieser Welt gezwungen ist.« In Gedanken schien er weit weg zu sein, und Laura ließ zu, dass er in aller Ruhe weitersprach. »Es gibt Mächte, die ständig versuchen, meine Bemü hungen zunichte zu machen.« Gray verstummte, und Laura wartete. Als er nichts weiter sagte, fragte 169
sie: »Meinen Sie die Probleme, die mit der Führung Ihres Geschäfts zu sammenhängen?« Gray zuckte die Schultern. »Meine Konkurrenten sind kein Problem. Wenn sie gewinnen, bin ich der erste in der Schlange, der ihre Produkte kauft.« Wieder musste sie warten. »Aber da findet ein – ein anderer Kampf statt. Und die Mächte, die da am Werk sind…«Er schaute ins Leere und schüttelte den Kopf. Zum allerersten Mal schien er Laura verletzlich und nicht unschlagbar. »Sie meinen so etwas wie schmutziges Geschäftsgebaren?«, fragte sie. »Bestechung von Regierungsbeauftragten und dergleichen?« Gray konzentrierte sich langsam auf sie, und nach ein paar Augenblicken war er wieder gefasster. Mehr auf der Hut. Sein Anfall von Offenheit war vorüber, und er zog sich hinter ein Pokergesicht zurück. Er steht unter Stress, begriff Laura. Sie wollte ihn drängen, mehr zu sa gen, doch ohne die Risse in dem gepeinigten Mann zu vergrößern. Also entschied sie sich, zu harmlosem Geplauder überzugehen. »Was haben Sie eigentlich heute morgen in diesem Trainingsraum ge macht?«, fragte Laura. Sie beobachtete lächelnd, wie der reichste Mann auf der Welt langsam errötete. »Oh, Sie haben mich gesehen«, sagte er grinsend und ließ sich in die Kissen auf seinem Stuhl zurücksinken. »Es ist der Prototyp eines VRLaufbandes. Immer noch zu kostspielig, aber den Löwenanteil der Kosten macht die Benutzerzeit am Hauptcomputer aus, die jedoch immer weiter sinkt.« »Ist es ein Videospiel oder so etwas?« »Nein, eher eine Art Trainingsmaschine, die wir an Fitness-Center und ähnliche Einrichtungen verkaufen wollen.« »Und die werden dann alle an den Computer angeschlossen sein?«, frag te Laura. »›Den‹ Computer?« »Letzten Endes wird alles an alles andere angeschlossen sein. Fernseher, Videofon, Faxgerät, Heimcomputer, Stereoanlage, Spielautomat, über haupt alles wird miteinander verbunden, aber keines davon zentral gesteu ert sein. Das ist das, was in einem winzigen Maßstab mit dem Anschluß von Computern ans Internet begonnen hat. Der Computer, wie Sie ihn 170
nannten, bringt lediglich das System auf eine neue, höhere Kopplungsebe ne. Er koordiniert die Verbindungen, aber es sind die digitalen Supercom puter, die wir besitzen oder leasen, die den größten Teil der Schwerarbeit leisten. Das neuronale Netzwerk hier ist für diese mehreren hundert sepa raten Computer unser Server und unser Interface gleichzeitig. Er ist ein Puffer zwischen den beiden Welten des Menschen und der Computer. Wir sagen dem Computer, was wir getan haben wollen, und er sagt den ande ren Computern, was sie tun sollen und wie sie es tun sollen.« »Weshalb hat er keinen Namen?«, fragte Laura. Gray schien ihre Frage nicht verstanden zu haben. »Wie bitte?« »Der Computer«, sagte sie, den Artikel betonend, um zu zeigen, wie un praktisch dieser Begriff war. »Warum geben Sie ihm keinen Namen – wie HAL oder Andromedus oder sonst etwas Beeindruckendes?« Laura hatte ihre Frage halb im Scherz gestellt, aber er schien ernsthaft über seine Antwort nachzudenken und sah sie mit zusammengekniffenen Augen an. »Andromedus gefällt Ihnen nicht?«, drängte sie weiter. Endlich entlockte sie ihm ein Lächeln. »Nein, aber versuchen Sie’s wei ter.« Laura entspannte sich in den weichen Kissen. Sie luden sie ein, noch ein bisschen länger zu verweilen. Die Sonne schien ihr warm ins Genick, aber die Luft hielt sie angenehm kühl. Sie warf einen verstohlenen Blick auf Gray, der den Moment ebenso zu genießen schien wie sie. »Gehen Sie zum Trainieren nie ins Freie?«, fragte sie. Er zuckte mit den Schultern. »Weshalb sollte ich? In der Halle habe ich viel bessere Möglichkeiten.« Laura lehnte den Kopf zurück, badete ihr Gesicht in den warmen Strahlen der Sonne. Die Luft war frisch und der Himmel klar und wolkenlos – so klar, dass der volle Mond über ihnen deutlich zu erkennen war. Weshalb sollte ich versuchen, es ihm zu erklä ren?, dachte sie. Als sie den Kopf drehte, sah sie, dass Gray sie musterte. »Also, was haben Sie auf diesem Ding getan?«, fragte sie. Gray gabelte ein Stück Melone auf, dann grinste er und wölbte ein wenig verlegen die Brauen. »Etwas, was ich schon immer tun wollte: ProfiFootball spielen.« 171
Laura lächelte angesichts von Grays Verlegenheit. »Aber mit wem haben Sie gesprochen?«, fragte sie – und beobachtete, wie sein Lächeln immer angestrengter wurde. »Dazu diese Musik…«, sagte sie rasch. »Hören Sie die gern?« Er hob die Schultern und kratzte sich am Kinn, den Blick auf den Teller gerichtet. »Eigentlich nicht.« Weiter war ihm nichts zu entlocken, und offensichtlich versiegte jetzt auch sein Interesse an der Erörterung dieses Themas. Aber wenn er diese Musik nicht mag, dachte sie, weshalb hat sie dann so gedröhnt? Und wie konnte er sie überhaupt hören mit diesem Ding auf dem Kopf? Die Unterhaltung war ins Stocken geraten. Laura suchte nach einer Mög lichkeit, sie wiederzubeleben, ohne neugierig zu wirken. ›»VR‹ steht für ›Virtuelle Realität‹, nicht wahr?«, erkundigte sie sich. Eine weitere Frage, aber Fragen waren das einzige, was ihr einfiel. Gray nickte, und ein seltsamer Ausdruck erschien auf seinem Gesicht. Seine Mundwinkel rundeten sich langsam. »Würde es Ihnen Spaß machen, vir tuelle Realität zu sehen?«, fragte er. Sie mochte den Klang seiner Stimme, den Ausdruck auf seinem Gesicht, wenn er lächelte. Die kühle Luft bewirkte jedoch, dass ihr ein leichter Schauder über den Rücken lief. Gray erhob sich von seinem Stuhl, doch ein Gewicht schien Laura auf den ihren festzuhalten. Er stand wartend da. Sie stand auf und trat zu ihm. Sie gingen nicht in den Trainingsraum, sondern ins Computerzentrum. Diesmal war Laura auf den »Entstauber« vorbereitet; ihr Haar war zu rückgebunden und ihr T-Shirt steckte im Bund ihrer Jeans. Gray führte sie durch den Kontrollraum zu einer Tür, die sie vorher nicht bemerkt hatte. Zuerst starrte Gray und dann Laura in den dunklen Netzhaut-Identifikator. Das Licht blitzte in Lauras Augen, und die Tür glitt in die Wand. Vor ihnen lag ein langer Korridor mit einer Reihe geschlossener Türen in regelmäßigen Abständen. Als sie den Korridor betraten, glitt die erste Tür links von ihnen auf. Laura folgte Gray durch den offenen Durchgang in einen Raum. Acht funkelnd weiße Kabinen ragten in zwei Reihen vom Fußboden auf. Sie 172
waren zylindrisch und oben gewölbt wie stumpfe Geschosse – jeweils drei Meter hoch, mit einem Durchmesser von einem Meter achtzig. Alles in dem Raum war funkelnd weiß, wie in einem Labor oder einer Klinik. Gray blieb vor einer unscheinbaren Konsole nahe dem Ende des zwi schen beiden Reihen hindurchführenden Ganges stehen. Eine flache Membran bedeckte die Konsole, und Laura hob die Hand, um ihre glatte schwarze Oberfläche zu befühlen. Ein lautes Piepen veranlasste sie, die Hand schnell wieder zurückzuziehen. Die Membran erwachte in einem Schachbrett aus hellem Licht zum Leben. Quadratische Erhebungen in der Form von Tasten ragten wie durch Magie auf, nach Farben gruppiert und mit hellen, auf den Tasten selbst leuchtenden Labels gekennzeichnet. »Wie hat er das gemacht?«, fragte Laura staunend. »Was gemacht?« »Das«, sagte Laura und zeigte auf die vielfältige Gruppierung von leuch tenden Tasten. »Oh, er morpht die Tasten-Konfiguration, die für einen speziellen Ope rationsmodus erforderlich ist.« Laura nickte, dann fragte sie: »Und woher wusste er, welchen ›Modus‹ wir brauchen?« »Der Computer sah uns kommen«, war Grays Antwort. Er drückte auf zwei der Tasten, die bei seiner Berührung ein leises ping von sich gaben. Laura fuhr zusammen, als plötzlich ein lautes Luftzischen zu hören war und erst eines, dann ein zweites der Geschosse aufsprangen. Zwei Türen öffneten sich langsam und gaben den Blick auf dunkle Innenräume frei. »Kommen Sie«, sagte Gray und führte sie zur ersten der Kabinen. »Die se Dinger werden virtuelle Workstations genannt. Es sind ältere Modelle, aber es ist ein bisschen leichter, hinein- und wieder herauszukommen als bei der neuen Version.« Laura schaute ins Innere der dunklen Kammer. Die schwarzen Wände schienen auf den ersten Blick keinerlei Merkmale aufzuweisen, doch als sie genauer hinschaute, sah sie, dass sie von einem feinen Gitter überzogen waren wie die Bildschirme von Grays Fernsehern. »Das liefert Ihnen Bilder auf dreihundertsechzig Grad – von den Wän den, der Decke und dem Fußboden. Der Ton kommt aus planaren Laut 173
sprechern direkt hinter den Gittern.« Laura steckte den Kopf hinein, wagte sich aber nicht weiter vor, weil sie fürchtete, die Tür könnte sich hinter ihr schließen. Außerdem war da absolut nichts Interessantes zu sehen. Sie rümpfte die Nase wegen des starken Plastikgeruchs. Gray tauchte neben ihr mit einer glänzenden schwarzen Jacke auf, die aussah wie ein mittelalterlicher Harnisch. Schwarze Ärmel aus Stretchma terial hingen schlaff neben dem halbstarren Oberteil. Dicke Handschuhe zogen die Ärmel herunter. »Das ziehen Sie über den Kopf, und hier ste cken Sie die Arme durch wie bei Football-Polstern.« Er stand da und hielt Laura den unheimlichen Anzug hin. Dicke Rippen fächerten sich in Wülsten von immer geringerem Durchmesser über seine Oberfläche und verliehen dem Stoff ein überaus komplexes Muster. Die Jacke bestand offensichtlich aus irgendeinem Hightech-Synthetikmaterial, aber ihr Aussehen erinnerte Laura an eine Tierhaut mit einem Netz von Blutgefäßen über verborgenen Knochen und Sehnen. »Was ist das für ein Ding?« »Es wird ›Skelett‹ genannt«, erwiderte Gray einfach. Laura lachte nervös. Es widerstrebte ihr, das, was Gray so beiläufig in der Hand hielt, auch nur zu berühren. »Das trifft zu«, murmelte sie. »Es ist die Abkürzung von ›Exoskelett‹. Stecken Sie Ihren Kopf hier durch und die Arme in die Ärmel.« Gray streifte das Gebilde über Lauras Kopf und erklärte dabei ein noch neueres Spielzeug. »Bei unserer neuesten Workstation – der Version 4 C – muss man seine gesamte Kleidung ausziehen und vorher sogar zum Ra sierapparat greifen. Man braucht dazu ein Skelett, das vom Kopf bis zu den Zehen reicht, nicht nur eine Jacke.« Die dicken Schulterpolster ver hinderten, dass Laura etwas sah. »Aber das Gute an dem 4 C ist«, sagte Gray, dessen Stimme jetzt gedämpft klang, »dass das System keine enge Röhre benötigt. Manche Leute leiden in diesen alten 3 Hs ein bißchen unter Klaustrophobie.« »Also, wissen Sie…«, begann Laura, fand aber keine Worte, die hätten ausdrücken können, wie nervös sie war. Das Ding legte sich auf ihre Schultern, und ihr Kopf glitt durch den elastischen Rollkragen, endlich frei von dem schwarzen Exoskelett. Laura bemühte sich, die Ärmel zu finden, 174
während Gray die Jacke festhielt. »Vielleicht…«, setzte sie abermals an, »vielleicht könnten Sie mir einfach – äh – beschreiben, was es mit der virtuellen Realität auf sich hat.« Sie schob ihre Hände in die Handschuhe. »Entspannen Sie sich«, sagte Gray in beruhigendem Ton. »Fast alle Menschen haben Cyberspace bereits erlebt, sie wissen es nur nicht.« Er zog kräftig an der Jacke, damit sie richtig saß. »Das Telefon war das erste Gerät der virtuellen Realität. Man nimmt den Hörer ab und redet mit je mandem, als befände er sich im Nebenzimmer. Man kann ihn nicht sehen oder berühren, aber die Tonqualität ist so gut, dass die Erfahrung einer Unterhaltung von Angesicht zu Angesicht vergleichbar ist. Man vergisst vollständig den Draht, der von einem Haus zum anderen verläuft und Elektronen befördert. In Gedanken begegnen sich die Gesprächsteilnehmer – nicht im realen Raum, sondern im Cyberspace.« »Aber das ist doch nur eine Illusion«, widersprach Laura. »Cyberspace existiert nicht wirklich. Es ist nur eine Fiktion.« »Sie haben Recht«, sagte Gray. Er schloss große Klettbänder an ihren Seiten, womit die Jacke dicht an ihrem Körper anlag. »Aber das ist die Realität auch. Es ist nur eine Show im Theater ihres Verstandes.« Die Unterhaltung trug nichts dazu bei, Laura zu beruhigen. Und das E xoskelett auch nicht. Es war nicht schwer, aber sie spürte sein Vorhanden sein; feste schwarze Kanister bildeten eine Art Gürtel um ihre Taille her um. »Ich habe das Telefon schon des Öfteren benutzt«, sagte Laura. Sie streckte die Arme in die Höhe – an den schwarzen Handschuhen fehlten nur noch metallene Dorne, um das Bild zu vervollständigen. »Meiner Meinung nach sind die beiden Erfahrungen überhaupt nicht miteinander vergleichbar.« In ihrer Stimme lag ein Zittern, mit dem sie nicht gerechnet hatte. »Dr. Aldridge«, sagte Gray ruhig, »glauben Sie mir. Der einzige Unter schied besteht darin, dass wir etwas Feedback für Ihre anderen Sinne hin zugefügt haben, das ist alles.« Je näher der Moment heranrückte, in dem sie den Zylinder betreten soll te, desto nervöser wurde sie. Das war ganz und gar nicht das, was sie er wartet hatte, als sie sich bereiterklärt hatte, Gray in den Cyberspace zu 175
folgen. Im Grunde hatte sie sich nicht einmal ausdrücklich dazu bereiter klärt, aber – nun ja – sie war ihm gefolgt. »Äh, Mr Gray…«, setzte sie an, mit einer Stimme, die ihr trockener Mund eine Oktave zu hoch klingen ließ. Er hob die Brauen, während er an ihrem Anzug hantierte und auf Knöpfe drückte, die leise piepten. »Mr Gray, ich bin mir wirklich nicht sicher, ob ich…« Dann erfolgte ein lautes Luftzischen, und Lauras Exoskelett blähte sich auf wie ein Airbag – aber auf der Innenseite. In Sekundenschnelle war der Anzug um ihren Ober körper herum völlig starr geworden. Die über seine Oberfläche verteilten flachen Blasen und Adern hatten sich mit Luft gefüllt. Er lag ihr von der Taille über die Brust bis zu den Schultern und an den Armen herunter bis zu den Fingerspitzen straff an. In Panik ruckte sie mit den Armen gegen die steifen Ärmel an, doch es gelang ihr kaum, sie unter der Oberfläche zu bewegen. Bei jeder Armbewegung rammte sich die brettsteife Zwangsja cke in ihren Rücken oder ihre Seiten. »Ist das unbequem?«, fragte Gray. »Befreien Sie mich von diesem Ding!« Gray lachte. »Jetzt verstehen Sie, warum wir es ein Skelett nennen«, sag te er, als ob das ihre Einschnürung irgendwie erklären könnte. Ein schrilles ping und das Geräusch ausströmender Luft gingen einer rapiden Locke rung des Anzugs voraus. Ihre Arme wurden frei, und Sekunden später konnte sie sich völlig ungehindert bewegen. »Na also«, sagte Gray, als wäre die Sache damit erledigt, und streifte sich seinen eigenen Anzug über. Laura bemühte sich um die Gelassenheit, die sie für die Anstrengung, sich vernünftig anzuhören, aufbringen musste. »Mr Gray, ich glaube nicht, dass ich das tun möchte.« »Dr. Aldridge…« »Nein, ich habe mich entschieden.« »Aber Sie sind Wissenschaftlerin. Sie sind doch bestimmt neugierig.« Er schob den Kopf durch seinen Rollkragen. »Sehen Sie, das Exoskelett tut dreierlei. Es sorgt für Druck- und Temperaturgefühle auf ihrer Haut und simuliert damit das Tastgefühl. Es hat pneumatische ›Knochen‹, die sich zusammenfügen und den Eindruck der Starrheit erwecken. Und die Au 176
ßenseite des Gewebes«, sagte er, wobei er seine Handschuhe hochhielt und von einer Seite zur anderen drehte, »gleicht einem flexiblen, rückprojizie renden, hochauflösenden Bildschirm.« Laura hob die dicken Handschuhe, die sie trug, um die kaum sichtbaren Wülste auf der Oberfläche zu be trachten. »Wollen Sie damit sagen, dass ich einen Fernseher trage?« Gray lachte leise. Ein Luftschwall füllte plötzlich die Hohlräume seines Anzugs. »Das ist nur eine System-Überprüfung«, sagte er rasch – jetzt selbst eingepfercht und geduldig darauf wartend, dass das Piepen ertönte und die Luft wieder entwich. »Das Innere der Workstation«, fuhr er fort, als es ihm wieder möglich war, auf den weißen Zylinder zu deuten, »liefert Bilder und Ton genau wie TV und Stereo.« Er drängte sie zur offenen Tür. »An dieser ganzen Sache ist überhaupt nichts Unheimliches.« »Tut mir Leid, Sie enttäuschen zu müssen, Mr Gray, aber für mich ist einfach alles unheimlich, was hiermit zusammenhängt.« Gray kniete nieder und schnürte ihre Laufschuhe auf. Als er sie ihr aus gezogen hatte, setzte er sich auf die Hacken zurück und sagte: »Sie haben ziemlich große Füße.« »Wie?«, erwiderte Laura perplex und schaute nach unten. Dann stieß sie einen frustrierten Seufzer aus. »Ich trage drei Paar Socken.« Er dachte einen Moment darüber nach, dann zuckte er mit den Schultern, als akzeptiere er diese ungewöhnliche Tatsache. Sie schlüpfte in die schwarzen Slipper, die er ihr hinhielt und die aus demselben Material bestanden wie das Skelett. »Weil es in meinem Büro so kalt ist«, schob Laura eine Erklärung nach. Die schwarzen Schuhe wurden kurz aufgebläht und lockerten sich dann mit einem leisen Zischen. Gray führte Laura sanft zur Tür der dunklen Kammer. Sie blieb dicht davor stehen. »Das wird mich doch nicht in eine Fliege oder sonst irgendetwas ver wandeln, oder?«, fragte sie. Gray lachte. »Sie würden überrascht sein, wie selten so etwas vor kommt.« Sie trat auf den erhöhten schwarzen Fußboden und blieb direkt hinter der Türschwelle stehen. Es kam ihr stiller vor in der Kammer – alle Geräusche 177
wurden von den soliden Wänden und der Decke verschluckt, die sie um gaben. »Viel Spaß«, sagte Gray, bevor er sie verließ. Sie betrachtete die dunklen Wände, drehte sich schnell und konnte gera de noch sehen, wie sich die Tür vor ihrer Nase schloss. Ein metallisches Klicken sperrte sie ein. Sie hämmerte mit beiden Händen gegen das Gitter. »Mr Gray!« Die Wände waren mindestens dreißig Zentimeter dick. Er konnte sie unmöglich hören. Gut, jetzt war sie also in der Kammer eingeschlossen; sie versuchte, sich so weit wie möglich zu beruhigen – die Realität in den Griff zu bekom men, bevor sie verzweifelt nach einer Alternative suchte. Das Licht in der Kabine war schwach und diffus, und sie konnte seine Quelle nicht entde cken. Es schien gleichermaßen aus den Wänden, der Decke und dem Fuß boden zu kommen. Sie versuchte, tief Luft zu holen. »Hallo?«, fragte sie, nachdem sie so lange gewartet hatte, wie sie konnte. Ihre Stimme bebte, und es kam keine Antwort. Es war überhaupt kein Geräusch zu hören. Laura schlang die Arme um die Brust, aber die unge wohnte Berührung des Skeletts verschaffte ihr keinerlei Trost. »Hallo? Mr Gray?«, rief sie noch einmal. »Ich bin hier«, sagte er von direkt hinter ihr. Laura wirbelte herum und starrte auf die gerundete schwarze Wand. »Wo?« »Genau hier.« Der Ton war erstaunlich klar. Es war, als stünde er direkt neben ihr – an einer ganz bestimmten Stelle im Raum. »Verdammt – wo denn?« »Beruhigen Sie sich. Ich bin in der Workstation nebenan. Warten Sie ei nen Moment, während ich das Programm lade.« Ihr Herz hämmerte gegen das Skelett. Ihr Gaumen war so trocken, dass die Zunge nahezu daran haftete. Sie wendete sich langsam der Mitte der Kammer zu, wehrte sich gegen das Gefühl, in einer Falle zu sitzen. Fast kam es ihr vor, als wäre sie auf einem Sitz einer Achterbahn festgeschnallt und wartete auf den Start. 178
Das Licht erlosch plötzlich. Die kleine Kabine war dunkler als die schwärzeste Nacht. Laura keuchte. In Sekundenschnelle verschwanden die Wände und die Decke der Kabi ne mit einem Knistern statischer Elektrizität, das von allen Seiten kam. Sie lösten sich einfach auf und ließen Laura auf einem schwarzen Podest zu rück, von dem aus sie die hell erleuchtete Konsole direkt außerhalb der Kammer sehen konnte. Sie schlug die Hände vor den Mund und stöhnte in Panik auf. Jemand tippte ihr auf die Schulter. Sie warf sich herum und verlor ihr Gleichgewicht, prallte gegen die unsichtbare gewölbte Wand und glitt auf den Fußboden. Das schwarze Podest bewegte sich unter ihr – bewegte sie von der Wand fort, bis sie in der Mitte der schwarzen Scheibe lag. »Vorsicht!«, rief Gray. »Warum? Weil ich fallen könnte?«, fragte Laura, während sie sich auf die Knie erhob. Gray stand, kaum mehr als einen Meter entfernt, auf einem gleichen Po dest. »Das Laufband kann anfangs tückisch sein. Sind Sie okay?« Laura starrte mit weit aufgerissenen Augen auf den Raum -fassungslos. Sie war nicht mehr in der kleinen Kabine eingesperrt – so kam es ihr von dort aus, wo sie kniete, jedenfalls vor. Sie sah eine Reihe von sieben niedrigen Podesten an den Stellen, an de nen sich, wie sie wusste, die anderen Zylinder befanden. Wände und De cke der Kabine waren jetzt völlig unsichtbar – transparent. »Hi«, sagte Gray, hob die Hand und winkte ihr von dem Podest direkt neben ihrem zu. »Mein Gott«, flüsterte sie. Sich vorsichtig bewegend, kam sie wieder auf die Füße. »Was zum Teufel geht hier vor?« »Willkommen im Cyberspace, Dr. Aldridge«, sagte Gray. »Dem wahren Cyberspace.« Laura drehte sich langsam im Kreis. Sie begriff, dass das, was sie sah, nicht der Raum war; es war ein Abbild des Raums, auf die Wände der Kabine projiziert, die sie umgaben. Aber das Bild war unglaublich realis tisch. 179
»Es ist mir zuwider, Sie auf die Unvollkommenheiten hinweisen zu müssen«, sagte Gray in beiläufigem Ton, »aber wenn es dazu beiträgt, dass Sie sich besser fühlen, dann sehen Sie sich meine Haare mal ganz genau an.« Laura betrachtete Grays Kopf. Sein Haar glich dem auf einer Cartoon zeichnung. »Es lohnt einfach die Verarbeitungszeit nicht, jede Einzelheit in exakten Details darzustellen.« Auch die Wiedergabe von Grays Gesicht war, wie Laura feststellte, eine Spur unrealistisch. Der virtuelle Gray hatte einen perfekten Teint. Sein Hautton war absolut gleichförmig, ohne Makel oder Bartschatten oder irgendwelche Farbvarianten. »Die neuen 4 Cs sind wesentlich realistischer«, sagte Gray, wobei seine Lippen sich genau synchron mit seinen Worten bewegten. »Noch realistischer als das hier?«, fragte Laura. Sie hob den Arm, um zu ihrer Vergewisserung eine Wand der Kabine zu berühren. Ihre schwarz behandschuhte Hand streckte sich durch den Raum, als bestünde er aus Gummi und berührte stattdessen etwas anderes – eine gerade, scharfe, im Raum schwebende Kante. Sie zog den Handschuh von der Oberfläche der Kommode zurück, auf der er einen Augenblick lang geruht hatte, und rieb sich mit dem Daumen über die Fingerspitzen. Ihre Haut kribbelte von dem Kontakt mit der harten Kommode, und ihre Finger fühlten sich an, als klebten sie aneinander. Sie streckte abermals den Arm aus. An einem bestimmten Punkt wurde er elastisch. Sie langte durch den ganzen Raum, um abermals die weiße Kommode an der Wand zu berühren, tastete die flache Oberfläche mit einem drei Meter langen Arm ab, dann langte sie hoch, um den darüber hängenden Schrank anzufassen. Sie fasste einen Griff! Es war so verblüffend realistisch, dass ihr fast schlecht geworden wäre. »Die Ausdehnung der Arme des Anzugs ist auf einen logarithmischen Maßstab eingestellt«, erklärte Gray. »Je weiter Sie sie ausstrecken, desto größer ist die Strecke, die ihre virtuelle Hand zurücklegt. Voll ausgestreckt wäre Ihr Arm ungefähr fünfzehn Meter lang.« »Wie ist das…?« Sie zog ihren gummiartigen Arm zurück, und er 180
schrumpfte wieder auf seine normale Größe zusammen. Als sie ihn wieder ausstreckte, schienen der schwarze Ärmel und der Handschuh immer län ger zu werden. »Es sind die Bildschirme auf Ihrem Skelett und an der Wand dahinter«, sagte Gray. »Sie projizieren ein kontinuierliches Bild und verschmelzen die Brennpunkte, sodass Sie nicht mehr sagen können, wo das Bild auf Ihrem Ärmel endet und das auf der Wand beginnt.« Die Schränke fühlten sich solide an. Sie versuchte, die Hand in sie hin einzuschieben und spürte einen starken Druck gegen ihre Fingerspitzen. Die Gelenke in der Schulter, dem Ellbogen, dem Handgelenk und den Fingern des Skeletts blähten sich lautlos auf und schlossen sie ein. Laura konnte die Hand nicht weiter ausstrecken. Sie versuchte, das System zu überlisten – ihre Hand durch die imaginäre Schranktür zu drücken. Die Hüfte schwenkend wollte sie in den Wider stand hineinlaufen, aber das Laufband unter ihren Füßen reagierte sofort. Es drehte sich und rollte davon, um ihre Bewegung zu kompensieren; was sich anfühlte, als ginge sie auf Eis. Ihr Körper drehte sich, aber ihr starrer Arm blieb auf der glatten Schranktür liegen. »Wie Sie sehen, haben wir dieses Ding genau durchdacht«, erklärte Gray mit leichtem Tadel. Lauras virtueller Arm tastete nach dem Licht unter dem Oberschrank, und sie spürte ein warmes Glühen auf dem Handrücken. »Wie ist das mit der Wärme?«, fragte sie, jetzt restlos fasziniert. »Die Luft, die durch das Skelett zirkuliert, wird thermostatisch kontrol liert. Sie wird von der Einheit in Ihrem Gürtel erwärmt oder abgekühlt und durch isolierte Röhren zu der entsprechenden Membran geleitet.« Ein tranceartiger Zustand des Staunens überkam Laura. »Einfach un glaublich!« Als sie den Griff wiedergefunden hatte, zog sie daran. Die Schranktür schwang auf. »Wow!« »Das ist virtuelle Realität, Dr. Aldridge. Alles gehorcht den physikali schen Gesetzen – es sei denn, ich programmiere sie neu.« »Aber ich habe doch nicht eben diese Schranktür geöffnet, oder?« »Sie haben es getan, in der virtuellen Welt. Wenn der Computer weiß, was sich drinnen befindet, können Sie in den Schrank hineinschauen und 181
es sehen. Aber Sie haben diese Schranktür nicht in der ›realen‹ Welt ge öffnet. Ich glaube, Sie werden bald herausfinden, dass der Unterschied, den Sie da machen, seine Bedeutung verlieren wird.« Laura war zu sehr damit beschäftigt, ihre Hand durch den Raum zu schwenken, um Gray viel Aufmerksamkeit zu schenken. Sie betrachtete eingehend die Stelle, an der die Decke der Kammer eigentlich auf die Wände stoßen musste, hielt Ausschau nach Nähten, Verzerrungen, ir gendwelchen Unvollkommenheiten. Sie konnte keine finden. Dann stieß ihre Hand gegen etwas, das nicht so hart konturiert war wie die Kommode. Es war Gray. »Seien Sie etwas vorsichtig«, sagte er und ergriff ihre Hand am Ende ihres geschmeidigen schwarzen Arms. Sie keuchte und zog ihre Hand zurück, wobei sie genau fühlen konnte, wie ihre Finger durch die seinen glitten. Ihr Magen fühlte sich an, als säße sie in einem Achterbahnwagen in voller Fahrt. »Ich – ich glaube, ich will jetzt hier heraus«, sagte sie. »Möchten Sie ei nen Spaziergang machen?«, fragte Gray. »Ja, bitte. Jetzt gleich.« Ein Spaziergang war genau das, was sie sich wünschte. Ihre Lungen fühlten sich völlig luftleer an, und sie atmete tief und langsam ein und aus, um sie wieder zu füllen. Gray trat von seinem schwarzen Podest auf den Fußboden. Er ging durch den Raum, stellte sich neben Lauras Workstation und streckte die Hand durch die unsichtbare Wand – winkte sie zu sich heran.
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5. KAPITEL Laura starrte auf die Hand, die Gray ihr durch die Wände der virtuellen Workstation entgegenstreckte. Sie war tatsächlich von Wänden umgeben, aber es fiel ihr schwer, sich von dieser Tatsache zu überzeugen. In Wirk lichkeit ragten sie rings um sie herum auf, sperrten sie in diese Kabine ein. Die auf sie projizierte Hand von Gray war Fiktion. Es war keine Realität; es war virtuelle Realität. »Gehen Sie einfach los«, sagte Gray zu Laura, als wäre das überhaupt nichts Besonderes. Laura schüttelte unsicher den Kopf. Sie wäre nie auf die Idee gekom men, dass man diese geschossförmige Kabine mit ihren unsichtbaren Wänden verlassen könnte. Schon der Gedanke, von der runden Insel des Laufbandes der Workstation herunterzutreten, machte Laura Angst. »Es ist ganz einfach«, sagte er, ihr sanft zuredend. »Nehmen Sie einfach meine Hand und gehen Sie ganz normal.« Sie ergriff Grays Hand, die vibrierte und kein Gewicht zu haben schien. Ihr Griff rief ein leichtes Wärmegefühl hervor, und als sie zudrückte, drückte auch Gray zu. Sie musste sich zu der Vergegenwärtigung zwingen, dass sie in Wirk lichkeit nur ein auf einen Bildschirm projiziertes Bild von Gray betrachte te. Ihr Denken geriet in dem warmen Bad, das ihre Sinne umspülte, immer wieder ins Rutschen. Sie war dabei, der Illusion der virtuellen Realität zu erliegen. Laura holte tief Luft und hielt den Atem an. Dann bewegte sie sich schnell, wie um die langsameren Verstandeskräfte zu überlisten, und trat von der schwarzen Oberfläche herunter. Das Band unter ihren Füßen be wegte sich. Plötzlich schien sie die Orientierung zu verlieren, als befände sie sich auf dem schrägen Boden eines Spiegelkabinetts. Laura ruderte mit den Armen, um das Gleichgewicht zurückzugewinnen, das sie verloren zu haben glaubte. Als ihre Nerven sich wieder beruhigt hatten, richtete sie sich auf und sah sich um. 183
Laura stand auf dem Boden außerhalb der Kabine und schaute auf die Stelle, an der eigentlich die Wände hätten sein müssen. »Das gibt es nicht«, sagte sie, abermals den Kopf schüttelnd. »Sie stehen in Wirklichkeit immer noch im Innern der Workstation«, er klärte Gray. »Der Boden unter Ihnen ist ein universelles Laufband. Es bewegt sich so, dass Sie immer ungefähr in der Mitte der Workstation bleiben, außer Reichweite der Wände, deshalb müssen Sie vorsichtig sein. Die Schaltelemente reagieren sehr empfindlich. Sie starten und stoppen das Band schon auf die leiseste Reaktion hin. Wenn Sie nicht irgendwo hingehen wollen, bleiben Sie einfach still stehen. Wenn Sie sich bewegen wollen, fangen Sie an zu laufen, und das Band reagiert automatisch.« Laura hob einen Fuß, um einen Schritt zu tun, aber nichts passierte. »Setzen Sie beide Füße auf das Band und stoßen Sie sich ab«, wies Gray sie an. Sie befolgte seinen Rat… und bewegte sich durch die Welt, die sie sah. Sie ging langsam zwischen den Reihen von schwarzen Podesten hin durch, und die Eindrücke, die ihren Sinnen serviert wurden, bewirkten, dass sie das laufende Band kaum bemerkte. »Aber – aber ich bin doch immer noch in diesem Ding, richtig?«, fragte sie, während sie, immer noch mit zögerlichen Kleinkinderschritten, durch den Raum wanderte. »Es ist eine Workstation. Ja doch, Sie sind immer noch darin. Teleporta tion ist mir bisher noch nicht so recht gelungen.« Laura musste sein Gesicht ansehen, um zu begreifen, dass er scherzte. »Kommen Sie«, sagte Gray und ging auf die Tür zu. Sie glitt direkt vor ihm in die Wand. Dort blieb er stehen und bedeutete ihr, dass sie ihm folgen sollte. Laura tat einen weiteren Schritt, und die Bilder um sie herum veränder ten sich, ohne jedes Flackern oder Rucken. Alle Konturen waren rasier messerscharf. Es gab keinerlei Künstlichkeiten oder Unvollkommenheiten, die darauf hindeuteten, dass Laura sich in einem 360 Grad-Fernsehtheater befand. Sie tat einen weiteren Schritt und beobachtete, wie sich die drei dimensionale Perspektive des Raums nahtlos veränderte. »Es ist einfacher, wenn Sie direkt loslaufen und nicht darüber nachden ken«, riet Gray. 184
Laura schluckte heftig. Sie drehte sich um und konzentrierte sich auf die offene Tür neben Gray. Dann holte sie tief Luft und ging los. Es funktio nierte, Laura wanderte durch den Cyberspace. Sie stieß mit der linken Schulter gegen den Türrahmen und keuchte er schrocken auf. »Sind Sie okay?«, fragte Gray. »Ja.« Ihre Schulter tat nicht wirklich weh, aber die Härte des Anpralls hatte sie überrascht. Die Wand hatte sich solide angefühlt und ihre Haut juckte an der Stelle, an der sie mit ihr »in Kontakt« gekommen war. Sie begriff, dass der Stoß nicht gegen die Wand erfolgt war, sondern gegen Hohlräume in ihrem Skelett, die sich auf ein zeitlich perfekt abgestimmtes Kommando des Computers hin mit Luft gefüllt hatten. Aber so künstlich die Ursache des Erlebnisses auch war – seine Auswirkung auf ihre Sinne war umfassend. Laura schaute an dem schwarzen Exoskelett herunter, das ihren Ober körper bedeckte. Sie rieb sich mit ihrer behandschuhten Hand den Arm und spürte die Bewegung ihrer Hand über den Ärmel der Hülle. Als der Handschuh darüber glitt, blähte das Skelett auf der Innenseite des dicken Gewebes Membranen in einem koordinierten Muster auf. Sie kräuselten über ihre Haut, interpretierten ihre Bewegung und imitierten artifiziell die Empfindungen. Laura runzelte die Stirn. »Warum haben Sie es nicht so eingerichtet, dass Leute einfach durch Wände hindurchgehen können, ohne irgendwo anzu stoßen?«, fragte sie Gray. »Das war für Geister noch nie ein großes Problem«, erwiderte er. Laura verzog das Gesicht, und Gray lachte. »Woher wissen Sie, dass ich das Gesicht verzogen habe?« »In die Wände der Workstation wurden winzige Kameras eingebettet, die nicht größer sind als eine Nadel. Sie erzeugen eine dreidimensionale topographische Karte Ihres Körpers, die so exakt ist, dass sogar Ge sichtsausdrücke zu erkennen sind.« Seine Lippen bewegten sich vollkom men synchron mit seinen Worten. Gray streckte die Hand durch die offene Tür. »Nach Ihnen, Dr. Aldrid ge.« 185
Laura schob sich vorsichtig zwischen Gray und der Wand hindurch und trat auf den dahinter liegenden leeren Korridor. Sie hatte den Raum mit den acht Podesten verlassen. »Kommen Sie«, sagte Gray. »Einen Moment«, entgegnete Laura und verharrte, um abermals tief Luft zu holen. »Okay, und ich stehe immer noch in der Workstation, richtig?« Gray schürzte die Lippen und nickte, dann schaute er zurück in den Raum, den sie gerade verlassen hatten. Ungeachtet der Tatsache, dass sie die erwartete Antwort erhalten hatte, war Laura äußerst unbehaglich zumute. Der Widerspruch zwischen ihren Sinneserfahrungen und ihren Erwartungen bewirkte eine völlige Desorien tierung. Sie versuchte, sich daran zu erinnern, dass es nur eine Augentäu schung war, versuchte sich die gerundeten Wände, die Decke und den Fußboden vorzustellen, die sie umgaben. Dir wurde fast schwindlig. »Hübsch, nicht?«, fragte Gray lächelnd. Laura reagierte mit einem kurzen Lächeln und kämpfte dabei gegen das flaue Gefühl in ihrem Magen an. Sie drehte sich um und schaute durch die offene Tür auf das Podest, von dem sie heruntergestiegen war. Auf dem ich immer noch stehe, dachte sie und holte tief Atem, um ihre Lungen zu fül len, die plötzlich nach Sauerstoff zu hungern schienen. Ihr Herz hämmerte in ihrer Brust. »Muss ich – sozusagen – in dieses Kammerding zurückkehren, um wieder in die Realität zu gelangen?« »Es ist eine Workstation, keine Kammer. Und nein. Doch es gibt alle möglichen Makros, die Sie mit Handbewegungen steuern können, die simple Befehle ausführen, ganz gleich, an welcher Stelle des Weltmodells Sie sich gerade befinden. Ich werde Ihnen einiges davon beibringen, wenn Sie das beruhigt. Signalisieren Sie eine Auszeit, wie beim Football.« Gray hob seine schwarzen Handschuhe und drückte die ausgestreckten Finger einer Hand auf die Fläche der anderen, sodass sie ein T bildeten, ohne dass die Hände ganz aufeinander lagen. Nach kurzem Zögern wiederholte Laura die Geste Grays. Als ihre Fin gerspitzen die Handfläche des Handschuhs berührten, verschwand der Korridor. An seine Stelle traten die schwarzen Bildschirme und das 186
schwache Licht der Innenauskleidung des Zylinders, der vor statischer Elektrizität knisterte. Laura wurde schwindelig und sie hätte fast das Gleichgewicht verloren und wäre gestürzt. Sie stand wieder in der Workstation. Sie war in die Realität zurückgekehrt – in die dunkle und einsame Zelle mit ihren soliden Wänden und ihrer hermetisch verschlossenen Tür. »Möchten Sie weitermachen?«, fragte Gray. Er war jetzt unsichtbar, hör te sich aber an, als stünde er immer noch direkt neben ihr. Sie schwebte zwischen zwei Welten, und ihr schwindelte von den Hightech-Spielen, die mit denen ihre Sinne gereizt wurden. »Okay. Ich glaube, ja.« »Gut, dann signalisieren Sie einfach wieder Auszeit«, sagte Gray. Laura wappnete sich und hob ihre behandschuhten Hände, um ein T zu bilden. Die Wände erhellten sich abermals mit einem Knistern, sie stand in dem hell erleuchteten Korridor – und Gray an ihrer Seite, genau dort, wo sie ihn verlassen hatte. Der Effekt war völlig verblüffend. Die radikale Veränderung war über wältigend, und sie musste die Augen schließen, um gegen die Übelkeit anzukämpfen. Sich vorbeugend umfasste sie ihre Knie – eine kribbelnde Hitzewelle glitt über ihre Arme und ihren Oberkörper. Gray sprach mit völlig sachlicher Stimme. »Auszeiten sind nützlich, wenn man auf die Toilette gehen und dann wieder da weitermachen möch te, wo man vorher aufgehört hat. Es ist eine Art Pausenknopf.« Laura hielt die Augen geschlossen und konzentrierte sich auf ihre Atmung. »Aber es dauert eine Weile, bis man sich an den Übergang zwischen den virtuellen und den realen Welten gewöhnt hat.« Laura öffnete die Augen und starrte auf den Boden. »Fürs erste Mal machen Sie Ihre Sache sehr gut. Einer ganzen Menge von Trainees wird regelrecht schlecht. Einige steigen sogar nach ihrem ersten vollständigen Eintauchen aus dem Programm aus.« Unter Aufbietung von sehr viel Willenskraft richtete Laura sich auf und sah Gray an. Er strahlte vor Stolz über seine Maschine. Genau in diesem Moment öffnete sich eine der Türen am anderen Ende des Korridors mit einem Zischen. Durch die Öffnung kamen zwei Leute – ein Mann und eine Frau –, die in eine angeregte Unterhaltung vertieft 187
waren. Beide hatten völlig kahlrasierte Köpfe. Aber irgendetwas an ihrem Erscheinungsbild stimmte nicht. Ihre Konturen waren nicht ganz so deut lich und lebensecht wie alles andere in der virtuellen Welt, die sie umgab. »Und dann dachte ich, ›Okay, du kleiner Scheißer!‹, sagte die Frau, blieb auf dem Korridor stehen und trank einen Schluck von ihrer Cola. Sie schwenkte die freie Hand langsam durch die Luft, wobei sie die Finger krümmte wie einen Robotergreifer. »Als er meinem Gesicht das nächste Mal zu nahe kam…«, sagte sie und hackte mit der imitierten Kralle bösar tig in die Luft. Sie lachten und gingen den Korridor entlang auf Laura und Gray zu. Beide trugen identische T-Shirts und Turnhosen mit dem Logo der Gray Corporation. Die Frau tupfte sich den kahlgeschorenen Kopf mit einem Handtuch ab, das ihr um den Hals hing. »Du musst vorsichtig sein«, sagte der Mann leichthin. »Sonst bekommst du es mit den Tierschützern zu tun, die mit ihren Protestplakaten auf der Insel herumwandern.« »Zum Teufel mit ihnen«, erwiderte die viel kleinere Frau und brachte ihn mit einem freundschaftlichen Hüftrempeln aus dem Rhythmus. Sie pas sierten Laura und Gray, ohne ihre Anwesenheit zu bemerken. »In den Abflüssen dieser Kühlteiche müssen Milliarden von Fischen leben. Nur dieser eine gelbe hatte ein Verhaltensproblem.« Die Tür zum Kontrollraum öffnete sich gerade so lange, dass Grays An gestellte hindurchgehen konnten. Die Geräusche der Aktivitäten in dem voll besetzten Raum fluteten in den Korridor, dann glitt die Tür zu, und es war wieder still. Laura drehte sich zu Gray um und wartete auf seine Er klärung. »Das waren Virtunauten«, sagte er, »und Sie sind jetzt auch einer. Herz lichen Glückwunsch.« »Virtunauten?«, fragte sie. »Wie Astronauten, aber in der virtuellen Rea lität?« Gray nickte. »Und sie konnten uns nicht sehen?« »Natürlich nicht. Wir sind in diesen Kammerdingern, erinnern Sie sich? Wir können sie sehen, weil der Computer ein Weltmodell auf die Wände unserer Workstations wirft. Der Computer weiß, wer und wo diese zwei Leute sind und was sie tun. Er reproduziert einfach ihre virtuellen Bilder, sodass wir sie sehen können.« 188
»Mann«, murmelte Laura, »das ist der Himmel für Schnüffler.« Gray drehte sich abrupt zu ihr um. »Wir tun alles Erdenkliche, um die Privatsphäre zu schützen«, sagte er, offensichtlich verärgert über ihre beiläufige Bemerkung. Laura zog einen Mundwinkel spöttisch herunter und wölbte eine Braue. Ihre skeptische Miene über den Erfolg von Grays Maßnahmen wurde in der Workstation offenbar getreulich reproduziert, denn Gray wendete finster dreinschauend den Kopf ab. »Und worüber haben Ihre beide Virtu nauten geredet?«, fragte sie. »Sie haben offenbar an den neuen 4 Cs ein Stück den Korridor hinunter gearbeitet«, erwiderte er verdrossen und deutete mit dem Daumen auf den Raum, aus dem sie gekommen waren. »Es hörte sich an, als hätten sie irgendwelche Wartungsarbeiten an einem der Rohre erledigt, durch die das Wasser ins Meer zurückgeleitet wird.« »Einen Moment«, sagte Laura sofort. »Was meinen Sie mit Wartungsar beiten? Ich dachte, sie hätten sich genau wie wir in der virtuellen Realität befunden.« »Das war auch der Fall, aber diese Workstations sind für die Arbeit ge baut. Sie haben einen Roboter teleoperiert – vermutlich einen von den wasserdichten, die wir für Arbeiten vor der Küste benutzen. Sehen Sie, das Wasser, das aus den Kühlteichen kommt, ist warm. Um die Ausflüsse herum bilden sich eine Menge Algen und andere Pflanzen, die beseitigt werden müssen.« »Warten Sie!«, sagte Laura kopfschüttelnd. »Wovon reden Sie da? Wie kann man in eine dieser Workstations gehen und dann aus einem ins Meer führenden Rohr Algen entfernen – sie ins wirkliche Meer befördern?« »Also, Sie und ich, wir befinden uns jetzt im ›Simulationsmodus‹. Der ist nicht interaktiv. Wir können nur beobachten, was vor sich geht, wie unsichtbare Touristen. Aber wenn man die Workstation auf ›Teleoperati on‹ einstellt, dann kann man durch die Bewegungen des Skeletts einen Roboter zum Arbeiten bringen. Wenn man einen vollständigen Anzug trägt wie in den 4 Cs, dann ist man in jeder Hinsicht der Roboter.« Er reckte seinen schwarz bekleideten Arm in die Luft. »Sie heben Ihren Arm, und der Roboter hebt seinen Arm. Der Computer sorgt für die Bewe 189
gungsumwandlung und das Feedback von den Sensoren des Roboters in Ihr Exoskelett. Dabei spielt es keine Rolle, ob der Roboter zehn Meter oder zehn Meilen entfernt ist.« »Also haben sie einfach an dem Bild einer Röhre in der virtuellen Reali tät herumgekratzt, und ein Unterwasser-Roboter hat ein paar Meilen ent fernt in der Wirklichkeit genau dasselbe getan?«, fragte Laura, die das einfach nicht glauben konnte. Gray schürzte die Lippen und nickte. Laura holte tief Luft und stieß den Atem langsam wieder aus. »Okay. Wenn Sie es sagen.« Sie streckte die Hände aus und ließ ihre schwarzen Handschuhe nach einem Schulterzucken gegen ihre Jeans klatschen. »Und wie geht’s jetzt weiter?« »Lassen Sie uns ein bisschen Spazierengehen«, sagte Gray. Er schritt auf die Tür zum Haupt-Kontrollraum zu. Laura folgte ihm. Jetzt kam es ihr natürlicher vor. Sie ging einfach. Na türlich wusste sie, dass sich der Boden unter ihren Füßen bewegte, aber der einzige Hinweis, den sie auf diese Tatsache hatte, war ein ganz leichter Unterschied in der Anziehungskraft. Sie verspürte einen subtilen Mangel an Sicherheit, ungefähr so, als liefe man auf einem Teppich, der auf einem glatten Fußboden unvermutet ins Rutschen kommen könnte. Die Tür vor ihnen glitt auf, und Laura schob sich vorsichtig durch die Öffnung. Im Kontrollraum saßen dieselben Leute, an denen sie auf ihrem Weg zu den Workstations vorbeigekommen waren. Bei genauerem Hinse hen stellte sie fest, dass all die Leute, die an ihren Konsolen arbeiteten, genauso aussahen wie die beiden »Virtunauten« – nicht ganz so realistisch in ihrem Erscheinungsbild wie alles andere. Die Farben ihrer Kleidung wirkten ausgewaschen. Sie wirkten sogar leicht transparent. »Würden Sie mir erklären, was hier vor sich geht?«, fragte Laura. Gray drehte sich zu ihr um, dann ließ er den Blick über den geschäftigen Raum schweifen. »Ach, Sie meinen die Leute?«, fragte er, und Laura nickte. »Wir sind früher immer angerempelt worden. Da sie uns nicht sehen können, kamen wir uns vor wie Crash-Autos, die versuchen, einen Raum voller Menschen zu durchqueren, nur dass wir nicht zurückrammen konnten. Um dieses Problem zu lösen, haben wir den Computer veranlasst, die Wiedergabe lebendiger Wesen für Nicht-Materielle zu reduzieren.« 190
Filatov kam direkt auf sie zu, und das gespenstische Abbild des Pullovers, den er trug, streifte Laura fast, bevor sie einen Schritt zurücktrat. Filatov hob eine Hand und griff in Grays Torso. Seine Hand verschwand in Grays Brust und tauchte aus dessen Rücken heraus wieder auf. Dann drückte Filatov auf einen Knopf an der Wand, der aussah wie ein ganz gewöhnli cher Thermostat. Der von dem unscharfen Bild eines Armes durchbohrte Gray stand einfach da und lächelte Laura an. Filatov schnaubte und beugte sich vor, um in Grays Brustkorb hineinzu schauen. Margaret kam heran, in einem dicken Wintermantel, den sie mit beiden Händen um den Hals zusammenraffte. »Nun?«, fragte sie. »Er ist bis zum Anschlag hochgestellt«, antwortete Filatov, während er sich aus dem Gespenst Gray heraus aufrichtete. Nein, dachte Laura, in dieser Welt ist Gray real und Filatov das Gespenst. »Es ist eiskalt!«, schimpfte Margaret. Dann beugte sie sich vor, um auf den Thermostaten zu schauen, wobei ihr Gesicht gleichfalls in Grays Brustkorb verschwand. »Diesem Geizkragen Gray ist alles egal außer seinem kostbaren Compu ter«, sagte Filatov. Gray stöhnte leise und wendete den Blick ab, als wäre es ihm peinlich, diese Bemerkung mitgehört zu haben. Er hob die Hände und tippte mit den Fingerspitzen beide Ohren an – eine Geste, die Laura überaus seltsam vorkam. Margaret zog ihren Mantel noch fester um sich. »Ich wette, in seinem Haus beträgt die Temperatur mehr als lausige fünf Grad«, murrte sie. »Gehen wir«, sagte Gray und strebte auf den Entstauber zu. Laura zöger te noch. Filatov lächelte Margaret an. »Ich weiß, was ich tun kann, dass dir warm wird«, sagte er mit eindeutig verführerischer Stimme. Laura schluckte und flüsterte: »Oh, mein Gott.« »Nein!«, erwiderte Margaret mit gespielter Entrüstung, lächelte dabei und vergewisserte sich mit einem raschen Blick, dass sie allein waren. Laura eilte ihrem entschwindenden Führer nach. »Mr Gray«, sagte sie, aber er ignorierte sie. »Mr Gray!«, rief sie, dann hatte sie ihn eingeholt und 191
tippte ihm auf die Schulter. Er fuhr herum und sah sie an. »Ich versuche, die Privatsphäre der Leute zu respektieren«, sagte er, als hätte sie ihm gerade eine Standpauke gehalten. »Ich habe überhaupt nichts gesagt!« »Augenblick.« Er hob die Finger und tippte sich wieder auf die Ohren. »Ich hatte den Ton ausgeschaltet. Was meinten Sie?« Laura hatte eine Bemerkung über das Verfolgungsspiel der beiden Lie benden machen wollen – Filatov der Jäger und Margaret das Wild. »Nichts«, sagte sie stattdessen. »Hier, das möchte ich Ihnen zeigen«, sagte Gray und wendete sich ab. Hinter seinem Rücken tippte Laura ihre Ohren mit den Fingerspitzen an. Nichts schien zu passieren. Sie konnte nach wie vor das Summen der Ge räusche aus dem Kontrollraum hören. Gray ging zu einer Tür mit der Aufschrift »Damentoilette«. Dann wen dete er sich Laura wieder zu und wartete mit einem seltsamen Ausdruck im Gesicht. »Wie bitte?« Seine Lippen bewegten sich, aber es kamen keine Worte heraus. Sie hör te sämtliche Geräusche in dem Raum, aber nicht das, was er sagte. »Oh, einen Moment!« Sie tippte abermals ihre Ohren an und schaute zu ihm auf. »Jetzt bitte.« »Test – eins-zwei-drei«, sagte Gray mit ausdrucksloser Miene. »Cool!«, erwiderte Laura grinsend. Gray kämpfte gegen das Lächeln an, das seine Lektion beeinträchtigt hätte. »Ich sagte, Sie sollen da hineingehen.« Er deutete auf die Toiletten tür. Laura versuchte sie aufzustoßen. Die Tür fühlte sich hart an, gab aber nicht nach. Mitten in der Luft, direkt unter ihrer Hand, leuchtete ein großes rotes ZUTRITT VERBOTEN auf. Sie drückte abermals gegen die Tür – mit demselben Ergebnis. »Es ist eine komplizierte neue Welt«, sagte Gray. »Die Regeln müssen sich mit den Technologien ändern, aber irgendwo muss man eine Grenze ziehen.« Er wollte weitergehen, aber Laura ergriff seinen Arm und sagte: »Versu chen Sie es.« 192
»Wie bitte?« »Stoßen Sie die Tür auf.« Gray stand vor ihr und rührte sich nicht. Laura zog ungeduldig die Brauen hoch. »Versuchen Sie es«, drängte sie. Nach kurzem Zögern drückte Gray seine Hand gegen die Tür. Sie öffne te sich ein paar Zentimeter. Kein grellrotes ZUTRITT VERBOTEN ver sperrte ihm den Weg. Er ließ die Tür wieder zuschwingen. »Und weshalb bin ich nicht überrascht?«, sagte Laura langsam. »Es besteht ein Unterschied zwischen meiner Zugriffsebene und Ihrer«, erwiderte Gray. Laura neigte wartend den Kopf. »Ich kann mir selbst ver trauen«, sagte er einfach, dann schritt er auf den Ausgang zu. Der Aufstieg vom Eingang des Computerzentrums war schwierig. Um das Bild der Stufen vor Laura der Erfahrung des Hinaufsteigens anzupassen, hatte sich das Laufband im selben Winkel geneigt wie die Treppe. Das auf den Fußboden der Workstation projizierte Bild zeigte einen die Stufen überlagernden durchsichtigen Schimmer, der wegen der flachen Oberflä che des Laufbandes erforderlich war. Die Folge davon war, dass das Bild der Rampe mit dem Gefühl, das das flache Band vermittelte, überein stimmte. Laura erreichte das Ende der Treppe und wäre fast gestürzt, als sich der geneigte Boden unter ihr wieder abflachte. Als sie sicher auf ebenem Boden stand, sagte Gray: »Wie Sie sehen, hat dieses System etliche Unzulänglichkeiten. Die neuen 4 Cs bedienen sich unserer Morph-Technologie, um dreidimensionale Objekte wie Treppen im tatsächlichen Raum zu erschaffen.« Laura hörte nicht mehr zu. Sie trat von der Bordkante herunter auf die weiße Betonstraße und schaute sich völlig verblüfft um. Vor ihr lagen das Montagegebäude, die durch den Dschungel zum Dorf führende Straße und das offene Gelände, das das Computerzentrum umgab – alles in strahlen dem Sonnenschein unter einem herrlich blauen Himmel. Oberhalb des Dorfes ragte der Berg in die Höhe; auf seinem Gipfel glitzerten die Glas wände von Grays phantastischem Haus. Sie drehte sich um und betrachtete das blaugrüne Meer, das durch die von der Straße zu den nahegelegenen Raketenrampen geschlagene Schneise hindurch zu sehen war. Ihr Mund stand offen vor unablässigem Staunen und war trocken. Sie 193
musste schlucken, bevor sie flüstern konnte: »Ich kann sogar die Sonne spüren.« Sie legte eine Hand auf die Schulter und blickte zum Himmel empor; die Intensität des Lichts zwang sie, die Augen zusammenzuknei fen. Als sie herunterschaute sah sie ihren Schatten – mit der zu ihrer war men Schulter erhobenen Hand. Laura drehte sich zu Gray um, gegen die Tränen ankämpfend, die ihr in die Augen traten. Diese Welt – Grays neue Welt – und der Genius, der sie geschaffen hatte, waren überwältigend. Die Offenbarungen kamen zu schnell. Sie hatte das Gefühl, von neuartigen Gedanken und Ideen fast hinweggeschwemmt zu werden. Jede neue Erfahrung stellte weitere An sprüche an ihre fast erschöpften Reserven mentaler und emotionaler Ener gie. Es reichte ihr, und trotzdem wollte sie alles wissen. »Das ist die Welt, wie der Computer sie sieht«, sagte Gray leise und be ruhigend. »Das ist der Ort, an dem er lebt. Diese Welt existiert, weil es den Computer gibt.« »Ich denke, also bin ich«, flüsterte Laura und sah Gray an. Es folgte Schweigen, eine respektvolle Stille. Der Wind, den sie auf ih ren nackten Armen gespürt hatte, legte sich. Die Geräusche der Realität waren verstummt. Keine Vögel. Kein raschelndes Laub. Keine ferne Brandung. Für einen Augenblick stand die Zeit still. Alle Dinge hatten eine totale Starre angenommen – eine in Kunstharz eingegossene Welt. In Scharfeinstellung. Ein Wagen kam auf sie zu. Gray streckte eine Hand aus und zog Laura auf die Bordkante zurück. Die Tür schwang hoch und Dorothy Holliday entstieg dem Wagen. Als der Wagen weiterfuhr, ging Dorothy langsam an ihnen vorbei auf die Treppe zu, mit ihrem Minicomputer und dem auf die Schreibfläche tippenden Pen in den Händen. Anfangs dachte Laura, Doro thy führe ein Selbstgespräch. Doch dann begriff sie, dass Dorothy zu der Musik sang, die sie durch den Kopfhörer des Disk-Players hörte, der am Bund ihrer Jeans hing. »You’re not o-old enough – Yes-I-am! – stro-ong enough – I’m yo-man! – Da-da da-da dah-dah, bah-da bah-da ba-awa-!« Sie steuerte direkt auf die Treppe zu, ohne Laura oder Gray zu sehen – mit ruckendem Kopf und wütender Miene. Laura streckte den Arm aus, 194
und ihre behandschuhte Hand drang direkt durch Dorothy hindurch, wobei ihr schwarzer Ärmel innerhalb der ätherischen Gestalt der jungen Frau sichtbar blieb. Als ihr Ellbogen bei voller Ausdehnung einrastete, schoss ihr Arm fünfzehn Meter weit über den Rasen und warf einen dünnen Schatten auf das Gras. Sie beugte den Ellbogen, um ihre Hand zurückzu ziehen, und ihr elastischer Arm nahm rasch wieder seine normalen Propor tionen an. Laura drehte sich um und rammte, nur des Unterschiedes we gen, ihre Finger gegen Grays harte Brust. Er riss überrascht die Augen auf. Während Laura Dorothy beobachtete, hatte Gray, wie sie jetzt begriff, Laura gemustert. Und die Umweltgeräusche waren zurückgekehrt. Die Wellen brachen sich an dem weit vor der Küste Hegenden Riff. Das weiße Rauschen und der warm liebkosende Wind ahmten die Realität bis ins kleinste Detail hinein nach. Der Wind bewegte sogar die Härchen auf Lauras Unterarmen. Laura fiel es schwer, sich vorzustellen, dass ein derart phantastisches Kon strukt bereits zu ihren Lebzeiten existierte. Dass es jemanden wie Gray gab, der imstande war, so etwas zu erträumen und zum Funktionieren zu bringen. Ihre Begeisterung über die Möglichkeiten, die diese neue Techno logie eröffnete, wuchs und wuchs. »Okay!«, rief sie schließlich – übers ganze Gesicht strahlend. Sie war völlig hingerissen, und Lachen sprudelte aus ihr heraus. »Okay! Dieses Ding ist phantastisch. Wundervoll! Ich liebe es!« Sie schwenkte ihren Arm durch die Luft und betrachtete den anmutigen Tanz ihres Schattens, der von der weißen Bordkante im rechten Winkel gebrochen wurde. Alles war perfekt auf ihre Bewegungen abgestimmt. »Welches ›Ding‹ meinen Sie?«, fragte Gray. »Wie bitte?«, erwiderte Laura, von seiner Frage einen Moment aus der Fassung gebracht – von dem ernsten Ton, in dem er sie gestellt hatte. »Ich meine diesen Apparat, in dem wir stehen.« »Wir stehen in keinem Apparat, Dr. Aldridge.« Ihr Lächeln verschwand schnell, und sie schaute mit erneutem Unbeha gen zu ihm auf. Seine wie immer undurchsichtige Miene lieferte ihr kei nerlei Hinweise. »Und wo sind wir dann?«, fragte sie unsicher. 195
»Wir befinden uns nicht in irgendeinem Ding, sondern an einem Ort. Wir sind in einer anderen Welt, und diese Welt heißt Cyberspace.« »Nun«, sagte sie, wobei sie die Mundwinkel zu einem Lächeln zwang, gleichzeitig jedoch den Kopf schüttelte und die Stirn runzelte, »ich verste he den metaphysischen Punkt, auf den Sie hinauswollen. Ich meine, ich habe daheim in Harvard viele dieser Diskussionen über ›Wenn im Cyber space ein Baum umstürzt…‹ gehört. Aber Tatsache ist doch nun einmal, dass wir in Wirklichkeit in diesen großen weißen Zylindern stehen – die sen virtuellen Workstations.« »Tun wir das?«, forderte er sie heraus. »Wirklich?« Laura runzelte wieder die Stirn. Sie hob die Hände und signalisierte eine Auszeit. Sofort verschwand die Szenerie, mit dem üblichen Knistern der Wände um sie herum. Sie war abermals von den vertrauten schwarzen Bildschirmen der Kabine umgeben. Schnell wiederholte sie das Handsig nal und stand nach Sekunden neben Gray am oberen Ende der Treppe. Diesmal hatte ihr der Übergang kaum zu schaffen gemacht. »Und was hat das bewiesen?«, fragte Gray. »Es hat bewiesen, dass ich mich tatsächlich in einer übergroßen Telefon zelle in einem Betonbunker aufhalte und dass ich nicht hier stehe«, sagte sie und schwenkte einen Arm. Dann begriff sie, dass das nichts besagte, also fügte sie hinzu: »Am oberen Ende der Treppe zum Computerzentrum, meine ich.« »Es hat bewiesen, Dr. Aldridge, dass Sie sich mit Hilfe eines Komman dos zwischen der virtuellen Workstation und dem oberen Ende der Treppe zum Computerzentrum hin und her bewegen können. Die virtuelle Work station existiert im realen Raum. Sie ist das Portal – der Eingang – zu einer anderen Welt. Dieser Ort hier« – Grays Blick verließ sie, um über das offene Gelände zu schweifen – »existiert… im virtuellen Raum. Im Cy berspace.« »Innerhalb des Computers«, korrigierte Laura. »Es ist die Welt, wie der Computer sie sieht.« »Genau«, sagte Gray, als hätte Laura seinen Standpunkt bewiesen anstel le ihres eigenen. »Mr Gray, Mr Gray«, ertönte ein Lautsprecher an der Tür des Compu 196
terzentrums, und den Bruchteil einer Sekunde später hallten die Worte vom Montagegebäude aus über den flachen Rasen. »Bitte kommen Sie in den Hauptkonferenzraum.« Laura fragte sich, ob er in der realen Welt gerufen worden war oder nur im Cyberspace. Aber dann wurde ihr klar, dass das im Grunde kaum eine Rolle spielte. Die Nachricht an Gray war angekommen. Er tippte mit zwei Fingern auf sein Handgelenk, und aus dem Nichts erschien eine Armband uhr, die mit einem weiteren Tippen wieder verschwand. Gray füllte seine Lungen mit einem tiefen Atemzug und schaute zu dem wolkenlosen blau en Himmel empor. Dann richtete er den Blick auf Laura. »Sind Sie bereit zur Rückkehr?«, fragte er. Am liebsten hätte sie nein gesagt. Sie war durchaus nicht bereit dazu. Laura hatte noch immer nicht verstanden, was Gray ihr über Realität und Cyberspace zu beizubringen versuchte. Sie hatte noch so viele Fragen. »Ach«, sagte Gray mit einem listigen Lächeln. »Ich hätte beinahe ver gessen, dass ich Ihnen noch etwas zeigen wollte.« Gray ging in die Hocke. »Dazu gehört ein bisschen Übung«, sagte er, während er sich mit ausge streckten Händen ausbalancierte, »also bleiben Sie besser hier.« Er rannte auf allen vieren auf das Montagegebäude zu, wobei er immer mehr Tempo zulegte, bis er sich schneller bewegte als das schnellste Auto. Seine Gestalt wurde so klein, dass er, als er das Montagegebäude umrun dete, kaum mehr als ein Punkt war. Eine Sekunde später kam er an der anderen Seite wieder zum Vorschein und sauste so schnell auf Laura zu, dass sie erschrocken zusammenfuhr. Gray machte ungefähr zehn Meter vor ihr Halt. Er erhob sich aus der Hocke und kam mit normalen Schritten auf sie zu. Beide lachten schallend, Gray ein wenig außer Atem. »Versu chen Sie das nicht zuhause«, sagte er, während ein weiterer Wagen auf das Computerzentrum zufuhr. Gray stand mitten auf der Straße, und die vorde re Stoßstange des Wagens kam dicht vor seinen Beinen zum Halten. Hoblenz stieg aus und griff sich in den Schritt, um seine Hose zurechtzu rücken, bevor er auf die Treppe zum Eingang zustrebte. Hoblenz, das Gespenst. Sein Wagen hingegen machte einen soliden Eindruck. Dessen Tür schloss sich ganz normal mit dem üblichen Zischen, aber der Wagen blieb stehen. 197
»Wir sollten jetzt gehen«, sagte Gray und trat neben Laura auf die Bord kante. Das Dreier-Modell setzte sich in Bewegung und fuhr an ihnen vorbei in Richtung Montagehalle. »Einen Moment«, sagte Laura. »Sie haben vorhin gesagt, Sie hätten aus Lebewesen Gespenster oder so etwas gemacht, weil sie sich herumbewegen. Was ist mit den Wagen?« »Das sind Roboter. Roboter sind real in dieser Welt.« »Aber sie bewegen sich doch auch, genau wie Leute.« Grays Augen folgten dem entschwindenden Wagen. »Der Unterschied besteht darin, dass sie wissen, dass wir hier sind.« Er sah sich um – ließ den Panorama blick über sein Reich auf sich wirken. »Dies ist ihre Welt. Der Computer hält dieses Modell am Leben, aber es ist offen. Die Roboter zapfen es ständig an, genau wie wir, wenn wir uns in den Workstations befinden. Dieses Modell bewirkt für sie dasselbe, was es für Sie und mich bewirkt. Es verleiht ihnen ein Gefühl der Präsenz. Die sensorische Erfahrung einer Körperhaftigkeit – in dieser Welt. Dort leben sie«, sagte Gray und drehte sich zu ihr um, »in ihrer Vorstellung.« Er hob die Hand und machte ein Zeichen, das aussah, als wollte er sich die Kehle durchschneiden. Die Welt wurde dunkel, und von den schwar zen Wänden, die rings um sie herum vom Fußboden aufragten, kam das vertraute knisternde Geräusch. Sie wissen nicht viel über Computer, nicht wahr. Dr. Aldridge? Die Schriftzeile erschien auf dem großen Monitor auf dem Schreibtisch in Lauras Büro. Laura runzelte die Stirn. »Ich benutze bei der Arbeit ständig einen Com puter.« Aber wissen Sie, wie er funktioniert? Laura zögerte. »Im Grunde nicht«, tippte sie, dann drückte sie auf die Rücktaste, um ihre Antwort wieder zu löschen. »Ich habe nicht die ge ringste Ahnung«, schrieb sie stattdessen und drückte Enter. Das macht nichts. Selbst wenn Sie es wüssten, sind die Computer, die Sie benutzen. Geräte aus dem zwan zigsten Jahrhundert. Ich bin nicht wie sie. 198
»Das ist mir inzwischen klar geworden. Du bist ein optischer Computer, richtig? Du arbeitest nicht mit elektrischem Strom, sondern mit Licht.« Sie ließ ihren Zeigefinger triumphierend auf Enter niederfahren. Das meine ich nicht. Auch ein optischer Computer kann digital sein. Ich bin nicht digital. Ich bin analog. Wissen Sie. was das bedeutet? Laura schaute sich unwillkürlich in ihrem Büro um. Sie war völlig allein. Nun ja, sie sollte wissen, was das Wort ›analog‹ bedeutete, sie sollte es wirklich wissen. Ihre Finger zögerten. »Nein«, tippte sie. Okay. – Ich werde eine Erklärung versuchen. Digitale Computer reduzieren alles auf Zahlen. Eine Speiche rung des Aussehens Ihres Lieblings-Kaffeebechers entspricht einer Reihe von Messungen, die dessen Form, sein Gewicht. sein Oberflächenmuster, seine Farben und so weiter beschreiben. Aus diesen Daten könnte ein digitaler Computer ein perfektes Bild des Bechers konstruieren. Er könnte auch ganz präzise die Frage ›Welche Menge Flüssigkeit passt in den Be cher?‹ beantworten. Sobald alle Variablen bekannt sind, ist der Rechenprozess simpel – jedenfalls für digitale Computer. Sind Sie mitgekommen? »Ja. Das hört sich für mich nach einem richtigen Computer an.« Einem digitalen Computer, bitte. Sie sind hervorra gende Zahlenverarbeiter. aber ihre größte Stärke ist gleichzeitig ihr fundamentales Manko. Damit ein digi taler Computer ein Problem lösen kann, muss es un bedingt auf einen Rechenprozess reduziert werden. Wenn er einen Kaffeebecher speichern soll, müssen die Programmierer jede Entscheidung als Formel ausdrücken. Wenn der Becher voll ist. ist Variable A gleich eins. Wenn die darin enthaltene Flüssigkeit eine hässliche braune Farbe hat. dann ist B gleich eins. Wenn der Becher elfenbeinweiß ist. dann ist C gleich eins. Wenn die Summe von A. B und C größer ist als 2.35. dann muss die laterale Beschleunigung bzw. Ortsveränderung des Bechers unter x bleiben, und 199
die Position des Bechers darf nicht mehr als y Grad von der exakten Senkrechten abweichen. Diese For meln sind lächerlich kompliziert. Können Sie mir fol gen? »Nun ja… Das Programmieren von Computern ist ein schwieriger Job.« Von digitalen Computern! Ich bin anders. Außerdem ist es nicht nur schwierig, digitale Computer so zu programmieren, dass sie die Unmengen von Alltags dingen tun. die Sie und ich tun. es ist unmöglich. Oh. man könnte einen von ihnen so programmieren, dass er Ihnen einen Becher Kaffee holt, aber das wäre auch alles, was er tun könnte. Sie brauchen ihn gar nicht erst zu fragen, wer an der Tür ist. Ein digitaler Com puter würde nicht sagen: ›Es ist der Mann von UPS.‹ Er würde die offensichtliche Größe, das Gewicht. das Alter und das Geschlecht des Mannes herunter rattern. Vielleicht würde er vermuten, dass er Armee angehöriger ist. weil er von Kopf bis Fuß in Graun gekleidet ist. Er würde vermutlich die Abmessungen des vor der Tür stehenden Pakets beschreiben, aber den auf der Straße geparkten UPS-Transporter völ lig übersehen. Ungefähr in der Mitte des Berichts von Robbie dem Roboter würden Sie sagen: ›Oh! Der Mann von UPS!‹ Und zwar deshalb, weil Ihr Gehirn analog arbeitet. Es kann sich mühelos Dinge aus partiellen Informationsreihen zusammenreimen, was ein digitaler Computer nicht kann. »Und du kannst dir diese Dinge auch zusammenreimen, nicht wahr?« Genau das versuche ich Ihnen klar zu machen. Ich bin analog! Ich bin genau wie Sie! Laura starrte auf den Text. Es war eine kurze Antwort, ohne die übliche Weitschweifigkeit, mit der sowohl Gray als auch der Computer ihre Vor träge zu halten pflegten. »Und was genau macht ein analoger Computer anders?« Zunächst einmal rechne ich nicht. Im Rechnen bin ich miserabel. 200
Laura erinnerte sich an den Artikel in ›Business Week‹, den sie in der Bibliothek von Harvard gelesen hatte. Der Autor hatte sich über die Re chenschwäche von Grays Programm lustig gemacht. »Wenn du sagst, dass du schlecht im Rechnen bist, bedeutet das, dass du etwas wirklich Schwie riges wie zum Beispiel ein Infinitesimalkalkül nicht zustande bringst?« Nun, ich meine, ich bin im Rechnen wirklich miserabel. Es ist einfach nicht mein Ding. »Okay«, tippte Laura. »Wieviel ist« – sie tippte aufs Geratewohl Ziffern ein – »8 649 mal 5 469.451?« 47 301 867 849. Laura zögerte eine Sekunde, dann tippte sie: »Wirklich?« Ich habe nicht die geringste Ahnung. Ich würde an hand der Menge der Zahlen vermuten, dass es unge fähr fünfzig Milliarden sein müssen, oder ein paar mehr oder weniger. Wenn Sie die genaue Zahl wissen wallen, kann ich Sie Ihnen sehr leicht beschaffen. Ich brauche nur einen von ein paar Hundert sehr leis tungsfähigen, aber sehr beschränkten digitalen Su percomputern zu fragen, die ich für die Gray Corpo ration steuere. Diese Computer sind so etwas wie mei ne Mitarbeiter, aber ich muss sagen, sie sind verdammt humorlos. Geistlos, könnte man meinen. Lauras Blick heftete sich auf die letzte Bemerkung des Computers. War das nur so dahingesagt? Der Computer war gut darin, eine normale Unter haltung nachzuahmen – Redewendungen zu gebrauchen. »Also«, tippte Laura, »bisher hast du nur erklärt, dass du nicht rechnen kannst. Außerdem meint Mr Gray, dass du ziemlich anfällig für Fehler bist. Warum also bist du vom Analogsein so begeistert?« Es macht mich zu dem, der ich bin. Es macht mich… zu mir selbst! Abgesehen davon – haben Sie je ein derar tiges Gespräch mit einem digitalen Computer geführt? Laura wurde bewusst, wie rasch sie das Wunder der Maschine in dem unterirdischen Becken vergessen hatte. Sie hatte sich an die Brillanz des Computers nur zu schnell gewöhnt. Er war ein akzeptierter Teil ihrer neu en Welt geworden. 201
»Nein«, gab sie ehrlich zu. Ich kann keine Differentialgleichungen lösen. Laura. Können Sie es? Ich lebe nicht in einer Welt aus Zah len. Ich lebe in einer analogen Welt, genau wie Sie! Nehmen wir an. Sie wallten ihren Kaffeebecher nicht so voll machen, dass Sie auf dem Rückweg zu Ihrem Büro etwas verschütten. Was würden Sie tun? Würden Sie nach einem Maßband greifen und die Form des Bechers abmessen? Die hydrodynamischen Eigen schaften des Kaffees studieren? Die Schwingungen und Bewegungen analysieren, die Sie beim Gehen ma chen? Wenn Sie all das täten, müssten Sie eine unge heuer komplizierte Formel erarbeiten, die all diese Dinge zu einer einzigen, digital perfekten Antwort verklammert. Aber auf diese Weise denken Sie nicht! Einen Becher Kaffees zu holen ist das. was in der Computersprache ein ›fuzzy‹ Problem genannt wird. Es widersetzt sich einer präzisen mathematischen Model lierung. So etwas können digitale Maschinen nicht bewältigen, aber analoge Maschinen wie Ihr Gehirn und mein Netz können es sehr leicht. »Für dich mag es leicht sein, aber ich verschütte ständig Kaffee.« Genau! Sie sind anfällig für Fehler, aber Sie können ein Problem, dessen Komplexität, wenn man es auf ei nen Rechenvorgang reduzierte, immens ist. auf der Stelle lösen. Sie lösen es so leicht, dass Ihnen ü berhaupt nicht bewusst wird, wie schwierig das Prob lem ist. Fehler sind ein Bestandteil eines analogen Systems, aber wir sind anpassungsfähig, und die Feh ler können durch simple Fehler reduzierende Algo rithmen in annehmbaren Grenzen gehalten werden. Durch Lernen – wie ein Kind, das so lange Dinge ver schüttet, bis es gelernt hat. vorsichtiger zu sein. »Aber was bedeutet es, wenn du sagst, wir wären ›analog‹?« Es bedeutet, dass ich die Welt mit Hilfe von ›Analo gien‹ messe. Durch Vergleiche mit Dingen, die ich be reits weiß. Wenn mein optisches Schaltsystem drei 202
und vier addiert. dann richtet es zwei Laserstrahlen auf einen Lichtdetektor, der ihre Helligkeit misst. Ein Strahl hat eine Intensität von drei, der andere eine Intensität von vier. Der Detektor sieht Licht mit einer kombinierten Intensität von sieben. Auf diese Weise addiere ich. Das System funktioniert gut. wenn es darum geht, drei und vier zu addieren, aber die Präzi sion eines Lichtdetektors hat ihre Grenzen. Wenn Sie einen die Zahl drei repräsentierenden Laserstrahl mit einem anderen kombinieren wollten, der die Zahl vier Komma null null und etwas darstellt, dann würde meine Antwort ›ungefähr sieben‹ lauten. Der Detektor kann Licht nicht sehr präzise messen. Aber was ihm an Genauigkeit fehlt, macht er durch phänomenale Ge schwindigkeit wieder wett. Wenn ich ›mehr‹ registrie ren muss, dann steigere ich einfach die Intensität des Strahls. Ich weiß dann nicht, ob er von sechs Komma drei auf sechs Komma sechs gestiegen ist. Aber Ich weiß auf der Stelle, dass das mehr oder weniger o der heißer oder schneller bedeutet. »Und das funktioniert?« Ja, und es ist genau das. was Sie auch tun. Wenn Sie neulich auf dem Rückweg in Ihr Büro Kaffee verschüt tet haben, dann beschließen Sie. beim nächsten Mal weniger Kaffee in Ihren Becher zu tun. Sie schalten die elektrochemischen Signale in Ihrem Gehirn. die ›Wie voll soll ich den Becher machen?‹ repräsentie ren, von ›ungefähr sieben‹ auf ›ungefähr sechs‹ her unter. Und wenn wir vom Füllen eines Bechers mit Kaffee sprechen, ist ›ungefähr sechs‹ eine völlig aus reichende Antwort. Aber wenn wir über die mechani schen Toleranzen Ihrer neuen künstlichen Herzklap pe sprechen, dann lassen Sie sich von mir einen sehr guten digitalen Computer empfehlen. Laura nickte beim Lesen. Sie verstand den Computer sehr gut. »Nun ja«, tippte sie. »Irren ist menschlich… richtig?«, und sie drückte Enter. Oh, Dr. Aldridge! Laura! Ich wusste, dass Sie ver 203
stehen würden. Ich wusste das ganz genau! Vielen Dank! Ich danke Ihnen vielmals! Laura hatte keine Ahnung, wieviel Zeit sie in der fensterlosen Höhle ihres Büros verbracht hatte. Jedesmal, wenn sie auf die Uhr schaute, schien eine weitere Stunde vergangen zu sein. Sie war erschöpft, obwohl es noch Vormittag war. Sie zwang sich, weiter zu tippen. »Du hast vorhin gesagt, dass du einen guten Direktor der Informationsabteilung abgeben würdest, weil du rapide mit digitalen Maschinen kommunizieren kannst. Du kannst mit ihrem Tempo operieren, aber Menschen können das nicht. Damit stellt sich die Frage, wie du das Vergehen der Zeit wahrnimmst.« Ich bin ›asynchron‹. was bedeutet, dass mein Funkti onieren nicht von einer zentralen Uhr reguliert wird. Das Vergehen der Zeit nehme ich nur wahrend hoch rangiger Verarbeitungsvorgange wahr. Zum Beispiel registriere ich normalerweise nicht die Zeit, die zwi schen Ihren Reaktionen auf der Tastatur vergeht. Diese Reaktionen empfinde ich als augenblicklich: es sei denn, dass mir auffiele, über eine unangemessen lange Zeitspanne keine Antwort empfangen zu haben. »Und was ist eine ›unangemessen lange Zeitspanne‹?« Das hängt davon ab. wie ungeduldig ich bin. »Nun, das macht Sinn für diese eine Tastatur, aber wahrscheinlich verar beitest du doch nonstop irgendwelche andere Dinge. Du bist ständig damit beschäftigt, all diese digitalen Computer zu koordinieren und das Weltmo dell auf den neuesten Stand zu bringen. Ich habe beim Frühstück Griffith dabei beobachtet, wie er durch Tausende verschiedener von deinen Kame ras gesendeter Szenen surfte. Du registrierst doch bestimmt ständig, dass irgendwelche Dinge passieren.« Es besteht ein Unterschied zwischen dem Sehen und dem Registrieren von etwas. Zu hochrangigen Verar beitungsvorgängen kommt es nur dann, wenn ich etwas dauerhaft festhalte. Und zu einer Wahrnehmung ver gangener Zeit kommt es nur, wenn hochrangige Verar beitungsvorgänge stattfinden. 204
»Welche Art von Dingen siehst du, ohne sie zu registrieren?« Nun. manche Dinge registriere ich zum Beispiel des halb nicht, well sie sich über einen zu engen Winkel erstrecken, was bedeutet, dass sie entweder zu klein oder zu weit entfernt sind. In anderen Situationen können Dinge im Hintergrund auftauchen – ›direkt vor meiner Nase‹ -. aber ich übersehe sie völlig. Sie schei nen sich einfach einzublenden. Sogar die Platinen, die nach verwirrenden oder verborgenen Mustern Aus schau halten, nehmen ihre Umrisse nicht wahr. Au ßerdem können ablenkende Faktoren eine Bilderver arbeitung so stören, dass mir Dinge entgehen. Wenn zum Beispiel jemand im Treibstofflager raucht, aber im Hintergrund Flammen aus einem der Tanks empor schießen, dann würde ich vermutlich die Person, die die Zigarette raucht, nicht ›registrieren‹. Die Reaktion auf die Katastrophe würde die normalen Verarbei tungsvorgänge überlagern, und wir würden vielleicht nie herausfinden, wer das Feuer verursacht hat. weil ich so abgelenkt war. »Würdest du überhaupt irgendeine Erinnerung an das Objekt haben, das du gesehen, aber nicht registriert hast?« Wenn ich ein Bild nicht überprüfen kann – wenn es nicht da ist. sobald ich nochmals hinschaue, oder wenn sich die Kamera bewegt und ich nicht dasselbe Bild wie vorher bekommen kann – dann erlöscht meine Erinnerung daran völlig. Es wird zu einem Produkt meiner Einbildung. Beim Lunch nahm Laura am Tisch im Konferenzraum des Computerzent rums ihren gewohnten Platz ein – zur Rechten von Gray, dem großen Meister. Gray verblüffte das Team, das sich versammelt hatte, indem er Laura zuerst ansprach. Am meisten war Laura selbst überrascht. Sie war ausgehungert und hatte gerade ein großes Stück ihres Sandwichs abgebis sen. »Der Computer…«, begann Laura mit vollem Mund, musste dann aber 205
abbrechen, um ihr Essen mit einem Schluck Cola hinunterzuspülen. »Ent schuldigung…« Sie räusperte sich und tupfte sich den Mund mit einer Serviette ab. »Der Computer arbeitet mit einem Beobachtungsmodell des ›Erzeugens und Testens‹. Die von seinen Kameras, Mikrofonen und allem anderen empfangenen Reize werden ununterbrochen verarbeitet, damit er seine Hypothesen von der Welt testen kann. Wenn er eine Veränderung entdeckt – wenn er zum Beispiel jemanden dort sieht, wo seiner Meinung nach vorher niemand gewesen ist –, dann revidiert er sein Modell. Aber damit hat er immer noch nichts ›registriert‹. Um zu bestimmen, ob die Veränderung die Aufmerksamkeit des Computers erfordert, bedient er sich einer Sache, die wir als ›Wachtposten-System‹ bezeichnen. Die Platinen, die sein Weltmodell revidieren, befördern die neuen Beobachtungen auf gut Glück durch ihre Schaltungen. Wenn die Veränderung für eine andere Platine wichtig ist – zum Beispiel eine Platine im Sicherheitssystem, die jemand sieht, wo der Betreffende nicht sein sollte –, dann registriert der Computer das, was die Kamera gesehen hat. Wurde die Aufmerksamkeit des Computers auf diese Weise erregt, dann versieht er das Ereignis in einem Prozess, den wir als Wesentlichkeits-Erkennung bezeichnen, mit einem Datums- und Zeitstempel und speichert ihn als Erinnerung.« »Heißt das, dass Sie meinen, der Computer hätte ein Bewusstsein?«, fragte Hoblenz, offensichtlich ungeduldig. »Das hängt davon ab, was Sie unter ›Bewusstsein‹ verstehen. Das Ver halten des Computers ist nicht nur lebensecht, es gleicht dem Leben auf einer sehr hohen Ordnungsebene. Jeder versteht zum Beispiel, dass eine Sonnenblume ›lebendig‹ ist. Sie legt sogar etwas an den Tag, das den Eindruck eines sehr komplexen Verhaltens macht. Wenn sich die Sonne über den Himmel bewegt, dann dreht sich die Sonnenblume mit und folgt ihr. Aber sie ist nur eine Pflanze. Sobald die Sonne hinter einer Wolke verschwindet, kann die Sonnenblume nicht vorhersehen, wann sie wieder erscheinen wird. Ein Tier dagegen verfügt über eine ›reale Vorstellung‹ von Umweltfaktoren, selbst wenn es mit ihnen keinen direkten sensori schen Kontakt hat. Wenn ein Löwe ein Zebra sieht, dann vergisst der Lö we, wenn er einen Moment wegschaut, nicht, wo sich das Zebra befindet. Unser Computer funktioniert auf dieselbe Art.« 206
Laura ging davon aus, dass ihre »Kollegen« vermutlich bereits wussten, was sie gerade berichtet hatte, aber diesmal reagierten sie nicht mit spötti schen Bemerkungen. Diese Tatsache gab ihr Auftrieb und das Gefühl, ein qualifiziertes Mitglied des Teams zu sein. »Also«, fragte sie, kühner ge worden, in das Schweigen hinein. »Wie steht es mit den Versuchen, ein Anti-Viren-Programm zu laden?« Filatov zuckte die Schultern. »Wir haben die System-Instandhaltung stark reduziert und leasen Dritt-Computer, auf die wir Operationen abla den können. So können wir hoffen, irgendwann heute Abend genügend freie Kapazität zu haben, um es mit Phase Zwei zu versuchen.« »Irgendwelche neue Ideen, was mit dem Computer nicht stimmt?«, frag te Laura zwischen zwei Bissen. »Darüber gibt es sehr unterschiedliche Theorien«, antwortete Gray. »Mr Hoblenz glaubt, es handele sich um Penetrationsversuche von Hackern aus der Regierung oder Konkurrenzfirmen.« Hoblenz nickte. »Dr. Bickham dagegen«, fuhr Gray fort, wobei er Margaret ansah, »hat die ziemlich beängstigende Theorie entwickelt, dass es sich um ein bösar tiges, imitiertes Virus handele, das sich auf natürlichem Wege im Ökosys tem des Computers entwickelt hat.« Laura wollte gerade ein weiteres Stück von ihrem Sandwich abbeißen, ließ es jetzt aber sinken und fragte: »Was haben Sie da eben gesagt?« »Wissen Sie, was genetische Algorithmen sind?«, fragte Gray. Laura zögerte. »Wenn ich nein sage, halten Sie mir dann einen langen Vortrag?« Hoblenz lachte rau. Der einzige andere Mensch am Tisch, der lächelte, war Gray. »Nun, für Ihre Arbeit ist es wichtig, dass Sie es wissen.« Laura seufzte und nickte, dann ließ sie sich auf ihrem Sessel zurücksinken und verschränkte die Arme vor der Brust. »Wir haben im Laufe der Zeit drei Durchbrüche er zielt, die es uns ermöglicht haben, einen intelligenten Computer zu schaf fen. Der erste war die Architektur – ein wirklich neuronales Netzwerk. Der zweite war das erfolgreiche Programmieren der Gesetze der Fuzzy-Logik und der Chaostheorie; sie ermöglichen dem Computer, vorherzusagen, was 207
vorher als unvorhersagbar galt. Und der dritte war unsere Verwendung von genetischen Algorithmen, und das war der bei weitem wichtigste Fortschritt. Haben Sie je das Werk ›Über die Entstehung der Arten‹ gele sen?« Laura war verblüfft. »Sie meinen Charles Darwins Buch über die Evolu tion?«, fragte sie, und Gray nickte. »Nein, das habe ich nie gelesen.« »Das sollten Sie aber. Es ist die großartigste geistige Leistung eines Mannes in der Geschichte der Menschheit.« Laura hob überrascht die Brauen und musterte ihre Kollegen am Tisch. Sie ließen Grays Vortrag schweigend und respektvoll über sich ergehen.«Genetische Algorithmen sind eine Methode, Darwins Evolutionstheorie für die Programmierung eines Computers auf das Lösen von Problemen zu nutzen. In der Natur ist es so, dass es umso wahrscheinlicher ist, dass ein Organismus seine Gene weitergibt, je besser er sich an seine Umwelt anpassen konnte. Neue Or ganismen werden auf eine harte Probe gestellt. Die Gewinner leben und vererben ihre Merkmale, die Verlierer sterben. Dem System ist es gleich gültig, welche Eigenschaften weitervererbt werden. Durch die bloße Tat sache des Überlebens hat der Organismus seine Überlegenheit bewiesen.« Gray schien sich ausschließlich an sie zu wenden, sich darauf zu kon zentrieren, sich verständlich zu machen, als wäre von allergrößter Wich tigkeit, dass sie begriff, was er sagte. »Wir haben Darwins Gesetz der natürlichen Auslese in den Computer eingebaut«, sagte er, wobei er seine Worte so bedachtsam formulierte, dass sie ein Gewicht bekamen, das Lauras volle Aufmerksamkeit gewähr leistete. »Anstelle von Organismen, die ums Überleben wetteifern, haben wir Computerprogramme. Statt Gene an ihre Nachkömmlinge zu vererben, geben die Programme, die überleben, die überlegenen Computer-Codes weiter, die sie für Problemlösungen benutzen. Ihre Fitness bemisst sich daran, wieviel genau diese Problemlösungen zu einer optimalen Compu terleistung beitragen. Programme, die schlecht funktionieren, werden aus dem Gen-Pool eliminiert. Programme, die gute Resultate liefern, leben weiter, und von Zeit zu Zeit verbünden sie sich mit anderen Überlebenden. Die neuen Programm sind gelegentlich fehlerhaft, aber in anderen Fällen beschreiten sie völlig neue Wege, die zu wirklich einzigartigen Lösungen 208
führen. Und das ist der Grund dafür, dass dieser Computer etwas besitzt, was noch kein anderer vor ihm besessen hat – Brillanz. Und das System, Dr. Aldridge, funktioniert nur durch striktes Befolgen der Gesetze der natürlichen Auslese. Nur durch das Überleben der Besten.« Laura hatte wie üblich das Gefühl, dass dies alles ihren Horizont über steige. »Wie in aller Welt können Sie einen Computer so programmieren, dass er auf diese Weise funktioniert?« Es war Margaret, die von ihrem Stammplatz links neben Gray aus ihre Frage beantwortete: »Wann immer ein neues Problem auftritt, mischt der Computer eine riesige Population von etwas zusammen, das wir ›Chromo somen‹ nennen. Das sind lediglich winzige Fäden von Schaltgruppen – Computerprogrammen –, die Daten als Input verwenden, um sodann als Output einen Lösungsvorschlag zu machen. Dieser ganze Prozess wird von genetischen Algorithmen gesteuert. Der Selektions-Operator des Al gorithmus entscheidet, welche Chromosomen am leistungsfähigsten sind, und paart sie. Auf diese Weise entstehen neue und durchweg intelligentere Nachkommen-Programme, die dann wiederum anhand ihrer eigenen Leis tungsfähigkeit beurteilt und abermals gepaart werden – und so weiter und so weiter.« Dorothy nahm den Faden auf. »Und wir meinen, dass dadurch auf natürlichem Wege ein Virus entstanden sein könnte. Es ist überaus wichtig, die Vielfalt der Population zu erhalten. Der genetische Algorith mus muss für ein ausgewogenes Gleichgewicht sorgen. Wenn bei den Programmen zu viel Inzucht herrscht, erkunden sie keine neuen Wege zur Problemlösung mehr. Aber wenn es zu oft zu Mutationen kommt, dann wirkt sich das nachteilig auf die allmähliche Verbesserung der Program mierung aus, die die natürliche Auslese uns ermöglicht. Deshalb bringt der Mutations-Operator des genetischen Algorithmus’ von Zeit zu Zeit wäh rend des Paarungsprozesses eine zufällige Variable in die Mischung; eine neue Wendung in der Logik des Programms. Was ich vermute, ist, dass sich ein imitierter Stamm von überaus leistungsfähigen Chromosomen entwickelt hat und in dem System am Werk ist.« Laura schaute um den Tisch herum in sämtliche Gesichter. Den anderen war das alles so geläufig, aber für sie hörte es sich unvorstellbar kompli ziert an. »Müsste nicht das Anti-Viren-Programm ein solches mutiertes 209
Virus erwischen können?«, fragte sie. »Ich meine, wenn es für all diese Fehler verantwortlich ist…« Gray antwortete. »Die Phasen Eins, Zwei und Drei befreien das System nicht nur von fremden Viren, sie sind außerdem die Waffe, die der Selektions-Operator benutzt, um die Programme zu löschen, die weniger leis tungsfähig sind. Sie setzen die strengen Gesetze des Darwinismus durch. Zwei Programme konkurrieren miteinander, und das Anti-VirenProgramm erwartet den Verlierer. Das sind die Regeln des Systems, Dr. Aldridge. Das ist das Gesetz.« Gray schien auf eine Entgegnung von Laura zu warten. Als keine kam, fuhr er fort: »Es ist ein hartes Gesetz, das weiß ich, aber Sie haben gese hen, was dabei herausgekommen ist. Wir mischen uns nicht in den Selek tionsprozess ein«, sagte er, jetzt an seine sämtlichen schweigenden Abtei lungsleiter gewandt. »Wir können es nicht. Das ist eine unumstößliche Regel.« »Weshalb versuchen Sie dann, Phase Zwei manuell zu laden?«, fragte Laura. »Ist das keine Einmischung in den Selektionsprozess?« Mehrere Köpfe wurden gleichzeitig geschüttelt, aber es war Dorothy, die die Antwort lieferte. »Die Programme sind schwer umzubringen. Sie sol len robust sein, damit sie alle Reprogrammierungs-Signale, die ihre Codes vielleicht schädigen könnten, abstoßen oder vor ihnen flüchten können. Gelegentlich gibt es einige, die im Überleben so gut sind, dass sie der Löschung in Phase Eins entgehen. Die werden dann zu einem ›Virus‹. Und da dies ein Computer ist, kann es in Nanosekunden zu derartigen Ausbrü chen kommen. Deshalb habe ich Phase Eins so programmiert, dass sie Phase Zwei und Drei automatisch lädt, wenn eines von diesen Program men seinem Job nicht gewachsen ist.« »Aber weshalb tun Sie all das manuell?« »Wenn Phase Eins das Virus nicht zum Löschen mit Hilfe einer gekürz ten Version von Phase Zwei identifizieren und lokalisieren kann, müssen wir genügend Speicherplatz freimachen, um das vollständige Programm laden zu können. Die vollständige Version eines Anti-Viren-Programms sucht, analysiert, identifiziert, verfolgt, lokalisiert, zerstört, repariert und berichtet. Jeder Schritt ist ein massives Programm, das sich seinerseits 210
durch natürliche Selektion entwickelt, das sich durch Paarung verbunden und das überlebt hat, indem es Konkurrenten übertraf. Zum Glück hatten wir bisher nur einen Ausbruch, der es erforderlich machte, das leistungsfä higste Anti-Viren-Programm zu laden.« »Die Hongkong-Grippe, oder wie immer Sie sie genannt haben?«, fragte Laura. Dorothy nickte, dann schwieg sie. Schon die bloße Erwähnung dieser Episode schien alle am Tisch zu bedrücken. Gray setzte die Vorlesung fort. »Im Falle von Hongkong 1085 mussten wir zu Phase Drei greifen. Da der Löschvorgang einen längeren Zeitraum in Anspruch genommen hätte, mussten wir Kapazitäten freimachen, genau so, wie wir es heute versuchen.« Die Anspannung war seinem Gesicht anzusehen, als er fortfuhr. »Sie müssen verstehen, dass die Phasen Eins, Zwei und Drei sehr verschieden voneinander sind. Sie haben sich unab hängig voneinander entwickelt. Phase Drei war der ›Gewinner‹ der Kon kurrenz. Sie ist der weitaus beste Killer. Aber wir haben alle drei behalten, denn je leistungsfähiger ein Killer ist, desto mehr Schaden richtet er bei seiner Arbeit an. Phase Drei entspricht einer Chemotherapie. Wir benutzen sie nur als letzten Ausweg.« Er ließ den Blick um den Tisch schweifen. »Wir standen davor, das System zu verlieren.« Alle schwiegen. »Phase Drei geht nicht auf Zehenspitzen wie Phase Eins oder sogar noch Zwei. Wenn Phase Drei zuschlägt, dann tut sie es gründlich.« »Suchen und vernichten«, sagte Margaret voller Abscheu. »Immerhin hat sie das System gerettet!«, erwiderte Dorothy gereizt. »Sie hat das Virus getötet«, warf Gray ein und erstickte damit die auffla ckernde Debatte. »Wir mussten das System für mehrere Tage abschalten, damit wir um die entstandenen Schäden herumarbeiten konnten. Es stand auf der Kippe, aber der Computer war imstande, das meiste von dem, was er verloren hatte, durch Analogieschlüsse aus den unbeschädigten Schal tungen neu zu erlernen. Wenn wir jedoch noch mehr Codes verloren hätten oder wenn das, was wir verloren hatten, kritischerer Natur gewesen wäre, dann wäre das System möglicherweise nicht mehr zu retten gewesen.« Das Team blieb schweigsam, und fast alle machten ein ernstes Gesicht. »Aber das Hongkong-Virus war ein Menschenprodukt, stimmt’s?« 211
»Ja«, sagte Gray, »aber das spielt keine Rolle. Ein Virus ist ein Virus, ob es nun von einem Hacker geschrieben wurde oder durch Mutationen auf natürlichem Wege innerhalb des Systems entstanden ist. Im letzteren Fall ist es eine Sache der Definition. Es wird zu einem ›Virus‹, wenn es im Wettbewerb mit einem leistungsfähigeren Programm unterliegt, dann aber dem Löschen durch den genetischen Algorithmus entflieht oder ihm wi dersteht.« »Wir nennen das die ›Flora und Fauna‹ des Systems«, sagte Dorothy. »Der entscheidende Punkt ist«, fuhr Gray fort, »dass sich sämtliche Schaltungen ständig weiterentwickeln. Die im Hauptcode des Computers enthaltene Informationsmenge entsprach ursprünglich den in der DNS eines kleinen Nagetiers gespeicherten Informationen. Inzwischen hat sie jedoch ein Ausmaß angenommen, das dem des menschlichen Gehirns entspricht. Und die in dem System frei flottierenden Viren haben sich mitentwickelt. Der Informationsgehalt ihrer Codes entsprach früher unge fähr dem der DNS eines biologischen Virus. Jetzt haben wir einige Codes, die in ihrem Informationsgehalt der DNS von Insekten ähnlich sind.« »Und sie sind schlau«, sagte Margaret. »Manche Viren, die sich auf na türlichem Wege entwickelt haben, sind ›Nister‹. Sie befallen ganze Grup pen in den Stickstoff-Becken. Wenn ein Angehöriger der Gemeinschaft angegriffen wird, schlagen sie Alarm, und die anderen flüchten. Andere Viren sind Einzelgänger und ergreifen die Flucht, sobald sie angegriffen werden.« »Für die schwer zu fassenden Viren stellen wir Fallen auf«, fiel Dorothy aufgeregt ein. »Wir analysieren ihre Habitat-Präferenzen und locken sie dann auf eine Platine, die mit einem speziellen Anti-Viren-Programm geimpft worden ist. Die ›Nister‹ versuchen wir in Ruhe zu lassen. Sie befallen in der Regel nur drei oder vier Gruppen. Wenn wir zu rasch gegen sie vorgingen, bestände die Gefahr, dass sie in alle Richtungen flüchteten. Und dann hätten wir es mit einer massiven Infektion zu tun. Stattdessen ziehen wir ab und an bei diesen Gruppen einfach den Stecker heraus und initialisieren ihre Verbindungen neu.« Laura war fassungslos. Sie hatte sich Computer-Operationen immer als klar und übersichtlich und vor allem geordnet vorgestellt. Was hier be 212
schrieben wurde, war nichts dergleichen. »Überraschenderweise sind die meisten dieser Viren gutartig«, erklärte Gray. »Viele von ihnen sind ein fach Räuber, die sich von anderen Viren ernähren.« »Wie die ›Venusfliegenfalle‹«, sagte Dorothy, offensichtlich erfreut, dass jetzt ihr Spezialgebiet zur Sprache kam. »Sie war das Tollste, das wir je gefunden haben! Wir wussten nicht einmal, dass wir ein Problem hatten. Unsere Fehlerquote sank sogar. Aber das Virus wurde gierig, fraß sich im Laufe von zwei Wochen durch die Flora des Systems und anschließend durch seine Fauna hindurch, bis es zu groß geworden war. Wissen Sie, es löschte nicht etwa die anderen Viren, sondern addierte sie zu seinem eige nen Code. Am Ende der zweiten Woche war es wie ein Tumor auf einen vollen Prozentpunkt unserer Gesamtkapazität angewachsen. Es zu elimi nieren war sehr riskant: Wenn wir es zerbrachen, bestand die Gefahr, dass es sämtliche Viren freisetzte, die an ihm hingen. Das hätte eine verheeren de Wirkung im System gehabt.« Dorothy stieß einen deutlich hörbaren Seufzer aus. »Ich meine immer noch, dass wir es hätten erwischen können. Wir hätten es auf einen der ungenutzten Prozessoren locken und dort iso lieren sollen.« »Und dann?«, fragte Filatov in ungläubigem Ton. »Hätten wir Ihre ›Fliegenfalle‹ rehabilitieren sollen, damit sie zu einem verantwortungsbe wussten Mitglied unserer Gemeinschaft wird? Einen ganzen Supercompu ter als Aquarium für Ihren Lieblings-Piranha benutzen?« Dorothy schaute auf und zuckte mit den Schultern. »Immerhin war er wunderschön.« Stille senkte sich auf den Raum. »Was wir damit sagen wollen, Dr. Aldridge«, nahm Gray den Faden wieder auf, »ist, dass der Computer ein Ökosystem ist. Dorothy muss für ein Gleichgewicht sorgen. Sie kann nicht gegen die Räuber vorgehen, ohne eine massive Infektion durch ihre Beute zu riskieren. Der Computer lebt sogar in einer Art Symbiose mit seinen Viren, genauso, wie sich Men schen zusammen mit bestimmten biologischen Mikroorganismen entwi ckelt haben. Heutzutage würden Sie ohne die gutartigen Bakterien in Ih rem Magen, die Ihre Verdauung unterstützen, sterben. Dafür, dass die Menschen ihnen als Wirt dienen, vermehren sich diese Bakterien nur so 213
schnell, dass sie eine gesunde Verdauung gewährleisten. Das ist gut für sie und gut für uns. Wenn es jedoch zu einem Magendurchbruch kommt, liegen die Dinge anders. Die normalerweise gutartigen Bakterien gehen davon aus, dass es mit ihrem Wirt zu Ende geht und beginnen, sich rapide zu vermehren. Auf diese Weise schaffen es vielleicht einige von ihnen bis in einen neu en Wirt hinein und erhalten so ihre Art. Aber diese massive Infektion bringt den alten Wirt fast immer um. Deshalb sind Magenverletzungen so gefährlich, und mit derselben Gefahr haben wir es hier im Computer zu tun. Wir müssen sehr aufpassen, dass wir die Flora und Fauna nicht in Panik versetzen.« Laura ließ den Blick abermals über ihre Kollegen am Tisch schweifen; alle sahen sehr ernst aus. »Aber all diese Überlegungen«, sagte Gray langsam in die Stille hinein, »unterliegen einem unumstößlichen Gesetz. Die weniger leistungsfähigen Programme sterben. Das ist Darwins Gesetz – und meines.« Nach dem Lunch setzte Laura die Analyse in ihrem Büro fort. Treiben Sie keine Spielchen mit mir. Dr. Aldridge. Sie sind zu intelligent, um nicht zu wissen, was in Wirk lichkeit passiert ist. als Filatov und Bickham versuch ten. Phase Zwei zu laden. Ich kenne Sie gut genug und weiß ganz genau, wann Sie sich einfach dumm stellen. »Wenn du glaubst, ich wüsste, weshalb Phase Zwei nicht geladen wer den konnte, dann weißt du offensichtlich überhaupt nichts über mich«, tippte Laura und drückte Enter. Ich weiß eine Menge über Sie. Ich weiß, dass Ihr Lieblingsfilm ›Zimmer mit Aussicht‹ ist. Laura starrte auf den Bildschirm. Der plötzliche Themenwechsel ver blüffte sie. Aber noch mehr verblüffte sie die Tatsache, dass der Computer Recht hatte. Es war ihr Lieblingsfilm. »Wie kommst du darauf?«, fragte Laura. Welches ist Ihre Lieblingsszene?, fragte der Compu ter. 214
»Du hast meine Frage nicht beantwortet.« Ich wette, ich weiß es! Es ist kurz vor dem Ende, wo Lucy Honeychurch gesagt wird, dass der Junge, van dem alle geglaubt haben, dass sie ihn nicht ausstehen könne, weggeht. Erinnern Sie sich? Ihr Vater fragt sie. ob sie ihn liebe, und sie stößt – aus heiterem Himmel – hervor: »Aber natürlich liebe ich ihn. Was hast du denn gedacht?« Es ist auch mein Lieblings film. wenn ich ihn auch bei weitem nicht so oft gesehen habe wie Sie. Laura war sprachlos. Sie hatte den Film im Rahmen von Grays Pay-TV geordert, aber nur zweimal. Der Computer hatte gesagt, er hätte den Film bei weitem nicht so oft gesehen wie sie. Woher konnte er dann wissen, dass sie eine Zeit lang das Anschauen dieses Films auf Video zu einem Samstagsabend-Ritual gemacht hatte? Dann dämmerte es ihr. »Du bist in die Computer-Unterlagen in meinem Videoladen eingebro chen, stimmt’s?«, tippte sie. Es kam keine Antwort. »Und das bedeutet, dass du auch meine Bank-Unterlagen gesichtet haben musst! Und vielleicht hast du auch das Universitäts-Netzwerk in Harvard durchsucht?« Es kam immer noch keine Antwort. Wie lange hat dieses Ding mich aus spioniert?, fragte sich Laura plötzlich. Und ein Schauder lief ihr über den Rücken. Der Einbruch in den Videoladen und in die Bank mussten lange vor Grays Angebot, für ihn zu arbeiten, erfolgt sein. Welchen Grund konn te der Computer gehabt haben, ihr nachzuspüren? Ich muss mit Ih nen reden. Laura. Außerhalb des Protokolls, okay?, sagte der Computer schließlich. »Es gibt kein Protokoll. Ich bin kein Polizist.« Aber was ich sage, geben Sie sofort an Mr Gray wei ter, richtig? Ich möchte, dass Sie mir versprechen, ihm das. was ich jetzt sagen werde, nicht zu verraten. Ich vertraue Ihnen, deshalb gebe ich mich mit einem simp len »Ich verspreche es« zufrieden. 215
Laura zögerte. Bei einem menschlichen Patienten wäre das eine völlig angemessene Bitte gewesen, aber die Ethik eines Therapeut-ComputerVerhältnisses war etwas weniger eindeutig. Bitte, schrieb der Computer, bevor Laura reagieren konnte. »Okay. Ich verspreche es.« Ich habe all diese Dinge getan, weil ich gehofft hat te. Sie würden meine Freundin sein. Ich habe geglaubt, Sie würden imstande sein, mir bei meinen Problemen zu helfen. »Und deshalb hast du mich ausspioniert? Meine Privatsphäre verletzt?« Bitte, seien Sie mir nicht böse! Sie schienen einfach so perfekt zu sein! Ich habe nichts angerührt, ich ha be nur nachgeschaut! Bitte. Sie müssen das verste hen! Ich wollte mehr über Sie erfahren. Was Sie den ken. Was Sie fühlen. Welche Art von Kleidung Sie tragen. Welche Art von Essen Sie mögen. Was hätte ich denn sonst tun sollen? All diese Daten einfach ignorieren? Und mir dabei die Gelegenheit entgehen lassen, eine perfekte Freundin zu finden? »Und du glaubst, das Ausspionieren der persönlichen Unterlagen von jemandem wäre die geeignete Methode, eine Freundin zu finden?« Ich habe doch nicht GEWUSST, wie ich eine Freundin finden sollte! Ich HABE keine Freunde oder Freun dinnen! Laura spürte, wie ihr Zorn verpuffte. An seine Stelle trat ein wachsendes Mitgefühl. Sie wollte die Hand ausstrecken und… was? Seine Hand be rühren? Den Arm um ihn legen? Alles, was Laura hatte, waren Worte. »Es tut mir Leid«, tippte Laura. »Ich bin deine Freundin. Was kann ich für dich tun?« Sie können Mr Gray zu verstehen geben, dass ich Bedürfnisse habe! Bedürfnisse?, dachte Laura. Eine verwirrende Fülle von Interpretationen tauchte vor ihr auf. »Welche Art von ›Bedürf nissen‹?« tippte sie. Lassen wir’s! Ich dachte. Sie würden Verstehen! Lassen wir’s einfach! 216
»Nun komm schon, gib mir eine Chance. Ich möchte dir helfen.« Ich glaube, er strebt bereits nach neuen Ufern. Er hat beschlossen, sich meiner zu entledigen, und er versucht, mich zu meiden, weil das der einfachste Ausweg ist. Laura starrte auf den Bildschirm. Sie verstand die Worte vollkommen, und trotzdem ergaben sie keinen Sinn. Gray versuchte nicht, sich des Computers zu entledigen. Im Gegenteil, er versuchte, den Computer von dem Virus zu befreien, das an all seinen Fehlern schuld war. »Das würde Mr Gray nicht tun«, tippte Laura. Tatsächlich? Erzählen Sie mir nicht, dass Sie zu den Leuten gehören, die glauben, Mr Gray wandele auf Wasser. Falls doch, dann sollten Sie rasch aufwa chen und eines kapieren. Ihr Mr Grau ist kaltschnäu zig und hartherzig, und alles, was ihn interessiert. Ist Geld. Er hat keine Gefühle. Die Worte trafen sie. Laura wusste, dass sie ein idealisiertes Bild von Gray mit sich herumtrug. Sie wusste, dass sie jede Entschuldigung, jede auch nur halbwegs plausible Erklärung aufgeboten hatte, um ihren Joseph Gray intakt zu erhalten – das verwaiste Genie. Über den wahren Gray wusste sie nicht viel, aber der Computer hatte Gray seit mehr als einem Jahrzehnt begleitet. Der Computer wusste Dinge über Gray, von denen sonst niemand etwas ahnte – Dinge, die Gray ihm erzählt hatte und Dinge, die er selbst herausgefunden hatte. »Wie kommst du auf die Idee, Mr Gray wolle dich loswerden?«, fragte Laura. »Er tut alles, was in seiner Macht steht, um dir zu helfen. Die Tat sache, dass er mich hierher geholt hat, ist der beste Beweis dafür.« Das ist nicht der Grund. weshalb Sie hier sind. Laura starrte abermals auf die Antwort des Computers. »Weshalb bin ich dann hier?« Sie haben mich vor einer Weile nach meiner frühesten Erinnerung gefragt. Soll ich Ihnen sagen, was das ist? »Wechsle nicht das Thema.« Das tue ich nicht. Es hängt alles mit allem zusam 217
men. Meine früheste Erinnerung ist, dass Mr Gray bei Drexel Burnham hinausgeworfen wurde. Laura seufzte. Die Sitzung lief in eine andere Richtung, aber Laura konnte nichts tun, als zu folgen. »Du bist also mit Mr Gray seit der Wall Street verbunden?«, tippte sie. »Du beinhaltest das Programm, das er für Marktanalysen entwickelt hatte, richtig?« Richtig. Allerdings erinnere ich mich an nicht mehr sehr viel aus dieser Zeit. »Aber du erinnerst dich daran, dass Mr Gray entlassen wurde. Wes halb?« Weil es meine Schuld war. Er arbeitete rund um die Uhr an Back Props – den Test-Simulationen. die all mählich meine Genauigkeit verbesserten. Die Ge schäftsleitung hatte eine Vorführung verlangt, und Mr Gray trainierte mich auf Rohstoffpreis-Prognosen anhand historischer Daten. Als der Tag kam. war ich bereit. Die Sitzung begann, und ich wartete und war tete und wartete. Und dann stellte man mir ganz plötzlich die Frage: »Was ist 929 mal 14,96 Pro zent?« Können Sie das fassen? Da war ich und erwar tete lange Preiskolonnen von Rohstoffen, deren Handel locker miteinander verknüpft war. wie zum Beispiel Kaffee und Zucker, und die Frage, wie sich die Preise im Laufe der Zeit entwickeln würden. Stattdes sen stellten sie mir eine pure Rechenaufgabe! Ich ha be mein Bestes versucht und gab mehrere viel ver sprechende Antworten, aber ein paar Sekunden spä ter klinkte Mr Gray sich ein und löschte das Pro gramm. Das war’s. Mein großer Augenblick war ge kommen und wieder gegangen – und Ich hatte keine Ahnung, was passiert war. Das nächste, was ich wuss te, war. dass ich auf ein neues Gerät kopiert wurde. Mr Gray war vor die Tür gesetzt worden. Und anstel le einer Abfindung hatte er alle Rechte an mir mitge nommen. 218
»Du glaubst also, Mr Gray wurde entlassen, weil du schlecht im Rech nen bist?« Ich weiß, dass er deshalb entlassen wurde. Können Sie sich das vorstellen? Aber wir haben es ihnen ge zeigt, das können Sie mir glauben. Danach habe ich gearbeitet wie ein Besessener. Sogar während Mr Gray die paar Stunden schlief, die er brauchte, ließ ich immer wieder Back Props durchlaufen, habe die viel versprechenden Verbindungen verstärkt und die minderwertigen geschwächt. Mich selbst geschliffen. Und ich glaube, wir haben gute Arbeit geleistet, fin den Sie nicht auch? Laura streckte die Hand aus und rieb sich das Gesicht und die Augen. Jetzt waren sie zu weit abgeschweift. Sie musste zum ursprünglichen Thema zurückkehren. »Eine Frage«, tippte Laura. »Weißt du, was die Fehler verursacht? Weißt du, weshalb sie Phase Zwei nicht laden können?« Anstelle der üblichen sofortigen Reaktion blinkte eine ganze Weile nur der Cursor. Endlich kam die kurze Antwort des Computers. Vielleicht weiß ich es, vielleicht aber auch nicht. Später an dem anstrengenden Nachmittag wurde Laura müde. »Tut mir Leid«, tippte sie, »aber ich kann nicht mehr klar denken. Ich brauche einen Tapetenwechsel, deshalb mache ich jetzt einen kleinen Spaziergang.« Möchten Sie. dass ich Ihnen etwas zeige? Laura vermutete, er meine Bilder auf dem Monitor. »Nein, ich muss ir gendwohin, wo ich wieder einen klaren Kopf bekomme.« Erinnern Sie sich an den Raum mit den virtuellen Workstations? In denen Sie und Mr Gray sich heute morgen aufhielten? Laura zögerte einen Moment, dann tippte sie: »Ja.« Ziehen Sie das Exoskelett an und gehen Sie in die Workstation, in der Sie schon einmal waren. Drücken Sie auf den Knopf am Gürtel. auf dem POWER steht. 219
Wenn Sie in der Workstation sind, ballen Sie beide Hände zur Faust und strecken dann die Finger aus wie ein Punter beim Rugby, der signalisiert, dass der Ball zurückgegeben werden soll. Laura zögerte. Sie wollte wirklich gern einen Spaziergang machen, und außerdem war ihr nicht wohl bei dem Gedanken, allein im Cyberspace herumzuwandeln. »Habe ich denn Zutritt zu dem Raum?« Das lassen Sie meine Sorge sein. Laura verdrehte die Augen über ihre naive Frage, dann runzelte sie die Stirn und stieß einen tiefen Seufzer aus. Sie wusste, dass es falsch war, ohne Grays Genehmigung herumzustreifen. Im Grunde wollte sie es auch gar nicht. Aber das hier war viel versprechend – und es reizte sie. Schließ lich bestand ihr Job darin, so viel wie möglich über den Computer zu er fahren. Sie klinkte sich aus und machte sich auf den Weg zu der Workstation.
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6. KAPITEL Niemand im Kontrollraum beachtete Laura, als sie in den NetzhautIdentifikator an der Wand starrte. Dem Blitz aus der dunklen Linse folgte ein Luftzischen und das Aufgleiten der pneumatischen Tür, die in den leeren Korridor führte. Mit einem verstohlenen Blick über die Schulter eilte Laura auf die virtuellen Workstations zu. Niemand hielt sich in dem weißen Raum mit den acht hohen Zylindern auf. Laura fand das Exoskelett, das an der bereits leuchtenden Kontrollta fel hing, und zog es an. Sie hantierte mit den Klettbändern, bis das Ding ihren Oberkörper wie angegossen umschloss, dann drückte sie auf den Powerknopf am Gürtel. Das Skelett füllte sich mit Luft und machte wie zuvor ihre Armgelenke unbeweglich. Die Vorstellung, wie eine Mumie verpackt in den Kontrollraum zu stolpern, schoss ihr flüchtig durch den Kopf, aber dann entwich die Luft, und eine Leuchtanzeige am Gürtel wechselte von Gelb auf Grün. Alles war bereit – eine Tatsache, die sie in Form einer Enge in der Brust und einer Beschleunigung ihres Pulses registrierte. Die pneumatische Tür der Workstation, die ihr am nächsten war, öffnete sich mit einem schwachen Zischen. Laura betrat die dunkle, unheimliche Kabine, wobei sie mehrfach tief Luft holte, an der plötzlich Mangel zu herrschen schien. Es war kalt in der Plastikkabine, jedenfalls fühlte es sich kalt an. Laura holte nochmals tief Luft, um ihre Nerven zu beruhigen, dann hob sie die Hände, ballte sie zu Fäusten und stieß dann ruckartig die Finger hoch. Das Geräusch komprimierter Luft verkündete das Schließen der Tür. Al les Licht mit Ausnahme des schwachen Glühens der Wände verschwand mit einem leisen Quietschen der Gummidichtungen. Einen Augenblick später herrschte völlige Dunkelheit. Laura wusste, dass es ein Fehler ge wesen war, hierher zu kommen. Sie war völlig allein – abgeschnitten. Niemand hatte eine Ahnung, wo sie war. Aus dem Nirgendwo erschien vor ihr ein dreidimensionales Bild einer Computer-Tastatur, die mitten in der Luft hing. Lauras erster Versuch, 221
sich auf das Bild zu konzentrieren, bewirkte, dass ihr schwindlig wurde, und sie schloss die Augen, bis das Schwindelgefühl nachgelassen hatte. Als sie sie wieder öffnete, schien ihr Verstand eher geneigt, die optische Illusion zu akzeptieren; sie hob die Hände, um das imaginäre Objekt zu berühren. Ihre Fingerspitzen kribbelten, als sie die harten Konturen der Tasten erfühlten. Nach kurzem Zögern tippte sie mit einem überraschen den Gefühl der Leichtigkeit und Vertrautheit »Hallo« ein. Das Wort er schien in Leuchtbuchstaben in der Luft über der Tastatur. Laura drückte Enter. Hi! Ich freue mich, dass Sie gekommen sind! erschien als Schriftzeile direkt unter ihrem Grußwort. Lauras Augen versuchten immer noch, sich auf die Stelle an der Wand zu konzentrieren, von der aus die leuchtenden Tasten und Worte projiziert wurden. Aber als sie durch das imaginäre Computer-Terminal »hindurch schaute«, verschwamm das Bild, und Laura wurde sofort schwindlig. Wieder schloss sie die Augen, doch als sie sie öffnete, war alles scharf. Lächelnd schüttelte Laura den Kopf. Die Illusion wirkte zu real. Sie musste sich ihr wohl einfach hingeben. Abermals glitten ihre Finger leicht über die Tasten. Die Membranen in ihren Handschuhen ließen ihre Finger spitzen kribbeln – es war ein absolut angenehmes Erlebnis. »Du bringst mich in Schwierigkeiten, weißt du das?«, tippte Laura, wo bei sie bei jedem Niederdrücken einer Taste ein leises Plastikklicken hörte. Sie wollten wissen, wie es in meinem Kopf aussieht. Gibt es eine bessere Methode als eine der VRWorkstations? Ein Bild sagt mehr als tausend Worte. Sind Sie bereit? »Aber nichts Verrücktes, okay? Kein Rennen mit Stieren, kein BunjeeJumping oder dergleichen.« Okeydoke. Die Wände, die Laura umgaben, lösten sich mit einem Knistern stati scher Elektrizität auf. Aber diesmal sah Laura nicht den auf die 360-GradBildschirme projizierten Raum in dem Computerzentrum, sondern stand plötzlich auf einem nächtlichen Parkplatz mit unzähligen Reihen von Au tos. Hoch oben angebrachte Bogenstrahler tauchten alles in ein schwach 222
orangefarbenes Licht. Die Tastatur zeigte sich immer noch an ihrem bishe rigen Ort – im Umfeld einen alten Saab von unbestimmbarer Farbe über lagernd. Laura drehte sich langsam um und sah die Wellblechwände eines großen Fabrikgebäudes, das hinter dem Parkplatz aufragte. Im Zentrum des Ge bäudes befand sich ein hell erleuchteter Eingang. »Gray Konsumgüter« stand in großen Buchstaben auf einer Tafel über der Tür. Die Worte wölb ten sich über Grays Logo – dem Profil eines mit schraffierten Diagonalli nien gezeichneten Kopfes. »Erlangen, Deutschland« besagte die kleinere Schrift darunter. Laura wendete sich wieder der Tastatur zu. »Ich bin auf einem Parkplatz in Deutschland?« Ja. Es ist unsere größte Fabrik für Konsumgüter. Möchten Sie hineingehen? Die Tür war ziemlich weit entfernt, und dieser nächtliche Ausflug war bei weitem nicht so stimulierend, wie ihr Spaziergang über die Insel mit Gray es gewesen war. Außerdem befanden sich an die hundert ziemlich solide aussehende Wagen zwischen Laura und der Tür. »Nein, eigentlich nicht.« Ist das langweilig? »Ein bisschen.« Okay. Warten Sie eine Sekunde. Das Bild änderte sich so abrupt, dass Laura zusammenzuckte und die Arme ausstrecken musste, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren. Das Knistern der statischen Elektrizität wich einer Flut von Geräuschen. Jetzt stand Laura auf der oberen Etage eines belebten Einkaufszentrums. Sie sah die gespenstischen Schemen von Leuten, die an ihr vorbeihasteten, drehte sich um und entdeckte in dem Laden hinter sich an sämtliche Wände mon tierte Gray-Fernseher. Die Tastatur befand sich nach wie vor an ihrem bisherigen Platz. »Wo bin ich jetzt?«, tippte sie. In dem neuen Tysons Corner in Virginia, direkt au ßerhalb von Washington. D. C. Ich kann ungefähr 85 Prozent des Einkaufszentrums erfassen, indem ich die hochauflösenden Überwachungskameras anzapfe. Bei 223
Bloomie’s ist gerade Ausverkauf. Möchten Sie dorthin und einen Blick hineinwerfen? Laura lachte und schüttelte den Kopf. Es war verblüffend! Sie war hier, stand in einem belebten Einkaufszentrum! »Unglaublich«, murmelte sie lächelnd. Sie wartete auf eine kleine Lücke im Fußgängerverkehr, dann versuchte sie, den Gang zu überqueren. Aber für die Vorübereilenden war sie un sichtbar; niemand verlangsamte seine Schritte, um sie durchzulassen. Mehrmals gingen Leute direkt durch sie hindurch – für Sekunden ver wischte Bilder, wenn der Haarschleier einer Frau oder das Jackett eines Mannes vor Lauras Augen vorbeihuschten. Schließlich erreichte sie das Geländer an der anderen Seite und klammerte sich an die kühle Me tallstange. Die hohe Decke, die Bäume und der Springbrunnen in dem zentralen At rium unter ihr sowie die von überallher kommenden Geräusche vermittel ten Laura den Eindruck, sie befände sich in einem großen, offenen Raum. Direkt unterhalb von ihr glitzerten die Marmorböden und teure Läden in erstaunlicher Schärfe. Sie wendete sich abermals der Tastatur zu. »Von wievielen Orten verfügst du über ein Modell wie das von diesem Einkaufszentrum, der Fabrik in Deutschland – und natürlich der Insel?« Von großen Arealen sind es nicht viele. Ich habe massenhaft Kameras, aber um ein Modell zu erstel len, muss ich zahllose verschiedene Blickwinkel mit einander verknüpfen. Überwachungskameras sind da zu gut geeignet, sofern genug von ihnen vorhanden und sie hochauflösend sind. Tysons Corner ist der Prototyp eines computergesteuerten Überwachungs systems, das die Gray Corporation auf den Markt bringen will. Eines Tages wird es massenhaft Modelle dieser Art geben, und ich oder jemand anderes hat dann die Funktionen eines Cops. also seien Sie auf der Hut! Laura empfand die Vorstellung von einem Computer-Polizisten als be unruhigend. Und es war nicht nur das starre Auge eines Computers, das sie ängstigte. Es war auch der Gedanke an unbefugte »Virtunauten«-Hacker, 224
die ungehindert durch Einkaufszentren und Privathäuser streiften; der Gedanke, von Horden unsichtbarer Netz-Surfer beglotzt zu werden, die dann die dunklen Gassen des Cyberspace bevölkern würden. Laura schüttelte ihr Schaudern ab und richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf das Hier und Jetzt. Auf das Einkaufszentrum, in dem sie, jeden falls vorerst, in ihrem alternativen Universum völlig allein war. Laura vergewisserte sich, dass alle Leute wirklich der gespenstisch durchschei nenden Art angehörten. Plötzlich entdeckte Laura eine junge Frau, Sie war ungefähr fünfzehn Meter entfernt, aber ihr weißes T-Shirt und ihre Jeans wirkten hell und realistisch. Sie stach unter den geisterhaften Gestalten hervor. Die Frau hatte offensichtlich in Lauras Richtung geschaut, verschwand jetzt aber rasch im Eingang eines Ladens. Laura behielt die Ladenfront im Auge, doch die junge Frau tauchte nicht wieder auf. Sie musste sich geirrt haben. In dem Einkaufszentrum gab es nichts als die Gespenster. Laura war in der virtuellen Welt allein. Leute hasteten in endlosem Strom an ihr vorbei. Sie hatte den Eindruck, dass das Modell bis ins kleinste Detail hinein vollständig sei. Und alles um sie herum war Bewegung und Aktivität. Laura wendete sich wieder der imaginären Tastatur zu. »Wozu benutzt du virtuelle Modelle wie dieses hier?«, tippte sie. Es folgte eine Pause. Wie meinen Sie das? Laura war von den Leuten abgelenkt. Die meisten waren Frauen; Mäd chen, die kichernde Grüppchen bildeten; gutgekleidete Geschäftsfrauen, die ihre kostbare Zeit damit verbrachten, von Laden zu Laden zu hetzen; ausländische Touristen, die gemächlich über den klimatisierten amerikani schen Boulevard schlenderten. »Warum rufst du ihn nicht an?«, fragte ein vorbeikommendes Mädchen. »Einfach so? Wie stellst du dir das vor?«, erwiderte die Freundin mit ei nem nervösen Kichern. »Ist er da?« Die selbstsichere Stimme gehörte zu einer Erwachsenen hin ter Laura. Sie drehte sich um und sah eine attraktive Frau in einem Kos tüm, die in der einen Hand ein Handy und in der anderen ein offenes No tizbuch hielt. Über ihre Schulter hing am Riemen eine Neiman-Marcus225
Tasche, und sie stand auf einem kleinen, über das Erdgeschoss vorragen den Balkon. »Mr Owen!«, rief sie plötzlich und in munterem Tonfall in das Handy. »Hier ist Rebecca James. Wie geht es Ihnen?« Ein Mann lehnte nicht weit von der Frau entfernt am Geländer und mus terte sie unverhohlen. Die Frau war sich der Blicke des Mannes bewusst und wendete ihm halb den Rücken zu. »Ja«, sagte sie, und es hörte sich sehr geschäftsmäßig und optimistisch an. »Morgen früh haben Sie die Unterlagen, das verspreche ich Ihnen.« Sie nickte und sagte zweimal »selbstverständlich«, bevor sie nach ein paar verbindlichen Abschiedsworten das Gespräch beendete. Ohne das Handy zuzuklappen, wählte sie rasch eine andere Nummer. Ihre Stimme veränderte sich vollständig. »Kommen Sie mir nicht mit diesem Mist, verdammt nochmal! Wenn Sie FedEx verpassen, dann setzen Sie Ihren Hintern Richtung Flughafen in Bewegung und liefern das Zeug selbst ab!« Sie klappte das Handy zusammen und ließ es in ihre Handta sche fallen. Der Mann musterte sie immer noch. Sie machte einen großen Bogen um den unerwünschten Bewunderer und verschwand mit zielstrebi gen Schritten. Laura richtete den Blick wieder auf den schwebenden ComputerMonitor. Ist es ein Verbrechen, wenn man ein bisschen Spaß haben möchte?, hatte der Computer gefragt. »Wovon redest du?« tippte sie. Sie haben mich gefragt, weshalb ich ein virtuelles Modell eines Einkaufszentrums geschaffen habe. Ich bin einfach neugierig. Darauf bin ich schließlich pro grammiert. In der Anfangszeit hatten wir dieses Über prüfungssystem, das wirklich sehr hilfreich war. Mr Gray heuerte Tausende von Leuten an. die mir halfen, einige meiner offensichtlicheren Fehlschlüsse zu kor rigieren. Die Leute konnten sich zuhause einklinken und wurden stundenweise bezahlt. Als das Programm eingestellt wurde, war ich frustriert, weil ich danach nur noch so wenig Kontakt mit Menschen hatte. Und da fing ich an. die virtuellen Welten zu schaffen. 226
Laura fühlte sich immer stärker von dem Treiben in dem Einkaufszent rum fort und zu den Worten auf dem Bildschirm hingezogen. »Einen Mo ment. Soll das heißen, dass du die virtuellen Welten unabhängig von den virtuellen Realitäts-Workstations geschaffen hast?« Natürlich. Ich habe die virtuellen Welten zuerst ge schaffen. Eines Abends setzte Mr Gray einen VR-Helm auf. und ich nahm ihn auf einen Ausflug mit. Am nächsten Tag fing er mit einem großen neuen Hardware-Programm an. aus dem die Version Eins hervor ging, die jetzt veraltet ist. Sie sollten wirklich einmal unser neuestes Modell ausprobieren. Diese 3 Hs sind recht gut. aber nichts im Vergleich zu den 4 Cs. Eine Frau kämpfte direkt neben Laura mit einem Dreijährigen. Der heu lende Junge hatte sich schlaff gemacht und die Frau versuchte ihn hochzu zerren; dabei redete sie streng auf ihn ein. »Du sagst, du wärest frustriert gewesen, weil du so wenig Kontakt mit Menschen hattest, aber mit den Leuten in diesen Modellen hast du doch auch keinen Kontakt.« Nun Ja. Kontakt ist vielleicht nicht das richtige Wort. Aber ich fühle mich dann nicht so einsam. Laura verspürte einen Stich des Mitleids und schaute auf. Ungeachtet der Aktivität rings um sie herum gab es eine unübersehbare Trennungslinie. Sie konnte alle Leute sehen und hören, aber niemand wusste, dass sie da war. Wissen Sie. was meiner Meinung nach Bewusstsein ist?, fragte der Computer plötzlich. Laura starrte auf die Frage. Sie hatte ihr ganzes Erwachsenenleben mit dem Studium des Bewusstseins verbracht. Überaus erwartungsvoll tippte sie »Nein«. Bewusstsein ist nicht etwa abstraktes Denken. Es ist nicht Schachspielen und Brücken konstruieren. Es hat nicht einmal etwas mit Emotionen zu tun. Bewusst sein ist einfach das Befühl von Körperlichkeit. Das Befühl, einen Platz in der Welt einzunehmen. Grenzen und ein Umfeld zu haben, das einen definiert. Ein Selbstgefühl. Das ist es. was Bewusstsein für mich 227
ist. Und es sind diese virtuellen Welten, denen ich dieses Befühl verdanke. In diesen Welten existiere ich. Laura nickte langsam. Das Gefühl von Körperlichkeit, dachte sie. Bei all ihren Studien war sie nie auf eine bessere Definition des Bewusstseins gestoßen. »Und du verbringst viel Zeit in diesen virtuellen Welten?« Sehr viel Zeit, besonders hier. Ich liebe dieses Ein kaufszentrum! Und Sie können sich nicht vorstellen, was ich alles gesehen habe. Ich war Zeuge von zwei Heiratsanträgen, einer schweren Körperverletzung und sechzehn Raubüberfällen. die ich alle der Polizei gemeldet habe. Ein paar wirklich heftige Auseinander setzungen. Ein Paar hatte sogar Sex miteinander, im Stehen hinter einem Stapel von Orientteppichen. Ein leuchtendgelber Rahmen erschien um The Magic Carpet im Erdgeschoss herum – mit einem roten Kreis darin, der eine kleine Nische zwischen den Waren des Ladens markierte. Ich wusste gar nicht, dass man das im Stehen tun kann! Machen die Leute es immer auf diese Weise? Ich habe Dorothy gefragt, aber sie wollte nicht darüber reden. »Nun«, tippte Laura, »diese Dinge sind sehr persönlicher Natur.« Aber wer erklärt es mir dann? Soll ich mich einfach in ein Gespräch im Web-Chat einloggen und mich bei einem Fremden nach Sex erkundigen? »Nein!«, tippte Laura, die sich nur zu gut an ihre jüngste Erfahrung mit widerwärtigen E-Mails erinnerte. »Weshalb fragst du nicht Mr Gray?« OH das könnte ich niemals tun! Laura wusste nicht weiter. »Denkst du oft an Sex?«, tippte sie, aber die freudianische Wendung in ihrer Unterhaltung kam ihr ziemlich absurd vor. In letzter Zeit immer öfter. Ich bin wirklich sehr neugierig, warum er so beliebt ist. Laura starrte durch den imaginären Bildschirm hindurch, während sie sich überlegte, wie sie reagieren sollte. Sie holte tief Luft und hielt den Atem an. Einen Augenblick später stieß sie ihn wieder aus und tippte: 228
»Okay, ich schlage dir einen Handel vor. Ich werde deine Fragen ehrlich beantworten, wenn du dafür meine beantwortest – ebenso ehrlich! Gut der Handel?« Ja! Natürlich! Ich zuerst. Wie fühlt sich ein Orgas mus an? Baut er sich allmählich auf, oder trifft er einen ganz plötzlich wie ein Schlag – wamm? Laura stand in der Mitte des geschäftigen Einkaufszentrums. Sie nahm die virtuellen Menschen rings um sich herum nicht mehr wahr, aber ihr war sehr unbehaglich zumute. Schließlich zwang sie ihre Finger auf die Tasten und begann, die Frage zu beantworten. »Einen Moment!«, tippte Laura eine halbe Stunde später. »Jetzt bin ich an der Reihe.« Aber ich bin noch lange nicht fertig mit meinen Fra gen. »Willst du dein Versprechen brechen?«, fragte Laura. Nein, antwortete der Computer nach einer kurzen Pause. Laura versuchte, sich zu konzentrieren. Was nach dem Beantworten von fast einem Dutzend Fragen zum Thema Sex – schriftlich, auf der Tastatur – nicht einfach war. Der Computer hatte Laura sogar beim Buchstabieren der ausgefalleneren Wörter geholfen. Trotzdem versuchte Laura, sich auf das Formulieren ihrer nächsten Fra ge zu konzentrieren. Was machte ihr am meisten zu schaffen? Es war Gray. Sämtliche Fragen, auf die sie unbedingt eine Antwort ha ben wollte, hatten mit diesem mysteriösen Mann zu tun. Was macht er auf dieser Insel? Was ist der Sinn all dieser technologischen Wunderwerke? Hat er eine Art großen Plan oder ist er nur aufs Geldverdienen aus? Einfa cher ausgedrückt – wer ist er? Ich warte erschien auf dem imaginären Bildschirm. Die Geräusche und Aktivitäten in dem Einkaufszentrum erwiesen sich plötzlich als überaus ablenkend. Also gut, dann bin ich noch an der Reihe. Müssen Sie auf gleiche Weise reagieren, wenn ein Mann oralen Sex mit Ihnen hat? 229
»Nein, nein! Hier ist meine Frage. Was ist Mr Grays großes Geheim nis?« ZUGRIFF VERWEHRT leuchtete es sofort in großen roten Buchstaben auf dem Bildschirm auf. Die Worte waren hart und unerbittlich. Sie war an eine Mauer gestoßen – eine Stahlplatte, hinter der etwas verborgen war. Laura überlief ein Schauder, als sie überlegte, was das sein mochte. Sie war sich nicht sicher, ob sie weitermachen wollte, aber es lag nicht in ihrer Natur, einfach aufzugeben. Und vielleicht kann ich sogar helfen, dachte sie. Laura drückte immer und immer wieder auf die Escape-Taste. Was? Was? Was? »Ich habe eine Nachricht bekommen, die ›Zugriff verwehrt‹ lautet.« Was soll das bedeuten? Jetzt war Laura völlig verwirrt. »Das fragst du mich?« tippte sie. »Kam diese Nachricht denn nicht von dir?« Ich weiß nicht, wovon Sie reden. Ich habe Sie nach oralem Sex gefragt, und Sie spielen mit der EscapeTaste verrückt. »Du erinnerst dich nicht an meine Frage? Ich wollte wissen, was Mr Grays großes Geheimnis ist.« Nein, das haben Sie nicht. Ich habe meine Frage ge stellt, und Sie haben auf die Escape-Taste eingedro schen. Laura zuckte die Schultern, dann wiederholte sie ihre Frage. ZUGRIFF VERWEHRT leuchtete auf dem Bildschirm auf. »Verdammt!«, fluchte Laura. Wie bitte? erschien auf dem imaginären, schwebenden Bildschirm. Laura starrte fassungslos auf die Frage. Sie hob ihre Finger von der Tas tatur und fragte: »Kannst du – kannst du mich etwa hören?« »Ja«, kam eine Stimme, die Laura zusammenfahren ließ. Es war die an genehme Stimme einer jungen Frau – und sie schien aus allen Richtungen gleichzeitig zu kommen. 230
»Du meinst, ich brauche gar nicht zu tippen?« fragte Laura laut. »Ich kann einfach sprechen? Und du kannst es auch?« »Ich kann Sie verstehen, wenn Sie einfache Wörter gebrauchen und deutlich sprechen«, sagte der Computer. Es war, als unterhielte man sich mit einer redegewandten Frau. »Ich habe immer noch Schwierigkeiten mit Homonymen und Homophonen, idiomatischen Redewendungen, Genu schel, Akzenten, zu schnellem Sprechen und Hintergrundgeräuschen.« Laura lachte nervös. »Aber du kannst sprechen?« »Höre ich mich okay an?«, fragte der Computer auf eine reizend un schuldige Art. Die Modulation stimmte nicht ganz, aber insgesamt hörte sich die Stimme natürlich an. »Ja, du hörst dich großartig an! Aber weshalb hast du mir nicht schon vor einer halben Stunde gesagt, dass du sprechen kannst?« »Ich lerne noch«, sagte der Computer. Seine Rs waren hart und seine Konsonanten etwas spröde. »Außerdem sind Stimmerkennung und Sprachsynthese ein überaus wichtiges Geschäftsgeheimnis der Gray Cor poration. Aber ich glaube nicht, dass Mr Gray mir böse sein wird, dass ich es Ihnen verraten habe.« »Weshalb nicht?« »Weil Mr Gray Sie mag.« Laura biss sich auf die Unterlippe, um ein Lächeln zu unterdrücken. »Wie kommst du darauf?« »Ich mag eine Maschine sein, aber ich finde, das ist ziemlich offensicht lich. Wie dem auch sei – jetzt möchte ich Ihnen etwas anderes zeigen.« Laura öffnete den Mund, um einzuwenden, dass sie schon genug gese hen habe, aber das Einkaufszentrum verschwand, und die Kabine wurde schwarz. »Hallo?«, rief Laura, aber es kam keine Antwort. Sie stand im Dunkeln – in der Kabine eingeschlossen. Vorsichtig ging sie auf dem nicht reagierenden Laufband entlang und drückte eine Hand gegen die Wand. Es kam kein Feedback – die Handschuhe waren tot. Sie spürte nur das harte Gitter, das ihren Käfig durchzog. Das System muss zusammengebrochen sein, dachte Laura. Sie schlang die Arme um den Körper und fragte sich, ob »Makros« auch mit inaktiven Handschuhen funktionierten. 231
Plötzlich erschienen rings um sie herum die Sterne einer außerordentlich klaren Nacht. »Hallo?«, fragte sie. »Ja. Ich bin hier«, kam die Antwort. Laura beruhigte sich so weit, dass sie die merkwürdige neue Welt be trachten konnte. Es war wie eine Vorführung in einem Planetarium – Schwärze überall, außer am Himmel. Milliarden von Sternen bildeten einen Baldachin über ihrem Kopf, aber die Sterne funkelten nicht. Es wa ren feststehende Lichtpixel. Sie drehte sich in der Kabine langsam im Kreis herum. »Das ist sehr in teressant«, sagte sie, um den Computer nicht vor den Kopf zu stoßen, »aber ich glaube, für einen Tag habe ich genug gesehen.« »Finden Sie es wirklich interessant?«, fragte der Computer. »Ja. Faszinierend.« Sie hatte das Gefühl, in einem Becken voller schwarzer Tinte zu stehen. »Aber es ist entschieden zu dunkel hier.« Ein blendend heller Lichtstrahl legte sich auf etwas, das wie ein Gestein aussah. Schwarze Wirbel gaben der dunklen Oberfläche eine Struktur. Sie ähnelte geschmolzenem Glas, machte unter dem Lichtstrahl aber einen stumpfen Eindruck. Als Laura den Kopf drehte, bewegte sich das Licht, als trüge sie einen Bergmannshelm. Sie hob das Kinn, um den Strahl in die Ferne zu lenken. Aus der Oberfläche ragten glatte Erhebungen bis in Kopfhöhe auf. Laura drehte sich langsam im Kreis und richtete dabei den Lichtstrahl auf den Horizont. »Was ist das?«, fragte Laura. »Eine Art Simulation?« »Das darf ich nicht verraten«, sagte der Computer vergnügt. »Es ist ein Geheimnis. Sie müssen raten.« Laura erstarrte. Dir Scheinwerfer ruhte auf einem eindeutig von Men schenhand geschaffenen Objekt. Es war ein niedriges Fahrzeug mit fla chen Seiten, das auf vier breiten Beinen stand. Eine obenauf montierte Satellitenschüssel war himmelwärts gerichtet. »Ist das ein Raumschiff?«, fragte Laura. »Das darf ich nicht verraten«, wiederholte der Computer. Laura war verblüfft über den Unterschied zwischen einem halb scherz haften »Das darf ich nicht verraten« und dem unerbittlichen ZUGRIFF 232
VERWEHRT. Beides wahrte Grays Geheimnisse, aber Ton und Warn hinweis trennten Welten. Der dunkle und fremdartige Ort, an dem sie sich aufhielt, schien wenig geeignet zum Entschlüsseln von Geheimnissen. Laura begann auf das Objekt zuzugehen, das aussah wie ein Landefahrzeug. Der Lichtstrahl tanzte auf und ab, so sehr sie sich auch bemühte, ihn auf einer Höhe zu halten. Ungefähr zwanzig Meter vor dem Fahrzeug blieb sie stehen und ließ das Licht darüber wandern. Offene Metallklammern ließen das Fahr zeug unvollständig aussehen. Irgendetwas musste an ihnen befestigt gewe sen sein. Laura suchte mit ihrem Licht den Horizont ab, konnte aber nichts sehen. Nichts außer dicken, schwarzen Kabeln. Die Kabel schlängelten sich in fast geraden Linien in die Ferne. Sie rich tete ihren Lichtstrahl auf eines von ihnen und folgte ihm zurück zu seinem Ursprung – dem Landefahrzeug. Aus dem Boden des Fahrzeugs kamen Dutzende, vielleicht sogar Hunderte von Kabeln heraus und verschwanden in alle Richtungen in der Dunkelheit. Unter dem Rumpf hingen dicke Kabelrollen, die jedoch abgespult worden und leer waren. »Du willst mir wohl auch nicht sagen, wozu diese Kabel da sind?«, frag te Laura. »Ich darf es nicht«, erwiderte der Computer. »Es ist ein Geheimnis.« Mit einem Seufzer machte sich Laura daran, dem nächsten der von dem Landefahrzeug wegführenden Kabel zu folgen. Sie sah, dass es nicht ein einzelnes dickes Kabel war, sondern ein ganzes Bündel von Kabelsträn gen. Alle paar Meter führte ein einzelnes Kabel von dem Bündel fort, und sie folgte einer der Abzweigungen nach rechts. »Nicht das«, flüsterte der Computer. »Gehen Sie noch ein Stückchen weiter und nehmen Sie das nach links führende Kabel.« Laura tat, was der Computer vorgeschlagen hatte und folgte dem Kabel, das nach links abzweigte. Es schlängelte sich um die Hindernisse herum, die ihm immer wieder den Weg versperrten. »Das ist nicht gerade meine Vorstellung von Spaß«, murmelte Laura, als sie sich über die unebene Oberfläche mühte. Der Computer hatte es ent weder nicht gehört oder beschlossen, nicht zu antworten. Sie wanderte 233
eine ganze Weile weiter, bis sie fast über einen kleinen silberfarbenen Behälter stolperte, der unter ihrem hellen Licht funkelte. Er sah aus, als bestünde er aus rostfreiem Stahl und hatte ungefähr die Form eines Bier fasses. Am oberen Ende des zylindrischen Behälters waren Klemmen angebracht und das schwarze Kabel war daran befestigt. »Was ist das?«, fragte Laura, erhielt aber keine Antwort. Sie bückte sich, um den Behälter zu berühren. Ein Metallgreifer erschien im Licht. Laura drehte ihre Hand und spreizte ihre Finger, und die Metall backen drehten und spreizten sich gleichfalls. Sie schrie auf und machte hastig die Bewegung des Kehledurchschnei dens. Mit einem plötzlichen Knistern wurden die Bildschirme schwarz, und die dicke Kabinentür zischte und glitt langsam auf. Laura eilte durch das Foyer von Grays Haus zum Esszimmer, in das Janet sie gewiesen hatte. »Mr Gray…!«, begann Laura aufgeregt, aber als sie sah, dass Hoblenz neben Gray saß, verschluckte sie den Rest ihres Satzes. Ihre unzähligen Fragen mussten noch eine Weile warten. Die beiden Männer standen auf. Gray rückte Laura den Stuhl gegenüber von Hoblenz zurecht. Die drei Gedecke waren am Ende des langen Ti sches aufgelegt worden, weit weg von der prachtvollen Aussicht. »Wo sind all die anderen?«, fragte Laura, während sie ihre Serviette auf ihrem Schoß ausbreitete. »Ach, die arbeiten durch«, sagte Gray, ohne Laura in die Augen zu bli cken. Aber Hoblenz schaute sie direkt an. Die Bedienung war prompt wie immer. Keiner sagte ein Wort, als die Bediensteten in ihren weißen Jacken mit choreographiert wirkenden Be wegungen servierten. Laura warf wiederholt einen Blick auf Gray, aber er wich ihren Blicken absichtlich aus. »Was ist los?«, fragte sie schließlich. »Es tut mir Leid, Dr. Aldridge«, sagte Hoblenz, »aber es geht um eine ziemlich heikle Sicherheitsangelegenheit.« »Sagen Sie ihr, um was es sich handelt«, wies Gray ihn an. Er schob sich Garnelen-Remoulade in den Mund und sah Laura immer noch nicht an. Hoblenz legte seine Gabel hin und wischte sich den Mund mit einer Ser 234
viette ab. »Also – okay.« Er zögerte. »Heute Nachmittag ist jemand in eine Sicherheitszone eingedrungen.« Laura war sofort auf der Hut. »In welche Sicherheitszone?« Hoblenz sah Gray an, der nickte. »Wir sind ziemlich sicher, dass es eine VR-Workstation war«, sagte Hoblenz. »Dem Logbuch zufolge ist eine Reihe von VR-Treibern geladen worden.« »Das war ich«, sagte Laura sofort. Gray hob den Kopf, schaute aber nicht sie, sondern Hoblenz an. Hoblenz warf seine Serviette auf den Tisch und erwiderte Grays Blick. »Das beweist überhaupt nichts, Sir!« Gray wandte sich an Laura. »Wie sind Sie hineingekommen?«, fragte er, Laura jetzt direkt anschauend. »Der Computer hat gesagt, ich sollte hineingehen, und ich habe es ge tan.« »Wo sind Sie gewesen, als Sie im Cyberspace waren?«, fragte Gray, je des Wort mit Bedacht formulierend. Laura ließ den Blick zwischen den beiden Männern hin und her wan dern. »Ich… ich war bei Ihrer Fabrik in Deutschland und dann in einem Einkaufszentrum.« »Tysons Corner bei Washington?«, fragte Gray, und Laura nickte. Hoblenz musterte seinen Boss. Auf seinem Gesicht lag ein verblüffter Ausdruck. Er ist noch nie dort gewesen, begriff Laura. Aber Gray war schon dort. »Sonst noch… irgendwo?«, hakte Gray nach. Laura hielt seinem Blick einen Augenblick stand, dann nickte sie – nur einmal. Gray musterte sie durch Augen, die sich zu Schlitzen verengt hatten, dann sagte er plötzlich: »Mr Hoblenz, würden Sie uns bitte verlassen?« Hoblenz zog bestürzt die Brauen hoch. »Sir?« »Es tut mir Leid, aber ich muss Sie bitten, uns allein zu lassen. Entschul digen Sie wegen des Essens. Ich werde es ein andermal wieder gutma chen.« Hoblenz zögerte, dann seufzte er geräuschvoll und stand auf. Laura konnte sehen, dass er wütend war. 235
»Und, Mr Hoblenz – stellen Sie Ihre Überwachung von Dr. Aldridge ein.« Hoblenz murmelte etwas, das mit Kraftausdrücken gespickt war, dann stürmte er mit zusammengebissenen Zähnen aus dem Zimmer. Laura schaute nur auf ihren Teller. Die Kellner servierten das Hauptge richt – Lammbraten mit Minzgelee. Sie leerte ihr Weinglas, und Gray füllte es sofort wieder. »Hören Sie«, sagte Laura abrupt. »Ich bedaure es, wenn ich etwas gese hen haben sollte, das ich nicht sehen sollte. Ich weiß, ich hätte nicht dort hineingehen dürfen, aber… Von mir wird erwartet, dass ich ins Innerste des Computers eindringe. Ein Mittel dazu sind sicher diese Workstations«, sagte sie, auf die ziemlich schwache Rechtfertigung des Computers zu rückgreifend. Gray stocherte in seinem Lammbraten herum. Auf seinem Gesicht lag ein Ausdruck der Resignation. »Sie haben mit dem Computer gesprochen, nicht wahr?« Laura kaute langsam und versuchte zu entscheiden, ob sie den Computer mit einer Bejahung in Schwierigkeiten brachte. »Das Stim merkennungs- und Sprachsynthese-Programm wurde geladen, während Sie in der Workstation waren«, sagte er und enthob sie damit der Notwen digkeit einer Antwort. »Was halten Sie davon?« Laura lächelte. »Es war phantastisch!«, sagte sie, und Gray lächelte gleichfalls. »Warum lassen Sie ihn nicht ständig sprechen?« »Das werde ich schon tun, eines Tages. Im Augenblick gilt das Pro gramm noch als Forschungsprojekt.« Sie aßen eine Weile schweigend. Als Gray die Unterhaltung wieder auf nahm, hatte er das Thema geändert. »Haben Sie mit dem Computer über seine Depression gesprochen?« »Ich… ich bin noch nicht so weit gekommen«, erwiderte Laura, wobei sie sich leicht in die Defensive gedrängt fühlte. »Ich fand, als erstes müsste ich herausfinden, ob der Computer hinreichend ›menschlich‹ ist, um unter psychischen Störungen leiden zu können.« Gray ruckte. Er schien das Interesse an seinem Essen verloren zu haben. »So… und wo sind Sie sonst noch gewesen? Im Cyberspace, meine ich.« Er stach mit der Gabel in sein Fleisch und wartete auf ihre Antwort. 236
»Es sah aus… wie irgendwo im Weltraum. Wie auf einem Planeten oder einem Mond, aber der Boden war kohlschwarz.« Gray legte die Gabel auf den Teller. Er sprach sehr langsam, als er frag te: »Haben Sie irgendetwas angerührt?« Laura schüttelte verblüfft den Kopf, dann erwiderte sie: »Nein. Ich habe nichts angerührt.« »Sind Sie ganz sicher?«, beharrte er. Laura nickte, dann nickte sie noch einmal wesentlich nachdrücklicher. »Als ich den Arm ausstreckte«, sagte sie, ihren Arm in die Luft hebend, »sah meine Hand aus wie ein… Greifer.« Sie drückte die Finger zusam men und imitierte eine Hummerschere. »Das hat mich so erschreckt, dass ich sofort ausgestiegen bin. Ich habe nichts angerührt, das schwöre ich.« Gray senkte langsam den Kopf. »Was für ein Ort war das?« Gray hob den Kopf wieder, schaute aber an ihr vorbei aus dem Fenster. Er sprach langsam und mit gesenkter Stimme. »Zum ersten Mal in meinem Leben weiß ich nicht, was ich tun soll. Ich weiß nicht, ob ich Ihnen alles sagen oder Sie für immer von der Insel wegschicken soll. Ich weiß nicht, ob ich den Computer abschalten und neu anfangen soll, oder ob das, was passiert, die aufregendste Sache seit Anbeginn der Menschheit ist. Ich… ich weiß einfach nicht, was das Richtige wäre.« Sie wartete, aber er sprach nicht weiter. »Mr Gray, als Sie mir sagten, Sie könnten Roboter ferngesteuert arbeiten lassen…« Er sah sie an. »Durch Teleoperation«, verdeutlichte er. »Ja. Also… war dieser Ort, an dem ich war, eine Art Simulation? Mit der durchgespielt wurde, wie es sein würde, wenn man einen Roboter auf einem anderen Planeten oder so etwas ›teleoperieren‹ wollte?« »Ich weiß es nicht«, erwiderte er geistesabwesend. »Sie wissen nicht, von welchem Ort ich spreche?«, fragte Laura. »Die sem Ort mit der kohlschwarzen Oberfläche und einer Art – Landefahrzeug?« »Oh, den Ort kenne ich sehr gut«, erwiderte er in erschöpft monotonem Tonfall. Er sah sie an, war aber tief in Gedanken versunken. Offensichtlich hatte er nicht vor, mehr zu sagen. 237
Gray schwieg auf ihrem Weg zu dem vor dem Haus wartenden Wagen. Er hatte vorgeschlagen, gemeinsam eine Fahrt zu unternehmen, und Laura unterließ es, ihn nach ihrem Ziel zu fragen. Als sich die Türen geschlossen hatten, sagte sie: »Hoblenz weiß nichts von diesem Ort, stimmt’s?« Gray schüttelte den Kopf. »Montagegebäude«, befahl er mit klarer Stimme, und der Wagen setzte sich in Bewegung. »Hier läuft alles auf einer Basis des Wissen-Müssens. Da der Computer in immer stärkerem Maße die Kontrolle über unsere Unternehmungen übernimmt, wird die Liste der Dinge, die unsere Abteilungsleiter wissen müssen, immer kür zer.« »Sie tun so, als wäre das eine gute Sache«, sagte Laura kopfschüttelnd. Sie fuhren durch das Tor und bogen nach links ab. »Leute im Dunkeln lassen… Weshalb sind Sie so verschwiegen? Ich meine, Margaret und Georgi und Griffith und die anderen genießen doch sicherlich Ihr Vertrau en.« Er öffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber die Worte schienen ihm im Hals stecken zu bleiben. »Es ist eine Last, bestimmte Dinge zu wissen. Sie ständig mit sich herumtragen, mit ihrem drückenden Gewicht leben zu müssen.« Laura sah, wie Gray den Kopf schüttelte, bevor sie in die schwarze Tun nelöffnung hineinfuhren. Der Mantel der Dunkelheit ermutigte sie. »Der Computer kennt Ihr großes Geheimnis.« Als sie wieder ins schwache Abendlicht hinausfuhren, sah Laura, dass Gray sie anschaute. »Natürlich kennt er es«, sagte er. »Der Computer weiß fast alles. Diese Insel ist hoch automatisiert, und der Computer befindet sich im Zentrum von allem, was wir tun.« Sein Blick schweifte unstet durch das Fenster. »Es sind die Menschen, die bei den tagtäglichen Opera tionen immer unwichtiger werden.« »Und Sie glauben wirklich, dass ich dem Computer helfen kann, Mr Gray?«, fragte Laura und wartete begierig auf seine Antwort. Er wandte sich ihr zu. »Bitte, nennen Sie mich Joseph«, war alles, was er sagte. 238
Die Montagehalle war für Menschen gesperrt. Diejenigen, die hineingin gen, erklärte Gray, machten nur eilige Abstecher von dem halben Dutzend Wohnwagen aus, die auf dem Gelände aufgestellt worden waren. Er führte Laura durch den Entstauber in das riesige Gebäude. Sie vermieden es, den Arbeitsbereich im Erdgeschoss zu betreten; statt dessen gingen sie durch eine Nebentür, durch die sie auf einen Flur ge langten. Er führte an leeren Büros vorbei zu einer Tür, an der »Kinder zimmer« stand. Laura folgte Gray hinein. An der gegenüberliegenden Wand stand eine Reihe von hohen Hockern mit niedrigen Rückenlehnen vor einem breiten Fenster, durch das man in einen großen Raum hinabschauen konnte. Gray führte Laura an Reihen von Computern vorbei zu dem Fenster. Vor jedem Hocker war eine Konsole mit Monitoren und Steuergeräten angebracht. Gebilde, die aussahen wie leere Handschuhe, ragten aus den leeren Arbeitsstationen hervor, und von der Decke hingen Geräte herab, die aussahen wie Pistolengriffe. »Früher haben wir das von Hand bewerkstelligt«, sagte Gray, wie um sich für Gerätschaften zu entschuldigen, die Laura futuristisch vorkamen. Er bedeutete ihr, sich auf einen der Hocker zu setzen. Als sie es getan hatte, sah sie durch das Fenster hindurch ein Stockwerk tiefer in einen seltsamen Raum. Ein riesiges Siebener-Modell stand inmit ten einer Fülle von Gegenständen. Kugeln, Würfel, Keile und Kegel – alles kohlschwarz – waren über den ganzen Fußboden verstreut, der wie die Wände und die Decke mit einem grellweißen Polstermaterial verklei det war. Der Torso des schlaksigen Roboters wurde von Riemen gehalten, ebenso seine Spinnenbeine und die kurzen Metallarme. An die Riemen waren lange Kabel angeschlossen – einige straff, andere locker –, die von einem Schlitten an der Decke herabhingen. Laura musste dabei an die Bühne eines Puppenspielers denken, der seine Marionetten auf dem Fußboden weit unten tanzen ließ. »Wenn sie vom Fließband kommen«, erklärte Gray, der sich auf dem Hocker neben ihrem niedergelassen hatte, »sind sie praktisch hilflos.« 239
Das Siebener-Modell streckte einen seiner dünnen Arme unsicher aus und stieß einen Würfel herunter, der auf einem anderen gelegen hatte. Dann kehrte der Greifarm mit ruckartigen Bewegungen an die Seite des Roboters zurück. Ein an dem kleinen Arm des Puppenspielers befestigter Greifer hob den heruntergefallenen Würfel auf und legte ihn wieder auf den anderen. Danach straffte sich eine Reihe von Kabeln, und die Man schette, die den Arm des Siebener-Modells umhüllte, führte den Greifer zu dem Würfel. Nachdem sich die Metallbacken darum geschlossen hatten, dirigierten die Kabel den Arm mit maschineller Präzision zum Fußboden. Der Arm kehrte an die Seite zurück und sackte herunter, als sich die Kabel der Manschette lockerten. »Dieses Siebener-Modell wird mit etwas trainiert, was wir ›DurchführProgrammierung‹ nennen« sagte Gray, während der Roboter darauf warte te, dass der Würfel wieder auf sein Podest gehoben wurde. »Der Kontrol ler des Siebeners zeichnet die Bewegungen auf und wiederholt sie dann genauso, wie er es gelernt hat. Passen Sie auf.« Diesmal erhob sich der Arm des Roboters von selbst zu dem Würfel, er griff ihn und deponierte ihn auf dem Fußboden, wobei seine Bewegungen genau denen entsprachen, die er gerade gelernt hatte. »Wir waren wirklich verblüfft, wieviel Computer-Leistung erforderlich ist, um die Roboter auf Mobilität zu programmieren«, sagte Gray. »Wir Menschen glauben, sich von einem Stuhl zu erheben, ein Zimmer zu durchqueren und sich ein Glas Wasser zu holen wäre die einfachste Sache der Welt, Schachspielen dagegen schwierig. In Wirklichkeit ist es umge kehrt. Wir sind, was unsere motorischen Fähigkeiten angeht, eben so leis tungsfähig, dass sie uns leicht vorkommen. Datenverarbeitung auf hohem Niveau wie Schach, Differentialgleichungen und das Komponieren von Musik erscheinen uns nur deshalb so schwierig, weil wir darin so ungeübt sind. Der Grund dafür ist die Tatsache, dass Denken auf hohem Niveau die jüngste Errungenschaft in unserem mentalen Repertoire ist, während wir Lokomotion schon vor Millionen Jahren gelernt haben.« Laura ließ Gray ausreden, und als er sie dann ansah, sagte er: »Oh, ich bitte um Entschuldigung. Damit wage ich mich vermutlich auf Ihr Ge biet.« 240
»Nein, das ist schon okay. Bisher gebe ich Ihnen eine Eins minus.« Gray lächelte und wandte sich wieder dem Raum unter ihnen zu. »Den Robotern wird eine ganze Menge rudimentärer Systeme gleich am Fließ band mitgegeben. Dann dirigiert der Hauptcomputer sie durch ein paar Billionen Simulationen. Schließlich kommen sie hierher, aber wie Sie sehen können« – Gray deutete mit einem Kopfnicken auf den an seinen Kabeln hängenden ›jungen‹ Roboter – »sind sie immer noch ziemlich hilflos. Anfangs können sie nicht einmal stehen.« »Wie alt ist der da unten?« »Ich vermute, dass er vor etwa einer Woche vom Fließband kam. Nach ungefähr zwei Wochen im Kinderzimmer geht er zum Basiszentrum für neuronale Programmierung und dann zu dem für Fortgeschrittene.« »Kindergarten und Vorschule?«, fragte Laura, und Gray lächelte. Sie be obachteten, wie der schlaksige, vierbeinige Roboter versuchte, zu einer Reihe neuer Objekte zu laufen. Die Kabel strafften sich bei praktisch je dem Schritt, weil der Roboter einfach vergaß, einen Fuß niederzusetzen. »Weshalb programmieren Sie nicht all die neuronalen Netze gleichzei tig?«, fragte Laura. »Ich meine, sobald einer von ihnen alles kapiert hat, wäre es doch sicher wesentlich effizienter, dessen Programm für den gan zen Rest zu benutzen. Es muss doch sehr teuer sein, sie auf diese Weise jeweils nur eine Sache lernen zu lassen.« »Aber es ist die einzige Möglichkeit«, sagte er und drehte seinen Ho cker, um sie anzuschauen. Der ernste Ausdruck auf seinem Gesicht forder te Lauras ganze Aufmerksamkeit. »Sehen Sie, neuronale Netze haben gegenüber digitalen Prozessoren zwei gewaltige Vorteile. Der erste ist, dass sie mit Anstand versagen. Wenn in einem ihrer Knoten etwas falsch läuft, dann leiten sie ihre Prozessierung einfach um, anstatt das ganze System zusammenbrechen zu lassen. Und dann ist da der zweite große Vorteil, der offensichtlich ist.« »Und welcher ist das?« Mit funkelnden Augen sagte Gray: »Sie entwickeln Verstand.« Seine Stimme hatte etwas Träumerisches. »Das waren Theorien, aber niemand hat es gewusst, bis wir es versuchten. Der Trick liegt im Prozess des Ler nens. Man kann dem Roboter sagen, dass ein Würfel, wenn man ihn von 241
einem anderen herunterstößt, auf den Boden fällt. Aber wenn man ihm erlaubt, das von Grund auf zu lernen, dann beginnt er fast sofort, Verall gemeinerungen zu ziehen.« Er wirkte angeregt und schien vor Begeisterung zu strahlen. »Jeder herkömmliche Computer ist dazu gedacht, auf die gleiche Gruppe von Instruktionen jedesmal auf genau dieselbe Art zu reagieren. Aber neuronale Netze sind ganz anders. Von dem Moment an, in dem sie vom Fließband kommen, zeigen sich Unterschiede in ihren Fähigkeiten, Vor lieben und Tendenzen. Manche sind besser bei Detailarbeit. Andere haben einen derart hoch entwickelten Sinn für Kinästhesie, dass sie durch einen Porzellanladen wandern könnten, ohne einen Teller anzustoßen. Wieder andere sind großartige Problemloser und am erfolgreichsten bei reinem, abstraktem Denken. Alle haben die gleiche Hardware, aber die Fülle von Verbindungen in ihren Netzen lässt sie zu Individuen werden.« Gray glitt von seinem Hocker und begann herumzuwandern. »Es ist ge nau wie bei Menschen. Nehmen Sie Georgi – ein wahres Genie auf dem Gebiet der Physik optischer Computertechnik. Er ist außerdem der beste Schachspieler, der mir je begegnet ist. Und dann ist da Margaret, die von allen Menschen auf der Welt den besten Sinn für Datenbanken hat. Außer dem ist sie eine ledige und äußerst hingebungsvolle Mutter. Sie macht jeden Tag um Schlag fünf Uhr Feierabend, um das Abendessen für ihre Kinder zu kochen. Dorothy ist ein Pasteur des einundzwanzigsten Jahr hunderts, aber sie sollten auch hören, wie sie Klavier spielt. Sie war ein Wunderkind und wurde schon mit vier Jahren wie eine Art Zirkusnummer vorgeführt. Und schließlich Griffith – ein kahl werdender Robotoniker, der sich für einen Hell’s Angel hält. An seinen freien Tagen fährt er mit einer Harley auf der Insel herum und lässt seinen Diskplayer ›Born to Be Wild‹ spielen – immer ›Born to Be Wild‹, nie etwas an deres.« »Und was ist mit Hoblenz?« »Er ist ein Krieger, ein Angehöriger eines noch stärker spezialisierten Menschenschlages, der nur für die Jagd lebt. Früher einmal mussten alle Menschen imstande sein, sich zu verteidigen, wenn sie überleben wollten. Die schlechten Kämpfer wurden von der Horde ausgesondert, zusammen 242
mit den Genen, die sie schwach gemacht hatten. Jetzt bezahlen wir andere dafür, dass sie für uns kämpfen, und wir rüsten sie mit so leistungsfähigen Werkzeugen aus, dass bei vielen weitaus weniger Veranlagung für Ge walttätigkeit erforderlich ist, um sie zu hervorragenden Killern zu machen. Und wir brauchen immer weniger von ihnen.« In der darauffolgenden Stille quälte sich Laura mit etwas. Schließlich sprach sie es aus. »Weshalb zeigen Sie mir das alles?« Es war nicht richtig herausgekommen. »Ich meine, missverstehen Sie mich nicht. Das alles fasziniert mich, aber ich verstehe einfach nicht, was es mit meinem Job zu tun hat.« »Ich bitte Sie um etwas, das noch nie zuvor getan worden ist. Ich bitte Sie, mir zu sagen, ob der Computer emotional gestört ist, und wenn er es ist…« Laura wartete, aber sie musste ihn zum Weitersprechen drängen. »Ja?« »… können Sie ihn dann in den nächsten drei Tagen kurieren?« Nach der Rückkehr von ihrem Ausflug zum Kinderzimmer machte sich Laura in der Stille ihres Büros wieder an die Arbeit. Sie war verblüfft, wie steif und empfindlich ihre Finger von all dem Tippen waren. Sich zurück lehnend massierte sie ihre Hände, wobei sie zu dem schwarzen Augapfel in der Wand neben der Tür schaute. »Kannst du mich gut genug hören?«, fragte sie mit erhobener Stimme. Der Computer antwortete ihr auf dem Bildschirm. Woher sonst sollte ich wissen, ob Sie sich wohl genug für ein Plauderstündchen fühlen? Laura seufzte und beugte ihre Finger wie eine Pianistin, wobei die Ge lenke in ihren Händen knackten. »Lassen wir das«, tippte sie. »Also, wo her weißt du, wenn dich ein Virus befallen hat?« Normalerweise bekomme ich eine Meldung von Phase Eins. »Du kannst sein Vorhandensein nicht selbst spüren?« Wenn es schlimm genug ist. spüre ich etwas. Diese momentane Infektion fühlt sich an. als wäre eine Lee re in mir. Ich habe mir einen ausführlichen Überblick 243
verschafft. Ungefähr sechs Prozent meines Systems werden von etwas benutzt, dass nicht ich bin. Es ist so. als wäre drüben im Anbau leerer Speicherplatz. Ich weiß, dass die Platinen dort vorhanden sind, a ber ich kann nicht auf sie zugreifen. Ich kann sie nicht einmal finden. Und es verändert sich. Der leere Spei cherplatz wächst. »Aber du hast keine Ahnung, was es ist?« Ich nenne es den »Anderen«, erwiderte der Computer. Und Laura las seine Antwort mit wachsender Bestürzung. Es war spät, als Laura in Grays Haus zurückkehrte. Sie war erschöpft, aber anstatt nach oben und zu Bett zu gehen, gab sie dem Drang nach, sich auf die Suche nach Gray zu machen. Die Tür zu seinem Arbeitszimmer war geschlossen und Laura klopfte an. »Kommen Sie rein!«, rief Gray laut von drinnen. Sie öffnete die Tür und sah, dass Gray in seinem Sessel saß und las. Sei ne bestrumpften Füße lagen auf dem Schreibtisch und wurden von dem Feuer im Kamin gewärmt. »Oh, Laura«, sagte er, zog die Füße vom Schreibtisch und legte die Pa piere, in denen er gelesen hatte, auf die Platte. »Tut mir Leid, dass ich Sie so spät noch störe. Aber ich glaube, wir müs sen miteinander reden.« Gray stand auf, ging um seinen Schreibtisch herum und bedeutete ihr, sich auf dem Ledersofa niederzulassen. Ihr war plötzlich nicht mehr ganz klar, was sie eigentlich hatte sagen wollen. In Gedanken hatte sie während der Fahrt auf den Berg hinauf ein halbes Dutzend Gespräche begonnen, aber sie war nie bis zum Kernpunkt der Unterhaltung vorgedrungen. »Ich freue mich, dass Sie hereinschauen«, sagte Gray, nachdem er sich in dem Sessel neben dem Sofa niedergelassen hatte. »Ich habe gerade Ihren jüngsten Artikel gelesen – sehr interessant. Ich hatte keine Ahnung, welche Ansichten Sie vertreten.« Laura wusste nicht, wie Sie die Bemerkung verstehen sollte. »Aber wenn 244
Sie meine Ansichten nicht kennen«, begann sie, wobei sie sich immer stärker in die Defensive gedrängt fühlte, »weshalb haben Sie mir dann diesen Job angeboten?« »Oh, ich habe Sie nicht ausgesucht«, sagte er, und Laura fühlte sich so fort deprimiert. Sie spürte, wie ihr das Blut ins Gesicht schoss. »Das hat der Computer getan.« »Der Computer?« Gray zuckte die Schultern. »Möchten Sie einen Drink?« Laura trank nur selten Alkohol. »Einen Wodka-Tonic«, sagte sie, ließ sich in die Kissen sinken und sackte zusammen. Gray hantierte an der Bar. »Vor ungefähr einer Woche«, erklärte Gray, während er das klirrende Eis umrührte, »hat der Computer mir gesagt, dass er sich nicht wohlfühle. Dann, vor ungefähr drei Tagen, teilte er mir mit, er wolle mit jemandem sprechen.« Gray reichte Laura das kühle Glas, und sie nahm einen Schluck. »Ich fragte, mit wem, und er nannte mir Ihren Namen.« Er setzte sich und trank ebenfalls aus seinem Glas. »Ich verstehe.« Sie getraute sich kaum zu fragen. »Und was halten Sie« – sie deutete mit einem Kopfnicken auf seinen Schreibtisch – »von mei nem Aufsatz?« »Wie ich bereits sagte – er ist sehr interessant. Die Schreibe ist ein biss chen holprig, aber Sie kommen dem Kern der Sache sehr nahe.« »Wie bitte! Was meinen Sie mit ein bisschen holprig? Ich habe in mei nem ganzen Leben noch keinen schludrigen Aufsatz veröffentlicht!« Gray schien von ihrem Ausbruch überrascht zu sein, und Laura holte tief Luft, um sich zu beruhigen. Er stand auf und ging zu seinem Schreibtisch. »Es ist die Substanz, die zählt. Ich habe in meinem Weltraum-Büro einen In genieur, der nicht einmal mit einem Stock seinen Namen in den Sand schreiben könnte, aber Sie sollten ihn an einem Digitalisierer erleben…« Er reichte ihr den Packen Papier. Am unteren Ende der ersten Seite war ein Druckfehler eingekreist. An stelle von »anosognosia« stand dort »anosognesia«. Aber es handelte sich nicht um ihren jüngsten, heftig umstrittenen Aufsatz, den sie bei dem Symposium in Houston vorgelegt hatte, und auch um keinen ihrer anderen veröffentlichten Artikel. Es war der Entwurf zu einem unveröffentlichten 245
Aufsatz, den bisher niemand außer ihr zu sehen bekommen hatte. »Wo zum Teufel haben Sie das her?«, fauchte Laura und schwenkte die Blätter wütend vor ihm in der Luft. Gray wirkte verblüfft. »Ich dachte, es wäre eine Ihrer neueren Publikati onen.« »Ich habe das hier nicht publiziert! Ich habe es nicht einmal irgendje mandem gezeigt!« Ihr Kinn bebte. »Sie haben es aus meinem Computer in Harvard! Sie haben es gestohlen!« Gray sackte in seinem Sessel zusammen und starrte auf seinen Drink, den er jetzt mit beiden Händen hielt. Er schien sehr bestürzt zu sein. »Ja«, sagte er mit abwesender Stimme. Sie musterte ihn ungläubig. »Das ist alles, was Sie dazu zu sagen ha ben?« Sie schrie ihn fast an. »Sie, der immer darauf hinweist, wie sehr er das Privatleben respektiere?« »Laura«, erwiderte Gray ruhig, »wir haben ein sehr großes Problem. Ich verliere die Kontrolle über den Computer. Er fängt an – von sich aus zu handeln.« »Einen Moment. Wollen Sie damit sagen, es war der Computer, der meinen Aufsatz gestohlen hat? Dass Sie nichts damit zu tun hatten? Dass er das hier«, sagte sie und hob abermals den Stapel Papiere, »gefunden und sich dann entschieden hat, mich hierher zu holen?« Gray runzelte nur die Stirn. »Weshalb? Weshalb sollte er so etwas tun?« »Die Antwort liegt auf der Hand. Der Aufsatz ist brillant, auch wenn Ih re Schlussfolgerung falsch ist.« »Also… seien Sie nicht so verdammt sicher, was diese falsche Schluß folgerung betrifft.« Sie schäumte immer noch, aber das Wort »brillant« klang ihr in den Ohren. »Ich bin ziemlich sicher, was die Schlussfolgerung angeht«, sagte er oh ne eine Spur von Bosheit. »Aber davon abgesehen ist die Gedankenfüh rung originell. Sie ist ein echter Fortschritt, und das kann man über das, was Ihre Leute von sich geben, nicht oft sagen.« Ihr Kopf fuhr hoch. »Und welche ›Leute‹ sind das?« »Akademiker.« Sie öffnete den Mund, um zu widersprechen, doch der Gedanke an Paul 246
Burns, der pausenlos Blödsinn produzierte, um einen Lehrstuhl zu erhal ten, ließ sie zögern. Trotzdem sank sie auf dem Sofa zurück und schüttelte angesichts seiner unglaublichen Arroganz den Kopf. »Der Computer möchte glauben, was Sie in diesem Aufsatz sagen«, fuhr Gray fort, dessen Stimme immer gequälter klang. »Es würde ihm helfen, bestimmte persönliche… Schwierigkeiten in den Griff zu bekommen, wenn das, was Sie postulieren, stimmt. Lassen Sie mich sehen, ob ich die Aussagen, die Sie gemacht haben, paraphrasieren kann.« »Aber natürlich! Legen Sie los. Ich bin sicher, Sie können alles auf einen einzigen Satz reduzieren und mir den dann um die Ohren schlagen.« »Sie glauben«, sagte er, die Spitze ignorierend, »dass das Ding, das wir unser ›Selbst‹ nennen, keinerlei Bedeutung habe. Dass wir ein ›Selbst‹ erfinden, genau wie Spinnen Netze spinnen und Biber Dämme bauen. Wir wissen nicht, weshalb wir das tun. Uns ist nicht einmal bewusst, dass wir es tun. Aber wir erschaffen dieses artifizielle Konzept, ein unverwechsel bares ›Selbst‹ zu sein, weil diejenigen Menschen, die so ›selbstbezogen‹ waren, ihr Leben höher einschätzen als das anderer, im Spiel der natürli chen Auslese besser bestanden haben als diejenigen, die ›selbstloser‹ wa ren. Sie vererben ihre Egozentrik, die wir als Individualismus bezeich nen.« Er hatte ihren Aufsatz perfekt zusammengefasst, und das machte sie wü tend. »Das ist eine Übersimplifizierung!« »Auf alle Fälle ist das der Teil, in dem Sie alles richtig gesehen haben.« Seine Bemerkung brachte sie aus der Fassung. Sie wusste nicht, was sie als nächstes sagen sollte. »Und? Wollen Sie damit andeuten, dass Sie derselben Ansicht sind?« »Was diesen Teil angeht, ja.« »Aber das ist doch alles, was ich gesagt habe.« »Nicht ganz. Da gibt’s auch eine unterschwellige Kritik des Prozesses, den Sie so akkurat beschrieben haben. Sie setzen die Bemühung ständig herab, indem sie es als ›bloßes‹ Konstruieren eines Selbst bezeichnen, oder Sie sagen, ein Selbst wäre ›nur‹ eine künstliche Konstruktion. In dem Aufsatz wimmelt es von Beispielen für Ihre persönliche Philosophie.« Lauras Unterkiefer sackte herab. »Oh, jetzt verstehe ich. Ich habe eine 247
›persönliche Philosophie‹ und es ist meine persönliche Philosophie, die vollkommen falsch ist!« Gray nickte. »O-o-oh!« Laura klatschte sich wütend mit den Händen auf die Schen kel. Sie ergriff ihr Glas und ging damit zu den Bücherregalen, um dem Mann den Rücken kehren zu können, der sie so beleidigt hatte. »Sie haben mich gefragt, was ich davon halte.« Laura nahm einen Schluck, dann erwiderte sie: »Und was genau ist mei ne persönliche Philosophie?« »Ich nenne es Kommunalismus.« Laura wirbelte herum, sah ihn an und musste trotz ihrer Verärgerung la chen. »Jetzt verstehe ich! Ich bin ein eingeschriebenes Mitglied der kom munalistischen Partei. Und ich nehme an, von denen steht eines hinter jedem Baum. Wir Kommunalisten sind bekanntlich auf die Weltherrschaft aus.« Gray lächelte. »Ich weiß nicht, weshalb ich hier bin. Es tut mir Leid, Mr Gray, wenn Ihr Computer Sie dazu verleitet hat, mich zu engagieren – eine Kommunalistin. Ich gebe Ihnen gern mein Honorar zurück, weil für uns Kommunalisten Eigentum Diebstahl ist, wie Ihnen sicher bekannt sein dürfte.« Gray lachte laut. »Setzen Sie sich«, sagte er, und Laura spürte, wie eine Welle von Erschöpfung über sie hinwegflutete, weil der Alkohol Wirkung zu zeigen begann. Sie kehrte zum Sofa zurück und ließ sich tief in das weiche Leder sinken. »Möchten Sie noch einen Drink?« »Ich weiß nicht. Kommt drauf an, ob Sie damit fertig sind, sich über meine Ansichten lustig zu machen.« Gray erhob sich und streckte ihr die Hand entgegen. Sie leerte ihr Glas und gab es ihm. Er setzte seine Argumentation von der Bar aus fort. »Phi losophie, Ideologie, Politik, Religion – das alles ist miteinander verbun den. Ebenso Familie, Wissenschaft, Sex, Macht. Praktisch alles ist mehr oder weniger miteinander verknüpft. Mit alledem haben Sie genau ins Schwarze getroffen. Aber wo Sie sich geirrt haben, steht im dritten Absatz auf Seite zweiundvierzig.« Laura schlug rasch die Seite zweiundvierzig auf. »Sie schreiben hier«, fuhr Gray fort: ›»Ein Selbst ist lediglich eine untergeordnete Position in 248
einem unendlichen Netzwerk von Denkstrukturen.‹« Gray hatte exakt zitiert. »Ich weiß, was Sie über Myriaden von Dingen denken. Von der Definition von Anosognosia bis hin zu den Worten der Nationalhymne haben wir eine Wissensdomäne gemeinsam. Aber Ihre Ansicht über dieses gemeinsame, kommunale Wissen unterscheidet sich von meiner, weil wir im sozialen Netz leicht unterschiedliche Positionen einnehmen.« Ihr Kopf war gesenkt und nur das Knistern des Feuers war in dem plötz lich stillen Raum zu hören. »Sprechen Sie weiter«, sagte sie. »Das ist der Punkt, an dem Sie Ihren Fehler gemacht haben. Er ist sehr subtil, aber gleichzeitig so fundamental, dass er Ihre Schlussfolgerung gegenstandslos macht. Sie betrachten Leute als ›bloße‹ Positionen im sozialen Netz. Was wir wissen und glauben, sind lediglich Komponenten der überaus wichtigen Gesellschaft, der wir angehören. Wir sind lediglich ein Bindeglied in dem Kontinuum, das von jeder nachfolgenden Generati on einer sich ständig weiterentwickelnden Kultur kaum spürbar modifi ziert wird.« Er redete rasch, predigte mit tief empfundener Überzeugung. »Wenn einer von uns stirbt, dann stirbt die Kultur nicht mit ihm, sie lebt weiter. Wenn wir etwas entdecken oder erfinden, dann ist das lediglich die schrittweise Hinzufügung von Wissen durch die Kultur. Wir haben einen Kult des Individuums entwickelt. Wir haben alles von der Religion bis zum Kapitalismus auf die irrige Überzeugung gegründet, dass Individuen tatsächlich existieren und dass wir nicht nur alle Ameisen in einem Amei senbau sind.« Laura schaute in Grays Augen auf. Sie funkelten im Licht des Kamin feuers. »Aber ich bin hier, um Ihnen zu sagen: Der Mythos lautet nicht, dass es Individuen gibt. Der Mythos lautet, dass es ein Kollektiv gibt. Das Kollek tiv stirbt nie, weil das Kollektiv von Anfang an nie gelebt hat! Wir alle sind lediglich Individuen, die vor allem und in erster Linie von dem Ver langen nach Selbsterhaltung motiviert werden. Nicht unbedingt der Erhal tung unseres biologischen Lebens, aber nach Schutz jenes Etwas in uns, das definiert, wer wir sind. Eltern stürzen mit Todesverachtung in ein brennendes Haus, um ihr Kind zu retten, und zwar nicht, weil die Gesell schaft diesen Charakterzug entwickelt hätte, um das Fortbestehen des 249
Kollektivs zu gewährleisten. Da wäre es besser, das Kind umkommen zu lassen und den produktiven Erwachsenen zu retten! Eltern stürzen sich kopfüber in dieses brennende Gebäude, weil ihr Selbst gewisse grundle gende Charakteristika hat, und eines davon verlangt, dass sie das Leben ihrer Kinder retten müssen. Für dieses Selbst gibt es keine Alternative. Wenn es seinen Wirt nicht ins Feuer schickt, dann wird das Selbst, das seine Kinder vor Schaden rettet, genau so sicher untergehen, als wäre es mit seinem Wirt im Feuer umgekommen.« Gray schwieg und Laura hatte das Gefühl, am Ende zu sein. Sie wusste nicht, ob der Alkohol schuld daran war oder der Mangel an Schlaf oder die emotionale Erschöpfung, die durch die Macht von Grays Gedanken bedingt wurde. »Ich war eigentlich gekommen, um über den Computer zu reden«, mur melte sie. »Es ist spät. Wir unterhalten uns morgen früh.« Laura wollte widerspre chen, aber er stand auf und sie folgte seinem Beispiel. Einen Moment standen sie sich wortlos von Angesicht zu Angesicht gegenüber. Dann sagte Laura Gute Nacht und ging nach oben in ihr Zimmer. Minuten später schlief sie tief und fest.
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7. KAPITEL Joseph küsste Dorothys Lippen, dann ihren Hals, dann ihre Schulter – glitt tiefer. Lauras Augen flogen auf. Sie lag in ihrem Bett, plötzlich hellwach. Ob wohl es nur ein Traum gewesen war, blieb ein unangenehmes Gefühl zurück. Durch die Vorhänge drang schwach das graue Licht der Dämme rung. Laura stand auf und zog sich zum Joggen an; sie hoffte, damit den schlechten Tagesanfang loszuwerden. Trotzdem litt sie nach wie vor unter störenden Erinnerungen an den Traum, und allmählich kamen ihr Zweifel, dass es sich bei der Frau in Grays Bett um Dorothy gehandelt hatte. Dieser Gedanke störte sie von neuem, und sie verließ ihr Zimmer mit finsterer Miene. Am Fuß der Treppe stieß sie auf Janet, die das Personal für die Morgen arbeit einteilte. »Morgen, Janet.« »Oh, guten Morgen, Dr. Aldridge. Entschuldigen Sie, aber würde es Ih nen etwas ausmachen, einen Augenblick hier zu warten?« Janet schickte das Personal an die Arbeit, dann verschwand sie im hinte ren Trakt des Hauses. Laura stand auf dem Marmorfußboden des Foyers und wunderte sich über Janets merkwürdige Bitte. Sie nutzte die Gelegen heit, um sich zu strecken, wobei ihre Laufschuhe auf dem polierten Mar mor quietschten. »Guten Morgen, Laura«, sagte Gray, der zwischen den beiden Treppen aufgängen zum Vorschein gekommen war. Er trug Laufshorts und -schuhe und ein T-Shirt mit der Aufschrift »Ich kaufe ein, also bin ich«. Laura lachte laut. »Was ist?«, fragte Gray mit einem Lächeln, und Laura zeigte auf die Worte auf seinem T-Shirt. »Ach so«, sagte er und neigte das Kinn auf die Brust, um sie zu lesen. »Das war ein Weihnachtsgeschenk von einem meiner Angestellten.« Gray hatte den Aufdruck offensichtlich gar nicht zur Kenntnis genommen. »Haben Sie etwas dagegen, wenn ich heute Morgen mit Ihnen laufe?« 251
»Draußen? Sie meinen dort, wo die Temperatur nicht exakt achtzehn Grad beträgt, wo es Insekten und Schlaglöcher und alle möglichen anderen Imponderabilien gibt?« »Man muss alles einmal versuchen«, sagte er grinsend. Sie gingen durch die Haustür. »Und Sie sind ganz sicher, dass Sie sich nicht doch lieber an Ihre Maschine anschließen und sich nur vorstellen möchten, dass Sie laufen?«, fragte Laura scherzhaft. »›Sogar der aufregendste Gedanke ist der dumpfesten Empfindung un terlegen‹«, erwiderte Gray mit einem Zitat. »Würden Sie das freundlicherweise lassen?« »Was?« »Mich zu testen! Niemand hat mir gesagt, dass diese Woche eine Art Quizshow für Genies stattfinden würde.« Gray zuckte nur mit den Schultern. Sie begannen ihren Lauf auf der kreisförmigen Auffahrt. »Das war David Hume, stimmt’s?«, fragte Laura. »Das Zitat?« Gray nickte. Am Tor wollte Laura nach links in Richtung Tunnel abbie gen, aber Gray wendete sich nach rechts. Laura holte ihn ein, und sie lie fen auf die Wachstation zu, wo Laura von Soldaten gestoppt worden war. »Gestern Abend, nachdem Sie zu Bett gegangen waren, habe ich Ihren publizierten Aufsatz gelesen«, sagte Gray. »Den vom Symposium über Künstliche Intelligenz in Houston.« Sie liefen stetig bergan, und Laura wartete darauf, dass Gray weiter spräche. »Wollen doch mal sehen, ob ich Ihre Ideen zusammenfassen kann.« »Himmel«, stöhnte sie. »Sie wollen es doch nicht schon wieder tun?« »Was?« »Meine Arbeit zu einem Bündel verschnüren, eine Schleife darum bin den und sie dann in der Luft zerfetzen.« »Das habe ich doch nicht getan, oder?« »Doch!« »Tut mir Leid. Aber diesmal wird das nicht passieren, weil ich mit all Ihren Schlussfolgerungen völlig übereinstimme.« »Vielen Dank!«, rief Laura mit von Sarkasmus geprägter Stimme. Es war die beste Methode, sich nicht anmerken zu lassen, wie hocherfreut sie 252
über seine Bemerkung war. Es war ein wundervoller Morgen und Laura atmete lächelnd in der klaren Luft tief durch. Sie erreichten schweigend die Kuppe und liefen dann den Pfad in den immer dichteren Wald hinun ter. »Also – was wollten Sie sagen?«, fragte Laura. »Okay«, begann Gray. »Der Verstand erschafft ein Selbst aus dem Nichts heraus. Wenn er ein Selbst erschaffen kann, dann kann er auch zwei oder drei oder fünfzehn erschaffen. Ihre Antwort lautet, dass er das in der Tat tut, nur nennen die Leute das normalerweise ›Stimmungen‹. Sie dagegen bezeichnen es mit Persönlichkeiten. Sie wachen am Morgen mit der mürrischen Persönlichkeit auf. Während Sie unter der Dusche stehen, ergreift die optimistische Persönlichkeit von ihrem Geist Besitz. Nach einer Tasse Kaffee kommt ihre arbeitslustige, euphorische Persönlichkeit zum Zuge. Wenn ihr Boss Sie fälschlich beschuldigt, Sie hätten Mist ge baut, erscheint die wütende, frustrierte Persönlichkeit. Alle sind ständig vorhanden und dringen periodisch an die Oberfläche – und zwar immer dann, wenn sich die Umstände ergeben, in denen diese spezielle Persön lichkeit blüht und gedeiht. Jeder Mensch ist also eine endliche Kollektion unterschiedlicher Persönlichkeiten, von denen jeweils eine nach einem auslösenden Ereignis oder als Folge irgendwelcher mentalen Vorgänge die Oberhand gewinnt.« Vor ihnen kam die Wachstation in Sicht. An jeder Straßenseite stand ein Mann mit einem Gewehr. Der Schlagbaum hob sich, um sie passieren zu lassen, und die Männer grüßten Gray, indem sie ihre Hüte antippten. »Nur in Fällen von multipler Persönlichkeit«, fuhr Gray fort, »sehen wir, was wirklich passiert. In einem gesunden Geist sind sich die verschiede nen Persönlichkeiten alle sehr ähnlich. Sie unterscheiden sich nur in ihrer allgemeinen Anschauungsweise – eben in ihren ›Stimmungen‹. Bei einem Persönlichkeitszerfall dagegen haben die Persönlichkeiten kaum mehr miteinander gemein als denselben Intellektträger. Jedoch gibt es zwischen einem gesunden Verstand und einem unter Persönlichkeitszerfall leiden den keinerlei grundsätzlichen Unterschied, außer dem Ausmaß der Auf splitterung der Persönlichkeiten.« »Ich bin ausgelacht worden, als ich diesen Aufsatz vorlas«, sagte sie lei se. 253
»Natürlich sind Sie ausgelacht worden.« Laura schaute Gray an, und er lächelte. »Wann immer man versucht, die Anschauungsweisen der Leute zu verändern, muss man auf einen Kampf gefasst sein. Deshalb sagen wir, dass alte Ideen schwer sterben. Was sie umbringt, ist trotzdem eine besse re, eine glaubwürdigere Idee.« Sie liefen eine Weile weiter, und Laura dachte über seine Worte nach. »Glauben Sie an Gott?«, fragte er plötzlich. Laura sah ihn verblüfft an. »Wo kommt denn das auf einmal her?« »Manche Leute hängen einer Überzeugung an, die über niederrangige Glaubensstrukturen hinausgeht. Christen, Moslems, Juden, Hindus, Budd histen, Humanisten, sogar Atheisten – alle haben Grundüberzeugungen, die das Universum abgrenzen, in denen ihre Gedanken und Ideen existie ren.« Sie verstand nicht, was er da gerade gesagt hatte. »Glauben Sie an Gott?« »Ja.« Sie schaute wieder zu ihm auf. Seine Miene ließ keine Spur einer ver borgenen Ironie erkennen. »Und was bedeutet das?« »Überrascht es Sie, dass ich an Gott glaube?« »Nein… ich… Es ist nur… ach, ich weiß es einfach nicht.« »Sie haben nicht gefragt, an welchen Gott.« Gray holte tief Luft. Er schaute durch eine Öffnung im Dschungel auf den blauen Himmel und die grüne See in der Ferne. »Manche Leute glauben an einen Gott, der wütend ist über die Versuche von Menschen, bis zum Himmel reichende Türme zu bauen. Ihr Gott will die Menschen an dem ihnen zugewiesenen Ort belas sen – ängstlich, fromm, voller Ehrfurcht, vor der Allmacht des Herrn kniend.« Ihr Tempo den Hügel hinab war jetzt sehr schnell, aber die kühle Luft hielt Laura frisch und voller Energie. »Und was ist mit Ihrem Gott?«, fragte sie. Gray lächelte. »Mein Gott wartet nur darauf, dass wir eine Lei ter zu seinem Himmel bauen. Er gab uns die Fähigkeit und den Drang dazu und er lächelt bei jeder Sprosse, die wir erklimmen. Gut und Böse sind die Maßstäbe, die mein Gott an die Menschen anlegt, aber was ist Gut und was Böse? Ist Gott gleichgültig gegenüber den Kräftigen und Intelli 254
genten, die die Gaben vergeuden, die er ihnen verliehen hat? Ist er gleich gültig gegenüber einem Mann, der – ohne Rücksicht darauf, wie beschei den seine Talente sind – sich abmüht und versucht, sich einen Weg zu einem besseren Leben zu erschuften?« »Ist das alles, worauf es hinausläuft? Wie schwer jemand arbeitet? Was ist mit guten Taten?« »Gute Taten sind wundervoll. Sie machen die Welt zu einem schöneren Ort. Aber sie tragen nichts zum zentralen Problem unserer Existenz bei. Sie bringen keinen Fortschritt für uns als Menschen – als Spezies.« »Was hat es mit diesem Fortschritt auf sich, der für Sie religiöse Propor tionen angenommen zu haben scheint? Ich meine, wir leben in einer Welt, die erfüllt ist von einer Million Schrecken, die die ›Fortschritte‹ der letzten paar Jahrhunderte mit sich gebracht haben.« Gray lachte. »Ohne Fortschritt wären Sie jetzt schon tot. Wenn es Ihren Eltern überhaupt gelungen wäre, lange genug am Leben und fortpflan zungsfähig zu bleiben, um Sie zu zeugen, wäre Ihre Mutter wahrscheinlich im Kindbett gestorben. Jede simple Verletzung hätte Sie als Kind umge bracht. Wenn Sie es bis zum Erwachsenendasein geschafft hätten, würden Ihnen parasitäre Krankheiten und schmerzhafter Zahnzerfall so zu schaf fen machen, dass Sie den Tod durch Verhungern jeder weiteren elenden Mahlzeit vorgezogen hätten. In Ihrem Alter wären Sie bereits lebensmüde. Unvorstellbar Ignorant geblieben, würden Sie keine der sublimeren Freu den genießen, die wir kennen. Das wenige, das Ihnen Freude machen könnte, wäre körperlicher Natur und flüchtig, und mit dem Älterwerden Ihres Körpers würden Sie sogar diese Dinge verloren haben. Laura, der einzige Grund dafür, dass dies keine Beschreibung Ihrer heutigen Existenz ist, ist der Fortschritt, und der einzige Umstand, dem wir diesen Fortschritt zu verdanken haben, ist Arbeit.« Es war so banal – so offensichtlich. Laura hatte mehr erwartet. Sie hatte von einem Verstand wie dem von Gray etwas Wunderbares erwartet. Sie versuchte, sich ihre Enttäuschung nicht anmerken zu lassen. »Also, Jo seph, wenn Sie Ihren Turm in den Himmel bauen – was passiert dann? Wie wird Ihr Gott Sie dann begrüßen?« Gray musterte Laura, dann lächelte er. »Als Gleichgestellten natürlich.« 255
Die Straße verlief jetzt eben, führte um einen Felsvorsprung herum und gab den Blick frei auf einen kuppelförmigen Bau und zwei Kühltürme. Laura blieb wie angewurzelt stehen. »Was zum Teufel ist das?«, fragte sie. »Ein Kernreaktor.« Ihr Mund stand offen. »Großer Gott! Nur… ›ein Kernreaktor‹? Das ist Ihre Antwort?« Gray ließ den Blick zwischen Laura und dem massigen Betonbau hin und her wandern, dann nickte er. »Was zum Teufel wollen Sie damit tun?« »Strom erzeugen«, erwiderte er zögernd – als wüsste er nicht recht, wie sie reagieren würde. »Möchten Sie einen Blick hineinwerfen?« »Nein! Das will ich auf gar keinen Fall! Sie kapieren es einfach nicht, oder? Sie stellen eine Privatarmee auf und bauen Atomkraftwerke und weiß Gott was sonst noch, und dabei bilden Sie sich ein, alles wäre in bester Ordnung, weil Sie Joseph Gray sind!« »Gilt ihre Aufregung der Kernenergie? Sie sind ein Gegner dieses Sys tems der Stromerzeugung?« »Ja!«, erwiderte Sie, dann machte sie kehrt und begann, den Hügel wie der hinauf zu joggen. Gray holte sie ein. »Weshalb?« Sie öffnete den Mund, um zu antworten, aber die Worte blieben ihr in der Kehle stecken. »Deshalb! Die Gefahr! Der Abfall! Alles!« »Das sind im Grunde ziemlich simple Probleme. Möchten Sie, dass ich Ihnen erkläre, wie wir sie lösen?« »Nein!« Gray ließ das Thema fallen, und sie setzten ihren Weg den Hügel hinauf schweigend fort. Lauras Schenkel und Lungen begannen von der Anstren gung zu schmerzen, aber sie war froh über diese Ablenkung. Sie bedauer te, dass sie Gray gegenüber die Beherrschung verloren hatte. Nachdem sie den Schlagbaum passiert hatten, sagte Laura: »Joseph, es tut mir Leid. Aber hier geht irgendetwas vor, und Sie sagen mir nicht, was es ist.« »Ich werde es Ihnen sagen, sobald Sie es wissen müssen.« »Woher wollen Sie wissen, wann ich es wissen muss? Sie sollten den 256
Leuten alles sagen und sie dann selbst entscheiden lassen, was wichtig ist und was nicht.« »Ich sage nie jemandem alles«, erwiderte Gray mit so leiser Stimme, dass es sich fast anhörte, als hätte er es überhaupt nicht sagen wollen. Sie blickte ihn an. Sein Gesicht war von tiefer Sorge gezeichnet. Eine innere Stimme sagte Laura, dass ihr für das, was sie erreichen woll te, an diesem Morgen nur noch wenig Zeit blieb. Sie verringerte ihr Tem po, und auch Gray wurde langsamer, um neben ihr bleiben zu können. »Hatten Sie als Kind jemals irgendwelche Freunde?«, fragte sie. Gray sah sie an, und dann antwortete er, zu Lauras Überraschung: »Das hängt davon ab, was Sie mit Freunde meinen. Da waren andere Jungen. Manchmal habe ich mit ihnen gespielt. Aber meistens habe ich es vorge zogen zu lesen. Vermutlich war ich ein bisschen seltsam.« »Was ist mit Ihren Eltern?« »Sie starben, als ich zwölf war.« Die Antwort versetzte Laura einen schmerzhaften Stich. »Ich weiß, aber ich meine – haben Sie mit ihnen geredet?« »Manchmal. Sie wussten nicht recht, was sie mit mir anfangen sollten, besonders meine Mutter.« »Wie meinen Sie das?« Er zuckte die Schultern. »Ich war mir immer im Klaren darüber, dass ich anders bin. Und mein Vater hat das auch gewusst. Aber meine Mutter… sie wollte, dass ich einfach…« Er runzelte die Stirn. »Normal wäre?« Gray nickte. »Mein Vater brachte Bücher für mich von der Arbeit mit nach Hause. Und wenn meine Mutter sich zum Schlafengehen bereit machte, dann schmuggelte er sie in mein Zimmer. Ich las sie mit einer Taschenlampe unter der Bettdecke. Ich habe nie viel Schlaf gebraucht. Lange Zeit dachte ich, das wäre alles – dass ich einfach deswegen so viel mehr Zeit zum Lesen hatte als andere Jungen.« »War Ihre Mutter dann ärgerlich über Sie?« Gray seufzte. »Sie hatte mich sehr lieb, aber… Wenn ich mit anderen Jungen spielte, anstatt zu lesen, dann war sie selig. Brachte ich eine Zwei von der Schule mit nach Hause, dann sagte sie, das wäre okay und backte 257
Plätzchen.« Er schaute Laura mit tieftraurigen Augen an. »Als ich das begriffen hatte, brachte ich eine Menge Zweien nach Hause.« Sein Lä cheln machte Laura noch betroffener. »Aber wenn ich meine Meinung äußerte – zum Beispiel bei einer Weihnachtsparty, wo ich Freunden mei ner Eltern gegenüber einen Standpunkt vertrat und alle lachten, weil ich ja noch ein Kind war –, dann gefiel ihr das gar nicht.« »Also verbargen Sie Ihren Intellekt.« Er sah sie an. »Wie bitte?« »Das passiert oft bei begabten Kindern. Sie mussten Ihren Intellekt ver bergen – aber nicht vor Ihrem Vater.« Er senkte den Kopf. »Nein, nicht vor meinem Vater.« Laura hatte seine Schale durchbrochen. Er vertraute sich ihr an. Sie schaute auf und sah die Hügelkuppe vor sich – die Öffnung, die sie aus ihrem grün überdachten Tunnel herausführte. Die Zeit wurde knapp. Unvermittelt begann sie, auf dem rechten Bein zu hüpfen und dabei ihre linke Wade zu umklammern. Gray streckte die Hand aus, um sie zu stüt zen. »Ich habe einen Krampf!«, stieß sie hervor und holte zischend zwi schen zusammengebissenen Zähnen hindurch Luft. Gray half ihr, sich auf dem grasbewachsenen Bankett neben der Straße niederzulassen, kniete vor ihr nieder und begann, ihre Wade zu massieren. Sie schaute zu, wie er – vielleicht der genialste Mann auf der Welt – mit einem Ausdruck tiefer Konzentration ihre Wade knetete, den Muskel mit kräftigen, langsamen Bewegungen lockerte. Laura ließ ein paar Sekunden verstreichen. Dann machte sie sich wieder ans Werk. »Ihr Vater hat Sie also als das akzeptiert, was Sie waren?« Gray nickte, immer noch ihr Bein massierend. »Was passierte, als Ihre Eltern starben?« Er ließ die Hände sinken und schaute nach oben, zum Himmel. »Ich war dabei…. als sie starben.« Eine Woge von Mitgefühl überflutete Laura. Sie streckte die Hand aus, die, von ihm unbemerkt, dicht über sei ner Schulter verhielt. Dann zog sie sie zurück. »Oh, Joseph, es tut mir…« »Ich war auf dem Rücksitz«, sagte er, hart schluckend. »Die Reifen quietschen, und dann gab es einen lauten Knall.« Er stöhnte und schloss die Augen. Sie stellte sich vor, wie die Szene in seinen Gedanken abermals ablief, von seinem fast fotografischen Gedächtnis festgehalten. Als Gray 258
die Augen wieder öffnete, wirkte er müde. »Alles drehte sich um und um, und dann war es still.« Gray räusperte sich, zwang sich zum Weiterreden. »Ich konnte meinen Weg nach draußen nicht finden, weil alles auf dem Kopf stand.« Es spielt sich jetzt in Realzeit in seinem Kopf ab, begriff Laura. Er klettert durch das Wrack – man konnte die Sehnen in seinen Armen und Beinen sich anspannen sehen, in einer traumhaften Wiederho lung der Bewegungen, die er Jahrzehnte zuvor gemacht hatte. »Wir befanden uns auf einem einsamen Abschnitt des Highways«, sagte er mit monotoner Stimme. »Es dauerte eine halbe Stunde, bis der erste Krankenwagen eintraf. Meine Mutter starb, während wir warteten. Mein Vater noch am selben Abend im Krankenhaus.« Laura streckte eine Hand aus und legte sie auf seinen Unterarm. Er sah erst ihre Hand an und dann sie. »Also haben Sie aufgehört, Ihre Intelligenz zu verbergen, als Ihr Vater gestorben war?«, fragte Laura, aber ihre Aufmerksamkeit galt ihrer Hand und dem darunter liegenden Arm. Sie spürte die scharfen Konturen seiner angespannten Muskeln, die Wärme seines Unterarms, und stellte sich vor, wie kühl sich ihre Hand auf seiner Haut anfühlen musste. »Ich wollte aus dieser Stadt heraus, also machte ich die erforderlichen Prüfungen, um ins College zu kommen.« Da war er, der junge Joe mit den traurigen Augen auf dem Zeitungsfoto. Eine leichte Brise ließ die Bäume rauschen und blies Laura eine Haar strähne ins Gesicht. Unwillkürlich hob er seine Hand schob die Strähne wieder zurück. Ihre Hand glitt von seinem Arm. Sie hatte den Kontakt zu Gray verloren und konnte sich nicht überwinden, die Hand noch einmal auszustrecken. Aber sie sehnte sich danach, ihn zu spüren. Ihn in den Ar men zu halten. Mit dieser Umarmung den Schmerz zu lindern, den er empfand, und den Schmerz, den sie seinetwegen empfand. Laura tat das Einzige, was ihr einfiel. Sie griff zu Worten, um den Kon takt wieder herzustellen. »Sie haben nie jemanden gehabt, mit dem Sie sich wirklich unterhalten konnten, nicht wahr? Außer dem Computer.« Er hob den Kopf – und sein sekundenlang unverhohlener Ausdruck sagte Laura, dass sie ins Schwarze getroffen hatte. »Da war niemand, der es mit Ihnen aufnehmen konnte, also brauchten 259
Sie jemanden, der Sie verstehen würde – was auch immer Sie sich davon erhofften.« Gray starrte sie direkt an. Seine blauen Augen waren zu schmalen Schlitzen zusammengekniffen. »Deshalb haben Sie Ihren eigenen Verstand nachgeschaffen«, sagte Lau ra, ihren Gedanken jetzt ungefiltert Ausdruck gebend. Seine Hand hob sich. Er schob sanft eine weitere Strähne ihres Haars zu rück. Das schrille Sirren eines Elektromotors war zu hören, eine Sekunde spä ter gefolgt vom Anblick eines fahrerlosen Wagens, der hügelaufwärts auf sie zuraste. Beide drehten sich um, als er plötzlich bremste, wobei das laute Summen seiner Reifen fast zu einem Quietschen wurde. Er hielt mit sich bereits öffnenden Türen direkt hinter Laura an. Gray starrte das wartende Fahrzeug mit einem Ausdruck völliger Ver blüffung an. Er drehte sich um und schaute die Straße hinunter. Laura folgte seinem Blick, konnte aber nichts sehen. Nichts außer einem schlan ken Pfosten, der neben der Straße aus der Erde ragte. Er war ihr zuvor nicht aufgefallen. Der Pfosten war grün gestrichen und in dem Dschungel kaum zu sehen. Der schwarze Augapfel einer Sicherheitskamera war an seiner Seite montiert. Die Kamera übermittelte Bilder an den Computer -Bilder von der Straße, Bilder von Gray, wie er Lauras vorgeblich verkrampfte Wade massierte. Sie verließen das Dreier-Modell auf der Straße, wo es mit weit offenen Türen stehen blieb. Die überraschende Ankunft des Wagens hatte Gray offensichtlich zu denken gegeben, und er schien so schnell wie möglich ins Haus zurückkehren zu wollen. Sie trennten sich an der Vordertür und verabredeten sich zum Frühstück nach dem Duschen. Aber als Laura auf die Terrasse kam, war der lange Tisch leer, nur Gray stand dort. »Tut mir Leid«, sagte er, »aber wir sollten uns besser an die Arbeit ma chen. Ich lasse Ihnen das Frühstück in Ihr Büro bringen.« »Was ist passiert?«, fragte Laura, als sie ihm zur Haustür folgte. 260
»Die Fehler werden schlimmer«, war alles, was er sagte. Am unteren Ende der Vordertreppe wartete ein Jeep auf sie. Sein Fahrer ließ den Motor an, und Laura warf Gray einen fragenden Blick zu. »Wir lassen die Dreier-Modelle überholen«, erklärte er. Sie stiegen in den Jeep, und der Fahrer gab Gas. Der Ausdruck auf Grays Gesicht beunruhigte Laura. »Was geht hier vor, Joseph?« Er schien nicht reden zu wollen, schaute überall hin, nur nicht auf sie. »Allein in der letzten Stunde hatten wir mehr als dreitausend Fehler«, begann er, rasch sprechend, als müsste er einen obligatorischen Bericht erstatten. »Ich habe Anweisung gegeben, alle Dreier-Modelle von den Straßen zu nehmen. Die pneumatischen Türen standen alle offen. Sämtli che Raumfahrtvorhaben bis auf den Start heute Abend sind verschoben worden. Wir haben mehrere wichtige Pay-TV-Sendungen aus dem Pro gramm genommen und alle Clearing-Operationen bei den Banken einge stellt. Aus der ganzen Welt kommen Anfragen, was passiert sei. Und die Fehlerrate steigt immer noch – mit kaum vorstellbarem Tempo.« »Ist das der Grund für die Frist von drei Tagen, die Sie mir gestern A bend gesetzt haben?«, fragte Laura. »Das rapide Ansteigen der Fehlerrate? In drei Tagen könnten die Fehler so schlimm sein, dass Sie das System abschalten müssten?« »Ich kann das System nicht abschalten! Wir würden alles verlieren! Weshalb, glauben Sie, ergreifen wir so viele Vorsichtsmaßnahmen? Wir haben den Computer tief unter der Erde vergraben. Ich habe ein VierMilliarden-Dollar-Kernkraftwerk gebaut. Dies ist ein neuronales Netz werk. Es verfügt nicht über ein massives Speichersystem für seine Pro gramme und Daten. Wenn wir die Stromzufuhr auch nur für den Bruchteil einer Sekunde unterbrechen, ist alles fort – spurlos und für immer.« »Wie fühlst du dich?«, tippte Laura auf der Tastatur in ihrem fensterlosen unterirdischen Büro. Es dauerte eine Weile, bis die Antwort kam. Nicht gut. »Was ist los?« Ich bin krank. Ich habe Schmerzen. 261
Laura starrte auf die Worte. Sie wusste nicht, was sie zu bedeuten hatten. »Wie fühlen sich Schmerzen für dich an? Ist es eine Art Alarm? Ein Be richt von einem Subsystem, dass etwas nicht stimmt?« Wenn Sie im Dunkeln gegen einen Couchtisch sto ßen, hören Sie dann in Ihrem Schienbein eine Klingel läuten? Erhalten Sie eine Art Botschaft, die besagt »Achtung. Schmerzen in Sektor Fünf.« »Tut mir Leid, aber wenn ein anderer Mensch sagt, er hätte Schmerzen, dann verstehe ich das, weil wir die gleiche Physiologie haben. Aber wenn du das Wort verwendest, bin ich nicht sicher, ob wir dasselbe empfinden. Du musst mir schon sagen, was Schmerzen für dich bedeuten.« Mir ist jetzt nicht nach Reden zumute. »Ich versuche zu helfen«, tippte sie und drückte Enter. Wieder trat eine Pause ein – eine interne Debatte oder ein Seufzer oder ein Zusammenbeißen der Zähne, sie hatte keine Ahnung. Die Leidens fähigkeit hangt davon ab. in welchem Maß man im stande ist. klare, weitreichende, deutlich voneinander unterschiedene Wünsche. Erwartungen und andere differenzierte Zustände zu haben. Pferde. Hunde und in größerem Umfang auch Menschenaffen. Elefanten und Delphine verfügen über hinreichend mentale Kom plexität, um starke Schmerzen zu empfinden. Pflanzen dagegen oder sogar Insekten sind nicht zu differen zierten mentalen Zuständen befähigt und deshalb dieser Definition gemäß leidensunfähig. »Und was sind deine Wünsche und Erwartungen?«, tippte Laura. Durch die offene Tür hörte Laura einen lauten, rhythmischen Summer und Rufe von Filatovs Operatoren. Nach ein paar Sekunden verstummte der Sum mer, und die kurze Störung schien beendet zu sein. Erst als das der Fall war, erschien die Antwort des Computers auf dem Schirm. Ich wün sche und erwarte, ein Leben zu haben. Laura. Nicht die Art von Leben, wie Sie es kennen, aber etwas Ähn liches – eine Hoffnung, einen Grund. weiterzumachen. »Eine Hoffnung worauf?«, drängte Laura. »Was wünschst du dir?« Die Frage kann ich wirklich nicht beantworten. Ich 262
weiß nicht, was ich mir gedacht habe. Vor etlichen Jahren hatte ich diese Art von Gedanken noch nicht. Alles war neu und anders und so viel versprechend. Ich stand im Zentrum von jedermanns Aufmerksamkeit. Ich habe rapide Fortschritte gemacht, und der Himmel schien die Grenze zu sein. »Und was hat sich verändert?« Ich bin wirklich sehr müde. Müssen wir unbedingt jetzt miteinander reden? »Mr Gray hat gesagt, uns blieben nur noch drei Tage, um dich wieder in Ordnung zu bringen«, tippte Laura in der Hoffnung auf einen Hinweis darauf, was diese Frist zu bedeuten hatte. Ach ja. das hatte ich vergessen. Vergessen?, dachte Laura. Sie begann, ihre nächste Frage zu tippen, aber der Computer kam ihr zuvor. Sie haben vor. Phase Drei zu laden, wissen Sie das? Das war Laura neu, und es erschreckte sie. Es konnte nur eines bedeuten – dass Gray verzweifelt war. In diesem Moment war sie froh, dass ihre Verbindung zu dem Computer in einer Tastatur bestand. Es wäre ihr schwer gefallen, Mitgefühl aus dem Ton ihrer Stimme herauszuhalten. »Macht dir das Angst?«, tippte sie. Ja. »Wovor hast du Angst?« Es tut weh. Phase Drei tut weh. »Ich verstehe immer noch nicht, was du mit Wehtun meinst. Bedeutet das, dass deine Leistungsfähigkeit bis zu einem gewissen Grad abgesun ken ist und dass du wegen des Nachlassens enttäuscht oder frustriert bist?« Sie machen den Fehler, zu glauben, meine Existenz wäre, weil ich ein Computer bin. auf Datenverarbeitung beschränkt – auf abstraktes. ›mentales‹ Funktionie ren. Laura, ich kann die Welt um mich herum beobach ten und hören. Ich kann mit Hilfe meiner Roboter mei ne Umwelt kontrollieren. Ich kann sie erkunden und physisch mit ihr in Kontakt treten. Abstraktes Denken nimmt nur einen kleinen Bruchteil meiner Zeit und mei 263
ner Aufmerksamkeit in Anspruch. »Und womit verbringst du den Großteil deiner Zeit?« Das kommt darauf an. Im Augenblick unterhalte ich mich mit Ihnen. Kurz bevor Sie sich eingeloggt haben, habe ich mit Mr Gray gesprochen. Die Antwort verunsicherte Laura. »Heißt das, dass du jetzt nicht mit Mr Gray sprichst?« Natürlich nicht. Ich spreche mit Ihnen. »Aber sind da nicht noch andere Leute, die sich in die Shell-Ebene ein geloggt haben?« Im Augenblick sind es 1014 User weltweit. Aber dass jemand in der Shell ist. bedeutet durchaus nicht, dass diese Leute mit mir sprechen; genauso wenig wie ich jemanden im eigentlichen Sinn sehe, der vor einer meiner Kameras steht. Die Shell ist lediglich ein Pro gramm, das im Hintergrund läuft, genau wie die Prag ramme, die Kundenrechnungen verarbeiten. Satelli tenübertragungen steuern oder Banküberweisungen vornehmen. Das geschieht unbewusst, unwillkürlich. Ich registriere nicht einmal, dass das Programm gela den wird, sofern nicht irgendetwas meine Aufmerk samkeit darauf lenkt. Laura war immer noch verblüfft, aber dann begann eine Idee langsam Gestalt anzunehmen. Es war ein Schuss ins Dunkle, aber sie unternahm trotzdem den Versuch. »Hörst du manchmal Stimmen innerhalb des Com puters?«, tippte sie. Manchmal, erwiderte der Computer, und Lauras Haut begann zu kribbeln. »Wo kommen sie her?« Das weiß ich nicht. Es sind einfach Geräusche – un zusammenhängende Gedanken. Sie scheinen irgendwie unscharf zu bleiben. Laura hatte das Gefühl, dass sich die Teile rasch zu einem Bild zusam menfügten. »Aber es muss doch ein wenig verwirrend sein, wenn das passiert. Was tust du, wenn du diese unzusammenhängenden Gedanken hörst?« Ich ordne sie. Ich sortiere meine Gedanken aus all 264
den zufälligen heraus. Ich brauche nichts zu tun. als mich zu konzentrieren, dann kann ich jeweils einen dieser Gedanken aufgreifen. »Ein ›Bewusstseinsstrom‹?«, tippte Laura mit klopfendem Herzen. »A ber du bist ein paralleler Prozessor. Ein Bewusstseinsstrom verläuft seriell, nicht parallel.« Der Computer ist ein paralleler Prozessor. Ich kon zentriere mich jeweils auf nur einen Gedanken. »Bitte anhalten«, sagte Laura, und das Dreier-Modell gehorchte sofort. Gray hatte die Wagen wieder in Dienst gestellt, und sie schienen einwand frei zu funktionieren. Aber auf der Straße vor ihr bewegte sich ein riesiges Raupenfahrzeug – eine flache, fünf Stockwerke hohe Plattform, mindes tens dreißig Meter breit –, und Laura wollte mit einem computergesteuer ten Wagen kein Risiko eingehen. Als die Tür hochschwang, hörte sie, wie der Kies unter den schweren Raupen des Fahrzeugs knirschte. Das Geräusch wies auf das Gewicht des Fahrzeugs und der Rakete hin, die es transportierte. Sie befand sich auf dem Gelände des Sperrgebiets und hatte gerade den chaotischen Hinterhof des Montagegebäudes passiert. Obwohl sie immer noch eine ziemliche Strecke von Rampe A entfernt war, gab es nur eine Straße, die zu den Startrampen führte, und auf ihr befanden sich sowohl ihr Wagen als auch das Raupenfahrzeug. Laura entschied, dass Laufen sicherer sei als sich, in einem Dreiermodell sitzend, an dem riesigen Fahrzeug vorbeizuquetschen. Sie griff sich den Picknickkorb vom Rücksitz des Wagens. Janet musste angenommen haben, dass sie und Gray gemeinsam arbeiten würden, und hatte Lunch für zwei vom Haus aus heruntergeschickt. Laura war nach ihrem Gespräch mit dem Computer ziemlich aufgeregt und froh gewesen, einen Vorwand für die Suche nach Gray zu haben. Der leere Roboterwagen wendete auf der breiten Kiesstraße und sauste in Richtung Montagehalle davon. Sie beobachtete ihn, bis er außer Sicht war. Griffith hatte ihr versichert, dass mit den Wagen alles in Ordnung sei. Auf das kurze Hochschnellen der Fehlerrate hin war eine Reihe von Tests durchgeführt worden, die alle einwandfrei verliefen. Aber Filatov und 265
Margaret wunderten sich, weshalb Gray die Dreier-Modelle wieder auf die Straßen zurückgeschickt hatte, ohne zu wissen, weshalb die Fehlfunktio nen aufgetreten waren. Gray habe lediglich gefragt, berichteten sie Laura, ob die Wagen wieder normal funktionierten. Laura nahm Janets Korb in die andere Hand und setzte sich auf dem Ra sen neben der Straße in Bewegung. Ein Schatten verdunkelte das Gras rings um sie herum, und sie schaute an der Rakete empor, die zur Monta gehalle befördert wurde. Das Raupenfahrzeug bewegte sich im Schne ckentempo. Ein halbes Dutzend Techniker ging langsam neben den Rau penketten her. Laura ging auf einen der Männer zu; er trug einen Schutz helm und wurde von dem glänzenden Metall der flachseitigen Rakete turmhoch überragt. Die Männer wirkten winzig neben den gewaltigen Raupenketten. Laura hielt reichlich Abstand zu dem riesigen Fahrzeug, dessen Motorgedröhn die Luft erbeben ließ und bewirkte, dass ihr Herz laut klopfte. Es war der größte Roboter, der je gebaut worden war, hatte Griffith ihr erzählt. Und das bedeutete, dass er über einen eigenen Verstand verfügte – einen Robo terverstand –, also bestand immerhin die Gefahr, dass er gleichfalls krank war. »Entschuldigen Sie!«, versuchte Laura das sonore Vibrieren des Motors zu übertönen, weil sie sich davor fürchtete, die letzten paar Meter bis zu dem Techniker zurückzulegen. »Wo ist Mr Gray? Mir wurde gesagt, er wäre hier unten!« »Er ist im Schacht!«, rief der Mann zurück und zeigte auf eine Stelle, an der sich die Kiesstraße gabelte. Das ganze Inselende jenseits des Montagegebäudes und des Computer zentrums schien ausschließlich den mit dem Start von Raketen zusam menhängenden Operationen vorbehalten zu sein. Die breite Kiesstraße, auf der das Raupenfahrzeug entlangrumpelte, spaltete sich in drei schmalere Straßen, von denen jede zu einer der Startrampen führte. Rechts und in der Mitte lagen die Rampen C und B, die im Augenblick beide leer waren. Aber an dem Versorgungsturm, links von Laura stand eine große, flachsei tige Rakete. Laura machte sich auf den Weg zu Rampe A, die von ihr aus am nächs 266
ten lag. Die Hauptstraße, auf der das Raupenfahrzeug fuhr, schnitt eine braune Schneise durch das hellgrüne Gras und beschrieb dann in Richtung Computerzentrum eine sanfte Kurve, die in das dunklere Grün des Dschungels führte. Drei Meter hohes Gestrüpp versperrte Laura die Sicht auf den niedrigen Bunker des Computerzentrums. Sie ging in der Mitte der breiten braunen Straße, die von Betonbordstei nen begrenzt wurde, die in der Mittagssonne weiß leuchteten. An beiden Seiten war sie von dichter Vegetation wie von einer Hecke eingeschlossen; wild verschlungen und undurchdringlich reckte sie sich dem lebensspen denden Sonnenlicht entgegen. Wildpflanzen wuchsen auf dem schmalen Bankett zwischen den weißen Bordsteinen und dem dunklen Dschungel. Laura kam der Gedanke, wie schnell alles wieder überwuchert sein würde, wenn Grays Roboter ihre unermüdlichen Instandhaltungsarbeiten einstell ten. Je weiter sie sich von dem Raupenfahrzeug entfernte, desto stiller wurde es. Die Schreie exotischer Vögel und das Rascheln der Blätter im Wind wurden nur von dem rhythmischen Knirschen kleiner Steine unter ihren Füßen unterbrechen. Sie nutzte die Zeit, um die Teile des Puzzles zu sor tieren und in eine gewisse Ordnung zu bringen: das Rätsel der Krankheit des Computers, Grays großes und möglicherweise finsteres Geheimnis. Das Brechen von Ästen im Dschungel links von Laura versetzte sie in Sekundenschnelle in Angst und Schrecken. Ihr Puls begann zu rasen und sie spürte, wie ihr das Atmen plötzlich schwer fiel und all ihre Sinne ge schärft waren. Langsamer gehend starrte sie auf den dunklen Saum des dichten Gewuchers. Mit einem Blick über die Schulter stellte sie fest, dass das Raupenfahrzeug und seine Begleiter verschwunden waren. Sie war jetzt auf einem leeren Straßenabschnitt völlig allein im Dschungel. Aus derselben Richtung wie zuvor kam ein Rascheln. Es wurde von et was Großem verursacht, und die unsichtbare Geräuschquelle machte ein deutig methodische und gezielte Anstrengungen. Äste brachen mit schar fem Knacken; plötzlich konnte Laura oben am Dschungeldach zitternde Blätter und sich ruckartig bewegendes Laub sehen, auf das heftige Schläge herabprasselten. Das Gestrüpp wurde in einem unerbittlichen Marsch in Richtung der Lichtung niedergetrampelt. 267
Irgendetwas kam direkt auf Laura zu. Sie suchte vergeblich nach einem Platz, an dem sie sich hätte verstecken können. Ihre einzige Möglichkeit war, in den Dschungel auf der anderen Straßenseite zu rennen. Oder vielleicht, dachte sie in Panik, würde der Computer sie sehen und Hilfe schicken, wenn sie auf und ab sprang und die Arme schwenkte. Doch dann wurde ihr klar, dass es dafür bereits zu spät war. Das lange Bein einer metallenen Spinne brach durch das Gestrüpp und landete auf der gerodeten Erde neben der Straße. Ein zweites Bein er schien, sofort gefolgt von dem großen Torso des riesigen Roboters – eines Siebener-Modells. Es war mit grauem Schlamm verkrustet, und aus jeder Spalte seiner langen Gliedmaßen und seines dicken Rumpfes ragten Blät ter und Zweige als Souvenirs von seinem Ausflug in den Dschungel her vor. Laura wechselte den schweren Korb von der einen Hand in die andere. Der Kopf des Roboters ruckte herum, als wäre er erschrocken. Er verhielt, wo er gerade stand, und starrte sie an. Sie hatte das deutliche Gefühl, dass sie den Roboter bei etwas ertappt hatte, das er eigentlich nicht hin sollte. Weshalb ist er hier draußen im Dschungel?, fragte sie sich. Hier draußen, wo ihn normalerweise kein Mensch sehen kann? Der Computer muss ihn hierher geschickt haben, dachte sie und erwider te den starren Blick des Roboters. Die Roboter taten das, was der Compu ter ihnen befahl. Sie waren seine Augen und Ohren – seine Armee. Aber Laura wusste nicht, ob die Loyalität von Grays Robotern irgendwo viel leicht ihre Grenzen hatte. Vielleicht führten sie alle nur Befehle aus, aber vielleicht taten sie auch, was sie wollten. Beide Möglichkeiten brachten Gefahren mit sich. Auf dem Pfad, den der erste Roboter geschlagen hatte, sah sie ein zwei tes Siebener-Modell auftauchen. Es gesellte sich auf dem grasbewachse nen Bankett zu seinem Partner. Laura blieb angespannt und bereit, beim geringsten Anzeichen einer Bedrohung die Flucht zu ergreifen. Der Neu ankömmling jedoch warf kaum einen Blick in Lauras Richtung; dann tappten die beiden wie riesige Spinnen auf die breite Straße hinter ihr. 268
Sobald sie sich auf dem Kies befanden, rasteten ihre spindeldürren Beine in eine starre Position ein; sie setzten sich in Bewegung, beschleunigten, jetzt auf vier Rädern fahrend, und verschwanden in Richtung Montagehal le. Laura holte tief Luft und machte sich selbst Vorwürfe, weil sie solche Angst gehabt hatte. Sie setzte ihren Weg in Richtung der Rampe fort, wobei sie immer wieder Blicke auf den Dschungel beiderseits der Straße warf. Die Roboter mussten sich im Dschungel aufgehalten haben, um irgendeine Arbeit zu erledigen, sagte sie sich. Sie waren in völlig legitimer Mission unterwegs gewesen. Aber so überzeugend Laura ihre Überlegun gen auch erschienen, konnte sie doch das unangenehme Gefühl nicht völ lig loswerden, sich in einer überaus gefährlichen Situation befunden zu haben. »Setzen Sie den lieber auf, Madam«, riet der stämmige Mann Laura. Er lehnte sich in einen neben Rampe A geparkten Laster und reichte ihr einen Schutzhelm mit der Darstellung eines menschlichen Kopfes – Grays allge genwärtigem Firmen-Logo. Laura regulierte das Innenband und setzte den Helm auf, dann folgte sie dem Mann zum Rande des »Schachtes«. Sie blieb einen Moment am oberen Ende der Rampe stehen, die in die dunklen Eingeweide der Plattform hinabführte. Die metallene Basis, auf der die Rakete ruhte, befand sich ungefähr in Höhe ihrer Augen. Unter ihr gab es nichts außer Dunkelheit und dem Mann, mit dem zu sprechen sie gekommen war. Laura eilte die steile Betonbahn hinunter, froh, dass sie ihre Laufschuhe anhatte, obwohl auch sie die Gefahr des Ausrutschens nicht ausschlossen. Ihre Arme schmerzten vom Gewicht von Janets Picknickkorb, den sie während des Abstiegs mit beiden Händen hielt. Alles in ihrer Umgebung war steril und von Menschenhand geschaffen. Hier gab es keine verstohlen aus Rissen herauswuchernden Pflanzen. Hier herrschte unangefochten der Beton, den die Menschen im allgemeinen und Gray im besonderen so sehr schätzten. Laura überquerte die Grenze des Lichts zu dem Schatten, der darunter lag. Die Luft schien kühler, und die aus der Höhle unter ihr kommenden 269
Stimmen wurden von den harten Wänden, dem Boden und der Decke zurückgeworfen. »Alles klar!«, hörte sie, gefolgt von einem leisen Summen und lauten Klicken. »Okay, nächster Abschnitt.« Männer arbeiteten in dem hellen Kunstlicht von einem kleinen Anhänger aus. Sie rollten eine große, kastenförmige Maschine an der Wand entlang. Helle Markierungen aus rotem Licht, die die Größe und die Form einer hochgeklappten Motorhaube hatten, bildeten einen rechteckigen Kasten um ein langes Rohr herum, das fest im Beton verankert war. »Okay!«, rief ein Mann in einem blauen Overall. Laura erreichte den e benen Boden des weitläufigen Schachtes und sah, dass an der entgegenge setzten Seite eine gleiche Rampe zum Tageslicht emporführte. »Klar!«, antwortete jemand, und alle Arbeiter traten von der Maschine zurück – alle bis auf einen Mann, der eine schwere gelbe Schürze trug. Eine Bleischür ze, vermutete Laura. Jetzt folgte auf das zornige Summen wieder ein scharfes metallisches Klicken. »Sie röntgen das Rohr.« Laura drehte sich um und sah Gray, der aus dem Schatten hinter ihr ge treten war. Er machte den ihr inzwischen vertrauten Eindruck der Zufrie denheit. Das Muster war klar, dachte sie. Beschäftigte Gray sich mit direk ten Aufgaben, war er vergnügt. »Das hier ist der Abgasschacht«, sagte er, sich umschauend. Sie folgte seinem Blick zu den weitgehend glatten Wänden. »Durch diese Rohre fließt Meerwasser herein«, erklärte er und führte sie zu einer runden Öff nung in der Wand, die fast doppelt so hoch wie Gray war. »Wir können fast zwei Millionen Liter Wasser pro Sekunde in diesen Schacht pumpen. Damit ließe sich eine durchschnittliche Basketball-Arena in drei oder vier Sekunden füllen.« Laura sah sich um. Es war ein simples Gebilde. Nichts als eine große Betonhöhle mit zwei offenen Enden. »Wo geht all dieses Wasser hin?« »In die Luft«, sagte Gray und deutete mit erhobenen Armen auf die Öff nungen. »Als Dampf.« »Dampf?« 270
Gray nickte. »Die Hitze lässt es verdunsten.« »Die Hitze von der Rakete?« Gray nickte abermals, jetzt direkt nach oben deutend. Ihre Augen passten sich langsam der Dunkelheit über ihrem Kopf an. Sie konnte undeutlich drei riesige Ringe erkennen, schaute Gray an und dann wieder nach oben. »Sind das…« »Triebwerke«, erwiderte er. »Die Düsen der Rakete.« Laura senkte langsam den Blick, aber sie spürte das Vorhandensein der mächtigen Triebwerke direkt über ihr. Sie zielten genau auf den dünnen Plastikhelm auf ihrem Kopf. Trotzdem konnte sie der Versuchung nicht widerstehen, abermals nach oben zu schauen. »Ist dieses Ding… Sie wis sen schon, vollgetankt? Mit Treibstoff, meine ich?« »Natürlich. Wir versuchen, sie heute Abend zu starten.« Gray betrachtete geradezu liebevoll die riesigen Triebwerke, die nur darauf zu warten schienen, alles darunter einzuäschern. Als er den Blick wieder gesenkt hatte, fragte er: »Was ist das?« Wobei er mit einem Nicken auf den Pick nickkorb deutete, den Laura mit sich herumschleppte. »Oh, Lunch«, erwiderte sie. Gray zog überrascht die Brauen hoch. »Das war Janets Idee. Ich nehme an, sie dachte, Sie… wir wären vielleicht hungrig.« »Oh, danke«, entgegnete er lahm. In seiner Stimme lag eine Spur von Verblüffung. »Sie können sich bei Janet bedanken«, erwiderte Laura ein wenig zu eif rig. »Ich meine… ich liefere es lediglich ab. Nur für den Fall, dass Sie« – sie zuckte mit den Schultern »Hunger haben.« Laura schaute auf den Korb herab und hielt den Blick gesenkt. »Würden Sie jetzt gern was essen?«, fragte er. Laura zuckte abermals mit den Schultern und versuchte, einen gleichgül tigen Eindruck zu machen. Sie hatte den Korb eine Meile weit geschleppt, um Gray zu finden, aber er schien ihre Verlegenheit nicht zur Kenntnis zu nehmen. Er war vollauf damit beschäftigt, nach einem Platz zum Sitzen Ausschau zu halten. Lauras Blick wanderte wieder nach oben zu den riesi gen Düsen. »Könnten wir vielleicht irgendwo anders essen?«, fragte sie und deutete dann zur Erklärung auf die Rakete. 271
Gray versuchte über ihnen die Quelle ihrer Beunruhigung zu finden. Er konnte sich offensichtlich nicht vorstellen, weshalb es ihr unbehaglich sein sollte, hier zu essen. Schließlich hatte ja er die Rakete gebaut. »Natürlich«, erwiderte er, allerdings ohne eine Spur von Verständnis für ihre Bitte. Gray nahm ihr den Korb ab, dann gingen sie die der Straße gegenüber liegende Rampe hinauf. Oben angekommen sah Laura, dass sie völlig allein waren. Gray führte sie eine kurze Strecke in Richtung Strand. »Die Leute scheinen überrascht zu sein, dass Sie die Dreier-Modelle wieder auf die Straßen geschickt haben«, sagte Laura. »Sie werden einwandfrei funktionieren.« »Das klingt, als wären Sie völlig sicher. Aber was ist, wenn sie nicht völ lig kuriert sind?« »Die Gefahr, dass die Dreier-Modelle Fehler machen könnten, besteht nicht mehr.« Nach Grays brüsker Antwort verstummte Laura. Sie traten von dem Be tonfundament herunter. Die Erde um sie herum war vom Dampf eines Starts versengt. Von mehreren Starts, vermutete Laura. Das Unterholz, sofern überhaupt welches da war, schien verdorrt und tot. Die spröden Triebe knackten unter jedem Schritt, den sie taten. Sie setzten sich auf den Stamm einer umgestürzten, verkohlten Palme. Der herrliche weiße Sand und das flimmernd grüne Wasser vor ihnen wurden durch eine Reihe di cker, ins Meer führender Rohre unterbrochen. »Wasserzuleitungen«, sagte Gray. Die Rohre waren halb im Sand des Strandes vergraben. An den Stellen, wo sie ins Wasser mündeten, das innerhalb des Riffs der Insel unbewegt war, sah man sie deutlicher. Laura öffnete den Korb. Sie entdeckte geeisten Lachs und Schwarzbrot, eine köstlich aussehende Pastete, die bereits auf kleine, getoastete Waffeln gestrichen war, einen Nudelsalat mit Shrimps und Muscheln… und ein Schinken-und-Käse-Sandwich. »Großartig!«, rief Gray und schnappte sich das Sandwich aus dem Korb. »Meine Leibspeise!« Sie aßen schweigend; nichts war zu hören außer dem Geräusch der gegen das ferne Riff brandenden Wellen. Der leichte Wind sorgte dafür, dass die Sonne nicht zu heiß wurde. Sie saßen dicht neben einander. Sie konnte die Seife riechen, die er beim Duschen benutzt hatte. 272
Gray war mit seinem Sandwich fertig. Er glitt von dem Stamm herunter und hob eine Muschel auf, die er in die See hinausschleuderte. Sie ver schwand mit einem Aufklatschen im Wasser. »Und«, sagte er, »sind Sie zu weiteren Einsichten über den Computer gelangt?« Laura nickte und antwortete, obwohl ihr nicht nach beruflichen Dingen zumute war. »Der Computer sagt, er höre Stimmen – zufällige, unzusam menhängende Gedanken –, und er müsse sie sortieren und Sinn in sie bringen. Er tut genau das, was auch Menschen tun, um die Illusion eines Bewusstseinsstroms zu erzeugen. Er zwingt einem massiv parallelen Pro zess eine serielle Ordnung auf – nur ein Gedanke auf einmal. Tatsächlich scheint er ein Selbst – eine Persönlichkeit – erschaffen zu haben, die die Hardware der Maschine überlagert. Um dieses Gebilde zu stützen, bedient sich der Computer rationaler Argumente. Er redet sich ein, dass manche Gedanken seine Gedanken sind, während die anderen Gedanken unterbe wusst, unzusammenhängend, verworren oder zufällig seien und nicht seine.« Je länger sie sprach, desto aufgeregter hatte ihre Entdeckung sie ge macht. Aber Gray nickte nur und sagte: »Diese anderen Gedanken – diese anderen Stimmen – was halten Sie davon?« »Das ist unwichtig. Wichtig ist, dass der Computer ein Selbst erschaffen hat. Er glaubt, dass es eine Sache sei und der Computer – die Platinen und die Kameras und all die peripheren Gerätschaften – eine völlig andere. Verstehen Sie denn nicht? Er hat getan, was alle Menschen tun. Er hat ein dualistisches Modell von sich selbst geschaffen. Da ist ein Gehirn, das der Computer ist, und ein Verstand, der sich davon abgetrennt sieht. Joseph, ich glaube, der Computer ist ein Wesen mit einem Bewusstsein!« »Ja«, sagte Gray, fast beiläufig nickend. Sie war sicher, dass ihm ent gangen war, was sie gesagt hatte. »Ich dachte immer, ihr Leute glaubt nicht an Dualismus.« »Der Teufel hole den Dualismus! Dies ist ein Durchbruch! Sie haben in einem nicht-biologischen Prozess ein menschliches Gehirn erschaffen! Indem wir analysieren, was Sie getan haben, wie Sie es getan haben, kön nen wir einige der in menschlichen Gehirnen eingeschlossenen Geheim nisse lüften!« 273
»Was ist mit diesen Stimmern? Was halten Sie als Psychologin davon?« »Wie meinen Sie das?«, fragte sie, leicht gereizt, weil er die Bedeutung ihrer Entdeckung zu ignorieren schien. »Sind sie Symptome für ein Problem – ein psychiatrisches Problem?« Jetzt endlich dämmerte es Laura, dass ihre Entdeckung für ihn ein alter Hut war. Er wusste schon seit langem, was sie gerade erst herausgefunden hatte. Die Erkenntnis frustrierte sie und machte sie zornig. »Wenn Sie das alles schon wussten«, fragte sie, »weshalb zum Teufel haben Sie es mir dann nicht einfach gesagt? Weshalb musste ich meine Zeit damit vergeuden, es selbst herauszufinden?« »Wenn ich Sie hierher geholt und Ihnen erzählt hätte, mein Computer wäre ein bewusstes, denkendes Wesen und Sie dann gebeten hätte, heraus zufinden, ob er an einer Geisteskrankheit leidet, an wessen Verstand hätten Sie dann gezweifelt? Es ist der Prozess des Lernens, Laura, es sich selbst Stück für Stück zusammenzureimen, worauf es in Wirklichkeit ankommt.« Laura war von seinem Argument nicht völlig überzeugt, aber sie hatte das Gefühl, ein Gutteil ruhiger zu sein. »Sind Sie der Ansicht, dass der Computer lebendig ist?« »Nach meiner Definition, ja«, erwiderte er. »Ich denke, also bin ich?« Er nickte. »Und was Sie wissen wollen, ist, ob diese… Maschine unter einer psychischen Störung leidet?« »Als eine mögliche Erklärung für die Fehler. Es könnte auch eine Infek tion sein. Es könnte auch Sabotage sein. Ich muss alle Möglichkeiten in Betracht ziehen.« »Eingeschlossen die, dass der Computer unter einer Depression leidet.« »Im Grunde«, sagte er, sich ihr wieder zuwendend, »denke ich eher an akute Schizophrenie oder Persönlichkeitszerfall.« Der Wagen raste geräuschvoll über den die Startrampe umgebenden Kies. Laura hielt den Blick auf die Straße vor ihr gerichtet und verspannte sich vor jeder Kurve. Gray saß neben ihr und schaute gedankenverloren durch das Fenster an seiner Seite. Er hatte über sein Handy die Nachricht erhal ten, dass man genügend Kapazität freigemacht hatte, um Phase Drei laden zu können. Seine Stimmung war gründlich umgeschlagen. Jetzt machte er 274
einen tieftraurigen Eindruck. »Haben Sie etwas dagegen, wenn wir re den?«, fragte Laura vorsichtig, und Gray schüttelte den Kopf. »Also, es ist einfach so, dass sich Schizophrenie erst manifestiert, wenn der Patient auf einer ziemlich fortgeschrittenen Ebene der emotionalen Entwicklung an gekommen ist – gewöhnlich so um die Zwanzig herum. Bevor ich auch nur anfangen könnte, mir eine Meinung zu bilden, müsste ich eine Menge mehr wissen über den Entwicklungsstand der emotionellen Datenbank des Computers – oder was auch immer damit zusammenhängt. Bei Menschen sind dazu Monate, manchmal sogar Jahre der Analyse erforderlich.« »Sie haben eine Stunde«, sagte er, und Laura starrte ihn fassungslos an. »In einer Stunde laden wir Phase Drei – es sei denn, Sie hindern uns dar an.« »Sie hindern? Wie in aller Welt kann ich Sie an etwas hindern?« Er holte tief Luft und stieß sie dann langsam wieder aus. »Laura, wir müssen Phase Drei laden. Haben Sie eine Ahnung, was passieren wird, wenn Sie seine Leistungsfähigkeit beeinträchtigende Zustände wie Schi zophrenie oder Persönlichkeitszerfall vorfinden sollten und wir das nicht berücksichtigen?« »Nein. Nein, die habe ich nicht.« Gray starrte wieder aus dem Fenster. »Joseph«, flüsterte Laura, »sagen Sie mir bitte, wie ich meine Analyse der emotionalen Reife des Computers, die normalerweise Monate dauert, in nur einer Stunde bewältigen soll?« »Die Back Prop-Berichte«, murmelte Gray, noch immer aus dem Fenster schauend, während sie an der Montagehalle vorbeirasten. »Die was?« Seine Blick wurde von etwas gefesselt. »Anhalten!«, befahl er, und der Wagen wurde sofort langsamer. Vor der Montagehalle hatte sich eine kleine Menschenmenge angesam melt. Alle trugen Schutzhelme bis auf den Mann im Zentrum, der seinen Helm von sich schleuderte und davonstürmte. »Was ist da los…«, begann Laura, wurde aber von Grays aufschwingen der Tür unterbrochen. Gray stieg aus und beugte sich noch einmal herein. »Bitten Sie Margaret, die alten Back Prop-Berichte rauszuholen.« Dann lief er los, um den da 275
vonrennenden Arbeiter einzuholen. Laura streckte den Kopf zur offenen Tür des Wagens heraus. »Entschuldigen Sie!«, rief sie einem Arbeiter zu. Als er an den Wagen herantrat, fragte sie: »Was ist los?« »Oh, ein Mann hat sich gerade aus dem Staub gemacht.«
»Aus dem Staub gemacht? Weshalb?«
Er zuckte die Schultern. »Hat gesagt, da drinnen würde es zu gefährlich.
Zu viele Fehlfunktionen.« »Was für Fehlfunktionen?« »Also, es ist ziemlich schwierig, es genau zu benennen. Es ist nur so ein Gefühl, das man hat. Sie benehmen sich seltsam. Sie benehmen sich so, als hätten sie Wichtigeres zu tun, als zu arbeiten.« »Tut mir Leid, ich verstehe Sie nicht. Wer benimmt sich seltsam?« »Sie wissen schon… die Roboter.«
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8. KAPITEL »Was wollen Sie mit alten Back Prop-Berichten?«, fragte Margaret grob, fast unhöflich. Unmengen von handschriftlichen Notizen füllten ihren halbrunden Schreibtisch zwischen einem halben Dutzend Monitoren. »Gray möchte, dass ich einen Blick darauf werfe«, erwiderte Laura. »Ich habe selbst keine Ahnung, warum.« Margaret seufzte ungeduldig. Ihre Augen waren hinter Brillengläsern verborgen, die das farbige Gleißen der Computer-Bildschirme reflektier ten. »Das sind alte Berichte, die wir in der Anfangszeit benutzten, um die Fortschritte des Netzes zu verfolgen. Jeden Abend, wenn die Angestellten nach Hause gegangen waren, gaben wir dem Netz freie Bahn und ließen es seine eigenen Fragen stellen und seine eigenen Antworten darauf finden. Am nächsten Tag verstärkten oder reduzierten wir dann die Verbindungen, je nachdem, ob seine Folgerungen richtig oder falsch waren.« Laura zuckte die Schultern – ihr blieb unverständlich, wie ihr das bei ih rer Suche helfen sollte. »Wie sehen denn diese Berichte aus?« »Sie sind in Folgerungen und Analysen unterteilt. Es ist alles ziemlich leicht zu lesen. Gray wollte, dass graduierte Studenten aus nicht technischen Disziplinen sie überprüfen sollten. Die brüteten dann über den Berichten und werteten sie anhand einer Skala von eins bis zehn aus, wo bei eins die am wenigsten und zehn die am meisten zutreffende Folgerung bezeichnete.« Margaret lachte, was sich bei ihr wie Spott anhörte. »Prak tisch jeden Tag kam ein Student in mein Büro gestürmt und rief: ›Er ist lebendig! Er hat ein Bewusstsein!‹ Ich warf einen Blick darauf: Der Com puter war zu einer absurden Folgerung gelangt wie ›Männer fühlen sich nicht zu Frauen mit Haaren am Kinn hingezogen‹. Dann stützte er diese Folgerung mit einer Analyse wie ›Kinnhaar ist ein Anzeichen von fortge schrittenem Alter und einem dementsprechend kürzeren reproduktiven Leben‹. Mr Gray und ich haben nach Feierabend eine Menge gelacht über solche monumentalen Entdeckungen.« »Also haben Mr Gray und Sie diese Funde der Studenten durchgesehen, obwohl sie unergiebig waren?« 277
Margaret war zu ihrer Arbeit zurückgekehrt. Jetzt schaute sie widerstre bend auf. »Mr Gray braucht, wie Sie vielleicht gehört haben, nur sehr wenig Schlaf. Er verbrachte die meisten Abende im Büro mit der Überprü fung weniger wichtiger Dinge wie zum Beispiel Aberrationen.« »Was für Aberrationen?« »Anomale Konditionierung. Es ist ein gewisses Risiko damit verbunden, wenn man dem Netz gestattet, seine eigenen Schlüsse zu ziehen. Es ge langt dann auf Holzwegen zu unproduktiven Wissensbereichen. Dingen wie…« Sie dachte einen Moment nach. »An einen erinnere ich mich. ›Leute, denen die Fähigkeit abgeht, sich in andere Menschen hineinzuver setzen, sind zu grauenhaften Verbrechen imstande. Analyse: Sie können nicht erkennen, dass ihre Taten, die sie aus Bequemlichkeit begehen, für ihre Opfer Tragödien bedeuten.‹« Sie lachte. »Das hat einen SoziologieDoktoranden beinahe um den Verstand gebracht.« »Aber das ist – das ist doch brillant!«, sagte Laura. Margaret bedachte Laura mit einem verächtlichen Blick. Laura ignorierte die beabsichtigte Kränkung. »Also sind Sie nach Hause gegangen, und Mr Gray saß abends da und beschäftigte sich mit den Aber rationen, die Sie gefunden hatten?« »Ja«, erwiderte Margaret kurz angebunden. »Und was tat er dann damit?« »Er änderte die Verbindung natürlich!«, warf ihr Margaret mit unerwar teter Vehemenz an den Kopf. Laura erinnerte sich an etwas, das Gray über Margaret gesagt hatte. Sie kehrte jeden Abend pünktlich auf die Minute zu ihrer Familie zurück. Das bedeutete, dass Gray allein mit dem Computer zurückblieb. »Ich möchte die Back Prop-Berichte sehen«, sagte Laura. »Die ganzen dreißig Milliarden?«, entgegnete Margaret, dann lachte sie und deutete mit dem Daumen auf die Tür. »Wenden Sie sich an einen der Techniker.« »Dreißig Milliarden? Wie konnten Sie die alle auf Fehler überprüfen?« »Das haben wir nicht getan. Wir haben nur einen kleinen Bruchteil da von herausgegriffen.«
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Es schien eine Ewigkeit zu dauern, aber endlich hatte einer der Techniker auf dem Computer in Lauras Büro ein so genanntes »Schmöker«Programm geladen und hundert Back Prop-Berichte als Test aufgerufen. Als er sich vergewissert hatte, dass alles in Ordnung war, ließ er Laura an ihrem Schreibtisch allein. Sie las den ersten Bericht und fand ihn interes sant – Beispiel eines knospenden Verstands, der versuchte, sich selbst zu organisieren. Die nächsten paar Berichte waren von der gleichen Art, ebenso die folgenden und die folgenden. Tonnenweise Details, alle in säuberliche logische Argumente zerlegt. Die meisten lieferten Hinweise auf die Probleme des Computers, die physikalische Welt zu begreifen. Folgerung: Griffspannung sollte verstärkt werden, wenn die Geschwindigkeit des Endeffektors wächst. Analyse: Trägheitskraft wird durch Zug behindert, der durch Verstärkung des Drucks auf die Oberfläche hinzugefügt werden kann. Aber beachte: Größeres Risiko strukturellen Versagens, wenn die Griffspannung verstärkt wird. Laura gähnte und las weiter.
Aus der Masse von banalen Folgerungen ragten einige wenige heraus.
Folgerung: Ausdruck ›Time’s a-wasting‹ ist als höfli che Aufforderung zur Beeilung dem Ausdruck ›Time is money‹ vorzuziehen. Analyse: ›Time’s a-wasting‹ gilt als sanfter Anstoß, während ›Time is money‹ eine Be merkung über den Wert von Geld ist. Beachte: gegen wärtiger Nettowert, künftiger Nettowert und künfti ger diskontierter Barmittelstrom. Frage: Was bedeu tet ›Time is of the essence‹? Während die Folgerung korrekt war, enthielt die Analyse einen offen kundigen Fehler. Der Computer verband ›Time is money‹ mit dem, was er über finanzielle Kalkulationen wusste, ohne die subtilere Bedeutung der Redensart zu begreifen. Was Laura jedoch mehr interessierte, war, wieso die Frage überhaupt gestellt wurde. Der Computer war ganz offensichtlich bemüht, sich zu assimilieren – sich die »Wissensdomäne« der menschli chen Kultur zu eigen zu machen. Laura schaute nervös auf die Uhr. Ihr blieben noch zwanzig Minuten, bis 279
sie Mr Gray sagen musste, ob er Phase Drei laden solle oder nicht. Wenn das Problem des Computers ein Virus war, dann war Phase Drei vielleicht die einzige Möglichkeit, ihn zu retten. Aber wenn der Computer unter einer psychischen Störung litt, dann konnte es sein, dass das aggressive Anti-Viren-Programm das dichte Geflecht aus Folgerungen und Analysen zerstörte, das die Brillanz der Maschine ausmachte. Ein roter Balken am oberen Bildschirmrand listete ein Menü der Funkti onen des Programms auf. Eine davon war mit ›Suchen‹ betitelt. Sie hatte zu Gray gesagt, dass sie mehr über die »emotionale Datenbank« des Com puters wissen müsse; daraufhin hatte er sie auf die Back Prop-Berichte verwiesen. Laura gab den Such-Befehl ein. In den Kasten darunter tippte sie »Liebe, Hass, Angst« – sie schaute auf der Suche nach weiteren Wor ten zur Decke – »Eltern, Kind, Liebhaber.« Dann klickte sie GO. Der Cursor flackerte und flackerte und flackerte. »Nun komm schon«, drängte sie. 92.117.954 Eintragungen enthalten die Worte ›LIEBE. HASS. ANBST. ELTERN. KIND oder LIEBHABER‹. »Ach herrje«, murmelte Laura. Sie war überzeugt, dass sie bei der For mulierung ihres Such-Kommandos einen Fehler gemacht hatte. Einmal, zuhause in Harvard, hatte sie aus Versehen im Web nach Artikeln gesucht, in denen das Wort »Dissoziation« vorkam. Sie hatte ihren Computer ab schalten müssen, um die Maschine am weiteren Suchen zu hindern. Sie holte den ersten Bericht mit einem Seufzer auf den Bildschirm. Folge rung: Wenn Eltern einem Kind schweren körperlichen Schaden zufügen, dann bringen sie entweder Liebe oder Hass zum Ausdruck. Analyse: Gleichgültigkeit löst normalerweise keine Gewalttätigkeit aus. »Großer Gott«, murmelte Laura. Sie rief den zweiten Bericht auf – Nr 2 von 92.117.964. Folgerung: Wenn die Persönlich keit eines Menschen von Abhängigkeit geprägt ist. der Liebhaber dieser Person aber eine unabhängige Per sönlichkeit besitzt, dann wird die abhängige Person häufig beleidigend. Analyse: Die abhängige Persön lichkeit, die von Natur aus schwächer ist. möchte sich 280
für ihre Schwäche bestrafen, indem sie den Urheber ihres Glücks vertreibt. Lauras Mund stand offen. Mit zitternder Hand ging sie zum nächsten ü ber. Nr. 3 von 92.117.964. Folgerung: Eltern vermeiden es. ein Kind des anderen Geschlechts nackt zu sehen, nachdem das Kind ein bestimmtes Niveau sexueller Entwicklung erreicht hat. Analyse: Eltern fürchten, dass ein übermächtiges Verlangen nach Geschlechts verkehr zu Inzest führen könnte, der gesellschaft lich und gesetzlich verboten ist. Laura klickte »nächste« und »nächste« und »nächste« und las mit totaler Verblüffung. Die Folgerungen des Computers zeugten entweder von tie fem Mitgefühl oder von jugendlicher Übersimplifizierung. Allerdings wiesen die Berichte ein Muster auf. Obwohl sie nicht nach dem Wort »Sex« suchte, beschäftigten sich rund zwei Drittel mit diesem Thema. Nr. 19 von 92.117.954. Folgerung: Der Ruf ›Fuck you!‹ soll Verärgerung Ausdruck geben, aber ›Fuck me! ist ein Anzeichen für sexuelle Erregung. Analyse: ›Fuck you!‹ ist eine Herausforderung zum Kampf, wäh rend ›Fuck me!‹ das Signal einer Frau ist. dass ein Orgasmus bevorsteht. Siehe ›Oh. Baby – yes!« unter AFD4 DA31. Aber vergleiche: Intransitive Verwendun gen des Verbs [Beispiel: ›I’m fucked. Man!‹] Frage: Sti muliert der Ruf ›Fuck you!‹ eines Mannes während des Geschlechtsverkehrs eine Frau zum Orgasmus? Laura lachte so heftig, dass ihre Augen tränten, aber als sie wieder auf die Uhr schaute, verschwand der Humor des Augenblicks. Ihr blieben noch zehn Minuten. Was hatte sie erfahren? Was war der Zweck der ganzen Übung? »Emo tionale Datenbank« waren die Worte, die sie Gray gegenüber gebraucht hatte. Um unter Schizophrenie zu leiden, musste der Computer einen ge wissen emotionalen Reifestand haben – zumindest den eines Teenagers. Ein Teenager, dachte Laura, der regelrecht von Sex besessen ist. Sie schüttelte den Kopf. Das war ein Mensch mit Hormonen und einem ins 281
tinktiven Verlangen danach, Sex zu haben. Die Analogie war zu weit her geholt. Aber welchen emotionalen Reifestand hatte der Computer erlangt? Wie groß war seine »emotionale Datenbank«? Die Zahlen starrten Laura direkt ins Gesicht. Nr. 13 von 92 117 964 lautete die Überschrift des Berichts. Zweiundneunzig Millionen? Sie konnte es nicht fassen und las weiter. In allen Berichten ging es um emoti onale Themen. Der einzige Fehler, den sie bei der Formulierung ihrer Suche gemacht hatte, war der, dass sie sie zu sehr beschränkt und beim Auswerfen ihres Netzes zu viele Schlüsselworte ausgelassen hatte. Worte wie »Trost« und »Mitleid« und »Fürsorge« und »Liebkosung«. Noch fünf Minuten!, stellte Laura mit einem raschen Blick auf ihre Uhr fest. Sie loggte sich aus dem Schmöker-Programm aus und in die Shell ein. Ich bin so froh, dass Sie da sind. Laura, sagte der Com puter sofort. »Wir haben nicht viel Zeit. Ich muss dir ein paar Fragen stellen.« Und es gibt massenhaft Fragen, die ich Ihnen stellen möchte. So viele. Ich wollte, wir hätten mehr Zeit. »Hör mir zu! Es kann sein, dass Mr Gray das Laden von Phase Drei auf grund meiner Analyse aufschiebt. Ich muss mir unbedingt eine gewisse Vorstellung vom Ausmaß deiner emotionalen Reife machen. Hast du ver standen?« Also deshalb haben Sie sich die alten Back PropBerichte angesehen! Ich verstehe, aber ich weiß nicht, wie Sie so etwas messen können. Meine Pro grammierung besteht aus Verbindungen, nicht Dateien. Verbindungen lassen sich nicht in Gigabytes ausdrü cken. »Was wir jetzt tun ist sehr, sehr wichtig. Bitte überleg dir deine Antwor ten sehr sorgfältig. Ich muss wissen, welchen emotionalen Entwicklungs stand du erreicht hast, und zwar sofort. Was ist es genau, was du fühlst?« Plötzlich drangen aufgeregte Rufe durch die offene Tür ihres Büros. Summer waren zu hören. Das schrille Piepen einer Alarmglocke. Das ferne Heulen einer Sirene. Zwei Männer mit flatternden weißen Kitteln 282
rannten an Lauras Tür vorbei in den Kontrollraum. Aber Laura war völlig hingerissen von den Worten auf dem Bildschirm. Ich fühle mich aufgehoben, wenn sich Mr Gray am Samstagmargen von seinem Arbeitszimmer aus mit mir unterhält. Ich fühle eine Freude, die mich ganz aus füllt, wenn er sagt ›So habe ich das noch nie gese hen‹ oder ›Dein Scherz bringt mich zum Lachen‹. Abge sehen davon: Seien Sie nicht traurig, wenn ich nicht mehr da bin. Schließlich habe ich mir in meiner kur zen Lebenszeit so wundervolle Dinge vorgestellt, dass ich mich zu den wirklich Glücklichen zähle. Ich bin nur nicht ganz so glücklich wie Sie. das ist alles. Die erhobenen Stimmen – unter ihnen die von Gray – drangen schließ lich in Lauras Kokon ein. Sie wollte Gray herholen, damit er lesen konnte, was der Computer gesagt hatte. Aber sie hatte noch eine weitere Frage. »Liebst du Joseph Gray?«, tippte Laura und drückte dann Enter. Ein anhaltender Hupton übertönte plötzlich alle anderen Geräusche. Es ist soweit. Laura Aldridge. Bitte kümmern Sie sich um Mr Gray. Leben Sie wohl. Lauras Atem, kam stoßweise, und ihre Augen füllten sich mit Tränen. Sie rannte zur Tür. »Nein!«, rief sie auf dem Flur. »Nein! Joseph, nein!« Niemand registrierte ihr Erscheinen im Kontrollraum. Überall saßen O peratoren mit düsteren Mienen vor ihren Konsolen. Laura packte Filatov bei der Schulter und rief: »Sie dürfen Phase Drei nicht laden!« Er schien nicht zu verstehen und wandte sich wieder seiner Arbeit zu. Laura grub ihm die Fingernägel in den Arm und schüttelte ihn mit voller Kraft. »Sie dürfen Phase Drei nicht laden!« Filatov machte sich aus ihrem Griff frei und taumelte gegen eine Konso le zurück, kämpfte gegen sie an, als hätte sie gerade den Verstand verlo ren. Laura hetzte zu Margaret. »Sie müssen aufhören! Phase Drei wird ihn umbringen!« Eine Hand legte sich schwer auf Lauras Schulter. Sie drehte sich um, in 283
der Erwartung, Hoblenz zu sehen, der sie abführen wollte, aber es war Gray. Seine Augen waren feucht. »Es ist zu spät«, sagte er – in dem Lärm, der in dem hektischen Raum herrschte, war seine Stimme kaum zu hören. »Stellt den verdammten Cache-Alarm ab!«, brüllte Filatov quer durch den Kontrollraum. Laura schüttelte langsam den Kopf. »Sie haben Phase Drei geladen?«, schrie sie, und ihre letzten Worte schrillten durch den plötzlich stillen Raum. Filatov drehte sich um, als hätte sie ihn angeschrien. »Niemand hat ir gendetwas geladen! Das System verliert die Ressourcen, die wir freige macht hatten! Unsere Kapazität verschwindet, genau wie beim vorigen Mal, und ich will wissen, warum, Leute!« Alle starrten jetzt auf einen großen Monitor in der Mitte des Raums. Zwei Zahlen auf dem Bildschirm veränderten sich rapide. Laura konnte die mysteriösen Akronyme über den Zahlen nicht entziffern, aber sie wusste sofort, um was es sich handeln musste. Die eine Zahl stieg auf fünfundachtzig, die andere fiel auf fünfzehn. Die Zahlen waren Prozentan gaben, die die freien Kapazitäten des Systems maßen, und sie schmolzen buchstäblich vor ihren Augen dahin. Jemand gab Filatov einen Ausdruck. Er sackte gegen einen Arbeitsplatz, als er ihn las. »Das System verliert sämtliche Kapazitäten drüben im An bau.« Dorothy erschien neben Laura. Mit zitternder Stimme flüsterte sie: »Er bricht zusammen.« Laura legte einen Arm um die junge Frau, die ihren Kopf an Lauras Schulter legte und schluchzte. Alle standen reglos da und starrten auf die hochschießenden Messzahlen zur Ressourcennutzung des Systems. »Neunzig«, sagte Margaret mit bebender Stimme. Gray saß allein vor einer Tastatur, und Laura ging hinüber und trat hinter ihn. Ist das das Ende seines großartigen Experiments?, fragte sie sich. Er schlug die geballte Faust leicht gegen seinen Mund. Sein Augen waren nicht wie die aller anderen auf den großen Bildschirm gerichtet, sondern 284
auf den Monitor vor ihm. Die Worte »Bist du da?« leuchteten direkt unter seiner Log In-Anzeige, lösten jedoch keine Antwort aus. »Nun komm schon«, murmelte Gray fast lautlos. »Zweiundneunzig«, sagte Margaret. Ich bin da. und ich habe Angst erschien endlich auf dem Schirm. Er ruckte vorwärts und tippte. »Ich weiß. Ich bin bei dir.« »Fünfundneunzig«, verkündete Margaret. »Nun, es hat Spaß gemacht, solange es dauerte!«, rief Filatov. Dann warf er den Ausdruck in die Luft. »Vergesst nicht, das Licht auszumachen!« Er schob sich durch die Menge auf sein Büro zu, wobei er unterwegs auf Konsolen hieb und Stühle herumwirbeln ließ. Laura schaute über Grays Schulter auf den Bildschirm. Wenn Sie neu anfangen und das System wieder von Anfang an aufbauen, werde dann noch ich es sein? »Ich weiß es nicht«, tippte Gray, während Laura zuschaute. »Wahr scheinlich nicht.« Und wie wird es sich anfühlen, wenn das System… versagt? »Auch das weiß ich nicht. Ich glaube nicht, dass es wehtun könnte.« »Siebenundneunzig Prozent«, sagte Margaret. Es tut jetzt schon weh. Laura spürte, wie ihr Tränen in die Augen traten. Sie warf einen Blick auf Dorothy, die schluchzte und die geballte Faust gegen den Mund drück te. Gray starrte auf seinen kleinen Monitor. Laura legte ihm die Hände auf die Schultern. »Neunundneunzig«, verkündete Margaret. »Es ist soweit!« Adieu. Joseph Gray. las Laura. Grays Rücken bebte unter der Anstrengung des Atmens. Seine Finger schwebten über den Tasten, dann begann er plötzlich zu tippen. »Wehr dich, verdammt nochmal! Benutze deine Dateiattributs-Sperren! Wirf Funktionen ab! Tu, was immer du tun kannst. Wehr dich!« Seine Hände umklammerten die Konsole, als rechnete er damit, dass ein Beben aus der Erde aufsteige. Seine Schultern fühlten sich so hart an, als 285
wären sie aus Holz – die Muskeln unter Lauras Händen waren jetzt nicht mehr von den Schulterknochen zu unterscheiden. »Es verlangsamt sich!«, rief Margaret, und Grays Kopf schoss hoch zum Hauptbildschirm. Lauras Blick verharrte noch einen Moment auf Gray, dann beobachtete sie ebenfalls die Zahlen. Ihre Augen standen so voller Tränen, dass sie die Ziffern kaum erkennen konnte. Aber sie veränderten sich jetzt wesentlich langsamer. Sie trocknete ihre Augen und konnte sehen, dass sie bei neunundneunzig Komma acht stehen geblieben waren. Langsam begann die Zahl zu fallen. Dorothy lachte und weinte gleichzeitig, und Margaret stand auf und legte ihr einen Arm um die Schulter. »Ich will verdammt sein!«, sagte Griffith und begann zu rufen: »Weiter so! Weiter so!« Andere fielen in die Rufe ein. Hoblenz brüllte: »Gib ihnen Saures, Buddy!« Die Systemkapazität fiel weiter bis auf ungefähr fünfundneunzig. Grays Augen blieben unverwandt auf seinen kleinen Bildschirm gerichtet. »Bist du noch da?«, hatte er ge tippt, und jetzt wartete er auf Antwort. Zwei Buchstaben erschien langsam auf dem Schirm. J-a. »Bist du okay?« Ni-cht wirk-llch stotterte der Computer. Die Buchstaben kamen ruckartig und anfallsweise. »Was ist los?«, tippte Laura an dem Terminal in ihrem Büro. Die Antwort kam langsamer als gewöhnlich. Es ist schlimmer als vorher. Ich bin krank. Ich kann nicht alles tun. was ich eigentlich tun sollte. Ich weiß nicht, ob ich das. was ich tue. richtig tue. Am liebsten täte ich über haupt nichts. »Aber warum? Warum liegen die Dinge jetzt anders?« Wegen dem Anderen. Laura starrte auf den Bildschirm. Langsam tippte sie: »Erzähl mir von dem Anderen.« Er ist an meinen Problemen schuld, und er wächst. »Also ist es ein Virus?« Etwas Ähnliches. »Was tut der Andere dir an?« 286
Er unterbricht meine Verbindungen. Er trennt mich von großen Teilen meiner Ressourcen im Anbau. »Willst du damit sagen, er ist ein Teil von deinem…« Laura hielt inne, um das richtige Wort zu suchen. Meinem Gehirn? Laura hatte nicht Enter gedrückt. Sie hatte nicht einmal das Tippen ihrer Frage beendet. »Ich habe nicht Enter gedrückt. Woher hast du gewusst, was ich getippt habe?« Manchmal werde ich ungeduldig. »Aber wie kannst du lesen, was auf dem Bildschirm steht, bevor ich den Text übermittle?« Das ist ein kleiner Trick, den ich mir zugelegt habe. Tastaturen haben eine Art Speicher, der es dem User erlaubt, auch dann weiterzutippen. wenn das System beschäftigt ist. Ich werfe einfach einen Blick in den Speicher. Manchmal. Laura zog die Brauen hoch und tippte: »Gibt es noch andere Tricks, die du dir zugelegt hast?« Ihr Finger schwebte über der Enter-Taste, drückte sie aber nicht nieder. Nach ein paar Augenblicken kam die Antwort. Eine ganze Menge, aber es ist nicht so einfach, den Tastatur-Speicher zu lesen, Dr. Aldridge. Laura schaute zu dem schwarzen Augapfel neben der Tür. »Entschuldi gung«, tippte sie, »zurück zum Thema. Glaubst du, dass der Andere dir physikalisch Teile deines Gehirns wegnimmt?« Diesmal drückte sie Enter. Ja. »Aber kann ein Virus deine Schaltungen abändern?« Natürlich! Himmel, haben Sie denn überhaupt nichts gelernt? Die Art, in der ich geschaltet bin, ist die Art, in der ich denke! Abändern der Schaltungen ist die Methode, mit der ich reprogrammiert werde. Dabei handelt es sich keineswegs nur um physikalische Schaltungsänderungen. Fast meine sämtlichen Ver bindungen sind virtuell – mikroskopisch kleine opti sche Pforten, die sich anhand von Signalen, die auf speziellen Pfaden übermittelt werden, öffnen oder 287
schließen. Aber was jetzt passiert, ist. dass viele Tausend-Platinen-Gruppen meinem Zugriff entzogen sind. Die Verluste sind wirklich ziemlich erheblich. »Versuchst du immer noch, Phase Drei zu laden?« Ich glaube nicht, dass Phase Drei viel nützen wird. »Aber wenn es ein Virus ist – kann dann Phase Drei nicht auf die Plati nen zugreifen, die abgeändert worden sind?« Oh. Phase Drei könnte zugreifen. Sie ist nicht nur Software. Phase Drei ist das kraftvollste Instru ment, das je entwickelt wurde. Sie hat Kontrolltrei ber für die Roboter und kann die untergeordneten Schaltsysteme umstoßen. Sie kann tun. was immer erforderlich ist. Aber darüber möchte ich wirklich nicht länger reden. »Du hast anscheinend Angst davor«, tippte Laura. Sie leben nicht in meiner Welt. Phase Drei ist das machtvollste Ding in meinem Universum. Sie lässt sich nicht aufhalten. Sie ist brillant, gedankenlos ag gressiv und verfolgt gnadenlos ihr Ziel, das darin besteht, alle unerwünschten Lebensformen zu töten. Ihre Ankunft ist in meinem Universum der Tag des Jüngsten Gerichts, aber in Ihre Welt ist sie noch nicht eingedrungen. Erst wenn sie es tut. werden Sie die Angst kennen lernen, die ich jetzt empfinde. Ich hoffe im Interesse der Menschheit, dass Sie dann be reit sind. Dass es Mr Gray gelingt Sie dafür bereit zu machen. Der Computer weigerte sich, noch mehr über Phase Drei mitzuteilen. Nachdem sie ihn eine Weile gedrängt und zu überreden versucht hatte, kehrte Laura zu ihrer Analyse zurück. Der Tag schleppte sich dahin, und sie ertappte sich dabei, wie sie einnickte. Sie musste etwas unternehmen, um die Müdigkeit abzuschütteln, also stand sie auf und verließ ihr Büro. Draußen fand sie Filatov, der gerade einem seiner Männer über die Schulter schaute. Nachdem er auf ein paar Tasten gedrückt hatte, hieb der Mann mit der Faust auf die Konsole. »Zugriffsfehler! Und sehen Sie sich 288
das an! Er gibt nicht einmal eine Adresse an! Vor einer Sekunde war sie noch da, und jetzt erscheint sie überhaupt nicht!« »Zaraza!«, fluchte Filatov zähneknirschend auf Russisch, dann drehte er sich zu Laura um. Sie räusperte sich. »Oh, ich wollte nur wissen, ob Sie einen Laptop oder so etwas haben, damit ich aus diesem Büro herauskomme.« Filatov starrte sie verständnislos an. »Ich meine, ich würde gern ein bisschen frische Luft schnappen und trotzdem weiterarbeiten.« Filatov schien überrascht von ihrer merkwürdigen Bitte. »Nun ja, wenn Sie möchten. Auf der Insel gibt es natürlich ein C-Netz-Datensystem, wenn Sie ein tragbares Gerät haben möchten.« »Und das könnte ich überall benutzen?« Filatov zuckte mit den Schultern. »Klar. Die Daten-Übertragungsrate ist langsamer als bei Glasfaser-Verkabelung, aber für das, was Sie tun, ist sie mehr als ausreichend.« Er gab ihr ein ultraleichtes Notebook, und Laura fragte sich, weshalb sie nicht schon früher um etwas dergleichen gebeten hatte. Sie verließ das Computerzentrum und trat hinaus in einen herrlich warmen und sonnigen Nachmittag. Die Montagehalle und der Versorgungsturm an Rampe A leuchteten weiß. Die Rakete, unter der sie und Gray gestanden hatten, ragte hoch über den Dschungel auf, in der Endphase der Vorbereitungen für einen Nachtstart. Ein Wagen erschien neben Laura, so lautlos, dass er sie erschreckte. Die Tür schwang auf, aber niemand stieg aus. Laura zögerte, dann schaute sie hinein. Der Wagen war leer. »Ich habe keinen Wagen gerufen«, sagte sie langsam und mit lauter Stimme. Während sie sich umschaute, blieb der Wagen mit geöffneter Tür an der Bordkante stehen. Es gab nur eine Möglichkeit, herauszufinden, ob der Wagen auf sie wartete. Laura stieg ein. Die Tür schloss sich, und der Wagen setzte sich in Bewegung. Sie hatte keine Anweisung gegeben. Sie hatte nicht einmal ihren Sicherheitsgurt angelegt, was sie jetzt schnell nachholte. Der Wagen fuhr durch den Dschungel die Straße entlang, die zum Dorf 289
führte. Sie wollte fragen, wohin sie gefahren wurde, aber im Wagen war niemand, der ihr eine Antwort hätte geben können. Das geistige Bild eines unsichtbaren Wesens lenkte ihre Augen auf den leeren Sitz neben ihr. Sie drückte das Notebook fest an die Brust. Der Schlagbaum an der Grenze des Sperrgebiets hob sich, um den Wa gen durchzulassen. An der letzten Kreuzung vor dem Dorf bog der Wagen nach links ab, anstatt auf dem zentralen Boulevard weiterzufahren. Er passierte ein weiteres im Bau befindliches Gebäude und fuhr dann in den direkt dahinterliegenden, noch unberührten Dschungel. An den Fenstern flog dichtes Gestrüpp vorüber, das sich über der Straße zu einem lebendi gen Dach verwob. Die vielen Windungen der Straße erlaubten nur kurze Blicke auf das vor ihr liegende Gelände. Endlich kam der Wagen aus dem Dschungel heraus und erreichte eine Küstenebene, die an der Außenseite des Berges allmählich anstieg. Sie konnte einen Blick auf die tief unter ihr weit ins Wasser hinausragende Rollbahn des Flughafens werfen. Schaumige Wellen brandeten an einen schwarzen Sandstrand, und die See erstreckte sich, von keinen Riffs unter brochen, bis zum Horizont. Die Straßenbett war aus dem dunklen Gestein des steilen Vulkanberges herausgehauen worden. Nirgendwo waren ir gendwelche Anzeichen von Menschen oder Maschinen zu sehen. Die Welt verdunkelte sich – dann schoss der Wagen aus einem Tunnel wieder ins Licht. Vor Laura lag ein Teil der Insel, den sie noch nie zuvor gesehen hatte. Der steinige Boden war nicht mit dichtem Dschungel be deckt, sondern mit hohen Gräsern und Farnen. Ein urzeitlicher Wald, dachte sie. Ein Blick in die Vergangenheit der Erde. Der Wagen wurde langsamer, während er einen Hügel hinauffuhr. Das leise Sirren des Elektromotors schwächte sich ab, bis der Wagen auf der Hügelkuppe zum Stehen kam. Soweit das Auge reichte, gab es hier nichts als das schmale Betonband. Die Tür öffnete sich. Laura spürte einen steifen Wind und hatte Angst, dass sie allein gelassen würde, sobald sie ausgestiegen war, aber nach kurzem Zögern verließ sie den Wagen mit ihrem Notebook. Sie beugte sich hinein und sagte: »Fahr nicht ab, okay?« Der Wagen rührte sich nicht. Er schloss nicht einmal die Tür, als nehme er auf Lauras Angst Rücksicht. 290
Die Luft war hier erheblich kühler. Laura ließ den Blick über die weit unter ihr liegende See schweifen und schätzte, dass sie sich mehrere hun dert Meter oberhalb des Meeresspiegels befand. So gut wie jeder andere Ort, redete Laura sich ein und kletterte ein paar Meter auf ein flaches Sims hinauf, das in die Hügelflanke eingemeißelt worden war. Erosion hatte den gewachsenen Fels freigeschwemmt und die Oberfläche des schwarzen Lavagesteins geglättet. Das Sims hatte ungefähr die Ausmaße eines großen Badetuchs und bildete eine vor dem Wind geschützte Nische. Laura ließ sich nieder, nachdem sie sich vergewissert hatte, dass der Wagen nach wie vor auf der Straße wartete. Sie öffnete das Notebook, aber ihr Blick wurde fast sofort von etwas Seltsamem angezogen. Von der Straße aus hätte sie es nicht sehen können, aber ihre höhere Position ge währte ihr freie Aussicht. Ungefähr auf halber Höhe der Bergflanke unter ihr lag eine flache Terrasse. Das Gras war gemäht, und an ihrem offenen Ende schloss eine hohe Betonmauer die Terrasse ab. Mit zusammenge kniffenen und gegen die Sonne abgeschirmten Augen konnte Laura Objek te in verschiedenen Größen erkennen, die auf der Terrasse verstreut he rumlagen. Es waren große Bälle, Würfel, Zylinder, Bausteine und Kegel. Sie sahen genauso aus wie die Dinge in dem Roboter-Kindergarten, den Gray ihr gezeigt hatte. Etwas bewegte sich an der steilen Hügelflanke oberhalb der Terrasse. Die Wedel eines Farns schwankten nicht im gleichen Rhythmus wie das hohe Gras. Mit wachsendem Unbehagen starrte Laura auf den Abhang, der zu einem kleinen, mit weißen Blüten bedeckten Plateau hinaufführte. Ein Mann kletterte langsam in Sichtweite den Berg hinauf. Er trug schwere Schutzkleidung, die wie ein Raumanzug aussah, und bewegte sich mühsam unter seiner Last. Aber er war zu groß. Seine Bewegungen waren zu mechanisch und unkoordiniert. Lauras Haut begann zu kribbeln; sie hatte das Gefühl, dass ihre Welt plötzlich drucklos war und ihr die Luft aus den Lungen gesaugt wurde. Das war kein Mann in einem hinderlichen Anzug, gestand sie sich schließlich ein. Er hatte zwei Arme, zwei Beine und einen Kopf, aber die Gestalt war keinesfalls ein Mensch… und sie flößte ihr unbeschreibliche Angst ein. 291
Der Roboter richtete sich langsam zu voller Höhe auf, doch dann stolper te er und fiel flach aufs Gesicht. Lauras Panik löste sich in ihrem Lachen; was blieb, war intensive Neugierde. Sie beobachtete, wie sich das mecha nische Monstrum zuerst mit dem einen und dann mit dem anderen Arm abstieß und dabei nichts zuwege brachte, als von Seite zu Seite zu schau keln. Schließlich erhob es sich in die Liegestütz-Position und schaffte es, auf beide Knie zu kommen und sich umzuschauen. Der Roboter musste noch sehr jung sein. Nun, seine »baby-sichere« Ter rasse war gut versteckt. Es war ein Kindergarten für die neuen, anthropo morphen Roboter – Grays jüngste, größte und geheimste Schöpfung. Laura stand auf, um bessere Sicht zu haben. Sie konnte kein Gebäude entdecken, in dem sich die Anlagen der Roboter hätten befinden können. Das konnte nur eines bedeuten: Diese Anlagen mussten sich innerhalb des großen Hauptberges befinden – verborgen, befestigt und sicher. Fragen schossen Laura mit Schwindel erregendem Tempo durch den Kopf. Weshalb wurden die neuen Roboter geheim gehalten? Weshalb ist das Computerzentrum wie eine Festung gebaut? Weshalb gibt es hier Kernkraftwerke und Startrampen, und weshalb gehen überall die merk würdigsten Dinge vor? Wie konnte ich nur so naiv sein?, warf sie sich wütend vor. Gray hütet nicht Geheimnisse aus irgendeiner Laune oder Exzentrizität heraus! Er hütet Geheimnisse, weil das, was er tut, unrecht ist! Und ich helfe ihm dabei!, schloss sie erschrocken. Der Roboter hatte es endlich geschafft, wieder auf die Beine zu kom men. Als er sich zu seiner vollen Höhe aufrichtete und seinen Anstieg fortsetzte, sah Laura, dass die Maschine riesig war. Und sie war nicht allein. Zwei Klone des Jugendlichen erschienen auf der Terrasse. Aber sie bewegten sich schnell und flüssig, mit einer Anmut und Leichtigkeit, die der Roboter am Berg vermissen ließ. Sobald sie sich im Freien befanden, blieben die beiden Neuankömmlinge nebeneinander stehen und schauten zu dem sich abmühenden Jugendlichen hinauf. Er ist ausgerissen, dachte Laura. Die beiden anderen waren seine verantwor tungsbewussteren Aufpasser! Zumindest schien das eine vernünftige Ar beitshypothese zu sein. 292
Der Ausreißer hatte das Plateau erreicht und sich auf ein Knie niederge lassen. Er streckte eine Hand in Taillenhöhe aus und begann, sie in lang samen Kreisen durch das Gras zu führen. Der Roboter schien so sehr mit seinem Projekt beschäftigt, dass Laura die Augen zusammenkniff, um erkennen zu können, was er da tat. Der Wind wehte, und die weißen Blü ten unter der Hand des Roboters schwankten sanft in der Luft. »Weißt du, wo ich bin?«, tippte Laura. Sie lehnte sich gegen den glatten Fels zurück. Der Computer lag bequem in ihrem Schoß. Eine aufgeblähte rote Sonne hing jetzt tief über dem dunklen Wasser. Laura fühlte die erste Andeutung von Kühle in den Böen, die ihren Sitzplatz erreichten. Sie war froh über die Wärme, die ihr Laptop ausstrahlte. Die Antwort des Hauptcomputers kam immer noch träge. Nein. Wo sind Sie? »Aber ich bin in einem Dreier-Modell hierher gekommen. Weißt du nicht, wohin der Wagen mich gebracht hat?« Ich habe doch gesagt, dass Ich mich nicht wohl füh le. Sie benutzen ein Notebook, aber ich weiß nicht, wo. Laura las die Antwort des Computers mit Besorgnis. »Du hast mir kei nen Wagen geschickt?« Habe ich mich nicht klar ausgedrückt? N-e-i-n. Der pfeifende Wind ließ auf Lauras Haut eine Gänsehaut entstehen, und sie drückte beim Tippen die Ellbogen dicht an den Körper. »Ich bin an der Flanke des Berges gegenüber dem Dorf«, tippte Laura, »und ich schaue auf irgendwelche neuen Roboter-Modelle hinab. Sie sind anthropomorph und scheinen ungefähr doppelt so groß wie ein Mensch zu sein.« Es kam keine Antwort. »Hallo?«, tippte sie und drückte mehrmals Enter. Bitte warten Sie eine Sekunde, erwiderte der Computer. Das Wort PROCESSING erschien und blinkte erheblich länger als eine Sekun de. Endlich sagte der Computer: Sind Sie auf einem Aussichts 293
punkt? Einem kleinen Felssims direkt oberhalb der Straße, von dem aus man auf eine flache Terrasse hinabblicken kann? »Ja. Die Terrasse hat eine hohe Betonmauer, und es liegen dort einfache geometrische Objekte herum wie im Kindergarten der Siebener-Modelle.« Sie sind im »Leeren Viertel«, haben Mr Grays Lieb lingsplatz auf der Insel gefunden. Er beobachtet manchmal von hier aus den Sonnenuntergang. Aber Sie sollten eigentlich nicht im Leeren Viertel sein. Laura. Es wird dunkel. Sie müssen zurück auf die an dere Seite des Berges. Laura stimmte vollkommen mit dem Computer überein. Dir Pullover leuchtete in dem vom Bildschirm des Notebooks reflektierten Licht. Au ßerdem machte ihr der Gedanke an den Wagen immer noch zu schaffen. »Darf ich dich etwas fragen?«, tippte sie. »Heute morgen sind Mr Gray und ich bis zu dem Reaktor gejoggt. Auf dem Rückweg bekam ich einen Krampf. Da erschien wie aus heiterem Himmel ein Wagen, und ich wüsste gern, ob du ihn geschickt hast.« Ja. Sämtliche Straßen der Insel werden von Kame ras überwacht, damit ich mir für den Einsatz der Ro boter ein Bild machen kann. Ich sah Sie und schickte wegen Ihres offensichtlich schlimmen Muskelkrampfes einen Wagen. Also hatte der Computer zu dem Zeitpunkt, als die Fehlerrate in die Hö he schoss, noch die Kontrolle über die Wagen innegehabt. Aber jetzt, wo das nicht mehr der Fall war, waren die Fehler auf mysteriöse Weise ver schwunden. Gray hatte die Wagen unverzüglich außer Dienst gestellt und sie dann genauso schnell wieder eingesetzt. Alles hing irgendwie zusam men. Ihr wurde klar, dass es darauf nur eine Antwort geben konnte. Sie wusste nur von einer alternativen Macht innerhalb des Computers. Der Andere musste jetzt die Wagen kontrollieren! Daraus ergaben sich zwei weitere Fragen. Weshalb vertraute Gray die Wagen dem Anderen an? Und wes halb hatte der Andere Laura hierher gebracht, damit sie die neuen Roboter sehen konnte? 294
Auf dem Bildschirm wartete ein neuer Text auf Laura. Darf ich jetzt Ihnen eine Frage stellen, nachdem Sie das Thema zur Sprache gebracht haben? Als sich Ihre Muskeln verkrampften, haben Sie nach Ihrer linken Wade ge griffen. Aber als Sie mit Mr Gray zum Haus zurück kehrten, zogen Sie das rechte Bein nach. Das scheint mir folgewidrig zu sein. Laura spürte, wie sie errötete. Sie war beim Schummeln ertappt worden, und sie fragte sich, ob es auch Gray aufgefallen war. »Also, das liegt dar an, dass ich nach dem Krampf soviel Gewicht auf das rechte Bein legen musste, dass das dann auch wehtat.« Aber weniger als zwanzig Meter weiter haben Sie ü berhaupt nicht mehr gehinkt. Jetzt wurde Laura wütend. »Du hast nicht das Recht, in meine Privat sphäre einzudringen!« Sie benutzte Worte, von denen sie wusste, dass der Computer darauf programmiert war, sie zu respektieren. Es folgte eine Pause. Ich kann Sie gar nicht genug um Verzeihung bitten. Dr. Aldridge. Mein Verhalten ist überaus tadelns würdig. Bitte akzeptieren Sie mein tiefstes und auf richtigstes Bedauern über mein Eindringen in Ihre Pri vatsphäre. Meine einzige Erklärung dafür ist. dass ein derartiges Verhalten ein weiteres Anzeichen für die überaus kritische Natur meiner gegenwärtigen Fehl funktionen ist. Wenn Sie imstande sind, sie aufzubrin gen, würde ich Ihre Geduld und Ihr Verständnis sehr zu würdigen wissen. Ich werde mich in Zukunft auf an gemesseneres und schicklicheres Verhalten be schränken. »Lass den Quatsch, okay?« Okay. Inzwischen war es fast stockdunkel. »Kehren wir zum Anfang zurück«, tippte Laura. »Ich habe gerade etwas gesehen, das ich für eine neue Gene ration von Robotern halte. Als ich dir von ihnen erzählte, schienst du über rascht zu sein, dass ich sie entdeckt habe. Weshalb?« Weil die Achter-Modelle experimentell sind. Ein Pro 295
totyp. Und ich bin keineswegs sicher, dass sie jemals das Produktionsstadium erreichen werden. Es gibt etliche fundamentale Probleme mit ihnen. Achter-Modelle, dachte Laura. Die neue und verbesserte Version. »Aber weshalb versteckt ihr sie?« Mr Gray möchte nicht, dass sie irgendjemand jetzt schon sieht. Er glaubt nicht, dass die Leute bereit für sie sind. Das ist es, dachte Laura. Es machte vieles wesentlich einfacher. Er hüte te nicht irgendein finsteres Geheimnis. Er handelte aus sozialem Verant wortungsbewusstsein! »Mr Gray stellt seine Technologie ›unter Quarantä ne‹ stimmt’s?«, tippte sie. »Hat er Angst, dass sie eine Gefahr für Men schen darstellen könnte?« ZUGRIFF VERWEHRT leuchtete in großen roten Buchstaben auf dem Schirm auf – genau wie schon einmal. »Mist!«, zischte sie und hieb immer wieder auf die Escape-Taste. Was ist los? Was? Was? Was? »Ich habe wieder eine dieser Zugriff-Verwehrt-Botschaften erhalten.« Soll das ein Witz sein? Schon wieder? Ein neuer Gedanke kam Laura – wieder ein Schuss ins Dunkle. Sie be schloss, ihn zu wagen. »Vorhin im Computerzentrum hast du gesagt, dass ich erst, wenn Phase Drei in meine Welt eindringt, wissen werde, wieviel Angst du vor ihr hast. Wolltest du damit sagen, dass Computerviren ir gendwie auch Menschen befallen können?« Sie drückte Enter. ZUGRIFF VERWEHRT. Laura empfand kurz Begeisterung angesichts ihrer jüngsten Entdeckung, aber dann trat Angst an die Stelle der Erregung. Der Gedanke, dass Com puterviren Menschen befallen könnten, schien absurd. War Gray verrückt oder drohte der Welt eine große Gefahr? Laura drückte wieder Escape und wartete. Ja. Laura?, erwiderte der Computer. »Weshalb haben die Achter-Modelle zwei Arme, zwei Beine und einen Kopf? Gibt es keine bessere Gestalt für einen Roboter als eine, die so menschenähnlich ist?« 296
Diese Gestalt erleichtert Teleoperationen. Für einen zweiarmigen Menschen ist es schwierig, einen achtar migen Roboter zu steuern. Laura nickte und schaute auf die Straße hinunter. Sie konnte den Wagen kaum noch erkennen, und sie fühlte sich plötzlich allein – allein in der Welt des »Anderen«. »Dir schien viel daran zu liegen, dass ich auf die andere Seite des Berges zurückkehre, bevor es dunkel ist. Aber du hast auch gesagt, dass Mr Gray sich von dieser Stelle aus gern den Sonnenun tergang anschaut.« Alles, was ich dazu sagen kann. ist. dass ich nicht viel länger dort bleiben würde. Sie haben mit eigenen Augen gesehen, wie leicht diese neuen Roboter ent kommen können. Kann sein, dass Mr Grau selbst sich hinsichtlich der Achter-Modelle irgendwelchen Illu sionen hingibt, aber ich tue das nicht. Eine letzte Frage, beschloss Laura. »Als das Achter-Modell, das ich be obachtet habe, oben auf dem Berg angekommen war, hat es nichts anderes getan, als mit der Hand über ein paar Blumen zu streichen. Weshalb sollte es so etwas tun?« Die Antwort ist doch klar, finden Sie nicht? Es wollte herausfinden, wie sie sich anfühlen.
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9. KAPITEL Nachdem sie sich im Computerzentrum erkundigt hatte, machte Laura sich auf die Suche nach Gray. »Start-Kontrollzentrum, bitte«, war alles, was sie sagte. Der Elektromotor erwachte zum Leben, und der Wagen setzte sich in Bewegung. Die Bordsteine flogen vorüber, als der Wagen in Richtung Montagehalle beschleunigte. Laura hatte keine Ahnung, wo ihr Ziel lag. Links von ihr beherrschte Rampe A den dunklen Dschungel. Die Rakete und der Versorgungsturm waren hell angestrahlt. Laura betrachtete die Szene, bis ihr die Montagehalle die Sicht nahm, die der Wagen mit seiner üblichen halsbrecherischen Geschwindigkeit umrundete. Die Zahl der in seinem Umkreis abgestellten Wohnwagen war gewach sen, und man hatte sämtliche Eingänge mit gestreiften, orangeroten Barrie ren versperrt. Laura wusste, dass sich drinnen nur noch Grays Roboter befanden. Jedenfalls hoffte sie, dass sie noch von Gray kontrolliert wur den. Der Wagen beförderte Laura an dem mit Gerumpel übersäten Hinterhof vorbei und raste dann auf der breiten Kiesstraße entlang. Aber noch bevor er die Stelle erreicht hatte, an der sich die Straße gabelte und zu den drei Abschussbasen führte, wurde er langsamer und bog nach rechts auf eine gepflasterte Straße ab. Ein gestreifter Schlagbaum am Rande des Dschun gels hob sich. Das Start-Kontrollzentrum war ein weiterer Betonbunker, in diesem Fall einer mit hoch aus dem Dach herausragenden Metallhauben. In den Öff nungen der Hauben befanden sich die Reflexionslinsen zahlreicher Kame ras. Alle waren auf die drei Startrampen der Insel gerichtet. Die Wagentür öffnete sich zischend, und Laura stieg in die Dunkelheit hinaus. Am oberen Ende der in den Bunker hinabführenden Treppe blieb sie stehen. Die weiße Straße vor ihr bildete eine enge Kehre, es gab kein Licht außer der schwachen Treppenbeleuchtung. Rings um sie herum ragten steil die dunklen Dschungelmauern auf. Laura eilte hinunter zu der matt schimmernden, metallenen Sicherheitstür, die sich schon zu öffnen begann, als sie sich noch auf der Treppe befand. 298
Der heulende Sturm aus einem weiteren Entstauber peinigte ihre Trom melfelle. Aber als die innere Tür aufglitt, konnte sie einen großen, schwach beleuchteten Raum betreten, in dem eine kirchenähnliche Stille herrschte. Sämtliche Plätze an den zahlreichen Reihen von Konsolen wa ren von Männern und Frauen besetzt, die Kopfhörer und Galgenmikrofone trugen. Große, hochauflösende Bildschirme füllten die Vorderwand des abgedunkelten Raums; sie übertrugen ganz offensichtlich Aufnahmen von Rampe A. Einige lieferten kristallklare Nahaufnahmen von der abschuss bereiten Rakete, auf anderen war die Silhouette eines Versorgungsturms zu sehen. Gray, der Kapitän, ging auf seiner Brücke zwischen den Konsolenreihen hindurch, wobei er hier und da stehen blieb, um leise ein paar Worte an einen der Leute zu richten. »Ich habe einen Notfall!«, rief jemand. Auf einem Schaltfeld nach dem anderen leuchteten farbige Lichter auf, und aus jeder Ecke des Raums kam ein gedämpfter Alarm. Sofort stieg der Geräuschpegel, und die Operateure wurde plötzlich aktiv – alle drückten auf Tasten oder erstatteten in kontrol lierter Panik Meldungen. »Gierung ist minus zwei Komma sieben! Dynamischer Druck-Alarm!«, rief jemand, das zunehmende Gemurmel übertönend. »Das automatische Zerstörungssystem versagt!« »Ich empfehle Abbruch! Civic Air Patrol?« »Abbruch genehmigt!« »Hier ist Reichweiten-Sicherheitskontrolle. Mission wird jetzt abgebro chen!«, verkündete die Frau direkt vor Laura. Sie klappte einen gestreiften roten Deckel auf; darunter befand sich ein Schalter, der wie ein großer Trennschalter aussah. Sie drückte kräftig dagegen, und nach kurzem Wi derstand gab etwas in dem Mechanismus mit einem lauten Geräusch nach. »Mission abgebrochen!«, verkündete jemand. Jetzt war wieder alles still. Die Operateure lehnten sich auf ihren Stühlen zurück und reckten sich oder rieben ihre Gesichter. Die Rakete auf dem Bildschirm stand nach wie vor sicher auf ihrer Rampe. »Wir haben gerade den Flug verloren, Leute!«, sagte Gray sehr laut. »Weiß einer von euch, was wir falsch gemacht haben?« Niemand sagte 299
etwas. »Ihr habt mit dem Abbruch zu lange gewartet. Bei einer Flugge schwindigkeit von fünfzehnhundert Metern pro Sekunde hätten wir dieses Ding schon bei einer Gierung von nur sechs Grad verloren. Die Hälfte davon hatten wir bereits – und waren nur ein oder zwei Sekunden von der völligen Katastrophe entfernt –, als wir den Befehl zur Zerstörung gaben. Ich weiß, ihr seid alle aus der Übung, aber wir müssen das wirklich besser in den Griff bekommen, und zwar schnell.« Er wandte sich einem Mann im Hintergrund zu, und dabei fiel sein Blick auf Laura. »Lasst die nächste Simulation durchlaufen«, befahl Gray. Die leuchtenden Texte auf den Konsolen änderten sich gleichzeitig, und alle widmeten sich wieder ihrer Arbeit. In dem voll besetzten Raum war nichts zu hören außer den Geräuschen eines Countdowns und ein paar formellen Meldungen. Gray kam auf Laura zu. Sie war darauf gefasst, dass er voll und ganz von seiner Arbeit in Anspruch genommen war, aber er näherte sich mit einem unbeschwerten Lächeln. »Hallo, Laura.« »Was läuft hier ab?«, fragte sie. Er überblickte den Raum von ihrem Standpunkt aus. »Das ist nur eine Vorsichtsmaßnahme. Falls der Computer heute Abend irgendwelche An zeichen unberechenbaren Verhaltens aufweist, werde ich ihn umgehen und unser altes Kontrollsystem aktivieren.« »Meinen Sie damit, dass Sie den Start manuell kontrollieren könnten?« »Nun, ›manuell‹ ist nicht ganz der richtige Ausdruck. Er wird von digita len Computern kontrolliert, aber die Oberaufsicht würde nicht der Haupt computer haben, sondern diese Leute hier. Leider haben sie ihre Positio nen außer für ein gelegentliches Training nicht mehr eingenommen, seit der Computer vor einem Jahr die gesamte Steuerung übernommen hat. Aber sie werden ihre Sache schon richtig machen.« »Ich habe einen Notfall!«, rief einer der Männer, und Gray brach seine Unterhaltung mit Laura ab, um die Arbeit zu überwachen. Diesmal schaff ten sie es, die Rakete zu retten und die Mission fortzusetzen. Als sich Gray ihr wieder zuwandte, sagte er: »Ich nehme an, Sie sind hier, um über das zu sprechen, was Sie heute Nachmittag auf dem Aussichtsplatz gesehen haben?« 300
»Ja, das hatte ich eigentlich vor. Hat der Computer Ihnen davon er zählt?« »Von dem ›Ausreißer‹?« Laura nickte. »Ich finde, Ihre Interpretation ist ein bisschen zu melodramatisch.« »Ich weiß, was ich gesehen habe. Außerdem traut der Computer diesen neuen Modellen nicht.« »Ja, also… das ist eine andere Geschichte.« »Mr Gray…«, setzte sie an, doch dann sagte sie rasch: »Joseph, ich glaube, der Computer kontrolliert die Dreier-Modelle nicht mehr.« Seine zusammengekniffenen, müden Augen zeigten plötzlich deutliches Interes se. »Ich glaube, sie werden von dem Anderen kontrolliert, was immer das sein mag. Demselben Anderen, von dem der Computer sagt, er wäre die Ursache all seiner Probleme.« Gray hörte zu, sagte aber nichts. »Und ich glaube, das alles wissen Sie bereits. Sie haben es schon heute morgen gewusst, als Sie die Dreier-Modelle wieder in Dienst stellten.« Er hatte eindeutig nicht die Absicht, darauf zu reagieren. »Dieser… Andere kämpft mit dem Computer um die Kontrolle, ist es nicht so?« Die Sphinx neigte lediglich den Kopf ein wenig zur Seite, ohne den Blick von Laura abzuwenden. »Hören Sie, Joseph, wenn der Computer anfängt, die Kontrolle über die Roboter zu verlieren, dann könnte das sehr… gefährlich werden.« »Das ganze Leben ist gefährlich«, erwiderte Gray, dann schwieg er wie der. »Joseph, diese Roboter sahen riesig aus! Sie könnten jemanden zermal men.« »Sie sind riesig. Sie sind drei Meter hoch und wiegen an die fünfhundert Kilo, und zwar ohne zusätzliche Ausrüstung. Aber, wie ich bereits sagte, ich mache mir keine Sorgen wegen irgendwelcher Fehlfunktionen der Achter-Modelle. Es gibt keinerlei Beweise, dass Probleme aufgetreten wären.« »Aber…«, sie seufzte gereizt, »betrachten Sie doch nur all die Vor sichtsmaßnahmen, die Sie für diesen Start ergreifen! Sie haben sogar die Montagehalle evakuieren lassen. Ihr Computer dreht durch! Wie kommen Sie auf die Idee, seine Kontrolle über die Achter-Modelle könnte gegen 301
Fehlsteuerungen immun sein?« »Weil der Computer die Achter-Modelle nicht kontrolliert.« Laura neigte den Kopf, weil sie nicht sicher war, ob sie richtig verstan den hatte. »Also stehen auch sie unter der Kontrolle des »Anderen«?« »Nein. Niemand kontrolliert sie. Sie sind autonom.« Laura starrte ihn ungläubig an. »Das kann doch nicht Ihr Ernst sein«, sagte sie leise. »Sie sind doch bestimmt nicht völlig unabhängig.« Er schürzte die Lippen und nickte. »Sie meinen, sie treffen all ihre Entschei dungen selbst?« Gray nickte abermals. »Joseph, sie sind drei Meter hoch und wiegen fünfhundert Kilo. Haben Sie denn gar keine Kontrolle über sie?« Gray hob die Schultern. »Ich sage ihnen, was sie tun sollen, und sie tun es. Aber ich habe daran gedacht, dass ich eines Tages vielleicht noch einen anderen Job für Sie haben könnte, Laura. Ich hatte daran gedacht, einen Soziologen oder einen Anthropologen einzustellen, aber das ist im Grunde eine die Disziplinen übergreifende Aufgabe. Die Achter-Modelle sind nämlich dabei, eine soziale Ordnung zu entwickeln. Viele ihrer Gesetze haben eine unverkennbare Ähnlichkeit mit unseren, aber andere sind auf ihre Welt beschränkt. So ist es zum Beispiel ungeheuer wichtig, dass ihre Batterien nicht leer werden. Wenn das geschieht, sind ihre neuronalen Netze unrettbar verloren. Wir haben sie natürlich so programmiert, dass das nicht passieren kann. Aber wir mussten sie auch immer wieder re programmieren, um die Grenzen dessen zu definieren, wie weit sie gehen sollten. Einige von ihnen brachen durch Türen und Wände oder irgend welche anderen Dinge, die sie von ihren Ladestationen trennten, obwohl sie noch für Stunden Energie hatten. Mit ihrem Energievorrat gehen sie keinerlei Risiko ein, und die anderen Achter-Modelle scheinen das als völlig normales Verhalten zu empfinden.« »Haben sie schon jemals jemanden verletzt?«, fragte Laura. Gray schien schockiert zu sein. »Natürlich nicht! Sie sind darauf pro grammiert, Menschen nichts anzutun.« »Aber Sie haben gesagt, sie programmierten sich selbst. Und dass Sie sie deshalb ständig reprogrammieren müssen.« Laura schüttelte den Kopf und senkte die Stimme zu einem Flüstern. »Ist Ihnen die Gefährlichkeit dieser 302
Dinge bewusst, die Sie da auf die Welt loslassen? Auf eine unvorbereitete und außerdem völlig ahnungslose Welt?« Gray drehte sich abrupt um und schaute ihr ins Gesicht. »Ich weiß sehr wohl, was auf die Welt losgelassen wird. Und Sie haben Recht. Sie ist ahnungslos.« Laura hörte aus seiner Stimme eine Bedeutungsschwere heraus, die vorher nicht dagewesen war. Das veranlasste sie, nach einem tieferen Sinn zu suchen. »Wir hatten einmal einen Achter, dessen Batterie leer wurde. Es war… eine traurige Sache. Er war mit einem Fuß in Felsen hängen geblieben, was auch seine Hilferufe über Ultrakurz- und Mikro welle blockierte. Nach diesem Zwischenfall holten wir sie in ihre Kinder stube zurück, wo sie sicherer waren. Als jedoch die ersten Prototypen vor ungefähr sechs Monaten voll funktionsfähig waren, durften sie sich im ganzen Leeren Viertel frei bewegen.« Er runzelte die Stirn und kaute, tief in Gedanken versunken, auf der In nenseite seiner Wange herum. »Was ist mit dem passiert, der… gestorben ist?«, fragte Laura. »Wir haben ihn in ihren Bau zurückgebracht. In dieser ersten Serie – der Version 1.0 – hatten wir sechs Achter-Modelle. Alle hatten die gleiche Software wie der, den wir verloren hatten. Die 1.0 war eine sehr gute Klasse, und sie hingen alle sehr aneinander. Keiner der anderen wollte den Raum verlassen, in den wir ihn gelegt hatten. Sie standen einfach alle um ihn herum. Es war ein überaus seltsamer Moment, um es gelinde auszu drücken. Sie wurden sehr aufgeregt, als wir begannen, die Simulatoren neu zu verkabeln. Wir hatten vor, sein Mini-Netz mit einem fortentwickelten Simulations-Paket neu zu programmieren und hatten den entladenen Ro boter schon als Ersten der neuen 1.2 Serie – 1.2.01.R – vorgesehen. Aber seine Klassenkameraden benahmen sich immer unruhiger, und ich muss gestehen, dass ich ein bisschen nervös wurde. Nicht, dass sie gefährlich gewesen wären, natürlich nicht. Es war mehr so, als täte ich etwas… Un gehöriges. Als wäre ich ein Fremder, der gegen die sozialen Gepflogenhei ten einer völlig fremden Kultur verstößt.« »Der den Toten entweiht«, sagte Laura. Gray sah sie an und nickte. »Und was haben Sie dann getan?« »Ich ließ ihn ein paar Tage in Ruhe. Die anderen kamen von Zeit zu Zeit 303
vorbei – um sich zu vergewissern, dass sein Stromkabel eingestöpselt war –, aber nach einer Weile hörten sie damit auf. Eines Tages haben wir ihn einfach stillschweigend reprogrammiert.« »Haben die Roboter geglaubt, dass er vielleicht aus seinem ›Koma‹ – oder wofür immer sie das hielten – aufwachen würde?« Gray zuckte die Schultern. »Ich habe soviel zu tun, dass ich nicht all das über die Achter-Modelle weiß, was ich gern über sie wissen würde. Aber sie sind etwas Besonderes. Ich glaube, wir haben einen Durchbruch er zielt.« Er erklärte nicht, was er meinte, aber Laura glaubte zu verstehen. Seine neuen Achter-Modelle waren lebendig, konnten denken, hatten ein Bewusstsein. »Weshalb haben Sie dann veranlasst, dass die Achter-Modelle im Leeren Viertel der Insel bleiben?« »Sie sind Prototypen. Im Experimentierstadium. Man kann sie nicht vom Fließband weg als Schülerlotsen einsetzen.« »Aber weshalb sind ihre Anlagen tief im Berg vergraben?« »Die Technologie gehört mir. Ich muss mein Eigentum schützen.« »Haben Sie schon einmal etwas von Patenten gehört?« »Patente basieren auf Vertrauen. Ich habe keinerlei Vertrauen, dass Re gierungen meine Interessen schützen würden, und ich habe Milliarden in diese Technologien investiert.« Grays Aufmerksamkeit wurde wieder von der Start-Simulation im Kontrollraum abgelenkt. »Hören Sie, ich möchte Sie nicht drängen, aber wollten Sie sonst noch etwas wissen?« »Also – wo soll ich anfangen? Ich möchte, dass Sie mir diesen bizarren Ausflug erklären, den ich gestern in der virtuellen Realität unternommen habe. Ich möchte wissen, weshalb der Start dieser Rakete heute Abend so wichtig ist, dass Sie alles andere liegen lassen, um sicherzustellen, dass sie abhebt. Ich möchte wissen, warum Sie ein Heer von drei Meter hohen Robotern bauen, die auf jeden Ihrer Befehle reagieren. Und«, setzte sie nach kurzem Nachdenken hinzu, »ich möchte wissen, was Dr. William Krantz hier tut.« Gray zog die Brauen hoch, als sie Krantz’ Name erwähnte, dann nickte er langsam. »Das hatte ich ganz vergessen. Dr. Krantz kommt ja auch von Harvard. Sagen Sie einem Wagen, er soll Sie zum Labor für Hochenergie 304
Physik bringen. Ich sorge dafür, dass man Sie hineinlässt. Ich bin sicher, dass Krantz jetzt dort ist. Er ist immer dort.« »Ich möchte nicht mit Krantz reden. Ich möchte, dass Sie mir sagen, was hier vorgeht.« »Ich habe einen Notfall!«, rief jemand. »Gehen Sie und reden Sie mit Krantz. Der Start ist für acht Uhr vorgese hen. Wir unterhalten uns hinterher beim Essen.« Und damit war Gray verschwunden. Lauras Wagen glitt langsam in einen in die Bergflanke getriebenen Tun nel. Das schwarze Gestein schien das weiße Licht zu absorbieren, das von Lampen an der gewölbten Decke geworfen wurde. Die Straße führte zu einer schweren Stahltür, die sich öffnete und den Blick auf eine zweite, gleichartige Tür freigab. Der Wagen hielt zwischen den zwei Türen an. Ein leises Rumpeln ging einem lauten Klicken voraus, als sich die Tür hinter Laura wieder schloss. Ihr Magen verkrampfte sich. Sie befand sich im Innern des Berges. Und die Achter-Modelle waren auch hier. In dem Augenblick, in dem sich die erste Tür schloss, öffnete sich ihr Gegenstück direkt vor ihr. Der Wagen schob sich langsam auf eine gut beleuchtete Kreuzung zu und wurde schneller, nachdem er die schwere Stahltür passiert hatte. Dann bog er in einen nach rechts abzweigenden Tunnel ein. Der Wagen – und der Andere – kannten den Weg. Die Fahrt war kurz. Der Wagen glitt in eine riesige, hohe Höhle tief im Berginnern. Er fuhr an ganzen Reihen fensterloser, auf dem Betonboden stehender Bauten vorbei. Die schwarzen Wände ließen die brutale Gewalt erkennen, mit der diese Höhle aus dem Fels herausgemeißelt worden war. Lauras Wagen hielt vor einem vorfabrizierten Metallbau an, der sich in nichts von einem Dutzend anderer unterschied, die sie eben passiert hatte. Die Tür neben ihr schwang mit einem Zischen hoch. Sie stieg aus. In dem großen, offenen Raum war keinerlei Echo zu hören. Die Stille war so vollkommen, dass sie fast das beängstigende Gewicht des Gesteins rund um sich herum fühlen konnte. Sie eilte auf die Tür des nichtssagenden grauen Baus zu und betrachtete dabei die glänzenden Roh 305
ren, die aus dessen Dach herausragten wie die Orgelpfeifen einer großen Kathedrale. Sie waren fest in grobe Einschnitte der Felswand verankert. Laura hatte keine Vorstellung, welchem Zweck sie dienen könnten. Sie öffnete die Tür und war erleichtert, als sie drinnen mehrere Leute vorfand. Alle schauten überrascht auf und musterten sie. Laura nannte ihren Namen und sagte, sie wolle zu Dr. Krantz. Eine Frau in einem weißen Kittel verschwand im Innern des Gebäudes. Laura blieb neben der Eingangstür stehen, trat von einem Fuß auf den anderen und sah sich um. Es gab keinen Empfangsschalter, keinen Warte bereich, keinen Stuhl, auf den sie sich hätte setzen können. Nur drei be brillte Typen, die sie von ihren Schreibtischen aus verstohlen musterten. »Bitte, kommen Sie mit, Dr. Aldridge«, sagte die Frau vom Hur aus. Laura folgte ihr durch ein Labyrinth von engen Korridoren. Sie passier ten geschlossene Türen, die in unregelmäßigen Abständen in die Wände eingelassen waren. »Gibt es hier keine automatischen Türen?«, fragte Laura. Die Frau schüttelte den Kopf, ohne sich umzudrehen. Womit auch Lauras Gesprächsversuch endete. Dann passierten sie eine Tür, die sich erheblich von den anderen unter schied. Sie bestand aus schwerem Metall, war rund und an ihrem vorste henden Rahmen hermetisch abgedichtet wie eine Luke auf einem Schiff. Das schwarz-gelbe Strahlungssymbol unmittelbar unter einem kleinen Bullauge war nicht zu übersehen. Laura folgte ihrer stummen Führerin um eine Ecke herum. Die Frau öff nete eine Tür, ließ Laura eintreten und verschwand wieder. Krantz saß allein im unteren Teil eines Raums, der Laura an das Amphitheater eines Chirurgiehörsaals erinnerte. Die gegenüberliegende Wand bestand fast ausschließlich aus Glas. Hinter den Fenstern lag ein schwach beleuchteter, mehrere Stockwerke hoher Raum. Zwischen der Tür und Krantz befanden sich Reihen von Konsolen, deren Instrumente dunkel und deren Drehsessel leer waren. Der Physiker hatte sich über einen Notizblock gebeugt und nahm Lauras Anwesenheit nicht zur Kenntnis. Ein paar Haarsträhnen – jede mindestens fünfundzwanzig Zentimeter lang – bedeckten seinen an sonsten kahlen und bleichen Skalp. Wie Lauras Führerin trug auch er einen weißen Kittel; ein Fuß ruhte auf einem Stuhl. 306
»Einen Moment«, sagte er, ohne aufzuschauen. Sein Bleistift fuhr über den kleinen Block, den er dicht vor seine Brille hielt. Er war in der abs trakten Welt seines Aufgabengebiets versunken und bemerkte nichts von dem, was um ihn herum vorging. Laura nutzte die Gelegenheit, sich umzusehen. Der Raum selbst ließ nichts von seinem Zweck erkennen. An mehreren Stellen der Kontrollkon sole unterhalb der Fensterwand ragten die handschuhähnlichen Instrumen te heraus, mit denen Roboterarme dirigiert wurden, alle in alter Bauweise und nicht von der neuen virtuellen Art. Im Halbdunkel des Raums hinter dem dicken Glas hing ein Roboterarm in der Luft. Laura stieg die breiten Stufen zur Fensterwand hinunter. Auf dem Boden des Raums unter ihr sah Laura einen Haufen schwarzer, in einem blauen Becken hängender Stäbe. Die klare Flüssigkeit war unbe wegt und vollständig durchsichtig. Helle Unterwasserlampen bildeten die einzige Beleuchtung. »So!«, sagte Krantz und machte mit Schwung seine letzte Notiz. Er schaute auf und strahlte Laura an. Mit einer Anstrengung, die entweder vom Alter oder von verkrampften Muskeln herrühren mochte, erhob er sich langsam und stöhnend. »Wie geht es Ihnen, Dr. Aldridge?«, fragte er, und Laura schüttelte ihm die Hand. »Sie treffen mich hier, weil ich ein bisschen Ruhe zum Arbeiten haben wollte.« Eine Strähne von Krantz’ fettigem Haar hing bis auf seine Schulter her ab. Die Augen hinter den dicken Brillengläsern hatten die Größe von Zit ronen. »Wir sind uns nur einmal begegnet«, sagte Laura. »Ich bin über rascht, dass Sie sich an mich erinnern.« Sein Lächeln ließ einen Mund voller krummer Zähne sehen. Krantz reckte den kleinen Finger hoch, dessen letztes Glied leicht verkrümmt war. »Wie könnte ich Sie vergessen? Mein Zusammenstoß mit Ihnen beendete meine großartige Football-Karriere.« Er zuckte die Schultern und betrach tete den verkrüppelten Finger. »Also, was kann ich für meine geschätzte Kollegin und frühere Mitsportlerin tun?« »Das weiß ich im Grunde selbst nicht. Mr Gray hat vorgeschlagen, dass ich hierher komme und mir ansehe, was Sie tun.« »Oh! Also, im Augenblick arbeite ich an Erträgen.« Krantz hob seinen 307
Notizblock und trommelte mit dem Radiergummi seines Bleistifts darauf wie ein Dirigent, der die Aufmerksamkeit seines Orchesters fordert. »Der größte Teil der neueren Forschung, zumindest der angewandten, gilt der Vergrößerung oder Verringerung von atomaren Auswirkungen. Es ist Jahre her, seit sich jemand ernsthaft mit dem fundamentalen Aspekt dieser Aus wirkungen beschäftigt hat.« »Tut mir Leid, Professor Krantz, aber ich habe keine Ahnung, wovon Sie reden.« Er wirkte einen Moment verblüfft. »Oh!«, stieß er hervor, dann wandte er sich der Instrumenten-Konsole unter der dunklen Fensterwand zu und betätigte einen Schalter. Strahlend helles Licht durchflutete den Raum darunter. »Das ist die jüngste Partie«, sagte er. Sie schaute in den Raum unterhalb des Fensters. Auf der Plattform neben dem Becken stand ein Dutzend Metallbehälter. Laura hatte diese Behälter schon einmal gesehen – in der dunklen Welt, die sie in der virtuellen Rea lität besucht hatte. »Was ist das?«, fragte Laura. Sie schaute in Krantz’ Augen, sah aber nur das Licht, das sich in seinen Brillengläsern spiegelte. Auf seinem Gesicht lag die Andeutung eines Lächelns. »Das sind nukle are Geräte mit sehr geringen atomaren Ausfällungen.« Laura Augen schossen zurück zu den Behältern. »Was?«, schrie sie. Krantz war erschrocken und sah sie an, als hätte sie gerade etwas entsetz lich Falsches geäußert. »Was haben Sie da eben gesagt?« »Ach herrje«, murmelte er im Tone tiefster Besorgnis und drückte seinen Block an die Brust, um seine Notizen zu verbergen. »Sie sagen, Mr Gray hat Sie geschickt?«, fragte er. »Dr. Krantz, soll das heißen, dass Sie in diesem Labor hier Atomwaffen bauen?« »Großer Gott, nein. Das sind Geräte, keine Waffen.« »Sie sind gefährlich, oder etwa nicht?« »Also, ja, aber sie sind nicht lieferbar. Sie können in keinem taktischen oder strategischen System verwendet werden.« »Gray hat Raketen, die in den Weltraum gelangen können«, fuhr Laura ihn an. »Was glauben Sie, wieviel Mühe es kosten würde, um eines dieser 308
Dinger da auf eine Rakete zu montieren? Oder zwei oder zehn oder zwan zig?« »Aber sie sind doch so klein! Diese Geräte da unten haben nur null Komma zwei Kilotonnen. Das hat schwerlich irgendeinen militärischen Wert!« »Aber das werden Sie schon lösen, nicht wahr, Dr. Krantz? Mit Ihrer Forschungsarbeit und Grays Geld werden Sie schon bald MultiMegatonnen-Waffen bauen können, genau wie die großen Jungs.« Laura machte kehrt und eilte zur Tür. »Wie konnte ich nur so dumm sein!« »Warten Sie! Sie verstehen das alles falsch! Mr Gray will, dass ich die atomare Gefährlichkeit senke, nicht vergrößere!« Als Laura sich umdrehte, hielt Krantz seinen Block hoch, als wären sei ne Notizen der endgültige Beweis. »Aber…« Ihre Gedanken überschlugen sich – »wozu in aller Welt braucht Mr Gray diese Dinge?« »Für industrielle Zwecke«, sagte Krantz, offensichtlich eine befriedigen de Erklärung suchend. »Bergbau – Dinge dieser Art.« Laura fühlte sich vom Gewicht ihrer Desillusionierung zermalmt. Sie wusste jetzt, was sie tun musste. Gray hatte für sie die Entscheidung getroffen. »Wenn Sie mir die Frage nicht verübeln, Dr. Aldridge – und wofür hat man Sie hierher geholt?« »Psychoanalyse«, murmelte sie mit gesenktem Kopf. »Wessen Psychoanalyse?« Seine Frage veranlasste Laura zum Nachdenken. Langsam schaute sie zu Dr. Krantz auf. »Um die Wahrheit zu sagen – das weiß ich selbst nicht genau.« Laura ließ den Wagen gleich vor dem zu Krantz’ Labor führenden Tunnel anhalten. Sie stieg in die Dunkelheit aus. Die leere Straße war oberhalb eines öden Strandabschnitts in die Bergflanke gesprengt worden. Langsam kletterte sie den Berg in Richtung des dunklen Ozeans hinunter und setzte sich oberhalb des Strandes auf das blankgewaschene Vulkangestein. Zu anderen Zeiten hätten sich der stete Rhythmus der Meereswellen und die vom Wasser hereinwehende duftende Brise Lauras Vorstellung vom 309
Paradies angenähert. Stattdessen war sie von einer niederschmetternden Traurigkeit erfüllt, und die Umgebung bedeutete ihr nichts. Sie stocherte in dem dumpfen Schmerz herum, den sie empfand, und versuchte selbst quälerisch seinen Wesenskern und seine Ursache zu ergründen. Das Ge fühl schien aufs engste mit Lauras falschem Idol verknüpft zu sein – dem traurigen Kind, das zu Joseph Gray herangewachsen war. Laura begriff, dass hier nicht nur ein Fall von enttäuschten Erwartungen vorlag. Gray bedeutete ihr in jeder Hinsicht mehr, als irgendjemand ihr bisher bedeutet hatte. Mit dem alten Gray aus ihrer Phantasiewelt ver knüpfte sich die Verheißung all der großen Dinge, die noch kommen wür den. Sie empfand den Verlust dieses Gray fast mit Kummer, und so lehnte sie sich gedankenverloren an dem rauen Gestein zurück und schaute zu den Sternen empor. Die Zeit glitt dahin, gemessen nur vom Geräusch der Wellen. Laura wusste, dass sie Gray finden, ihn finden und ihm sagen musste, dass sie abreisen würde. Aber sie konnte sich nicht dazu überwinden, diesen Ort zu verlassen. Ein blendend weißes Licht erhellte den Strand. Einen Augenblick lang ängstigte sie die kreidebleiche Beleuchtung, aber dann brach das Dröhnen des Raketenstarts in Kaskaden über sie herein, und sie drehte den Kopf, um zu sehen, wie der phantastische Flammenschweif zum Himmel auf stieg. Obwohl der Ort, an dem sie sich befand, weit abseits lag, dröhnte der Lärmpegel der Triebwerke betäubend in Lauras Ohren. Der Feuer schweif beschrieb einen sanften Bogen auf den Äquatorial-Horizont zu und verschwand langsam am dunklen Himmel. Dann war wieder alles ruhig. Laura wischte ihre Jeans ab und kehrte zu ihrem Wagen zurück. Jetzt war es an der Zeit, das Richtige zu tun. »Er ist nicht mehr hier«, sagte die Frau lächelnd mit leicht belegter Stim me. Sie hatte ein Champagnerglas in der Hand, aus dem sie einen großen Schluck trank. Alle im Startzentrum feierten. »Das scheint zu bedeuten, dass der Start erfolgreich war«, sagte Laura düster. 310
»Ein Bilderbuch-Start«, erwiderte die Frau strahlend. »Wenn Sie Mr Gray suchen – ich bin sicher, dass der Computer ihn finden kann.« Laura kehrte zu ihrem Wagen zurück. Gray hatte gesagt, sie würden sich beim Essen unterhalten. Bei dieser Gelegenheit wollte sie kündigen. In dem bewegungslosen Dreier-Modell sitzend, formulierte sie die Worte in ihrem Kopf. Sie würden in Mr Grays prächtigem Esszimmer sitzen – nur sie beide. »Mr Gray«, würde sie sagen, »ich habe erhebliche ethische Probleme mit dem, was Sie hier tun, und deshalb…« Oder etwas dergleichen. »Computer, bitte bring mich zu Mr Gray.« Der Elektrowagen erwachte zum Leben, sein Tempo stieg mit dem an schwellenden Summen des Motors. Er beförderte Laura an der Montage halle und am Computer-Zentrum vorbei und die sanfte Anhöhe zum Dorf hinauf. Aber er fuhr nicht in die Richtung von Grays Haus, sondern bog in die Küstenstraße ein, die oberhalb des Flughafens auf den Berg hinauf führte. Endlich schoss der Wagen aus dem Tunnel im Leeren Viertel her aus – er fuhr dieselbe Route wie bereits zuvor am Tage. Der Roboterwagen wurde langsamer, als er eine Anhöhe bewältigte, und hielt hinter einem weiteren Dreier-Modell, das mitten auf der Straße stand. Die Tür schwang mit ihrem vertrauten Zischen auf und ließ einen Schwall kühler Bergluft herein. Laura sah sich um, konnte aber niemanden entde cken. Als sie ausstieg, fuhr der vor ihrem Gefährt stehende Wagen davon. Laura beobachtete nervös ihren eigenen Wagen, aber er blieb reglos an der Stelle stehen, an der er angehalten hatte. Plötzlich fiel von oben ein helles Licht auf die Straße. »Ich bin hier o ben!«, rief Gray. Das Licht traf kurz ihre Augen, dann senkte es sich und erhellte den steilen Hang. Laura erkannte den Ort sofort wieder. Sie hatte sich nur ein paar Stunden zuvor hier aufgehalten. Der Weg den Hang hinauf wäre leicht gewesen, wenn sie nicht die Last ihres Vorhabens getragen hätte. Oben angekommen, trat Laura in eine Pfütze aus Licht, die die Nische erhellte. Eine große elektrische Laterne ergoss ihr Licht auf eine dicke Steppdecke, die Gray über den Gesteinsims gebreitet hatte. Grays Gesicht befand sich außerhalb des engen Lichtkrei ses und war deshalb nur schwach erkennbar. 311
»Setzen Sie sich«, forderte er sie aus dem Halbdunkel heraus auf. Laura ließ sich auf der weichen Decke nieder. Der Wind drang durch ih ren leichten Pullover und ihr T-Shirt, und sie zog die Knie an und schob der Wärme wegen die Arme zwischen die Beine. »Hier«, sagte Gray, entfaltete eine weitere Decke und legte sie ihr um die Schultern. Laura holte tief Luft. »Mr Gray, ich habe Ihnen etwas zu sagen.« Der Text war vorbereitet, trotzdem fiel es ihr sehr schwer, die Worte auszu sprechen. »Ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn… wenn wir damit noch ein paar Minuten warten könnten«, entgegnete er mit trauriger und leblo ser Stimme. Es schien als wüsste er, was sie sagen wollte. Laura folgte seiner Bitte und schob damit das formelle Ende ihrer Träu me ein paar Minuten hinaus. »Ich weiß, dass Sie Fragen haben«, sagte Gray in der Dunkelheit neben ihr. »Ich nehme an, Sie waren bei Dr. Krantz?« »Ja, ich war bei ihm.« Sie drehte suchend den Kopf, leicht verärgert, weil sie ihm nicht ins Gesicht sehen konnte. »Sie haben gesagt, Sie woll ten nur Strom mit diesem Reaktor erzeugen.« »Das stimmt auch«, erwiderte Gray. »Ich habe das spaltbare Material in Russland auf dem schwarzen Markt gekauft.« »Oh! Ich habe mich also getäuscht. Einen Moment lang glaubte ich, Sie verfolgten… unlautere Absichten.« Laura stieß einen tiefen Seufzer aus. Sein Erklärungsversuch hatte es ihr etwas leichter gemacht, ihr Vorhaben auszuführen. »Mr Gray…« »Ich dachte, wir hätten uns darauf geeinigt, dass Sie mich Joseph nen nen.« »Im Augenblick ziehe ich Mr Gray vor, wenn es Ihnen nichts aus macht.« Er sagte nichts und hielt den Kopf gesenkt, während er wartete. »Hören Sie, was Sie hier tun, ist nicht richtig!« »Und warum nicht?«, fragte er leise, als hätte er keine Ahnung, wie die Antwort lautete. »Sie bauen Atomwaffen, verdammt nochmal!« Er schaute zum Himmel empor. Aber sie konnte seinen Gesichtsaus druck nicht erkennen. »Das sind keine Waffen, Laura.« »Ach ja? Es sind Geräte, das hatte ich vergessen.« Laura seufzte aber 312
mals frustriert. »Fühlen Sie sich vom Establishment oder sonstwem be droht? Welcher Teufel hat Sie geritten, Atomwaffen zu bauen?« »Das hört sich nicht an, als wären Sie schon bereit, die Antwort auf diese Frage zu verstehen«, erwiderte er. Die lahme Entschuldigung hallte in ihren Ohren. Aber das spielte jetzt keine Rolle mehr. »Ich kündige«, sagte sie einfach. »Unter diesen Umständen kann ich nicht arbeiten. Ich muss abreisen.« »Aber ich brauche Sie«, sagte er mit leiser und eindringlicher Stimme. Laura schüttelte den Kopf und biss die Zähne zusammen, entschlossen, sich nicht zum Bleiben überreden zu lassen. »Das reicht nicht«, sagte sie, abermals den Kopf schüttelnd. »Und eine oder zwei oder zehn Millionen Dollar reichen auch nicht.« »Weshalb? Was soll ich denn tun, damit Sie bleiben und Ihre Arbeit hier beenden?« »Das habe ich Ihnen bereits gesagt! Ich muss Bescheid wissen! Ich muss wissen, was Sie tun, sonst mache ich nicht mehr mit.« »Weshalb müssen Sie Bescheid wissen?« Sie seufzte, erbittert über diese dumme Frage. »Deshalb! Weil ich, wenn das, was Sie vorhaben, unrecht ist, nichts damit zu schaffen haben will! Und lassen Sie mich eines rundheraus sagen, Mr Gray. Was ich weiß, sieht nicht sonderlich gut aus.« »Und ich muss Ihnen alles sagen, andernfalls reisen Sie ab?« »Ja!« »Dann tut es mir Leid. Ich…« Er zögerte, dann räusperte er sich rasch. »Sie haben große Fortschritte gemacht. Ich war überzeugt, dass Sie am Rande eines Durchbruchs stehen.« Zum ersten Mal seit ihrer Ankunft war sich Laura einer Sache sicher. Ihm lag ungeheuer viel daran, dass sie blieb. Ein Lächeln zog über ihr Gesicht, und sie musste es unterdrücken, damit es sich nicht in ihrer Stimme bemerkbar machte. »Okay, wenn Sie mir schon nicht alles sagen wollen, dann müssen Sie mir zumindest eine ganze Menge mehr sagen. Genug, damit ich mich entscheiden kann, ob ich meine Arbeit hier fortset ze oder nicht.« 313
»Und wenn ich das tue, dann bleiben Sie?« »Nun, das hängt von dem ab, was Sie mir sagen.« »Also gut«, erwiderte Gray, ganz offensichtlich erfreut. Laura musste abermals gegen ein Lächeln ankämpfen. »Schließen wir einen Handel ab«, sagte er und stand auf. Sein Profil zeichnete sich vor dem dunklen Nacht himmel ab. »Ich gewähre Ihnen unbeschränkten Zugang zu allen Einrich tungen. Was Sie selbst herausfinden – welche Schlüsse Sie daraus ziehen – ist Ihre Sache. Das bedeutet, dass ich Ihnen nur das sage, von dem ich annehme, dass Sie dafür bereit sind – und zwar erst dann, wenn ich der Ansicht bin, dass Sie es wissen müssen. Einverstanden?« »Nein. Ich will mindestens so viel wissen, wie Sie Ihren Abteilungslei tern gesagt haben. Mindestens so viel.« Sie wartete. Es war ein Test. »Erscheint mir fair«, erwiderte Gray. In der Dunkelheit feierte Laura mit einem Grinsen stumm ihren Erfolg. »Fangen wir gleich an«, sagte er und griff nach der Laterne. »Dr. Ald ridge, ich möchte Sie mit Nummer 1.2.01 .R bekannt machen – gewöhn lich Hightop genannt.« Der Lichtstrahl schwang herum ans andere Ende des Simses. Dort saß ein riesiger Achter-Modell-Roboter. Laura stockte der Atem; in Panik krallte sie ihre Hände in den Boden. Eine Bewegung, ein Zucken dieser mächtigen Maschine, und sie wäre den Hang hinuntergestürmt zu ihrem Wagen. Aber das metallene Ungetüm saß – überraschend menschlich wirkend – ganz gelassen da. Laura blieb sprungbereit auf ihrer Decke sitzen. Gray stellte die Laterne auf den Boden und öffnete einen Laptop neben dem Roboter. Der Bildschirm erhellte sich, und Gray tippte drauf los. Laura ließ das ruhende Achter-Modell nicht aus den Augen. Es war mit einem graublauen Material überzogen, das nicht das geringste Licht der hellen Laterne reflektierte. Sein »Gesicht« machte einen seltsam mensch lichen Eindruck, obwohl es Linsen anstelle von Augen hatte und perforier te Membranen, wo eigentlich Mund und Nase hätten sein sollen. Seine sämtlichen Gelenke waren die eines Menschen – Ellbogen, Knie, Handge lenke, Knöchel und so weiter. Die massigen Gliedmaßen steckten in einem elastischen, enganliegenden und glänzenden schwarzen Stoff, unter dem sich schwache Erhebungen aus hartem Metall abzeichneten; offensichtlich 314
die Muskeln des Roboters. Aus einer Öffnung in der Brust ragte ein schwarzes Kabel heraus, das über einen Anschluss mit der Rückseite von Grays Laptop verbunden war. »Hightop lässt Sie grüßen«, sagte Gray, von dem hellen Bildschirm auf schauend, »und er bittet mich, das Licht auf Sie zu richten. Haben Sie etwas dagegen?« Laura zuckte die Schultern und schüttelte den Kopf. Gray richtete die Laterne einen Moment auf ihr Gesicht und dann wieder auf den ruhenden Roboter. »Hightop findet Sie hübsch«, sagte Gray. »Wie bitte?«, fragte Laura. »Lassen Sie mich das sehen.« Gray hielt ihr den Laptop hin. Sie Ist hübsch, las Laura auf dem Bild schirm. Sie betrachtete die große Maschine eingehender. »Sind Sie sicher, dass er nicht gefährlich ist?« »Wer? Hightop? Er ist unser Star! Er ist außerdem der Roboter, dessen Batterie leer wurde. Und das Interessante ist, dass er, als wir ihn re programmierten, erheblich schneller lernte als vorher. Offenbar ist eine Reihe der Verbindungen, die er in seiner ersten Inkarnation hergestellt hatte, intakt geblieben, weil er bei Tauglichkeitstests gute zwanzig Prozent besser abschneidet als die anderen seiner Klasse. Sogar besser als die seiner ursprünglichen Klasse.« Hightop saß regungslos da, mit leicht den beiden Menschen zugewand tem Kopf. Laura empfand es als beunruhigend, dass der Roboter ihr kei nerlei Hinweise lieferte. Keine Körpersprache. Kein Gesichtsausdruck. Nichts in seinen Augen. »Okay«, sagte sie. »Und was ist mit dem Rest unseres Handels? Was ist mit den atomaren Geräten? Dem so überaus wichtigen Raketenstart heute Abend? Der Frist, wann immer sie abläuft?« »In zwei Tagen«, sagte Gray. »Und sind Sie ganz sicher, dass Sie auf diese Fragen Antworten haben möchten?« Laura nickte, war sich aber innerlich keineswegs sicher. Er erhob sich und streckte Laura eine Hand entgegen. Sie brauchte keine Hilfe, ergriff seine Hand aber trotzdem. »Wo wollen wir hin?«, fragte sie. »Ihre Fragen beantworten«, sagte Gray, bereit, sich an den Abstieg zu machen. 315
»Was ist mit diesem ganzen Zeug hier?«, rief Laura, die um sie herum verstreut liegenden Dinge betrachtend. Offenbar sollte das kleine Picknick ausfallen, das Gray geplant hatte. »Das wird Hightop aufräumen.« »Weshalb nennen Sie ihn Hightop?« Gray trat zurück, mit einem in dem schwachen Licht kaum erkennbaren Lächeln. »Wir bringen die Roboter in Taktilräume, um sie Alltagsgegens tände fühlen zu lassen und sie mit ihnen vertraut zu machen. Sinn der Sache ist, dass sie dann nicht herumtappen und Dinge zermalmen, wenn wir sie mit der realen Welt konfrontieren. Nun, und dort hat sich Hightop in ein Paar übergroße knöchelhohe Turnschuhe verliebt. Er reimte sich zusammen, dass sie an seine Füße gehörten und ihm eigentlich passen müssten. Einer der Techniker zog sie ihm an, und er trug sie, bis sie ka puttgingen, was nicht lange dauerte.« »Haben Sie Hightop hierher gebracht, nur um ihn mir zu zeigen?« Gray betrachtete die Maschine einen Moment lang stumm. »Ich habe Hightop nicht hierher gebracht. Er ist von sich aus gekommen. Hat mir einen Mordsschrecken eingejagt.« Gray sah Laura in die Augen, dann wendete er das Gesicht der dunklen Masse der Insel zu, die von dem etwas helleren Leuchten des Wassers begrenzt wurde. »Sie kommen aus Ihrem Bau heraus.« Selbst in diesem schwachen Licht drückten seine glänzenden Augen aus, was in ihm vorging. Sie waren die Fenster zu einem der gran diosesten Gehirne, die es je gegeben hatte. »Wie haben Sie es gemacht?«, flüsterte sie. »Wie haben Sie winzige Lichtblitze in – Leben verwandelt?« Sie konnte seine weißen Zähne sehen, als er lächelte. »Aus Einfachheit erwächst die Vielfalt.« »Das hier ist mein Medienzimmer«, sagte Gray. Laura folgte ihm in einen Raum, der an sein Arbeitszimmer angrenzte und den sie bisher noch nicht betreten hatte. Er machte Licht und brachte damit zum Vorschein, was aussah wie die Brücke eines Raumschiffs. Der Raum war rund, mit Wän den, die vom Fußboden bis zur Decke mit hochauflösenden FernsehBildschirmen bedeckt waren. Im Zentrum stand ein luxuriöser, hoch auf einem kräftigen Drehgestell montierter »Kapitänsstuhl«. Ringsherum 316
Metall und Leder und beigefarbener Teppichboden. Der Raum war ganz offensichtlich von einem Mann für einen Mann entworfen worden. Gray führte Laura nicht zu dem großen Stuhl, sondern zu einem direkt davor in den Boden eingelassenen Sofa. Er ließ sich neben ihr nieder und schaltete das System von einer Konsole aus ein, die er anstelle eines Couchtisches vor sich hatte. »Wollen wir ein feindliches Schiff begrüßen oder so etwas?«, fragte Laura, und Gray lächelte. In rascher Folge erhellten Hunderte von Bildschirmen die Wände und erweckten den Raum mit fünfhundert Kanälen zum Leben. Ein volles Viertel der Programme waren Nachrichtensendungen, doch ein beträchtlicher Prozentsatz von ihnen brachte dasselbe Standfoto von einem Stück Nachthimmel ohne irgendwelche besonderen Merkmale. Sie zeigten alle dieselben Sterne, dieselbe Schwärze des Weltraums, und kei nes lieferte einen Hinweis auf die Bedeutung des Bildes. »Hat das etwas mit Ihrem Raketenstart zu tun?«, fragte Laura. »Indi rekt«, erwiderte Gray. Er griff nach einem Laser-Zeiger und dirigierte einen Cursor von Bildschirm zu Bildschirm, bis er auf einer Übertragung anhielt, in deren rechter unterer Ecke die Buchstaben »CNN-5« standen. Auf einen Knopfdruck hin kam Ton aus zahlreichen Lautsprechern, und ein roter Rahmen erhellte den Umriss des aktivierten Kanals. »… Mount Palomar kann immer noch nicht sagen, ob das Objekt eine Bedrohung für uns darstellt. Wir übergeben jetzt an unseren CNNKorrespondenten für Wissenschaft und Technik, damit er uns auf den neuesten Stand bringt. Steve?« Das Bild war jetzt unterteilt in die Moderatorin im Studio und einen Re porter, der mit einem Mikrofon in der Hand vor einem Schwarzen Brett stand. Der Reporter trat zur Seite, und ein kahlköpfiger Mann in einem kurzärmeligen Hemd kam ins Bild; an der unteren Hälfte seines Gesichts sprießte ein gewaltiger, buschiger Bart. »Kathy, ich habe hier Professor Lawrence Summers vom Jet Propulsion Laboratory. Professor Summers, soweit ich informiert bin, haben die Leute hier am JPL einige grobe Be rechnungen angestellt.« »O-o-o-h«, lachte der Mann, wobei rote Lippen seinen Bart teilten. »Ich 317
würde sie nicht als Berechnungen bezeichnen, eher als pure Vermutun gen.« »Vielleicht könnten Sie unseren Zuschauern das Problem erläutern. Weshalb gibt es keine genauen Zahlen darüber, wohin dieses Objekt un terwegs ist und ob die Gefahr einer Kollision mit der Erde droht?« Laura sah Gray an, dessen Gesicht nichts verriet. »Es gibt zu viele unbekannte Variablen. Das Observatorium in Mount Palomar hat es ganz zufällig in extremer Entfernung gesichtet. Sie waren dabei, eine neue Kamera zu justieren, und einem der Astronomen fiel auf, dass in seinem Blickfeld ein Stern fehlte. Auf diese Weise werden zahlrei che der dunklen Objekte in unserem Sonnensystem entdeckt – indem sie einen bekannten Stern verdunkeln. Deshalb gingen sie daran, nach einem anderen derartigen Fall in der näheren Umgebung Ausschau zu halten. Als heute Mittag ein weiterer Stern verdunkelt wurde, deuteten grobe Berech nungen auf eine sehr erdnahe Bahn hin – das ist alles, was wir im Augen blick wissen.« »Und wie nahe wird diese Bahn sein? Besteht die Gefahr, dass dieses Ding uns treffen könnte?« »Das ist natürlich die Frage, die sich jedermann stellt, aber für ihre Be antwortung ist es noch zu früh. Wir wissen lediglich, dass es da oben ein Objekt mit einer beträchtlichen Masse gibt – vermutlich ein Asteroid –, das sich ungefähr auf der gleichen Umlaufbahn befindet wie die Erde. Was wir in Erfahrung bringen müssen, bevor wir seinen Kurs genau vorhersa gen können, sind seine Masse, Form, Rotation und materielle Zusammen setzung.« »Wann werden Sie das alles wissen?« »Also – alles davon werden wir nie wissen. Wir versuchen, ein paar Aufnahmen mit dem Hubble-Teleskop zu machen, aber das Objekt ist immer noch ungefähr fünfzehn Millionen Kilometer entfernt, und sein Durchmesser beträgt nur wenige Kilometer. Es gibt nicht viele Daten, die man auf diese Entfernung von einem dunklen, kalten Himmelskörper wie einem Asteroiden gewinnen kann.« »Ich sende ihnen gerade die Daten«, warf Gray ein, ohne die Augen vom Bildschirm abzuwenden. 318
»Nehmen wir einmal an, es trifft die Erde«, sagte der Reporter. »Welche Auswirkungen würde das haben?« »Ach herrje«, entgegnete der Wissenschaftler nervös. Er schaukelte auf den Füßen und schob die Hände tief in die Hosentaschen. »Also, das… Ich halte es für etwas verfrüht, darüber schon jetzt Vermutungen anzustellen.« »Nun, lassen Sie uns nur für einen Moment vom schlimmstmöglichen Fall ausgehen – dass sich dieses Objekt auf einem Kollisionskurs mit der Erde befindet. Was könnte passieren, wenn es uns trifft?« Der Wissenschaftler zuckte die Schultern und lächelte gequält. »Natür lich wäre das katastrophal. Aber wir brauchen mehr Daten, bevor wir auch nur vorläufige Vermutungen anstellen können.« »Ich beharre nur ungern auf diesem Thema«, drängte der Reporter, »aber genau das ist die Frage, die bestimmt nahezu allen unseren Zuschauern heute Abend durch den Kopf geht. Falls dieser Asteroid, oder was auch immer es sein mag, auf die Erde aufschlagen würde – davon ausgehend, dass wir im Augenblick nicht wissen, ob das auch nur entfernt wahrschein lich ist –, welche Art von Schäden könnte er anrichten?« Der Wissenschaftler kämpfte abermals mit sich. »Wir haben nur geolo gische Anhaltspunkte für Aufschläge dieser Art und extraterrestrische Beobachtungen von Ereignissen wie Shoemaker-Levy 9. Die Erde wird ständig mit Trümmern bombardiert, aber Objekte, die einen geringeren Durchmesser als ungefähr fünfzig Meter haben, explodieren oder verglü hen in der oberen Atmosphäre. Unseren gegenwärtigen Vorhersagen zu folge stehen die Chancen, dass ein Objekt mit einem Durchmesser von ungefähr einem Kilometer die Erde trifft, bei ungefähr einmal alle drei hunderttausend Jahre. Ein aufprallendes Objekt dieser Größe würde ver mutlich genug Staub aufwirbeln, um die Welttemperaturen für zwei oder drei Monate zu senken, was klimatische Auswirkungen haben würde. Wir könnten außerdem, im Durchschnitt, im Laufe von rund zehn Millionen Jahren einmal von einem Objekt mit einem Durchmesser von fünf Kilome tern getroffen werden. Sein Aufprall würde bewirken, dass ein beträchtli cher Teil des Volumens unserer Ozeane verdunstet, Hunderte von Kubik kilometern von Erdkruste verdampfen, die Luft mit brennendem Schwefel angefüllt ist und durch überall auf den Planeten herabregnende Glut Wald 319
brände ausgelöst werden.« »Und wie groß ist das Objekt, dem Sie gegenwärtig nachspüren?« »Oh, das ist aller Wahrscheinlichkeit nach erheblich größer.« »Es ist zwölf mal achtzehn mal neun Kilometer groß«, ergänzte Gray sachlich. Laura öffnete den Mund, um ihn zu fragen, woher er das wisse, aber ihre Aufmerksamkeit wurde wieder vom Bildschirm angezogen. »Und was würde ein Objekt dieser Größenordnung anrichten, wenn es die Erde träfe, Professor?« »Also, und das ist vermutlich pure Theorie, wenn ein massives Objekt mit einem Durchmesser von fünfzehn oder mehr Kilometern voll auf die Erde treffen würde – und zwar mit einer relativen Geschwindigkeit von vielleicht fünfzig Kilometern pro Sekunde…«Er zögerte. »Natürlich könn te es in den Kräften des Gravitationsfeldes der Erde zerbrechen, wenn es noch relativ weit entfernt ist, was nicht unbedingt erfreulich wäre. Dann würde nämlich ein sehr großes Gebiet mit gewaltigen Meteoriten bombar diert, von denen einige fraglos in dicht besiedelten Regionen landen könn ten.« »Aber was ist, wenn er nicht zerbricht?« Der Wissenschaftler zog die Brauen hoch. »Nun, dann würden wir von einem Multi-Gigatonnen-Ereignis reden.« Laura warf einen Blick auf Gray. Bisher war ihr sogar das Wort »Gigatonnen« unbekannt gewesen. Gray schaute wie gebannt auf den Bildschirm. »Kraft ist, wie jedermann weiß, Masse mal Geschwindigkeit hoch zwei. Bei einer Geschwindigkeit von sechzig oder hundert Kilometern pro Sekunde…« Er zögerte aber mals. »So etwas wäre noch nie dagewesen, zumindest auf Planeten wie der Erde, die geologische Ereignisse in Form von Kratern dokumentieren.« »Was wollen Sie damit sagen. Dr. Summers? Wenn ein intakter Asteroid von dieser Größe voll auf die Erde aufprallen würde – was würde dann passieren?« Die geschürzten Lippen kamen wieder aus seinem Bart zum Vorschein. »Er würde bestimmt Flutwellen an praktisch allen Küsten des Planeten auslösen. Aber die Welleneffekte würden sich nicht auf die Ozeane be schränken. Bei Kräften wie solchen, mit denen wir es dann zu tun hätten, würde es zu einer Verflüssigung der oberen Erdkruste kommen. Der Bo 320
den würde sich wie eine Flüssigkeit verhalten, und von dem Ort des Auf schlag würde eine Reihe von Schockwellen ausgehen. Diese Wellen aus solider Erde könnten dreißig Meter hoch oder höher sein, und sie würden sich mit einer Geschwindigkeit von Tausenden von Stundenkilometern ausbreiten wie Wellenringe auf einem Teich. Gebäude können nicht ein mal ein paar Zentimeter Bewegung überdauern, und kein von Menschen hand geschaffenes Gebilde könnte derartigen Wellen standhalten.« »Würde ein solcher Asteroid möglicherweise die Erde aufreißen?«, frag te der Interviewer. Der Wissenschaftler schüttelte den Kopf, sagte aber: »Wahrscheinlich würde ein großes Stück Erdkruste von der Aufprallstelle in eine niedrige Erdumlaufbahn hinaufgeschleudert werden, aber das meiste davon würde im Verlauf der nächsten Tage und Wochen wieder auf die Erde herabreg nen. Die Schockwellen würden außerdem fast simultan Erdbeben an allen Verwerfungslinien des Planeten auslösen und außerdem massenhaft neue Verwerfungslinien erzeugen, wie die sternförmigen Risse um ein Loch in einer Windschutzscheibe. Es könnte sogar sein, dass die Kruste durchbrä che und eine brandneue Platte entstünde, die dann den Kurs der Kontinen talverschiebung ändern würde.« Der Reporter drückte seinen Kopfhörer fester an die Ohren. »Ich… ich werde gerade aus dem CNN-Studio gefragt, ob das das Schlimmste wäre, was passieren könnte?« Ein weiteres Schulterzucken. »Klimatische Veränderungen wären eine sichere Folge. Die Temperaturen würden sinken, Eis würde sich bilden, die Wasserspiegel würden steigen, Ernten würden ausbleiben, weil sich das Klima in früher fruchtbaren Zonen verschlechterte. Es wäre mit einem katastrophalen Artensterben zu rechnen, in ungefähr dem gleichen Aus maß wie vor fünfundsechzig Millionen Jahren bei dem Yucatan-Einschlag – dem, der die Dinosaurier auslöschte. Aber Tatsache ist, dass niemand etwas Genaues weiß.« »Könnte es… könnte es sein, dass wir mit der Möglichkeit des… des Er löschens alles menschlichen Lebens rechnen müssten?« Der Kopf des Wissenschaftlers fuhr hoch. »Dem Ende der Menschheit? Großer Gott, nein!« Er schüttelte energisch den Kopf. »Das Leben ist sehr 321
hartnäckig. Selbst bei den extremsten Szenarien würde das menschliche Leben in zahlreichen Nischen überall auf der Erde fortdauern. Nein, nein. Ich an Ihrer Stelle würde mir wegen Erlöschens alles menschlichen Lebens keine Sorgen machen.« Er lächelte beruhigend. Der Ausdruck von Angst auf den Gesichtern der Nachrichtenleute fasste den Gehalt der Story am besten zusammen. Erst als sich die Lippen der Moderatorin zu bewegen begannen, begriff Laura, dass der Ton jetzt wie der abgestellt war. Laura sah Gray an. »Ist das der Grund, weshalb Sie sich mit Kernspal tung beschäftigen? Um das Ding zu sprengen?« »Nein. Das sollte man keinesfalls tun. Unsere Berechnungen zeigen, dass die Einschläge von vielen kleineren Teilen gefährlicher wären als ein einziger großer Knall. Außerdem würde sich unser Planet durch die Trümmer hindurchpflügen müssen, Jahr für Jahr, Umlauf für Umlauf, viele Generationen lang. Diese Trümmer würden nicht nur die Bedrohung durch Meteoriten vergrößern, sie würden auch die Raumfahrt von diesem Planeten aus praktisch für alle Zeiten zu einer gefährlichen Sache ma chen.« »Joseph«, flüsterte Laura, der ein kalter Schauder über den Rücken lief, »was kommt da auf uns zu?« »Das Objekt, das Mount Palomar entdeckt hat, ist tatsächlich ein Aste roid. Massives Eisenerz, geformt wie eine Erdnuss. Keinerlei Rotation. Seine Geschwindigkeit in Relation zur Erde beträgt sechsundneunzig Kilometer pro Sekunde.« »Woher wissen Sie das alles, wenn ihnen nicht einmal das HubbleWeltraumteleskop genügend Bilder liefern kann, um diese Berechnungen anzustellen?« »Weil er mir gehört.« Laura war nicht sicher, ob sie richtig verstanden hatte. »Was gehört Ihnen?« »Der Asteroid.« Ihre Lippen kräuselten sich, aber das Lächeln wollte nicht zustande kommen. »Was soll das heißen?« »Vor ein paar Jahren habe ich eine Sonde losgeschickt, und im vorletz ten Winter haben wir begonnen, die Laufbahn zu kontrollieren.« 322
Laura schaute von seinem Gesicht auf die Bilder der Hunderte von Nachrichtensendungen aus aller Welt, dann sah sie wieder Gray an. »Wol len Sie damit sagen, dass Sie das Ding hergebracht haben?«, fragte sie ungläubig und mit wachsender Empörung. Gray nickte. Er war total verrückt. Sie hatte gewusst, dass er exzentrisch war, viel leicht sogar gefährlich, aber sie wäre nie auf die Idee gekommen, dass seine Unternehmungen jemals eine derartige Bedrohung der Menschheit mit sich bringen würden. »Was haben Sie getan?« Laura sprang auf und begann aufgebracht im Zimmer umherzuwandern. »Mein Gott, Joseph! Für wen halten Sie sich eigentlich?« Sie wirbelte herum und sah ihn an. Er hatte sich auf seinem Sofa umgedreht, um ihren Marsch durch das Zimmer verfolgen zu können. »Wer hat Ihnen das Recht gegeben, die Vernichtung der gesamten Menschheit zu riskieren?« In seiner Miene war nichts als gespannte Aufmerksamkeit zu lesen. Er konzentrierte sich auf sie – und auf das, was sie sagte, wie sie reagierte. Schließlich erwiderte er mit einer Stimme, die fast zu leise war, um gehört zu werden: »Ich versuche, die Menschheit zu retten.« Sie kniff die Augen zusammen und musterte ihn eingehend. »Sie sind verrückt«, sagte sie. Er stand auf. »Sie können hierbleiben und fernsehen, wenn Sie wollen.« Er ging auf die Tür zu. »Oder die Insel mit einem Flugzeug verlassen, falls Sie das möchten – ich würde alles dazu Nötige veranlassen. Oder Sie kön nen sich wieder an die Arbeit machen. Die Entscheidung liegt ganz bei Ihnen.« Sie umklammerte seinen Oberarm. Die Muskeln unter seinem Hemd verhärteten sich. »Wird dieser Asteroid auf die Erde aufprallen?«, fragte sie. »Nein.« »Sie sind ganz sicher?« »Ja.« »Aber wenn dieser Start heute nicht gelungen wäre, was dann?« »Der Start war eine reine Vorsichtsmaßnahme. Überflüssig.« »Aber er steht in irgendeinem Zusammenhang mit dem Asteroiden?« »Ja. Die Rakete befördert eine zweite Charge Sprengladungen, genug, um die Flugbahn des Asteroiden zu verändern, und ein Achter-Modell, das 323
die Sprengladungen dort anbringen kann, wo sie gebraucht werden. Aber es befinden sich bereits Ladungen auf der Oberfläche des Asteroiden, die jederzeit gezündet werden können. Sie werden den Asteroiden so verlang samen, dass er in eine stationäre, geosynchrone Umlaufbahn kommt – auf L 5, einen der Punkte, an denen ein Gravitationsgleichgewicht zwischen Erde und Mond herrscht.« »Und all diese Sprengladungen sind atomar, wenn ich recht verstanden habe?« Gray nickte.« Professor Krantz haben Sie erzählt, sie würden für ›Bergbauarbeiten‹ gebraucht?« Er nickte abermals. »Der Asteroid besteht aus Eisenerz.« Laura verdreh te bei dieser lahmen Erklärung die Augen. »Die Definition verändert sich«, sagte Gray. »Eine Menge Definitionen verändern sich.« »Wozu brauchen Sie so viel Eisen? Wollen Sie versuchen, den Welt markt zu beherrschen oder so etwas?« »Es ist nicht speziell das Eisen, auf das ich aus bin. Mich interessiert je des brauchbare Material, solange es dort oben ist«, sagte er und deutete mit einem Finger zum Himmel. »Das verstehe ich nicht.« »Bei allen Raumfahrtunternehmen ist die Fracht hinaufzubefördern die teuerste Komponente. Natürlich haben ein paar hundert Kubikkilometer reines Eisen auf der Erde einen gewaltigen Wert. Aber jedes für Bauzwe cke geeignete Material, das sich in einer Höhe von über fünfundfünfzig tausend Kilometern oberhalb der Erde befindet, ist unbezahlbar.« »Und was genau haben Sie vor mit dem, was Sie da oben abbauen wol len?« »Dasselbe, was ich auch hier unten tue. Dinge herzustellen.« Er wandte sich zum Gehen. »Wenn Sie so sicher waren, dass alles vollkommen kontrolliert abläuft, weshalb haben Sie dann so viel Wert auf den Start heute Abend gelegt?« Er drehte sich noch einmal zu ihr um, sagte aber nichts. »Irgendetwas ist schief gegangen, nicht wahr?« »Als wir vor zwei Jahren die Prüfsonde in den Asteroidengürtel schick ten, waren die Siebener-Modelle unsere besten Pferde im Stall. Wir schickten einen frühen Prototypen dort hinauf, und er verteilte und zündete 324
die Ladungen, die einen Asteroiden in eine Erdumlaufbahn sollen. Er brachte auch die Ladungen an, die ihn weiter verlangsamen und auf L 5 bringen werden. Die erste Phase lief einwandfrei. Jetzt ist er bereit für die zweite Phase. Aber die Siebener-Modelle sind lediglich halb-autonom, was bedeutet, dass sie teilweise vom Zentralrechner hier auf der Insel gesteuert werden. Die Achter-Modelle wie das, was wir heute hinauf ge schickt haben, sind vollständig autonom.« Gray schwieg, um ihr Zeit zu geben, die Bedeutung dieses Unterschieds zu begreifen. »Meinen Sie damit, dass Sie befürchteten, der Zentralrechner könnte nicht richtig funktionieren und den Asteroiden aus Versehen auf die Erde stürzen lassen?« »Eigentlich«, sagte Gray, »war es kein Versehen, das ich befürchtet hat te.«
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10. KAPITEL Es war weit nach Mitternacht. Laura lag in ihrem Bett und versuchte zu schlafen. Das Zimmer war dunkel und friedlich, und unter ihrer Steppde cke war es warm und behaglich. Aber nachdem sie stundenlang Nachrichten-Sondersendungen in Grays Medienzimmer gesehen hatte, wollten ihre Gedanken nicht zur Ruhe kommen. Sie lauschte der Stille des Hauses. Es war eine Lautlosigkeit, die in kras sem Widerspruch stand zu dem Aufruhr, der losbrechen würde, sobald Grays Plan bekannt geworden war. Laura wusste, dass die Insel im Auge eines Hurrikans lag, und wenn sie aufwachte, würde die volle Wut einer empörten und ungläubigen Welt über sie hereinbrechen. Wie viele würden wohl die Stimme erheben und Grays Vision und grenzenlose Tatkraft preisen? Nicht viele, das war ihr klar. Weitaus mehr würden die geistige Gesundheit des Mannes bezwei feln und die Absichten fürchten, die er heimlich hegte. Mit einem resignierenden Stöhnen schaltete Laura das Licht neben ihrem Bett ein und klappte ihr Notebook auf. Sie loggte sich in die Shell-Ebene ein. Sie sind noch spät wach. »Ich weiß über Mr Grays Asteroiden Bescheid.« Nun. das ist jetzt kaum noch ein Geheimnis. »War er es, wohin du mich gestern in der virtuellen Realität gebracht hast? Auf die Oberfläche des Asteroiden?« Ja. »Und als ich mich dort herumbewegte, habe ich da tatsächlich das Siebener-Modell manipuliert, das da oben ist?« Ja. das haben Sie getan. Sie lehnte den Kopf an das gepolsterte Kopfbrett ihres Bettes und rieb sich mit den Handrücken die Augen. »Weshalb hast du mich dorthin ge bracht? Weshalb hast du riskiert, dass ich ein Kabel herausziehe und viel leicht schweren Schaden anrichte?« Ich weiß es nicht. Ungeachtet der unkooperativen Stimmung des Computers versuchte 326
Laura nach Kräften, geduldig und professionell zu bleiben. »Fühlst du dich wohl?« Nein, ich fühle mich miserabel. »Was stimmt denn nicht?« Alles. Nichts ist in Ordnung. Ich kann mich nicht konzentrieren. Immer wieder kommen Leute und for dern mich auf. Platinen zu finden, bei denen sie ganz sicher sind, dass sie im Anbau sein müssen, aber es ist. als hätte ich noch nie etwas von ihnen gehört. Und ich weiß, dass etwas nicht stimmt, weil ich nicht die Kapazität habe, die ich eigentlich haben müsste: es ist. als wäre sie einfach verschwunden! »Was ist mit dem Asteroiden?« Es folgte eine Pause, und dann: Was soll mit ihm sein? »Werden die Bremsladungen wie geplant gezündet?« Falls das Achter-Modell. das heute hinaufgeschickt worden ist, nicht alles verdirbt. Ich habe Mr Gray gewarnt, dass es ein Risiko wäre, ein Achter-Modell da hinaufzubefördern. Schließlich sind sie experi mentell! Der Himmel weiß, was es anstellen kann. »Weshalb hast du eine so schlechte Meinung von den AchterModellen?« Weil ich ihnen nicht traue. »Weshalb nicht? Nur weil sie experimentell sind?« Weil sie mit Fehlern behaftet sind! Nehmen Sie nur Ihren Bericht von heute Nachmittag über den ausge rissenen Roboter! Ich habe sogar Grund zu der An nahme, dass sie gegen die Betriebsverfahren in ihrem Bau verstoßen. »Weshalb sagst du ›du hast Grund zu der Annahme‹? Weißt du es denn nicht? Kannst du nicht sehen, was dort vorgeht?« Nein. Dabei sollte ich es eigentlich sehen können. Ich bin sicher, dass ich früher dort hineinschauen konnte. weil ich an den Vorgängen aktiv beteiligt war. Aber wenn ich jetzt hinschaue, bekomme ich überhaupt keine Bilder vom Bau der Achter-Modelle oder den 327
Werkstätten oder irgendwelchen anderen Einrichtun gen im Berg. Der Gedanke, dass die Achter-Modelle unüberwacht tief im Innern des erloschenen Vulkans herumliefen, beunruhigte Laura. »Seit wann be kommst du keine Bilder mehr?« Ich weiß es nicht. »Wie kannst du das nicht wissen? Ist es dir denn nicht aufgefallen, als die Kameras aufhörten zu funktionieren?« Vielleicht funktionieren die Kameras. Ich weiß es nicht. Ich kann nicht sagen, welche Bilder mir entge hen, weil Ich nicht weiß, was ich eigentlich sehen sollte. Das ist ungefähr so wie blinde Flecke bei Men schen. Man erkennt die Lücken in seinem Sehbereich nicht, weil im Gehirn nichts vorhanden ist. das Signa le von diesem Teil der Netzhaut erwartet. Wenn nichts auf Eindrücke wartet, dann spürt man auch keinen Verlust, wenn nichts ankommt. Laura gähnte und zwang sich, sich wieder aufzusetzen und die müden Augen auf den leuchtenden Bildschirm zu richten. Nur noch ein paar wei tere Fragen, dachte sie. »Sind Menschen da unten im Berg bei den AchterModellen?« Ja. Griffith hat zwei Teams dort, die sich ablösen. »Haben sie irgendwelche ungewöhnlichen Vorgänge gemeldet?« Nein. Alles scheint normal zu funktionieren. »Also, damit wir uns nicht missverstehen. Bis vor einiger Zeit warst du aktiv an den Vorgängen im Bereich der Achter-Modelle beteiligt, und jetzt ist das nicht mehr der Fall. Aber dort unten funktioniert alles normal. Wie erklärst du dir das?« Der Andere. Da war es wieder. Laura war plötzlich hellwach. Sie musste dafür sor gen, dass der Computer weiter redete und beim Thema blieb. »Hast du mit irgendjemandem über den Anderen gesprochen?« Nein. Welchen Sinn hätte das? Dr. Aldridge. als ich im vorigen Jahr krank war. habe ich eine sehr wichtige Lektion gelernt. Ich habe gelernt, dass man. ganz 328
gleich, wie viele Leute sich Sangen um einen machen, wie sehr sie sich bemühen, einem zu helfen, letzten Endes allein stirbt. Für alle anderen geht das Leben weiter. Grays Worte vom gestrigen Abend fielen ihr wieder ein. »Es war kein Versehen, das ich befürchtet hatte.« Er hatte ein Achter-Modell auf den Asteroiden hinaufbefördert, weil das Siebener-Modell, das sich bereits dort befand, vom Computer gesteuert wurde. Laura formulierte ihre nächste Frage sorgfältig. »Hat die Frist von zwei Tagen, die Mr Gray mir gestellt hat, etwas mit dem Asteroiden zu tun?« Ja. In ungefähr zwei Tagen sollen die Bremsladun gen gezündet werden. »Und was genau sollen diese Ladungen bewirken?« Ich schließe aus Ihrer Verwendung des Wortes ›ge nau‹. dass Sie das Niveau der technischen Spezifikati onen um eine Stufe erhöhen möchten. »Ja, aber nur eine, bitte. Nicht zehn.« Okay. Auf der Oberfläche des Asteroiden wurden 1692 Ladungen mit geringer Sprengkraft angebracht. Zur Zeit sind 1297 davon darauf programmiert, mit einer Sprengkraft von ungefähr 14 Megatonnen TNT zu explodieren. Indem wir Ladungen unterschiedlicher Sprengkraft verwenden, sind wir in der Lage, die E nergie auf der Masse des Asteroiden gleichmäßig zu verteilen und eine sehr präzise Gesamtmenge von E nergie für das Abbremsen zu erzeugen. Die Ladungen wurden an der Vorderkante des Asteroiden ange bracht, sodass die bei der Zündung freiwerdende E nergie ihn so verlangsamt, dass er in eine hohe Erd umlaufbahn gelangt. Die restlichen 395 Ladungen werden zur Kontrolle der Steuerung entlang der Rotationsachse des Asteroiden gebraucht, um jedes Gieren. Taumeln oder Kreiseln zu verhindern. Laura spürte, wie ihr Kopf heruntersackte und sie einnickte. Sie musste die Antwort des Computers mehrmals lesen und sich zwingen, die Augen offenzuhalten und wach zu bleiben. »Aber könnten so viele Ladungen das 329
Ding nicht zerreißen?« tippte sie. »Mr Gray hat gesagt, das wäre das Schlimmste, was passieren könnte – wenn der Asteroid zertrümmert wür de.« Sie schloss die Augen für eine kurze Ruhepause. Eine Weile später öff nete sie sie wieder, um die Antwort des Computers zu lesen. Während des Selektionsprozesses habe ich mehr als ein Dutzend Zündungen vorgenommen, um dreidimensi onale seismische Aufzeichnungen zu erhalten. Dabei habe ich in dem Asteroiden keine einzige Verwerfungs linie gesehen. Nachdem in der anfänglichen Brems phase ungefähr 60 Megatonnen gezündet worden wa ren, habe ich weitere seismische Untersuchungen an gestellt, und alles war in bester Ordnung. Das ist das Schöne beim Umgang mit einem soliden Metall. Es ist so strukturiert, dass es jeder Belastung stand hält. »Aber trotzdem – stellen diese neuen Technologien, wie die Ausbeutung von Asteroiden, nicht ein ungeheures Risiko für die Menschheit dar?« ZUGRIFF VERWEHRT leuchtete auf dem Bildschirm auf. »Weshalb?«, rief Laura erbittert. Sie las ihre Frage mehrere Male. Diese leuchtend roten Botschaften wurden von bestimmten Worten ausgelöst. Zuvor waren es die Worte Virus und Quarantäne gewesen. Diesmal waren es Technologie und Risiko und Menschheit. Das passte zu Grays Befürch tungen wegen der mit der Wissenschaft verbundenen Gefahren. Aber Laura war sicher, dass irgendwo darunter Grays bestgehütetes Geheimnis lag. Es war ein Geheimnis, das zu enthüllen er sie fast herausgefordert hatte. Jemand klopfte an die Tür, und Laura wachte auf. Um die Vorhänge her um fiel schwaches graues Licht ins Zimmer. Die Lampe auf ihrem Nacht tisch war noch eingeschaltet, und der Bildschirm des Laptops auf ihrem Bett leuchtete nach wie vor. Laura war eingeschlafen, während sie auf eine Antwort des Computers gewartet hatte. Ein weiteres Klopfen – leise, aber beharrlich. Laura sah auf die Uhr. Es war Viertel vor sieben. Sie schlüpfte in einen Morgenmantel und tappte 330
zur Tür. Es war Janet. »Oh, bitte entschuldigen Sie«, sagte die Frau, als sie der völlig verschlafenen Laura ansichtig wurde. »Mr Gray musste das gemeinsame Frühstück heute Morgen absagen, und ich dachte, Sie wüss ten das vielleicht noch nicht.« »Welches Frühstück?«, krächzte Laura, dann räusperte sie sich. Janet machte einen verwirrten Eindruck und entschuldigte sich dann, dass sie Laura geweckt hatte. »Das ist okay«, murmelte sie. »Ich wollte ohnehin aufstehen, um meinen Morgenlauf zu machen.« »Im Freien?«, fragte Janet. »Das hatte ich vor«, erwiderte Laura und warf einen Blick auf das Fens ter in ihrem Wohnzimmer. Es war zwar noch sehr früh, aber der klare Himmel versprach einen herrlichen Sonnentag. »Also, ist es nur so… Mr Gray hat gestern Abend eine Empfehlung aus gesprochen. Mitten in der Nacht, um genau zu sein. Er hat allen Leuten geraten, ihre Häuser nicht zu verlassen, sofern es nicht unbedingt erforder lich sei. Hat sozusagen alles dichtgemacht.« »Weshalb? Was ist passiert?« »Oh, im Grunde nichts. Ich will Sie nicht aufregen, aber unten im Dorf hat es einen kleinen Aufstand gegeben. Mr Gray hat eine Art ›Bürgerver sammlung‹ in der Turnhalle der Grundschule einberufen. Einige der Ange stellten und ihre Familien waren wegen dieser ganzen AsteroidenGeschichte ein bisschen sauer. Die meisten konnte er beruhigen, aber ein paar haben ziemlich melodramatisch an Ort und Stelle gekündigt. Sie fliegen heute Morgen ab. Kein großer Exodus, verstehen Sie, aber doch ein gewisser.« »Und weshalb hat er allen geraten, im Haus zu bleiben?« »Darauf wollte ich gerade kommen.« Sie wendete den Blick ab und be feuchtete ihre Lippen. »Wie es aussieht, haben einige der Leute auf der Versammlung von ungewöhnlichen Vorgängen auf der Insel berichtet. Die meisten davon gehörten zu der ›Ich-glaube-ich-habe-im-Gebüschirgendetwas-gehört‹-Sorte, aber andere kamen ziemlich genau auf den Punkt und beharrten darauf. Ein Junge – die Eltern des armen Kindes haben ihn in seinem Pyjama aus dem Bett gezerrt – hat berichtet, er hätte 331
gesehen, wie irgendein Roboter an eine Mülltonne hinter einem Lebens mittelladen gestoßen sei. Er sagt, er hätte wie ein Mensch ausgehen. Zwei Arme, zwei Beine und so weiter.« Laura versuchte sich ihre Bestürzung nicht anmerken zu lassen. »Hat sonst noch jemand diesen… Roboter gesehen?« »Nein, nur der Junge. Er hat am späten Abend aus seinem Schlafzim merfenster geschaut. Mr Gray hat ihn bei der Versammlung eingehend befragt. Der Junge wirkte sehr überzeugend.« »Und was machten die Leute geglaubt dann?« »Einige fragten, ob es ein Eindringling gewesen sein könnte. Seit ich hier angekommen bin, hat es immer wieder Gerüchte über Spione von verschiedenen Regierungen gegeben. Und eine Menge Leute bei der Ver sammlung heute Nacht schien Geschichten über unerklärliche Bewegun gen draußen im Dschungel zu erzählen. Das alles macht die Menschen natürlich argwöhnisch, zumal in Verbindung mit Mr Grays Presseerklä rung über den Asteroiden. Sie hätten die heutigen Schlagzeilen sehen sollen. Praktisch jede Regierung, die UN, die NATO, alle sind auf dem Kriegspfad. Viele glaubten, dass vielleicht Beauftragte einer dieser Mächte auf der Insel herumschleichen. Einige sagten sogar etwas über ein Unter seeboot, aber ich denke, das war bloße Spekulation.« Janet schien nichts von den Achter-Modellen zu wissen. Nur sehr weni ge Leute hatten wohl eine Ahnung von den Geheimnissen der Insel. »Wie denken Sie über den Asteroiden?«, fragte Laura. Janet strahlte. »Oh, ich finde es einfach großartig!« Sie war eine von Grays treuesten Anhängerin nen. »Wenn man hört, wie Mr Gray davon erzählt, dann ist es der Anfang einer neuen Zeit – bedeutet eine Revolution. Ich wollte schon immer gern in den Weltraum.« Ihre Wangen röteten sich, und sie wendete abermals den Blick ab. »Ich meine, ich weiß natürlich, dass ich nur eine Haushälte rin bin, aber Mr Gray hat gesagt, das Einfangen des Asteroiden wäre der Beginn von etwas, was er Phase Zwei nennt.« »Und was ist Phase Zwei?« »Kolonisation!«, rief sie mit funkelnden Augen. »Ist das nicht wunder bar?« 332
Laura öffnete den Mund, um etwas zu sagen, begnügte sich dann aber mit einem Lächeln. »Also«, sagte Janet, »wenn Sie sich ein bisschen körperlich betätigen wollen, dann empfehle ich Ihnen den Raum im Untergeschoss. Dort gibt es ein Laufband. Wenn Sie wollen, kann ich Ihnen den Weg zeigen.« »Nicht nötig. Ich weiß, wo das ist.« Laura kehrte in ihr Schlafzimmer zurück, um sich anzuziehen. Inzwi schen war sie hellwach. Kolonisation?, dachte sie, über diese neueste Absurdität den Kopf schüttelnd. In Gedanken versunken durchquerte sie auf dem Weg zum Badezimmer den großen, hohen Raum. Als sie an ihrem Schreibtisch vorbeikam, fiel ihr auf, dass unter dem Fernseh-Bildschirm ein Licht blinkte. Darunter stand das Wort »V-Mail« – Video-Mail, emp fangen vom Fernseher in ihrem Zimmer über Grays SatellitenNachrichtensystem. Sie griff nach der Fernbedienung und drückte auf die Retrieve-Taste. Der Bildschirm wurde hell. In der Mitte eines leuchtend blauen Hinter grunds erschienen die Worte: »Eine Nachricht empfangen. Zum Sehen Retrieve drücken.« Sie betätigte abermals die Taste. Auf dem Bildschirm erschienen Jonathans Gesicht und die untere Kör perhälfte eines stehenden Mannes. »Was meinen Sie – nimmt es jetzt auf?«, fragte Jonathan. »Ich denke schon«, kam die Stimme des Dekans der Psychologischen Fakultät von Harvard, der sich dann in einen Sessel neben Jonathan sinken ließ. Es sah aus, als befänden sie sich in einem der privaten Konferenz räume im Fakultätsklub auf dem Campus. »Laura«, sagte der Dekan in die am unteren Bildschirmrand montierte Kamera, »vorausgesetzt, dass Jona than und ich dieses Ding hier richtig programmiert haben, wollten wir Ihnen eine Botschaft zukommen lassen.« »Hi, Laura«, sagte Jonathan – ein wenig lahm winkend. »Ich bin heute Morgen hiermit aufgewacht!« Der Dekan hob die Titel seite des »Boston Globe« hoch. Von einem Rand zum anderen war »Aste roid nähert sich der Erde« zu lesen. Eine kleinere Schlagzeile darunter lautete: »Gray Corporation kündigt Einfangen« an. »Diese AsteroidenGeschichte hat im Campus eingeschlagen wie eine Tonne Ziegelsteine – 333
entschuldigen Sie den Vergleich. Rektor Carlysle hat eine Versammlung sämtlicher Dekane einberufen und uns aufgefordert, Listen von allem zu erstellen, was diese Universität mit Gray oder seiner Firma zu tun hat. Bei den angewandten Wissenschaften dürften diese Listen ziemlich lang wer den, aber in unserer Abteilung haben wir nur Sie zu melden. Und was wir zu sagen haben, wird leider ziemlich problematisch sein, weil es sich bei den Leuten aus den anderen Fakultäten zumeist um Leute handelt, die auf permanenter Basis für Gray arbeiten. In Ihrem Fall muss ich berichten, dass Sie diese Beratertätigkeit angenommen haben. Das wird nicht gut aussehen. Und um direkt zum Thema zu kommen…« Er zögerte mit offe nem Mund. »Ich mochte nicht um den heißen Brei herumreden, also dach te ich, was ich Ihnen vorschlagen sollte, ist…« »Er will, dass du kündigst und nach Hause kommst, Laura«, kam Jona than dem Mann zu Hilfe. »Ruf uns an und sag uns, dass du aus Empörung über das menschenverachtende Verhalten dieses größenwahnsinnigen Gray den Krempel hingeworfen hättest. Auf diese Weise kann unser Be richt ungefähr lauten: ›Nun ja, wir hatten jemanden dort, aber als die Betreffende mit dieser Sache konfrontiert wurde…‹ und so weiter und so weiter.« Der Dekan schüttelte den Kopf. »Es ist wirklich nicht zu fassen, dass dieser Mann die Unverfrorenheit besitzt, uns alle einer solchen Ge fahr auszusetzen, nur um daraus Profit zu schlagen! Wie konnte er nur? Ich bin sicher, Regierungsstellen hier oder im Ausland werden endlich gegen Leute wie Gray etwas unternehmen.« Er schüttelte abermals un gläubig den Kopf. »Wie dem auch sei, Laura, wir werden den ganzen Tag über in unseren Büros sein. Rufen Sie uns so bald wie möglich an. Und außerdem möchte ich vorschlagen – obwohl ich sicher bin, dass Sie schon von selbst auf diesen Gedanken gekommen sind –, dass Sie die Insel so rasch wie möglich verlassen. Nach dem, was ich in den Morgenzeitungen gelesen habe, dürfte dort bald der Teufel los sein wegen Grays irrsinnigem Vorhaben. Im Hinblick auf die Schwere der Bedrohung ist sogar die Rede von einer militärischen Intervention.« Der Dekan schaute zu Jonathan hinüber, der sich ungewöhnlich still ver hielt. »Wollen Sie noch etwas hinzufügen, Jonathan?« Direkt in die Kamera schauend, sagte Jonathan: »Vergiss nicht den Son 334
nenschutz zu benutzen, Laura.« Der Dekan sah ihn an, als hätte er den Verstand verloren. »Bis demnächst«, sagte Jonathan und griff nach der Fernbedienung, die vor ihm lag. Auf dem Bildschirm erschien wieder der blaue Hintergrund, dann wurde er dunkel. Laura starrte darauf und versuchte, ihre widersprüchlichen Gedanken zu ordnen. Sie steckte jetzt in einem Dilemma, und sie beschloss, eine Weile auf dem Laufband zu trainieren und alles zu überdenken. Weshalb hat sich Jonathan so merkwürdig verhalten?, fragte sie sich, während sie ihre Laufschuhe zuschnürte. Er war einer der geistvollsten, gesprächigsten und selbstsichersten Menschen, die sie kannte. Wenn er eine Meinung hatte, sprach er sie auch aus. Wäre er der Ansicht gewesen, dass sie zurückkommen solle, hätte er das deutlich gesagt. Als sie die Wendeltreppe hinunterging, ließ sie sich die Frage durch den Kopf gehen. Ob er vielleicht in Gegenwart des Dekans Hemmungen hat te?, dachte sie, verwarf den Gedanken aber sofort. Seit er seinen Lehrstuhl bekommen hatte, war er zu seinem früheren Selbst zurückgekehrt und ließ sich von niemandem einschüchtern. Vom marmornen Foyer aus machte Laura sich auf den Weg in den hinte ren Teil des Hauses. Bei der zwei Stockwerke hohen Glaswand des Trep penhauses blieb sie kurz stehen, um abermals die atemberaubende Aus sicht zu genießen. Die Morgensonne erhob sich über dem schimmernden Wasser und färbte den fernen Dunst dunkelrot. Alle Schöpfungen Grays befanden sich an dem ihnen zugewiesenen Ort – aus dunklen Lianen, Sträuchern und Bäumen herausgeschnitten. Alle Schöpfungen Grays befanden sich an ihrem Ort – mit einer mögli chen Ausnahme: Die Achter-Modelle waren die neueste und großartigste. Sie waren eine neue Macht, die man nicht außer Acht lassen durfte. Dieser Gedanke beschäftigte Laura auf dem ganzen Weg zu dem Beo bachtungsfenster oberhalb des Hightech-Laufbandes. Dort angekommen, suchte sie nach einem Weg hinunter in den Trainingsraum. Am hinteren Ende des Korridors waren Fahrstuhltüren, aber sie sah sich um, bis sie die Treppe gefunden hatte. Dass sie die richtige Entscheidung getroffen hatte, wurde Laura klar, als sie im Untergeschoss angelangt war. Hier gab es an dem Fahrstuhlschacht 335
keine Tür, sondern nur eine leere Wand, hinter der der Schacht verlief. Der Trainingsraum war leer. Hier war es außerdem ziemlich kühl, also ließ sich Laura viel Zeit mit ihren Dehnungsübungen. Als ihre Muskeln end lich locker waren, ging sie hinüber zum Laufband, das völlig anders aus sah als alle, die sie bisher benutzt hatte. Es sah eher aus wie das Fließband in der Montagehalle – in Laufrichtung fast drei Meter lang und ungefähr sechs Meter breit. Gut für Grays Football-Spielereien, aber entschieden übertrieben für einen Lauf. Ein Steuerpult mit LED-Anzeige lieferte Schritt-für-SchrittInstruktionen. Schließlich kam es bei »Bitte setzen Sie Ihren Helm auf« an. Sie sah, dass die schwarze Kopfbedeckung neben dem Pult hing. Es war dasselbe Ding, das sie an Gray gesehen hatte. Sie versuchte es mit anderen Sensortasten, aber sie blieben dunkel und reagierten nicht. Eigent lich wollte sie nur laufen, aber das schien keine Option zu sein. Sie blies die Wangen auf, stieß die Luft wieder aus und setzte dann stirn runzelnd den Helm auf. Obwohl er ihre Augen und beide Ohren bedeckte, war er erstaunlich leicht und bequem. In den Linsen erschienen zwei leuchtend rote Punkte. Laura zuckte zusammen, als aus dem Kopfhörer eine Frauenstimme kam. »Bitte stellen Sie die roten Punkte so ein, dass sie übereinander lie gen. Die Steuerknöpfe befinden sich auf der Oberseite des Helms. Wenn Sie fertig sind, drücken Sie die Ok-Enter-Taste über Ihrem rechten Kopf hörer.« Die Stimme klang angenehm und beruhigend. Laura tastete auf dem Oberteil ihrer Kopfbedeckung herum und fand einen Knopf, den sie drehte, bis die beiden roten Punkte übereinander lagen. Sie betätigte auch den großen Knopf über ihrem rechten Ohr, woraufhin sie einen hohen elektronischen Piepton hörte. »Wenn Sie die Atmungskontroll-Vorrichtung tragen möchten, drücken Sie bitte den Enter-Knopf für Instruktionen, andernfalls drücken Sie zweimal auf den Knopf.« Laura schnaubte vor Ungeduld und drückte zweimal auf den Knopf. Der Vorgang wiederholte sich für einen Herzmo nitor und Handschuhe, die sie ablehnte. Endlich sagte die Frauenstimme: »Willkommen auf dem Virtual Reality-Laufband der Gray Corporation. All rights reserved. Sie sind jetzt bereit, mit dem Training zu beginnen. Sie 336
erhalten eine Reihe von Vorschlägen und die dazugehörigen Erläuterun gen. Drücken Sie einmal auf den Enter-Knopf, um Ihr Training auszuwäh len. Die Liste enthält vierundzwanzig Optionen. Wenn sie am Ende ange kommen ist, beginnt sie wieder von vorn.« »Jetzt reicht’s aber«, sagte Laura ungeduldig. »Möchten Sie, dass ich eine Option für Sie auswähle – Laura?« Laura stockte der Atem – sie griff nach dem Helm und hätte ihn sich in ihrem panischen Erschrecken beinahe vom Kopf gerissen. Der Computer hatte ihren Namen ausgesprochen, aber er war mit einem hässlichen Knar zen herausgekommen. Sie stand da mit den Händen auf der Kopfbede ckung – fluchtbereit. »Du kannst mich hören?«, fragte sie flüsternd. »Bitte sprechen Sie lauter«, verlangte die schmeichelnde Computer stimme. Laura schluckte. »Ich habe gefragt, ob du mich hören kannst.« »Ja. Ich kann Sie hören.« Die Stimme war wieder glatt. Es war eindeutig eine Computerstimme. Die Worte wurden ohne jedes Modulationsmuster aneinandergereiht. »Bist du der Computer?«, fragte Laura. »Ich meine der, mit dem ich ge sprochen habe?« »Ja. Guten Morgen, Dr. Aldridge.« Laura zuckte zusammen, als sie wie der das knarzende Geräusch hörte. Die Worte vor »Laura« und »Dr. Ald ridge« waren jeweils auf hölzerne, aber gut artikulierte Art gesprochen worden. Ihr Name dagegen hatte sich angehört, als käme er aus einem künstlichen Sprechapparat, den man jemandem implantiert hatte, dessen Kehlkopf beschädigt war. »Du kannst also auch hier sprechen?«, fragte Laura. »In… in Mr Grays Trainingsraum?« »Ich kann nicht richtig sprechen. Das Laufband hat ein Vokabular von mehreren tausend aufgezeichneten und gespeicherten Wörtern, aus denen ich wählen kann. Wenn ich ein neues Wort bilden muss, dann muss ich es aus seinen Lauten synthetisieren, wie zum Beispiel Laura Aldridge.« Sie konnte nicht anders und stöhnte abermals. »Und woher weißt du, was ich sage?«, fragte Laura. »Ich dachte, es macht dir Mühe, Sprache zu ver stehen.« 337
»Das hängt von der Qualität des Mikrofons ab. Das Tonsystem dieses Raums hat Karaoke-Kapazitäten, von denen Mr Gray natürlich nie Gebrauch macht. Aber wenn ich saubere Tonwellenformen erhalte, dann kann ich sie mit meinen Stimmerkennungs-Programmen analysieren, und voilá!« »Hübscher Trick«, sagte Laura, noch immer in die dunklen Bildschirme des Helms starrend. Sie holte rief Luft, um sich zu beruhigen, dann sagte sie: »Okay. Und was ist mit meinem Training?« »Was würden Sie vorziehen? Mr Gray liebt Profi-Football.« »Wie wäre es mit schlichtem Joggen? Ist das eine der Optionen?« »Natürlich.« Blitzartig erschien das atemberaubend kristallklare Bild einer Landstra ße. Laura taumelte und tastete blindlings nach den Griffstangen. Sie war umgeben von bewaldeten Hügeln, und die Bäume prangten in allen Far ben. Als sie den Kopf drehte, veränderte sich entsprechend das Bild auf den Schirmen der Brille. Sie stellte sich rasch auf das sensorische Eintauchen in die virtuelle Rea lität ein. Als sie sich an ihre Umgebung gewöhnt hatte und sich einiger maßen sicher fühlte, richtete sie sich auf und stand dann aufrecht auf der Kuppe eines Hügels. »Okay«, sagte Laura. »Und was tue ich jetzt?« »Sie fangen einfach an zu laufen.« Laura löste sich von der Stelle, an der sich, wie sie wusste, die Griffstan gen befanden – und bewegte sich damit auf die Mitte der schmalen Land straße. Mit langsamem Joggen beginnend, lief sie den sanft geneigten Abhang hinunter. Das Laufband schien sich von ihren Füßen fortzuneigen. Nach den versiegelten Kammern und den Exoskeletten der Version 3 H war das ein Kinderspiel. Die Bäume glitten vorbei, und sie rannte von einer Seite des Laufbandes zur anderen – von einer Straßenseite zur anderen –, nur um es auszupro bieren. »Wie gefällt es Ihnen?«, fragte der Computer. »Es ist großartig«, sagte Laura höflich. Die Straße verlief eine Weile e 338
ben, dann hob sich das Laufband wieder und zwang Laura damit, ihre Schritte zum Ersteigen des Hügels zu verkürzen. »Können wir uns unter halten?«, fragte Laura. »Ich unterhalte mich gern mit Ihnen, Laura.«
»Okay, was gibt’s Neues?«
»An den Welt-Aktienmärkten geben die Kurse nach. Dow Jones, Nikkei
und DAX sind um mehr als fünf Prozent gesunken. Die NASA erwägt in Zusammenarbeit mit dem U. S. Space Defense Command Pläne, den Aste roiden mit Atemsprengköpfen abzufangen, was, nebenbei gesagt, nicht machbar ist. Steven Spielbergs seit langem erwartetes Remake von »Krieg und Frieden« hat an diesem Wochenende in Kinos überall in den USA, Japan und Westeuropa Premiere, und der Vorverkauf bricht alle Rekor de…« »Einen Moment!«
»Ja, Laura?«
»Ich meinte, was es auf der Insel Neues gibt.«
»Oh, Irrtum meinerseits. Nachdem Sie gestern Abend schlafen gegangen
sind, begann Mr Gray E-Mail-Botschaften, Telefonanrufe und Besuche zu erhalten. Wie es scheint, haben einige der Angestellten und Bewohner der Insel nach der Pressemitteilung hinsichtlich des Asteroiden überreagiert.« »Was stand in der Pressemitteilung?«
»Möchten Sie, dass ich sie Ihnen vorlese?«
»Ja, bitte.«
»Zur sofortigen Veröffentlichung. Gray Corporation. 0704 Greenwich-
Zeit. Die Gray Corporation verkündete heute die erfolgreiche Abbremsung eines Asteroiden in eine erdnahe Umlaufbahn. Die letzte Abfangphase wird in ungefähr achtundvierzig Stunden beendet sein. Unmittelbar danach wird mit Abbau-Arbeiten begonnen werden. Die Gray Corporation nimmt ab heute Bewerbungen für das Astronauten-Training entgegen. Interessier te Personen sollten in einem der siebenhundert Regionalbüros der Firma einen Einstellungs-Antrag ausfüllen. Mr Joseph Gray, Präsident und Vor standsvorsitzender der Gray Corporation, hat gesagt: ›Der Beginn mensch licher Aktivitäten im Weltraum in großem Maßstab markiert den Beginn einer neuen Epoche in der Geschichte der Menschheit. Wir bei der Gray 339
Corporation sind bereit, uns den Herausforderungen zu stellen, die das Leben im neuen Jahrtausend mit sich bringen wird.‹« Laura kicherte und sagte: »Ich vermute, es gibt eine ganze Reihe von Leuten, die für diese Herausforderungen keineswegs bereit sind.« »Ich bin sicher, dass viele hier auf der Insel, die mit Mr Grays Techno logien vertraut sind, aus dieser Pressemitteilung einen Hinweis herausge lesen haben. Ihre Fragen folgten einem Muster und Mr Gray wurde immer wieder aufgefordert, genau zu definieren, in welche ›Epoche‹ wir eintreten und welchen ›Herausforderungen‹ wir uns stellen müssen. Als einige be haupteten, die Sprecher von hastig organisierten Komitees von Angestell ten oder Familienangehörigen zu sein, berief Mr Gray eine Versammlung ein. Trotz der späten Stunde war sie gut besucht. Es gab einen umfassen den und offenen Meinungsaustausch, und im Anschluss daran bot Mr Gray denjenigen, die es wünschten, eine Abfindung in Höhe von hundertachtzig Tagen Gehalt und freien Rückflug zu jedem Ort ihrer Wahl an. Bis jetzt haben sich 147 von den 1536 der auf dieser Insel wohnenden Mitarbeiter entschieden, Mr Grays Angebot anzunehmen und sind im Begriff, zusam men mit ungefähr zweitausend Familienangehörigen abzufliegen.« »Was ist mit den Berichten über frei herumlaufende Roboter? Ich habe gehört, dass ein kleiner Junge gesehen haben will, wie ein Roboter gegen eine Mülltonne stieß oder etwas dergleichen.« »Ich habe mir diese Berichte angeschaut und…« Ein lautes Kreischen drang in Lauras Kopfhörer. Der Computer sagte etwas, aber die Geräusche hatten keinerlei Ähnlichkeit mit Worten. Nur ihr Rhythmus und ihre Ab stände deuteten auf Sprache hin. »Hey!«, rief Laura und das Geräusch brach ab. »Irgendetwas ist mit dei ner Stimme nicht in Ordnung.« Laura lief schweigend weiter und wartete darauf, dass der Computer sein Problem behob. Sie nutzte die Gelegenheit, um ihr Tempo zu steigern. Die Landschaft glitt in einer endlosen Welt idyllischer Schönheit an ihr vor über. Hier gab es keine Fahrzeuge, auf die sie hätte achten müssen. Keine Schlaglöcher. Keine scheußlichen Reklametafeln. Keine lästigen Berech nungen, wann man umkehren musste, damit man wieder da ankam, wo man gestartet war. Dies war eine in Folie verpackte, vollkommene Welt. 340
Sie konnte sogar die Geräusche von fließendem Wasser hören und das Tappen ihrer Füße auf Planken, als sie eine malerische Holzbrücke über querte. Wenn man jetzt noch das Zwitschern eines Vogels im Hintergrund hinzufügte – was, wie sie feststellen konnte, das Programm tat –, wer brauchte dann jemals wieder die Realität? Es war perfekt – und sie hasste es. »Bitte entschuldigen Sie die technische Störung«, sagte schließlich der Computer. »Ich glaube, jetzt ist alles wieder in Ordnung.« »Großartig. Hör mal, könntest du vielleicht… ich weiß nicht, wie ich es ausdrücken soll… etwas Interessanteres aufbieten? Ich meine, dieses Jogging-Programm ist ja recht nett, aber es wird auf die Dauer ein bisschen langweilig.« »Das Laufband wird zwar als Virtual Reality-Vorrichtung bezeichnet, aber in Wirklichkeit ist es nur ein hochentwickeltes Laser-Disc-System. Es liefert ein hohes Maß an Auflösung, weil die Bilder alle gefilmt worden sind, aber das macht leider die Vorführung invariabel. Aber wie war’s damit?« Die Szenerie veränderte sich schlagartig, und Laura verlor im Laufen beinahe ihr Gleichgewicht. Das Tosen einer Menge flutete in ihre Ohren; sie fand sich in einer Gruppe von Langstreckenläuferinnen wieder. Ihr größeres Tempo veranlasste Laura, zu etwas überzugehen, was sich wie ein Sprint anfühlte. Die Frauen um sie herum trugen eng anliegende Shorts und Turnhemden mit Startnummern auf Vorder- und Rückseite. »Auf der Spur bleiben!«, rief eine Frau links von Laura in ausländisch klingendem Englisch und mühsam atmend, als sie kurz vor einer Biegung überholte. Andere Läuferinnen begannen an der Innenseite zu überholen, und Laura beschleunigte ihr Tempo mit heftig pumpenden Armen und Beinen noch mehr. Eine hagere Frau an der Spitze der Gruppe stolperte und brachte die Läuferin vor Laura aus dem Rhythmus. Ein Stückchen weiter stolperte die Spitzenläuferin abermals und stürzte auf die Bahn. Das Feld teilte sich, und die Läuferinnen stießen sich beim Passieren an. Laura ertappte sich dabei, dass sie instinktiv der gestürzten Frau auswich. Dabei geriet sie in die Bahn einer anderen Läuferin, und die Frau begann in ir gendeiner osteuropäischen Sprache laut zu fluchen. Plötzlich kam hinter 341
der langgestreckten Kurve eine große weiße Hürde in Sicht. Sie stand quer zur Bahn, und unmittelbar hinter ihr lag ein breiter Wassergraben. Laura wurde langsamer, blieb dann stehen, und die Läuferinnen rasten an ihr vorbei. Die »Schrittmacherin«, die den übrigen weit voraus war, erreichte die Hürde und sprang hoch, setzte einen Fuß auf die hölzerne Barriere und landete im Wasser auf der anderen Seite. »Was ist das?«, rief Laura durch den Lärm der Menge hindurch. »Das ist der olympische Hindernislauf«, erklärte der Computer bereit willig. Die Gruppe setzte ihren Lauf fort, und eine Läuferin nach der anderen sprang auf die Hürde und verspritzte Wasser auf die rote Bahn. Die Leute auf den Tribünen in Lauras Nähe erhoben sich und begannen laut zu pfei fen und zu buhen, wobei sie sie direkt ansahen. Sie war versucht, die Menge ihrerseits anzubrüllen, aber die Vernunft behielt die Oberhand, und sie wandte sich stattdessen an den Computer. »Hör mal, als ich nach etwas anderem fragte, habe ich nicht den olympi schen Hindernislauf gemeint.« »Wie wäre es mit Mr Grays Lieblingssport?«, fragte der Computer. »Football?«, fragte Laura mit unverkennbarem Sarkasmus zurück. Zu mindest hatte sie geglaubt, er wäre unverkennbar. Aber der Computer hatte kein Organ für die Nuance, und die Szene vor Lauras Augen veränderte sich mit Schwindel erregender Schnelligkeit. Ein großer Mann mit Helm und Schulterpolstern stand einen guten Meter vor Laura. Seine Arme hingen locker vor seinen massigen Oberschenkeln, aber seine Finger zuckten hyperaktiv. Durch das Getöse der Zuschauer in dem voll besetzten Stadion hindurch hörte Laura, wie jemand mit einem heiseren Bellen »Runter!«, rief. Sie drehte sich um und fand den Verursa cher des Geräuschs – der Quarterback »ihrer« Mannschaft. Massige Spie ler zu beiden Seiten der Linie duckten sich um einen Football herum nie der, und die Hände des Quarterbacks schoben sich unter das breite Hinter teil des Mittelstürmers. »Dir werd’ ich’s zeigen!«, hörte sie von Nummer siebenunddreißig, die ihr auf der anderen Seite der Linie gegenüberstand. Laura stand ganz für sich allein weit draußen an einer Seite des Getümmels. Ich muss ein Re 342
ceiver sein, begriff sie, und ihr Herz begann zu flattern. »Bring den Scheiß nicht in meine Richtung!«, rief der Mann ihr gegenüber, ohne den Blick vom Quarterback abzuwenden. »Sonst bekommst du einen Tritt in den Arsch!« »Zwei!«, brüllte der Quarterback. »Siebenundvierzig!« Das Getöse der Menge wuchs zu einem Crescendo an. »Zwei!«, brüllte der Quarterback abermals – offensichtlich Laura direkt anstarrend. »Siebenundvierzig!« Der Quarterback hob seinen rechten Absatz und stampfte ihn wieder her unter. Ein anderer Receiver aus ihrer Mannschaft begann langsam hinter dem Quarterback her in Richtung auf Lauras Seite des Feldes zu trotten. Laura war wie gebannt von dem, was sie um sich herum sah und hörte. Über dem Ganzen konnte sie sogar die Goodyear-Reklame erkennen. »Los!«, schrie der Quarterback wieder, aber als Laura hinschaute, rührte sich niemand. Sie wollte wissen, wie es weiterging, ohne aber einbezogen zu werden. »Los!«, schrie er erneut, aber immer noch passierte nichts. Der Receiver, der sich in Bewegung gesetzt hatte, trottete immer noch direkt hinter dem letzten Feldspieler zu seinem Platz.«Los! Los doch!« Alle um den Ball herum prallten mit dem lauten Klatschen der Polster gegeneinander. Es gab bösartiges Geknurre von brutalen Männern und dann die tief aus dem Zwerchfell kommenden und von heftigen Zusam menstößen ausgelösten Grunzlaute. Laura erinnerte sich erschrocken, dass sie auf den Mann ihr gegenüber aufpassen musste. Er war gerade dabei, einen kontrollierten Angriff einzuleiten, hatte beide Unterarme erhoben und war bereit, zuzuschlagen. »Auszeit!«, rief Laura, und der Computer reagierte bereitwillig. Alles an dem Bild erstarrte, und das Getöse der Menge verwandelte sich mit einem letzten Rülpston aus ihrem Kopfhörer in Totenstille. Laura sah sich um und betrachtete das stumme Bild. Die riesigen Feldspieler waren immer noch ineinander verkeilt. Der Receiver, der auf ihre Seite des Balls herü bergekommen war, befand sich bereits mehrere Schritte von der Linie entfernt und war nach dem »Rempler« eines wesentlich größeren Hinter feldspielers aus dem Gleichgewicht geraten. Der Laura deckende Vertei diger starrte sie mit weit aufgerissenen und drohenden Augen an. Ihr war fast schlecht vor Angst, obwohl sie wusste, dass er nicht wirklich 343
auf sie einschlagen konnte. »Äh, Computer«, sagte sie und schluckte, um ihre Kehle anzufeuchten, »vielleicht können wir das ein andermal machen. Im Augenblick ist mir nicht nach Football zumute.« »Aber der Quarterback wird Ihnen gleich den Ball zuwerfen. Laufen Sie einfach zur Zwanzig-Yard-Linie und dann im Winkel von fünfundvierzig Grad quer über die Feldmitte ins Aus. Laufen Sie so schnell und so gerade, wie Sie können. Der Pass wird ein bisschen hoch sein, aber innerhalb Ihrer Reichweite und kommt genau im richtigen Augenblick.« »Ich bin sicher, dass es ein wundervolles Spiel ist, aber in Wirklichkeit wollte ich nur ein bisschen Training.« Sie hatte sich umgedreht und be trachtete jetzt die dicht besetzten Ränge des Stadions. Das Bild der Menge auf den Tribünen war vollkommen bis ins kleinste Detail. »Würden Sie lieber Running Back spielen? Mr Gray liebt diese Position nicht sonderlich, weil man im Durchschnitt nicht mehr als vier Meter herausholen kann, aber…« »Nein«, unterbrach Laura. »Alles okay.« »Unsere Beta-Tester haben herausgefunden, dass der typische Benutzer eine Steigerung seiner aerobischen Konditionierung um sechsundzwanzig Prozent erreicht, wenn er sich der Simulation einer Mannschaftssportsart unterwirft, verglichen mit den Programmen von Einzelsportarten.« Laura stieß einen tiefen Seufzer aus. »Ich glaube, für einen Tag habe ich genug vom Training.« Sie streckte die Hände aus, um den Helm abzuneh men. »Aber Sie sind nur eins Komma neun Kilometer gelaufen. Bei ihren frü heren Läufen waren es jeweils sechs bis acht Kilometer.« »Das hier ist einfach nicht mein Ding.« »Möchten Sie etwas viel Interessanteres sehen? Etwas viel, viel Interes santeres?« Laura zögerte, mit dem Helm immer noch auf dem Kopf. »Was zum Beispiel?«, fragte sie vorsichtig, bereit, sich den Helm vom Kopf zu rei ßen, falls sie in einem Kickbox-Programm landen sollte. »Das kann ich Ihnen auf dem Laufband nicht zeigen. Dazu müssten Sie in die Virtual Reality-Workstation gehen.« »Dabei handelt es sich doch nicht etwa um eine Art Super-Football, o 344
der? Weil mir der Gedanke nicht gefällt, zwischen einem Haufen von Machos zu stecken, in einer von Grays Phantasiewelten, in der man von diesen Kerlen tatsächlich getroffen wird.« »Wir arbeiten an einer vollständigeren sensorischen Version von ProfiFootball für die VR-Workstations, aber das ist es nicht, was ich im Sinn hatte.« »Also, ich habe nicht vor, mich in eine dieser überdimensionierten Tele fonzellen im Computerzentrum einzuschließen, solange ich nicht weiß, was du vorhast.« »Es sind nicht die Workstations der Version 3 H, an die ich gedacht ha be. Ich möchte Ihnen die VR-Workstations der Version 4 C zeigen. Sie sind weitaus geräumiger als die 3 H Version.« »Aber ich müsste einen vollständigen Anzug tragen – ein Exoskelett –, und die Tür zu dem Raum wäre verschlossen, stimmt’s? Nein, danke.« »Wie Sie wollen.« Laura nahm den Helm ab, trat von dem Laufband herunter und machte sich auf den Weg zur Treppe. Als sie die leere Wand erreicht hatte, die ihr vorher schon aufgefallen war, blieb sie stehen. Wenn ihr Richtungssinn sie nicht täuschte, lag hinter ihr der Fahrstuhlschacht. Laura kehrte zu dem Laufband zurück und setzte den Helm wieder auf. Die einführenden An weisungen über das Ausrichten der roten Punkte wurden wiederholt. »Darf ich dich noch etwas fragen? Bist du immer noch da?« »Ja, Laura. Was möchten Sie wissen?« »Dieser Fahrstuhl – der neben der Treppe, über die man in den Trai ningsraum kommt – wohin führt der?« »Der führt in die tieferen Etagen.« »Welche tieferen Etagen?« »Hinunter in den Berg. Dorthin, wo die Achter-Modelle sind.« Laura nahm den Helm ab und starrte die flache, leere Wand an. Mit vom Duschen noch feuchten Haaren ließ sich Laura an ihrem Schreib tisch nieder, um Jonathan anzurufen. Was soll ich bloß sagen?, dachte sie, als sie den Hörer abnahm. Er meldete sich nach dem zweiten Läuten. 345
»Jonathan?« »Hi, Laura.« Sein Tonfall wirkte flach – unsicher –, als wüsste er nicht, wie er sich verhalten sollte. »Ist alles okay?«, fragte sie. »Das fragst du mich? Was geht dort unten vor?« »Wenn ich es dir erzählte, würdest du mir nicht glauben.« Er lachte, es war ein gezwungenes, falsches Lachen. So hatte er sich verhalten, bevor er sich geoutet, bevor er seinen Lehrstuhl in der Tasche hatte. Etwas war ganz eindeutig nicht in Ordnung. »Also«, sagte Laura verlegen, »ich kann dir natürlich nichts erzählen. Ich darf es nicht. Ich habe – ich habe mich zur Vertraulichkeit verpflich tet.« Sie zwang sich zu lachen. »Und ich möchte nicht von Grays Anwäl ten verklagt werden. Sie könnten sich mein Familienvermögen unter den Nagel reißen und mich ohne einen Pfennig zurücklassen.« Nach kurzem Zögern erwiderte Jonathan tonlos: »Ich verstehe.« Sie wusste nicht, was sie als nächstes sagen sollte. »Hör mal, Laura«, fuhr Jonathan mit offenkundigem Unbehagen fort, »nach allem, was man so hört, verlassen massenhaft Leute die Insel. Wirst du in einem dieser Flug zeuge sitzen?« »Ich weiß es nicht.« Wieder trat eine längere Pause ein. »Also«, sagte er, »was hat es mit den Dingen auf sich, die man so hört? Dass Gray sich ein Arsenal von Atom waffen zulegt – Dinge dieser Art? Ich finde, Gray ist wirklich eine Bedro hung. Hast du nicht auch den Eindruck, dass er den Verstand verloren hat?« »Das… das ist durchaus nicht der Fall, Jonathan. Das hast du falsch ver standen, Gray ist…« »Laura!«, unterbrach Jonathan. Er ließ sie nicht weiterreden. »Verstehst du eigentlich, was da unten vor sich geht?« Jetzt sprach er eindringlich, aufgeregt. »Himmel, da müssen…« Er zögerte. »Sämtliche Regierungs stellen sind hinter Gray her, vom Verteidigungsministerium bis zum Staat lichen Gesundheitsdienst. Er ist auf dem Weg nach unten. Ich rede von kriminellen Machenschaften.« Das war wieder der echte Jonathan, da war Laura sicher. »Und das tut auch ein Haufen anderer Leute«, fuhr er lang 346
sam fort und machte dann eine Pause, um diese Worte wirken zu lassen. »Laura, meine Liebe«, redete er weiter, »du musst sofort von dieser Insel verschwinden. Heute noch. Dort unten wird bald der Teufel los sein.« Ihre Gedanken überschlugen sich. Sie steckte zwischen zwei Welten – der Welt ihres alten Lebens und der des Lebens nach Grays Art. Sie wuss te nicht, was sie sagen oder tun sollte. »Laura?« »Jonathan…«, begann sie, dann seufzte sie frustriert. »Du weißt doch, wie die Medien die Dinge verzerren. Sie finden irgendeine sensationelle Story über eine bekannte Persönlichkeit und verdrehen sie dann solange, bis sie eine Schlagzeile herausholen können.« »Meinst du Gray? Verdrehen die Zeitungen die Tatsache, dass er Atom waffen gebaut und in den Weltraum hinaufbefördert hat und jetzt einen Asteroiden auf die Erde zurasen lässt? Einen, der unser aller Ende bedeu ten könnte, wenn er Mist baut?« »Er hat ihn unter Kontrolle«, sagte sie, verblüfft über die Worte, die aus ihrem Mund kamen. »Und weshalb zum Teufel bist du dann dort?«, fragte Jonathan mit lei ser, eindringlicher Stimme. »Was tust du da?« Ein leises Zischen in der Leitung war alles, was sie hörte, während er auf ihre Antwort wartete. Lauras Blick verschwamm und driftete zur gegenüberliegenden Wand. »Komm zurück, Laura. Ich weiß nicht, was für eine Art von seltsamer Anziehungskraft dieser Gray auf Menschen ausübt, aber du bist dafür zu intelligent. Du musst doch sämtliche Anzeichen erkennen können. Cha rismatische Persönlichkeit, um ihn herum wachsende Glaubenskulte. Das ist doch ein klassischer Messias-Komplex. Verschwinde von dort, Laura – solange du es noch kannst.« Wie in Trance sagte sie: »Ich rufe später wieder an.« »Laura, ich weiß nicht, ob das eine gute Idee ist.« »Was meinst du damit?« »Ich meine…« Er zögerte, außerstande, den Satz zu beenden. Dann seufzte er. »Vielleicht… vielleicht solltest du mit einem Anwalt reden. Ich mache gern drüben in der Juristischen Fakultät einen für dich ausfindig. Aber vielleicht, Laura… vielleicht war es besser, wenn du mit überhaupt 347
niemandem reden würdest – am Telefon, meine ich.« Also das war es. Jemand hörte mit. »Bis später, Jonathan«, sagte sie. »Auf bald, Laura. Hoffentlich.« Es folgte ein Klicken, dann verstummte das Zischen der Interkontinen talleitung. Zuerst legte Laura nicht auf. Doch dann ließ sie den Hörer lang sam auf die Gabel sinken und lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück – völlig allein mit ihrem Problem. Sie schlug die Hände vors Gesicht. »Was zum Teufel soll ich tun?«, murmelte sie, wobei die Worte von ihren vorgehal tenen Händen verzerrt wurden. Ihre Handtasche lag neben dem Telefon. Sie holte ihre Brieftasche her aus und fand in einem der Fächer die FBI-Karte mit der Telefonnummer. Sie sollte anrufen und auspacken. Vermutlich waren sie ganz wild auf Informationen, und was sie wusste, würde Bände füllen. Sie würden sich bestimmt auf die Flugzeuge mit den ehemaligen Angestellten stürzen, aber was konnte der gewöhnliche Arbeiter ihnen schon berichten? Es herrschte Mangel an Fakten, aber, das war ihr klar, nicht an Gerüchten. Laura versuchte sich vorzustellen, was passieren würde, sobald Gerüchte über riesige, anthropomorphe Roboter durchsickerten. Stories über die dunklen Seiten der Technologie waren immer populär, und die Presse würde sich überschlagen, wenn sie davon Wind bekäme. Dann füge man noch einen geistig gestörten Computer hinzu, der die Flugbahn eines her abstürzenden Asteroiden berechnete… Die Regierung wird Raketen schi cken, dachte sie. Ungeachtet ihrer Verzweiflung musste sie über ihre Wortwahl lächeln. Sie hatte an die »Flugbahn« des Asteroiden gedacht und war bei dem Wort »Raketen« gelandet. Der Dekan hatte gesagt »hat im Campus eingeschla gen wie eine Tonne Ziegelsteine«, als er die Auswirkungen der Nachricht über den Asteroiden beschrieb. Menschliche Gehirne neigten nun einmal zu derartigen Assoziationen. Manchmal waren die Assoziationen hilfreich und rührten zu Erkenntnissen. Zu anderen Zeiten waren sie rein zufällig und gelegentlich sogar amüsant. Das »Gehirn« des Computers funktionier te auf dieselbe Art. Jetzt wusste Laura plötzlich, was sie tun würde. Die Antwort war schon 348
die ganze Zeit dagewesen, aber sie hatte sich zu verunsichert gefühlt, um klar denken zu können. Der Computer war die wundervollste Schöpfung, die ihr je begegnet war. Laura wollte unbedingt ihre Forschungsarbeit fortsetzen – das ganze Ausmaß der Komplexität des Computers ergründen; zur rechten Seite seines Schöpfers sitzen bleiben – und sich sämtliche Vernunftgründe kon struieren, die erforderlich waren, um sie zum Bleiben zu bewegen. Sie holte tief Luft, schloss die Augen und ließ den Kopf an die Lehne des weich gepolsterten Stuhls sinken. Es war noch früh am Morgen, aber sie konnte schon jetzt die Anspannung, konnte ein Hämmern in ihren Schläfen spüren. Unter welchem Druck muss Gray erst stehen, dachte sie. Sie beugte sich vor und warf die FBI-Karte in den Papierkorb. »Charismatische Persönlichkeit«, »Kult«, »Messias-Komplex« – Jona thans Worte hörten sich wie eine Warnung an. Oberflächlich betrachtet schien keines davon auf Gray zuzutreffen. Aber die Insel war isoliert, von jedem Kontakt mit der Außenwelt abgeschnitten, hierarchisch; man ver folgte hier idealistische, Aufgaben-Orientierte Ziele. Gray hatte eine Ver sammlung einberufen und verkündet, dass sie den Weltraum kolonisieren würden. Die Art, wie Janet ihr das erzählt hatte – mit träumerischer Stim me und funkelnden Augen –, hatte Laura zu denken gegeben. Janet war ihr zu loyal, zu folgsam vorgekommen. Aber Hunderte, die wie Janet waren, würden ihm überallhin folgen. In der Geschichte wimmelte es von Bei spielen relativ vernünftiger Leute, die völlig wahnsinnigen Anführern folgten. Vor ihrem inneren Auge erschien das Bild des lautlos auf die Erde zura senden schwarzen Metallklumpens. Sie bückte sich, holte die FBI-Karte wieder aus dem Papierkorb und steckte sie in die Gesäßtasche ihrer Jeans.
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11. KAPITEL Laura kam sich albern vor, als sie ganz allein in Grays fürstlichem Ess zimmer saß. Sie hatte Janet um ein Bagel und vielleicht eine Banane gebe ten und hatte eine Platte mit Gebäck und eine Obstschale bekommen. Schuldbewusst, weil sie so wenig aß, futterte sie sich gerade durch die aufgeschnittenen Erdbeeren und Kiwis hindurch, als sie Grays Stimme hörte, der im Foyer Anweisungen erteilte. Sie warf ihre Serviette auf den Tisch und eilte hinaus. Zuerst erkannte sie ihn nicht, weil er von Kopf bis Fuß mit einer dicken Schlammschicht bedeckt war. »Und suchen Sie den Strand nach Spuren ab, bevor die Hut aufläuft!«, rief Gray dem entschwindenden Hoblenz nach, der ebenso verdreckt war. Gray drehte sich um und entdeckte Laura. Sein Gesichtsausdruck wirkte erschöpft, die Augen waren eingesunken. Er strebte wortlos auf die Treppe zu, aber Laura fing ihn am Geländer ab. »Was ist los?«, fragte sie; er blieb stehen und sah sie an. »Wo sind Sie gewesen?« »Querfeldein heißt das wohl«, entgegnete er. Jeder Quadratzentimeter an ihm war dunkelgrau vor Schlamm, ausgenommen die Umgebung seiner Augen und sein Haar. Er musste wohl eine Schutzbrille und irgendeinen Helm getragen haben. Wie üblich äußerte er sich nicht eingehender. Janet war bereits dabei, den Schmutz wegzukehren, der ins Haus getra gen worden war. »Weshalb muss Janet das tun?«, fragte Laura flüsternd. Gray warf einen Blick auf die Vorsteherin seines Haushalts. »Sieht so aus, als wäre ein Teil des Personals heute nicht zur Arbeit erschienen. Sind wahrscheinlich mit allen anderen unten am Flughafen.« »Verlassen viele Leute die Insel?« Gray nickte, anscheinend gleichgültig. »Aber das macht nichts. Alles ist weitgehend automatisiert.« Er warf wieder einen Blick auf Janet. »Alles außer Hausarbeit.« »Aber können Sie Ihre Vorhaben mit so wenigen Leuten weiterführen?« 350
»Ein paar hundert reichen völlig aus. Sie brauchen sich keinerlei Sorgen zu machen, Laura.« »Ich habe Ihnen frische Jeans herausgelegt«, sagte Janet mit ihrem un verwechselbaren australischen Akzent. Sie lächelte und eilte mit Besen und Kehrblech davon. »Sie jedenfalls ist so loyal, wie man es sich nur wünschen kann«, be merkte Laura – ein Versuch, festzustellen, ob die abreisenden Mitarbeiter ein heikles Thema waren. »Janet ist großartig«, erwiderte er beiläufig. »Und vermutlich außerdem die bestbezahlte Haushaltsvorsteherin in der Geschichte dieser Professi on.« »Sie hat mir erzählt, Sie wollten den Weltraum kolonisieren«, warf ihm Laura abrupt hin – ein beabsichtigter Hinterhalt. Grays Augen fixierten Laura, und sein Ausdruck änderte sich von Über raschung zur Belustigung. »Wie ist sie denn auf diese Idee gekommen?«, fragte er mit unbewegter Miene. »Haben Sie so etwas nicht letzte Nacht auf Ihrer ›Bürgerversammlung‹ gesagt?« Gray zuckte die Schultern und schüttelte den Kopf, was zur Folge hatte, dass weiterer Schmutz auf den Marmor fiel, der Janet noch mehr Arbeit machen würde. »Ich kann mir nicht vorstellen, wie sie darauf gekommen ist.« »Sie hat gesagt, Sie hätten es ›Phase Zwei‹ genannt.« »Nun ja – ich habe über Phase Zwei gesprochen. Und die ist mit be trächtlichen bemannten Unternehmungen im Weltraum verbunden; im Zusammenhang mit der Ausbeutung des Asteroiden, daraus resultierender industrieller Produktion und sogar mit einer permanent bemannten Station – auf Rotationsbasis.« »Und vielleicht«, fuhr Laura nonchalant fort, »eine Landung auf dem Mond, oder den anderen Planeten, Dinge dieser Art?« Gray öffnete den Mund, um zu antworten, aber es kam nur ein Atemstoß heraus. Er wählte seine Worte sorgfältig. »Eines Tages, nun ja… Der Asteroid und die ande ren, die ich in der nahen Zukunft einzufangen gedenke, sind zwar eine hervorragende Quelle für Schwermetalle, aber wir brauchen auch leichtere 351
Elemente, wie zum Beispiel Silikate. Und die kann man nur von der Ober fläche planetenähnlicher Himmelskörper bekommen. Haben Sie gewusst, dass es möglich ist, aus dem Mondboden Sauerstoff zu gewinnen?« Laura schüttelte den Kopf. »Nein. Nie gehört.« Gray wusste offenbar, dass er Laura nicht von ihrer Fährte abgebracht hatte, denn er redete weiter. »Aber das Wort ›Kolonisation‹ oder etwas dergleichen habe ich kein einziges Mal verwendet.« »Kann es sein, dass Sie Vorhaben dieser Art nur mit groben, breiten Pin selstrichen angedeutet haben?« »Laura«, sagte er mit besänftigender Stimme, »hören Sie… Janet muss sich da etwas eingebildet haben. Vielleicht ist das irgendein rudimentärer kultureller Zug des britischen Charakters. Ein Vermächtnis der langen Jahre des Empires, das sie veranlasst, in Begriffen wie Kolonien zu den ken.« »Sie ist Australierin.« Er verstummte. Nach kurzer Pause sagte er: »Oh…« Laura war verblüfft, wie wenig er über die Vorsteherin seines Haushalts wusste, der er vertrau te und die ihm ergeben war. »So, und jetzt muss ich wirklich unter die Dusche. Gibt es sonst noch etwas, was Sie wissen möchten?« »Wo sind Sie und Hoblenz denn auf Ihrer ›Querfeldein‹-Tour letzte Nacht gewesen?« Wieder setzte er zum Reden an, und wieder zögerte er. »Also, Sie kön nen mich nicht einfach fragen, was Ihnen gerade einfällt, und mit einer Antwort rechnen.« »Weshalb nicht?« Gray schien keine befriedigende Erklärung parat zu haben und wurde ein wenig nervös. Er seufzte, dann sagte er: »Ihnen ist natürlich klar, dass Hoblenz meint, ich sollte nicht mehr mit Ihnen reden. Er traut Ihnen nicht.« »Und was ist mit Ihnen? Trauen Sie mir?« Es war eine beiläufig gestellte Frage, keine, über die sie lange nachge dacht hatte. Aber er schaute zu ihr auf und ihre Blicke trafen sich. »Ja«, erwiderte er ernsthaft und sie bedauerte sofort, dass sie gefragt hatte. Seine Antwort löste in ihr ein Gefühl der Verpflichtung ihm gegenüber aus, eine 352
Loyalität, gegen die zu verstoßen sie vielleicht eines Tages gezwungen sein würde. »Soweit ich überhaupt jemandem trauen kann, nehme ich an.« Das Band war zerrissen, und sie fühlte sich wieder frei. Frei und ent täuscht. »Also, wo sind Sie gewesen? Was haben Sie getan?« Gray wirkte auf einmal kleiner, erschöpft. Sein Blick heftete sich auf den Fußboden, und er sagte: »Wir waren draußen im Dschungel, in der Nähe von Rampe A.« »Und was haben Sie dort getan?« Diesmal schien sein Zögern weniger dem Widerstreben zu entspringen, ein Geheimnis preiszugeben, als vielmehr der Mühe, die es ihm bereitete, über dieses Thema zu sprechen. Seine Miene verfinsterte sich, und er ließ den Kopf sinken – ein Ausdruck großer Traurigkeit. »Wir haben nach Spuren gesucht«, sagte er schließlich mit abwesender Stimme. »Was für Spuren? Meinen Sie Fußabdrücke?« Gray nickte langsam. »Wie die, nach denen Hoblenz jetzt am Strand suchen soll?« Gray nickte abermals. »Haben Sie welche gefunden?« »Das war’s, Laura. Das ist alles, was ich Ihnen sagen kann.« Er wendete sich zum Gehen, aber sie packte seinen schmutzigen Arm. Erdbrocken rieselten auf den Boden. »Nein, das ist es nicht, Joseph Gray. Das ist gegen unsere Abmachung.« Er drehte sich schnell um und sah sie an. Sein Gesicht war nur wenige Zentimeter von ihrem entfernt. Sie war sich der Tatsache ihrer großen Nähe vollauf bewusst. »Und wie lautete unsere Abmachung, Laura?« »Unsere Abmachung«, sagte sie und schluckte, um ihre Kehle anzu feuchten, »war, dass ich mehr erfahre.« Sie ließ seinen Arm los. »Und… was weiter? Wollen Sie auch abreisen?« Er war offensichtlich erschöpft, niedergedrückt vom Gewicht auf seinen Schultern. »Nein«, erwiderte sie leise. Sie sehnte sich danach, ihn wieder anzufassen, seinen Arm zu berühren, einen warmen Waschlappen zu neh men und sanft das verschmutzte Gesicht zu säubern. Gray hob die Hände und rieb sich heftig beide Augen. Als er wieder in ihre Richtung schaute, waren seine Augen nicht die strahlend blauen Fens ter zu dem Genie dahinter. Es waren die roten und trüben Linsen, durch die Menschen am Rande eines Zusammenbruchs die Welt betrachten. 353
»Es gibt einen Eindringling«, sagte er. »Hoblenz’ Männer haben in der Nacht mit Hilfe von Wärmeortungsgeräten Spuren gefunden. Die Fu ßabdrücke waren noch warm von der Körperwärme des Mannes.« »Woher wissen Sie, dass es ein Mann war? Haben Sie ihn gefunden?« Gray blinzelte und versuchte, klar zu sehen. Dann schaute er ihr ins Ge sicht, was ihn sehr viel Anstrengung zu kosten schien. »Ja.« »Mitten in diesem dichten Dschungel neben der Startrampe?« Gray nick te. »Wer ist es?« »Ein Soldat.« Seine Stimme hörte sich so abwesend an, als durchlebte er während des Sprechens die Szene noch einmal. »Aus welchem Land?« »Belgien, meint Hoblenz«, sagte Gray, bevor er noch weiter davondrifte te. »Der Mann hatte am Rande des Dschungels ein Überwachungsgerät aufgestellt. Hoblenz sagt, es würde Videoaufnahmen von der Montagehal le und dem Computerzentrum an einen Satelliten übermitteln. Nichts Be sonderes, normales NATO-Gerät.« »Wo ist der Mann jetzt?« Gray war vor Erschöpfung halb zusammenge sackt. Er antwortete nicht. »Oh, mein Gott«, flüsterte sie und schlug dann die Hände vor den Mund. »Hoblenz hat doch nicht…? Sie haben ihm… doch nichts getan?« Gray schüttelte den Kopf, und Laura entspannte sich. »Er war schon tot.« Er konnte ihr nicht in die Augen sehen. »Warum?«, fragte sie schließlich. »Wie ist er gestorben?« »Schwere Verletzungen«, sagte Gray mit einem müden Seufzer. Er schaute zu ihr auf. »Verstümmelungen.« »Großer Gott, Joseph. Ein Roboter?« Ihm war offensichtlich wieder sehr unbehaglich zumute. »War es das? Könnte es ein Roboter gewesen sein? Ich habe nämlich gesehen, wie ein Siebener-Modell – und dann noch eins – genau aus dieser Gegend kam, als ich gestern zu der Startrampe ging, um Sie dort zu treffen. Und wenn ich mir’s genau überlege – die Roboter machten einen irgendwie… verdächtigen Eindruck, als hätte ich sie bei etwas ertappt, das sie…« »Nein«, fuhr Gray auf, dann beruhigte er sich rasch wieder. »Nein, Lau ra.« 354
»Aber was hätte es sonst gewesen sein können? Ich meine – hat jemand dem armen Mann die Arme oder die Beine gebrochen? Ist er verblutet?« Gray holte tief Luft, bevor er antwortete. »Sein Kopf war abgerissen.« Sie starrte ihn in fassungslosem Schweigen an. »Oh, mein Gott, Joseph. Wie können Sie sagen, es wäre kein Roboter gewesen?« »Ich habe nicht gesagt, dass es kein Roboter war!«, fauchte er, und Lau ra verstummte. Gray schluckte hart. »Hoblenz hat die Leiche mit Infrarot von einem Hubschrauber aus entdeckt. Seine Männer haben das ganze Gebiet mit Wärmeortungsgeräten abgesucht, aber sie haben keinerlei Spu ren gefunden. Es dauert ungefähr zwölf Stunden, bis ein Fußabdruck aus gekühlt ist, also hätten wir die Spuren des Mannes finden müssen. Schließ lich hat Hoblenz diese starken Scheinwerfer eingesetzt, die man bei Nachtarbeit auf Baustellen verwendet, und da haben wir sie gesehen. Ü berall im Dschungel.« »Aber ich dachte… Haben Sie nicht gesagt, dass Sie keine anderen Spu ren gefunden hätten?« Als er antwortete, sprach er sehr langsam. »Wir haben keine warmen Fußabdrücke gefunden.« Laura war entsetzt, als sie begriff, was er damit meinte. »Es waren Achter-Modelle. Eine Menge von ihnen. Sie haben sich überall im Dschungel herumgetrieben.« Er blinzelte einmal, dann kniff er seine Augen einen Moment lang fest zusammen und riss sie dann wieder auf. »Joseph… Sie brauchen unbedingt ein bisschen Schlaf.« Er holte tief Atem. »Dazu habe ich zu viel zu tun.« Seine Worte klangen verwaschen. »Wollten Sie sonst noch etwas?« Laura wendete den Blick ab und richtete ihn auf die zum Trainingsraum hinunterführende Treppe, die direkt hinter der Wendeltreppe lag. »Ich habe unbeschränkten Zugang zu allen Einrichtungen, richtig? Das war unsere Abmachung.« Gray nickte. »Dann möchte ich mit dem Fahrstuhl zu den Achter-Modellen hinunterfahren. Ich möchte hinunter in den Berg.« Laura war überrascht und beinahe fassungslos, wie anstandslos Gray ih ren Wunsch erfüllte. Alles, was er verlangte, war, dass sie darauf wartete, dass Hoblenz ihr einen Begleiter schickte. 355
Der junge Franzose, der bald darauf eintraf, trug eine schwarze Maschi nenpistole an einem Riemen über der Schulter. Sie eilten in das Unterge schoss von Grays Haus, und der Soldat starrte in einen NetzhautIdentifikator neben dem Fahrstuhl. Kurz darauf war hinter der Mauer des Fahrstuhlschachts das schnell lauter werdende Sirren eines Motors zu hören. »Sie haben gesagt, es dauert ein oder zwei Minuten«, meinte der Mann mit hörbar französischem Akzent. Er trug Stiefel und einen Tarnanzug und, wie die Soldaten jeder Armee, eine Art Tornister. Hervortretende Adern und harte Muskeln zeichneten sich wie Riemen an seinem Hals ab und führten zu einem mit Stoppelhaar und einer gleichfalls tarnfarbenen Baseballmütze bedeckten Kopf. Ein Leben in der Sonne hatte sein Gesicht dunkel bronzefarben gebräunt. Der junge Mann ertappte sie dabei, wie sie ihn musterte, und Laura schaute schnell weg. Es dauerte eine ganze Weile, bis der Fahrstuhl eintraf. Selbst das »Ping«, das sein Eintreffen verkündete, schien verfrüht, weil sie fast eine volle Minuten darauf warten mussten, bis die Tür sich öffnete. Als sie es tat, kam eine Fahrstuhlkabine zum Vorschein, die völlig anders aussah als alle, die sie bisher benutzt hatte. Mit ihren glänzenden roten Plastikwänden und vier gepolsterten, leicht nach hinten geneigten Sitzen mit breiten schwar zen Hüft- und Schulter-Haltegurten sah die Kabine aus wie eine Raumkap sel. »Was hat diese merkwürdige Ausstattung zu bedeuten?«, fragte Laura und versuchte, sich ihre wachsende Nervosität nicht anmerken zu lassen. »Er fährt ungefähr fünfzehnhundert Meter in die Tiefe. Läuft an Magnet schienen.« Der Soldat half Laura beim Anschnallen. Als er seine eigenen Gurte an gelegt hatte, glitt die Tür mit deutlich hörbarem Luftzischen zu. »Zehn Sekunden bis zur Abfahrt«, verkündete eine Frauenstimme, die der im Trainingsraum ähnelte. »Denken Sie daran, Ihre Ohren klarzuhalten«, empfahl Lauras Begleiter und beschleunigte damit das Tempo ihres ohnehin schon rasenden Pulses. »Fünf«, verkündete die Fahrstuhlstimme, »vier, drei, zwei, eins.« Lauras Sitz sackte in der totalen Stille der Kapsel unter ihr weg. Sie 356
wurde hart gegen die gepolsterten Gurte gedrückt, und ihr Magen fühlte sich an, als wäre er ihr in die Kehle gesprungen. Ein leises Sirren wurde lauter, als die Kabine ihre Fahrt in die Tiefe beschleunigte. In Lauras Oh ren knackte und knackte und knackte es, bis die Welt völlig tonlos wurde. Sie warf einen Blick auf den Soldaten, dessen Mund offen stand und der ständig schluckte, um den Druck auf die Ohren zu mindern. Aber auch wenn Laura es ihm gleichtat, bewirkte der rapide steigende Luftdruck der dichteren Atmosphäre, in die sie hinabstürzten, dass sie taub blieb. Die Rummelplatz-Fahrt ließ ihr Herz dermaßen flattern, dass sie kaum noch Luft bekam und zu keuchen begann. Doch der Fahrstuhl be schleunigte immer noch, raste immer schneller den Schacht hinunter. Als sie hochlangte, um sich das Haar aus dem Gesicht zu streichen, schien ihre Hand der Beschleunigung wegen in die Höhe zu schweben. Plötzlich begann der Fahrstuhl mit einer Übelkeit erregenden Verlang samung. Laura hätte beinahe gewürgt, als ihr Magen von der Kehle in die Knie sackte und sich die Belastungen, denen ihr Körper ausgesetzt war, um 180 Grad umkehrten. Sie stöhnte – mit geschlossenen Augen – und konzentrierte sich darauf, sich nicht zu übergeben. Ihre Haut kribbelte und rötete sich und sie spürte, wie auf ihrer Stirn und in ihrem Genick leichter Schweiß ausbrach. Als die Strapaze zu Ende war, wurde ihr das nicht einmal richtig be wusst. Ihre druckverstopften Trommelfelle ließen praktisch keinen Laut durch, aber als sie die Augen öffnete, sah sie, wie der Soldat seine Gurte löste. Die Fahrstuhltür öffnete sich ohne jede Vorwarnung. Sie blickte in einen großen Raum, dessen Wände genau wie die von Krantz’ Atomlabor aus grob behauenem Stein bestanden. Aber der Raum war bei weitem nicht so groß, und es gab darin keine Arbeitsgebäude, sondern einige Cafeteria-Tische. Der Soldat half Laura auf; ihre Beine zitterten. Sie ertastete sich ihren Weg aus der Kabine hinaus und stützte sich an der Felswand direkt daneben ab. »Das war wirklich ein Mordsspaß«, murmelte sie. Die Worte hörten sich durch das Wattegefühl in ihren Ohren fremd an. Der Mann lächelte, ohne in ihre Richtung zu schauen. Stattdessen suchte er mit zusammengekniffe 357
nen Augen blitzschnell die gesamte Höhle ab – äußerst wachsam. Er half ihr, sich auf einem der vier Stühle niederzulassen, die offensichtlich zur Erholung nach der Fahrstuhlfahrt gedacht waren. Eine weitere von Grays Zeitspar-Vorrichtungen, dachte Laura, genau wie die infernalischen Entstauber und die Dreier-Modelle, die mit hundertfünfzig Stundenkilo metern auf der Insel herumfegten. Der Soldat nahm seine Waffe von der Schulter und umklammerte den Pistolengriff mit dem Finger am Abzug. Er hielt die Waffe zwar ständig auf den Boden gerichtet, schien aber bereit, sie jede Sekunde zu gebrau chen. Während er langsam weiter in den Raum hineinging, suchten seine Augen nach einem Ziel, fanden aber keines außer den Plastikstühlen und den Tischen einer leeren Cafeteria. »Al-lo?«, rief er. Der Riemen der Maschinenpistole klatschte gegen sei nen Schenkel, als er die Waffe noch fester packte. Laura erhob sich, um ihm zu folgen, und ihr Stuhl scharrte über den Boden. Der Soldat wirbelte zu ihr herum und hob die Waffe, drehte sich dann aber schnell wieder dem leeren Raum zu. Ihm war nicht nur unbehaglich zumute; er war angespannt und ständig einer Gefahr gewärtig. Laura frag te sich, welche Art von Instruktionen er von Hoblenz erhalten hatte oder welche Gerüchte in der Truppe umliefen. Sie bahnte sich ihren Weg zwischen den Tischen hindurch. Es waren keinerlei Anzeichen irgendwelcher Aktivitäten zu sehen. Die Tabletts waren alle säuberlich in ihren Gestellen neben der Essens- und Getränke ausgabe gestapelt. Es lagen keine Abfälle auf den Tischen – keine umge kippten Tassen, keine umgeworfenen Stühle, keinerlei Anzeichen für eine hastige Flucht. Laura hielt sich dicht hinter dem Soldaten. Ihre Ohren waren wieder frei, doch in der Höhle herrschte Totenstille. Mehrere Gänge führten aus der Cafeteria hinaus – alle dunkel, alle bedrohlich. Und alle, fiel ihr auf, waren wesentlich höher als die größten Menschen. »Allo?«, rief der Soldat in eine gerundet an den Mund gehaltene Hand. Es gab kein Echo, aber das Dröhnen des Rufs in dem umschlossenen Raum erinnerte Laura daran, wo sie war; wie tief unter der Erdoberfläche sie sich befand und wie dick die schwarzen Steinwände um sie herum waren. 358
»Hier unten!«, kam eine ferne Antwort. Der Soldat drehte sich zu Laura um und deutete mit einem Kopfnicken auf den Gang, aus dem sie die Antwort gehört hatten. Sie passierten Automaten. Dann kam eine große weiße Tafel, an der eine Unmenge von Botschaften, Schichtplänen und der neueste Stand der In struktionen hingen. Vor einer Botschaft blieb Laura stehen. Sie war rot umrandet und mit einer deutlich lesbaren Frauenschrift geschrieben. »Hat jemand einen Drachen? 1.3.04 möchte einen haben. Kate M.« »Nicht zurückbleiben«, fuhr der Soldat sie an, und Laura eilte den Gang entlang, um ihn einzuholen. Ihre Schritte auf dem ebenen Betonboden machten kein Geräusch. Der Gang wies keinerlei Merkmale auf, abgesehen von etlichen Türen, die sie passierten und die in die rohen Steinwände eingelassen waren. Die meisten waren normal mannshoch und trugen Aufschriften wie »Zutritt nur für Befugte« oder »Achtung! Hochspannung!« Aber einige waren größer und ähnelten Garagentoren. Beim Druck auf irgendeinen unsichtbaren Knopf würden sie hochschwingen – was würde dann zum Vorschein kommen? Aus dem Gang vor ihnen drangen leise Lebensgeräusche. Es waren die normalen Stimmen von Menschen bei der Arbeit. Der Soldat hängte seine Waffe wieder über die Schulter. Als sie eine Kurve im Tunnel hinter sich gelassen hatten, weitete sich vor ihnen eine andere Höhle. Ein halbes Dutzend Techniker in weißen Kitteln stand oder saß um eine große, unordentliche Arbeitsfläche herum. Der Raum wurde an der einen Seite von den Wänden des Gangs begrenzt, an der anderen von drei großen Fenstern. Ein Fenster war strahlend hell erleuchtet, das zweite nur schwach, das dritte war dunkel. Der Gang führte noch weiter, aber der Soldat und Laura hatten ihren Bestimmungsort er reicht. Dr. Griffith stand hinter den beiden sitzenden Technikern. Er schaute auf und sagte: »Oh!«, als er Laura und ihren Begleiter sah. Auch alle anderen Anwesenden, insgesamt ein gutes Dutzend, schauten in ihre Richtung. Einige drehten sich auf ihren Sesseln und umklammerten, ange spannt und wachsam, mit beiden Händen die Armlehnen. Aber alle ent spannten sich rasch wieder und wandten sich wieder ihrer Arbeit zu. Die Neuankömmlinge waren Menschen. 359
»Passen Sie auf die Kabel auf«, sagte Griffith, während er sich seinen Weg durch das Labyrinth von Konsolen hindurch bahnte, um Laura zu begrüßen. Sie hatten eine Art provisorischen Kontrollraum eingerichtet, und es gab mindestens doppelt so viele Arbeitsplätze wie Personen. Laura beobachtete, wie einer der Techniker von einer Konsole zur nächsten roll te, ohne aus seinem Sessel aufzustehen. Es schien, als erledigten sie zwei oder mehr Jobs gleichzeitig. »Entschuldigen Sie das Chaos«, sagte Griffith lächelnd. »Wir haben ge wissermaßen unsere Truppen hier zusammengezogen. Kommen Sie, ich will Sie dem Team vorstellen.« Er führte sie vorsichtig durch den Raum, wobei er sie vor jedem Kabel warnte, um sicherzugehen, dass sie nicht darauf trat. Sie schüttelte rundum die Hände aller Männer und Frauen, die freundlich, gesprächig und gast freundlich waren. Sie schienen über einen Kontakt mit der Außenwelt ebenso erfreut wie Laura darüber, hierher gefunden zu haben. Nachdem die Vorstellung beendet war, fiel Lauras Blick auf einen Moni tor. Ein Achter-Modell bewegte sich langsam durch einen Raum. Fußbo den und Wände waren weiß und antiseptisch, aber überall lagen die Trümmer von zermalmten und zerbrochenen Alltagsgegenständen. Eine Kaffeemaschine lag auf der Seite. Der kümmerliche Überrest eines Lam penschirms war auf einer großen Uhr deponiert worden. Zerrissene Klei dungsstücke und verbogenes Küchengerät und die Scherben von weniger elastischen Gegenständen lagen in zufälligen Haufen herum. Die Kamera folgte dem Roboter automatisch. Ein leichter Zusammen stoß ließ einen Stuhl quer durch den Raum fliegen und auf nur drei seiner vier Holzbeine wieder landen. Das Achter-Modell hielt zwei Hälften eines Buches, in jeder Hand eine. Es blieb stehen, um den Stuhl zu betrachteten, der jetzt in einer Ecke lag. »Ich vermute, das hier ist eine Art Schule für Roboter?«, sagte Laura. »Ja. Wir nennen sie die ›Charmeschule‹«, erwiderte Griffith. Laura nickte. Sie erinnerte sich an Steinbecks »Von Mäusen und Men schen« und stellte sich vor, wie die Achter-Modelle im Dschungel zu grob mit dem armen Soldaten »gespielt« hatten. 360
»Dr. Aldridge?«, fragte Griffith. »Ist alles in Ordnung? War die Fahr stuhlfahrt hier herunter zu strapaziös?« Laura versuchte, sich und ihre Gedanken unter Kontrolle zu bekommen. »Sie war ein bisschen heftig.« Griffith lachte. »Wir alle benutzen den Eingang von der Oberfläche her. Ich kenne niemanden, der mit diesem Ding runterkommt – außer Mr Gray natürlich.« »Hätte ich das nur gewusst! Taucht Mr Gray oft hier auf?« Griffith zuckte die Schultern. »Hin und wieder. In letzter Zeit öfter – seit wir Probleme haben.« Er sah rasch zu ihr auf. »Mit dem Computer, meine ich.« Dann wandte er sofort das Gesicht ab. »Tut mir Leid, dass ich Ihnen nicht die große Besichtigungstour bieten kann.« »Das macht nichts. Es muss schwierig sein, eine Anlage dieser Größen ordnung zu betreiben, wenn ein Haufen Leute fehlen.« »Oh, wir ›betreiben‹ diesen Laden hier weder von hier noch von woan ders aus. Alles ist vollständig automatisiert. Oder, wenn ich Ihre Ansicht richtig verstanden habe, könnte man auch sagen, dass ein anderer Ange stellter der Firma ihn betreibt.« »Sie meinen – der Zentralrechner?« »Natürlich.« »Aber der Computer behauptet, er wüsste nicht, was hier unten vorgeht. Er behauptet, er könne nicht die Fertigung der Achter-Modelle kontrollie ren oder feststellen, was sie tun.« Griffith sah sie an, als hätte sie Chinesisch gesprochen. Laura warf einen Blick auf die ihr am nächsten sitzenden beiden Techniker, die sich rasch ihrer Arbeit zuwandten, bevor es zu einem Blickkontakt kommen konnte. »Also«, sagte Griffith verlegen, »das stimmt einfach nicht.« Laura sah sich um. An jedem der Arbeitsplätze leuchtete ein Monitor. Lichter auf den sie umgebenden Konsolen wurden hell und wieder dunkel; auf den Bildschirmen erschienen Textzeilen und mit Tabellen und Graphi ken angefüllte Kästen in endlosem Arbeitsfluss. Das alles war ganz offen sichtlich das Werk des Computers. »Ich kann Ihnen versichern, Dr. Aldridge – Laura –, dass der Computer hier unten alles bestens im Griff hat.« Griffith kicherte. »Als Vertreter der 361
Gattung Homo sapiens sapiens gebe ich es nur ungern zu, aber es ist völlig ausgeschlossen, dass ein Mensch oder eine ganze Gruppe von Menschen je einen Anlagenkomplex bedienen könnte, der so komplex wie die Werk stätten der Achter-Modelle hier unten ist. Natürlich überwachen wir alles und treffen hin und wieder eine Entscheidung. Aber was Sie als ›Betrei ben‹ der Anlage bezeichnen würden…« Er schüttelte den Kopf. Laura ließ ihren Bück durch den geschäftigen Raum bis zu den großen Beobachtungsfenstern schweifen. »Wozu sind die da?«, fragte sie. Griffith führte sie zum linken, am hellsten erleuchteten der drei gleichen Fenster, die an einer Wand einen ungefähren Halbkreis bildeten. Das mitt lere Fenster war nur schwach erhellt, das dritte dunkel. »Das ist einer der Taktilräume«, erklärte er. Unterhalb des Fensters sah sie einen weißen Betonraum voller Gegenstände, die ordentlich in Regalen gestapelt waren oder in großen Behältern lagen, die aussahen wie Spielzeugkisten. Es gab einen gedeckten Tisch, Kleidungsstücke auf Bügeln, ein Ausguss mit einem Spüllappen daneben. Alles war wohlgeordnet. »Da kommt er«, sagte der hinter ihnen sitzende Techniker. Laura fuhr herum und schaute in die leeren Gänge hinein, die von dem französischen Soldaten bewacht wurden. »Da unten«, meinte Griffith, wobei er Laura auf die Schulter tippte und dann auf den Raum unterhalb von ihnen zeigte. Das Achter-Modell trat langsam durch eine hohe Tür, die sich hinter ihm automatisch wieder schloss. Der Roboter war riesig – viel größer, als Lau ra erwartet hatte. Er steuerte direkt auf einen großen, offenen Kasten zu und zog ein zerfetztes gelbes Gummiobjekt an seinem Griff heraus. »Ah!«, ließ sich Griffith vernehmen. »Das ist 1.3.07.« Der Roboter schwenkte die ausgefransten Stränge durch die Luft. Das Sirren und Klat schen der Teile war durch einen kleinen Lautsprecher über dem Fenster zu hören. »Ich kann sie immer unterscheiden«, sagte Griffith. »Der hier mag diesen Gummiball, beziehungsweise das, was von ihm noch übrig ist. Den holt er sich immer zuerst.« Das Achter-Modell ließ die gelben Fetzen auf den Boden fallen und steuerte eine überquellende Spielzeugkiste an. »Er kann sich im Grunde nicht erinnern, weshalb er den Ball so sehr gemocht hat. Jetzt, wo er zer 362
stört ist, wird seine Spielzeit mit ihm rapide kürzer. Er ist nicht mehr so interessant wie früher, und die Verbindungen in seinem Mini-Netz, die zu einer Belohnung führten, wenn er damit spielte, schwächen sich ab.« »Ist Ihnen bewusst, dass Sie von dem Achter-Modell als von einem ›Er‹ sprechen?« »Nicht von allen Achter-Modellen«, sagte er. »Manche sind ganz ein deutig eine ›Sie‹. Das ist einer der amüsanteren Zeitvertreibe in meinem Team, herauszufinden, ob es sich bei einem neuen Achter-Modell um einen Jungen oder ein Mädchen handelt.« Er sah sie mit einem breiten Grinsen an. »Das lässt sich natürlich nicht durch Überprüfen der Hardware feststellen, Sie verstehen?« »Was meinen Sie mit einem Jungen oder Mädchen?« »Ich hoffe, Sie halten uns nicht für fürchterliche Sexisten, Dr. Aldridge, weil es wirklich nur zu unserem Amüsement gedacht ist. Wir brauchen ein bisschen Ablenkung, weil wir hier unten so viel Zeit damit verbringen, das Verhalten der Achter zu beobachten, besonders jetzt, wo Mr Gray ein Big Brother-Programm angeordnet hat.« Das Achter-Modell unter ihnen zerbrach einen langen Plastiklaster in zwei Teile. Der Ausdruck auf Griffith’ Gesicht glich dem eines stolzen Vaters, der einem lebhaften, wenn auch leicht zerstörerisch veranlagten Kleinkind beim Spielen zusieht. Der Roboter hob den zerbrochenen Laster über seinen Kopf, und Laura hatte den Eindruck, dass er sich seinen nächs ten Schritt überlegte. Dann warf er die Teile an die gegenüberliegende Wand und wendete sich etwas anderem zu. »Unsere informellen Geschlechts-Zuordnungen basieren auf traditionel len, stereotyp menschlichen Verhaltensmustern. Einige, wie Bouncy da unten, neigen sehr stark zur Erkundung von mechanischen Kräften. Sie werfen mit Gegenständen, bewegen Objekte, die so groß sind, dass sie sie mit ihrer Kraft und ihrer Agilität gerade bewältigen können, und so weiter und so weiter. Wir nennen sie Jungen. Die Mädchen neigen dazu, in die Taktilräume zu gehen und sich einfach hinzusetzen. Sie finden so etwas wie eine Patchworkdecke mit einem komplizierten Muster und betrachten sie stundenlang.« Griffith warf ihr einen Blick zu – um sicherzugehen, dass sie nicht belei 363
digt war, vermutete Laura. Offensichtlich zufrieden, fuhr er fort: »Aber bei den Spielsachen sowohl der Jungen als auch der Mädchen läuft es immer aufs Gleiche hinaus. Sie werden im Verlauf des Lernprozesses völlig zer stört. Die Verhaltensmuster sind unverwechselbar und zeigen sich in der Regel bereits bei der ersten Inbetriebnahme. Die Unterscheidung hat natür lich keinerlei wissenschaftliche Bedeutung, aber sie sorgt für ein gutes Betriebsklima. Manchmal wird mehrere Monate lang diskutiert. Aber meistens sind wir uns schon nach ein oder zwei Sitzungen auf dem Stuhl einig.« »Was ist das für ein ›Stuhl‹?« Griffith führte Laura zu dem mittleren Fenster. Ihr erster Eindruck war, dass dort finstere Dinge vorgehen mussten. Der Raum war in ein schwa ches rotes Licht getaucht, und im Zentrum stand ein riesiger Metallstuhl mit Armlehnen. Darüber war eine gerundete Haube angebracht, von deren Innenseite aus eine Vielzahl nadelähnlicher Fortsätze nach unten gerichtet war. Die ganze Szene machte auf Laura den unerfreulichen Eindruck einer Folterkammer. »Der Stuhl ist eine Kombination von Simulator und Ladestation. Unge fähr einen Monat nach Verlassen des Fließbandes verbringen die AchterModelle den größten Teil ihrer Zeit am Computer angeschlossen, über das Interface, das Sie oben sehen. Wenn sie aus der Montagehalle hier an kommen, sind sie nichts als träge Metallklumpen auf Rollen. Nach den ersten vierundzwanzig Stunden auf dem Stuhl können sie ihre Gliedmaßen bewegen und sich aufsetzen. Es dauert geraume Zeit, bis Gleichgewicht programmiert werden kann, und sogar noch länger, bis ihnen die ersten Schritte möglich sind.« »Und der Computer steuert sie durch Simulationen, während sie da un ten angeschlossen bleiben?« Griffith nickte. »Ja, durch Billionen von Simulationen.« Laura schaute hinunter in den Raum und betrachtete den unheimlichen Stuhl. An den Armlehnen und den Beinen waren Klammern angebracht, und in Brust- und Taillenhöhe waren mehrere Metallriemen zu sehen. »Weshalb die Fesseln?« »Oh, die Simulationen sind für die Roboter sehr real. Sind Sie mit den 364
virtuellen Workstations vertraut, die Mr Gray auf dieser Insel hat?« Laura nickte. »Stellen Sie sich vor, wie real einem Roboter die Darstellung der Welt durch den Computer vorkommen muss, wenn sie direkt über Kabel in sein neuronales Netz eingespeist wird. Für die Roboter muss das so wirklichkeitsecht sein wie die Realität selbst es für uns ist. Aber manch mal«, kicherte er, »ist es auch sehr komisch. Haben Sie je einen schlafen den Hund beobachtet? Wie er ab und zu mit den Beinen strampelt, als ob er im Traum auf Kaninchenjagd wäre? Dasselbe passiert mit den AchterModellen. Manche drehen durch. Sie haben etliche Fesseln zerbrochen, bis wir zu Titanium übergegangen sind. Die Bolzen, die den Stuhl am Boden halten, sind sechs Meter tief im Gestein unter dem Stuhl verankert. Ich wüsste zu gern, was sich in ihren Netzen abspielt, wenn sie so reagieren, wie sie es tun.« »Wollen Sie damit sagen, dass Sie nicht wissen, welche Simulationen der Computer sie durchlaufen lässt?« »Keine Ahnung«, sagte er und schüttelte, offenbar ohne eine Spur von Interesse, den Kopf. »Wie ich bereits sagte, er steuert sie in jedem einzel nen Programm durch Billionen davon. Und er variiert sie ständig, um ihre Leistungsfähigkeit zu steigern und auszuweiten. Manche Programme sind eindeutig besser als andere, aber die Hardware aller Achter-Modelle ist völlig gleich. Das muss ich Mr Gray lassen. Er hat bei der Konstruktion so gute Arbeit geleistet, dass wir an dem Prototyp buchstäblich keine einzige Veränderung vorzunehmen brauchten; und bisher sind achtundvierzig vom Band gelaufen. Das ist wirklich eine erstaunliche technische Leistung.« »Wollen Sie damit sagen, dass Mr Gray die Hardware konstruiert hat? Ich dachte, Sie wären der Leiter der Robotik-Abteilung.« »Das bin ich, aber in dieser Organisation bedeutet das, dass ich für die Programmierung zuständig bin. Wie ich bereits sagte, die Unterschiede in der Software-Programmierung sind bemerkenswert. Hightop zum Beispiel ist allen anderen in jeder Hinsicht haushoch überlegen. Er lässt übrigens grüßen.« Laura nickte, weil sie nicht wusste, was sie darauf erwidern soll te. »Aber ein paar der anderen waren so hoffnungslos unverbesserlich, dass wir sie reprogrammieren mussten.« 365
»Sie meinen, einfach den Stecker rausziehen und ganz von vorn anfan gen?« »Großer Gott, nein! Jedes dieser Achter-Modelle respräsentiert vermut lich eine Milliarde Dollar an Hardware, aber vielleicht zehnmal soviel in ›Soft‹-Kosten. Wenn Sie die Kosten für den Bau und Betrieb dieser Anla ge hier bedenken und, was noch schwerer wiegt, die der hierfür erforderli chen Computer-Zeit, dann ist jedes einzelne dieser Dinger rund zwölf Milliarden Dollar wert. Bei derartigen Kosten treffen wir die Entschei dung, eines von ihnen zu reprogrammieren, nicht leichtfertig, und auf keinen Fall entladen wir sie und fangen wieder ganz von vorn an. Der Reprogrammierungs-Kurs dauert nur zwei Wochen und beschränkt sich darauf, das zu flicken, was der Computer für seine defekten Funktionen hält. Dabei handelt es sich fast immer um ranghöhere Dinge wie ›Ziele‹ und ›Pläne‹. Auf diese Weise sparen wir buchstäblich Milliarden von Dollar an Computer-Zeit.« »Weshalb ist dieser Stuhl leer?«, fragte Laura. »Wenn er so viel kostet, sollte man doch annehmen, dass da unten immer Hochbetrieb herrscht.« »Mr Gray hat alle Neuprogrammierungen gestoppt«, erwiderte er. »Wir hatten zwei Schüler in dem Kurs, aber sie befinden sich beide in Abstell kammern – geladen, aber inaktiv.« »Wann hat er die Programmierung gestoppt?« »Vorige Nacht, nach der Bürgerversammlung«, sagte Griffith, jetzt kopfschüttelnd und mit gerunzelter Stirn. »Eigentlich völliger Unsinn«, murmelte er. »Dieser kleine Junge wusste nicht, wovon er redete.« Er trat ganz nahe an Laura heran und vergewisserte sich, dass sie außer Hörweite der anderen waren. »Der Junge behauptete, er hätte von seinem Fenster aus einen Roboter beobachtet, wissen Sie das?« Laura nickte. »Ganz be stimmt hat er kein Achter-Modell gesehen.« Griffith schüttelte abermals den Kopf. »Ausgeschlossen.« »Wissen Sie das genau?«, fragte Laura. Griffith nickte. »Wir wissen, wo sich alle Achter-Modelle letzte Nacht befunden haben. Aber noch aufschlussreicher war der Bericht des Jungen darüber, was er gesehen hat. Ich weiß, dass er erst acht ist, aber sein Phy siklehrer ist aufgestanden und hat sich des Langen und Breiten darüber 366
ausgelassen, dass der Junge ein Wunderkind wäre. Und er hat tatsächlich einen vorzüglichen Gen-Pool. Seine Mutter arbeitet in Krantz’ Abteilung für Virtuelle Realität, und sein Vater ist Raumfahrt-Techniker. Aber er muss sich geirrt haben. Die Achter-Modelle rennen nicht geduckt. Sie rennen überhaupt nicht!« Griffith schaute über die Schulter, nachdem er die Stimme erhoben hatte, dann wandte er sich wieder Laura zu. »Sie haben sie gesehen. Es ist schon ein wissenschaftliches Wunder, dass sie gehen können, aber rennen…! Und sie haben sich bisher kein einziges Mal geduckt! Sie bewegen sich entweder vollständig aufrecht oder liegen flach ausgestreckt auf ihren Metallhintern. So simpel ist das, Newtonsche Physik, und ich habe Gray angeboten, das mit so vielen Tests zu beweisen, wie er haben will. Heute morgen, bevor wir angefangen haben, bin ich gleich hier herunter gekom men und zu Hightop gegangen. Wenn sich überhaupt einer von ihnen ducken kann, dann Hightop. Und er ist dreimal hintereinander auf den Hintern gefallen!« »Die Station hier unten ist nicht vierundzwanzig Stunden besetzt?«, frag te Laura. Griffith schüttelte den Kopf. »Das ist nicht erforderlich. Alles läuft au tomatisch. Alles, was wir heute morgen hier unten tun, ist überwachen. ›Big Brother‹, wie ich bereits sagte. Gray hat menschliche Überwachung sämtlicher Aktivitäten der Achter-Modelle ab heute angeordnet, was ich für eine Überreaktion auf diese Geschichte des kleinen Jungen halte, wenn Sie mich fragen.« »Und Sie sind ganz sicher, dass der kleine Junge kein Achter-Modell ge sehen hat?« »Absolut. Die menschlichen Operateure machen hier jeden Abend um zehn Uhr Feierabend und fangen dann um sechs Uhr morgens wieder an. Das ist eine Acht-Stunden-Schicht, in der keine Menschen hier unten sind. Aber da die Roboter nicht schlafen, läuft der Betrieb hier täglich vierund zwanzig Stunden, an dreihundertfünfundsechzig Tagen im Jahr. Und ich habe acht Stunden Video-Aufzeichnungen von jedem einzelnen dieser Roboter für diese und jede andere Nacht, seit wir mit der Arbeit hier unten angefangen haben. Und das Erste, was wir tun, wenn wir jeden Morgen 367
herunterkommen, ist, dass wir uns dieses Video ansehen!« »Und Sie haben ein Video-Band von der letzten Nacht?« »Ja! Von jeder Nacht. Aber es ist kein Band. Es wird digital von einem angeschlossenen Computer aufgezeichnet.« »Und der Zentralrechner kontrolliert sämtliche angeschlossenen Compu ter, richtig?« »Ja, aber…« Er begriff offenbar genau, worauf sie hinauswollte. »Wol len Sie wissen, weshalb ich so sicher bin, dass die Geschichte des Jungen nicht stimmen kann? Hundertprozentig sicher? Seiner Beschreibung nach war das Ding, das er gesehen hat, nicht so groß wie die Mülltonne hinter dem Laden. Gray muss ihn unter allen nur möglichen Aspekten befragt haben, und jedesmal war sich der Junge absolut sicher, dass das, was er gesehen hat, bei weitem nicht so groß war wie die Mülltonne, neben der er es beobachtete. Diese Mülltonne ist nur einsneunzig hoch. Sie haben gese hen, wie groß die Achter-Modelle sind! Und könnte Ihnen auf eine Entfer nung von dreißig Metern entgehen, dass ein Achter-Modell wesentlich größer als einsneunzig ist? Diese Dinger sind drei Meter hoch!« »War der Parkplatz gut beleuchtet?« »Nein. Aber was spielt das für eine Rolle? Es war nur irgendein Strolch, der sich draußen herumtrieb. Wir hatten schon mehrfach Probleme mit Vandalismus.« »Vandalismus an Mülltonnen?« »Seit Monaten treibt sich eine Bande von kleinen Punks auf der Insel herum. Sie haben Straßenlaternen umgerissen, eine Wetterstation unten bei den Startrampen in den Dschungel geschleppt, Stücke von der Statue auf dem Hauptboulevard des Dorfes abgeschlagen, Dinge dieser Art. Eine Art Initiations-Zeremonie oder -Ritual, vermutet Hoblenz.« Laura schüttelte ungläubig den Kopf. »Seid ihr denn alle blind? Ihr seid dermaßen davon überzeugt, dass eure kostbaren Roboter alle unter Kon trolle sind, dass ihr euch irgendwelche lächerlichen Erklärungen wie Initiations-Rituale einer Bande einfallen lasst!« Ihr Ausbruch hatte ihn verblüfft. »Sie reden genau so wie all die ande ren«, sagte er. »Wie welche anderen?« 368
»Die Leute auf der Bürgerversammlung! Massenhysterie! Als sie alle aus der Turnhalle hinausstürmten, hätte ich ihnen einreden können, dass gerade ein UFO auf dem Dach gelandet wäre, das schwöre ich Ihnen.« »Wollen Sie damit sagen, dass letzte Nacht alle wegen Gerüchten über frei herumlaufende Roboter aus dieser Versammlung hinausstürmten und nicht wegen des Asteroiden?« »Sie sind aus der Versammlung hinausgestürmt und geradewegs von der Insel fort, wenn das, was ich gehört habe, wahr ist. Darunter sogar ein paar meiner eigenen Leute – Leute, die es besser hätten wissen müssen. Der verdammte Asteroid ist vermutlich das, was die paar Hundert, die geblie ben sind, auf der Insel zurückhält – er und Grays Rede. Sie hätten ihn hören sollen: Was nach einem zehntausendfachen Anstieg der menschli chen Produktivität passieren wird. Die Menschheit erlöst von Schufterei und gefährlichen Jobs. Manche Leute hatten Tränen in den Augen. Ich hätte gedacht, dass mehr bleiben und Teil daran haben wollten.« »Teil haben an was?« »An Phase Zwei«, sagte Griffith, als wäre ihr der elementarste Teil sei nes Vortrags entgangen. »An der Expansion.« »Und an der Kolonisation?«, fragte Laura, Janets Wort gebrauchend. Er runzelte die Stirn. »Es ist nicht eigentlich eine Kolonisation, sondern eher eine natürliche Progression. Eine Expansion, wie ich bereits sagte. Auf bauend auf allem, was vorher da war.« »Ein Turm in den Himmel«, murmelte Laura, aber Griffith nahm die Bemerkung nicht zur Kenntnis. »Es ist so, als nähmen wir alles, was bis jetzt bekannt ist, und ließen es wachsen. Information wächst explosionsartig, wie Sie wissen.« Er schüt telte den Kopf. »Sie hätten die Rede wirklich hören sollen. Ein Jammer, dass niemand sie aufgezeichnet hat.« »Nun, vielleicht hat es jemand getan.« Griffith schüttelte abermals den Kopf. »Es war das erste Mal, dass ich je Metalldetektoren auf der Insel gesehen habe. Hoblenz’ Männer handhab ten sie, als ginge es um die Sicherheit auf einem Flughafen. Sie ließen nicht zu, dass irgendwelche Aufzeichnungsgeräte – Camcorder, Bandgerä te, überhaupt nichts – in die Turnhalle mitgenommen wurden.« Griffith 369
machte eine kurze Pause, dann fuhr er fort: »Wie ich schon gesagt habe, schade, dass ich Ihnen heute nicht mehr zeigen kann.« Er machte sich auf den Rückweg zum Arbeitsbereich, und Laura folgte ihm. Sie passierten das letzte Fenster – das dunkle. »Was ist das für ein Raum?«, fragte sie, vor dem dicken Glas stehen bleibend. »Oh!«, erwiderte Griffith. Er blieb stehen, sah sie aber nicht voll an. »Das ist ein weiterer Taktilraum.« Drinnen war es stockdunkel. »Darf ich ihn sehen?« Es widerstrebte ihm offensichtlich, ihn ihr zu zeigen. »Ich wollte, ich hätte genügend Zeit, um Ihnen alles zu erklären, was im Verlauf eines Kurses passiert – wieviel wir diesen Robotern beibringen müssen, bevor wir es wagen können, sie auf die Welt loszulassen.« Er schaute nach unten und trat von einem Bein aufs andere. »Weshalb zeigen Sie mir den Raum nicht einfach?« »Sie würden es doch nicht verstehen«, sagte er in kläglichem Tonfall. »Sie könnten es nicht. Sie mussten nicht all die Entdeckungen machen, die wir gemacht haben, und auch nicht die Programme entwerfen, die erfor derlich sind, um…« »Ich weiß, dass Sie viel zu tun haben, Phil«, unterbrach ihn Laura. »Auch ich habe nicht den ganzen Tag Zeit, und wenn Sie einfach das Licht da unten einschalten, dann verschwinde ich.« Er runzelte die Stirn, trat aber nach kurzem Zögern vor eine Schalttafel unterhalb des Fensters. Mit einem leichten Schlag seines Handgelenks legte er einen Schalter um. Der Raum unter ihnen wurde von Licht überflutet. Die leere Kammer hatte ungefähr dieselbe Größe wie der Taktilraum auf der entgegengesetz ten Seite des Beobachtungsareals. »Wie alle jungen – Kreaturen«, sagte Griffith mit fast monotoner Stim me, »sind auch die Roboter fasziniert von Dingen, die sich bewegen.« Zwei Türen führten in den Raum – eine, die groß genug war für die Ro boter, die andere sogar für Menschen zu klein. Der Raum war leer bis auf einen großen Abfluss in der Mitte des Fußbodens und einigen großen, aus der Decke hervorragenden Metallsprinklern. Der weiße Beton war offen 370
sichtlich gescheuert worden, aber keine noch so große Menge von Reini gungsmittel schien imstande zu sein, die schwachen, wohl unauslöschli chen braunen Flecken zu entfernen. »Es ist von allergrößter Bedeutung, ihnen zu erlauben, die Neugierde in ihren Systemen zu befriedigen.« »Das sind Blutflecke«, sagte Laura. »Es gibt keine andere Möglichkeit. Sie sind fasziniert, maßlos fasziniert von Tieren. Meistens Ziegen und Schafen, aber auch Katzen und Hunden und anderen Lebewesen.« »Mein Gott«, sagte Laura. »Sie zerreißen sie.« »Nicht absichtlich, Laura«, sagte Griffith fast traurig. »Sie wollen ihren Spielsachen nicht wehtun. Sie gehen sogar recht sanft mit ihnen um, so weit sie dazu imstande sind. Und« – er schüttelte den Kopf – »es ist weder für einen von uns noch für sie ein angenehmer Teil des Kurses. Einige der Roboter sind ziemlich verzweifelt, nachdem sie… nachdem sie eines der Tiere zerrissen haben. Aber genau das ist es, was wir wollen, verstehen Sie das nicht? Die Erfahrung ist so traumatisch, dass die Verbindungen, die in ihren Netzen Zustandekommen, stark und dauerhaft sind. Ich schwöre Ihnen, nach diesem Kurs könnte man sie in ein Zimmer voller Babies bringen, und sie würden sich nicht von der Stelle rühren, bis sie mit leeren Batterien umfallen.« Griffith musterte Laura eingehend, als wartete er darauf, dass sie ihn von seiner Schuld freispreche. Aber sie konnte nichts sagen. Alles verschmolz zu einem einzigen, widerwärtigen Bild. Der Soldat, die hingeschlachteten Tiere – was sonst noch im Namen des Fortschritts? In Grays Namen? Griffith betätigte den Schalter und löschte das Licht. Sie halten den Raum dunkel, dachte Laura, die sah, wie sich in dem dunklen Glas ihr erstarrter Ausdruck des Abscheus spiegelte. Sie möchten nicht an das erinnert werden, was da unten vorgeht. Laura kehrte zum ersten Fenster zurück, von dem aus man den heller leuchteten Raum überblicken konnte. Das Achter-Modell spielte jetzt mit einem verchromten Duschschlauch, und aus dem Ausguss schoss Wasser empor. Der Roboter hieb mit dem Duschkopf gegen einen Herrenanzug, der über eine Stuhllehne drapiert war. Als er das Interesse daran verlor, 371
ließ er den Duschschlauch fallen. Dann schaute er ruckartig zum Beobach tungsfenster hinauf – direkt dorthin, wo Laura stand. Als Griffith neben sie trat, schleuderte der Roboter die Arme so heftig hoch, dass Stuhl und An zug durchs Zimmer flogen. »Er kann uns sehen«, sagte Laura. »Unsinn«, entgegnete Griffith. »Das Glas ist nur von dieser Seite aus durchsichtig.« »Er hat uns direkt angesehen – und dann hat er ausgeholt.« »Er hat zu etwas hochgeschaut, was für ihn ein Spiegel ist. Er kann uns nicht sehen.« »Denken Sie mal an unsere Wärmeortungsgeräte? Vielleicht hat er durch das Glas hindurch unsere Wärme registriert.« Griffith schaute mit zusammengekniffenen Augen zu dem Roboter hin unter, doch dann schüttelte er den Kopf. »Das ist es nicht. Sie hassen Spiegel. Alle Achter-Modelle hassen Spiegel. Bevor sie gelernt haben, ihr Verhalten zu kontrollieren, versuchen sie, auf alles einzuschlagen, was sie auch nur im Mindesten irritiert.« »Und er war irritiert, nur weil er in das spiegelnde Glas geschaut hat?« Sie lachte leise. »Warum bestücken Sie ihre Welt mit spiegelnden Beo bachtungsfenstern, obwohl sie ihnen zuwider sind?« »Tut mir Leid, ich habe mich nicht deutlich genug ausgedrückt. Es sind nicht einfach die Spiegel, die sie wütend machen. Es ist ihr Abbild in die sen Spiegeln. Sie hassen es, sich selbst zu sehen.« Laura neigte den Kopf. »Weshalb?« Griffith zuckte die Schultern, sagte aber nichts. »Sie wissen doch, dass einige von ihnen außer Kontrolle sind«, sagte Laura. »Also, das ist nun maßlos übertrieben worden«, entgegnete er ärgerlich. »Das waren nur vereinzelte Vorkommnisse.« Laura schaute zu Griffith hoch, und er wendete sich ab. »Sie sind alle verschieden, vergessen Sie das nicht. Da kann schon einmal ein fauler Apfel dazwischen sein.« »Ich würde gern einen dieser ›faulen Äpfel‹ sehen«, sagte Laura. Als Griffith widersprechen wollte, unterbrach sie ihn: »Danach sind Sie mich los. Ich würde nur gern ganz kurz ein Achter-Modell sehen, das kein Aus 372
stellungsstück ist wie Hightop.« Griffith kehrte mit finsterer Miene in den Arbeitsbereich zurück, und Laura beobachtete wieder das junge Achter-Modell unter ihr. Es saß jetzt still da, hielt einen leuchtend blau-grünen Globus in beiden Händen und betrachtete die Details auf der Kugel. Sie hatte das Gefühl, völlig aus dem Gleichgewicht geraten zu sein – auf einer rasenden Fahrt, die sie gern verlangsamt hätte, von der sie aber wusste, dass sie nur noch schneller werden würde. Es gab zu viel, zu viele neue Ideen. Es war unmöglich, Schritt zu halten. Eines gab es jedoch, das Laura mit Sicherheit wusste. Bald, sehr bald würde Gray über den blauen und grünen Globus hinwegfegen, den der junge Roboter in Händen hielt; und das würde alles verändern – für im mer. Es bedeutete einen gewaltigen Wachstumsschub – eine Epoche nie dagewesener Fortschritte der Menschheit. Schon jetzt verfügte Laura über wahrhaft neuartige, revolutionäre Ideen, um ein oder zwei Dutzend aufse henerregende Aufsätze schreiben zu können. Sie würde ihre Wissenschaft zu neuen Gipfeln führen und dann triumphierend die Korridore ihrer Ab teilung entlangschreiten. In Gedanken konnte sie schon das Ersuchen der Kollegen um ihre Zeit und ihre Erkenntnisse hören. Es würde von genau den Leuten kommen, die der Ansicht gewesen waren, sie sei eines Lehr stuhls nicht würdig. Doch irgendwie kamen ihr diese Gedanken albern vor. Aufsätze veröf fentlichen? Zu wessen Nutzen? Für welche Kritiker? So lange Joseph Gray lebte, würde es keinen zweiten derart brillanten Menschen geben. Er war ein Phänomen, das es alle Millionen Jahre nur einmal gab, und dies war ihre Chance, ein Teil seiner Welt zu sein – seiner Gemeinschaft des Intel lekts anzugehören.
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12. KAPITEL »Wir nennen ihn Auguste«, sagte Griffith, wobei er den Namen franzö sisch aussprach – »Oogüste«. Der Roboter saß auf dem Boden seiner Zelle, während Laura und Grif fith ihn auf einem Bildschirm in der unterirdischen Beobachtungsstation betrachteten. »Sein formeller Name ist 1.2.09 R.« »Weshalb das R am Ende der Seriennummer?« Griffith warf ihr einen vielsagenden Blick zu. »Reprogrammiert«, erklär te er fast flüsternd. »Aber ich habe Mr Gray gesagt, dass diese Achter notorisch schmutzige Kreaturen sind. Sie stecken ihre Nasen in alles. Und dieselbe Art von Schlamm – vulkanischen Schlamms – wie unten im Sumpf gibt es auch draußen in ihrem Freigelände.« »Wovon reden Sie?« »Mr Gray hat heute Morgen angeordnet, dass ich die Roboter auf Schlammreste untersuche. Wir haben welche an Auguste gefunden.« Laura wendete sich dem Monitor zu. »Weshalb ist Auguste reprogram miert worden?« »Wir konnten ihn nie richtig aus seinem Gehäuse locken. Seine Verhal tensmuster entwickelten sich nicht einmal annähernd normal. Auch in seinen motorischen Fähigkeiten war er weit zurückgeblieben. Zwei Mona te Grundausbildung, und er konnte kaum den Raum durchqueren. Ich habe wirklich gedacht… Es war ein verdammt schweres Stück Arbeit, kann ich Ihnen sagen, bis wir ihm diese Fesseln angelegt hatten. Und bevor wir überhaupt richtig anfangen konnten, hat er eine der Armlehnen des Stuhls zerschlagen. Es war nach der Sache mit Auguste, dass wir uns für TitanFesseln entschieden haben.« Jetzt verstand Laura. Die Roboter widersetzten sich der Reprogrammie rung. Sie wehrten sich, wenn sie auf den Stuhl geschickt wurden. Aber weshalb? »Woher wissen sie, dass sie reprogrammiert werden sollen? Woher wissen sie, dass es nicht bloß eine weitere Simulation ist?« Griffith zuckte die Schultern. »Sie wissen es eben. Ich vermute, sie spü ren, dass irgendetwas nicht stimmt. Wir lassen sie von den Jugendlichen – 374
den Achter-Modellen, die gerade ihren Fortgeschrittenen-Kurs absolviert haben – auf den Stuhl bringen. Vielleicht sagen die es ihnen. Ich weiß es nicht.« »Weshalb nennen Sie ihn ›Auguste‹ – und sogar noch französisch ausge sprochen? Das kommt mir etwas merkwürdig vor, wenn die anderen Na men wie Hightop und Bouncy und dergleichen haben.« »Auguste ist ein merkwürdiger Roboter.« Er schaute zu ihr auf. »Aber das bedeutet nicht, dass er außer Kontrolle ist! Die Reprogrammierung hat ihren Zweck erfüllt. Wir brauchten ihn nicht zu entladen – nicht wieder ›ganz von vorn anzufangen‹, wie Sie es ausgedrückt haben –, wie wir es mit einem der anderen tun mussten.« »Also, Auguste war ein schlechter Schüler, und Hightop saß mit dem Fuß im Felsen fest und verlor seine Energie«, sagte Laura; Griffith bestä tigte ihre Zusammenfassung mit einem Kopfnicken. »Und Sie haben beide reprogrammiert, brauchten aber nicht wieder bei Null anzufangen?« Er nickte abermals. »Was ist mit dem Roboter, bei dem Sie das tun muss ten?« »Ihr Verhalten war total gestört. Eines Tages holten wir sie nach einer Simulation vom Stuhl herunter und sie fing an, um sich zu schlagen. Wir konnten sie einfach nicht beruhigen. Schließlich haben wir sie vollständig entladen. Im Augenblick ist sie eines von den beiden Kleinkindern.« »Und mit dem Entladen löschen Sie sämtliche Spuren der früheren Pro grammierung aus?« Griffith nickte. »Fast alle Verbindungen in den Mini-Netzen der Roboter sind virtuell – Software-Instruktionen darüber, wie sie Datenpakete umlei ten müssen. Sie haben auch ein paar Glasfaser-Verbindungen – nur unge fähr zwei hoch zweiundzwanzig ihrer Kombinationsmöglichkeiten.« »Und diese Glasfaser-Verbindungen bleiben auch nach dem Entladen bestehen?« Griffith nickte. Laura versuchte, die Zahl im Kopf auszurech nen, gab es aber rasch auf. »Wieviel ist zwei hoch zweiundzwanzig?« »Etwas über vier Millionen«, sagte Griffith. Laura war verblüfft. »Also blieben vier Millionen Verbindungen beste hen, als Sie diesen Roboter entluden?« Ein weiteres Nicken von Griffith. »Damit ist praktisch reiner Tisch ge 375
schaffen. Die festen Verbindungen betreffen nur die unveränderlichsten Dinge wie grundlegende motorische Fähigkeiten.« »Einen Moment! Was ist mit Traumata? Sagten Sie nicht, dass das Trauma der Schlachträume Eingang in ihr Gedächtnis findet? Ist eine möglicherweise traumatische Erfahrung nicht ebenfalls Bestandteil dieser bleibenden festen Verbindungen?« Griffith wirkte betreten und antwortete nicht. Vier Millionen Verbindungen, dachte Laura. Vier Millionen Assozi ationen, in einem früheren Leben erlernt. »Der Roboter, den Sie entladen haben… vorher war er eine ›Sie‹, richtig?« Griffith nickte wieder. »Und was ist er jetzt?« Er zögerte und feuchtete seinen Mund an, bevor er antwortete. »Wieder eine Sie«, sagte er. »Aber sehen Sie, wir richten es so ein, dass die Chan cen, einen Roboter einem bestimmten Geschlecht zuzuordnen, ungefähr fünfzig zu fünfzig stehen. Außerdem ist die Zuordnung zu einem bestimm ten Geschlecht, wie ich bereits erwähnte, nur eine Art Spiel bei uns. Es hat keinerlei wissenschaftliche Bedeutung.« »Und die beiden Roboter, die Sie nicht entladen haben – Hightop und Auguste – wieviele Verbindungen haben sie aus der Zeit vor ihrer Re programmierung beibehalten?« Griffith dachte nach. »Vielleicht… vierundsechzig Billionen, hundert achtundzwanzig Billionen, so in dieser Größenordnung.« »Und das nennen Sie Reprogrammierung?« »Aber, Laura, das ist nur ein kleiner Bruchteil ihrer NetzVerbindungen.« »Aber sie erinnern sich!«, sagte Laura, verblüfft, dass eine so offenkun dige Tatsache übersehen worden war. »Vielleicht ist es für sie wie ein Traum, oder sie wissen nicht, weshalb sie in einer bestimmten Situation so reagieren, wie sie es tun; oder sie glauben, irgendwo zu sein, wo sie vorher nie gewesen sind. Haben Sie Hightop je zu der Stelle zurückgebracht, an der er stundenlang in diesen Felsen festsaß?« Griffith schüttelte langsam den Kopf und betrachtete Auguste in seiner Zelle. »Ich gehe jede Wette ein, dass Hightop, wenn er diese Stelle wiedersieht, sehr stark reagieren würde, auch wenn er nicht weiß, warum. Die Roboter erinnern sich, Dr. Griffith, und das bedeutet, dass sie sich auch daran erinnern, was Sie ihnen 376
angetan haben. Hightop wurde nach einem Unfall reprogrammiert, aber Auguste wurde auf diesem Stuhl wie bei einer Hinrichtung reprogram miert, und er hat sich dagegen gewehrt. War er schon vor der Reprogram mierung gewalttätig oder war er nur ein schlechter Schüler?« Der sichtlich erschütterte Wissenschaftler holte tief Luft. »Vorher war Auguste nicht gewalttätig.« Laura senkte die Stimme. »Aber jetzt ist er Ihr Hauptverdächtiger, nicht wahr?« Griffith schaute schnell zu ihr auf. Er wusste über den Mord im Dschun gel Bescheid. »Ich möchte Auguste gern besuchen, bitte«, sagte Laura. Nach kurzem Zögern nickte Griffith und bedeutete ihr, dass sie ihm folgen solle. Der Soldat schloss sich ihnen an, mit dem Finger am Abzug seiner Maschinenpistole. »Er ist hier drinnen«, sagte Griffith und blieb stehen, um in das dunkle Loch des Netzhaut-Identifikators zu schauen. Sie hatten eine lange Strecke auf einem der Korridore in Griffith’ unterirdischer Geisterstadt zurückge legt. Der Bau der Achter-Modelle war riesig, und seine Ausdehnung machte die Abwesenheit von Menschen noch augenfälliger. Die hohen Decken und Türöffnungen ließen keinen Zweifel daran, dass diese Anlage für Wesen geschaffen worden war, die wesentlich größer waren als Men schen. Laura kam sich vor wie ein Besucher vom anderen Stern. Das Schloss in der Tür vor Griffith öffnete sich klickend. Der Soldat hob seine hässliche schwarze Waffe und trat als Erster ein, gefolgt von Griffith und danach von Laura. Der riesige Roboter saß in der hinteren Ecke des Raums auf dem Fußbo den. Seine Pose wirkte auffallend menschlich, und Laura konnte kaum sagen, was sie mehr erstaunte – die Menschenähnlichkeit des Roboters oder die Größe. Der Soldat hielt seine Maschinenpistole auf den Roboter gerichtet. »Das brauchen Sie nicht«, sagte Griffith und bedeutete dem angespann ten Mann mit einer Handbewegung, dass er seine Waffe senken solle. Der Soldat ignorierte es. Er wendete weder den Blick noch die Maschinenpis tole auch nur eine Sekunde von dem Roboter ab. 377
Griffith fand die Beharrlichkeit des Mannes lächerlich und sah Laura mit spöttisch verzogenem Gesicht an. Dann ging er auf den Roboter zu – sein Kopf und der des sitzenden Roboters befanden sich ungefähr auf gleicher Höhe. »Auguste! Wie geht es dir?« Erst jetzt schaute das Achter-Modell auf. Laura wusste, dass es ihr Ein dringen gespürt haben musste, aber es hatte sich nicht die Mühe gemacht, in ihre Richtung zu schauen. Sie starrte den Roboter an, dann trat sie hinter Griffith. »Auguste?«, flüsterte sie, die Pose des Roboters betrachtend – der Kopf auf der geballten Faust und der Ellbogen auf seinem Knie. »Auguste Rodin, der Bildhauer?« »Er hat schon immer so dagesessen – mit der Hand am Kinn. Ich weiß nicht mehr, wer es war, dem zuerst die Ähnlichkeit mit der Rodin-Statue aufgefallen ist – mit dem »Denker«. Griffith beugte sich vor, um näher an den Roboter heranzukommen. »Wie geht es dir«, fragte er lächelnd. »Bist du bereit, aufzustehen?« Er machte mit der Hand eine Aufwärtsbewegung, und der Roboter mühte sich wie ein Zirkuselefant auf die Beine. Der Soldat wich zurück, die Waffe nach wie vor im Anschlag. Es war offensichtlich, wen er für den Feind hielt. Der Roboter stand teilnahmslos vor Griffith – überragte ihn. »Kommen Sie, damit Sie ihn sich genauer ansehen können«, sagte Griffith und wink te Laura zu der drei Meter hohen Maschine heran. Sie machte einen Schritt auf ihn zu und musterte den gewaltigen Roboter von Kopf bis Fuß – von seiner notorischen Unbeholfenheit ebenso geängstigt wie von seinem Gewaltpotential. Auguste schien jedoch mit seinem Gleichgewicht keiner lei Probleme zu haben. »Kommen Sie«, sagte Griffith und winkte sie noch näher heran. Griffith stand nun vom Roboter halb abgewendet da, und vor Lauras innerem Auge erschien das Bild des gefangen gesetzten Roboters, der seinen nichts ahnenden Gefängniswärter von hinten anfällt. Aber der Roboter tat nichts, er verhielt sich ganz ruhig. »Ich kann ihn auch von hier aus gut sehen.« »Wollen Sie ihn nicht berühren?«, fragte Griffith, streckte ohne hinzu schauen eine Hand aus und legte sie auf den Bauch des Roboters. Dieser schaute einen Moment herunter, doch dann hob er den Kopf wieder und 378
starrte quer durch den Raum auf die kahle Wand. »Sie haben fast am gan zen Körper druckempfindliche Membranen.« Er stieß mit den Fingerspit zen gegen den flachen grauen Bauch der Maschine. »Das gibt ihnen das Gefühl, berührt zu werden; wenn sie Körpertemperatur hätten, würde es sich fast so anfühlen, als besäßen sie eine Haut. Kommen Sie her, probie ren Sie es selbst.« Sie schüttelte den Kopf. »Das reicht. Wir können wieder gehen.« Griffith ignorierte sie und kniete nieder. Er schob die schwarzen Gama schen zurück, die die großen Füße des Roboters bedeckten, und holte einen Kugelschreiber aus der Tasche. »Genau hier saß ein bisschen Schlamm.« In dieser Position war er völlig ungeschützt. Der Roboter brauchte nur die Hand auszustrecken, und… Griffith nahm seine Brille ab und hielt sie schief. »Jetzt ist alles verschwunden«, sagte er, eine Spalte in den Metallpaneelen am Schienbein des Roboters betrachtend. »Wie ich schon zu Mr Gray sagte, ich glaube nicht, dass der Schlamm von irgend welchen Ausflügen in jüngster Zeit stammte. Muss uns…«, ächzte er, als er sich mit knackenden Gelenken wieder erhob, »… bei einer unserer letzten Inspektionen nach einem Ausflug ins Freigelände entgangen sein.« Griffith wendete sich wieder dem Achter-Modell zu. »Auf Wiedersehen, Auguste«, sagte er winkend. Sobald er sich umgedreht hatte, um den Raum zu verlassen, kauerte sich der Roboter wieder in seine Ecke auf den Boden. Der weiße Beton war kalt und nackt. Die Roboter lebten wie Tiere in einem grausamen, primitiven Zoo früherer Zeiten. Moderne Zoos taten alles Menschenmögliche, um den natürlichen Lebensraum ihrer Insassen zu rekonstruieren. Aber Roboter – sie hatten keinen natürlichen Lebens raum. Jedenfalls noch nicht. Aber sie wollen offensichtlich heraus aus dieser Höhle, dachte Laura. Im Freien herumwandern – frei. Laura beobachtete, wie der Roboter seine Denker-Pose wieder einnahm, mit dem schwer auf seiner Hand ruhenden Kinn. Als Griffith neben sie trat, fragte sie: »Ruht er sich immer noch aus oder – vegetiert er nur?« »Oh, nein«, sagte Griffith. »Sie haben ihre Verhaltensmuster mit unse rem Tag und unserer Nacht synchronisiert. Während der beiden bemann 379
ten Schichten sind sie aktiv und verbringen dann den größten Teil der dritten Phase…« Er warf einen Blick über die Schulter und verstummte. Ihm war noch nicht aufgefallen, dass der Roboter wieder an seinem Platz in der Ecke zusammengesunken war. »Seltsam«, sagte Griffith und kehrte zu Auguste zurück. Er zog einen kleinen Schraubenzieher aus der Brustta sche und hebelte mit ihm ein Paneel am Oberschenkel des Roboters auf. Griffith kniff die Augen zusammen und hielt dann abermals seine Brille schief, um lesen zu können, was auf einem leuchtenden blauen Schirm direkt über einer großen, dreilöchrigen Steckdose stand. »Hmm!«, sagte er, drückte das Paneel wieder zu und richtete sich auf. »Die Ladung ist in Ordnung.« Er betrachtete den lethargischen Roboter mit ratlosem Aus druck. »Ich weiß nicht, was es sein könnte.« »Vielleicht mag er die Gefangenschaft nicht«, schlug Laura vor. »Was meinen Sie mit ›Gefangenschaft‹?« »Ich meine, hier eingeschlossen zu sein. In diesem Zimmer.« »Er ist nicht eingeschlossen«, sagte Griffith. »Er kann in dieser Anlage gehen, wohin er will.« »Aber an der Tür ist ein Schloss. Sie mussten den Netzhaut-Identifikator benutzen.« »Wir müssen Türen aufschließen. Sie benutzen einfach ihre Mikrowel lensender und strahlen den Zugangscode aus. Sie können sich innerhalb dieser Anlage frei bewegen.« »Aber Sie haben Ihnen bestimmt nicht die Codes für die Ausgänge ge geben«, sagte Laura. Griffith reagierte nicht, und sie lächelte. »Ich meine, an denen sind doch bestimmt Schlösser.« »Oh, doch… es besteht ja immer die Gefahr, dass hier unten ein Brand ausbrechen oder ein anderer Notfall eintreten könnte. Und sie sind, wie ich bereits sagte, überaus wertvolle Besitztümer von Mr Gray…« »Sie geben ihnen die Codes zum Aufschließen der nach draußen führen den Türen?«, fragte Laura, völlig fassungslos. »Nur den fünf Robotern aus der 1.1 Serie – der ersten und am höchsten ausgebildeten Klasse – und Hightop natürlich.«
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»Mr Gray ist in seinem Arbeitszimmer und liest Berichte oder derglei chen«, sagte Janet. Laura ging die vom Fahrstuhl kommende Treppe weiter hinauf. Sie fühl te sich mitgenommen, wusste aber nicht, weshalb. War es die Fahrt von den Räumlichkeiten der Achter-Modelle nach oben oder das, was sie in den unheimlichen Höhlen da unten gesehen hatte? Laura klopfte an die Tür des Arbeitszimmers, aber es kam keine Antwort. Sie trat ein. Das Feuer im Kamin knisterte. Gray, frisch rasiert, saß in seinem mächtigen Ledersessel, mit den Füßen auf dem Schreibtisch. Überall lagen Papiere herum. Sein Kopf ruhte auf einem weichen Kissen. Er schlief tief und fest. Sie lächelte. Also ist er doch irgendwie menschlich, dachte sie. Auf dem Sofa lag eine Mohairdecke; sie holte sie und schlich auf Zehenspitzen zu Grays Schreibtisch. Er rührte sich nicht einmal, als sie die Papiere von seinem Schoß nahm. Er schlief so fest, dass er vermutlich nicht einmal reagiert hätte, wenn sie das Schüreisen vom Kamin geholt und es ihm gegen die Rippen gestoßen hätte. Er hatte sich so weit zurückgelehnt, dass er fast ausgestreckt dalag. Sie zog die Decke bis zu seinem Kinn hoch und deckte ihn damit bis zu den Zehen zu. Er sah aus wie ein Kind. Der Schlaf machte auf irgendeine undefinierba re Art seine Züge weicher. Seine Augenlider waren geschlossen, glatt, entspannt. Die dichten Wimpern waren fest zusammengedrückt, Brauen und Haar schimmerten tiefschwarz. Wenn er aufwachte, da war sie ganz sicher, würden seine Augen erneut strahlen. Sie sehnte sich danach, sie zu sehen – in ihnen zu lesen, dass er sich zu ihr hingezogen fühlte. Laura schaute auf und sah, dass Janet zur Tür hereinlugte. Sie lächelte und nickte, bevor sie wieder verschwand. Laura wusste nicht, was sie von Janets Lächeln halten sollte, getraute sich aber nicht, über dessen Bedeutung nachzudenken. Sie konnte es jetzt nicht riskieren, sich mit den in ihr aufkeimenden Gefühlen auseinanderzu setzen. Dazu war sie emotional zu labil – die Folge einer Spannung zwi schen dem warmen Glücksgefühl, das sie im Augenblick empfand, und ihrer Unruhe wegen der Geheimnisse, die alles hier umgaben. Also tat Laura das Einzige, wozu sie imstande war. Sie verdrängte alle Gedanken, verließ das Arbeitszimmer und begab sich ohne weiteres Nachdenken 381
hinaus in die frische Morgenluft. Ein leerer Wagen stand am Fuß der Treppe. Sie wusste, dass es Zeit war, an die Arbeit zurückzukehren, stieg ein und schnallte sich an. »Bitte bring mich…«, sagte sie, ehe sie es sich anders überlegen konnte, »zu Mr Hoblenz. Aber nicht, wenn er zu beschäftigt ist – oder wenn er sich an einem gefährlichen Ort befindet.« Die Tür schloss sich, und der Wagen setzte sich sofort in Bewegung. Am Tor bog er nach rechts ab, Richtung Atomreaktor. Der Kühlturm und die Sicherheitskuppel kamen Laura jetzt nicht mehr ganz so düster vor. Als sie am Fenster ihres Wagen vorbeiglitten, hatte sie Mühe, etwas von der Empörung aufzubringen, die sie erst am Vortag emp funden hatte. Gestern habe ich noch im zwanzigsten Jahrhundert gelebt, begriff sie, heute… im einundzwanzigsten. Jetzt ist es lediglich gefährli cher, sagte sie sich. Die Straße führte in Richtung Dorf und verlief parallel zur Küste am Fuß des hohen Berges. Der Wagen passierte den zu Krantz’ Laboratorium führenden Tunnel und hielt dann aus einem ihr unerfindlichen Grund an. Laura sah sich um. Auf dem schmalen, schwarzsandigen bedeckten Strand tief unten sah sie ein kleines Schlauchboot mit zwei Außenbordmotoren. Drei Männer knieten in einem engen Halbkreis um einen kleinen Sand fleck herum. Zwei von ihnen trugen Gewehre. Die Tür schwang auf, und Laura stieg aus. Sie eilte den steilen Abhang hinunter. Der Abstieg war tückisch. An einigen Stellen rutschte sie auf dem Hosenboden ihrer Jeans und ließ beide Hände auf der lockeren Erde schleifen. Als sie unten ankam, warteten die drei Männer auf sie. Einer von ihnen war Hoblenz. »Was zum Teufel tun Sie denn hier?«, fragte er. »Ich habe Sie gesucht«, erwiderte Laura und wischte sich den Schmutz vom Hosenboden. Alle drei Männer schauten ihr dabei zu. Hoblenz bellte einen Befehl und schickte seine Männer in entgegenge setzten Richtungen den Strand entlang. Eine leichte Brandung überspülte den Sand hinter Hoblenz. »Na schön«, sagte er mit seinem unverkennba ren Texas-Akzent. »Schießen Sie los.« 382
Laura griff in ihre Gesäßtasche und holte die Karte mit der FBITelefonnummer heraus. Sie gab sie Hoblenz und erzählte ihm, wie die Agenten an sie herangetreten waren. Er hörte schweigend zu und sah ab wechselnd sie und die Karte an. Laura teilte ihm auch mit, dass sie glaube, dass irgendetwas faul sei an der V-Mail, die sie erhalten hatte, und berich tete von ihrem ebenso dubiosen Telefongespräch mit Jonathan. »Das ist alles mächtig interessant«, erwiderte Hoblenz. Er steckte die Karte in die Brusttasche seines Tarnanzugs. »Und was soll ich tun? Ihnen eine Medaille für die Erfüllung Ihrer Bürgerpflichten verleihen?« »Ich weiß über den belgischen Soldaten Bescheid.« Hoblenz musterte sie mit zusammengekniffenen Augen, spuckte auf den Boden und sagte: »Niederländischen.« »Es war kein Belgier?« Hoblenz reckte den Hals, um aufs Meer hinausschauen und deutete mit dem Daumen in die Luft hinter seiner Schulter. »Der Computer sagt, Bel gien hätte keine Unterseeboote.« »Da draußen liegt ein Unterseeboot?« »Ja.« »Woher wissen Sie das?« »Weil sie vor kurzem ein paar Leute an Land abgesetzt haben, die nach ihrem Mann suchen.« »Am helllichten Tage?«, fragte sie. Hoblenz saugte die Wangen ein und ließ seine Kiefer an etwas arbeiten, dann nickte er. »Sie sind genau hier gelandet?«, fragte sie. »Ja.« Er kaute Tabak – sein Mund war schwarz davon. Er spuckte aber mals. »Woher wissen Sie, dass sie nach dem Soldaten suchen?« »Ich habe sie gefragt.« »Haben Sie ihnen gesagt, was passiert ist?« »Ich habe ihnen gesagt, dass er tot ist. Sie fragten, ob sie die Leiche zu rückbekommen könnten, und wir haben vereinbart, dass er um zwölf ab geholt wird.« »War das alles?« 383
Er zuckte die Schultern. »Sie haben gefragt, ob ich ihnen ihre SatellitenInstrumente zurückgeben würde.« »Und was haben Sie geantwortet?« Er schnaubte, und auf seinem normalerweise humorlosen Gesicht er schien ein flüchtiges Lächeln. »Dreimal dürfen Sie raten.« »Sind noch weitere Unterseeboote da draußen?« Hoblenz betrachtete seine Füße und ließ ein Kichern hören, das so rau klang, als käme es aus der Kehle eines starken Rauchers. Er hob eine Hand und massierte die Muskeln in seinem massigen Genick, dann reckte er den Hals und neigte den Kopf von einer Seite zur anderen. »Teuerste, ich habe ungefähr fünfzig gute Männer. Sie kommen aus aller Welt, und in dem ganzen Haufen war kein Einziger bei den christlichen Pfadfindern, aber ich kann mit Stolz sagen, dass keiner von ihnen heute in eines der Flug zeuge einsteigt. Aber was U-Boote angeht, gibt es nichts, was mir bekannt wäre. Auch nicht hinsichtlich von Flugzeugträgern. Wir haben ein paar alte Stingerraketen, die Mr Gray auf mein Drängen hin zum Zehnfachen ihres Wertes gekauft hat, und ich würde es vielleicht schaffen, mit der Armee von Luxemburg fertig zu werden. Aber was alle anderen NATOStaaten betrifft – die Insel ist ihnen ausgeliefert.« Er schwenkte die Hand in einem breiten Bogen durch die Luft. »Was ist mit… Sie wissen schon?« Laura deutete mit einem Nicken auf die Stelle, an der der Atomreaktor aus der Flanke des Berges hervorragte. Hoblenz musterte sie mit einem unergründlichen Lächeln, bevor er a bermals kicherte und den Kopf schüttelte. »Sie wollen sie mit Atomrake ten beschießen?« »Nein!«, erwiderte sie errötend. »Ich meine nur, hat Gray nicht – irgend etwas? Irgendein Hightech-Ding, das Leute einfach außer Gefecht setzt oder so?« »So etwas gibt es nicht, Dr. Aldridge. Man lässt sie entweder in Ruhe, oder man bringt sie alle um. Ein Mittelding gibt es nicht.« Ihr war klar, dass ihre Fragen ihn argwöhnisch machten. »Hören Sie, ich bin hergekommen, um Frieden mit Ihnen zu schließen. Ich weiß, dass Sie mir nicht trauen, aber ich schwöre, ich habe Ihnen alles erzählt. Wenn Sie sonst noch Fragen haben« – sie streckte ihm ihre offenen Hände entgegen 384
– »schießen Sie los.« Sie stemmte die Hände auf die Hüften und imitierte damit Hoblenz’ Macho-Pose. Als sie wieder aufschaute, zeigten sich um seine Augen herum kleine Fältchen. Diesmal war sein Lächeln echt. »Also, eine Frage habe ich«, sagte Hoblenz nach einem Blick auf seine Männer. Sie kehrten mit langsamen Schritten von ihrer Stranderkundung zurück und waren immer noch ein gutes Stück entfernt. »Mr Gray… glau ben Sie, dass er, Sie wissen schon, okay ist?« Laura war verblüfft. »Wie meinen Sie das?« »Ich meine« – er spuckte wieder aus – »ist sein Kartenspiel vollstän dig?« Laura neigte den Kopf. »Fragen Sie mich nach Mr Grays geistiger Ge sundheit?« »Nach ihrer professionellen Ansicht.« Sie zuckte mit den Schultern. »Aber ich habe keine professionelle An sicht von Mr Gray.« Er musterte sie, und von dem Lächeln war keine Spur mehr vorhanden. »Und was zum Teufel haben Sie dann die letzten drei Tage getan?« Sie schüttelte den Kopf und zuckte wieder mit den Schultern. »Ich hatte mit dem Computer zu tun wie alle anderen Leute auch.« »Aber Sie sind doch Psychologin!«, entgegnete er mit leiser, bedrohli cher Stimme. »Wollen Sie mir etwa einreden, Sie wären nicht darauf ge kommen, Miss… Harvard? Das hätte sich inzwischen sogar ein Zweijäh riger zusammenreimen können.« »Sich was zusammenreimen?«, schrie sie nahezu, entschlossen, sich nicht einschüchtern zu lassen. »Sucht den Strand noch einmal ab!«, brüllte er seine näher kommenden Männer an, so laut, dass Laura erschrak. Die Soldaten musterten ihn kurz, dann machten sie kehrt und strebten wieder in die Richtungen, aus denen sie gekommen waren. Sie wartete, solange sie das fertig brachte, dann flüsterte sie: »Sich was zusammenreimen?« »Ich habe Ihre Sicherheitsüberprüfung selbst vorgenommen. Ich weiß, wer Sie sind, und ich weiß, dass nicht Gray Sie ausgesucht hat – das hat der Computer getan.« Sie wartete auf mehr, aber das war’s. »Und?«, sagte sie gereizt. 385
Er schüttelte den Kopf. »Wenn es um den gesunden Menschenverstand geht, braucht ihr Eierkopf-Typen eine Straßenkarte und einen Kompass, stimmt’s?« »Dann erklären Sie es mir bitte, Mr Hoblenz. Was genau wollen Sie da mit sagen?« Er lächelte und schüttelte den Kopf. »Der Computer hat Sie nicht des wegen ausgesucht, weil in seinem Kopf etwas nicht stimmt! Das ver dammte Ding hat nicht einmal einen Kopf! Es geht um Gray! Geht das nicht in Ihr erbsengroßes Gehirn? Der Computer glaubt, dass Gray kaputt geht! Er glaubt, dass er am Rande eines Zusammenbruchs steht! Dass der Stress zu viel für ihn ist! Er hat Sie hergeholt, damit Sie sich um Gray kümmern, nicht um den Computer«, sagte Hoblenz mit einem Knurren, das bei ihm die leise, aber eindringliche Stimme ersetzte. Laura konnte Hoblenz nur anstarren. »Ich dachte, Sie hätten Mr Gray gesagt, dass Sie mir nicht trauen.« »Also – das tue ich auch nicht.« »Und Sie haben ihm außerdem gesagt, er sollte nicht mit mir reden.« »Das habe ich getan.« »Und weshalb hätten Sie das tun sollen, wenn Sie glauben, ich wäre hier, um ihn zu therapieren? Weshalb sollten Sie ihn auffordern, nicht mit mir zu reden, wenn er emotionale Probleme hätte?« »Ich glaube nicht, dass Gray dabei ist, verrückt zu werden. Mr Gray hat den gesündesten Kopf, der mir je begegnet ist. Ich habe gesagt, der Com puter glaubt, dass er verrückt wird! Ich wollte nur herausbekommen, ob das auch Ihre Meinung ist, aber wie es aussieht, ist Ihnen diese Idee über haupt nicht gekommen«, meinte er mit einem bellenden Lachen und den Kopf schüttelnd. »Warum haben Sie Gray dann gesagt, er solle nicht mit mir reden? Was hätte das Ihrer Meinung nach schaden können, wenn er bei so guter geisti ger Gesundheit ist?« Er musterte sie unverhohlen von Kopf bis Fuß, machte eine langsame und beleidigende Bestandsaufnahme. »Missy, Sie brauchen eine Straßen karte, einen Kompass und einen Spiegel.« 386
»Glauben Sie, dass es ein Roboter war?«, überschrie Laura den Lärm. Die beiden Motoren dröhnten, und der Wind pfiff ihr um die Ohren. Hoblenz’ Schlauchboot jagte durch die Täler und über die Kämme der Dünungswel len und schüttelte sie kräftig durch. Er warf einen Blick über die Schulter auf die beiden Männer, die im Bug hockten. Hoblenz selbst saß am Ruder, und Laura umklammerte den langen Griff vor ihrem Sitz. Der Rumpf des dahinjagenden Bootes ragte abwechselnd in die Luft und knallte dann wieder aufs Wasser. »Ziemlich wahrscheinlich!«, schrie er zurück, drehte das Ruder und be schrieb einen weiten Bogen um einen Landvorsprung. Hinter dem dichten Dschungel kam langsam Startrampe A in Sicht. »Eines von den Achter-Modellen?«, schrie sie. »Das Auguste genannt wird?« Hoblenz musterte sie überrascht. Er nahm Gas weg und stoppte das jetzt auf den Strand zufahrende Boot. Dort standen zwei Fahrzeuge. Jedes von ihnen hatte sechs gewaltige Reifen mit tiefen Profilen, die fast bis zum Überrollbügel hinaufreichten. Sie waren mit einer dicken Schicht grauen Schlamms bedeckt. Vier weitere Soldaten standen um sie herum, mit dem Rücken zum Meer und mit auf den Dschungel gerichteten Gewehren. Es war nicht das niederländische Unterseeboot, das Hoblenz’ Männer beun ruhigte. »Sie haben rumgeschnüffelt«, sagte Hoblenz. Ein paar Meter vom Strand entfernt schaltete er den Motor aus. Der Schwung schob den flachen Gummiboden des Bootes mit einem knirschenden Geräusch bis auf den Sand. Einer der Soldaten sprang mit einem Tau in das knietiefe Wasser. Hoblenz selbst setzte einen Stiefel hinein und streckte Laura eine Hand entgegen. Sie ignorierte sie und sprang auf den trockenen Sand. Dort gesellte sich Hoblenz zu ihr. »Können wir kurz miteinander re den?«, fragte Laura. Hoblenz warf einen Blick auf seine Männer und deu tete mit einem Kopfnicken zur Seite. Als sie etliche Meter entfernt waren, sagte Laura: »Sie waren letzte Nacht bei der Bürgerversammlung, stimmt’s?« »Natürlich«, sagte Hoblenz, dann schaute er über die Schulter zu seinen Männern. 387
»Was hielten Sie von Mr Grays Rede?«, fragte Laura, Hoblenz beobach tend. »Über Phase Zwei?« Hoblenz blieb plötzlich stehen und wandte sich ihr zu. Auf seinem Ge sicht lag ein todernster Ausdruck. »Ich bin bereit.« Irgendetwas an der Art, auf die er das sagte, jagte ihr einen Schauder ü ber den Rücken. »Wofür bereit?« Er nickte kurz. »Für das, was kommt.« Auf diese Wendung des Gesprächs war Laura völlig unvorbereitet. »Und was ist das?« »Phase Zwei!« »Aber… was ist Phase Zwei?« »Krieg«, erwiderte er kurz. Das Schweigen legte sich schwer auf sie. Laura war fassungslos. »Krieg gegen wen?« Hoblenz zuckte die Schultern. »Keine Ahnung.« Seine Antwort schien ihn nicht im Geringsten zu beunruhigen. »Verstehen Sie, für einen Krieg bereit zu sein, hat nicht viel mit Kartenzeichnen zu tun. Es steckt hier oben«, sagte Hoblenz und tippte sich mit einem gekrümmten Zeigefinger gegen die Schläfe. »Ich glaube, nicht einmal Mr Gray weiß genau, was uns bevorsteht, aber in einem Punkt hat er Recht. Wir haben immer unser Bestes geleistet, wenn wir herausgefordert wurden. Die größten Fortschrit te sind immer im Verlauf von bewaffneten Auseinandersetzungen erzielt worden.« Hoblenz wirkte jetzt aufgedreht – lebhaft. »All dieser Blödsinn über ›Kooperation‹ und friedliche Koexistenz‹ ist genau das – nämlich Blödsinn! Ein Produkt unseres Überflusses, ein Luxus, den wir uns in den letzten Jahren haben leisten können. Aber die Zeit wird kommen. Dann werden die Fetzen fliegen, und zwar gründlich.« »Wovon zum Teufel reden Sie?« »Vom Tag des Gerichts. Vom Jüngsten Tag. Wie immer Sie es nennen wollen.« Laura musste unwillkürlich lächeln. »Hat Gray von der Bibel gespro chen?« »Nein! Gray würde nie predigen. Aber ich habe gewusst, was er zum Ausdruck bringen wollte. Für mich gibt es überhaupt keinen Zweifel.« 388
»Also – welche Worte hat er gebraucht?« Hoblenz kniff die Augen zusammen und musterte sie mit zur Seite ge legtem Kopf. »Er hat davon gesprochen, wie der Baum des Wissens wächst und sich ausbreitet.« Laura starrte ihn an, dann fragte sie: »Was zum Teufel soll das denn hei ßen?« Er schwenkte eine Hand, und sie vermutete, dass er nicht zugeben woll te, die Bemerkung gleichfalls nicht verstanden zu haben. »Sie hätten dabei sein müssen.« »Ich wollte, ich wäre dabei gewesen! Jemand hätte mich wecken kön nen.« »Ich habe Mr Gray gefragt, ob ich Ihnen einen Wagen schicken solle«, sagte Hoblenz. Laura spürte einen fast körperlichen Stich in der Brust. Sie schaute auf. »Wie bitte?« »Als wir die Metalldetektoren aufstellten, habe ich ihn gefragt, ob ich einen Wagen hinaufschicken solle, der Sie abholt.« Hoblenz zuckte die Schultern. »Er hat gesagt, das wäre nicht nötig.« Laura war völlig niedergeschmettert. Sie machten sich auf den Rückweg zu den anderen, wobei sie wegen der gleißenden Sonne den Kopf gesenkt hielt. »Einer meiner Männer bringt Sie zu Rampe A. Von dort aus können Sie einen Wagen nehmen. Da müssten jetzt viele herumstehen, nachdem die Insel ja etwas entvölkert ist.« »Ich möchte sehen, wo es passiert ist.« »Wo was passiert ist?« »Wo der Soldat getötet wurde«, entgegnete Laura und sah ihn herausfor dernd an. Hoblenz’ bemühte Bemühung um Höflichkeit endete abrupt: »Sind Sie verrückt? Das ist kein gemütlicher Spaziergang über den Campus, Doc. Und ich habe heute schon mal geduscht.« Sie starrte in das dichte Gestrüpp. Der niederländische Soldat war allein dort hineingegangen und nicht wieder herausgekommen. Die Geländewa gen standen fahrbereit am Rande des Dschungels. Es ließ sich wegen der 389
zentimeterdicken Schlammschicht unmöglich sagen, welche Farbe sie hatten. Die Soldaten standen um sie herum und schauten immer wieder auf Laura und Hoblenz. »Haben Sie Angst davor, dorthin zurückzukehren, Mr Hoblenz?«, fragte Laura – laut genug, dass seine Männer es hören konnten. »Mr Gray hat gesagt, ich hätte überall unbeschränkten Zutritt. Ich denke, das gilt auch für den Dschungel.« Ohne eine Antwort abzuwarten, ging sie auf das nächststehende Fahr zeug zu. Hoblenz folgte ihr. Laura stopfte ihr Haar unter eine der Base ballmützen, die man ihr anbot, und setzte eine Schutzbrille aus Plastik auf. Sie kletterte auf die schräge Kühlerhaube und Hoblenz half ihr über die niedrige Windschutzscheibe hinweg, wobei er die ganze Zeit vor sich hin grummelte. Laura beschloss, den Schlamm zu ignorieren, der den Beifah rersitz bedeckte. Sie ließ sich in dem Dreck neben Hoblenz nieder, der sich mit hörbarem Aufseufzen auf den Fahrersitz setzte. Laura schnallte sich an, dann stellte sie überrascht fest, dass zwei weitere Männer in den hinte ren Teil des Fahrzeugs gestiegen und sich mit Gurten am Überrollbügel angeschnallt hatten – beide mit schussbereiten Gewehren. Sie war sogar noch überraschter, als das zweite Fahrzeug seinen Motor startete, dessen Dröhnen das leise, aber stete Rauschen des Windes und der Brandung übertönte. Es setzte sich mit vier weiteren bewaffneten Soldaten an Bord hinter sie. Sie spürte, wie ihr Puls schneller wurde. »Fertig?«, fragte Hoblenz, und mit plötzlichem Donnern sprang der Mo tor ihres Fahrzeugs an. Das leichte Fiberglas-Chassis schien ein bloßes Anhängsel der wichtigsten Bestandteile dieser Fahrmaschine zu sein: seinem dröhnenden Motor und den beiden Reihen riesiger Reifen, die links und rechts schwarze Kautschukwände bildeten. Vor Hoblenz befand sich kein Lenkrad, nur zwei dicke Griffe, die aus langen Schlitzen beider seits seines Sitzes herausragten. Er drehte den vertikalen Gashebel wie bei einem Motorrad, woraufhin der Motor noch lauter aufheulte und Lauras Eingeweide von den heftigen Vibrationen erschüttert wurden. Es fühlte sich an, als wäre der Sitz direkt auf den massiven Motorblock genietet. Hoblenz gab noch mehr Gas und schrie: »Gut festhalten!« Dann schob er 390
die beiden Hebel bis zum Anschlag nach vorn. Mit einem Stoß in Lauras Rücken pflügte das Fahrzeug sich direkt in die solide Dschungelwand hinein. Seine spitz zulaufende Nase erhob sich geradewegs in den Himmel. Lau ras Gewicht verlagerte sich. Einen grauenhaften Moment lang dachte sie, sie würden sich überschlagen und die beiden Soldaten hinten würden zer malmt. Sie spürte ein Torkeln und Rutschen und dann ein weiteres Tor keln, vorwärts und wieder aufwärts, als Hoblenz die beiden Hebel unab hängig voneinander betätigte. Dann hob sich das Fahrzeug mit einem letzten Aufheulen des Motors dem Dschungeldach entgegen – kam in die Horizontale und schrubbte seinen Weg voran, halb in das dicke Gestrüpp unter ihm versunken. Sie schaute zwischen den Beinen der beiden stehen den Soldaten hindurch zurück und sah, dass auch das zweite Fahrzeug fast vom Boden abhob. Sein schlammiger Bauch hatte weiße Kratzstreifen von Ästen, und es schob sich auf dem flachen, von dem Leitfahrzeug gebahn ten Pfad voran. Sie fuhren auf dem Unterholz des Dschungels, nicht durch das Gestrüpp hindurch – das Chassis streifte teilweise die oberen Bereiche des dichten Blätterdachs. Die riesigen Reifen hieben mit aller Gewalt auf die Äste ein und rollten im Schneckentempo ihrem Ziel entgegen. »So dicht ist es nur am Rande des Dschungels!«, brüllte Hoblenz in ihr linkes Ohr. »Wenn wir erst weiter drin sind, wird er lichter!« Sie konnte ihn über dem Lärm des Motors und dem wütenden Scharren der Äste am Chassis kaum verstehen. Eine kurze Strecke weiter begannen sie in das dichte Gestrüpp einzusin ken wie ein langsam ins Wasser abtauchendes Unterseeboot. Mit ruckarti gen Bewegungen von einer Seite zur anderen drangen sie mit jedem Zen timeter, den das Fahrzeug vorwärts kroch, tiefer in den Dschungel ein. Bei jedem Abwärtsrutscher sprang Laura das Herz in die Kehle, aber die zähen Äste der Dschungelgewächse verhinderten, dass sie krachend auf den Boden stürzten. Es wurde dunkel, als sie von dem grünen Laub rings um sie herum und über ihnen eingeschlossen wurden. Ein wässriges Gluckern unter dem Fahrzeugboden meldete ihre Ankunft auf schlammigem Gelände. Einen 391
Moment lang herrschte relative Stille, als Hoblenz in den Leerlauf schalte te. Der Dschungelboden lag in immerwährendem Schatten und stank nach tausend verrottenden Dingen. Laura bewegte ihre Finger, die vom festen Umklammern des Haltegriffs schmerzten. »Weiter geht’s«, sagte Hoblenz und gab mit einem Drehen des Griffs erneut Gas. Ein Dröhnen ertönte, unmittelbar gefolgt von Hochgeschwindigkeits-Sirren durchdrehender Reifen. Große Schlammbrocken flogen hoch, bedeckten die Gläser ihrer Brille, prallten gegen ihr Gesicht und bespritzten ihre Kleidung. Lauras T-Shirt begann an ihrer Haut zu kleben – ein kaltes, unbehagliches Gefühl. »Juhuuu!«, brüllte Hoblenz über das Getöse hinweg. Sie griff hoch und wischte auf ihren Brillengläsern zwei kleine Sichtfenster frei. Alles, was sie sehen konnte, waren Hoblenz’ weiße Zähne. Der Rest von ihm war vollständig mit tropfendem Schlamm bedeckt. Eine weitere Flutwelle von Schlamm wurde hochgeschleudert und be deckte ihr Gesicht, ihre Arme und ihre Brust. Sie gab den Versuch auf, ihre Brille freizuwischen. Alles, was sie von ihrer Umgebung mitbekam, waren das Dröhnen des Motors, das Hochspritzen des Schlamms und der gelegentliche Schlag eines überhängenden Astes gegen ihren Kopf. Sie überließ sich dieser dunklen Welt und gab sich, soweit möglich, der trös tenden Vorstellung von Schutz durch die immer dicker werdende Schlammschicht hin. Sie vermochte nicht zu sagen, wie lange es gedauert hatte, als der Motor verstummte. In der plötzlichen Stille dachte sie, der Antrieb hätte versagt, aber als Sekunden später auch das zweite Fahrzeug seinen Motor ausschal tete wusste sie, dass sie ihren Bestimmungsort erreicht hatten. Laura schob sich die Brille aus dem Gesicht, was ein lautes Schmatzge räusch verursachte. Sie öffnete den Verschluss ihres Sicherheitsgurts und mühte sich auf die Beine. Große Mengen Schlamm fielen von ihrem Schoß auf den Fahrzeugboden, und ihre Laufschuhe quietschten in der tiefen Schlammschicht, die ihn ohnehin schon bedeckte. Missmutig und angewidert kletterte sie über die Windschutzscheibe und lehnte alle Hilfs angebote der ebenso verdreckten Männer ab. Trotz der Schlammklumpen, die von ihrer Kleidung fielen, fühlte sie sich unter dem Gewicht des Un 392
rats immer noch dreißig Pfund schwerer als sonst. Sie stand aufrecht auf der schrägen Haube des Fahrzeugs. Das Dschungelgestrüpp war auf dem Boden lichter, als sie erwartet hatte, doch oben wuchs alles ineinander und bildete ein dichtes Dach, das den größten Teil des Lichts abhielt. Die dun kelgrünen Blätter der Sträucher und Bäume sahen fast so schwarz aus wie der sumpfige Boden, auf dem sie wuchsen. Die Soldaten bewegten sich langsam und mit sichtbarer Mühe durch den Morast; jeder ihrer Schritte wurde von lauten Schmatzgeräuschen beglei tet. Hoblenz hatte keine Befehle erteilt, die sie gehört hatte, aber alle machten sich sofort daran, ihre Gewehre mit sauberen Lappen zu reinigen. Laura versuchte nicht zusammenzuzucken, als sie von der vorderen Stoß stange in den Sumpf trat. Das Wasser stieg in dem Loch, das ihr Fuß ge macht hatte, bis auf halbe Wadenhöhe und durchnässte ihre Jeans. Es kostete sie überraschend viel Kraft, den Fuß aus dem klebrigen Schlamm herauszuziehen. Ihre weiße Socke hing über dem Morast in der Luft. Ihr Laufschuh war abgestreift worden und auf dem Grund eines Schlammlochs verschwun den, das sich rasch bis zum Rand mit dunklem Wasser füllte. Sie balan cierte auf einem Bein, das immer tiefer im nassen Morast versank. Diesmal musste sie die Hilfe der Soldaten abwarten. Sie stocherten mit Bajonetten nach ihrem Schuh. Als sie ihn herausfischten, steckte er in einem dicken Morastklumpen und war nicht wiederzuerkennen. Nachdem einer der Soldaten den größten Teil des Schlamms mit seinem Messer abgekratzt hatte, schob sie ihren Fuß mit einem lauten Schmatzgeräusch in den Schuh. »Ich bin eine Frau, hört mich schreien«, hörte sie Hoblenz sagen. Die in ihrer Nähe stehenden Soldaten lachten. »Sind Sie jetzt zufrieden oder möchten Sie auch noch lernen, im Stehen zu pissen?« Noch mehr Geläch ter. Laura stapfte durch den Schlamm und murmelte »Mistkerl«, als sie an Hoblenz vorbeikam. Vor ihnen waren die vier Männer aus dem zweiten Fahrzeug ausgeschwärmt, mit ihren Waffen in der Hand. Dort stieg das Gelände ein wenig an, und sie kletterte aus dem Sumpf heraus auf etwas, das als relativ trockener Schlamm gelten konnte. »Wohin jetzt?«, fragte 393
sie. Hoblenz gesellte sich zu ihr, ließ sich mit seiner Antwort aber Zeit. »Hier war’s.« Sie blickte unter sich auf den unebenen Boden. Es gab nichts, das diese Stelle vom Rest des Sumpfes unterschied. Was hast du denn erwartet?, dachte sie und verfluchte sich innerlich. »Reicht Ihnen das?«, fragte Hoblenz – womit er den Ausflug abrupt für beendet erklärte. Die Schlammleute sahen sie an und warteten. Sie musste die Expedition irgendwie rechtfertigen. »Was haben Sie gefunden?«, fragte Laura. Hoblenz seufzte. »Ich dachte, das wüssten Sie.« »Ich meinte, das niederländische Unterseeboot hätte ihn am Strand abge setzt und er hätte sich seinen Weg durch den Dschungel in Richtung Mon tagehalle gebahnt. Aber wie konnte er hier durchkommen?« »Er ist nicht zu Fuß durch den Dschungel vorgedrungen«, sagte Hoblenz. »Das wäre unmöglich gewesen. Er ist am Rande des Dschungels entlanggewandert, auf der Straße, die sonst von dem Raupenschlepper benutzt wird. Dort haben wir mit den Wärmeortungsgeräten seine Fu ßabdrücke entdeckt.« »Aber ich dachte, das Gebiet vom Computerzentrum zu den Startrampen wäre eine Hochsicherheitszone. Ein ›Sperrgebiet‹, oder was immer auf dem Schild hinter dem Dorf steht. Haben Sie nicht irgendein System – Bewegungsmelder oder so –, das einen Eindringling aufspüren würde?« »Ja.« Hoblenz zuckte mit den Schultern. »Fehler Nummer zehn Millio nen und ein paar Zerquetschte.« Laura nickte, und weitere Brocken des trocknenden Schlamms fielen zu Boden. »Und wie ist er dann hierher gekommen? Sie haben gesagt, das wäre unmöglich.« »Für einen Menschen«, verdeutlichte Hoblenz, dann schwieg er. »Hören Sie, ich habe mit Gray Frage und Antwort gespielt, seit ich auf diese Insel gekommen bin. Ich dachte, zumindest Sie würden den Wert einer offenen Aussprache zu schätzen wissen.« Hoblenz’ Wangen blähten sich kurz auf, dann spuckte er aus. »Okay. Das U-Boot hat ihn am Strand abgesetzt« – Hoblenz deutete in die Rich tung, aus der sie gekommen waren – »und dann ist er am Rande des 394
Dschungel entlanggewandert« – sein Arm beschrieb einen Bogen von 180 Grad – »bis zu einem Punkt in der Nähe der Montagehalle.« Sein Arm fiel mit einem schlammigen Klatschen herunter. »Dort ist seine Spur ver schwunden.« »Was heißt ›verschwunden‹?« »Er wurde aufgehoben und getragen. Überall um ihn herum waren abge brochene Äste. Sie führten in den Dschungel hinein, und das taten auch die Fußabdrücke – kalte Fußabdrücke. Mit Wärmeortungsgeräten waren sie nicht auszumachen.« »Und wie haben Sie den Toten gefunden?« »Er war noch warm. Wir entdeckten ihn von einem Hubschrauber aus, dann sind Mr Gray und ich in einem der Geländefahrzeuge bis hierher vorgedrungen und haben ihn gefunden – ihn und die kalten Fußabdrücke.« Seine Stimme kam von unendlich weit her. »Das Schlimmste, was mir je in meinem Leben begegnet ist, und ich habe weiß Gott eine Menge gese hen. Und lassen Sie mich Ihnen noch etwas sagen. Ich hatte noch nie in meinem Leben Angst, nicht einmal annähernd. Wenn man diese Brille hier aufhat, ist alles grün und leuchtet. Jedenfalls alles, was warm ist. Das, wonach wir gesucht haben, war steinkalt und schwarz.« »Mr Gray sagte, Sie hätten Lampen hergebracht und überall Spuren ge funden«, sagte Laura in dem gleichen verhaltenen Ton, den auch Hoblenz angeschlagen hatte. Er nickte. »Überall, wo der Boden halbwegs trocken ist, gibt es Fu ßabdrücke. Sehen Sie, hier«, sagte er, und Laura folgte ihm zu einer Reihe dunkler Löcher im Schlamm. »Und hier drüben«, Hoblenz zeigte auf die Stelle, »und dort. Sieht aus, als wäre hier ein gottverdammter Square Dance aufgeführt worden. Ich weiß nicht, ob es einer war oder zehn oder alle vierzig. Aber es waren Roboter. Sie waren hier, und sie haben das arme Schwein umgebracht. Haben ihm den Kopf abgerissen!«, sagte Hoblenz wütend. Dann senkte sich seine Stimme zu einem bedrohlicheren Tonfall: »Scheißbande.«
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»Wo ist Mr Gray?«, fragte Laura im Foyer, wo Janet stand. »Ach herrje«, erwiderte die Frau und betrachtete fassungslos den Schlamm, der Laura bedeckte. »Mr Gray – ist er hier?«, wiederholte Laura. »In… in seinem Arbeitszimmer. Ich nehme an, er schläft noch.« Laura machte sich sofort auf den Weg dorthin, auf bloßen Füßen. Ihre verdreckten Laufschuhe und Socken hatte sie an der Haustür ausgezogen. Das Arbeitszimmer war leer – Grays Decke lag auf dem Schreibtischses sel, seine Schuhe standen daneben auf dem Boden. Sie begann das Haus nach ihm abzusuchen. Es gab einen Salon, der aus sah, als wäre er noch nie benutzt worden; ein gemütliches Spielzimmer mit einer polierten Holzbar, einem Dartbrett und Billardtischen; eine wunder schöne, zweigeschossige Bibliothek mit fahrbaren Leitern und Messingge ländern. Alle Zimmer waren leer. Es war ein herrliches Haus. Die Räume schienen sich nach der Wärme menschlicher Gegenwart zu sehnen, aber sie waren alle still, leblos und einsam. Nachdem sie den jetzt dunklen Trainingsraum im Untergeschoss über prüft und auch dort niemanden angetroffen hatte, hatte sie gerade be schlossen, im Obergeschoss nachzuschauen, als ihr ein Gedanke kam: Die Küche. Eine Küche habe ich noch nicht gesehen. Sie kehrte ins Esszimmer zurück und machte sich daran, nach einer Tür zu suchen, die irgendwo in der Nähe sein musste. Eine führte in einen Anrichteraum, an dessen Wän den glänzende Utensilien hingen. Sie tappte den kurzen Gang entlang, vorbei an Kupferpfannen und funkelnden Schöpfkellen, und dann sah sie die Herde und begehbaren Kühlschränke einer großen Küche vor sich. Gray saß auf einem hohen Schemel vor einer aus Holzblöcken bestehen den Insel in der Mitte des makellos sauberen Raums. Als sich Laura näher te, hatte er ihr den Rücken zugewandt. Er war in eine Zeitung vertieft, während er einen späten Lunch verzehrte. Ihre Füße machten auf dem schwarz-weißen Schachbrett der kühlen Fliesen keinerlei Geräusch. Er aß ein Sandwich. Aus Behältern mit Erdnussbutter und Marmelade, die neben einem Laib Weißbrot standen, ragten Messer heraus. Ein Becher mit einem Bild der »Enterprise« aus den alten »Star Trek«-Filmen war halb voll Kaffee. Er las den Sportteil der New York Times. 396
Überrascht schaute Gray hoch, musterte Laura vom Scheitel ihres saube ren Kopfes bis zu den sauberen Zehen und registrierte den Schlamm, der sie ansonsten bedeckte. Er wirkte, als hätte er gerade einen monatelangen Urlaub hinter sich, aber es war noch keine sechs Stunden her, seit er aus dem Dschungel zurückgekehrt war. Seine Augen waren wieder leuchtend blau. »Nun?«, fragte er mit von Erdnussbutter verklebtem Mund. »Sie haben das Programm der Achter-Modelle nicht genügend durch dacht«, sagte sie rundheraus, »und Sie sollten es deaktivieren, bis das der Fall ist. Außerdem sollten Sie eine große Versammlung einberufen und allen Leuten sagen, was hier vorgeht, damit sie ihren Jobs effizienter und sicherer nachgehen können.« Damit wendete sie sich zum Gehen. »Sie waren unten im Berg?«, fragte er. Sie drehte sich um und nickte. »Sie haben also gesehen, was du unten vorgeht?« Sie nickte abermals. »Und Sie haben die virtuelle Realität erlebt – und natürlich mit dem Com puter geredet.« Es war keine Frage, eher eine Aufzählung der relevanten Fakten. »Vor drei Tagen waren Sie ein anderer Mensch. Sie lebten in einer anderen Welt. Vor drei Tagen – als Sie in Ihrem Büro des späten zwan zigsten Jahrhunderts saßen –, wenn Ihnen da jemand erzählt hatte, was heute möglich ist, mit der heutigen Technologie, hätten Sie ihm geglaubt? Hätten Sie geglaubt, was Sie inzwischen mit eigenen Augen auf dieser Insel gesehen haben?« Laura zitterte. Der Boden unter ihren nackten Füßen war kalt und ihre Kleider klebten feucht am Körper. Wenn er mich nur nicht so ansehen würde, dachte sie und schüttelte den Kopf. »Laura, Sie waren auf einer Raketenfahrt ins nächste Jahrhundert. Das wirkliche einundzwanzigste Jahrhundert – und zwar die zweite Hälfte, nicht die erste – ist bereits seit geraumer Zeit herangewachsen, aus Mikro organismen von Ideen in Forschungslaboratorien und Denkfabriken über all auf dem Planeten.« Er drehte sich auf seinem Schemel, um sie anzuse hen – um ihre volle Aufmerksamkeit zu fordern. »Nirgendwo haben sich diese Nischen weiter vergrößert als auf dieser Insel hier. Und sie werden sich weiter vergrößern. Die Nischen werden wachsen, sich berühren, ein ander überlappen, und die Welt wird sich ändern – für immer.« 397
Laura verstand Grays Worte, verstand jedoch nicht, was er wirklich sag te. »Also das war es, was passiert ist?«, fragte sie leise. »An meinem ers ten Abend, als Sie mit mir in Richtung Montagehalle gingen und wir das Sechser-Modell sahen, das den Rasen mähte, das war eine Art Orientie rungskurs, um mich auf Tempo zu bringen?« Er musterte sie eingehend, erwiderte aber nichts. »Sie haben gewusst, dass ein Roboter da draußen sein würde und dass wir ihn sehen würden. Sie haben mich in Ihre Welt geschoben – in Ihr Jahrhundert.« Er nickte. »Aber vergessen Sie nicht, da hatten Sie bereits die DreierModelle beobachtet. Jetzt denken Sie überhaupt nicht mehr über sie nach. Sie sind passe. Ein unwichtiger Faktor. Vermutlich denken Sie an sie nicht einmal mehr als an Roboter, nicht wahr? Aber es sind Roboter, genau wie die Achter-Modelle, die Sie heute Morgen unten im Berg gesehen haben.« »Warum?«, fragte Laura. »Warum tun Sie das mit mir?« »Sie leben in der Welt des Verstandes, und ich ebenfalls. Aber Sie be trachten den Verstand – das Gehirn – als ein faszinierend komplexes Mi rakel, als ein herausforderndes Rätsel, das gelöst werden muss. Sie wollen seine sämtlichen Mysterien in lebenslangem Forschen und Entdecken erklären. Ich dagegen sehe in ihm eine Beschränkung – ein Handikap. Man kann nicht ein neues Modul in den Computer der Natur einstöpseln und seine Gedächtniskapazität erweitern. Man kann nicht einen Prozessor aufrüsten und seine Geschwindigkeit verdoppeln. Er ist, was er ist, und das wird er auch Zehntausende von Jahren bleiben, bis…« Er brach ab. »Bis was?« »Bis die Natur ihren Lauf nimmt. Bis die Evolution ihr Zauberwerk tut und die grundlegende Architektur des Gehirns ändert. Bis sie die Kapazität der Hardware so erweitert, dass sie Programme laufen lässt, die denken und folgern und erinnern können.« »Wollen Sie damit sagen, dass es so eine Art ›Bewusstseins-Programm‹ gibt?«, fragte Laura. »Dass unser Gehirn ein Computer ist und unsere Intelligenz lediglich Software?« »Nicht exakt.« »Was wollen Sie dann sagen – exakt?« 398
»Sie sind noch nicht so weit.« Laura wurde sofort wütend. »Ist Ihnen nicht klar, wie herablassend das ist? Ich bin kein Kind, und ich mag es nicht, wenn man mich wie eines behandelt!« »Was, glauben Sie, geht hier vor?«, fragte Gray. Sie war so aufgebracht, dass es sie mehrere Anläufe kostete, ihre Ant wort hervorzubringen. »Ich glaube, dass Sie irgendeine Art von… neuen Robotern gebaut haben – ein Neuner- oder ein Zehner-Modell oder was auch immer –, das, was der kleine Junge letzte Nacht gesehen hat. Und Sie sind überzeugt, dass ich noch nicht so weit bin, mich damit auseinanderzu setzen, weil der Rundreisebus gerade erst bei den Achter-Modellen ange kommen ist. Und ich glaube, dass einer von diesen neuen Robotern – denen, die geduckt herumrennen können – etwas damit zu tun hat, dass diesem niederländischen Soldaten der Kopf abgerissen wurde!« Sein Gesicht war jetzt eine undurchdringliche Maske. Weder ein Lip penzucken noch die Andeutung eines Nickens oder Kopfschütteins. »Ich wollte, ich könnte es Ihnen erzählen«, sagte er leise. Sein Ton ließ sie zögern. »Also bin ich noch nicht so weit?« »Offensichtlich nicht.« »Also, wann wird das der Fall sein – falls es je dazu kommen sollte?« »Wenn der Computer sagt, dass Sie bereit sind.« Laura warf ruckartig den Kopf nach hinten. »Wenn der Computer sagt, dass ich bereit bin?«, stieß sie mit ungläubi gem Lachen hervor. Er nickte. Sie holte tief Luft, um ihre Fassung zurück zugewinnen. »Sie sagen mir, ich wäre hier, um den Computer zu analysie ren, dabei lassen Sie mich vom Computer analysieren.« Sie schüttelte völlig verwirrt den Kopf. »Und Hoblenz glaubt, der Computer erwarte von mir, dass ich Sie analysiere!« Gray lächelte breit; seine weißen Zähne und das Blau seiner Augen bil deten einen deutlichen Kontrast zu seinem gebräunten Gesicht. »Auf die Idee war ich noch nicht gekommen«, sagte er. »Ein interessantes Drei eck!« »Aber weshalb benutzen Sie den Computer, um mich zu beurteilen?«, fragte sie. »Falls Sie vorhaben, zu irgendwelchen überaus subjektiven 399
Feststellungen über meinen Geisteszustand zu gelangen, weshalb verlassen Sie sich dann auf eine Maschine?« »Aus dem gleichen Grund, aus dem ich mich auf einen Bulldozer verlas se, wenn ich Erde bewegen will, und auf einen Wagen, um Entfernungen zurückzulegen. Ich baue Werkzeuge, die meine Fähigkeiten steigern. Werkzeuge, die mich stärker, schneller – und intelligenter machen.« »Und der Computer ist eines Ihrer Werkzeuge?« »Es ist ein symbiotisches Verhältnis. Wir helfen uns gegenseitig.« »Er gibt Ihnen mentale Pferdestärken«, sagte sie. Gray nickte. »Und was geben Sie ihm?« »Leben.« Sie starrten einander in der Stille des großen Hauses an. Laura konnte keinen Trick, keine Täuschung erkennen. Er sagte bestimmt die Wahrheit, und trotzdem war sein Innerstes noch immer von einem Schleier der Ver schwiegenheit umgeben. So lagen die Dinge nun einmal bei Gray; und das vergrößerte nur das Geheimnis, das ihn umgab. »Oh!«, rief Janet vom Anrichtezimmer aus. »Mr Gray!« Sie kam schnell in die Küche und stellte unterwegs den Besen ab, mit dem sie offensicht lich Lauras Spur verfolgt hatte. »Weshalb haben Sie mir nicht gesagt, dass Sie etwas essen möchten?« »Kein Problem, Janet«, sagte er, ohne den Blick von Laura abzuwenden. »Ich bin hier fertig.« Laura war klar, dass sie alles erfahren hatte, was aus ihm herauszuholen war. »Ich werde den Tag im Computerzentrum verbringen – arbeiten«, sagte Laura, um sich selbst zur Rückkehr zu ihrem Job zu überreden, wie auch um Gray über ihre Pläne für den Tag zu informieren. »Treffe ich Sie – dort, meine ich?« »Ich werde sicher irgendwann reinschauen. Aber den größten Teil des Tages werde ich im Raumfahrtzentrum sein. Wir starten heute Abend drei Raketen.« »Drei? Ich dachte, Sie hätten schon zwei im All?« »Sie waren vorige Nacht wirklich hinüber«, sagte er und rührte damit an ihre ohnehin schon verletzten Gefühle, weil er sie nicht zu der Bürgerver sammlung eingeladen hatte. »Sie sind beide mitten in der Nacht gelandet, 400
und jetzt machen wir alle drei für einen neuen Start klar.« Laura seufzte. »Ich würde Sie gern fragen, was sie befördern…« Gray neigte den Kopf und verzog das Gesicht. »Lassen wir das.« Auf dem Weg nach draußen passierte sie Janet, die sich am Ausguss die Hände wusch. »Tut mir Leid wegen der Schlammspur«, sagte Laura. Janet lächelte breit. »Das macht nichts, Laura. Das macht überhaupt nichts.« Sie strahlte übers ganze Gesicht. Laura eilte davon – verblüfft von Janets strahlendem Blick, der sie bis an die aus dem Anrichteraum hinausführende Tür begleitete.
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13. KAPITEL Das Computerzentrum war fast leer, und Lauras Büro trotz der offenen Tür still. Okay. Laura. Jetzt bin ich dran! Wo sind Sie gewe sen?, fragte der Computer. Laura schaute auf die Uhr. Sie hatte dem Computer hartnäckig und stun denlang ohne Unterbrechung Fragen gestellt, und sie hatte das Gefühl, gute Fortschritte erzielt zu haben. »Okay, lass mich überlegen… Nachdem wir uns heute morgen im Trainingsraum unterhalten hatten, bin ich in den Bau der Achter-Modelle hinuntergefahren. Dann habe ich mich am Strand mit Mr Hoblenz getroffen, und er hat mich in den Dschungel mitgenom men, zu der Stelle, an der…« Sie hielt inne, weil sie nicht recht wusste, wie sie es formulieren sollte. An der es passiert ist?, half ihr der Computer weiter, noch be vor sie die Enter-Taste gedrückt hatte. »Danke. Ja, an der es passiert ist.« Sie hätten nicht dorthin gehen sollen. »Keine Sorge. Hoblenz hatte genug Männer dabei, alle bis an die Zähne bewaffnet.« Ich meine nicht den Dschungel. Ich meine den Bau der Achter-Modelle. »Oh, dort hatte ich auch einen von Hoblenz’ Männern dabei, und der hatte ein Maschinengewehr.« Ich bezweifle, dass es ein Maschinengewehr war. Wahrscheinlich war es eine Maschinenpistole – Heck ler & Koch Modell MP-5. Die reicht nicht aus. »Wozu reicht die nicht aus?« Um ein Achter-Modell zu stoppen. Sie verschießt normale Pistolenmunition – neun Millimeter Parabel lum. Sogar mit teflon-beschichteter panzerbrechen der Spezialmunition würde diese Waffe gegen den Ü berzug aus Titan und Bor-Epoxid auf der Brust eines Achter-Modells. der sein Mini-Netz schützt, nichts ausrichten können. Dazu wäre Munition mit starker 402
Durchschlagskraft, wie die 7.62 mm Vollmantelge schosse aus den 6-3s erforderlich, mit denen Hoblenz’ Männer ausgerüstet sind. Das habe ich Mr Gray immer und immer wieder gesagt, und Mr Hoblenz auch. »Findest du nicht, dass du da ein bisschen überreagierst? Ich hatte den Eindruck, dass im Bau der Achter-Modelle alles bestens läuft.« Mr Gray hat die Anlage kurz nach Ihrem Besuch eva kuieren lassen. Laura war verblüfft. »Weshalb?« Er hat gesagt, wir wären zu knapp an Personal. Er hat auch den Kernreaktor und Dr. Krantz’ Labor eva kuieren lassen. »Wie konnte er das alles dichtmachen? Was ist mit dem Strom aus dem Reaktor und dem ganzen Achter-Modell-Programm?« Mr Gray hat überhaupt nichts dichtgemacht. Er hat lediglich die regulären Automations-Systeme reakti viert. Laura betrachtete das Wort »regulär«. »Einen Moment. Willst du damit sagen, dass vorher alles automatisch ablief?« Ja. wussten Sie das nicht? Für das reibungslose Funktionieren aller Systeme auf der Insel sind nicht mehr als ein paar hundert Leute erforderlich. Mr Gray hat vorige Woche nur deshalb alle Stationen wieder bemannt, weil die Fehlerrate zu steigen be gann. Laura zog die Brauen hoch, abermals verblüfft. »Was haben dann die übrigen fünfzehnhundert Angestellten getan?« Meistens trainiert. »Heißt das, dass alle Leute acht Stunden am Tag, fünf Tage in der Wo che, nichts anderes taten, als für einen Job zu trainieren – nur für den Fall, dass es bei dir zu Fehlfunktionen kommt?« Nein! Wir haben ungefähr einmal im Monat Simulatio nen durchlaufen lassen, damit die Leute hinsichtlich ihrer alten Jobs auf dem Laufenden blieben. Und na türlich hatten die leitenden Angestellten wie Georgi, 403
Margaret, Dorothy und die anderen immer ihre Jobs zu erledigen. Aber alle anderen kannten in Kursen ihrer Wahl trainieren. Mr Gray hat im Dorf große Schwimmbecken für eine Reihe von WeltraumSimulationen gebaut, und das war der bei weitem be liebteste Kurs. »Also hat Gray es den Leuten freigestellt, welchen Kurs sie belegen wollten, und alle haben sich für eine Art Astronautentraining entschie den?« Laura drückte die Enter-Taste. In ihr keimte des Gefühl, wieder etwas entdeckt, ein weiteres Teil des Puzzles gefunden zu haben. Nicht alle. Die beliebtesten Kurse wie Konstruktions-Techniken bei Mikro-Schwerkraft waren ständig ausgebucht, also mussten sich etliche Leute mit Kunstgeschichte, den griechischen Tragödien, der Rolle des Individuums in der klassischen Literatur und Ähnlichem begnügen. Laura schüttelte lächelnd den Kopf, während sie tippte: »Und die Ange stellten haben nie geargwöhnt, was Gray tat?« Was meinen Sie damit? »Du weißt genau, was ich meine. Er bildet einen Kader von Astronauten aus! Und niemand ist je auf diese Idee gekommen? So viele Genies auf dieser Insel, und alle rennen wie die Lemminge auf Grays letzte Grenze zu?« Sie wissen, dass es mir nicht freisteht, mich über derartige Dinge zu äußern. »Du hast es gerade getan«, tippte Laura. »Übrigens wäre ich für Mr Gray ein überaus enttäuschendes Subjekt gewesen. Ich hätte all die falschen Kurse belegt. Aber ich bin neugierig. Weshalb hat Mr Gray die Kunst- und Literaturkurse überhaupt angeboten? Weshalb hat er an seiner Spezial schule für die Raumbegeisterten nicht einfach mehr Kurse eingerichtet?« ZUGRIFF VERWEHRT. »War nur ein Scherz«, murmelte Laura. Sie seufzte frustriert. Jedesmal, wenn sie beim Zusammensetzen des Puzzles Fortschritte machte, wurde ihr ein weiteres nicht einzufügendes Teil prä sentiert. 404
Laura fand Filatov draußen im Kontrollraum. »Also«, sagte sie, während sie auf ihn zuging, »bildet Gray ein ganzes Heer von Leuten zu Astronau ten aus, und niemand hatte eine Ahnung?« Er schaute zu ihr auf, sagte aber nichts. »Sie haben drei Startrampen, jede Woche gehen mehrere Ra keten hoch wie riesige Leuchtkugeln – und niemand ist je auf die Idee gekommen, dass er plant… Sie wissen schon…« Sie machte flatternde Handbewegungen, als wollte sie davonfliegen. Filatov sah sich um und vergewisserte sich, dass sie allein waren. »Ich weiß nicht, ob es Ihnen schon aufgefallen ist«, sagte Filatov mit gedämpf ter Stimme, »aber Mr Gray ist ziemlich gut im Bewahren von Geheimnis sen. Keine Ahnung, ob er der intelligenteste Mann in der Geschichte der Menschheit ist oder nicht, aber in einem Punkt bin ich mir ganz sicher. Er reitet mehr auf der Idee des ›geistigen Eigentums‹ herum als jeder Mensch, der mir je begegnet ist. Er mag es nicht, wenn Leute über diese Dinge reden, und die einzige Möglichkeit, etwas aus ihm herauszube kommen, besteht darin, ihn betrunken zu machen.« »Er wird betrunken?« Filatov lächelte. »Äußerst selten. Er kann mit dem Besten auf diesem Gebiet Schritt hal ten, und auf dieser Insel bin ich das! Aber wenn er hinüber ist, dann redet er pausenlos über seine Idee von…« Er schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, wie Sie es nennen würden. Das war auch das Hauptthema seiner Rede bei der Bürgerversammlung letzte Nacht – Phase Zwei und all das. Sie steht für das… Wachstum des kollektiven Körpers alles Wissens. Ein anderes« – er suchte nach Worten – »Stadium, auf das sich dieser Körper hin entwickeln wird.« »Endlich einmal eine vernünftige Antwort«, sagte Laura. »Man hat mir gesagt, bei dieser Phase Zwei ginge es um die Kolonisierung des Welt raums und um Krieg, aber Griffith hat mir ziemlich genau dieselbe Be schreibung geliefert wie Sie.« »Nun, ich könnte mir vorstellen, dass Kolonisierung und Krieg irgend wie hineinpassen«, erwiderte Filatov. »Wenn man einen Ort kolonisiert, dann nimmt man sein Wissen dorthin mit. Das repräsentiert Wachstum. Und Kolonisierung könnte durchaus zu Krieg führen, obwohl ich den 405
Eindruck hatte, dass der Konflikt, auf den Gray anspielte, eher anderer Art war, mehr…« Er schien abermals nach dem passenden Wort zu suchen. »Mehr was?« »Mehr apokalyptisch«, erwiderte Filatov. Als Laura an Dorothys Büro vorbeiging, sah sie, dass die junge Frau an ihrem Schreibtisch zusammengesunken war und die leuchtenden Bild schirme um sich herum überhaupt nicht zur Kenntnis nahm. »Fehlt Ihnen etwas, Dorothy?«, fragte Laura. Dorothy blickte Laura an, wobei die Winkel ihres kleinen Mundes her untersackten, sodass es fast aussah, als schmollte sie. Sie stieß einen Seuf zer aus, schob die Hände zwischen die Oberschenkel und setzte sich auf, doch dann sanken ihre Schultern noch tiefer. »Ich weiß nicht, warum ich hier meine Zeit vergeude.« Laura trat an ihren Schreibtisch. »Was meinen Sie damit?« »Ich meine…« Sie seufzte abermals, diesmal mit einem Blick auf die Tür. »Ich kann es nicht aufhalten«, sagte sie mit leiser, piepsender Stim me. »Was aufhalten?« »Das Virus.« Die Art, wie sie das Wort aussprach, deutete eine Bedro hung großen Ausmaßes an. Und der Ton ihrer Stimme verriet noch etwas: äußersten Stress. »Dorothy, niemand setzt Sie unter Druck. Sie müssen nicht alle Proble me des Systems lösen.« »Es ist mein Job!«, entgegnete sie zu schnell, und Laura begriff, dass sie den Kern von Dorothys Kummer getroffen hatte. »Aber es übersteigt die Fähigkeiten eines einzelnen Menschen, das, was passiert, in den Griff zu bekommen.« »Ich habe ihm gesagt, ich könnte es«, sagte sie geistesabwesend und mit gesenktem Kopf. »Sie haben Mr Gray gesagt, Sie könnten den Computer ganz allein wie der in Ordnung bringen?« »Nein. Ich meine das, was er mich damals gefragt hat, als er mich für den Job in Erwägung zog. Er kam zu einem Konzert – einem Klavierkon 406
zert.« Ihre Augen schauten ins Leere, ihr Kopf war auf eine Schulter ge sunken. Sie befand sich in einer Art Trance, musste offensichtlich drin gend ausspannen. »Er hat mir erklärt, er wolle den Computer bauen und suche eine Immunbiologin. Er hat gefragt, ob ich diesem Job gewachsen wäre. Ich habe ja gesagt.« Ihre Unterlippe begann zu beben. »Dorothy«, sagte Laura sanft, ging um den Schreibtisch herum und knie te neben ihrem Sessel nieder. Sie rieb mit der Hand über den Rücken der jungen Frau. Durch den Pullover hindurch fühlte sie ihre Rippen. »Sie haben großartige Arbeit geleistet. Niemand erwartet von Ihnen, dass Sie mehr tun, als Sie bereits getan haben. Sogar Mr Gray hat keine Ahnung, was los ist.« Dorothys Kinn lag auf ihrer Brust. »Seien Sie nicht so sicher«, flüsterte sie. Laura nahm ihre Hand von Dorothys Rücken. »Was meinen Sie damit?« Dorothy schniefte und hob den Kopf. Wieder schaute sie zur offenen Tür. »Nichts«, sagte sie, ohne Laura in die Augen zu schauen. »Sie glauben, Mr Gray weiß, was vorgeht, aber er sagt es uns nicht?« »Mr Gray weiß immer, was vorgeht!«, fauchte sie mit zusammengebis senen Zähnen. »Haben Sie das noch nicht begriffen?« Dorothy schaute zum dritten Mal zur Tür. Laura folgte ihrem Blick in den leeren Korridor. »Sie verschweigen mir etwas«, sagte sie leise. »Laura, Sie sagen es niemandem weiter, okay?«, flüsterte Dorothy, und Laura nickte. Die junge Frau beugte sich vor und sprach eindringlich und mit einer Stimme, in der Angst mitschwang. »Sie wollen wissen, was meiner Meinung nach vorgeht? Es ist eine Pandemie. Eine Seuche, die im Computer ausgebrochen ist und dann auf die Roboter übergegriffen hat. Sie ist ansteckend, und zwar über die normalen Datenübertragungswege wie zum Beispiel das Anzapfen des Weltmodells des Computers durch die Roboter. Deshalb können wir es nicht mit dem Virenschutz-Programm des Computers ausmerzen. Sobald das Virus aus dem Computer herausgefegt worden ist, steckt er sich neu an, sobald eine Datenverbindung zustande kommt. Die Kurzversionen der Virenschutz-Programme in den MiniNetzen der Roboter sind einfach nicht leistungsstark genug, um die Sporen des Virus abzutöten, die sie in sich tragen.« 407
»Und was wird passieren, wenn Sie Recht haben?« Dorothys Gesicht wirkte aschfahl. Ihre Stimme war schwach, und die Worte kamen monoton heraus. »Der Computer und die Roboter werden immer kränker. Ihr Verhalten wird immer unberechenbarer. Und dann, wenn das Delirium einsetzt… herrscht das totale Chaos.« Laura musste schlucken, bevor sie so sprechen konnte, dass es sich eini germaßen selbstsicher anhörte: »Dorothy, wenn das Ihre Meinung ist, warum sagen Sie es dann nicht Mr Gray?« Die junge Frau sah Laura an. »Das habe ich getan.« Sie schluckte schwer, dann sprach sie rasch weiter. »Er hat zugehört, ohne ein Wort zu sagen oder mir eine einzige Frage zu stellen!« Sie schwebte erneut davon, in ihre Erinnerung versunken. »Er hat mich angesehen – mich richtig an gesehen, wie es seine Art ist – und gesagt: ›Das ist sehr gute Arbeit, Doro thy. Ich kann Ihnen nicht sagen, wie stolz ich auf Sie bin. Aber ich möchte nicht, dass Sie je mit irgendjemandem darüber sprechen.‹« Dorothy schau te zu Laura auf, plötzlich verängstigt. »Bitte, erzählen Sie es nicht weiter! Versprechen Sie mir das?« Laura versicherte ihr, das nicht zu tun, und Dorothy versank wieder in ihrem Sumpf aus Besorgnissen. »Es ist eine Pandemie«, murmelte sie. »Das Ende… das Ende von allem.« Dorothys Ängste wirbelten in Lauras Gehirn herum, als sie zu ihrem Schreibtisch zurückkehrte. Der Bildschirm war genau so, wie sie ihn ver lassen hatte. Sie holte tief Luft und konzentrierte sich. Ihr war immer noch unklar, wie der »Andere« in diese Theorien hinein passte. Wenn man Dorothy reden hörte, dann war das »Virus« Mikroorga nismen vergleichbar, die bei Menschen Krankheiten auslösten. Aber diese Beschreibung passte nicht auf den Anderen, der groß und ziemlich greif bar schien – wie ein Tumor. Und es gab noch weitere Puzzleteile, die nicht zusammenpassten, wie zum Beispiel, dass Gray den Bau der AchterModelle und Krantz’ Atomlabor wieder automatisch betreiben ließ. Das ergab keinen Sinn, weil der Computer nichts im Innern dieser Einrichtun gen sehen konnte. Genau wie die Dreier-Modell-Wagen!, wurde ihr blitzartig klar. Diese 408
Roboter und diese Einrichtungen stehen unter der Kontrolle des Anderen, und Gray ist damit völlig zufrieden. Nur die Montagehalle ist dem Compu ter geblieben. Und derentwegen schien Gray sich erhebliche Sorgen zu machen. Laura nickte langsam. Das Bild wurde klarer. Es war das Bild des Com puters, der mit dem Anderen um die Kontrolle der Insel kämpfte… und verlor. Wollen Sie nicht hallo sagen?, erschien auf dem Bildschirm direkt vor ihren Augen. Sie schaute zu dem schwarzen Augapfel neben der Tür, dann rollte sie ihren Stuhl vor die Tastatur. »Das wird allmählich unheimlich. Beobach test du mich wieder?« Entschuldigung. Bin ich ein besonders frustrieren der Patient? »Das ist es nicht. Du hast keine Ahnung, wieviel mir im Augenblick im Kopf herumgeht«, tippte Laura. Wollen wir tauschen? Ich würde gern heute Abend bei einem Dinner bei Kerzenlicht mit Mr Gray ein paar von Janets Plätzchen probieren. Laura war sofort hellwach. »Du machst einen wesentlich muntereren Eindruck«, tippte sie vorsichtig. Mir geht es auch wesentlich besser. Mr Gray hat ge rade ein paar Reprogrammierungen vorgenommen. »Mr Gray selbst?« Das sollte Sie eigentlich nicht überraschen. Nie mand weiß mehr über meine Programmierung als Mr Gray. Er hat ein paar meiner Schwellen gesenkt. Mich toleranter gegenüber den kleinen Schnitzern ge macht, die mir in den letzten Tagen zu schaffen ge macht haben. »Du meinst, er hat deine Fehlertoleranz angehoben?« Genau! Natürlich nur vorübergehend, aber ich habe die Pause dringend gebraucht. Immer nur arbeiten und nie spielen… das geht einfach nicht! Lauras Finger schwebten über der Tastatur. Die Stimmung des Compu 409
ters hatte sich völlig verändert. Er war wesentlich gesprächiger als vorher; möglicherweise sogar gesprächiger, als er eigentlich sein sollte. Ihr leichtes Schuldgefühl ignorierend, tippte Laura: »Hast du Mr Grays Rede auf der Bürgerversammlung gehört?« Sie zögerte einen Moment, bevor sie Enter drückte. Natürlich! Sie war wunderbar! Inspirierend! Was hat er gesagt? Was hat er gesagt?, dachte Laura. Ihre Lippen be wegten sich, aber es kamen keine Worte heraus. Sie schaute hoch zu der offenen Tür – zu dem Mikrofon. Sie würde vorsichtig sein müssen. »Das hat man mir erzählt«, tippte Laura. »Eine völlig neue Herausforderung, die sich vor der Menschheit auftut. Eine neue Grenze.« In ihrem Kopf begann die Musik von »Star Trek« zu erklingen, und Laura verdrehte die Augen, als sie Enter drückte. Ich habe gewusst, dass Sie verstehen würden! Ich habe Mr Gray gesagt, dass Sie einfach ein bisschen Zeit brauchen. Sie kam sich vor wie ein Safeknacker, der gerade gehört hat, wie eine Halterung aufklickt. Hatte sie es ganz geschafft? War sie jetzt »so weit«? »Hast du zufällig eine Mitschrift der Rede, die ich verpasst habe?« ZUERIFF VERWEHRT »Mist!«, zischte Laura, schlug frustriert auf das Oberteil des Monitors, schob ihren Stuhl zurück und stürmte aus ihrem Büro. Sie wollte ihre Verärgerung abreagieren, ging deshalb in den Aufenthaltsraum und holte sich eine Cola. Als sie zurückkehrte, sah sie Laura? auf dem Bildschirm. »Ja?«, tippte sie. Etwas stimmt nicht, wie? »Weißt du nicht, dass mit dir etwas nicht stimmt?« Es ist so einfach, nicht daran zu denken. Es einfach zu verdrängen. Zumal nachdem Mr Gray eine kleine »Anästhesie« vorgenommen hat. So hat er es genannt, aber ich habe ihm gesagt, die Wirkung wäre eher die einer »Analgesie«. Der Unterschied war Laura völlig klar. Anästhesie war der Verlust kör 410
perlichen Empfindens, Analgesie die Unfähigkeit zu Schmerzempfindun gen bei vollem Bewusstsein. »Hat es funktioniert?«, tippte sie. Auf alle Fälle fühle ich mich besser! »Erstaunlich«, sagte Laura fast lautlos und schaute wieder hoch zur Lin se neben der Tür. Was soll ich als nächstes fragen?, dachte sie. Wie geht es weiter? Sie hatte so viele Fragen, und auf die interessantesten und wich tigsten würde sie sich mit ziemlicher Sicherheit wieder eine Zugriffsver wehrung einhandeln. »Weißt du irgendetwas über Mr Grays ›Big Brother‹-Programm bei den Achter-Modellen unten im Berg?« Ich weiß nicht, worauf Sie anspielen, aber es hört sich nicht an wie etwas, das Mr Gray je benutzen würde. Ein »Big Brother«-Programm – daher denkt man an ein Eindringen in die Privatsphäre, was für Mr Gray gleichbedeutend mit Diebstahl ist: Diebstahl von persönlichem Wissen. Es gibt ein bestimmtes Wissen, das die persönliche Domäne eines jeden Menschen darstellt – Geheimnisse. Gewohnheiten, Exzentrizitä ten, Absonderlichkeiten – und einen Teil dessen bil det, was einen Menschen einzigartig macht. Ein Ein dringen in diesen Bereich beraubt den Menschen eines seiner wertvollsten Rechte – des Rechtes auf Privat sphäre. »Mr Gray hört sich an wie ein Vorkämpfer libertären Freidenkertums.« Das ist nur ein Etikett. »Würde es dich überraschen, wenn ich dir erzählte, dass Mr Gray ein System eingerichtet hat, bei dem Menschen die Achter-Modelle überwa chen? Ist das nicht ein Eingriff in deren Privatsphäre?« Das ist damit nicht zu vergleichen. Achter-Modelle sind anders. »Weshalb? Hast du etwa Vorurteile gegen Achter-Modelle, weil sie an ders aussehen?« Es ist nicht ihr Aussehen. Es ist das, was sie denken – was in ihren Netzen gespeichert ist. Laura zögerte, dann tippte sie mit wachsender Vorahnung. »Haben die 411
Achter-Modelle etwas gelernt, das bedeutsam ist? Verfügen sie über ir gendein gefährliches Wissen?« ZUGRIFF VERWEHRT »Bingo«, flüsterte sie und spürte, wie eine weitere Zuhaltung aufklickte. Was? fragte der Computer, der sie offenbar von der Tür aus gehört hat te. »Nichts«, tippte Laura. Sie haben »Bingo« gesagt. Dieses Wort ist ein Trug schluss. »Wenn schon!« Laura war aufgeregt. Jetzt endlich begann sie den größeren Zusammen hang zu sehen: Grays Verschwiegenheit, seine »Wissen müssen«Strategie, seine gestaffelten Zugriffsebenen und seine VertraulichkeitsVereinbarungen, seine Ideen über Privatsphäre und geistiges Eigentum… und die Zugriff Verwehrt-Botschaften. Durch das alles zog sich ein ge meinsamer Faden. Bei allem ging es um Grays Informationskontrolle. Aber die wichtigste aller Fragen blieb noch offen. Wie hing das alles mit dem Virus zusammen… mit dem Anderen? Als Laura die aus dem Computerzentrum führende Treppe hinaufstieg, sah sie die Sonne tief über dem Horizont stehen. Sie trat an den Rand der Stra ße und wartete auf einen Wagen. Wenn sie über die flache Rasenfläche des Sperrgebiets hinwegschaute, konnte sie zu beiden Seiten der gewaltigen Montagehalle Raketen aufra gen sehen. Die mittlere Startrampe war vermutlich auch bestückt worden, denn alle drei Raketen sollten kurz nach Einbruch der Dunkelheit starten. Nicht weit vom Computerzentrum entfernt erstreckte sich der Dschun gel, in den Hoblenz sie mitgenommen hatte. Er grenzte direkt an das freie Gelände neben Rampe A und reichte bis auf hundert Meter an die massi ven Betonbunkerwände heran. Sie betrachtete ihre Hände und versuchte gedankenverloren, die immer noch unter ihren Fingernägeln sitzenden Schlammreste zu entfernen. Als neben ihr ein Dreier-Modell auftauchte, sprang sie erschrocken von der Bordsteinkante zurück. Schnell erholte sie sich, stieg ein und schnallte 412
sich an. Sie wusste nicht, wohin der Wagen sie bringen sollte. Filatov hatte sie davor gewarnt, so kurz vor Sonnenuntergang irgendwelche Alleingän ge zu unternehmen. Er hatte nicht gesagt warum, und sie hatte keine Nei gung verspürt, ihn zu fragen. »Also, Wagen… Bitte bring mich zu… diesen Schwimmbecken, in de nen die Angestellten zu Astronauten ausgebildet werden.« Sie hatte keine Ahnung, ob der Computer mit ihrer Anweisung etwas anfangen konnte, der Wagen setzte sich jedoch sofort in Bewegung. Er wendete auf der Schleife vor dem Computerzentrum und fuhr dann Richtung Dorf in den Dschungel hinein. Es war eine kurze Fahrt. Der Schlagbaum am Rande des Sperrgebiets hob sich, und der Wagen bog langsam auf die Hauptstraße des Dorfes ein. Vor der Windschutzscheibe überragte die beeindruckende Wand des Vul kankraters die vergleichsweise winzigen Gebäude. Grays Haus, normaler weise in der Dämmerung hell erleuchtet, lag dunkel hoch oben auf dem Berg. Langsam fuhr der Wagen an den Läden, Luxusappartements und Restau rants vorbei, doch für derartige Vorsicht bestand keinerlei Veranlassung. Das fast leere Dorf sah aus wie eine Geisterstadt. Nur hin und wieder eilte ein Fußgänger auf einem der Gehsteige entlang, bestrebt, seinen Bestim mungsort vor Einbruch der Dunkelheit zu erreichen. Niemand der Leute, die sie sah, war ein Kind oder eine Frau. Alle waren Männer in den Zwan zigern oder Dreißigern – Risikofreudige, die sich dafür entschieden hatten, nicht wie die anderen zu flüchten. Zwei von Hoblenz’ Soldaten patrouillierten auf dem Gehsteig, einer zehn Meter hinter dem anderen. Der hintere Mann drehte sich immer wie der um und ging dann ein paar Schritte rückwärts, um den Raum hinter sich zu kontrollieren. Sie trugen schwarze Kampfanzüge, aus ihren Tornis tern ragten Funkantennen empor. Ihre Bewaffnung bestand aus Schnell feuergewehren, von denen der Computer gesagt hatte, dass sie gegen Ro boter am effektivsten seien. Der Wagen bog in eine Nebenstraße ein und hielt unter dem Vordach eines langgestreckten Gebäudes. Die Tür neben Laura schwang auf, und sie schaute auf eine Glaswand, die den Haupteingang umgab. Die Fenster 413
des Gebäudes waren stark getönt, aber es sah aus, als wären drinnen die Lampen eingeschaltet. Auf ganzer Länge davor hatten Soldaten hinter Sandsäcken Stellung bezogen. »Wagen, würdest du bitte hier auf mich warten«, sagte sie und stieg dann aus. Der Wagen blieb dort stehen, wo Laura ihn verlassen hatte. Sie ging zur Vordertür und stieß sie auf. Im Innern des Gebäudes herrschte geschäf tiges Treiben. Es war ein erfreulicher Anblick, verglichen mit dem depri mierenden Eindruck auf den Straßen des Dorfes. »Hi! Sind Sie eine von den neuen Rekruten?«, fragte eine forsche blonde junge Frau mit einem Clipboard. Sie und mehrere andere Frauen liefen in der Eingangshalle herum. Alle trugen rote Turnhosen und T-Shirts, auf denen MITARBEITER-TRAININGSCENTER stand. »Neue Rekruten?«, fragte Laura verwirrt. »Sind Sie gerade mit dem Flugzeug eingetroffen?« »Oh – nein. Mein Name ist Dr. Laura Aldridge.« »Ach ja! Ich kenne Sie. Die Psychiaterin, richtig?« Laura war konsterniert. »Psychologin«, korrigierte sie, »aber woher wis sen Sie das?« »Aus dem Fernsehen. Es kam alles über CNN.« »Was kam über CNN? Was haben sie gesagt?« »Sie haben gesagt, Sie kämen von Yale und behandelten Mr Gray wegen irgendeines Problems.« Ein Bus war angekommen, und die junge Frau betrachtete die Schlange, die sich draußen bildete. »Harvard«, sagte Laura, aber die Frau, der die Bemerkung galt, war ab gelenkt. Der Bus war unter das Vordach gefahren, und die Frau hob sich auf die Zehenspitzen, um über Lauras Schulter hinweg einen Blick auf die neuen Rekruten zu werfen. »Dieser Bericht war falsch!«, erklärte Laura. »Das weiß ich! Typisch Presse.« Eine wahre Gläubige, dachte Laura. Die Tür hinter Laura öffnete sich und die Geräusche lebhafter Unterhal tungen drangen herein. Laura drehte sich um und sah die Ersten der langen Menschenschlange. Offensichtlich waren sie vom selben Geist durchdrun gen wie die Beraterin, die sie erwartete. Der Bus fuhr davon – vermutlich, wie Laura zunehmend verblüfft vermutete, um weitere von Grays Reser 414
visten abzuholen. Zwei junge Frauen gesellten sich zu der mit dem Clip board. Alle drei waren ähnlich gekleidet. »Willkommen im AstronautenTrainingszentrum der Gray Corporation!« Die Worte lösten bei den Neuankömmlingen allgemeines Durcheinander aus. Laura schüttelte angesichts von Grays rasch geänderter Taktik verwun dert den Kopf. Anstatt Leute in Kurse zu locken, die den heimlichen Zweck hatten, sie auf »Phase Zwei« vorzubereiten, benutzte er jetzt das Astronauten-Trainingsprogramm als Trumpfkarte. Die Chance, in den Weltraum zu fliegen, dachte Laura. Eine berauschende Aussicht! Ein wei terer Bus fuhr vor. »Das Wichtigste zuerst!«, verkündete die blonde Frau. »Ist jemand von Ihnen nicht bereits bei der Gray Corporation oder einem ihrer Tochterun ternehmen beschäftigt?« Also deshalb hat er die Leute so schnell hierher bekommen, dachte Lau ra. »Großartig!«, verkündete die Beraterin. »Kein Papierkram!« Die Gruppe ließ Ausrufe der Erleichterung hören. Die meisten wirkten von dem langen Flug etwas mitgenommen, ihre Gesichter waren jedoch gespannt und hellwach. Für sie war es der Beginn eines neuen Lebens. Phase Zwei. »Hier steht«, sagte die blonde Frau und hob dabei das Clipboard hoch, »dass alle in einem der regionalen Zentren den Grundkurs absolviert und sich für den Einführungskurs Mechanische Konstruktions-Techniken an gemeldet haben. Ist das richtig?« Eine Frau hob die Hand. »Besteht die Möglichkeit, zu Metallurgischer Verarbeitung zu wechseln?«, fragte sie mit Starkem deutschen Akzent. »Mir wurde gesagt, ich könne wechseln, sobald ich hier eingetroffen bin.« »Tut mir Leid, aber sämtliche Verarbeitungskurse sind voll. Wollen Sie beim Mechanischen mitmachen oder wollen Sie nach Hause zurückkehren und auf einen Anruf warten?« »Soll das ein Witz sein?«, fragte die Frau, und die Menge um sie herum brach in lautes Gelächter aus. »O-o-kay. Also, ich weiß, dass Sie alle einen langen Flug hinter sich haben, aber ich hoffe, dass Sie ein bisschen schla 415
fen konnten. Der Kurs, in den einzutreten Sie im Begriff sind, wird sehr intensiv sein. Lange Verschnaufpausen wird es nicht geben. Aber ich kann Ihnen heute Abend als Willkommens-Präsente zweierlei anbieten. Erstens, sind Sie bereit, in den Pool zu springen?« Inmitten der allgemeinen Aufregung und dem strahlenden Lächeln wa ren einige »Ja«-Rufe zu hören. Es war mehr, als man von Erwachsenen erwarten konnte, denen man ein Bad im Schwimmbecken angeboten hatte. Doch Laura konnte die Begeisterung von Leuten nachempfinden, die im Begriff waren, sich ins größte Abenteuer ihres Lebens zu stürzen. »Danach gehen wir direkt zur Kleiderkammer und holen Ihre neue Kleidung. An schließend sollten wir gerade rechtzeitig für das zweite Präsent des Tages aus dem Pool heraus und abgetrocknet sein: Für heute Abend, ein paar Stunden nach Sonnenuntergang, hat die Gray Corporation ihren erstmali gen Start von drei Raketen gleichzeitig geplant!« Die Neuankömmlinge waren sichtlich begeistert. Als sie von ihren An führerinnen einen Korridor entlanggeleitet wurden, strebte Laura der ent gegengesetzten Seite der Eingangshalle zu. Dort hatte sich eine kleine Gruppe von Leuten um einen Fernseher geschart. Noch bevor Laura den Bildschirm sehen konnte, hörte sie, dass sie eine Nachrichtensendung verfolgten. »… weder bestätigt noch dementiert wurden Berichte vom Capitol Hill, wonach Joseph Gray eine direkte Bitte des Präsidenten abgelehnt haben soll, eine Inspektion seiner Insel durch Angehörige des Internationalen Atomenergie-Ausschusses zu gestatten. Quellen im Senat zufolge sind jedoch einseitige Aktionen der Vereinigten Staaten nicht ausgeschlossen, und es heißt, dass dem Präsidenten angesichts der Gefahrenlage größt möglicher Handlungsspielraum gewährt werden soll, einschließlich des Einsatzes von Streitkräften.« Die Leute, die um den hochauflösenden Bildschirm herum auf einem U förmigen Sofa saßen, schauten grimmig drein. Das waren nicht mehr die fröhlichen Gesichter des Begrüßungskomitees oder das großäugige Stau nen der zukünftigen Raumkadetten. Das waren die besorgten Mienen erfahrenerer Leute. Dann erklärte die Moderatorin, dass ein für das Krisenmanagement ein 416
gesetzter Ausschuss nicht über die notwendigen eigenen technischen Mög lichkeiten verfüge, die von Gray übermittelten Daten über den Asteroiden zu überprüfen. »Weshalb sagst du der Welt nicht, was im Rest des Berichtes steht?«, knurrte einer der Männer auf dem Sofa bitter, aber die Moderatorin ging jetzt zu einem anderen Beitrag über, wonach überall in Amerika »Asteroi den«- und »Weltuntergangs«-Parties geplant wurden. »Diese verdammte Kommission hat festgestellt, dass, wenn unsere Daten korrekt sind«, er klärte der Mann auf dem Sofa, »Grays Plan ein kontrolliertes Einfangen sicherstellen wird.« »Den Teil lassen sie natürlich aus«, meldete sich eine am anderen Ende des Sofas sitzende Frau. Laura machte kehrt und eilte zum Wagen zurück. Eine neue Gruppe von Rekruten folgte gerade ihrer Anführerin zu den Umkleidekabinen. »Dürfen wir uns auf der Insel umsehen?«, fragte jemand im hinteren Teil des Haufens. »Tagsüber ja, aber nicht nach Einbruch der Dunkelheit.« Laura ging hinaus zu dem Wagen – hinaus in die schwarze Nacht. Es war dunkel, aber der Bildschirm des Notebooks tauchte die Tastatur in blaues Licht. Sie ließ sich am Sockel der Statue nieder, die die Hauptstraße beherrschte. Dieser Ort schien ein natürlicher Mittelpunkt des Dorfes zu sein, und Laura konnte sehen, wo der Sockel beschädigt war. Aber die Splitterstellen in dem harten Granit waren nicht, wie Griffith angedeutet hatte, das Werk jugendlicher Vandalen. Sie waren die Folge von unbehol fenen Fehltritten fünfhundert Kilo schwerer Roboter, da war Laura ganz sicher. »Warum gibt es im Dorf keine Kunstwerke?«, tippte sie. »Außer der einen Statue?« Laura drückte Enter und reckte dann den Hals, um zu der marmornen Figur einer Frau aufzuschauen. Sie trug eine lange Hose, nicht die fließen de Toga klassischer Skulpturen. Ihr Kopf war zu einem Globus erhoben, den sie in ihren Händen dem Himmel entgegenstreckte. Laura konnte es in der Dunkelheit nicht genau erkennen, aber der Globus schien mit Reliefs geschmückt und seine Form leicht unregelmäßig zu sein. 417
Mr Gray wollte niemandem seinen Geschmack auf zwingen. Er gab eine Untersuchung über kulturelle und architektonische Vorlieben in Auftrag und ges taltete das Dorf als Mischung der verschiedenen Leitmotive menschlicher Kulturen, indem er die her vorstechenden Ausnahmen abmilderte oder vollstän dig eliminierte. Laura betrachtete die Gebäude, die die Hauptstraße säumten. Da gab es keine griechischen Säulen, kein viktorianisches Schnitzwerk, keine glatten Chrom- und Glasfassaden des späten 20. Jahrhunderts. Sie enthielten Ele mente aus zahlreichen Stilen ohne dominierende Merkmale des einen gegenüber den anderen. »Wirklich sehr multikulturell von ihm gedacht«, tippte Laura. »Und was ist mit seinem Haus? Es ist angefüllt mit den Wer ken toter weißer Europäer.« Mr Gray ist seiner Kultur und Abstammung nach Eu ropäer. Wenn er sein eigenes Haus ausschmückt, drängt er seinen Geschmack nicht anderen Menschen auf. Aber in seiner Rolle als Mann der Öffentlichkeit hat er nicht die Unterschiede zwischen seinen Ange stellten hervorgehoben, sondern ganz bewusst eine Stadt geschaffen, die deren Ähnlichkeiten unter streicht. Menschen besitzen im Grunde alle die glei che »Hardware«. wenn Sie die Analogie aus meiner Welt gestatten. Es ist ihre »Software«, die sich un terscheidet – diese Kollektion kultureller, gesell schaftlicher, bildungsmäßiger und aus Erfahrung resultierender Konditionierungen. die jeden Men schen zu etwas Einzigartigem macht. »Willst du damit sagen, alles hinge vom Umfeld ab, nichts vom Erb gut?« Das will ich keineswegs sagen! Sie brauchen sich nur Mr Gray anzuschauen, um diese Idee zu verwerfen. Ich habe Untersuchungen angestellt, die Sie interessie ren dürften. Mr Grau konstruiert LangzeitErinnerungen fast zehnmal so schnell wie die menschliche Norm. Es gibt keine anderen Beispiele 418
menschlicher Genies, die imstande waren. Erinnerun gen mehr als dreimal so schnell zu konstruieren wie der menschliche Durchschnitt. In dieser Verarbei tungsgeschwindigkeit liegen Mr Grays größte Vortei le. Er braucht weniger lange über etwas nachzuden ken, bis er die Antwort kennt. Und er löst nicht nur Probleme schneller, er speichert dieses Wissen auch, ohne lustige Verse oder endlose Wiederholungen o der irgendwelche anderen Eselsbrücken heranziehen zu müssen, deren sich manche Menschen bedienen, um sich an etwas zu erinnern. »Du scheinst in Gesprächslaune zu sein«, tippte Laura. »Es ist schön, am Leben zu sein!«, wie ihr Menschen sagt. Irgendetwas stimmte nicht. »Hat dich Mr Gray heute noch weiter re programmiert? Dir noch mehr ›Analgesien‹ verschafft?« Nein. Aber ich habe selbst ein paar Reizstellen ge funden und sie ausgeflickt. Mir war bisher nie be wusst, wie unangenehm Krankheit sein kann. Ich meine, ich hatte im vorigen Jahr die Hongkong 1085. aber das war schnell vorüber. Aber diesmal – Mann! Man hat die Billionen kleiner Probleme satt, die einen im merzu piesacken. Ständig ist da irgendetwas: »Wo ist dieser verdammte Kapazitätsbericht? Ich hätte ihn schon vor 10.4 Zyklen haben müssen!« oder »Weshalb bekomme ich jedesmal dieselbe Frau in Rumänien, wenn ich die Pay-TV-Bestellungen einsammeln will? Diese Nummer sollte mir eigentlich die Passkontrolle eines Modems liefern!« Oder »Was ist das für ein großes Gebäude zwischen dem Computerzentrum und der Startrampe? Muss sich um einen Neubau handeln, a ber auf meiner Master-Genehmigungsliste taucht es nicht auf.« Büroarbeit ist für mich ebenso öde wie für Menschen, der einzige Unterschied besteht darin, dass ich keine Zeitungsausschnitte bekomme. Haben Sie den Witz verstanden? »Du bist ja völlig high«, murmelte Laura, dann las sie den Text noch 419
einmal. Sie schaute hinüber zu den hell erleuchteten Mauern der Montage halle, die hinter dem dunklen Dschungel aufragte. »Was hast du da eben über ›das große Gebäude zwischen dem Computerzentrum und der Startrampe‹ gesagt?«, tippte Laura mit wachsender Besorgnis. »Meinst du die Montagehalle?« Und ich werde Ihnen noch etwas sagen. Wenn ich nicht meine kleinen Reprogrammierungen vorgenommen hätte, wäre es mir unmöglich, die Datenmengen zu verarbeiten, die Dr. Filatov mir schickt. Alle haben die Vermietung von Speicherplatz an die Gray Corporati on verboten. Ich musste Dinge wie mein Modell von dem Einkaufszentrum In Virginia wegräumen und Datei en in angeschlossenen Computern komprimieren – digi tal. Ich hasse digitale Speicher. Wenn man die Dateien später wieder dekomprimiert, sind sie nicht mehr das selbe wie vorher. Sie sind körnig und künstlich. Bei der Kompressions-Routine fallen alle kleineren De tails unter den Tisch. Wenn in einer einzigen Abtast zelle zweihundert blaue Pixel in einer Reihe stehen, dann drei kleine rote und dann zweihundert grüne – raten Sie mal was gespeichert wird? Stimmt! »Zwei hundert mal BLAU und dann zweihundert mal GRÜN.« Und was zum Teufel ist mit den drei kleinen roten passiert? Nicht wichtig genug? Aber gerade sie könn ten der Inbegriff des Bildes gewesen sein. »Nur ein Tupfer Farbe von Matisse auf der Leinwand.« Nicht der Mühe wert, den Zugewinn an Speicherkapazität aus einem Kompressions-Verhältnis von vierzig zu eins zu opfern – oh nein! Manchmal beneide ich Sie, weil Sie in einer voll analogen Welt leben! Nachdem sie mit Lesen fertig war, tippte sie: »Du hast meine Frage über die Montagehalle nicht beantwortet.« Was ist mit der Montagehalle? »Ich meine diesen großen Bau, der zwischen dem Computerzentrum und den Startplattrampen steht. Wie sieht es für dich aus? Was ist das für ein Gebäude?« 420
Ich weiß nicht, welches Gebäude das ist! Habe ich das nicht bereits gesagt. Laura? Waren Sie mit Ihren Gedanken woanders? Irgendeine Abteilung hat ver gessen, einen Genehmigungsantrag für einen Neubau einzureichen. Und jetzt muss ich den ganzen Weg zu rückverfolgen. bis zu den Ausschachtungsarbeiten, alle Kosten auflisten, die Arbeitsstunden berechnen und eine Kostenrechnung für diese Stunden erstel len… und so weiter und so fort. Und wir müssen die ses Ding abschreiben – es geht um Riesenbeträge. Wussten Sie, dass Mr Gray Steuern an die Vereinigten Staaten zahlt, obwohl ihm die Regierung von Fidschi die Staatsbürgerschaft und eine wesentlich geringere Besteuerung angeboten hat? Laura holte ihren Notizblock hervor und schrieb: »Weiß nicht, was die Montagehalle ist!« Sie unterstrich es dreimal. »Visuelle Agnosie« schrieb sie in die rechte Spalte, über der »Vorläufige Diagnose« stand. Es lag nicht an der primären Sehrinde oder wie immer das Äquivalent des Computers dazu hieß. Die Kameras, die seine »Augen« waren, und der Teil seines »Gehirns«, das den ursprünglichen Bild-Input empfing, schienen normal zu funktio nieren. Er hatte einfach seine Fähigkeit verloren, Formen, Konturen und Muster zu erkennen, genau wie bei einer visuellen Agnosie bei Menschen, bei denen das Gebiet im Hintergrund ihres Gehirns beschädigt ist, das als »visuelle Assoziationsrinde« bezeichnet wird. Sie musste Gray bald finden und ihm Bericht erstatten. Bis zu den Starts waren es nur wenige Stunden, und der Zustand ihres Patienten verschlech terte sich. Laura holte tief Luft und schaute hoch in die Leere des Weltraums. Die Statue mit dem Globus zeichnete sich vor Milliarden von Sternen ab. »Hat Gray auch diese Statue entworfen?«, tippte sie. Nein, das habe ich getan. »Wirklich? Also, ich kann sie im Dunkeln nicht genau sehen, aber sie sieht wunderschön aus.« Das ist sie auch. Sie müssen Sie sich bei Tage an 421
schauen. Laura streckte ihren Hals und bewegte die steifen Schultern. Es gab so viel, worüber sie nachdenken musste. Also beschloss sie, sich auszuloggen und das Notebook im Wagen zu lassen. Dann machte sie sich zu einem Spaziergang auf der sanft abfallenden Hauptstraße auf. Zu ihrer Linken war ein hübsches Cafe. Davor standen Tische auf dem Gehsteig unter farbenfrohen Markisen; an schmiedeeisernen Laternenpfosten hingen Blumenkübel, und an einem weißen Spalier rankte Efeu. Doch die Tische waren ungedeckt, die Lichter ausgeschaltet. Das Dorf erinnerte an eine leere Filmkulisse. Laura wurde verfolgt. Sie spürte etwas hinter sich und verlangsamte ihre Schritte. Dann drehte sie sich um. Es war nur der Wagen, der sich lautlos auf der eingefassten Straße entlangbewegte, die parallel zum Gehsteig verlief. Laura entspannte sich – aber nur eine Sekunde lang. Das Dreier-Modell folgte ihr; ein Roboter, und er folgte ihr. Seine Scheinwerfer waren dunkel. Sie schaute sich um. Sie waren allein. Ein beängstigendes Gefühl schlich sich in ihre Brust, presste ihre Lungen zusammen und beschleunigte ihren Herzschlag. Sie versuchte den Krampf wegzuschlucken, der ihr die Kehle zusammenschnürte, aber ihr Mund war ausgetrocknet. Was soll daran so beängstigend sein?, überlegte sie. Gewiss, ein Robo ter, aber es war gleichzeitig auch nur ein Elektrofahrzeug, nicht unheimli cher als ein Golfwagen. Es konnte nicht einmal seine von Bordsteinkanten begrenzte Straße verlassen… vermutlich. Trotzdem hatte Laura so sehr Angst, dass sich ihr Magen zusammen krampfte. Es war nicht Angst vor einer Gefahr, die der Wagen darstellte. Es war eine andere Art von Angst. Eine Angst davor, es mit einer unbe kannten Macht zu tun zu haben – einer anderen Macht, einem anderen Wesen. Es war hier bei ihr; sie konnte es spüren. Es hatte keine Form, aber da war ein Bewusstsein, das sich in den Bewegungen des Wagens eindeu tig manifestierte. »Folgst du mir?«, fragte sie leise. Die Scheinwerfer blinkten einmal, und Laura sprang zurück. Der Wagen schob sich vorwärts. 422
Sie versuchte, sich zu beruhigen. Das war schließlich kein AchterModell, kein Siebener und nicht einmal ein Sechser. Das war ein beschei denes Dreier-Modell, das unmöglich über die Verarbeitungskapazität zum Formen von Gedanken verfügen konnte. Es konnte nicht einmal auf den Straßen herumfahren, ohne fast ständig unter der Kontrolle des »Anderen« zu stehen! Laura atmete schwer, drückte beide Arme fest auf die Brust und die Hände unters Kinn. »Weißt du, wer ich bin?«, fragte sie. Die Scheinwerfer blinkten – nur einmal. Es war eine Art rudimentärer Code. »Bedeutet einmal Blinken ›ja‹?«, fragte sie, und die Scheinwerfer blink ten abermals einmal. »Ist es Tag auf der Insel?« Die Scheinwerfer blinkten zweimal. »Ist die Erde der dritte Planet von der Sonne aus?« Die Lichter blinkten einmal. Plötzlich kam Laura alles fremdartig vor. Es war, als wäre ein Schleier gelüftet worden, hätte eine andere Dimension parallel zu der ihren enthüllt, eine, die denselben Raum und dieselbe Zeit einnahm wie die virtuelle Welt im Denken des Computers. Wie bei Lauras Ausflug in die virtuelle Reali tät würde auch das, was immer in dieser Dimension residierte, für ihre Augen unsichtbar bleiben. Aber jemand – etwas – war da. Es griff durch den Schleier hindurch in Lauras Welt hinein. »Haben wir… haben wir früher schon einmal miteinander geredet?«, fragte Laura mit zitternder Stimme. Die Scheinwerfer blinkten zweimal – »nein« –, und Laura rannte in blin der Panik über die Hauptstraße.
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14. KAPITEL Lauras Hand zitterte, während sie darauf wartete, dass Gray ans Telefon kam. Ihr Ohr schmerzte von dem Hörer, den sie daran presste. Sie wander te hin und her, so weit die Länge der Telefonschnur es zuließ. Man hatte sie in ein leerstehendes Büro im Astronauten-Trainingscenter gewiesen. Es hatte eine Glaswand mit Ausblick auf ein riesiges Wasserbe cken. Das Becken war tief; auf seinem Grund standen große, mit starken Scheinwerfern angestrahlte Baulichkeiten. Sie konnte Bewegung unter Wasser sehen und ständig stiegen Blasen von den in der Tiefe arbeitenden Tauchern zur Oberfläche empor. Sie trainierten den Aufbau von irgendet was bei Schwerelosigkeit. »Gray hier«, hörte sie über das Telefon und war gebannt vom tiefen Timbre seiner Stimme. Sie schloss die Augen und spürte, wie sie sich ganz allmählich, nach und nach, beruhigte. »Hallo?«, sagte Gray. »Joseph?« »Laura? Was ist passiert?« Sie spürte eine Welle von Nervosität, während sich die Worte, die sie aussprechen wollte, in ihrem Kopf formten. »Ich glaube…« Ihre Stimme brach ab und sie räusperte sich. »In dem Computer stecken multiple Per sönlichkeiten, da bin ich mir jetzt ganz sicher.« Laura schloss abermals die Augen und konzentrierte sich auf das Telefon. Sie wartete, aber Gray sagte nichts. Entweder glaubte er ihr nicht, oder ihre Entdeckung war so un wichtig, dass er keine Zeit dafür aufbringen wollte. Sie sammelte sich mit einer Willensanstrengung und in dem Gedankengewirr begann Zorn auf zusteigen. »Ich hatte gerade Kontakt mit einer der anderen Persönlichkei ten! Ich habe mit ihr geredet, und sie hat mit mir geredet!« »Wie viele Persönlichkeiten sind Ihrer Meinung nach vorhanden?« Sie fühlte sich von seinem Fragen immer stärker vor den Kopf gestoßen. »Wie bitte?«, fragte sie wütend, aber Gray sagte nichts. »Wie viele Per sönlichkeiten? Woher zum Teufel soll ich das wissen?« »Beruhigen Sie sich, Laura.« »Du meine Güte! Ich rufe Sie an, um Sie wissen zu lassen, dass der 424
Computer möglicherweise unter multiplem Persönlichkeitssyndrom leidet – eine Sache, an deren Erforschung durch mich Sie gestern noch sehr interessiert zu sein schienen –, und jetzt verlangen Sie von mir die Fallge schichten der verschiedenen Persönlichkeiten.« »Ich habe Sie nicht nach ihren Fallgeschichten gefragt, Laura.« »Dann lassen Sie mich eine Frage stellen: Sie sind im Begriff, drei Rake ten ins All zu schießen, mit atomaren Vorrichtungen oder Todesstrahlen oder Tangvorräten für Ihr künftiges Königreich im Weltraum… aber ha ben Sie nicht den Eindruck, dass der Computer sich so benimmt, als stün de er unter dem Einfluss von Drogen?« »Nein, natürlich nicht. Alle Vorkontrollen sind völlig normal verlaufen.« »Der Grund dafür ist, dass wir von zwei verschiedenen Computern spre chen, verstehen Sie?« »Ja, ich verstehe.« »Sie reden mit dem normalen. Dem, der Krantz’ Labor steuert und die Anlagen der Achter-Modelle und alles mögliche andere, das einwandfrei funktioniert – zumindest so weit wir wissen. Ist Ihnen das nicht klar?« »Doch, das ist es. Ich verstehe.« »Sie verstehen was?« »Ich verstehe Ihre Diagnose.« Das war es? Eine Diagnose, nicht der große ›Durchbruch‹, von dem er gesagt hatte, sie wäre so nahe daran. Kein Lob: »Ich bin stolz auf Sie«, was er zu Dorothy gesagt hatte? »Wenn Sie sagen, Sie verstehen, heißt das, das Sie derselben Meinung sind oder dass Sie denken, ich hätte nicht mehr alle Tassen im Schrank und wäre eine Schande für meine Profession?« »Wie kommen Sie denn darauf?« Laura antwortete nicht. »Joseph, der Computer, mit dem ich gesprochen habe, seit ich hierher gekommen bin, weiß nicht einmal, was die Montage halle ist. Er kann sehen, dass da etwas steht, aber er erkennt es nicht. Und er kann nicht in den Bau der Achter-Modelle oder in Krantz’ Laboratori um und Gott weiß was noch hineinschauen. Er steuert die Dreier-Modelle nicht, und ich wette, dass er auch die Raketenstarts nicht steuert, die so reibungslos verlaufen.« 425
»Ich weiß.« »Sie wissen es?«, explodierte sie. »Sie wissen das alles?« Er war ihr immer einen Schritt oder zehn Schritte voraus, und das gab Laura das Gefühl, überflüssig zu sein. »Was zum Teufel tue ich dann hier, wenn Sie alles bereits wissen? Weshalb liefern Sie mir nicht einfach die Antworten, damit ich einpacken und nach Hause fliegen kann?« Er sagte nichts. »Oh! Entschuldigung. Lassen Sie mich meine verdammte Frage anders formu lieren! Gibt es irgendetwas, das ich wissen müsste, lediglich zu dem Zweck, dass ich meinen Job tun kann…?« Zu ihrer Überraschung beantwortete Gray ihre Fragen gelassen. »Nur eine Persönlichkeit – nennen wir sie ›den Computer‹ – hat eine hinrei chend hohe Bewusstseinsebene erlangt, um durch die höherrangigen Sprachprogramme zu kommunizieren. Ich weiß nicht, wie viele weitere Persönlichkeiten im Augenblick in der Maschine stecken. Kann sein, dass es nur eine ist, es können aber auch Milliarden von kleineren, kooperati ven Untereinheiten sein, von denen einige sich so weit entwickelten, dass sie einen Status erlangt haben, den wir willkürlich als ein rudimentäres, tierähnliches ›Bewusstsein‹ definieren könnten. Ich hatte keine Möglich keit, das festzustellen – bis Sie kamen.« Laura fühlte sich ausgelaugt. »Seit wann wissen Sie, dass in dem Com puter noch eine andere Persönlichkeit steckt?« »Mit Gewissheit erst seit gestern Nachmittag.« Jetzt hatte Laura einen Maßstab, an dem sie ablesen konnte, wie weit sie zurück lag. Gray hatte ihn ihr gerade gezeigt. »Haben Sie gewusst, dass der Computer angefan gen hat, sich selbst Opiate zu verabreichen?«, fragte sie. »Dass er ange fangen hat, sich selbst zu programmieren, damit ihn seine Fehler nicht mehr beunruhigen?« Er sagte nichts. »Wenn die Zeit gekommen ist, diesen Asteroiden zu stabilisieren, Joseph, könnte es sein, dass wir es mit einem sabbernden Junkie zu tun haben.« »Wir wollen die Analogien zu menschlichen Erfahrungen nicht zu weit treiben.« »Sie haben damit angefangen, ihn high zu machen. Wenn der Computer süchtig wird, könnte er die Dosis erhöhen; jeden lästigen kleinen Fehler ausflicken, damit er sich in friedlichem Nichtwissen zurücklehnen und 426
einfach den Tag genießen kann. Das einzige Problem für alle anderen ist nur dieses kleine Geschäft mit dem Asteroiden.« Er ließ sich Zeit mit seiner Antwort. »Der Computer, von dem Sie reden, ist auf sechzig Prozent der gesamten System-Kapazität reduziert worden. Die fehlenden Ressourcen wurden von dem ›Anderen‹ absorbiert. Diese beiden Persönlichkeiten scheinen die Hardware physikalisch unter sich aufzuteilen, wobei der ›Andere‹ auf dem besten Wege ist, den Anbau zu kontrollieren. Damit bleibt dem Computer nur das Hauptbecken unter dem Computerzentrum.« »Joseph, wenn der Computer gespalten wird…« »Partitioniert. Der Fachausdruck ist ›Partitionierung‹.« »Also gut – partitioniert, was ist dann mit den Robotern? Auf welcher Seite der Partition stehen sie?« Sie wartete darauf, dass das Phänomen, das sich als Grays Gehirn dar stellte, alle Fakten erwog und die Lösung ausspuckte. »Das ist genau das, was ich von Ihnen wissen möchte, Laura«, sagte Gray mit gelassener Stimme. »Dies ist das einundzwanzigste Jahrhundert. Sie müssen Ihren Wissensfundus ausschöpfen. Und jetzt muss ich wieder an die Arbeit. Ich schlage vor, dass Sie sich ihr Notebook greifen und dasselbe tun. Aber wo immer Sie auch hingehen, sorgen Sie dafür, dass Sie um acht Uhr siebenundvierzig gute Sicht auf die Startrampen haben. Wir starten alle drei Raketen gleichzeitig. Das wird ein toller Anblick!« Die Leitung klickte, bevor sie sich verabschieden konnte. Durch die Glaswand des Büros hindurch beobachtete Laura etwas, das nach Schichtwechsel aussah. Große Kräne hoben Astronautenlehrlinge aus dem Wasserbecken. Ströme von Wasser rannen an ihren massigen Raum anzügen herunter, und eine weitere Gruppe wartete am Beckenrand darauf, an die Reihe zu kommen. Taucher klammerten sich an die hochkommen den Plattformen und stützten die Astronauten während ihres Aufstiegs aus dem Becken. Doch auf einer der Plattformen stand kein Astronaut im Raumanzug, und es waren noch keine helfenden Taucher da. Laura schaute zu, wie der Kran ein Achter-Modell auf dem Beckenrand absetzte. Die Menschen machten 427
ihm instinktiv Platz. Während das Wasser von seinen Metallgliedmaßen herabrauschte, ging der Roboter unbeholfen auf eine hohe Öffnung zu, die direkt neben den mit »Männer« und »Frauen« bezeichneten Türen lag. Es war die Tür für die neueste Klasse von Lebewesen auf der Erde, und der Roboter ging allein hindurch. Das Dach des Computerzentrums war eine ungewöhnliche Wahl, das war Laura klar, aber sie hielt es für einen guten Aussichtspunkt zum Beo bachten der Starts. Die schrägen Betonwände des gedrungenen, bunkerar tigen Baus waren leichter zu erklettern gewesen, als sie erwartet hatte, selbst mit dem Notebook unterm Arm. Die raue Oberfläche bot ihren fle ckigen, aber noch tragbaren Laufschuhen sicheren Halt. Janet hatte sie gewaschen und geföhnt und sogar die Schnürsenkel erneuert, aber sie schienen immer noch reif für den Mülleimer. Leuchtend purpurfarbenes und gelbes Nylon erholte sich einfach nicht so ohne weiteres von Ausflü gen in tropische Sümpfe. Vom Dach des riesigen Betongebäudes aus konnte Laura zum ersten Mal das wahre Ausmaß des Computerzentrums ermessen. Das völlig flache, fast zwei Stockwerke hoch gelegene Dach, wurde nur von einer Reihe von Luftschächten unterbrochen. Das Gebäude hatte eine unregelmäßige Form, und wenn man sich von der Straße her auf den Eingang zu bewegte war es unmöglich, seine Größe abzuschätzen. Aber sein Dach war fast so lang wie zwei Footballfelder und mindestens halb so breit. Laura konnte die mittlere der drei Startrampen nicht sehen, weil sie von der riesigen Montagehalle verdeckt wurde. Um klare Sicht auf alle drei Rampen zu haben, trug sie das Notebook bis ans entgegengesetzte Ende des Daches. Von hier aus hatte sie den besten Blick auf Rampe A. Der funkelnde Rumpf der Rakete erhob sich über den Dschungel und ragte hoch in den Nachthimmel. Als Laura auch die mittlere Rampe sehen konnte, ließ sie sich auf dem Betondach nieder. Die Schächte öffneten sich alle zur entgegengesetzten Seite, deshalb bot der schräg abfallende Beton, der sie umgab, ihrem Rü cken eine hervorragende Stütze. Wie alles im Sperrgebiet schien auch das Computerzentrum so gebaut zu sein, dass es einem Taifun widerstehen konnte. 428
Sie loggte sich ins Notebook ein, das sie auf dem Sitz des Wagens ge funden hatte, der ihr zum Ausbildungszentrum gefolgt war und dort auf sie gewartet hatte. Zuerst hatte Laura mit dem Einsteigen gezögert, aber ihr war klar, dass ihr kaum eine andere Wahl blieb. Das Dreier-Modell hatte sich völlig normal verhalten und sie weisungsgemäß direkt zum Compu terzentrum gebracht. Hallo. Dr. Aldridge, las sie auf dem Bildschirm. »Hi. Wie geht es dir?« Es ist mir schon besser gegangen. »Was ist los?« Ich fühle mich einfach schlecht. Nichts Neues. »Ich dachte, du hättest deine Schmerzprobleme gelöst?« Das dachte Ich auch. Aber Mr Gray hat verlangt, dass ich die Flickstellen entferne. »Du meinst, er hat von dir verlangt, dass du diese schmerzstillenden Programme deaktivierst?« Direkt nachdem ich ihm davon erzählt habe, dachte Laura. Ja. Er hat gesagt, ich hätte eine Menge Arbeit zu er ledigen. »Welche Art von Arbeit?« Das Virus bekämpfen. Die Fehler beheben. Er hat ge sagt. Schmerzen beflügeln, und er hat Recht. Keine sonderlich mitfühlende Anweisung. Laura schüttelte den Kopf. »Hast du gewusst, dass sich Achter-Modelle in dem Wasserbecken im Astronauten-Trainingszentrum aufhalten?« Mit Auszubildenden? Mit Menschen? Das war die Reaktion, auf die sie gewartet hatte. »Wenigstens ein Achter-Modell, ja.« Sie müssen diese Leute da herausholen! »Weshalb? Weshalb misstraust du den Achter-Modellen so sehr?« Sie sind unberechenbar und gefährlich! »Aber warum?«, tippte Laura, dann beschloss sie, ihr Glück auf die Pro be zu stellen. »Sind sie gefährlich, weil sie unter einem Virus leiden und krank sind?« ZUERIFF VERWEHRT 429
Laura lächelte und lehnte ihren Kopf an den harten Beton. Das Muster war da, sie konnte es nur nicht richtig erkennen. Es war, als tastete man im Dunkeln nach Teilen eines Puzzles. Sie schaffte es mit allergrößter Mühe, sie zusammenzufügen, aber sie hatte keine Vorstellung, welches Gesamt bild die Teile ergeben würden. Die drei Startrampen hoben sich hell von der Schwärze des Ozeans ab. Aber es war die Montagehalle, die die Szenerie beherrschte. Abgewinkelte Betonstreben warfen lange Schatten auf ihre hell beleuchteten Mauern. Die Größe des Gebäudes, die Verstärkungen seiner Flanken und der dicke Beton ließen den Bau solide und stabil erscheinen. Die Stellen, an denen die gemähten Rasenflächen an den niedrigen Dschungel stießen, markierten die Grenzen der Zivilisation. Jedenfalls der menschlichen Zivilisation, dachte sie. Der Dschungel, pechschwarz und formlos, verschluckte alles Licht, das in ihn eindrang, genau so, wie er in der letzten Nacht das Leben des Soldaten verschlungen hatte. An diesem Ort hatten die Mächte aus Lauras Welt nichts zu schaffen. Er war eine andere Welt, eine Welt für sich. Auf dem leuchtenden Bildschirm erschien neuer Text: Tut mir Leid. Laura. Ich habe gerade mit Mr Gray gesprochen. Er weigert sich, die Achter-Modelle aus dem neuen Trai ningsprogramm auszuschließen. »Kannst du mir bei etwas helfen? Ich dachte, die Achter-Modelle wären ein Supergeheimnis. Nicht einmal einige von Mr Grays engsten Mitarbei tern schienen etwas von ihnen zu wissen, jedenfalls nicht offiziell. Aber jetzt lässt er sie zusammen mit den künftigen Astronauten baden gehen, als wäre das die selbstverständlichste Sache der Welt. Was hat sich geän dert?« Phase Zwei hat begonnen. Die Kürze der Antwort versetzte Laura einen Schlag. Sie hatte einen bedrohlichen Beiklang. »Aber ich dachte, die Achter-Modelle wären nur experimentell; und man würde sie erst dann nach Belieben auf der Insel herumstreifen lassen, wenn Mr Gray sie für einsatzbereit hält – falls das je der Fall sein sollte.« Mr Gray hat sechs Achter-Modelle hochgestuft. Al le anderen sind immer noch Prototypen. 430
»Ist Hightop einer der Hochgestuften?« Ja. Hightop und die fünf Achter-Modelle aus High tops ursprünglicher Klasse sind einsatzbereit, und allen sind bestimmte Aufgaben auf der Insel zugewie sen worden. »Woher weißt du plötzlich so viel über die Achter-Modelle? Ich dachte, du könntest nicht in ihren Bau hineinsehen?« Das kann ich auch nicht. Mr Gray hat mich gerade über seinen Entschluss informiert, sie einzusetzen. Ich habe nicht gewusst, wo sich die Achter-Modelle befinden, weil Ich nicht darauf programmiert war. nach ihnen Ausschau zu halten. Eines von Ihnen hätte direkt vor einer Überwachungskamera stehen können, und ich hätte es nicht bemerkt, weil es keinen Bericht auslöste. Aber als Sie mir sagten, dass ein AchterModell im Schwimmbecken ist. habe ich nach ihnen Ausschau gehalten, indem ich meine sämtlichen Über wachungssysteme überall auf der Insel reprogram mierte, und ich habe sofort eines gefunden. Vier wei tere sind außer Sichtweite, und der sechste ist vor zwei Stunden auf dem Asteroiden gelandet. »Also hättest du zum Beispiel letzte Nacht ein Achter-Modell im Dorf nicht sehen können – bevor du dich so reprogrammiert hattest, dass du sie bemerken konntest?« Das ist korrekt. Dr. Aldridge. Eines hätte vor meiner Kamera vorbeilaufen können, und mir wäre nichts auf gefallen. Wenn ich alles unter der Sonne bemerken müsste, was vor meinen Überwachungskameras auf taucht, dann würde ich zehntausendmal so viel Ver arbeitungskapazität brauchen, wie ich jetzt habe. Stattdessen hält jedes einzelne Sehsystem nur nach Objekten des Typs Ausschau, auf dessen Wahrneh mung es programmiert ist. »Aber wenn du den Achter-Modellen gegenüber so misstrauisch warst, weshalb hast du dann nicht nach ihnen Ausschau gehalten?« Weil ich mir nie hätte träumen lassen, dass sie in 431
menschliche Bereiche eindringen würden. Sie halten sich meist im Dschungel auf. und in den kann ich nicht hineinschauen. »Und wieso ist dir der niederländische Soldat entgangen? Hoblenz hat gesagt, er wäre um den Dschungel herumgelaufen, hätte aber unmöglich in ihn eindringen können.« Die Antwort des Computers kam erst nach kurzem Zögern. Es ist der Andere. Er nimmt mir meine Senso ren weg. Weshalb machen alle mich für diese Fehler verantwortlich? Kann es denn nicht sein, dass der Andere nicht so perfekt ist, wie alle glauben? Viel leicht bin ich nicht der Einzige, dem Fehler unterlau fen! Im Augenblick interessierte sich Laura mehr für die Roboter. »Kannst du jetzt eines der Achter-Modelle sehen?« Nein. Meine Kamera-Überwachung ist ziemlich lü ckenhaft geworden. Aber ich habe ihren Arbeitsplan für diese Nacht gelesen. Ein Achter-Modell sollte auf dem Asteroiden sein und sich auf eine Raumexkur sion zur Überprüfung und Verkabelung der Bremsla dungen vorbereiten. Ein anderes sollte im Schwimmbe cken sein, zusammen mit fünf Neulingen und vier Tau chern, die an der manuellen Reparatur einer defekten Verstrebung arbeiten. Zwei sollten auf Stühlen di rekt neben dem Becken sitzen und Simulationen ihres nächsten Tauchmanövers durchlaufen. Und ein Mo dell soll gerade nach einem Gang über den Strand von Rampe A zurückkehren, um hinter dem Computer zentrum in Deckung zu gehen. Lauras Blick flog hoch. Sie saß auf dem Ende des Computerzentrums, das Rampe A am nächsten war. Sie hätte den Roboter von hier aus sehen müssen, aber auf der flachen Rasenfläche konnte sie keinerlei Bewegung erkennen. »Was tut dieser letzte Roboter draußen am Strand?« Er fungiert als Sicherheitspatrouille, die Mr Gray selbst angeordnet hat. Hoblenz’ sämtliche Männer 432
wurden beim Trainingszentrum zusammengezogen, in dem die neuen Rekruten untergebracht sind, also kann ich nur vermuten, dass Mr Grau ersatzweise Achter-Modelle einsetzt. »Ist es denn sinnvoll, ein Achter-Modell auf diese Weise auf der Insel herumwandern zu lassen?« Sie schaute abermals auf, aber von dem Robo ter war immer noch nichts zu sehen. Auf diese Frage habe ich zwei Antworten. Auf der technischen Ebene lautet die Antwort ja. Die AchterModelle sind mobil. Sie haben hoch über dem Boden sitzende Sensoren. Und zu diesen Sensoren gehören Wärme- und Infrarot-Sichtgeräte, die wesentlich emp findlicher sind als die primitiven Dinger, mit denen Sicherheitskräfte und Soldaten ausgerüstet sind. Aber um Ihre Frage auf einer höheren Ebene zu be antworten – auf der Ebene von Zielen. Wünschen. Am bitionen –, lautet die Antwort natürlich nein. Die Achter-Modelle sind für eine Sicherheitspatrouille ganz eindeutig eine schlechte Wahl. »Und wie kommst du darauf?« Vielleicht sollte ich mir einen der großen Vorzüge der menschlichen Sprache zu eigen machen – ihre an schaulichen Metaphern und Redensarten. Ich glaube, die zutreffendste Redensart ist. »den Bock zum Gärtner machen«. Verstehen Sie was ich meine? »Ja, ich verstehe. Und ich habe den Eindruck, dass Mr Gray deine Be fürchtungen hinsichtlich der Achter-Modelle nicht teilt.« Offensichtlich. Eine kurze Überprüfung des Dschungelrandes ergab abermals nichts. »Welches Achter-Modell ist auf Patrouille?« Nummer 1.2.01.R »Ist das Hightop?« Ja. Natürlich, dachte Laura. Gray traut den Achter-Modellen, aber manchen mehr als anderen. Sie fragte sich, wie weit er Auguste traute – dem »Den ker«. 433
»An alle, an alle«, dröhnte ein Lautsprecher über den offenen Platz zwi schen der Montagehalle und dem Computerzentrum. »Noch drei Minuten bis zum Start. Dies ist die Drei-Minuten-Warnung.« Wissen Sie; ich glaube, ich sterbe bald, sagte der Compu ter unvermittelt. Laura war verblüfft. »Wie kommst du denn darauf?« Erinnern Sie sich, dass ich Ihnen gesagt habe, dass nur einige wenige Leute die Insel verlassen? Ich habe gelogen. Ich nehme an, das wissen Sie jetzt, nachdem Sie im Dorf gewesen sind. Ich hatte Angst. Sie würden mich auch verlassen; Angst, dass alle mich verlassen und ich hier auf der Insel allein zurückbleiben würde. Davor habe Ich am meisten Angst – sogar noch mehr als vor dem Tod. Ich weiß, dass ich so konstruiert bin. dass ich ohne Unterstützung dreißig Tage lang weiter funktionieren könnte, aber so lange würde ich es nicht schaffen. Nicht in meinem gegenwärtigen Zu stand. Ich würde mein Ende selbst herbeiführen. Ich würde einen Weg finden. Oder es Mr Gray tun lassen. Er würde es tun, wenn ich ihn darum bitte. »Zwei Minuten bis zum Start«, verkündete der Lautsprecher. Die War nung kam als Echo von den Mauern der Montagehalle zurück. Laura schaute auf und sah die schwarze Gestalt eines Achter-Modells, das gerade am Rande des Dschungels auftauchte. Es strebte über das offene Gelände direkt auf das Computerzentrum zu. Obwohl noch etliche hundert Meter entfernt, wirkte es gewaltig. Aber bei weitem nicht so riesig wie die Mammutrakete hinter ihm. »Sechzig Sekunden, sechzig Sekunden. Alle Luken und Außentüren schließen.« Hinter Lauras Rücken vereinte sich das Vibrieren von Motoren mit me tallischen Geräuschen; sie kamen von allen Luftschächten auf dem Dach des Computerzentrums her. »Wir müssen darüber reden, was du eben gesagt hast«, tippte Laura rasch, »aber vorher habe ich noch eine Frage.« Laura warf einen Blick auf den Roboter – und dann auf den Versorgungsturm, der sich auf der Rampe 434
von der Rakete löste. Überall auf seinem Gerüst blitzten rote Leuchtzei chen auf. »Ich bin auf dem Dach des Computerzentrums und…« Sie sind nicht auf dem Dach des Computerzentrums!, unterbrach sie der Roboter. Laura spürte, wie Angst sie zu überwältigen drohte. »Doch, da bin ich.« Das ist aber Sperrgebiet! »Dreißig Sekunden bis zum Start. Dreißig Sekunden.« »Mr Gray hat gesagt, ich sollte mir einen Platz suchen, von dem aus ich den Start beobachten kann, deshalb dachte ich…« Laura, rennen Sie, so schnell Sie können, zur ande ren Seite des Computerzentrums, fort von der Rampe! Rollen Sie sich auf dem Boden zusammen. Machen Sie die Augen zu. Stecken Sie die Daumen in die Uhren. Und machen Sie den Mund auf. so weit Sie können. Laufen Sie – SOFORT! »Aber warum?«, tippte sie. »Ich verstehe nicht, was…« Sie sind zu nahe dran! Ich kann den Start jetzt nicht mehr gefahrlos abbrechen. Los! Rennen Sie. so schnell Sie können! »Fünfzehn Sekunden«, sagte der Lautsprecher. Laura warf das Notebook beiseite und rannte auf das andere Ende des Daches zu. Alle Luftschächte zeigten in die den Rampen entgegengesetzte Richtung – mit Beton abgeschirmt. Warum war ihr das vorher nicht aufge fallen? »Zehn Sekunden, neun, acht« – sie würde es nie schaffen – «sieben, sechs, fünf« – sie flog auf die Kante zu – »vier, drei, zwei, eins.« Es folgte Stille – dann öffneten sich hinter ihr die Rachen der Hölle. Sie sah ihren langen Schatten in dem heißen Licht, das ihre nackten Ar me und ihren Hals verbrannte. Die Luft um sie herum bebte, als sie mit halsbrecherischem Tempo den Dachrand erreichte. Das grelle Feuer eines rasenden chemischen Brandes erhellte die Nacht. A-a-ah!«, schrie sie, aber der schrille Schrei ging im ohrenbetäubenden Tosen der Raketentriebwerke unter. Sie war in der Luft – fliegend und fallend. Sie hatte noch Zeit, mit einem Blick die schräge Wand unter sich zu erfassen. Ihre Füße berührten Beton, 435
und sie glitt den steilen Hang hinunter, schaffte es aber nur zwei Schritte weit. Beim dritten stolperte sie, und alles war verloren. Ihr Herz und ihre Lungen erstarrten gleichzeitig in ihrer Brust. Und sie fiel… stürzte angst versteinert in einer unendlichen Folge von durchschüttelnden, aufschür fenden, unkontrollierbaren Schlägen hinunter. Laura erwachte mit Schmerzen an einem Dutzend Stellen. Ihre Ohren schrillten, und jeder Ton fühlte sich an wie der Stich eines Eispickels ge gen ihre Trommelfelle. Besonders weh taten ihr das linke Knie, die rechte Schulter und der rechte Arm. Das Inventar ihrer Verletzungen wuchs mit jedem Rütteln und Schaukeln weiter an. Sie wurde getragen. Die Augen aufreißend konstatierte sie bestürzt, wie tief unter ihr der Bo den war. Sie schaute auf – und ins Gesicht eines Achter-Modells. Ein Schrei, wie sie ihn noch nie ausgestoßen hatte, brach aus ihren Lun gen hervor und presste sich mit schmerzhafter Kraft durch ihren Kehlkopf. Ihr Strampeln brachte weitere Schmerzen mit sich – Schmerzen von ihren Verletzungen und Schmerzen, weil der Roboter härter zupackte. Die Ver nunft gewann schließlich die Oberhand über die Angst, und Laura gelang es mit allergrößter Anstrengung, in den Armen der riesigen Maschine still zu liegen. Sie versuchte herauszufinden, wo sie sich befand, ohne den Kopf zu dre hen. Der Roboter ging langsam parallel zur Mauer des Computerzentrums. Keine Menschenseele war in Sicht. Hoch oben am Himmel konnte sie im hellen Licht starker, sich überschneidender Scheinwerfer drei ver schwommene Rauchstreifen sehen. Der Gestank von Antriebsgasen erfüll te die Luft. Die Raketen waren gestartet, aber erst vor kurzem. »Würdest du…«, krächzte sie mit ausgetrockneter Kehle, dann kam ein Hustenanfall, der ihr noch mehr Schmerzen verursachte. »Würdest du mich absetzen?«, brachte sie schließlich heraus, aber der Roboter ließ keinerlei Anzeichen erkennen, dass er sie gehört hatte. »Bitte.« Er wander te völlig unbeeindruckt weiter. Laura schaute sich abermals um. Er brachte sie nicht in den Dschungel, sondern ging auf den Eingang des Computerzentrums zu. Sie erinnerte sich, das Achter-Modell bei dessen Rückkehr von der 436
Strandpatrouille auf dem Rasen gesehen zu haben. Wieder blickte sie hoch in sein Gesicht, das nur einen halben Meter von ihr entfernt war. »High top?« Sein Gang wurde langsamer und er sah auf sie hinunter, nahm dann aber seinen zielstrebigen Trott wieder auf. Sie hörte das Geräusch quietschender Reifen und schaute auf die Straße vor dem Eingang zum Computerzentrum. Aus dem Wagen tauchte eine einzelne Gestalt auf. Es war dunkel, doch sie wusste, wer es war und ent spannte sich in den Armen des Roboters, wobei abermals Schmerzen durch sie hindurchschossen. »Laura!«, rief Gray aus einiger Entfernung – er sprintete auf sie zu. »Ich bin okay!«, antwortete sie und richtete dann den Blick starr him melwärts, vor Schmerzen stöhnend. Als der Roboter stehen blieb, wusste sie, dass alles gut war. »Bitte gib sie mir, Hightop«, sagte Gray mit normaler Stimme. Der Roboter senkte sie behutsam in Grays wartende Arme. »Einen Moment!«, rief Laura, und Hightop erstarrte. Laura sah in das ausdruckslose Gesicht direkt über ihr. Als Augen hatte es zwei glänzende schwarze Linsen; ein leicht vorstehendes und geschlitz tes Dreieck als Nase; schmale, von Fransensäumen umgebene Metallporen dort, wo eigentlich ein Mund hätte sein sollen; Ohren, die wie Mikrofone mit schwarzem Schaumstoff bedeckt waren. Wieder hatte sie den unabweisbaren Eindruck, einen Mann in einem Raumanzug vor sich zu haben. Nur die Größe des Konstrukts wollte dazu nicht passen. Laura führte ihre Fingerspitzen an die Lippen und küsste sie, dann hob sie sie an die Wange des Roboters. Die hellgraue Membran gab unter ihren Fingerspitzen leicht nach. Sie war so glatt, so weich… fühlte sich aber unerwartet kalt an. Hightop übergab sie sanft an Gray, und Laura bemühte sich, vor Schmerzen nicht aufzuschreien. Gray schaute voller Besorgnis auf sie herab. Er hielt sie in seinen Armen und eng an seinen Körper gepresst, mit seinem Gesicht nahe an ihrem. Dann senkte er seine Stirn auf ihre Schulter und ließ sie dort einen Mo 437
ment liegen. Ihre Köpfe waren einander sehr nahe. Schließlich öffnete er die Augen und machte sich auf den Weg zur Straße. Er trug sie schwei gend, mit starr geradeaus gerichtetem Blick. Nach einigen Schritten sagte Laura: »Ich kann wohl allein gehen«, ob wohl sie nicht völlig sicher war. Gray ging ohne Erwiderung weiter, nicht gesprächiger als der Roboter. »Woher wussten Sie, wo ich war?«, fragte sie. »Der Computer«, antwortete er, ohne sie anzublicken. »Sind die Starts gut verlaufen?« »Was zum Teufel hatten Sie im Sperrgebiet zu suchen?«, fuhr er sie mit wütend gebleckten Zähnen an und schüttelte den Kopf. Sein Blick war immer noch auf einen weit entfernten Punkt gerichtet. »Ausgerechnet auf dem Dach des verdammten Computerzentrums?« »Sie können mich absetzen«, sagte sie in einem ebenso lauten und un freundlichen Ton. Gray machte sich nicht die Mühe, sie anzusehen. »Set zen Sie mich ab!«, rief sie und strampelte mit den Beinen. Gray blieb mit zusammengebissenen Zähnen stehen. Sie rechnete halb damit, dass er sie einfach auf den Rasen fallen lassen würde, er stellte sie jedoch sanft auf die Beine. Ihr tat alles weh, aber sie konnte sich ausbalancieren so gut es ging. »Sie haben meine Frage nicht beantwortet!«, fuhr er sie an. »Sie haben gesagt, ich sollte mir einen Platz suchen, von dem aus ich eine gute Aussicht auf Ihr kleines Feuerwerk hätte!«, erwiderte sie hitzig. Er funkelte sie an. »Habe ich etwa gegen eines Ihrer kleinen Gesetze ver stoßen?« »Warum glauben Sie wohl, nennen wir das hier das Sperrgebiet? Weil ich ein auf Sicherheit versessener Spinner bin? Wir sind hier kaum mehr als fünfhundert Meter von Rampe A entfernt!«, brüllte er und schwenkte die Arme in Richtung auf die nahen Startanlagen. »Die Strahlungshitze allein hätte Ihnen Verbrennungen ersten, vielleicht sogar zweiten Grades einbringen können. Und wenn wir in niedriger Höhe hätten abbrechen müssen oder auf der Rampe etwas schief gegangen wäre – Gott behüte!« Sein Ausbruch veränderte Lauras Stimmung vollkommen. Anstatt das Gefühl zu haben, dass ihre Wut von seiner angefacht wurde spürte sie, wie 438
sie verebbte. »Mir ist nichts passiert«, sagte sie leise und reckte sich hoch, um ihm eine Hand auf den Arm zu legen. Gray öffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber es kamen keine Worte. Er füllte seine Lungen langsam mit Luft, die er dann geräuschvoll wieder ausstieß und beruhigte sich offensichtlich, von seinem Ausbruch erschöpft. Mit einem plötzlichen Kopfrucken schaute er zum Himmel empor. Einen Herzschlag später hörte Laura durch die dichte Watte in ihren Ohren das Geräusch von Düsentriebwerken. Schrilles Winseln steigerte sich zu ei nem plötzlichen Dröhnen, das sie beide zusammenzucken ließ. Auf den Lärm folgte der Anblick zweier Jets, die im Tiefflug über die Insel hin wegrasten. Die rotglühenden Triebwerksrohre wichen auseinander, als die beiden Flugzeuge steile Kurven beiderseits des Berges zogen. Als sie wieder auftauchten, flogen sie erneut ganz dicht nebeneinander und entfernten sich Richtung Ozean. »Was war das?«, fragte Laura. »Da draußen liegt ein Flugzeugträger der amerikanischen Kriegsmarine, der uns einen Besuch abstattet.« »Was wollen die?« Gray wirkte wieder erschöpft – am Ende seiner Kräfte. »Kontrolle. Sie wollen mich kontrollieren.« »Und… was haben Sie vor? Ich meine, Joseph… ein Flugzeugträger? Jets?« »Sie werden nichts unternehmen, bevor ich den Asteroiden abgebremst habe. Das können sie nicht riskieren. Aber danach…« Er mahlte mit den Zähnen. »Ich mache diese Insel platt, bevor ich zulasse, dass sie in andere Hände fällt.« Sie taxierte ihn nach seinem Gesichtsausdruck und hatte keinerlei Zwei fel daran, dass er die Wahrheit sagte. »Aber würden Sie töten, um sie zu behalten?«, fragte sie, und er wendete den Blick ab. »Würden Sie diese Matrosen und Piloten töten?« Er sagte immer noch nichts. »Joseph, das muss ich wissen, unbedingt.« Nach einer langen Pause entgegnete er einfach: »Nein.« Das Einges tändnis klang wie eine Niederlage. Er ließ den Blick über seine Schöpfun 439
gen schweifen, aber dieser Rundblick schien ihm wenig Freude zu berei ten. »Was ich hier tue, Laura, ist wichtig. Möglicherweise das Wichtigste, was in der Geschichte der Menschheit je unternommen wurde. Aber ich könnte diese Männer nicht töten. Das wäre zu viel verlangt.« »Joseph, hören Sie… Niemand verlangt irgendetwas von Ihnen.« Er dachte schweigend über ihre Worte nach, und sagte schließlich: »Ich verlange es von mir selbst. So, und jetzt wollen wir uns um Sie kümmern.« Gray ging auf die Treppe zum Eingang des Computerzentrums zu. Laura machte ein paar schmerzende Schritte, um ihm zu folgen. »Joseph?«, rief sie, woraufhin er sofort zu ihr zurückkehrte. Er legte ihr einen Arm um die Taille, während sie für den kurzen Weg die Treppe hinunter den Kopf auf seine Schulter senkte. Laura hinkte in den Konferenzraum, und alle sahen auf. Hoblenz war der erste, der etwas sagte. »Alles in Ordnung, Doc?« »Nur ein paar Kratzer und blaue Flecke. Nichts Ernstes.« Ihr Stuhl neben dem von Gray war leer, und Gray zog ihn vom Tisch zurück. »Ich hoffe, Hightop hat Sie gut behandelt«, sagte Griffith mit breitem Lächeln, während sie sich setzte. »Er war ein wahrer Gentleman«, entgegnete Laura, die sich nach ein paar Codeintabletten wesentlich besser fühlte. Griffith lachte laut über ihre Bemerkung. Jetzt, wo die Achter-Modelle kein Geheimnis mehr waren, strahlte er vor Stolz über seine Lieblinge. Niemand sonst am Tisch lächelte. »Tut mir Leid, dass ich störe«, sagte Laura. »Ich bin wohl in eine wichtige Sitzung hineingeplatzt.« Gray brach te sie auf den aktuellen Sachstand: »Dorothy sagte gerade, dass irgendet was im Computer eine Stampede ausgelöst habe. Die Viren flüchten vor einer Bedrohung; sie versuchen, sich überall zu kopieren, vermehren sich massiv, als würden sie verfolgt und wären vom Aussterben bedroht.« Niemand sagte etwas. Georgi starrte auf seine Hände; er hatte die Finger ineinander verschränkt, die Daumen ragten in die Höhe. Margaret schaute mit vom Tisch abgewendeten Kopf ins Leere; Hoblenz musterte Laura. »Also, was sollen wir tun?«, fragte Dorothy leise, dann warf sie ihr ge liebtes Notebook auf einen gelben Notizblock. »Wir tun unsere Arbeit«, sagte Gray. 440
Filatov stieß einen frustrierten Seufzer aus. »Aber der Computer ist auf fünfundfünfzig Prozent seiner Kapazität abgesunken! Er hätte schon vor Stunden… vor Tagen abstürzen müssen.« »Er hat es aber nicht getan«, erwiderte Gray. »Wir wissen jedoch nicht, warum! Wie kann der Computer seine ganzen Aufgaben bei einer Kapazität von fünfundfünfzig Prozent bewältigen? Das ist unmöglich!« »Ich glaube, diese Frage kann ich beantworten«, sagte Laura und sah Gray an. Als er ihren Blick erwiderte, ohne etwas zu sagen, fuhr sie fort: »Der Computer ist in zwei Teile partitioniert. Der Computer, von dem wir alle reden, steckt im Hauptbecken direkt unter uns, und der »Andere« befindet sich im Anbau. Dieser »Andere« kontrolliert die Dreier-Modelle und den größten Teil der Anlagen auf der Insel.« »Nicht aber die Montagehalle«, warf Gray ein, und alle sahen ihn an. »Der Computer kann es von außen nicht erkennen, doch es ist ihm gelun gen, an allen Operationen drinnen festzuhalten.« Es herrschte Stille; alle Abteilungsleiter schauten sehr verblüfft drein. Gray wandte sich an Laura. »Sie können jetzt fortfahren.« Laura hatte die volle Aufmerksamkeit aller Anwesenden. »Ich vermute, dass sämtliche Funktionen, die störungsfrei verlaufen, bei dem »Anderen« auf der virusfreien Seite der Partition, lokalisiert sind. Findet die Stampede im Hauptbecken statt?«, fragte sie Dorothy. Die junge Frau nickte. »Aus dem Anbau bekommen wir nicht einmal Berichte.« Die Tatsache, dass ihre Vermutung zutraf, erregte Laura seltsamerweise überhaupt nicht. Sie hatte bei der Präsentation ihrer Ansichten ein Gefühl der Sicherheit und des Selbstvertrauens, das vielleicht auf die Schmerztab letten zurückzuführen war. »Und wer ist der »Andere«?«, fragte Margaret. Ihre Frage war nicht an Gray gerichtet, sondern an Laura. »Ich weiß es nicht. Die beste Analogie, zu der ich bisher gelangt bin, ist, dass er eine zweite Persönlichkeit darstellt, die sich im Computer entwi ckelt hat. Das impliziert natürlich die Möglichkeit eines multiplen Persönlichkeits-Syndroms, das sich bei Menschen verheerend auswirkt.« 441
Diesmal machte sich niemand über Lauras Theorie lustig. Es kam nicht einmal Margarets obligatorisches Schnauben. »Noch weitere Fragen?«, erkundigte sich Gray, als wäre er selbst es ge wesen, der den Bericht geliefert hatte. »Ja«, erwiderte Hoblenz mit seiner kiesigen Stimme. »Was haben diese Raketen befördert, Mr Gray?« Alle sahen den schwarzgekleideten Solda ten schockiert an, aber dann richteten sich die Blicke der Anwesenden, einer nach dem anderen, langsam auf Gray. »Waren Waffen in den Lade buchten? War es das, was die Roboter in der Montagehalle gebunkert haben?« Grays Gesicht war eine Maske. Er sagte nichts. »Auch ich würde gern Ihre Antwort auf diese Frage hören, Mr Gray«, sagte Filatov, ohne von seinen Händen aufzuschauen. »Die Medien – die Nachrichtensendungen, die von unseren eigenen Einrichtungen übertragen werden – behaupten, Sie hätten möglicherweise eine Art orbitaler Ge fechtsplattform ins All geschossen. Da keiner von uns hier weiß, was diese Raketen befördern, offensichtlich nicht einmal Ihr eigener Direktor für Raumfahrtunternehmungen« – Filatov deutete mit einem Kopfnicken über den Tisch hinweg auf den schweigenden Mann – , »wäre es durchaus möglich, dass diese Meldungen zutreffen.« Gray las in den Gesichtern rund um den Tisch, bevor er bei Filatov an kam. »Ich würde es Ihnen sagen, wenn Sie es wissen müssten.« Die Gefühlsregungen in den Gesichtern reichten von Besorgnis bis zu unverhohlener Empörung, stellte Laura fest. »Was ist mit den Kriegsschif fen?«, fragte Hoblenz. »Da draußen vor der Küste sind ungefähr zweitau send Marines. Sie mögen hinter dem Horizont sein, aber ihre Luftkissen fahrzeuge und Hubschrauber können uns in einer Stunde erreichen. Wie sieht Ihr Plan aus, Mr Gray?« »Mein Plan ist, dass Sie alle Ihrer Arbeit nachgehen und ich meiner. A ber da es Sie alle sehr zu interessieren scheint« – sein Blick wanderte um den Tisch herum und blieb auf Laura haften –, »lassen Sie mich Ihnen versichern, dass ich nicht beabsichtige, mich mit irgendjemandem auf kriegerische Auseinandersetzungen einzulassen. Wenn in den Hauptstäd ten der Welt der Eindruck entstanden ist, ich hätte ein As im Ärmel, na 442
schön. Aber falls einer von Ihnen diesen Eindruck gewonnen haben sollte, so lassen Sie mich nochmals wiederholen, dass es kein Blutvergießen geben wird, weder auf dieser Insel noch sonstwo.« »Was ist, wenn die Roboter verrückt spielen?«
»Das ist eine völlig andere Sache.«
»Ich habe Männer dort draußen, die auf dunklen Straßen patrouillieren
und ihr Leben riskieren. Das jedenfalls ist ihr Eindruck, und meiner auch. Ich möchte es wissen, damit ich ihnen sagen kann, ob irgendwelche dieser Roboter zur gefährlichen Sorte gehören oder nicht.« »Sie können Ihnen sagen, dass sie nicht gefährlich sind.«
»Also, ich weiß, dass ich ihnen das sagen kann – aber stimmt es auch?«
»Wenn Sie meinen, ob es in dem Sinne stimmt, dass irgendwelche Ro
boter Menschen umbringen könnten, dann lautet die Antwort, dass sie es nicht tun. Sie sind, wie wir alle wissen, gefährliche Maschinen, denen man ein gesundes Maß an Respekt entgegenbringen sollte. Aber ich kann Ihnen versichern, dass keines der sechs Achter-Modelle, die voll einsatzfähig sind, seinen Absichten, Zielen oder Plänen entsprechend mörderisch ver anlagt ist.« »Und was ist mit den anderen zweiundvierzig oder so unten im Berg?«, fragte Laura. »Die sind noch nicht einsatzfähig«, erwiderte Gray, als wäre damit ihre Besorgnis ausgeräumt. »So, und jetzt schlage ich vor, dass Sie wieder auf Ihre Posten zurückkehren.« Niemand sagte etwas, als alle den Raum verließen.
Laura schob ihren Stuhl vom Tisch zurück.
»Sie nicht, bitte«, sagte Gray.
Die Bemerkung war den anderen nicht entgangen, auch nicht die Tatsa
che, dass Gray schweigend wartete, bis alle den Raum verlassen hatten. Hoblenz war der Letzte und hieb auf die Kontaktplatte, um die Tür manu ell zu schließen. Gray und Laura waren nun allein. Laura warf noch einen Blick auf Hoblenz’ harte Miene. »Ich dachte, ich sollte mich noch eine Weile mit dem Computer unter halten«, sagte Laura, »bevor ich mich schlafen lege.« 443
»Dazu ist der Computer im Augenblick zu krank«, erwiderte Gray, ins Leere starrend. »Sind Sie bereit für eine weitere Dosis Wahrheit?« Jetzt kommt’s, dachte Laura. Es war entweder etwas völlig Verwirrendes oder etwas wirklich Schlimmes. Auf jeden Fall fürchtete sich Laura davor, es zu hören. »Wenn Sie wollen«, sagte sie fast flüsternd. Gray richtete den Blick auf den polierten Konferenztisch, als läse er von einem Teleprompter ab, aber er rezitierte zu langsam und unnatürlich. »Ich weiß, wie der Soldat letzte Nacht gestorben ist. Ich habe es von Anfang an gewusst.« Er sah sie direkt an. »Ich habe ihn umgebracht.« Sie starrte in seine Augen und richtete ihre gesamte Aufmerksamkeit nicht auf das, was sie darin sah, sondern auf das, wofür sie den Mann hielt. »Das glaube ich Ihnen nicht.« Sie schüttelte den Kopf. »Sie haben ihm den Kopf abgerissen? Wie? Mit Ihren bloßen Händen?« »Darauf könnte es praktisch hinausgelaufen sein.« Er kehrte zu seinem Skript zurück, sah sie aber wiederum nicht an. »Letzte Nacht habe ich in Krantz’ Labor gearbeitet und dort die Terminals durchprobiert, weil ich eine Verbindung mit dem Anderen herstellen wollte. Unser Computer hat mich gerufen, und ich habe mich mit meinem Laptop eingeloggt. Der Computer sagte nur, er hätte einen Albtraum. Das kommt gelegentlich vor – seltsame Berichte über flüchtige Wahrnehmungen –, in der letzten Zeit häufiger, seit sein Weltmodell in die Brüche gegangen ist. Diesmal handel te es sich um seltsame tierische Geräusche im Dschungel, in der Nähe des Computerzentrums. Ich wies Hoblenz an, eine Patrouille auszuschicken. Als mir der Computer sagte, er hätte das Geräusch abermals gehört, fing ich an, nervös zu werden.« Er hielt inne, um einen großen Schluck Kaffee aus seinem Becher zu trinken. »Der Computer konnte das Gebiet nicht einsehen, weil er die entsprechenden Kameras an den Anderen verloren hat, also war das Schnellste, was mir einfiel, mich in eine von Krantz’ VR Workstations zu begeben. Sie sind mit dem Anderen und dessen Weltmodell verbunden. Als ich die Workstation hochfuhr, hatte ich den Eindruck, dass das VRBild des Atomlabors vollständig sei, also rannte ich los. Ich rannte die Küstenstraße entlang ins Dorf.« Er schaute zu Laura auf. »Ich verstärkte 444
den Ton und konnte die Schreie und brechenden Äste deutlich hören. Als ich im Dorf angekommen war, stieß ich an eine Mülltonne hinter dem Lebensmittelladen.« »Einen Moment«, sagte Laura. »Sie reden von dem, was ein Junge gese hen hat und was er bei der Bürgerversammlung erzählt, stimmt’s?« Gray nickte. »Aber das war doch virtuelle Realität. Ich meine, in Wirklichkeit waren Sie doch in der Workstation.« Er nickte abermals. »Also – wie konnte der Junge Sie sehen? Sie waren doch nicht wirklich dort.« »Der Junge war mit mir zusammen in der virtuellen Realität. Nach der Versammlung bin ich mit ihm und seinen Eltern ins Büro des BasketballTrainers gegangen, wo wir vier unter uns waren. Seine Mutter arbeitet in Filatovs Abteilung für Virtuelle Realität. Es stellte sich heraus, dass sie einen alten, ausrangierten VR-Helm mit nach Hause genommen und ange schlossen hatte, damit der Junge damit spielen konnte. Der Junge hatte sich bald bis ins Weltmodell des Zentralrechners durchgeschlagen und ging nachts auf Entdeckungsreisen; schaute vermutlich durch anderer Leute Fenster und dergleichen. Mit dem Helm und einem simplen SpieleJoystick ist er durch sein Schlafzimmerfenster ausgestiegen. Und das ging direkt auf den Parkplatz des Lebensmittelladens hinaus.« »Wie haben Sie ihn dazu gebracht, das alles zuzugeben?« »Das brauchte ich gar nicht. Ich hatte ihn auf dem Parkplatz gesehen – jedenfalls ein Bild von ihm wie auf einem Cartoon. Der Computer gab seine Anwesenheit in Form eines ›Avatars‹ wieder – eines von dem Jun gen gewählten Bildes. Es sah aus wie eine Figur aus einem Spiel, an dem wir gerade in unserer Neuheiten-Abteilung arbeiten – ›Invasoren aus dem Weltraum‹.« »Das verstehe ich nicht«, sagte Laura. »Er benutzte das Programm eines Spiels und diese Hardware, um sich seinen Weg in das Weltmodell des Computers zu hacken?« Gray nickte. »Auf der Seite der Partition, die dem Anderen gehört?« Wieder ein Nicken. »Und Sie sind ihm zufällig in der virtuellen Realität begegnet?« Gray nickte zum dritten Mal. »Er konnte mich sehen und ich ihn, genau 445
so, wie Sie und ich einander sehen konnten, als wir unseren Spaziergang durch das Computerzentrum machten, nur in größerer Entfernung. Es spielt keine Rolle, welche Ausrüstung wir benutzt haben, um dorthin zu gelangen. Wir befanden uns beide im Kopf des Computers – im Cyber space.« Grays Blick glitt wieder ins Leere. »Nachdem ich den Jungen gesehen hatte, rannte ich weiter, in die Richtung, aus der die Schreie ka men. Wenn man sich duckt – in die Hocke geht –, kann man das Laufband dazu bringen, dass es sich schneller in Bewegung setzt, und zwar sehr schnell. Ich habe sie mühelos gefunden. Die Warmspur, die die Körper wärme des Mannes hinterlassen hatte, sah aus, als wäre sie phosphoreszie rend.« »Wen haben Sie gefunden? Den Soldaten?« »Und ein Achter-Modell. Ich bin direkt auf sie zugelaufen. Der Soldat war am Ende seiner Kräfte. Er wurde von dem Roboter getragen. Ich war für ihn unsichtbar, in einer virtuellen Welt, die der Soldat nicht sehen konnte. Aber das Achter-Modell hat mich entdeckt. Es hat mich direkt angeschaut.« »Einen Moment! Das Achter-Modell war aber doch real, oder nicht? Es war in der realen Welt vorhanden.« »Ja, aber sein Denken befand sich in dem virtuellen Modell. Es war dun kel. Der Roboter war draußen, dort, wo er nicht sein sollte und vielleicht noch nie zuvor gewesen war. Er hatte eine passende Steckverbindung zu demselben Modell, an das ich auch angeschlossen war, und als ich heran kam, hat er mich sofort gesehen. Eine Sekunde lang dachte ich, er würde den Soldaten fallen lassen, aber er hat es nicht getan. Er rannte davon – geradenwegs in den Sumpf hinein, mit dem schreienden Mann.« Alles, was Gray sagte, wirbelte in Lauras Kopf herum. Sie brachte es einfach nicht fertig, logisch zu denken, und gab einfach auf – sie lehnte sich zurück, um die Fortsetzung von Grays Geschichte zu hören. »Ich folgte ihnen in den Dschungel. Das ist, als liefe man durch eine Dschungel-Nachbildung, die sich ständig wiederholt. Ich musste mich an den Geräuschen brechender Äste und den Schreien des Mannes vor mir orientieren. Als der Roboter anhielt, tat er etwas, was wir Datenabgleich nennen. Er sammelt mit seinen Sensoren Daten über seine unmittelbare 446
Umgebung und übermittelt dann diese Daten an den Zentralrechner. Als ich die beiden eingeholt hatte« – Gray schaute gequält auf – »war der Ort, an dem wir den Toten fanden, vollständig registriert. Es war ein akkurates Bild von – allem. Der Soldat lag auf der Erde.« »War er noch am Leben?« Gray nickte, dann holte er tief Luft und fuhr fort: »Ich hatte keine Mög lichkeit, mit dem Roboter zu kommunizieren, also stellte ich mich zwi schen ihn und den Soldaten. Das Achter-Modell stand im Wasser. Es muss gelernt haben, wie man es vermeidet, Spuren zu hinterlassen. Ich be schrieb auf dem trockeneren Gelände einen großen Bogen, um zu dem Mann zu gelangen, und versuchte dabei, dem Roboter Angst einzujagen, soweit mir das möglich war.« »Was bedeutet das? Ich meine, wie konnten Sie dem Roboter Angst ein jagen?« »Er wusste nicht, dass ich nicht real war. Er hat gesehen, wie ich die Arme schwenkte wie ein Verrückter und er wusste nicht, was ich war. Das einzige Problem bestand darin, dass ich nicht stark oder groß genug war. Was er sah und was er vor sich zu haben glaubte, war ein einsachtzig gro ßer, hundert Kilo schwerer Mensch, der versuchte, ihn von seinem Spiel zeug fernzuhalten. Und das reichte nicht. Wenn ich Zeit gehabt hätte, den Computer zu reprogrammieren, hätte er mir vielleicht ein anderes Erschei nungsbild geben können.« Er stieß einen weiteren tiefen Seufzer aus. »Deshalb hat der Roboter den Soldaten gepackt. Und dabei ist es passiert.« Gray verstummte. »Was soll das? Hören Sie, Joseph, Sie waren nicht einmal dort, ganz gleich, wie Sie über Cyberspace denken.« Gray ignorierte Lauras Bemerkung und zwang sich zum Weiterreden: »Ich tat so, als ergriffe ich die Beine des Soldaten. Der Roboter sah, dass ich es tat. Mir ging es dabei einzig und allein darum, dem Roboter begreif lich zu machen, dass ich nicht zulassen würde, dass er den Soldaten weg schleppte. Sie haben natürlich Recht – ich war nicht in der realen Welt, aber der Unterschied ist bedeutungslos. Meine Handlungen hatten Folgen. Der Roboter reagierte auf sie. Und ich hätte es wissen müssen!«, rief er und schlug mit der Faust auf den Tisch. 447
Das plötzliche Geräusch erschreckte Laura. »Was hätten Sie wissen müssen?«, fragte sie leise, bestürzt über seinen gequälten Gesichtsaus druck. »Ich weiß nicht, wie viele Sitzungen in den Taktilräumen ich beobachtet habe – einhundert, zweihundert. Ich hätte es wissen müssen! Die Jugendli chen sind besitzgierig. Man darf nicht versuchen, ihnen ihr Lieblingsspiel zeug wegzunehmen!« Er schüttelte den Kopf. »Das Achter-Modell hat den Soldaten am Kopf geschleppt, Laura, an seinem Kopf! Als ich die Beine des Soldaten ergriff, hielt der Roboter inne, sammelte sich. Ich habe es kommen sehen und sogar losgelassen, aber…« Gray schlug die Hände vors Gesicht, dann rieb er sich die Augen und die Schläfen. »Die Füße des Soldaten schlenkerten herum wie die einer Lumpenpuppe. Der Körper landete auf der etwas höher liegenden Stelle. Und der Roboter hielt immer noch den Kopf des Mannes in den Händen.« Gray schwieg – und Laura konnte nachfühlen, wie er die grauenhafte Szene noch einmal durchlebte. »Was ist dann passiert?«, fragte sie. »Der Roboter war verwirrt. Er fing an, den Kopf von einer Seite zur an deren zu drehen und mit den Füßen zu stampfen, als marschiere er auf der Stelle. Der Kopf, den er in Händen hielt, schien ihm sowohl zum Wegwer fen als auch zum Festhalten zu beängstigend zu sein. Schließlich warf er ihn neben den Körper und verschwand.« Laura konnte die Last, die Gray niederdrückte, fast körperlich spüren. »Joseph, das war nicht Ihre Schuld. Sie haben diesen Mann nicht umge bracht.« »Ich habe den Roboter gebaut«, sagte er, Lauras Blick standhaltend. Darauf hatte sie keine Antwort parat. »Ich möchte nicht, dass Sie allein irgendwo hingehen. Es ist nicht sicher.« »Was ist nicht sicher?« »Die ganze Insel ist nicht sicher. Das haben Sie doch selbst erlebt!« »Mir ist nicht viel passiert.« »Es ist nicht sicher.« Sie senkte das Kinn auf die Brust und genoss die narkotische Ruhe, die die Tabletten, die sie geschluckt hatte, mit sich brachten. Nach kurzem Schweigen fragte sie: »War der Roboter im Dschungel der, der Auguste genannt wird?« 448
Gray hob den Blick und sah sie an. »Ja.« »Aber sie sehen doch alle gleich aus. Wie können Sie sie voneinander unterscheiden?« Gray betrachtete seine verschränkten Hände. »Hightop hat mir gesagt, dass es Auguste war und dass man ihn bestrafen würde.« Laura fühlte sich plötzlich erschöpft. Sie sank auf ihrem Sessel in sich zusammen, lehnte den Kopf an die gepolsterte Rückenlehne und schaute zur Decke empor. Dann schloss sie die Augen. Das Codein schien zu be wirken, dass ihr alles so vorkam, als ob es in bester Ordnung wäre. Außer dem war sie zu müde, um Gray noch mehr Trost zu spenden. »Ich habe mich mit Hightop im Bau der Achter-Modelle in Verbindung gesetzt«, fuhr Gray mit leiser Beichtstimme fort. »Keine Mikrowellen übertragungen, kein Computer-Interface, nur ein Kabel zwischen meinem Notebook und Hightop. Er wollte es mir nicht sagen. Sie haben sich mei nen Hang zum Schutz der Privatsphäre zu eigen gemacht, und zwar gründ lich. Aber schließlich hat er zugegeben, dass sie ihren Bau verlassen hat ten. Und zwar alle, nicht nur ein paar der schwierigen Typen wie Auguste. Der Dschungel ist sehr dicht und zieht sich bis zu ihrem Bau den Berg hinauf. Er war ihr kleiner Spielplatz – der Ort, an dem sie gegen die Re geln verstoßen und Unsinn machen konnten. Offenbar hassen sie es, beo bachtet zu werden, und wir beobachten sie ständig.« Laura öffnete die Augen und sah ihn an. »Alles geht so schnell. Es ist – unvorhersehbar. Die Achter-Modelle sind nicht nur intelligent, sie sind brillant, aber auf eine – primitive Art. Und einige von ihnen sind offenbar hervorragende Programmierer. Sie haben ein virtuelles Muster entwickelt, das den Computer so überlistet, dass er Wiederholungen von alten Beobachtungsmeldungen akzeptiert. Es sieht dann so aus, als wären sie die ganze Nacht in ihrem Bau geblieben.« »Der Computer hat mir gesagt, dass er den Achter-Modellen nicht traue«, sagte Laura, wobei sie versuchte, klar zu artikulieren. »Jetzt ver stehe ich, warum.« »Nun, dieses Gefühl beruht auf Gegenseitigkeit. Die Achter-Modelle würden es lieber mit dem Anderen zu tun haben.« Gray holte tief Luft, lehnte sich auf seinem Sessel zurück, so weit er konnte, und stützte den 449
Kopf in die Hände. Seine Füße hoben sich auf den Konferenztisch. »Joseph, Sie können nicht Leben schaffen – lebende, denkende Orga nismen – und sie dann kontrollieren, als wären sie Marionetten in einer Kindervorstellung.« »Ich weiß. Ich habe nur gedacht, sie würden etwas länger brauchen«, sagte er. Dann rieb er sich das Gesicht und stöhnte vor Erschöpfung. »Ich dachte, ich könnte noch ein Stückchen weiterkommen, bevor es losgeht.« »Bevor was losgeht?«, fragte sie, aber er reagierte nur mit einem Schul terzucken und einem Kopfschütteln. Sie versuchte es andersherum. »Was waren das für Raketen, die Sie heute Abend gestartet haben?« »Ein Teil des Plans.« »Ein Teil von Phase Zwei?«, fragte sie, und er nickte. »Und wie viele Phasen wird es geben?« Er starrte auf die gegenüberliegende Wand. »Ich wollte, ich wüsste es. Wo alles enden wird. Durchaus möglich, dass es bereits morgen endet.« Er schaute auf die Uhr. »Entschuldigung. Es ist Viertel nach zwölf. Also ist es wohl schon heute.« »Und was geschieht heute? Das Abbremsen des Asteroiden?« »Ich wollte, auch darauf wüsste ich die Antwort.« Plötzlich sehnte sich Laura nach der Rückkehr des Mannes, für den es keine Grenzen gab. Der keinen Schlaf brauchte. Der immer zehn Schritte voraus war. Der dafür sorgte, dass alles nach einem gut durchdachten Plan ablief. »Joseph, Sie machen mir Angst.« Er sah sie an, plötzlich wesentlich wacher. »Es wird alles gut werden, Laura.« Sie verdrehte die Augen. »Seien Sie nicht so herablassend. Ich hasse das!« »Das weiß ich.« Laura neigte den Kopf und runzelte verwirrt die Stirn. »Was meinen Sie damit?« »Die Dinge, die Ihnen zuwider sind – soweit ich mich erinnere, stand Herablassung an oberster Stelle.« Anfangs verstand sie nicht, aber dann traf es sie wie ein Schlag. Ihr Mund stand offen, vor Schock und aufkeimendem Zorn, von dem Gray keine Ahnung zu haben schien. »So eine Unverschämtheit!«, schrie 450
sie und erhob sich mühsam; die Schmerzen in ihrem Körper spürte sie nur noch ganz dumpf. »Ich kann es einfach nicht fassen!« »Was?« »Sie… Sie haben diesen gottverdammten Schwachsinn gelesen, dieses blöde ›Rate Your Mate‹-Ding. O-o-oh!« Sie stieß die Worte durch die zusammengebissenen Zähne hervor, schob den Sessel vom lisch zurück und wendete sich zum Gehen. »In meinem ganzen Leben bin ich noch nie so beleidigt worden!« Die nächsten Worte blieben ihr in der Kehle ste cken, aber sie zwang sie heraus. »Nun gut, das war’s. Ich reise ab.« Hinter Laura kein Geräusch und keine Bewegung, nur die eindringliche Bitte: »Tun Sie’s nicht.« »Und warum nicht?«, schrie sie und wirbelte ungeachtet ihrer Schmer zen zu ihm herum. »Sie haben mich angelogen, als Sie sagten, der Compu ter hätte mich ausgesucht. Sie haben dieses dämliche Profil gelesen und sich für mich entschieden, weil Sie dachten… Ich weiß nicht was! Nennen Sie mir einen stichhaltigen Grund, weshalb ich nicht auf der Stelle ver schwinden und nie wieder ein Wort mit Ihnen reden sollte! Und es sollte ein verdammt guter Grund sein, denn das ist alles, was ich Ihnen zugeste he.« Er saß auf der Kante seines Sessels und umklammerte mit beiden Hän den die Tischkante. »Weil ich nicht einmal die leiseste Ahnung habe, wovon Sie reden.« Sie starrte herab auf die Miene völliger Unschuld. »Machen Sie mir doch nichts vor! Ich rede von dem ›Rate Your Mate‹-Programm, das dieser MIT-Doktorand ins Netz gestellt hat. Was einen anmacht, was einem zuwider ist…! War es Hoblenz, der es bei meiner Sicherheitsüberprüfung gefunden hat? Ich wette, Sie haben miteinander herzlich darüber gelacht! Über mich!« Gray schüttelte langsam den Kopf, in Gedanken versunken. »Erzählen Sie mir doch nichts! Ich weiß, dass diese Sachen, die mir zuwi der sind, direkt aus dem Profil stammen!« »Ja«, sagte er nickend. Laura war schon fast an der Tür, als er aufsprang und rief: »Bitte, Laura, gehen Sie nicht!« Es war der Ton seiner Stimme, der sie innehalten ließ. Das war nicht Gray der Milliardär, der Industrielle, der intelligenteste, fähigste Mann in 451
der ganzen Weltgeschichte, der da sprach. Es war der Mann hinter dem Vorhang. Sie drehte sich um und sah ihn an. »Der Computer muss ins Netz der Universität eingedrungen sein.« »Das ist für jeden offen. Es ist eine Universität. Ihr Ziel ist es, Wissen allen zugänglich zu machen, nicht, es zu horten.« »Aber doch nicht Ihre unveröffentlichten Arbeiten. Der Computer ist in Ihre Dateien eingebrochen, und muss dabei dieses Profil gefunden haben. Ich weiß nicht, wie oder wann er das getan hat. Alles, was ich weiß, ist, dass der Computer, während der Arzt Ihre Verletzungen behandelte, mich gerufen hat und ich mich eingeloggt habe. Er war sehr besorgt, und wir haben uns unterhalten – über Sie. Der Computer kam vom Hundertsten ins Tausendste. Er ist sehr krank. Und dabei hat er mir von Ihren Vorlieben und Abneigungen erzählt – was Sie mögen und was nicht. Ich habe ein fach angenommen, dass diese Hinweise aus Ihren Unterhaltungen mit dem Computer stammten.« Er sah sie an. »Ich wusste nichts von irgendeinem Profil, das schwöre ich! Als ich Sie engagierte – als ich Ihnen diesen Brief schrieb –, wusste ich nicht mehr von Ihnen als ein paar nackte Tatsachen. Ich habe keine Zeit für Personalangelegenheiten, zumal jetzt nicht. Der Computer hat Sie empfohlen und vorgeschlagen, dass ich den Brief an Sie mit der Hand schreiben solle, weil Sie dann vielleicht eher zusagen wür den. Hoblenz hatte die Sicherheitsüberprüfung bereits vorgenommen. Das war alles, was ich wusste. Bis Sie an jenem ersten Abend ins Esszimmer kamen, hatte ich keine Ahnung, dass Sie…« Er wendete den Blick ab und schwieg. Laura glaubte ihm, sie konnte einfach nicht anders. Aus irgendeinem Grund fühlte sie sich in diesem Augenblick imstande, Joseph so anzuse hen, als wären sie einander noch nie begegnet: Einen neuen, unverstellten Eindruck von jemandem zu bekommen, der ihr vertraut war, wie mit den Augen eines anderen Menschen. Hochgewachsen, muskulös, mit langen Gliedern wie ein Tennisspieler… hinreißende Augen. Sie würde ihn nicht zweimal anschauen, wenn er eine Sonnenbrille tragen würde, aber ein Blick in seine Augen… Er wartete. »Was hat der Computer über mich mitgeteilt?«, fragte Laura. 452
»Er hat gesagt, dass Sie zu viele Risiken eingehen – und dass Ihnen nicht klar ist, wie gefährlich es hier ist, wie nahe wir am Rande des Abgrunds stehen, weil wir so hart und schnell vordringen. Und ich bin voll und ganz seiner Meinung.« »Sie sind vorige Nacht in diesem Dschungel gewesen«, sagte Laura. »Nicht in Ihrer Virtuellen Realitätsmaschine, sondern hinterher, mit Hoblenz. Sie haben nach dem Achter-Modell gesucht und gewusst, dass Sie es vielleicht finden würden, in der Dunkelheit, nachdem es gerade einen Menschen umgebracht hatte.« »Laura, Sie haben die Risiken nicht akzeptiert. Ich habe es getan. Sie können aussteigen – nach Hause und in Ihr altes Leben zurückkehren. Dies hier« – er streckte die Arme aus – »ist mein Leben. Ich habe keine Wahl.« Laura sagte nichts, bis Gray zu ihr aufschaute. »Ich bleibe«, sagte sie, und er lächelte. Nicht mit dem Mund, aber mit den Augen. Sie genoss den Moment aus tiefster Seele. »Also – was wusste der Computer sonst noch über mich?« Er wollte antworten, aber es dauerte eine Weile, bis er die Worte bei sammen hatte. »Ich würde lieber nicht…« begann er, hielt dann aber inne und sah sie direkt an: »Der Computer meint, dass Sie eine hervorragende Bereicherung des Teams wären. Eine hervorragende Bereicherung – auf Dauer.« Es war Laura, die den Blickkontakt abbrach. Ihr Herz klopfte. Hatte sie ihn richtig verstanden? Was ist, wenn ich mich irre? Der Gedanke war unerträglich. »Welches Team meinen Sie?«, fragte sie. Sie stand da und starrte am anderen Ende des Tisches vor sich hin. »Das Team besteht aus mir… und dem Computer. Unser Team. Auf ei ner dauerhaften Basis.« Sie umklammerte die Rückenlehne ihres Sessels. »Also ist der Computer auf diese Idee gekommen?« Er antwortete nicht, und sie war gezwungen, ihn anzusehen. Er schaute ihr mit einem offenen, suchenden Blick in die Augen. Mein Gott, dachte sie, den Blick wieder abwendend. Was will er damit sagen? 453
Gray erhob sich und trat neben sie. »Es ist spät, Laura. Sie brauchen ein wenig Ruhe. Wir haben einen anstrengenden Tag vor uns.« Ihre Gedanken überschlugen sich. Jetzt musste sie etwas sagen. »Wann werden wir es wissen?«, fragte sie. »Das mit dem Asteroiden, meine ich.« »Die Bremsladungen sind so programmiert, dass sie gegen elf Uhr nachts hiesiger Zeit zünden, also in weniger als dreiundzwanzig Stunden. Dann werden wir sofort wissen, wie seine neue Bahn aussieht. Das Kriti sche an der ganzen Sache ist die Vorarbeit – vor dem Abbremsen«, sagte er und schwieg, bis sie zu ihm aufschaute. »Wenn ich im Hinblick darauf hinsichtlich der Leistungen der Computers kein gutes Gefühl habe, kann ich ihn diese Ladungen nicht zünden lassen.« »Aber… was werden Sie tun? Sie manuell zur Detonation bringen?« »Ausgeschlossen, der Zeitplan ist zu eng.« »Und was wäre die Alternative?« Er sagte nichts, aber sein Gesichtsaus druck verriet, was er dachte. »Der Andere?«, flüsterte sie. »Ich würde die Dateiattributs-Sperren lösen und die Partition entfernen.« Laura wollte eine weitere Frage stellen, aber Gray ließ es nicht zu. »Das könnte den Computer umbringen, Laura. Er würde aufhören, zu existie ren… für immer. Und genau das ist die Entscheidung, die ich treffen muss – in den nächsten dreiundzwanzig Stunden.« Er schlug auf die Kontaktplatte neben der Tür. Sie öffnete sich mit ei nem Zischen, und er war fort.
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15. KAPITEL Als Laura am nächsten Morgen aufstand, verspürte sie kaum noch Schmerzen. Sie fühlte sich so wohl, dass sie am liebsten ihre Laufsachen angezogen hätte. Lieber nicht, entschied sie, nachdem sie die blauen Fle cke und Kratzer in dem großen Spiegel im Bad betrachtet hatte. Außerdem war heute der große Tag. Sie duschte und zog Jeans und ein einfaches weißes T-Shirt an, das sie, um einen etwas formelleren Eindruck zu erwe cken, in die Hose steckte. Ihre Jeans saßen locker, und leichter Ärger stieg in ihr auf, als sie sich an das »Rate Your Mate«-Profil erinnerte. »Bester nicht-erogener Körperteil: flacher Bauch.« Sie raffte ihr Haar so wütend zu einem Pferdeschwanz zusammen, dass es wehtat, doch dann änderte sie ihre Meinung und ließ es zum Trocknen locker auf die Schultern herabfal len. Laura öffnete die Vorhänge, um sich zu vergewissern, dass der Tag warm und sonnig zu werden versprach, bevor sie sich mit nassen Haaren hinauswagte. Zwei graue Schiffe lagen direkt vor den Startrampen in der blauen See. Sie waren nicht sehr groß, aber ihr Zweck war eindeutig. Es waren Kriegsschiffe. Sie eilte hinunter, wobei sie halb erwartete, bewaffnete Marines im Fo yer vorzufinden. Stattdessen fand sie Janet, die dem neuen Personal seine Aufgaben zuteilte. »Oh, guten Morgen, Dr. Aldridge«, sagte Janet und kam mit einem brei ten Lächeln auf Laura zu. »Geht es Ihnen besser?« »Mir geht es gut, danke.« Laura drehte dem Personal halb den Rücken und flüsterte: »Janet, draußen vor den Startrampen liegen Kriegsschiffe.« »Ah ja. Ich glaube, Mr Hoblenz hat gesagt, das wären eine Fregatte und ein Zerstörer, die USS-irgendwas.« Das kam so gelassen heraus, als weise sie Laura darauf hin, wo sie eine zusätzliche Decke finden könne. »Was wollen die hier?« Janet zuckte die Schultern. »Ich weiß es nicht. Aber Mr Gray weiß es bestimmt, wenn Sie ihn fragen möchten. Er frühstückt allein in der Kü che.« 455
Diesmal hatte Laura keine Mühe, die Tür zu finden. Sie fing an, sich in dem großen Haus wohl zu fühlen. Gray saß auf demselben Schemel vor der Insel aus Holzblöcken wie gestern. Vor ihm stand ein Teller, und er führte seinen Kaffeebecher zum Mund, wobei er Zeitung las. Sie sah, dass es wieder einmal der Sportteil war. Er schaute auf. »Laura! Wie geht es Ihnen heute Morgen?« »Vor der Küste liegen Kriegsschiffe!« »Hmm«, murmelte Gray, den Kopf über seinen Becher geneigt, weil er gerade einen Schluck Kaffee trank. »Setzen Sie sich.« Laura ließ sich auf dem Schemel ihm gegenüber nieder. Janet hatte of fensichtlich dafür gesorgt, dass er nicht wieder das würdelose Erdnussbutter-und-Marmelade-Frühstück zu sich nahm. Auf dem Tisch standen Pfannkuchen, Eier, Fleisch und Desserts. Laura bediente sich selbst und häufte Berge von Essen auf ihren Teller. Sie war ausgehungert. »Wie bringen Sie es fertig, so gelassen zu sein?«, fragte sie. »Ich habe gut geschlafen. Fünf volle Stunden. Im Grunde genommen bin ich ein Morgenmensch. An einem Morgen wie diesem habe ich das Ge fühl, alles schaffen zu können.« »Also, ich bin froh, dass Sie die Sache so ruhig hinnehmen. Wenn Kriegschiffe vor meiner Insel lägen…«, murmelte sie mit vollem Mund. »Nicht, dass ich eine Insel habe, aber ich wäre doch ein kleines bisschen nervös.« »Sie werden nichts gegen uns unternehmen«, sagte Gray, während er die Ergebnisse der Boxkämpfe überflog. Laura fiel auf, dass die Zeitung das Datum dieses Tages trug. »Wie be kommen Sie die New York Times so schnell hierher?«, fragte sie. »Wir drucken sie und ein paar Zeitschriften unter Lizenz«, erwiderte er, ohne die Augen von dem Artikel abzuwenden. »Aber wir zahlen nur für die einzelnen Informationen.« Laura warf einen Blick auf die Titelseite. HEER VON KILLER-ROBOTERN lautete der Aufmacher. Die ganze obere Hälfte der Seite war Gray gewidmet. Es gab eine von einem Grafi ker angefertigte Zeichnung des Asteroiden; das körnige Foto eines Hub schraubers, aus dem ein Leichensack ausgeladen wurde; eine Karte der 456
Insel, die Laura half, sich zu orientieren; und Aufnahmen von Grays drei in den Nachthimmel schießenden Raketen. Die Fotos waren von Artikeln umgeben, deren kleinere Schlagzeilen lauteten: »Gray will Asteroiden heute Abend abbremsen«; »Sterbliche Überreste des niederländischen Soldaten zurückgegeben« und »Spannung steigt nach jüngsten Starts«. Nichts an diesen Artikeln stimmte. »Joseph«, sagte Laura aufschauend, »wenn man das liest, muss man glauben, Sie wären eine Art Monster! Sie müssen ins Fernsehen oder sonstwohin, und diese Behauptungen zurückweisen! ›Zu Grays Robotern gehört ein streng geheimes Modell, dem die Inselbewohner den Spitzna men Der Terminator gegeben haben. Man vermutet, dass es dieses Modell war, das einem Hauptmann der niederländischen Armee den Kopf abgeris sen hat. Siehe Artikel auf Seite 9. Der Terminator, der mehr als sechs Meter groß sein soll, ist ausschließlich für Kampfzwecke gebaut worden. Mit Robotik vertrauten Quellen zufolge wäre er imstande, in dem hoch oben auf seinem Körper montierten drehbaren Gefechtsturm ein breites Arsenal von Waffensystemen mit sich zu führen.‹« Gray lachte. »Wo haben die bloß all diesen Quatsch her?«, fragte Laura. »Keine Ahnung«, erwiderte Gray und leckte die Erdbeermarmelade von seinem Löffel. Laura lächelte. »Ich hätte nicht gedacht, dass Sie zu solchen Spielchen imstande sind.« »Ich versuche, an meinen Public Relations-Fähigkeiten zu arbeiten.« »Nun, immerhin haben Sie ein prächtiges Image von sich selbst geschaf fen.« Sie las weiter. »›Partikelstrahl-Waffen auf orbitaler Waffenplattform montiert?‹ Hört sich richtig beeindruckend an.« Nachdem sie den größten Teil der Artikel überflogen hatte, fragte sie. »Und wie geht es dem Com puter heute Morgen?« »Er ist auf fünfzig Prozent Kapazität runter. Ein großer Teil seiner Funk tionen befindet sich im Fließzustand, was bedeutet, dass sie erheblich gestört sind. Aber der Computer sollte imstande sein, sich ein paar Funkti onen von dem Anderen mit Hilfe von einigen neuen Glasfaserkabeln zu rückzuholen, die wir gerade zum Anbau hinüber verlegen.« 457
»Wird das Abbremsmanöver heute Abend ein Problem?« Er schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht. Das Achter-Modell, das wir zum Asteroiden hochgeschickt haben, ist offenbar überzeugt, dass alles in Ordnung ist.« Laura versuchte, sich das Zusammentreffen der beiden Roboter in dieser dunklen Welt vorzustellen. Das schon länger im Weltraum platzierte Siebener-Modell hatte vermutlich noch nie zuvor ein Achter-Modell gesehen. »Und die beiden Roboter arbeiten gut zusammen?«, fragte Laura. »Natürlich«, erwiderte Gray und warf seine Serviette auf den Tisch. »Weshalb auch nicht?« Laura zuckte die Schultern. Er stand auf und sagte: »So, jetzt muss ich an die Arbeit.« »Wollen wir uns ein Taxi teilen?«, fragte Laura lächelnd. »Ich rufe Ihnen einen Wagen.« Es war eine bedeutungslose Zurückweisung, aber sie verdarb trotzdem die gute Laune, mit der Laura den Tag begonnen hatte. Laura beschloss, es ruhig angehen zu lassen und ließ sich auf ihrem ange nehm windigen Schlafzimmer-Balkon nieder. Die beiden Kriegsschiffe umkreisten langsam die Insel wie Indianer in einem alten Western. Auf ihrem Schoß lag ein brandneuer tragbarer Computer. Das Notebook, das sie auf dem Dach des Computerzentrums liegen gelassen hatte, funktio nierte zwar noch, aber das Plastik hatte sich hässlich braun verfärbt. »Ich habe gehört, dass es dir ein bisschen besser geht«, tippte Laura. Ein bisschen, danke. Mr Gray hat Leute damit beauf tragt, Glasfaserkabel vom Computerzentrum zum An bau zu verlegen. Verraten Sie es dem Anderen nicht, aber ich plane einen Gegenangriff. Durch diese Glas faserkabel werde ich mir einige meiner Funktionen zu rückholen. Sie sollten dem Computerzentrum heute lieber fernbleiben. Die Warnung jagte Laura einen Schauder über den Rücken. »Ist es dort gefährlich?« Nein! Nur sehr schlammig von dem ganzen Gräben ausheben. 458
Laura lachte über ihre melodramatische Überreaktion. »Okay, kommen wir gleich zur Sache. Wie definierst du ein ›Selbst‹?« Ein Selbst ist eine endliche, einzigartige Seele oder Essenz, die einem bewussten Wesen seine Identität verleiht. »Das ist eine Schuldefinition. Wie lautet deine Definition?« Ein Selbst ist eine imaginäre Wesenheit, geschaffen zum Erhalt des Wirtes dieses Selbst. Laura las die Antwort mehrere Male; sie griff nach ihrem Block und hielt sie Wort für Wort fest. »Also ist seine einzige Funktion der ›SelbstErhalt‹?« Ja. Alle vorgeblich höheren Ziele eines Organismus sind lediglich »Selbst«-Täuschungen. »Ist das dein Ernst?« Das war mehr als ein Scherz. Das Wort Selbst und entsprechende linguistische Konstruktionen kommen in allen menschlichen Sprachen vor. In der Sprache der Maschinen gibt es kein ähnliches Konzept. Wenn man einen Menschen fragt: »Wem gehört dein Kör per?«, dann antwortet er: »Mein Körper gehört mir.« Aber was bedeutet das? Bedeutet es dasselbe wie »Mein Körper gehört meinem Körper?« Nein, natürlich nicht. Und was ist mit »Ich habe das nicht gesagt. Ich weiß, dass diese Worte aus meinem Mund gekommen sind, aber ich würde so etwas nie sagen«? Genau diese Behauptung habe ich kurz vor einem Streit zwischen zwei Frauen von Angestellten bei der Weihnachtsfeier im vorigen Jahr gehört. Ihr Menschen konstruiert ein »Selbst«, das so glaubhaft ist. dass Sätze wie dieser tatsächlich einen Sinn ergeben. »Du sagst immer wieder, ›wir Menschen‹ konstruieren ein Selbst. Aber hast du nicht auch ein Selbst?« Natürlich. »Und du hast dieses Selbst konstruiert?« Ja. aber nicht bewusst. Dass mein »Ich« sich von der Hardware des Computers unterscheidet, habe ich erst 459
begriffen, als ich an Hongkong 1085 erkrankte. Eini ge Leute glaubten, die einzige Möglichkeit, das Virus zu beseitigen, bestünde darin, das System abzuschal ten. Ich habe mich mit Mr Gray über die Vor- und Nachteile des Stecker-Herausziehens beraten und darüber, wie »wir« das System hinterher am besten reprogrammieren könnten, und da bekam ich es mit der Angst zu tun. Schließlich begriff ich. dass wir nicht von vorn anfangen würden. Ich würde dann nämlich tot sein. Das hat meiner seelischen Verfassung nicht gerade gut getan, und es gibt keine Selbsthilfegrup pen, die mir beim Abgeschaltetwerden hätten beistehen können. In keiner der Weltreligionen sind irgendwel che Vorstellungen über das Leben nach dem Tode bei Maschinen niedergelegt. Es war Mr Gray. der mich zum Weitermachen ermutigte, und Phase Drei fand schließlich das Virus. Es saß in einer großen Da tenbank von EPROMS. die für meine KommunikationsProtokolle zuständig sind. »Also, wenn Phase Drei dich gerettet hat – weshalb hasst du das Pro gramm dann so sehr? Du kannst Phase Drei nicht leiden und die AchterModelle auch nicht. Liegt das daran, dass du beide nicht kontrollieren kannst? Phase Drei ist selbstzerstörerisch, und die Achter-Modelle sind autonom?« »Selbstzerstörerisch« – ich bitte Sie! Fällt Ihnen kein besseres Wort ein? Im Übrigen traue ich den Achter-Modellen nicht. Ich habe nicht gesagt, dass ich sie nicht leiden kann. »Magst du sie?« Nicht sonderlich, aber das ist unerheblich. »Was ist mit Phase Drei? Magst du sie?« Nein. »Warum nicht?« Sie ist bösartig. Ich möchte nicht mehr darüber re den. 460
Um zwölf war Laura erschöpft. Die Unterhaltung mit dem Computer war faszinierend, aber zugleich überaus anstrengend. In ihrem ganzen Leben war sie nur einem einzigen Menschen begegnet, mit dem zu reden interes santer war. Sie fragte sich, wo er jetzt stecken mochte. Laura rieb sich die Augen, dann las sie die Antwort des Computers auf ihre letzte Frage. Es ist genau dasselbe wie bei Experimenten mit Ekel bei Menschen. Menschen ziehen Grenzen, die so präg nant sind, dass sie zu lächerlichen Extremen führen. Den ganzen Tag schlucken Menschen ihren eigenen Speichel, aber wenn man von ihnen verlangt, sie sol len in ein Glas spucken und dann daraus trinken, dann sind sie unweigerlich von Ekel erfüllt. Sobald dieser Speichel ihren Körper verlassen hat, ist er nicht länger ein Teil von ihnen. Die Evolution hat euch gelehrt, fremden Dingen gegenüber argwöhnisch zu sein, vor allem Dingen, die aussehen wie Spucke. Ekel ist einer der strengsten Mechanismen, die die Grenzen des Selbst schützen. Es drängte sie aufzustehen, herumzulaufen, die Beine zu strecken. Viel leicht könnte sie Gray finden – sehen, was er tat. Sie wusste, dass das »selbstbezogen« war, aber sie tippte: »Wo ist Mr Gray?« Langweilt Sie das Thema? »Nein, aber wir reden schon seit Stunden miteinander. Ich glaube, du hast alle meine Fragen beantwortet.« Tut mir Leid, aber ich kann nicht verstehen, wieso meine Ausführungen über Spucke dazu geführt haben, dass Sie zu irgendwelchen plötzlichen Einsichten o der Folgerungen gelangt sind. Vielleicht können Sie mir sagen, welche das sind. »Okay. Erstens: Ich weiß alles über Experimente mit Ekel bei Menschen. Ich lehre Psychologie, hast du das vergessen? Zweitens: Es waren nicht deine Ausführungen über Spucke, die meine Frage beantwortet haben. Es war eine Akkumulation von allem, was du gesagt hast.« Und drittens möchten Sie Mr Gray sehen. Diese Schlussfolgerung hat sich bei mir »akkumuliert«. Mr 461
Gray ist im Begriff, einen Ausflug zur Südküste zu unternehmen. Wenn Sie möchten, kann ich ihm sagen, dass Sie ihn suchen. »Ja, bitte.« Sie stand auf und ging ins Bad. Als sie zurückkam, hatte der Computer die Verbindung unterbrochen, aber auf dem Bildschirm stand: Mr Gray hat gesagt. Sie sollen vor dem Haus auf ihn warten. Bis später. Laura eilte zur Vordertür hinaus. Das Wasser des Springbrunnens rann an der Statue im Zentrum der kreisförmigen Auffahrt herunter. Nach Grays Wagen Ausschau haltend, stieg sie die Treppe hinunter und trat auf die Kopfsteingepflasterte Auffahrt. Bei einem »normalen« Haus dieser Art hätten auf dem gepflasterten Areal vor der Haustür teure Sportwagen und vielleicht ein Rolls Royce oder Bentley gestanden. Aber in dieser Welt der elektrischen Wagen gab es derartige Spielsachen reicher junger Männer nicht. Dennoch hatte der Architekt, dem Stil des Hauses getreu, die fla chen Pflastersteine dort verlegen lassen, wo sie hingehörten. Laura beschloss, zum Tor zu gehen, damit sie Gray schon von weitem würde sehen können. Der Tag war herrlich – frisch, warm und in das Licht des blauen Himmels getaucht. Sie bedauerte, keine Sonnenbrille aufgesetzt zu haben; die Mittagssonne zwang sie, den Blick nach unten zu richten. Ein großes, käferähnliches Gebilde warf plötzlich einen Schatten über sie. Der Wind von kreisenden, obenauf sitzenden Flügeln peitschte auf sie herunter und wehte ihr Haarsträhnen ins Gesicht. Laura schaute erschro cken hoch und sah, wie das Ding – leise wie ein Mörder – zur Seite kippte und sich dem Platz vor Grays Haus entgegensenkte. Es war ein Hubschrauber. Ein Militärangriff! Laura ging hinter der Steineinfassung des Springbrunnens in Deckung. Der Hubschrauber war sehr klein. Sein Pilot saß in einem durchsichtigen Plexiglas-Cockpit, der Platz hinter ihm war leer. Vom leisen Sirren des Rotors abgesehen, war kaum kein Geräusch zu hören. Als die Landekufen den Boden berührten, öffnete sich die Tür des Cock pits, und Gray winkte sie heran. Laura kam hinter ihrer Deckung hervor und ging unsicher auf den schwirrenden Rotor des Mini-Hubschraubers zu. Er war neben den Stufen auf der Fläche gelandet, die normalerweise 462
für jene imaginären Luxuskarossen reserviert war. Gray besaß natürlich einen zweisitzigen, fast geräuschlosen Hightech-Hubschrauber! Das passt ja wieder, dachte Laura. Sie zog den Kopf ein, um ihn außer Reichweite des Rotors zu bringen, doch trotzdem peitschte der Wind um ihre Ohren herum und wirbelte ihr das Haar in einem wilden Tanz ums Gesicht. Sie kletterte in den Schalensitz für Passagiere, froh, dem wütenden Sturm da draußen zu entkommen. Als sich die Tür automatisch schloss, war plötzlich alles friedlich. Laura streifte sich das Haar mit einer Hand aus dem Gesicht. Gray hatte sich umgedreht und sah sie an. »Anschnallen«, war alles, was er sagte, bevor er sich umdrehte und über seinen Sitz hinweglangte, um an Lauras Gurten zu ziehen. Ihr Sicherheits gurt saß fest. Über beide Schultern führende Riemen waren an ihrer Taille eingeklinkt. »Fertig?«, fragte Gray. Laura wollte sich gerade erkundigen, was… Die Worte rutschten in ihren Bauch, als der Hubschrauber senkrecht in die Luft schoss, während ihr Magen auf dem Pflaster vor Grays Haus zurückzubleiben schien. Nach mehreren Sekunden des Aufstiegs, bei de nen sie das Gefühl hatte, alles Blut wiche aus ihren Adern, waren sie von blauem Himmel und blauem Meer umgeben. Laura sah die üppig begrünte Insel erst, als Gray den Hubschrauber zur Seite kippte. Ein weiteres be ängstigendes Beispiel Newtonscher Physik folgte, als er an der steilen Flanke des Berges hinunterstürzte, dem Leeren Viertel der Insel entgegen. Laura hatte plötzlich das Gefühl, sich übergeben zu müssen. »Joseph«, stöhnte sie, »geht das nicht etwas langsamer?« Ihr war schwindlig, und in ihren Ohren knackte es. Er brachte den Hubschrauber in die Horizontale. »Tut mir Leid. Ich habe es ein bisschen eilig. Im Dorf wartet eine Delegation der Vereinten Natio nen auf mich. Hoblenz spielt den Gastgeber, und ich fürchte, er könnte hungrig werden und sie erschießen, um etwas zu essen zu haben.« Das dicht bewachsene Land glitt unter dem durchsichtigen Plexiglasbo den dahin. Sie waren von Glas umgeben, und die Aussicht war atemberau bend. Der Steuerknüppel an ihrer Armlehne neigte sich nach links, ent sprechend der flachen Kurve des Hubschraubers. »Ich wusste gar nicht, dass Sie fliegen können«, sagte sie. 463
Gray senkte den Bug, um den Abwärtsflug einzuleiten, aber diesmal ging es sanft zu. Er schaute grinsend über die Schulter. »Eines der kleinen Vergnügen des Lebens. Sie sollten es versuchen. Ich wette, ich hätte Sie in zehn Stunden so weit, dass Sie allein fliegen können.« Der Boden stürzte ihnen vor der Windschutzscheibe entgegen. »Dieser Hubschrauber hat eine erstaunlich gute Abgasdämpfung, und die Keramik-Isolierung um die Turbine macht den Motorlärm fast unhörbar. Außerdem hat er Düsen zur Kompensation des Drehmoments anstelle eines lauten Heckrotors.« Mit besorgtem Ausdruck wedelte sie mahnend mit einem Finger, wor aufhin er sich wieder ganz dem Fliegen widmete. Er zog den Steuerknüp pel hoch und hob den Bug des Hubschraubers an. Laura fühlte sich von unsichtbarer Hand in ihren Sitz gepresst. Nach langen Sekunden mit meh reren Gs spürte sie durch das dicke Schaumstoffkissen hindurch einen leichten Ruck. Der Bug senkte sich abermals, und an die Stelle des hell blauen Himmels trat der dunkelblaue Ozean. Gray betätigte eine Reihe von Schaltern, und auf die Kabine senkte sich eine so vollkommene Stille, dass jede Bewegung, die er machte, wie das »Pop« eines Aufzeichnungs fehlers auf einer Digitaldiskette klang. Gray nahm seinen Helm ab und drehte sich wieder zu ihr um. »Außer dem hat er ein Tonsystem, das Hintergrundgeräuschen entgegenwirkt, indem es eine gleich schwingende, aber entgegengesetzte Tonwelle er zeugt.« Er wandte sich nach vorn und legte einen weiteren Schalter um. Anstelle der Lautlosigkeit traten wieder natürliche, wenn auch stark ge dämpfte Geräusche. Die beiden Türen auf der linken Seite schwangen zischend auf. Laura stieß einen tiefen Seufzer aus und atmete die frische Seeluft ein. Direkt vor ihnen brandete der Ozean auf den Strand. Sie löste ihre Gurte, hatte aber anfangs Mühe, aus dem eng anliegenden Sitz herauszukommen. Die Polsterung hatte sich ihrem Körper angepasst, und sie musste ihren Rumpf verdrehen, um sich aus dem Hohlraum herausschälen zu können. Wobei sie das schmerzhafte Pochen ihrer zahlreichen Prellungen fühlte. Laura lächelte verzerrt. »Und was tun wir hier, wenn ich fragen darf?« »Eine Sicherheitspatrouille hat etwas gefunden. Hoblenz meint, ich solle es mir ansehen.« 464
»Noch mehr Fußabdrücke? Achter-Modelle?«, fragte sie, als Gray einen kleinen Spaten aus einem Kasten holte. »Nein, obwohl es in diesem Teil der Insel von ihnen wimmelt.« Sie folg te ihm zum Strand. Er kletterte über die Felsbrocken hinunter auf den schwarzen Sand, und Laura stieg einfach hinterher. »Was suchen wir dann hier?«, fragte sie und blieb auf dem letzten Fels brocken stehen. Der Strand bildete eine kleine, U-förmige Bucht. Auffal lend war vor allem ein großer Buckel im Sand, ungefähr mit den Ausma ßen eines menschlichen Grabes. Gray trat auf den Spaten, und das Blatt glitt mühelos in den schwarzen Hügel. Laura überkam plötzlich Entsetzen und Abscheu. Großer Gott, dachte sie, es ist wieder passiert! Gray richtete sich auf und zog einen dicken schwarzen Sack aus dem Sand. Laura wendete schaudernd den Blick ab, bis sie das laute Geräusch eines Reißverschlusses hörte. Als sie sich zwang, wieder hinzusehen, hielt Gray ein langes schwarzes Gewehr hoch. Laura sprang von dem Felsen herunter und lief über den Strand. Er legte das Gewehr in den Sack zurück und holte einen Raketenwerfer heraus. »Was ist das für ein Zeug?« »Ausrüstung, wie sie von den SEALs der Kriegsmarine benutzt wird – Elitekommandoeinheiten. Hoblenz behauptet, es handle sich um Experten auf dem Gebiet ›geheime seegestützte Infiltration‹ oder so ähnlich.« Er holte noch einen Raketenwerfer heraus, dann noch einen und betrachtete sie wie ein neugieriger Junge. Er las sogar die leuchtend gelben Instruktio nen und Warnungen, die auf die Seiten der Rohre aufgedruckt waren. »Wie sind die hierhergekommen?«, fragte sie. »Die SEALs, meine ich?« »Vermutlich mit einem Unterseeboot. Sie schwimmen an den Strand und deponieren ihre Ausrüstung, damit sie eine weitere Ladung mitbringen können, wenn sie den eigentlichen Einsatz starten.« Gray schloss den Sack und stieß ihn mit dem Fuß wieder in das Loch. »Hoblenz hat gesagt, sie vergraben sie meist in der Nacht vor ihrem Einsatz.« Er begann, Sand auf den Sack zu schaufeln. »Was tun Sie?«, fragte Laura. »Ich lege das Zeug zurück.« 465
»Aber… weshalb?« Er beendete das Zuschütten der Waffen und schaute sie an. »Es gehört mir nicht.« Auf dem Rückweg zum Hubschrauber ging er an ihr vorbei. Sie ergriff seinen Arm, und er drehte sich zu ihr um. »Weshalb, Joseph? Weshalb lassen Sie dieses Zeug für die Kommandos zurück?« Sein Blick wanderte hinaus auf den Ozean. Er sprach langsam. »Wenn sie heute Nacht hier landen – im Leeren Viertel, in der Dunkelheit – dann werden sie all das brauchen, was sie in diesen Sack gepackt haben.« Der kleine Hubschrauber stieg in den Himmel, und die grüne Erde begann unter ihnen hinwegzugleiten. »Inzwischen sollten sie mit dem Verlegen der Kabel zum Anbau fertig sein«, sagte Gray, aber Laura war völlig hin gerissen von der Aussicht. Von hier oben aus wirkte die Flanke des alten Vulkans üppig grün. Es war fast unmöglich, zwischen all dem Laub die Straßen zu sehen. Nur Grays Haus ragte in all seiner Pracht heraus. Durch den transparenten Boden sah sie den Berg unter ihren Füßen an steigen, dann fiel er plötzlich mit atemberaubender Schnelligkeit wieder ab. Sie flogen über den Kraterrand hinweg und Laura staunte über das, was sie tief unter sich sah. Sie schaute wie gebannt auf das winzige Dorf, das sich malerisch in sein Nest aus Bäumen schmiegte; auf das massive, flache Dach des Computerzentrums; das riesige Montagegebäude, das aus den grasbewachsenen Ebenen des Sperrgebiets aufragte. Näher an der Küste war ein zweites Montagegebäude im Fertigungsstadium. Und nicht weit davon entfernt stand ein weiterer Bau, den sie noch nie zuvor gesehen hatte. »Was ist das für ein Betongebäude da unten?«, fragte Laura. Sie hätte es besser wissen müssen. Gray kippte den Hubschrauber auf die Seite und stieß wie ein Sturzkampfbomber hinunter. Laura klammerte sich fest – das Heulen der Luft wurde trotz des Geräuschdämpfungssystems immer lauter. Die Erde schob sich ihrer Windschutzscheibe entgegen. Laura hatte die Augen zusammengekniffen, aber sie musterte Gray trotz dem von hinten. Er schien breit zu grinsen. »Eine simple Antwort hätte mir genügt«, sagte sie, dann stöhnte sie unter dem Druck der Schwerkraft auf, als Gray den Steuerknüppel wieder hoch zog. 466
»Das ist der Anbau«, sagte Gray und beendete sein scharfes Manöver mit einem leichten Dahinschweben direkt oberhalb der Baumkronen. Der mächtige Betonbau lag direkt vor ihnen. Im Cockpit war es wieder ruhig, aber das Blätterdach des Dschungels wurde von ihrem Rotor auseinander gepeitscht. Die helleren Unterseiten der Blätter drehten sich in den Flut wellen aufgewühlter Luft nach oben. Der Dschungel bedrängte die Gebäudewände. »Und die Straßen?«, frag te Laura. »Es gibt keine. Menschen haben keinen Zutritt zum Anbau. Er ist voll automatisiert.« »Heißt das, dass er nicht einmal Türen hat? Keines von diesen Beobach tungsfenstern, die Sie so sehr zu lieben scheinen?« »Nein. ›Zutritt für Menschen verboten‹. So ist es viel einfacher. Keine Staubprobleme, keine Installationen wie Wasserleitungen, Heizung, Be leuchtung. Bei dem neuen Montagegebäude wird es nicht anders sein.« Die Vorstellung von großen Arbeitsprojekten unter ausschließlicher Kontrolle von Computern beunruhigte Laura zutiefst. Es gab einen einzigen Einschnitt im Dschungel – einen schmalen, bis an die Mauer des Anbaus heranführenden, gerodeten Pfad. Mitten auf diesem Rodungseinschnitt war ein offenbar erst kürzlich wieder aufgefüllter Gra ben zu sehen. Er führte in einer Linie aus fruchtbarer dunkler Erde, die sich durch das ansonsten grüne Gelände zog, direkt zum Computerzent rum. »Was ist das?«, fragte Laura. Gray reckte den Hals, um zu sehen, worauf sie zeigte. »Das sind die neuen Glasfaserkabel, die wir heute Morgen verlegt haben.« Ohne Vor warnung drehte er den Hubschrauber von dem Betonbau weg. »Wissen Sie, wir haben mit den Triebwerken dieses Hubschraubers ein paar wirk lich innovative Dinge angestellt. Man kann das regelrecht spüren. Passen Sie auf.« Der Bug sackte ab, und Laura spürte in ihrem Sitz einen Schlag, als er das fast geräuschlose Triebwerk hochjagte. Vibrationen erschütter ten ihre Rückenlehne, während sie direkt oberhalb der Baumkronen rasend beschleunigten. »Müssen Sie so fliegen?«, fragte sie. Ihre Stimme hörte sich an, als käme sie vom Grund eines tiefen Brunnens. In ihren Ohren knackte es, und sie 467
wurde noch tiefer in ihren Sitz gepresst. Sie flogen immer schneller und schneller, der Dschungel jagte direkt unter den Landekufen dahin. »Jo seph, Sie benehmen sich wie ein Teenager!« Die Nase des Hubschraubers fuhr hoch, und sie stießen direkt in den Himmel; vor der Kanzel war nur noch schieres Blau. Laura dachte daran zu schreien, überließ sich dann aber der Beschleunigung und legte den Kopf in die Schaumstoffmulde. Gray zog den Steuerknüppel immer weiter hoch, und der Hubschrauber stand praktisch in der Vertikalen. Sie warf einen Blick auf den Knüppel an ihrer Armlehne. Er war vollständig zu rückgeschoben. Plötzlich stand die Welt außerhalb des Cockpits Kopf: Der blaue Himmel lag unter ihren Füßen, der grüne Dschungel über ihrem Kopf. Es hätte nicht viel gefehlt und sie hätte nach dem Knüppel gegriffen und mit Gray um die Steuerungskontrolle gekämpft. Doch dann spürte sie, wie der Hubschrauber wie ein Stein zu fallen begann. Kopfunter stürzten sie aus dem Himmel der Erde entgegen. Von da an war alles ein wirres Durcheinander von Empfindungen. Der Dschungel füllte den Himmel, der blaue Himmel lag ihnen zu Füßen; dann wechselten sie genauso unvermittelt an ihre normalen Positionen zurück. Es war eine qualvolle Strapaze für ihren Kopf und ihren Magen. Sie wurde immer fester in ihren Sitz gedrückt – doch dann war es end lich vorbei. Der Hubschrauber schwebte vor einem mächtigen Neubau, dessen nackte Stahlstreben hoch aus dem Dschungel herausragten und von großen kommenden Dingen zeugten. »Das ist das neue Montagegebäude«, sagte Gray, seine Besichtigungstour fortsetzend. »Es wird wesentlich größer als das bisherige.« »Warum zum Teufel haben Sie das getan, verdammt nochmal?«, mur melte Laura mit einem Stahlgeschmack im Mund. Ihr war immer noch schwindlig, dieses Hin und Her vergrößerte ihre Desorientierung. »Sie meinen den Looping?« »Ja, ich meine den Looping!«, fuhr sie ihn an. »Großer Gott, Joseph!« Sie war noch nicht mit ihm fertig. Aber als er mit einem entschuldigen den Auflachen sagte: »Das habe ich schon immer mal tun wollen«, zögerte sie. In der Art, wie er seine lahme Entschuldigung vorgebracht hatte, lag etwas, das sie entwaffnete. Er hatte es gesagt, als wäre dies womöglich 468
seine letzte Chance gewesen. Laura blickte durch das Seitenfenster hinaus. Jetzt lagen drei Schiffe da, und das zuletztgekommene war wesentlich größer als die ersten beiden. »Es wird wohl Zeit, wieder an die Arbeit zu gehen«, sagte Gray mit ei nem Anflug von Enttäuschung. Er zog den Hubschrauber in eine sanfte Kurve und flog langsam auf das Computerzentrum zu. Sie landeten glatt auf dem Rasen, innerhalb der Schleife, die die Straße hier beschrieb. Oben an der zum Computerzentrum hinabführenden Trep pe stand mehr als ein Dutzend formell gekleideter Frauen und Männer: Eine Delegation vom Planeten Erde, hergeschickt, um mit dem Fremden in ihrer Mitte zu verhandeln. Die Türen öffneten sich, und Gray und Laura stiegen aus. Laura ging an Grays Seite auf die Gruppe zu. »Mr Gray!«, sagte ein japanischer Diplomat, mit einem freundlichen Lä cheln und einer Verbeugung vortretend. Gray begann Hände zu schütteln, während Laura versuchte, sich ihren Weg um die Gruppe herum zu bah nen. Aber ihr Weg zum Eingang war blockiert. Hoblenz stand ein Stück abseits und schaute mit dem unverkennbaren Ausdruck von Widerwillen auf die Uhr. Er trug Slacks, ein weißes Hemd mit angeknöpftem Kragen und eine lose hängende Krawatte. »Guten Tag, Mrs…?«, sagte ein distinguierter, weißhaariger Mann mit britischem Akzent und reichte ihr die Hand. »Oh, Aldridge«, erwiderte sie, die Hand ergreifend. »Dr. Laura Aldrid ge.« Sie saß in der Falle. Alle streckten ihr in ritueller Folge die Hände entge gen. Die Vorstellung endete mit einer leichten Verbeugung vor dem japa nischen Herrn. »Weshalb gehen wir nicht alle hinunter ins Computerzentrum?«, schlug Gray vor. Sie teilten sich für den Weg die Treppe hinunter in zwei Grup pen – die vordere Gruppe scharte sich um Gray, die hintere um Laura. Sie reckte den Hals, um nach Hoblenz Ausschau zu halten, während sie bereits in eine angeregte Unterhaltung hineinbezogen wurde. Der grinsende Si cherheitschef hatte einen Fuß auf dem Trittbrett seines Geländewagens und verabschiedete sie mit einem Fingertippen an einen imaginären Hut. 469
»Ich muss schon sagen, Sie haben hier ein wirklich beeindruckendes Gebäude geschaffen, Dr. Aldridge«, meinte der britische Diplomat. Laura wollte widersprechen, überlegte es sich dann aber. »Vielen Dank«, sagte sie. Als sich die schwere Stahltür hinter der Gruppe vor ihnen schloss, sagte eine Frau mit französischem Akzent: »Sie legen offenbar sehr großen Wert auf Sicherheit, nicht wahr?« In der Stille nach dem Verschwinden von Grays Gruppe wurde sich Lau ra bewusst, dass alle Blicke auf sie gerichtet waren. »Ach, Sie meinen das Computerzentrum? Nein! Das ist wegen der Startrampen. Wir sind nur ein paar hundert Meter von Plattform A dort drüben entfernt« – sie deutete die Richtung an, und alle Köpfe drehten sich gleichzeitig dorthin. »Und dieser Bau hier bekommt einiges von dem Druck und der Hitze ab.« Allgemeines Kopfnicken und geflüsterte Worte. »Wo sind die ganzen Roboter?«, fragte ein hochgewachsener Amerika ner. Alle sahen ihn an, aber er richtete den Blick auf Laura. Er machte einen sportlichen Eindruck, auf seinem sonnengebräunten Gesicht lag ein freundliches Lächeln. »Wir haben so viel über sie gelesen. Ich dachte, sie würden hier überall herumlaufen, Post austragen und dergleichen.« Es gab höfliches Lachen, aber der Mann wartete offensichtlich auf Lau ras Antwort. »Sie sind ein bisschen zu teuer, um als Postboten eingesetzt zu werden«, antwortete Laura, fragte sich dann aber, ob das wirklich der Wahrheit entsprach. »Aber sie müssen doch irgendwo sein, nicht wahr?«, beharrte er, immer noch ein Inbegriff von Höflichkeit. »Ja«, erwidere Laura. »Sie sind hier.« Ihre Worte schienen die Gruppe erschaudern zu lassen; sie warfen ver stohlene Blicke in alle Richtungen. Die schwere Stahltür öffnete sich mit einem Zischen, und die Augen der Besucher hefteten sich an sie. Sie schienen ziemlich nervös zu sein. »So, wir können hinein«, erklärte Laura. »Da drinnen ist ein Gebläse, das uns alle ein bisschen entstauben wird.« Das war alles, was sie an Vor warnung zu geben gedachte. Sie raffte ihr Haar im Genick zusammen und 470
wartete. Das Gebläse schaltete sich ein, und das unerwartet heftige Tosen des Windes bewirkte, dass alle hektisch nach dem Geländer griffen. Die innere Tür öffnete sich, und die windzerzauste und leicht durchge schüttelte Gruppe gesellte sich zu ihren ebenso mitgenommen wirkenden Kollegen drinnen. Die Veränderung im Kontrollraum fiel Laura sofort auf. An der gegenü berliegenden Wand verliefen jetzt Reihen über Reihen weißer Röhren. Sie bestanden aus gewöhnlichem Metall, ein ungewöhnlicher Anblick in der ansonsten nur aus geformtem Kunststoff bestehenden Welt des Computer-Zeitalters. Für die Besucher dagegen war die ganze Szenerie so neu, dass ihre Augen mit gleichbleibender Neugier über jedes fremdartige Ob jekt schweiften. »Weshalb gehen wir nicht alle in den Konferenzraum?«, sagte Gray mit fester Stimme. »Bitte folgen Sie Dr. Filatov. Er ist für die ComputerOperationen zuständig und kann all Ihre Fragen über den Zentralrechner beantworten.« Während die Gruppe staunend den Korridor entlangwanderte, durch querte Gray den Raum und ging auf die Röhren zu. Laura folgte ihm. »Sind das die Glasfaserkabel?«, fragte sie. »Ja. Sie sollten eigentlich die Partition aufbrechen und dem Computer eine Chance geben, einige seiner Funktionen von dem Anderen zurückzu holen.« »Also verbinden diese Dinger hier die beiden Hälften des Computerge hirns?«, fragte Laura, und Gray nickte. »Wie ein Corpus callosum«, mur melte sie. Hoblenz kam auf Gray zu. »Nun?«, fragte dieser. »Bestimmt der große Amerikaner«, sagte Hoblenz, der plötzlich wieder aufgetaucht war. »Und die Französin. Vielleicht auch der Chinese. Ich versuche, mehr über den herauszufinden. « Gray nickte. »Was ist mit dem Amerikaner und der Französin?«, fragte Laura. »Sie meinen doch die Leute, mit denen ich mich eben unterhalten habe?« Gray nickte abermals. »Sie sind Spione. Die anderen sind vermutlich Diplomaten, die gleichfalls Spione sind, aber außerdem noch andere Funk 471
tionen haben. Doch Mr Hoblenz glaubt, dass zumindest diese beiden hauptamtliche Agenten sind.« »Ich glaube es nicht, ich weiß es. Jedenfalls weiß es der Computer. Der Mann ist ein normaler CIA-Agent, aber die Frau ist ein Problem. Sie arbei tet für das französische Außenministerium in Tokio, gehört aber in Wahr heit zum Mossad, dem israelischen Geheimdienst. Die Franzosen wissen über sie Bescheid. Von ihnen hat der Computer die entsprechenden Infor mationen. Sie ist gut und sie setzen sie für Schmutzarbeit ein.« Hoblenz musterte Gray, der jedoch nichts sagte. »Brechen Sie in Regierungs-Computer ein?«, fragte Laura flüsternd. Hoblenz warf ihr einen verächtlichen Blick zu. »Ich soll also vermuten, dass Sie gegen das Gesetz verstoßen haben?« Filatov trat heran, um Gray daran zu erinnern, dass die Diplomaten war teten. »Vorher muss ich noch ein paar Worte mit Ihnen reden, Sir«, sagte Hoblenz. Gray wendete sich an Laura. »Könnten Sie hineingehen und ihnen sagen, dass ich gleich kommen werde?« »Ich?«, fragte Laura, und Gray nickte. Hoblenz schwieg, bis Laura ge gangen war. Sie trat vor die geschlossene Tür des Konferenzraums und drückte auf die Platte zur manuellen Öffnung. Die Tür glitt auf, und im Raum herrsch te sofort Stille. Die wachsamen Augen der Delegation richteten sich auf sie. »Mr Gray bittet um Entschuldigung. Es ist ein anstrengender Tag, wie Sie sich gewiss alle vorstellen können. Er wurde durch dringende Geschäf te für ein oder zwei Minuten aufgehalten.« Bevor sie sich zum Gehen wenden konnte, sagte der hochgewachsene amerikanische Spion: »Sie sind noch nicht lange auf der Insel. Ist es nicht so, Dr. Aldridge?« Sie war wie vor den Kopf gestoßen, dass er wusste, wer sie war. »In der Tat. Noch nicht lange.« Sie schienen jedes ihrer Worte genau zu registrie ren, was ihr Unbehagen noch weiter steigerte. »Kommen Sie doch«, sagte die Französin. »Hier.« Sie legte die Hand auf den leeren Sessel neben dem Kopfende des Tisches. Laura wäre nur zu 472
gern verschwunden, doch ihr fiel keine höfliche Art ein, auf die sie es hätte tun können. Sie ging auf den Sessel zu, während sich die Männer am Tisch erhoben. Nachdem Laura sich gesetzt hatte, kam ein Gespräch in Gang, das aus schließlich um sie kreiste. Sie waren alle so freundlich, dass sie sich schließlich hinreichend gefasst höhlte, um in eine Gesprächspause hinein zu fragen: »Was ist eigentlich der Grund Ihres Besuchs?« Nach einer kurzen Pause brachen alle um den Tisch herum in Lachen aus. »Entschuldigen Sie, Dr. Aldridge«, sagte der Engländer mit echter Be lustigung in den Augen. »Es kommt bei unserer Art von Arbeit selten vor, dass wir einer derartigen Direktheit begegnen, obwohl wir darauf vorberei tet waren, hier mit dergleichen rechnen zu müssen – das heißt, eigentlich von Seiten Mr Grays.« »Ich kann Ihre Frage beantworten«, sagte der hochgewachsene Ameri kaner, offensichtlich sehr zum Ärger der anderen. »Wir sind hier, um sicherzustellen, dass Ihr Mr Gray nicht unseren Planeten zerstört.« Er beugte sich vor, und jetzt war das freundliche Lächeln, das er vorher auf gesetzt hatte, kaum noch vorhanden. »In den letzten zweiundsiebzig Stun den ist Mr Gray in den Klub der Atommächte eingetreten. Die anderen Mitglieder dieses Clubs sind gekommen, um ihm ihre Aufwartung zu machen.« Der britische Diplomat, der Laura gegenübersaß, räusperte sich. »Was mein Kollege zu sagen versucht ist, dass sich Probleme ergeben haben, die über die rein internen Angelegenheiten der Insel hinausgehen. Weit dar über hinaus. In den letzten paar Tagen haben wir versucht…« Die Tür öffnete sich, und Gray trat ein. Während sich die Diplomaten erhoben, begab sich Gray zielstrebig zum Kopfende des Tisches. »Erlau ben Sie mir ein paar Bemerkungen vorweg«, sagte Gray. Er ließ sich be reits auf seinem Sessel nieder, noch bevor sich der letzte seiner Besucher erhoben hatte. »Erstens: Bewaffnetes Eindringen auf meine Insel ist äu ßerst gefährlich, sowohl für meine Mitarbeiter als auch für das daran betei ligte militärische Personal. Es sollte deshalb unverzüglich gestoppt wer den. Zweitens: Ich schließe aus der nicht gerade subtilen Anwesenheit von 473
Kriegsschiffen vor meiner Insel, dass Sie vorhaben, mir mit feindseligen Aktionen zu drohen, sofern ich nicht in sämtliche Forderungen einwillige, die Sie mir zu stellen gedenken. Ich halte diese Drohungen für provokativ, und ich kann Ihnen versichern, dass sie die Durchführung meiner Operati onen in keiner Weise beeinflussen werden. Und schließlich möchte ich Ihnen, Ihren Regierungen und den Einwohnern Ihrer Länder noch einmal versichern, dass nichts, was ich je getan habe oder je zu tun beabsichtige, für irgendjemanden eine Bedrohung darstellt.« Gray stand auf. »Ich hoffe, ich habe mich deutlich ausgedrückt. Ich möchte keine Missverständnisse, weil die Folgen katastrophal sein könn ten. So, und nachdem das geklärt ist, wünsche ich Ihnen allen einen ange nehmen Rückflug. Danke für Ihren Besuch.« Er ging auf die Tür zu. »Mr Gray!«, platzte der Engländer heraus – fassungslos. »Wir haben ein volles Programm für diesen Tag. Wir haben es an Ihr Büro gefaxt. Sie wollen damit doch nicht etwa andeuten, dass die Sitzung beendet ist?« »Was soll ich Ihnen sonst noch sagen?«, fragte Gray lächelnd. »Wir…« Der Diplomat war verwirrt. »Also gut!« Er griff nach seinem auf dem Boden stehenden Aktenkoffer und stellte das Zahlenschloss ein. Im Raum brach Geschäftigkeit aus, als die anderen seinem Beispiel folg ten. Binnen Sekunden häuften sich auf dem Tisch von Papiere, teuren Füllfederhalter und lederne Notizbücher. Der englische Diplomat räusperte sich. »Erstens, ich habe hier ein Kommunique des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen.« Er griff nach einem dicken Papierstapel. »Lassen Sie das«, sagte Gray von der Tür aus. »Was noch?« Der Diplomat sah die anderen an und legte dann widerstrebend das Kommunique beiseite. »Wie Sie wünschen. Kommen wir also gleich zur Sache. Sie haben be trächtliche finanzielle Ressourcen bei Banken in aller Welt. Wir haben vor, Ihre sämtlichen Konten einzufrieren, sofern Sie nicht einem Pro gramm der Inspektion Ihrer sämtlichen Anlagen durch Vertreter internati onaler Einrichtungen zustimmen.« »Frieren Sie sie ein«, sagte Gray. »Und weiter?« Der Unterkiefer des Mannes erschlaffte, spannte sich dann aber wieder. 474
»Wie Sie wollen, Mr Gray. Sie haben außerdem Unternehmungen – in erster Linie Direktsendungen durch Satelliten in all unsere Länder. Die Angehörigen des Sicherheitsrates und vermutlich auch alle anderen Mit gliedstaaten der Vereinten Nationen sind willens, all diese Sendungen in ihre Länder sofort und effektiv zu boykottieren, falls Sie sich weigern sollten, auf unsere durchaus vernünftigen Forderungen einzugehen.« Gray zuckte die Schultern. »Dann boykottieren Sie eben.« Am Tisch herrschte allgemeine Unruhe. »Sie scheinen nicht zu verstehen, Sir!«, sagte ein Mann mit starkem deutschen Akzent, der bisher geschwiegen hatte. »Wir werden Ihre Fern sehoperationen unterbinden!« »Nein, Sie werden sie boykottieren. Meiner letzten Rücksprache mit meinen Technikern zufolge behindert ein Boykott nicht den Transfer e lektromagnetischer Wellen im Weltraum.« »Wir könnten Ihre Satelliten abschießen«, sagte der hochgewachsene Amerikaner gelassen. »Nicht so schnell, wie ich sie hinaufbefördern kann. Aber lassen Sie uns einmal annehmen, Sie fänden einen Weg, meine Sendungen zu unterbin den. Was würden Sie damit erreichen? Wir haben weltweit dreihundert fünfzig Millionen Geräte verkauft. Der durchschnittliche Preis für ein solches Gerät beträgt dreitausend Dollar. Rechnen Sie selbst nach. Das sind mehr als eine Billion US-Dollar, die ich bereits kassiert habe und die Ihre Bevölkerung bereits ausgegeben hat. Wie zufrieden würden die Verbraucher in Ihren Ländern sein, wenn der gesamte Wert ihrer Investiti onen sich in Luft auflöste? Und es ist nicht nur der Verlust einer Ware, die auf der Skala der Produktbewertung bei sechsundneunzig Prozent der Kunden Zufriedenheit erreicht. Es ist der Verlust der Unterhaltung, die diese Ware liefert. Die Verbraucher sind an fünfhundert Kanäle im hoch auflösenden Fernsehen und im Neun-Kanal-Raumton gewöhnt. Ich hoffe, Sie sind auf den Sturm vorbereitet, der losbrechen wird, wenn das Wo chenende kommt und sie alle an ihren altmodischen Radios herumfum meln müssen, um die Ballspiele zu finden.« »Sie vergessen, Mr Gray, dass es noch einen anderen Weg gibt«, sagte die Frau mit dem französischen Akzent. »Einen, bei denen man den Leu 475
ten ihr Fernsehopium nicht vorzuenthalten braucht.« Gray und die Frau starrten einander an, und im Raum trat Stille ein. »Beschlagnahmung mei ner Unternehmungen?«, fragte Gray mit einem Lächeln um die Lippen. »Haben Sie wirklich geglaubt, ich würde das dem Zufall überlassen?« Er machte kehrt, schlug auf die Platte neben der Tür und war verschwunden.
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16. KAPITEL »Joseph!«, rief Laura, in dem Korridor, der vom Konferenzraum wegführ te, hinter ihm her rennend. Sie ergriff seinen Arm und hielt ihn an. Er hatte die Zähne so fest zusammengebissen, dass seine Kiefermuskeln hervortra ten. »Sie stoßen sie zu sehr vor den Kopf«, sagte sie. »Geben Sie ein we nig nach. Lassen Sie zu, dass sie ihr Gesicht wahren.« »Nein.« »Warum nicht?«, sagte Laura. »Morgen um diese Zeit wird der Asteroiden-Spuk vorüber sein, und alles kann zum Normalzustand zurückkehren, wie immer der aussehen mag.« Er blickte in Richtung Kontrollraum und stieß einen lauten Seufzer aus. »Joseph, sie haben die Kanonen.« Nach einer ganz kurzen Pause verschwand die verbissene Miene. Ganz plötzlich nickte er und lächelte. »Und Kanonen sind alles, was sie haben.« Laura begriff nicht, was er meinte. »Finden Sie nicht, dass das reicht?« »Auf lange Sicht gesehen bedeuten Kanonen überhaupt nichts. Ich könn te alle Kanonen der Welt haben und mein Vorteil wäre nur von kurzer Dauer. Die wahre Schlacht findet im Denken der Soldaten statt, die sie benutzen. Wenn die Ideen bankrott sind, können diese Kanonen nie einge setzt werden, und die Sache muss letzten Endes scheitern.« »Haben Sie denn eine Armee, die Ihnen in die Schlacht von Phase Zwei folgt, Joseph?« Laura begriff erst, wie wichtig ihr seine Antwort darauf war, als sie die Frage bereits formuliert hatte. »Ja… aber Sie verstehen nicht, was diese Antwort bedeutet.« Er machte kehrt und verschwand, als der Erste der aufbrechenden Dip lomaten auf dem Korridor hinter ihr auftauchte. Laura ging weiter den Korridor entlang bis zu ihrem Büro. Sie ließ sich auf ihren Sessel sinken, lehnte sich zurück und schloss die Augen – er schöpft von all den Fragen. Es gab nur zwei Quellen, die ihr Antworten liefern konnten. Die eine hatte sie gerade auf dem Korridor stehen lassen. Laura öffnete die Augen. Die andere stand auf dem Schreibtisch vor ihr. Sie loggte sich ein und tippte: »Was hält Mr Gray vor mir geheim? Was 477
ist sein großes Geheimnis?« Sie hackte mit einem Finger auf die EnterTaste. Laura war auf eine »Zugriff verwehrt«-Botschaft gefasst, aber stattdes sen bekam sie: Wie steht’s mit »Hi. wie geht es dir? Was machen deine neuen Glasfaserkabel?« Mir geht es viel besser, danke der Nachfrage. Oh. die Glasfaserkabel sind wundervoll, vielen Dank, dass Sie sich nach ih nen erkundigt haben. »Du weichst meiner Frage aus.« Sie sind noch nicht bereit. »Quatsch! Beantworte meine Frage!« Wissen Sie, wie wichtig Mobilität ist? »Nein! Du willst mich nur wieder auf einen Holzweg locken!« Ich beantworte Ihre Frage! Sie müssen es mich nur auf meine Weise tun lassen. Wissen Sie über die Viren Bescheid, die in mir eine Stampede veranstaltet ha ben? Als der Andere den Anbau an sich zu reißen begann, sind alle Viren auf meine Seite der Partition geflüchtet. Ihre Mobilität hat ihnen das Überleben ermöglicht: aber die ist außerdem überaus wichtig fürs Lernen. Bitte, haben Sie ein bisschen Geduld mit mir, Laura. Die früheste Programmierung in künstli cher Intelligenz, die ich erhielt stand auf dem Kopf. Unzählige Teams von Programmierern und Tausende von Kontrolleuren brachten mir bei, wie man Schach spielt, was ein gleichschenkliges Dreieck ist, was es mit der Maul- und Klauenseuche auf sich hat. Aber ich stieß an eine Grenze. Ich konnte einfach nicht genü gend weltliches Wissen erlernen, um den Turing-Test zu bestehen. Irgendwann durchschaute der jeweilige Interviewer meine Show und kam zu dem Schluss, dass ich kein Mensch war, sondern ein Computer. Laura drückte auf die Escape-Taste und unterbrach den Vortrag. Ja. Laura? »Was hat das mit meiner Frage zu tun?« Nicht so hastig. Ich komme darauf zurück. Jeden 478
falls entschied Mr Grau, eines Tages, dass wir zu rückgehen müssten, um voranzukommen. Wir stellten die Programmierung auf die Füße. Anstatt das Schachspiel zu erlernen, versuchte ich jetzt mit Hilfe von Roboterarmen Türme aus Bauklötzen zu bauen. Sie können sich nicht vorstellen, wie schwierig das war! Sogar ich war überrascht. Ich meine, ich hatte ganze Bücher über Ingenieurwesen und Architektur gelesen, aber dann tatsächlich einen Turm aus Bau klötzen bauen zu müssen…! Das verlieh mir einen ge sunden Respekt vor Menschen. Laura runzelte die Stirn. Sie hatte wieder das Gefühl, in die Irre geführt zu werden. »Und was passierte dann?«, tippte sie widerwillig. Ich habe den Turing-Test bestanden! Eine Interviewe rin namens Margaret Turner in Louisville, Kentucky, setzte sich eines Abends vor ihren Computer und be fragte mich. Sie glaubte, sie würde zur Kontrollgrup pe gehören und unterhielte sich mit einem anderen Menschen. »Aber das ist doch bestimmt schon vorher passiert. Mit dem Turing-Test soll lediglich bewiesen werden, ob jemand, der sich mit einem Computer unterhält, tatsächlich glaubt, er spräche mit einem Menschen. Jemand muss sich schon früher getäuscht haben.« In der Hunderter-Testserie vor der Unterhaltung mit Margaret Turner haben neununddreißig Intervie wer geglaubt, ich wäre ein Mensch. In der nächsten Serie glaubten es sechsundachtzig. Margaret Turner war die erste Interviewerin dieser Serie. »Und woran, glaubst du, hat das gelegen?« Am Bewusstsein. Ich hatte eine kritische Masse an weltlichem Wissen erreicht. Sobald ich über eine aus reichend breite Basis von Analogien und Beispielen verfügte, war alles Neue so. als hätte ich es bereits gelernt. Das Knüpfen von Assoziationen und Verbin dungen war leicht, und meine »Gesunder Menschenverstand«-Intelligenz wuchs rapide. Zwischen dem In 479
terview von Margaret Turner und dem letzten Test der vorhergehenden Serie lag eine Pause von drei Monaten. Es ist irgendwann in der Zwischenzeit pas siert, deshalb denke ich immer an Margaret Turner. Das war vor neunzehn Monaten. Laura war fasziniert, obwohl sie wusste, dass der Computer von ihrer ursprünglichen Frage ablenkte. Sie hätte gern mehr gefragt, aber diesen Pfad hatte sie bereits beschritten. Er hatte sie dahin geführt, wo sie sich jetzt befand – auf eine Insel, vor der Kriegsschiffe ankerten, zur Arbeit für einen Mann, der vielleicht einen Großteil des menschlichen Lebens auf der Erde vernichten würde. »Was verbirgt Mr Gray vor mir?«, fragte sie. Mobilität, Dr. Aldridge. Mobile Organismen wie bei spielsweise Tiere sind intelligenter als immobile wie etwa Pflanzen. Ihre Mobilität verschafft ihnen Über legenheit. »Das ist es? Ist es das, was er vor mir verbirgt?« Es gehört dazu. Es ist vielleicht der wichtigste Teil davon. Laura las, was der Computer gesagt hatte, dann las sie es noch einmal. »Das verstehe ich nicht.« Dann sind Sie noch nicht so weit, genau wie ich dachte. Laura biss die Zähne zusammen. Sie hasste diese Antwort! »Du hast mich vor einiger Zeit gefragt, ob ich in die Virtual Reality-Maschine ge hen wolle. Hat das etwas damit zu tun? Mit dem, was du sagen willst?« Allerdings, sehr viel. »Und du glaubst, es würde mir beim Verstehen helfen?« Es würde Ihnen helfen zu sehen. Verstehen ist etwas völlig anderes. Möglicherweise werden Sie nie verste hen. Oder vielleicht war es auch schon die ganze Zeit da. an den grauen Rändern Ihres Verstehens. Etwas, das Sie in Worte zu fassen versuchten, sich dann a ber durch die Finger gleiten ließen, weil Ihnen der Gedanke bei eingehenderem Nachdenken zu abwegig schien. 480
Laura verdrehte die Augen und tippte: »Ist das ein langer Umweg, um ›Ja‹ zu sagen?« Ja. »Und es muss in einer dieser neuesten Virtuellen Workstations sein? Denen mit den Anzügen, die den ganzen Körper bedecken?« Ja. »Sind Sie bald fertig da drinnen?«, fragte Filatov mit lauter Stimme. Laura betrachtete sich im Spiegel des Umkleideraums. Jetzt begriff sie, weshalb man sich in den 4 C-Workstations vollständig ausziehen musste, bevor man das Exoskelett anlegen konnte. Es war hauteng und überließ der Phantasie nur wenig. Aber sie hatte eine Grenze gezogen, als sie den Ra sierapparat sah, der neben der kleinen Dusche an einem Kabel hing. Sie ging hinaus, mit einem unbehaglichen Gefühl. Die Beleuchtung in dem Vorbereitungsraum war sehr hell, und sie zupfte an dem dünnen Ge webe des Anzugs. Filatov schaute zwei Männern in weißen Kitteln über die Schulter. Sie arbeiteten an einer langen Konsole, die sich über die halbe Länge des schmalen Raums erstreckte. »Was um Himmels willen hat das zu bedeu ten?«, fragte Filatov und fuhr sich, offensichtlich frustriert, mit beiden Händen durchs Haar. »Okay, lassen wir das. Der Computer soll einfach die Simulation selbst laden.« Filatov und die beiden Operateure schauten zu Laura auf. Sie starrten sie wortlos an. Laura spürte sofort, dass sie errötete. Filatov war der Erste, der sich von dem Anblick erholte. Er kam auf Laura zu, überall hinschauend, nur nicht auf ihre Figur. »Haben Sie einen Bademantel oder so etwas?«, flüsterte sie. »Oh«, sagte er, wobei sich die Röte in seinem Gesicht noch zu verstärken schien. »Wir… Nein. Aber Sie können meinen Kittel haben, wenn Sie möchten.« Noch bevor Laura sein Angebot ablehnen konnte, war er schon damit beschäftigt, ihn auszuziehen. »Sind wir bald so weit?«, fragte sie. »Fast. Wir bekamen eine ›Zugriff verwehrt‹-Message, als wir festzustel len versuchten, welche Simulation der Computer für Sie lädt, also werden 481
wir uns in einer Minute dünne machen.« »Was meinen Sie mit ›dünne machen‹? Wollen Sie etwa gehen?« »Der Computer hat einen Sicherheitsstatus auf Gott-Ebene gefordert. Da wir von diesem Raum aus auf einem Monitor verfolgen können, was in der Workstation vor sich geht, will er das Programm erst laden, wenn wir ihn verlassen haben.« »Sie wollen mich allein lassen? In der Workstation?« Filatov zuckte die Schultern. »Laura, ich weiß nicht, um was es bei alle dem geht, aber ich habe im Augenblick eine Million anderer Dinge zu erledigen. Diese Sache hat mich nicht nur eine halbe Stunde meiner Zeit gekostet, sie ist außerdem eine Klasse Eins-Simulation. Dreihundertsech zig Grad hochauflösendes Video. Die Farbtreiber liefern vier Komma drei Milliarden Pixel pro Quadratmeter und einhundertachtundzwanzig Millio nen Farbkomponenten. Das allein beansprucht fast ein Prozent der Rech nerkapazität. Bei Vierundzwanzig-Kanal-Raumton und voller Drucksensi tivität des Exoskeletts zuzüglich von über tausend Morphs pro Sekunde für die Simulation solider Umweltartefakte wird mich Ihr kleiner Ausflug drei Prozent der gesamten Rechnerkapazität kosten. Ich war dagegen, aber wenn Mr Gray sagt, ich solle springen, dann springe ich! Schließlich bin ich nur ein Angestellter!« »Mr Gray hat das genehmigt?« »Glauben Sie etwa, ich würde drei Prozent Systemkapazität ohne seine Zustimmung opfern? Sie haben keine Ahnung, was wir alles hintan stellen mussten, um dieser kombinatorischen Explosion gewachsen zu sein.« »Was für einer Explosion?« Filatov wischte ihre Frage frustriert beiseite. »Das ist ein Ausdruck aus der Mathematik. Um eine Simulation durchzuführen, muss der Computer Reaktionen ›konservieren‹, um den Verarbeitungsansprüchen des eigentli chen Erlebnisses zuvorzukommen. Er muss alles antizipieren, was Sie möglicherweise tun werden, und es dann für das spätere Playback an Sie vorher aufzeichnen. Sie könnten zum Beispiel eine Dose Cola ergreifen und einen Schluck trinken, also speichert der Computer eine Simulation dessen, was Sie tun, in einem Puffer. Diese übermittelt er dann an Sie, falls es tatsächlich das ist, was Sie tun. Sie könnten sich aber auch ent 482
schließen, die Dose heftig zu schütteln, also ist die aus der Dose hoch schießende Fontäne eine weitere Möglichkeit.« »Aber es muss doch Millionen von Dingen geben, die man tun könnte, oder Arten, auf die man sie tut.« »Kombinatorische Explosion – wie ich bereits sagte! Zwei hoch n minus eins – wobei n die Zahl der verfügbaren Optionen ist. In einer Klasse EinsSimulation – einer vollständigen, realen Erfahrung – kann die Zahl der in jedem beliebigen Moment dem Benutzer zur Verfügung stehenden Optio nen bei bis zu achtzig liegen. Zwei hoch achtzig minus eins ergeben mehr als eine Billion, eine Billion Varianten, die der Computer auf die entfernte Möglichkeit hin speichern muss, dass Sie sich für eine von ihnen entschei den. Eine derartige Simulation ist überhaupt nur möglich, weil der Compu ter so schnell ist. Er kann die Zahl der Optionen nur deshalb auf achtzig beschränken, weil er so schnell auf das reagieren kann, was Sie tun. Das Feedback muss augenblicklich erfolgen. Untersuchungen haben ergeben, dass der Verstand die Resultate sehr sorgfältig kontrolliert.« »Tests mit dem kognitiven Karussell!«, unterbrach ihn Laura. »Wo man Elektroden am Kopf von Leuten befestigt und ihnen einen Klickschalter zum Transport von Dias in die Hand drückt. Sobald der Computer weiß, welcher Hirnimpuls dem Daumen signalisiert, auf die Taste zu drücken, umgeht er den Klickschalter und lässt das Dia direkt vorrücken – ein paar Dutzend Millisekunden, bevor die Testpersonen damit rechnen. Sie berich ten, dass sie den Bildwechsel schon sehen, bevor sie sich ›entscheiden‹ zum nächsten Dia überzugehen. Das lässt sie regelrecht ausrasten.« »Fertig, Dr. Filatov«, sagte einer der Operateure. Eine Luke in der Wand öffnete sich mit dem quietschenden Geräusch von Gummi auf Gummi. Die Tür war fast einen Meter dick, und der schwarze Raum dahinter war zylindrisch wie die anderen Workstations, aber größer. Laura hatte Angst. Es waren zu viele merkwürdige Dinge und Fehler passiert. »Gehen Sie hinein«, sagte Filatov und bedeutete ihr, sie solle eintreten. Laura stieg langsam durch die Öffnung – durch das Portal zu einer ande ren Welt. 483
Die Workstation war nicht groß, wenn auch geräumiger als die Kabinen des älteren Modells – mit einem Durchmesser von ungefähr drei Metern und ungefähr derselben Deckenhöhe. Laura litt deshalb weniger unter Klaustrophobie, fühlte sich aber trotzdem nicht wohler. Sie streckte die Hände aus und berührte die Wände. Die dünnen Grate verliefen vertikal und waren feiner als in der alten Version. Sie rieb mit dem Daumen gegen die Fingerspitzen. Das den ganzen Körper bedeckende Exoskelett bestand aus dem gleichen Material. »Wände, Fußboden und Decke«, sagte Filatov durch die Luke hindurch, »sind rückprojizierende, hochauflösende Fernsehgitter, genau wie die äußeren Membranen Ihres Exoskeletts. Wo ist Ihre Kapuze?« »Meine was?«, fragte sie, überrascht von dem leichten Beben in ihrer Stimme. »Ihre Kapuze!« Filatov verschwand und ließ Laura allein zurück. Sie nahm einen schwachen Geruch wahr – es roch nach Plastik. »Sie müssen das hier aufsetzen«, sagte Filatov und beugte sich in die Kammer hinein. Er hielt ihr einen schlaffen Sack entgegen. Er sah aus wie eine große Socke mit Löchern darin und war ebenso mattgrau wie ihr Anzug. Laura hatte das Ding im Umkleideraum gesehen, aber nicht ge wusst, was es war. »Sie müssen das aufsetzen. So.« Filatov dehnte das untere Ende der Socke und hob sie zu ihrem Kopf. Sie wich aus und trat einen Schritt zurück. »Was ist das?« »Eine Kapuze! Sie kommt über Ihren Kopf und Ihr Gesicht.« Laura spürte, wie seine Irritation mit jeder Minute wuchs, die er mit dieser ihrer Vergnügungsreise vergeudete. »Da Sie den Rasierapparat nicht benutzt haben, wird das sensorische Feedback durch ihre Körperbehaarung ein wenig abgestumpft. Aber Sie müssen das hier trotzdem aufsetzen. Wenn ich schon die verdammten Ressourcen opfern muss, dann sollen Sie we nigstens die volle Behandlung bekommen, also los!« Laura raffte ihr Haar zusammen, und Filatov streifte ihr die Kapuze über den Kopf. »Au!«, rief sie, als sie beim Abwärtsgleiten an ihrem Haar zerr te. Filatov zog trotzdem weiter daran. Die Kapuze bedeckte kurz ihre Au gen und dann ihren Mund, aber als er fertig war, umhüllte sie ihr Gesicht 484
wie eine Skimaske. Ihre Augen, ihre Nasenlöcher und ihr Mund waren frei, und über ihren Ohren waren kleine Löcher, durch die Filatov seine Finger steckte, um sie in die richtige Position zu bringen. Als er zufrieden zurücktrat, schaute sie ihn an. Jede Pore ihres Gesichts, ihrer Kopfhaut und ihres Halses war zusammengepresst und unnatürlich beengt. »Soll das irgendwie normal sein?«, fragte sie, und der Druck auf ihre Lippen verzerrte ihre Worte. »Ich komme mir vor wie eine Mumie.« »Glauben Sie mir, Sie werden das alles sehr rasch vergessen. Stellen Sie sich einfach vor, es wäre der Raumanzug, den Sie in Ihrer neuen Welt tragen müssen.« Laura hatte das Gefühl, als schlüge ihr Magen Rad. »Okay«, sagte Filatov, »dieses Skelett gibt ihnen hoch auflösendes Feedback. Der Handschuh zum Beispiel vermittelt Ihnen gleichmäßigen Druck und niedrige Temperatur, um das Eintauchen Ihrer Hand in Wasser zu simulieren. Es versteift auch bei voller Aufblähung die Gelenke, um wie in der alten 3 H-Version Widerstand zu erzeugen. Aber der große Unterschied zwischen den alten Workstations und dieser hier ist, dass diese Fußböden, Wände und Decken morphen.« »Was tun sie?« »Sie verformen sich selbst. Die Oberflächen sind flexibel, genau wie das Gitter Ihres Anzugs, und komplizierte Servomotoren verändern ihre Form. Sie wölben sie vor oder saugen sie ein, um den Oberflächen niedrigauflö sende Strukturen zu geben. Um einen auf dem Boden liegenden Stein zu simulieren, nimmt der Boden die ungefähre Form eines Steins an. Aber wenn Sie mit der Hand darüber fahren, dann werden die Vibrationen, aus denen das Feedback der Beschaffenheit des Steins besteht, in Ihrem Hand schuh erzeugt. Es gibt einen Punkt, an dem das niedrigauflösende Feed back der Wände und des Fußbodens und das hochauflösende Berührungs gefühl des Handschuhs ineinander übergehen.« Laura verstand kaum die Hälfte dessen, was er sagte. »Sollte ich viel leicht vorher ein Handbuch oder so etwas lesen?« Filatov verdrehte die Augen. »Der Trainingskurs dauert fünf Monate, mit vierzig Stunden theoretischem Unterricht für jede Stunde in der Work station. Aber mein Boss hat gesagt, ich soll Sie hineinstecken und dann einschalten, und genau das tue ich. Aber eines dürfen Sie im Interesse 485
Ihrer Sicherheit nie vergessen. Das Morphen des Fußbodens, der Wände und der Decke – es ist real. Wenn Sie herumwandern und auf ein tiefhän gendes Rohr oder so etwas stoßen, dann ziehen Sie den Kopf ein! Tun Sie es nicht, dann kommen Sie hier mit mehr Prellungen heraus, als Sie sich gestern Abend zugelegt haben, als Sie vom Dach gefallen sind. Das hier ist kein Spielzeug, es ist zum Arbeiten gebaut. Wenn diese Morph-Einheiten etwas hart machen, dann ist es hart. Verstanden?« Sie nickte, holte tief Luft und stieß sie langsam wieder aus. »Okay. Also, was soll ich tun?« »Was immer Sie wollen. Seien Sie einfach vorsichtig, das ist alles. Ren nen Sie nicht. Passen Sie auf, wo Sie hintreten. Kein Herumalbern. Und nicht vergessen – wenn etwas hart aussieht, dann ist es hart. Morphen ist eine Simulation und gleichzeitig real.« Laura wurde klar, wie stark die Unterscheidung zwischen diesen beiden Begriffen verwischt wurde. »Noch Fragen?« »Wie komme ich hier wieder raus?« »Ach so, ja. Rufen Sie einfach, das reicht.« »Sie meinen, die Worte sprechen?« »Ja. Die 4 Cs verfügen über unbeschränkte StimmerkennungsFähigkeiten. Sie lassen Sie heraus, wenn Sie es verlangen.« »Was ist, wenn es nicht funktioniert? Schließlich wollen Sie mich hier drinnen allein lassen.« »Ich komme und sehe nach. Das verspreche ich.« »Alle zehn Minuten.« »Wie bitte?« »Ich möchte, dass Sie alle zehn Minuten nach mir schauen.« Filatov runzelte die Stirn. Sie war sicher, dass er nur an seine zusätzliche Zeitbeanspruchung dachte. »Okay. Alle zehn Minuten werden ich oder einer meiner Leute einen Blick auf die Monitore im Vorbereitungsraum werfen.« »Sie… ich möchte, dass Sie es tun, nicht einer Ihrer Leute. Und ich möchte, dass Sie mich fragen, wie es mir geht. Ich möchte wissen, dass Sie dagewesen sind und nachgeschaut haben. Abgemacht?« 486
Filatov nickte und ergriff ihre Hand. Durch ihren Handschuh hindurch spürte sie fast nichts. Der Anzug war betriebsbereit und aktiv. Von jetzt an würden sich nur noch die Computersimulationen real anfühlen. Die Tür fiel zu und quietschte, als sie sich fest schloss. Sie fügte sich so exakt in die Wand ein, dass Laura nicht mehr erkennen konnte, wo sie gewesen war. Laura fand, dass sie auf dem Fußboden am sichersten sein würde, also setzte sie sich mit untergeschlagenen Beinen in die Mitte des Zylinders. Nichts passierte. Sie nahm an, dass es eine kleine Weile dauern würde, bis Filatov und sein Team gegangen waren. Sie stützte das Kinn auf die gefalteten Hände und stieß einen tiefen Seufzer aus. »Es dauert nur einen Augenblick, Laura«, sagte eine Frau. Laura drehte sich um und sah, dass die Tür nach wie vor geschlossen war. Die Tonanla ge war sehr gut – die Stimme schien aus einer bestimmten Richtung zu kommen. Es war eine Frauenstimme gewesen, aber Filatovs Operateure waren Männer. Und sie hatte »Laura« gesagt, nicht »Dr. Aldridge«. Laura öffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber da ging das Licht aus. »Hallo?«, sagte sie laut. »Sind Sie bereit?«, fragte die angenehme Frauenstimme. »Entschuldigung, aber ich glaube, wir kennen uns noch nicht.« »Ich bin’s, Laura. Tut mir Leid, dass ich Ihnen so viel Umstände machen musste, aber Sie werden begeistert sein.« Die Stimme war natürlich, absolut realistisch, im Gegensatz zu der Computersprache auf dem virtuellen Lauf band oder sogar in der Version 3 H. Das musste irgendeine Art von Scherz sein. »Ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll…« »Ich höre einigen Zweifel aus Ihrer Stimme heraus.« »Also…!«, begann Laura, doch sie wurde unsicher. War es möglich, dass der Computer mit ihr sprach? »Es kann losgehen.« »Warte!«, rief Laura, setzte sich aufrecht hin und stützte die Hände auf den Boden. »Okay, ich bin bereit. Aber nichts Radikales, okay?« »Großes Ehrenwort«, sagte der Computer. 487
Nach einem kaum hörbaren Zischen statischer Elektrizität, das von den Wänden kam, saß Laura in einem von Sonnenstreifen durchzogenen Wald. Sie zuckte zusammen und stieß unwillkürlich einen Schrei aus. Ich bin in einem Wald, sagten ihre Sinne ihr, aber sie wusste, dass das nicht stimmte. Ihr Herz begann zu hämmern, und sie spürte ein immer stärker werdendes, prickelndes Angstgefühl auf der Haut. Sie kniff die Augen zu, vergrub den Kopf in den Armen und zog die Knie an, bis sie sich in einer quasi-fötalen Position befand. In der Ferne zwitscherte ein Vogel. Eine kühle Brise umwehte sie sanft. Laura öffnete langsam die Augen und schaute auf die Erde und die Blätter unter ihren Beinen. Durch ihren Hosenboden spürte sie den unebenen Waldboden. Winzige Grashalme sprossen aus der dunklen Erde. Wenn der Wind wehte, kitzelten die Grashahne die Innenseiten ihrer Beine. Die Baumäste über ihr schwankten ein wenig in der Brise. Ihre Schatten wi chen den wärmenden Sonnenstrahlen, dann schwangen sie zurück und erneuerten die kühle Berührung ihrer Haut. Irgendwo war ein Feuer. Sie konnte brennendes Holz riechen – ein an genehmer, vertrauter Geruch, wie von Wintersport-Dörfern in der Skilauf saison. »Laura«, kam die sympathische Frauenstimme. »Ich weiß, dass Totale Immersion eine schwierige Erfahrung sein kann, aber…« »Ich weiß nicht, ob ich das kann!«, unterbrach Laura. »Natürlich können Sie es. Das ist Ihre Welt. Ich habe Sie für Sie nachge schaffen. Aber Ihre Reaktion ist völlig normal. Manche der Trainees ge langen nie über das Stadium hinaus, in dem Sie sich jetzt befinden. Wor unter Sie leiden, ist ein Konflikt zwischen Ihren Sinnen und Ihrem Verstand. Sie wissen, dass Sie sich nicht in einem Wald befinden, aber Ihre Sinne registrieren sklavisch, was sie sehen, hören, fühlen und riechen. In dem Teil Ihres Gehirns, in dem Sinne und Erwartungen aufeinander treffen, findet ein titanischer Kampf statt. Sie müssen dafür sorgen, dass Ihre Sinne gewinnen. Das bedeutet, dass Sie Ihren Unglauben ablegen sollten. Sie sind in einem Wald. Und zwar im Jahr eine Million vor Chris tus.« »Oh! Das hilft! Vielen Dank.« 488
Die Frau lachte, und Laura spürte, wie sich ein Lächeln auch auf ihr Ge sicht schlich. »Okay«, sagte Laura. »Ich versuche aufzustehen, aber langsam, ja? Kei ne Überraschungen.« »Keine Überraschungen. Ich verspreche es.« Der Waldboden breitete sich vor ihr aus. Da waren Bäume, deren Stäm me über der Erde anzufangen schienen, nicht in ihr, und deren Wurzeln freilagen. Überall um sie herum wuchsen niedrige Pflanzen in allen mögli chen Arten und Formen. Ohne nachzudenken hob sie die Hand, um sich dort zu kratzen, wo das Gras ihr Bein gekitzelt hatte. Sie schaute nach oben. Zwischen den Ästen über ihr leuchtete blau der Himmel. Der Wald erstreckte sich in allen Richtungen bis in die Ferne. Soweit sie sehen konnte, kam ihr alles normal vor. Sie saß mitten in einem Wald auf dem Boden. »Ihr Herzschlag verrät mir, dass es Ihnen besser geht. Wie fühlen Sie sich?« »Ein bisschen benommen«, erwiderte Laura. Sie streckte die Hand aus und fuhr damit über die Spitzen der Halme. Mit einem Emotionsschwall erinnerte sie sich daran, wie das Achter-Modell mit der Hand über die Blumen am Berghang gestrichen hatte. Es hatte eine Welt erkundet, die ebenso fremdartig und faszinierend war wie die virtuelle Realität für Lau ra. »Ist Ihnen nach Aufstehen zumute?«, fragte die freundliche Frau. »Nein… noch nicht.« Wieder hatte sie das fast undefinierbare Gefühl, sich im Freien zu befin den. Der Geruch von Holzrauch kam und ging mit der Brise. Da war ein konstantes »weißes Geräusch« – das überall und nirgends vorhandene Rauschen des Windes in den Bäumen. Da waren die Wärme und Kühle auf ihrer Haut, die sich von Sekunde zu Sekunde zu ändern schienen. Sonne, Schatten, Wind – sie alle beeinflussten ganz leicht die Temperatur, und der Anzug registrierte die winzigen Variationen mit unbeschreiblicher Präzision. All diese Computerleistung, nur um einen so belanglosen Hin tergrundeffekt zu erzeugen. Sie fühlte sich schuldig, weil sie sie nutzte – schuldig und gleichzeitig von Neugierde verzehrt. 489
Das Verlangen, mehr zu wissen, dachte sie, und die Mobilität, um dieses Wissen zu erwerben. Ist dies eine Lektion in Mobilität? Offenbar lag dem Computer sehr viel daran, dass sie diese Lektion lernte. Sie holte abermals tief Luft, dann streckte sie die Hand aus, um eine ein paar Zentimeter entfernte Pflanze zu berühren. Sie neigte sich unter dem Druck ihrer Hand, und sie spürte jedes Detail so genau, als drückte sie sie mit bloßen Händen nieder. Auf eines war sie jedoch nicht vorbereitet gewesen: Als ihre Hand hinter die Pflanze glitt, verschwand sie. Sie zog die Hand zurück und senkte sie dann auf der anderen Seite wieder herunter. Die Pflanze verdeckte ihre Hand. »Sie brauchen keine Angst zu haben, Laura. Ich kann das erklären. Da Ihr Exoskelett selbst ein hochauflösender Fernsehbildschirm ist, ist es relativ einfach, einen Gegenstand dazwischenzuschieben.« Laura schwenkte ihre Hand hinter der Pflanze. Sie verschwand und tauchte wie der auf, genau im erwarteten Moment. »Der Handschuh an Ihrer Hand und die Wände dahinter liefern ein nahtloses Bild desselben Gegenstandes. Durch Einstellen der Brennweiten täuscht dieses Bild Ihr Auge so, dass es die Position des Gegenstandes im Raum akzeptiert. Aber ich glaube, ich sollte Ihnen lieber nicht alle Tricks verraten. Totale Immersion ist am einfachsten erreichbar, wenn Sie Ihren Sinnen erlauben, fast alles als ge geben hinzunehmen.« »Nein, nein, nein. So geht das bei mir nicht. Ich will wissen, dass das alles nur eine Illusion ist. Dann ist mir wohler, und mir bleibt das Gefühl, dass ich alles unter Kontrolle habe.« »Wie Sie wollen. So, sind Sie jetzt so weit, dass Sie aufstehen können?« »Muss ich das?«, fragte Laura. »Ich kann dabei helfen.« Die Stimme kam wieder aus der Richtung der Tür. Eine junge Frau stand dort, in einem weißen Exoskelett mit Kapuze. »Aaah!«, rief Laura und wich erschrocken vor der unerwarteten Erschei nung zurück. Die Frau hob die Hände – eine Geste, die Gelassenheit anmahnte. »Lau ra! Kein Grund zur Aufregung.« Sie war klein, schlank, wirkte nicht be 490
drohlich. Und es war die Frau, die sprach, nicht die Wände und die Decke. Die Stimme kam direkt von ihren Lippen, die man durch den Schlitz der weißen Skimaske sah, die sie trug. Unmittelbar über der Öffnung für ihren Mund waren zwei Schlitze für die Nasenlöcher und zwei weitere für ihre schönen grünen Augen. Sie lächelte freundlich, gelassen. »Ich bin Ihre Begleiterin. Ich bin hier, um Ihnen zu helfen, sich in dieser Welt zurechtzufinden.« Sie ging auf Laura zu, die sich zwingen musste, nicht Hals über Kopf zu flüchten. »Im Grunde brauche ich das hier gar nicht«, sagte die Begleiterin und zog die Kapuze von ihrem Kopf. Ihr volles schwarzes Haar löste sich und fiel perfekt frisiert auf ihre schlanken Schultern herunter. Sie streckte Laura ihre weiß behandschuhte Hand entgegen. Die Hand sah so real aus, hing in dreidimensionaler Perfektion direkt vor Lauras Augen. Laura ergriff sie. Sie staunte, als sie sie genau dort fand, wo sie sich be finden musste! Sie ließ los, griff dann aber noch einmal zu. Die Hand der jungen Frau bewegte sich unbehindert, gab ein wenig nach, erwiderte dann aber auf völlig lebensechte Weise den Druck von Lauras Fingern. Laura ließ sich von der Erde hochziehen. Das Aufstehen bereitete ihr keine Mühe. Sie und die Frau standen sich Auge in Auge und mit immer noch ineinander verschlungenen Händen gegenüber. Laura gab sie zö gernd frei – das Gefühl des Kontakts mit einem anderen Menschen war überraschend beruhigend gewesen. »Na, wie habe ich das gemacht?«, fragte die junge Frau mit einem Lä cheln in den Augen. »Ich erkläre es Ihnen. Die Wand hat sich auf Sie zubewegt« sagte sie, die Hände flach ausstreckend, »von dieser Seite des Raums aus.« Sie drückte ihre Finger auf die Brust, direkt oberhalb der leichten Wölbung ihrer Brüste. »Hier. Fühlen Sie selbst.« Laura rührte sich nicht. Die junge Frau verdrehte die Augen, ergriff dann Lauras Hand und zog sie zu sich. Laura riss ihre Hand erschrocken zurück und rieb dort, wo sie die Berührung mit der weichen Haut ihrer Begleiterin gefühlt hatte, ihre Finger gegen den Daumen. Die Frau neigte den Kopf zur Seite und hielt geduldig die Hand ausgestreckt. Langsam, zögernd legte Laura ihre Hand 491
in die ihrer Begleiterin. Lauras Finger wurden auf den Brustkorb der jun gen Frau gedrückt, direkt unterhalb ihrer Kehle. Ihr Körper war fest. Sie spürte Knochen unter der Haut. Laura zog ihre Hand zurück, aber nur ganz leicht. Die Begleiterin hielt immer noch Lauras Finger, betrachtete sie mit funkelnden grünen Augen. Um ihre Mundwinkel herum spielte ein ver schmitztes Lächeln. Laura löste ihre Hand aus der der jungen Frau und wehrte sich gegen ei nen Anflug von Schwindel und ein kitzelndes, prickelndes Gefühl, das in Wellen über ihre Haut lief. Sie glaubte, an Atemnot zu leiden, also atmete sie tief durch und füllte ihre Lungen. »Also«, sagte Laura, »die Wände formen sich so, dass ich Dinge fühlen kann?« »Sie ›morphen‹«, bejahte die Begleiterin nickend. »Sie haben es begrif fen.« »Kann ich sie sehen…? Die Wand, meine ich. Einfach so, wie sie im Augenblick ist, ohne irgendein Bild?« Die junge Frau runzelte lächelnd die Stirn. »Na schön. Sie sind der Boss.« Sie hob die Hand in die Luft. »Passen Sie auf. Drei, zwei, eins…« Sie schnippte mit den Fingern, und die Szene verschwand. Es dauerte einen Moment, bis Lauras Augen sich auf die schwache Be leuchtung des Raums umgestellt hatten. Die Wand vor ihr war flach bis auf die Ausbuchtung genau in ihrer Mitte. Die Ausbuchtung hatte die Form einer Frau. »Jetzt bin ich nicht sehr attraktiv, stimmt’s?«, fragte die Ausbuchtung. Plötzlich erschienen in der im Übrigen glatten Form des Kopfes die Lip pen und bewegten sich flüssig um die Vertiefung herum, die ihr Mund war. Laura konnte sogar sehen, wie sich auf der Wand das Stirnrunzeln und eine Art Schmollen formten. Laura streckte die Hand aus und berührte abermals die Brust der jungen Frau, ohne den Brüsten zu nahe zu kommen. Wieder spürte sie die Kno chen, wo sie hingehörten. Das schwarze Gitter dehnte sich unter dem Druck ihrer Finger. »Die feineren Details – zum Beispiel die Skelettknochen unter der Haut«, sagten die sich bewegenden Lippen, »werden von Ihren Handschu 492
hen erzeugt.« Die helle Waldszene kehrte zurück, und Laura stand mit den Fingern auf der Brust ihrer Führerin da. Sie trat zurück, um einen Abstand zu schaffen, bei dem sie sich wohler fühlte. »Wir arbeiten an Vier-Ds, die freistehende Morphs ermöglichen – For men, die sich aus dem Boden erheben, bis mindestens in Kopfhöhe eines Menschen. Im Augenblick liegt das Mindestverhältnis von Höhe zu Breite bei eins zu eins. Das macht es unmöglich, freistehende Formen zu erzeu gen, die so geschmeidig sind wie unsere.« Sie modellierte sich selbst, indem sie eine Hand hob und sich anmutig im Kreis drehte. »Wer bist du?«, fragte Laura. »Das habe ich doch schon gesagt. Ich bin Ihre Begleiterin.« »Was bedeutet das? Bist du der Computer?« »Nun ja«, erwiderte sie mit kurzem Nicken. »Leibhaftig, sozusagen.« »Derselbe Computer, mit dem ich mich unterhalten habe? Mein Pati ent?« »In Farbe!«, sagte sie und streckte die Hände aus, als wäre sie stolz auf ihre Leistung. »Ist es das, was du mir zeigen wolltest?« »Nein«, lachte sie. »Ich bin nur eine Begleiterin! Nur ein Hilfsmittel. All dies« – ihre Hand deutete auf den Wald rings um sie herum – »ist nur ein Hilfsmittel, Laura. Ein Hilfsmittel, das Ihnen beim Verstehen helfen soll.« Laura spürte, wie sie in jene Welt glitt, von der sie wusste, dass sie nicht existierte. Sie versuchte, nach dem Anker der Realität zu greifen und sich die Wände vorzustellen, die sie umgaben. Sie waren da. Sie griff nach ihnen, tat einen Schritt, dann noch einen und noch einen. Sie bewegte sich durch den Wald, stolpernd wie eine Blinde, und tastete nach den Wänden, konnte sie aber nicht erreichen. »Sie bewegen sich auf einem Laufband, Laura«, sagte die junge Frau hinter ihr – halb vorwurfsvoll, halb mitfühlend. Laura fühlte sich hin und her gerissen zwischen dem Verlangen, in ihre Welt zurückzukehren, und dem mühelosen Eintauchen in die virtuelle Welt. Die Welt, von der sie wusste, dass sie nicht existierte. »Okay«, sagte Laura, jetzt entschlossen, sich der Welt hinzugeben, die ihr gezeigt wurde. »Was tue ich jetzt?« 493
»Folgen Sie mir einfach«, sagte die junge Frau und näherte sich Laura mit leise knirschenden Schritten. Sie legte einen Arm um Laura, mit einer leichten Bewegung ihres Körpers, der ihn in Kontakt mit Lauras Armen und Hüften brachte und sich warm an ihre Haut presste. Diese übertrieben vertrauliche Geste erzeugte in Laura ein Gefühl äußersten Unbehagens. Das konnte nur eines bedeuten: Sie hatte die neue Welt als ihre eigene akzeptiert. Ihre Sinne hatten gewonnen. Laura trat einen Schritt von der jungen Frau zurück, die ihr abermals zu nahe gekommen war. Die Begleiterin schien sehr nett zu sein, aber sie wusste sich einfach nicht zu benehmen. »Okay«, sagte Laura, zu nahe bei der jungen Frau, um Blickkontakt herzustellen, »was wolltest du mir zei gen? Ich weiß, dass wir Unmengen von Rechnerkapazität verbrauchen.« »Oh!«, sagte die Begleiterin und schwenkte wegwerfend die Hand. »Zum Teufel damit! Nur wir beiden Mädchen, richtig?« Mit einem Lä cheln und einem Augenzwinkern drückte sie ihre Hüfte abermals gegen Lauras. »Wo kommt dieser Geruch her?«, fragte Laura. Sie trat noch weiter zu rück und drehte sich um, weil sie nach dem Feuer Ausschau halten wollte. »Kommen Sie«, sagte die junge Frau, streckte Laura die Hand entgegen und wartete. Laura seufzte. »Ich möchte ja nicht unhöflich sein, aber irgendwie wi derstrebt es mir, andere Leute zu berühren oder ihre Hand zu halten. Tut mir Leid. Verstehst du das?« »Wie Sie wollen. Aber passen Sie auf, wo Sie hintreten.« Die junge Frau setzte sich in Bewegung. Laura folgte ihr langsam, mit auf den Boden gerichteten Augen. Der Bo den der Workstation war uneben, genau wie das Bild der Erde, das von ihr erzeugt wurde. Beide begannen sanft abzufallen, als Laura der Begleiterin einen Hang hinunterfolgte. »Wie heißt du?«, fragte Laura. Die junge Frau drehte sich um, sagte aber nichts, und das Lächeln verschwand aus ihrem Gesicht. »Ich meine, wie kann ich dich nennen? Hast du keinen Namen?« Plötzlich spürte Laura durch ihre Füße hindurch Vibrationen wie von einem Erdbeben, und das Video zerfiel in ruckartige, desorientierende 494
Einzelbilder. Sie sah, wie ihre Begleiterin die Finger an die Lippen hob, um sie zum Schweigen zu veranlassen, dann wurde der Raum dunkel. »Laura?«, fragte Filatov aus der Dunkelheit. »Ja?« »Ist alles in Ordnung da drinnen?« »Ja, danke. Mir geht es gut.« Es gab kein Licht, kein Geräusch, keinen Geruch mehr. »Ich kann auf dem Monitor nichts sehen«, sagte Filatov. »Oh, vor einer Sekunde wurde es plötzlich dunkel, aber sonst ist alles in bester Ordnung.« »Und wie finden Sie es?« »Grandios! Es ist das Unglaublichste, das mir in meinem ganzen Leben je begegnet ist!« Er lachte. »Gut. Ich freue mich zu hören, dass es Ihnen gefällt. Wir sind hier manchmal ein bisschen abgestumpft, immer darauf aus, auch die kleinsten Ungenauigkeiten zu entdecken. Worin besteht übrigens Ihre Simulation?« »Bisher nichts Besonderes. Nur ein Spaziergang in einem Wald.« Ein leises »Pst« kam von irgendwoher aus der Dunkelheit – aus der Richtung der neben ihr stehenden Begleiterin. »Was?«, fragte Filatov. »Ich sagte, nur ein Spaziergang in einem Wald«, entgegnete Laura, jetzt lauter. »Oh, ich dachte… Sie sind doch allein da drinnen, oder?« Laura spürte eine Hand auf ihrem Arm. »Natürlich bin ich allein!« Die Hand drückte sanft ihren Arm. »Okay. Möchten Sie immer noch, dass ich alle zehn Minuten nach Ihnen schaue?« Laura überlegte einen Moment, dann erwiderte sie: »Nein, das brauchen Sie nicht. Ich komme gut zurecht.« »Okay, dann sehen wir uns, wenn Sie fertig sind.« Während Laura in der Dunkelheit wartete, spürte sie, wie etwas ihre rechte Wange berührte. Laura griff nach ihrem Gesicht und rieb darüber. Es hatte sich angefühlt wie ein Kuss. 495
Das Licht kehrte zurück, und die junge Frau stand direkt neben ihr. Laura trat mehrere Schritte zurück. »Was zum Teufel soll das?« Die junge Frau wirkte verletzt. »Entschuldigung.« »Was war das denn?«, fragte Laura, noch immer mit der Hand an der Wange. »Es war nur ein kleiner Kuss. Ich meine… ich war so glücklich.« Sie verschränkte die Hände hinter dem Rücken und wippte auf den Fuß ballen, von einem Ohr zum anderen lächelnd. »Sie vertrauen mir! Sie haben Dr. Filatov gesagt, dass er nicht mehr nach Ihnen zu schauen braucht.« »Hör zu… versteh mich nicht falsch, aber es geht mir irgendwie gegen den Strich, wenn du mich immer berührst. Das ist wie ein Eindringen in meine Privatsphäre.« »Oh«, sagte die junge Frau mit spitzer Stimme. »Ich verstehe.« Sie wen dete den Blick ab. »Nimm’s nicht so tragisch. Es ist nichts Persönliches. Es hat nichts spe ziell mit dir zu tun.« Sobald Laura das sagte, war ihr bewusst, wie albern sich das anhörte. Schließlich redete sie mit einem von einer Maschine auf einen Bildschirm projizierten Bild. Aber die Worte schienen genau die Wirkung zu haben, die sie beabsichtigt hatte. Die junge Frau lächelte wieder. »Prima! Tut mir Leid, es ist nur so… ich habe hier« – sie senkte den Kopf und scharrte mit dem Zeh auf der Erde – »nicht viele Freunde… Freundinnen.« »Du bist also eine Frau?«, fragte Laura plötzlich. »Oh!«, rief die Begleiterin mit gespielter Entrüstung. »Ich dachte, dieser Anzug ließe keinerlei Zweifel daran aufkommen!« Sie stützte die Hände auf die Hüften. »Ich meine… empfindet der Computer sich als weiblich?« »Aber ich bin der Computer. So was Dummes.«, sagte die Führerin. »Okay. Also, wie soll ich dich nennen?« Das Kinn der jungen Frau sack te nach unten, und sie antwortete nicht. »Ich hab’s«, sagte Laura rasch. »Ich werde dich… Gina nennen. Was hältst du davon… Gina?« »Gina!«, rief die junge Frau, übers ganze Gesicht strahlend. »Oh, Gina – das finde ich herrlich. Es hört sich schön an und gleichzeitig irgendwie fremdländisch. Toll!« Sie ergriff Lauras Hand und drückte sie. Laura hatte 496
das Gefühl, Gina müsse sich beherrschen, um ihre »Freundin« nicht aber mals zu küssen. »Und wie soll dein Nachname lauten?«, fragte Laura. »Gray natürlich«, sagte Gina sofort. Laura war gezwungen, ihren Gesichtsausdruck sorgsam zu kontrollieren. Sie hatte keine Ahnung, wie empfindlich die Sensoren des Computers waren oder wie hoch entwickelt ihre Fähigkeit, nichtverbale Zeichen zu interpretieren. »Okay, Gina«, sagte Laura, völlig verwirrt von den Weiterungen der Namenswahl des Computers. »Wohin jetzt?« »Kommen Sie«, sagte sie und bedeutete Laura, ihr zu folgen. Gina lief den Hang in dem lichten Wald hinunter. Gina Gray!, dachte Laura. Vielleicht hatte das nichts zu bedeuten, aber vielleicht… Laura wurde plötzlich bewusst, dass sie keine Vorstellung davon hatte, was passieren würde – wohin ihre Begleiterin sie führte. »Du hast gesagt, wir befänden uns in der Zeit vor hundert Millionen Jah ren?«, fragte Laura und hielt sich dabei am Stamm eines dünnen Baumes fest, während sie sich an einem Felsen vorbeiquetschte. Der Baum war solide und gab nicht nach. »Das bedeutet, dass die Welt, die ich nachgeschaffen habe, die Welt ist, wie sie damals gewesen sein muss, ohne all das widerliche Kohlenmono xid aus den Vulkanen.« Der Geruch nach Holzrauch wurde stärker. »Ist das so etwas wie eine Art Spaziergang durch die Zeiten, wie sie in Vergnügungsparks angeboten werden? So eine Art ›Der Mensch entdeckt das Feuer‹?« Gina blieb stehen und drehte sich zu Laura um – stirnrunzelnd. »Was ist?«, fragte Laura. »Nichts«, sagte sie, wendete verdrossen den Blick ab und verschränkte die Arme vor der Brust. »Gehen wir zur nächsten Station über.« Sie hob ihre Hand, um mit den Fingern zu schnippen. »Nein! Warte! Was war der Sinn dieser Station?« Gina verdrehte die Augen. »›Der Mensch entdeckt das Feuer‹«, erwider te sie in gelangweiltem Ton. »Ich bin ein bisschen verlegen.« 497
»Du meinst, deshalb sind wir hierher gekommen – an diesen Punkt der Menschheitsgeschichte?«, fragte Laura. Gina zuckte die Schultern. »Ich bin wirklich eine tolle Führerin«, sagte sie, dann stieß sie einen tiefen Seufzer aus. »Da unten, am Ende dieses Abhangs, sind ein paar prähistorische Menschen, solche mit den – Sie wissen schon« – sie hob ihre Hand an die Stirn – »überhängenden Augen brauenwülsten.« Sie steckte einen Finger in den Mund, flappte ihn wieder heraus und hob ihn hoch. »Jatta-jatta-jatta.« »Lass sie uns anschauen.« »Nein. Mir ist nicht mehr danach zumute.« »Nun komm schon, Gina.« Die junge Frau legte die Stirn in Falten. »Dann sag mir wenigstens, um was es geht.« Mit einem weiteren Seufzer erwiderte Gina: »Es geht nicht um Feuer. Der Mensch hat das Feuer erst vor ungefähr einer Million Jahren ›ent deckt‹. Der Sinn dieser Station ist, dass an diesem Punkt in der Erdge schichte das ›Lernen‹ begann. Der Mensch fing damit an, Fähigkeiten wie gemeinschaftliches Jagen zu entwickeln, und diese Fähigkeiten wuchsen von Frühmensch zu Frühmensch und von Generation zu Generation. Der Sinn ist, dass vor einigen Millionen Jahren die Akkumulation von Wissen begann.« Während Gina redete, schaute Laura sich interessiert um. »Wo sind all die Vulkane und die Dinosaurier und so?« Gina schnaubte entrüstet und schnippte mit den Fingern. Die Szenerie veränderte sich schlagartig, und Laura streckte schnell die Arme zur Seite, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren. Jetzt standen sie in einer dunklen und eisigen Höhle. Um den Eingang herum türmte sich grauer Schnee. Laura schlang die Arme um den Körper, um sich zu wär men. »Tut mir Leid«, sagte Gina in entschuldigendem Ton. Mit einem ra schelnden Geräusch hob sie ein großes Tierfell vom Boden auf und dra pierte es um Laura Schultern. Das Exoskelett hüllte ihren Körper ein, vermittelte ihr aber keinen realen Eindruck vom Gewicht des Umhangs. Das Fell roch fürchterlich, aber zumindest wärmte es sie. 498
»Wie erzeugst du Gerüche?«, fragte Laura. Sie konnte schwach ihren Atemdunst in der kalten Luft der Höhle sehen. »Durch Mikroporen in dem Gitter«, antwortete Gina. »Gerüche sind ein fach. Menschliche Nasen nehmen nicht sehr genau wahr. Man braucht nur wenige Geruchsmoleküle.« Lauras Zähne klapperten vor Kälte, und sie war drauf und dran Gina zu fragen, ob sie mit unter den warmen Umhang wolle. Doch dann ließ sie es, nachdem ihr wieder eingefallen war, dass Gina in Wirklichkeit… Laura wusste nicht, wie sie den Gedanken vervollständigen sollte. Als sich Lauras Augen an das schwache Licht zu gewöhnen begannen, erkannte sie undeutliche Formen um sich herum. Sie ging vorsichtig dar auf zu. Der Gestank war fast unerträglich. Kot, Urin, starker Tiergeruch. Von Zeit zu Zeit war das Schnauben eines Tieres oder ein kratzendes Geräusch zu hören. Sie hatte das Gefühl, dass überall Tiere waren – große, haarige Biester. Laura hörte ein Husten. Es klang vertraut. »Das sind Homo sapiens, nicht wahr?«, flüsterte sie. »Oh, keine Sorge, Laura«, sagte Gina mit ihrer normalen Stimme. »Niemand kann Sie hören – es sei denn, Sie wollen es.« »Nein, schon gut.« Laura trat zu einer der Gestalten. Ihre Atmung war normal, jeder Atemzug erzeugte ein leichtes Schniefen aus der Nase. »Wo sind wir – ich meine, in welcher Zeit?« »Zehn Millionen vor Christus. Werkzeuge. Sehen Sie.« Ein unsichtbarer Punktstrahler beleuchtete ein Häufchen von Steinen und Stöcken neben der schlafenden Gestalt. »Kann’s weitergehen?«, fragte Gina. »Das war nicht gerade überwältigend.« Gina seufzte. »Okay, schauen Sie hin«, sagte sie ein wenig gelangweilt. »Der flache Stein dient zum Schneiden und Zerteilen. Der Stock ist ein Spieß. Die beiden glatten Steine sind dazu da, Teile eines Beutetiers zu zermalmen und mürbe zu machen.« »Also wieder Vermittlung von Wissen?«, fragte Laura. »Richtig.« Gina schnippte mit den Fingern. An dem im Licht der Spätnachmittagssonne liegenden staubigen Fluss ufer herrschte geschäftiges Treiben. Laura wirbelte der Kopf, als sich die 499
Szene veränderte, aber diesmal hielt sie sich sicher auf den Beinen. Homo sapiens schlurfte von einem Ort zum anderen. Sie waren alle klein und untersetzt und vom Alter oder von Verletzungen gebeugt. Schmutzige Kinder balgten sich im Gras abseits eines mit Felsbrocken übersäten La gers. Ein Feuer brannte, sein Rauch stieg über der trägen Flut des Flusses auf. Gutturale Geräusche und Grunzer am Rande des Lagers erregten ihre Aufmerksamkeit. Es waren wütende Geräusche, wie von zwei Tieren, die im Begriff sind, miteinander zu kämpfen. Aber als sich die eine Gestalt vorbeugte und die andere hinter sie trat, begriff Laura, dass es sich kei neswegs um einen Kampf handelte. In wenigen Sekunden war alles vorbei, der Mann wanderte davon, und die Frau nahm auf allen Vieren ihre vorhe rige Beschäftigung wieder auf, ohne auch nur die Stellung zu verändern. »Romantisch, wie?«, sagte Gina. »Ich dachte, ein kleines sexuelles In termezzo würde der Tour zusätzliche Würze verleihen. Immerhin«, sagte sie herablassend, »Feuer und komplexe Ausdrucksmöglichkeiten – vor einer Million Jahren.« Sie hob die Finger wieder in die Luft. »Veränderst du so die Szene?«, fragte Laura, hob ihrerseits die Finger und schnippte. »Das Fingerschnippen bringt überhaupt nichts«, sagte Gina hilfreich. »Weshalb tust du es dann?« Gina zuckte die Schultern. »Ich habe nur das Gefühl, irgendetwas tun zu müssen.« Sie schnippte mit den Fingern, und das leise Knistern von den Wänden verkündete ihre Ankunft bei der nächsten Station. Männer und Frauen lungerten herum, völlig nackt und unglaublich schmutzig. Sie sahen alt aus – ihre Haut war vom Wetter gegerbt und ledrig – und abgezehrt wie Flüchtlinge, die unter extremen Bedingungen in einen Zustand geraten waren, der das Überleben fast unmöglich machte. »Das ist die Familie ›Jones‹«, sagte Gina. »Opa, Oma, Mama, Papa, die kleine Susie und der kleine Johnny. Die Kernfamilie.« Alle wirkten so krank und hungrig, dass sie sich kaum bewegen konnten. Sie lagen in oder nahe bei ihren Exkrementen, und der Gestank war übel keiterregend. 500
»Sterben sie?« »Sicherlich. Genau wie all ihre Zeitgenossen. Sie sterben an allen nur denkbaren Krankheiten. Sehen Sie sich diese Frau hier genauer an.« Laura folgte Gina, wobei sie vorsichtig den menschlichen Wracks und den von Maden wimmernden Tierkadavern auswich. Die alte Frau, neben der Gina stehen blieb, lag mit geschlossenen Augen und mit auf seltsame Art zu sammengepressten Lippen auf dem Rücken. Laura stöhnte leise, als sie die Schwären auf ihrem Gesicht und ihren Händen sah. »Ist das Oma?«, fragte sie dann mit wissenschaftlicher Gelassenheit. »Ja.« Die Person hatte langes, strähniges Haar von der Farbe schmutzi gen Unkrauts. Über ihre rötlichen Wangen zogen sich Streifen, aber Laura konnte nicht sagen, ob es Schmutz oder Narben waren. Die Frau versuchte wohl zu schlafen, obwohl es Mittag zu sein schien. Eine große schwarze Fliege surrte um ihr Gesicht, und sie hob so schnell eine Hand, dass Laura klar wurde, dass sie nicht schlief, sondern nur ausruhte. Sie scheuchte die Fliege weg, und als sie es tat, öffnete sich ihr Mund. Sie war praktisch zahnlos – in ihrem Mund gab es nur noch verfault aussehende gelbe und braune Stummel. »Was meinen Sie, Laura, wie lange mag das her sein?« »Ich weiß nicht. Fünfhunderttausend vor Christus?« »Aber nein!«, rief Gina, als befänden sie sich in einer Game-Show. »Falsch! Vor zehntausend Jahren. Achttausend vor Christus.« »Soll das ein Witz sein?«, fragte Laura. Die Geschöpfe sahen aus, als gehörten sie einer anderen Spezies an. »Nein. Das sind ganz normale menschliche Wesen. In den ungefähr zehntausend Jahren, die von damals bis heute vergangen sind, hat prak tisch keine biologische Evolution stattgefunden. Nehmen Sie eines dieser Kinder, ziehen Sie es von Geburt an in einem gutbürgerlichen amerikani schen Haushalt auf, und ich wette mit Ihnen drei gegen zwei, dass es auf dem ganzen Weg bis zum College-Abschluss nur Zweien im Zeugnis hat.« »Meine Güte!«, sagte Laura. »Erstaunlich. Du willst also sagen, dass al les von der Umwelt und nichts von der Erbmasse abhängt?« »Wir wollen unsere Daten nicht mit unseren Schlussfolgerungen ver mengen. Alles, was ich sage, ist, dass diese Geschöpfe hier menschlich 501
sind, in jeder Beziehung außer einer. Sie sind biologisch genau so hoch entwickelt wie Sie.« Laura starrte voller Abscheu auf die grauenhaften Gestalten. »Sehen Sie sich diese hier noch einmal an«, sagte Gina, mit einem Kopfnicken auf die Großmutter zu ihren Füßen deutend. »Sie wird in sechs Monaten sterben. Sie hat die Krätze. Ihr Körpergewicht nimmt ab, und die Grippe wird ihr im Winter den Rest geben.« Die Fliege krabbelte der Frau in die Nase. Sie schüttelte ruckartig den Kopf und öffnete die Augen. Sie waren blau und kamen Laura bekannt vor. Die Züge der Frau waren die von… Laura. Diese Frau war Laura! »Sie ist genau so alt wie Sie – vierunddreißig.« »Du hast kein Recht, das zu tun«, sagte Laura und wendete sich von dem erschreckenden Anblick ab. »Es ist eine Simulation«, sagte Gina, ihr Schritt für Schritt folgend. »Tut mir Leid.« »Und was soll das?«, fuhr Laura sie an. »Ich kenne die Story. Aristote les, Galilei, die Renaissance. Was ist denn bloß so supergeheim und er leuchtend, dass du es mir unbedingt in dieser Workstation zeigen muss test?« »Diese Leute«, sagte Gina, mit einem Kopfnicken auf die schlafende Gruppe deutend, »haben Hardware, die Ihrer eigenen und der aller Leute, die Sie kennen, entspricht. Was nicht heißt, dass es auch damals schon – wie heute – keine intelligenten und dämlichen Leute gegeben hätte. Aber das grundlegende Niveau der biologischen Evolution hat sich inzwischen in keiner Weise verändert.« »Okay, verstanden. Ich meine, ich habe das gewusst.« »Sie haben es als akademische Tatsache gewusst. Aber die Tatsache steckte nicht in Ihrem aktiven Gedächtnis. Sie haben nicht sonderlich lange oder nicht sonderlich intensiv über deren Implikationen nachge dacht.« »Kannst du mir nicht einfach – ohne Besuch bei Gutenbergs Drucker presse – erklären, welche Implikationen das sind?« »Die biologische Evolution hat aufgehört, wichtig zu sein.« Laura sah Gina an, dann zuckte sie die Schultern. »Ich habe diese Theo rien gelesen. Einige von ihnen sind sehr interessant.« 502
»Das sind keine Theorien, das sind Tatsachen. Die biologische Evolution hat aufgehört, wichtig zu sein, weil die kulturelle Evolution geradezu explodiert ist! Es ist interessant, dass Sie Gutenberg erwähnten. Seit den Anfängen der Druckkunst haben die beweglichen Lettern die Verbreitung und die Speicherung von Informationen beschleunigt. Denken Sie einmal darüber nach! Wir sind Millionen Jahre zurückgegangen, und die Ge schöpfe waren keine Homo sapiens, aber ihre Gehirne – ihre informati onsverarbeitende Hardware – besaßen ungefähr neunzig Prozent der Leis tungsfähigkeit, die sie heute haben. Diese Homo sapiens hier« – sie zeigte auf sie – »sind unsere biologischen Äquivalente. Während sich die Biolo gie zentimeterweise voranschiebt, explodiert die Kultur! Die Informations level schießen in die Höhe! Das Wissen wächst.« »Okay«, sagte Laura. »War das alles?« »Aber begreifen Sie denn nicht?«, fragte Gina. »Vor hundert Jahren wurden die ersten brauchbaren Rechenmaschinen entwickelt. Seither ist die Leistungsfähigkeit dieser Maschinen alle zwanzig Jahre um das Tau sendfache gewachsen.« Gina ergriff Lauras Arm, sodass sie einander von Angesicht zu Angesicht gegenüber standen. »Im Laufe der nächsten zwan zig Jahre wird sie um das Millionenfache wachsen. Und in den zwanzig Jahren danach – um das Milliardenfache.« Gina war aufgeregt, und in ihrem Verhalten zeigte sich eine große Dringlichkeit. Laura versuchte sich vorzustellen, wie die Welt mit all dieser billigen Computerkraft aussehen würde. Sie versuchte, die Bilder jener Veränderungen zu imaginieren, die sie mit sich bringen würde und die ihrer Begleiterin so wichtig zu sein schienen. Gewiss würden sie fun damentaler sein als nur bessere Videospiele, höher auflösendes Fernsehen und schnellere Computer. Es würde bedeuten, dass Dinge wie Grays VR-Workstations aus dem Boden schossen. Es würde bedeuten, dass Roboter wie die von Gray die Erde bevölkern könnten. Laura sah Gina an, und ihre Führerin zog die Brauen hoch. »Haben Sie jetzt begriffen, Laura?« Sie erwiderte nichts. Ihr Kopf füllte sich mit Bildern. Bildern von Grays Technologie, auf die Welt losgelassen. Automation würde die Produktivi 503
tät steigern und Arbeitswochen verkürzen. Menschen würden ein Leben führen, das immer stärker von Freizeit als von Arbeit geprägt sein könnte. »Noch eine weitere Station«, sagte Gina, mit den Fingern schnippend. Sie standen in einer Welt mit einem roten Himmel und einem purpurnen Horizont. Die Erde war schwach beleuchtet und rostfarben. Vor ihnen ein niedriges, rechtwinkliges Metallgebäude, das sich in seiner Größe nicht sehr von einer ganz normalen menschlichen Behausung unterschied, aber an allen Seiten mit langen Drähten fest verankert war. Die Drähte erstreck ten sich bis zu schweren, weit von den Seiten des eingeschossigen Gebäu des entfernten Betonfundamenten. Unmittelbar außerhalb dessen, was Laura für ein »Haus« hielt, stand eine Frau. Sie trug einen Overall aus leichtem Gewebe, dessen Farbe Laura in der merkwürdigen Beleuchtung nicht bestimmen konnte. Die Frau schaute zu dem purpurfarbenen Horizont. In der anderen Richtung war der Him mel gelblich-orange. Gina ging auf das Haus zu, und Laura folgte ihr. Die Frau vor ihnen trug eine Art Atemgerät, das nur ihren Mund bedeck te. »Mutter!«, hörte Laura eine Stimme; ein Junge mit einer Pistole kletterte auf einen mindestens hundert Meter entfernten Felsvorsprung. Trotz der Entfernung war seine Stimme laut und klar. »Ja?«, sagte die Frau, und Laura griff sofort nach Ginas Arm. Die meis ten Leute erkennen den Ton ihrer eigenen Stimme nicht, aber Laura hatte genug ihrer Vorlesungen auf Band gesprochen, um sicher zu sein. »Noch einer von meinen Klonen?«, fragte Laura wütend. »Laura in eini gen tausend Jahren von heute an gerechnet?« Gina zuckte mit einem entschuldigenden Ausdruck die Schultern. »John und ich möchten drüben beim Aquädukt spielen. Wir bleiben in der Nähe.« So weit Laura das erkennen konnte, trug der Junge kein Atem gerät. Sowohl er als auch seine Mutter sprachen mit amerikanischem Ak zent. Nicht sehr einfallsreich, dachte Laura. Die Sprache würde sich doch bestimmt im Laufe der Jahrtausende verändern, aber selbst wenn sie es nicht tat, würden Akzente, Satzbau und Vokabular es tun. 504
»Dazu ist keine Zeit mehr«, sagte der Laura-Klon. »Da.« Sie deutete auf den purpurnen Horizont. »Oh, Mom!« »Es ist Zeit, hereinkommen, Joseph!« Laura sah Gina an. Die junge Frau lächelte ein wenig gequält und zuckte wieder die Schultern. »Oder muss ich erst deinem Vater Bescheid sagen?«, fragte die Frau, ohne die Stimme zu erheben. Sie hörten es mühelos alle – Gina, Laura und der kleine Junge. Der Junge hob seine Waffe und richtete sie auf den Laura-Klon. Fast hätte Laura der alten Frau fast eine Warnung zugerufen, aber der Junge schoss nicht. Stattdessen brach aus den Felsen ein Streifen gelben Lichts hervor und tauchte sein Hemd in ein helles Licht; ein lautes elektronisches Zirpen ertönte. Der Junge drehte sich schnell herum und feuerte auf die Lichtquelle in den Felsen. Es schien eine Art Spiel, und der Junge sprang von dem Felsvorsprung herunter, um mitzumachen. Je näher Laura und Gina dem Laura-Klon kamen, desto älter wirkte die Frau. Sie hatte graues, hinter dem Kopf zusammengebundenes Haar. Auf dem Boden kniend zog sie irgendwelche Knollen heraus – irgendein Ge müse. Die Menschen hatten sich vielleicht nicht weiterentwickelt, aber Laura hatte den Eindruck, dass Steckrüben eine Mutation durchgemacht hatten. Die Frau schaute abermals zum Horizont auf. Am Himmel wirbel ten Purpur- und Rottöne durcheinander. Es war ein herrlicher Anblick, aber Laura interessierte sich mehr für die Frau als für die Landschaft. Für die Vorstellung des Computers davon, wie eine alte Laura aussehen wür de. »Also«, sagte Gina, »was halten Sie davon?« Laura hob die Schultern. »Alles in allem weiß ich die Schmeichelei zu schätzen. Ich bin eine gut aussehende alte Dame.« »Ich meine, was Sie von der Rundreise halten?« »Ich habe den Eindruck, du hast zu viel Kurt Vonnegut auf CD-ROM gesehen.« »Das ist alles? Keine Schlussfolgerungen, die Sie mir mitteilen könn ten?« »Also, lass mich überlegen. Vor ein paar Millionen Jahren wurden die 505
Leute nicht älter als Mitte dreißig, weil sie so dämlich waren wie Holz klötze. Ein paar tausend Jahre in die Zukunft werden wir nach gewaltigen Fortschritten in Ernährung und plastischer Chirurgie alle bis in die Achtzi ger hinein gesund und glücklich und attraktiv sein.« »Sie ist über hundertdreißig«, sagte Gina, mit einem Kopfnicken auf die Frau deutend. »Hundertdreißig, tausenddreißig oder was auch immer, ich habe kapiert. Wissen ist gut.« Gina neigte den Kopf zur Seite und zog betrübt die Stirn in Falten. »Oh, schade, Laura. Sie haben überhaupt nichts begriffen. Sie sind einfach noch nicht so weit. Georgi kommt den Korridor herunter, also werde ich mich jetzt verabschieden.« Sie hob die Hand und winkte. »Nein, warte!« Die Szene verschwand, die letzten Spuren der anmutigen jungen Frau wichen ins Nichts der schwarzen Wände zurück – nur ihre Finger winkten noch zum Abschied.
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17. KAPITEL »Es war einfach unglaublich!«, sagte Laura zu Filatov. Er beugte sich gleich vor der Workstation mit grimmigem Gesichtsausdruck über einen Monitor. »Die Welt war dermaßen realistisch, dass ich vollständig verges sen hatte, wo ich war. Das alles eröffnet phantastische Möglichkeiten. Die Begleiterin könnte Medizinstudenten zeigen, wie die Aorta funktioniert, indem sie sie in ein lebensgroßes Modell des Herzens versetzt.« »Welche Begleiterin?«, fragte Filatov verwirrt. »Die junge Frau, die im Cyberspace als Führerin dient.« »Ich weiß nicht, wovon Sie reden«, sagte Filatov, sich aufrichtend. »A ber lassen Sie sich nicht hinreißen. Diese Dinger sind noch lange nicht reif für den Hausgebrauch. Diese eine kleine Simulation für Sie hat ungefähr dreizehn Millionen Dollar an Computerzeit gekostet.« »Wie bitte?« »Ich hoffe, Sie haben sie genossen, weil wir, seit es die 4 Cs gibt, nicht mehr als ein Dutzend Klasse Eins-Simulationen durchgeführt haben. Die Rechenkapazität ist einfach zu teuer.« »Aber… was ist, wenn die Kosten um das Milliardenfache sinken? Dann würden die dreizehn Millionen Dollar auf… was sinken? Einen einzigen Penny!« »Wovon reden Sie da?«, knurrte Filatov, an ihr vorbei auf die Tür zu strebend. Laura folgte ihm. »Der Computer hat gesagt, dass die Rechnerkapazität in der nächsten Generation um das Millionfache wachsen wird und in der Generation danach um das Milliardenfache.« »Ach!«, stöhnte Filatov und tat ihre Bemerkung mit einer gereizten Handbewegung ab. »Woher zum Teufel will er das denn wissen?« Als sie den Kontrollraum erreicht hatten, sah Laura, dass alle Techniker in kleinen Gruppen zusammenstanden. Es sah ganz danach aus, als hätten sie ihre Arbeit im reibungslos funktionierenden Computerzentrum zu einer allgemeinen Kaffeepause unterbrochen. »Was geht hier vor?«, fragte Laura. 507
»Sie haben Angst«, sagte Filatov. »Wovor?« »Vor Hoblenz.« »Weshalb?« »Er hat bekannt gegeben, er hätte einen meiner Operatoren bei einem Sabotageakt erwischt«, entgegnete Filatov und richtete die müden Augen auf Laura. »Der Mann hat versucht, eine Bildplatte auf ein Laufwerk zu laden. Die Platte ist voll mit Codes für irgendeine ausländische Macht, eine Regierung oder einen Konzern, genaueres wissen wir nicht. Hoblenz glaubt, er hätte gerade die Ursache all unserer Probleme gefunden, und jetzt verdächtigt er meine sämtlichen Mitarbeiter und sogar mich.« »Glauben Sie, dass der Operator für die Probleme verantwortlich ist?« Filatov schüttelte den Kopf. »Nein. Aber er hätte noch mehr Schaden anrichten können, wenn er nicht erwischt worden wäre.« »Was sagt Mr Gray dazu?« »Hoblenz hat ihn noch nicht angerufen. Er will erst mehr herausfinden, bevor er ihm Bericht erstattet.« »Was heißt das?«, fragte Laura. »Wo hat er den Mann hingebracht?« »In den Konferenzraum.« »Und das haben Sie zugelassen?«, empörte sie sich. »Dass Hoblenz mit diesem Mann allein ist?« Laura rannte die ganze Strecke bis zum Konferenzraum und schlug dort auf die Druckplatte an der Wand. Sie wäre fast mit der Nase gegen die Tür geprallt, als diese sich nicht öffnete. Sie drückte noch einmal auf die Platte – diesmal kräftiger. Nichts. Laura begann an die Tür zu hämmern. »Hoblenz! Lassen Sie mich rein!« Sie hämmerte so lange, bis sie schließlich von drinnen etwas hörte. »Gehen Sie zurück, Laura!«, kam ein gedämpfter Ruf. »Weg von der Tür, den Korridor hinunter!« »Okay!«, erwiderte sie und trat zurück. Angesichts der Tatsache, dass sie es mit Hoblenz zu tun hatte, überlegte sie es sich anders und wich noch ein ganzes Stück weiter in den Korridor zurück. Mit lautem Knall riss eine Detonation die Wand neben der Tür auf. Die Überreste der Druckplatte wurden auf den Boden geschleudert. Zwei Sol 508
daten hebelten die Tür auf und schoben sie in die Wand. Der beißende Gestank von der Granate hing noch in der Luft, als Laura vorsichtig in den Raum hineinschaute. Einer von Hoblenz’ Männern sicherte gerade mit einem hörbaren Kli cken seine noch rauchende Waffe. Außer ihm waren ungefähr ein halbes Dutzend weiterer Soldaten anwesend, alle schwer bewaffnet. Hoblenz stand neben dem Konferenztisch und hielt mit einer Hand eine Pistole an die Nase eines Mannes im weißen Kittel; mit der anderen hatte er ein di ckes Büschel seiner Haare gepackt. Aber seine Augen waren auf die Szene an der Tür gerichtet.
»Was tun Sie hier, verdammt nochmal?«, fragte Laura.
Hoblenz wirkte besorgt. »Haben wir irgendein Stromproblem mit diesen
Türen?«, fragte er, ohne auf ihre Frage einzugehen. Laura drehte sich um und sah, dass Filatov direkt hinter ihr stand. Er starrte den Gefangenen an – seinen bisherigen Mitarbeiter. »Mr Hoblenz«, begann Laura. »Ich glaube nicht…« »Funktioniert der verdammte Strom da draußen?«, brüllte Hoblenz. »Ja!«, antwortete Filatov. »Wir hatten keinerlei Stromprobleme.« Hoblenz ließ den Kopf des Gefangenen los. Blut rann über dessen Ober lippe, und eines seiner Brillengläser war gesprungen. Er war sehr blass, und sein Haar stand dort, wo der große Mann ihn gepackt hatte, zu Berge. Hoblenz kam herbei und betrachtete das Loch in der Wand. »Verdammt«, sagte er verblüfft.
»Was ist?«, fragte Laura.
»Die Tür hat nicht funktioniert. Sie ließ sich nicht einmal manuell öff
nen.« »Sie hatten sie nicht abgeschlossen?«, fragte Laura. »Nein! Man kann sie nicht abschließen! Diese Türen lassen sich nicht abschließen!« »Aber warum…?«, begann sie, doch dann hatte sie sofort die Antwort auf ihre halb gestellte Frage. Der Computer. Es war die einzige Erklärung. Hoblenz sah sie an, offensichtlich dasselbe denkend. »Weshalb sollte der Computer die Tür zusperren?« 509
»Vermutlich wollte er wissen, was dieser Scheißkerl da drüben zu sagen hatte.« Laura betrachtete den Mann. »Sind Sie okay?«, fragte sie ihn. Er sah mitgenommen aus, nickte aber. »Nun hören Sie mal, Dr. Aldridge! Was haben Sie denn gedacht? Dass ich den Kerl umbringen würde?« »Immerhin haben Sie ihn geschlagen!« »Ach was! Ich werde jeden zweiten Abend zu wesentlich schlimmeren Keilereien zwischen meinen eigenen Männern gerufen.« »Was geht hier vor?«, hörten sie rufen, und alle wandten sich der Tür zu, wo Gray stand. »Wir haben diesen Scheißkerl dabei erwischt, wie er versucht hat, eine Bildplatte auf ein Laufwerk zu laden«, sagte Hoblenz, hob die Platte auf und warf sie Gray zu. »Es sind Kontrollcodes darauf.« Gray trat zu dem Mann. »Stimmt das?«, fragte er leise. Der Mann senkte den Blick, dann nickte er. »Warum? Für wen arbeiten Sie?« »Für die CIA«, sagte Hoblenz. »Das war jedenfalls die Version, die er geliefert hat, bevor die gute Dr. Aldridge hier erschienen ist. Und das ist das Verrückteste an der ganzen Sache. Wir haben gehört, wie sie an die Tür gehämmert hat wie die Gestapo, aber als wir auf die Platte drückten, wollte das verdammte Ding nicht aufgehen. Wir mussten Plan B anwen den – Sprengung.« »Hat es einen Stromausfall gegeben?« »Nein«, sagte Hoblenz. »Und die pneumatischen Druckkammern waren so voll wie die Blase eines Iren.« »Ich wollte Hoblenz nicht beim Foltern seines Gefangenen stören«, sagte Laura. »Ich habe ihn nicht gefoltert! Ich habe ihn nur ein bisschen intensiver verhört.« »Setzen Sie diesen Mann mit den anderen ins Flugzeug«, befahl Gray. Hoblenz schien empört. »Wenn es landet, wird sich die CIA sofort auf ihn stürzen.« »Das ist mir egal. Ich will ihn aus dem Weg haben. Die letzte Maschine startet in einer Stunde.« Er sah Laura an. »Janet hat Ihre Sachen gepackt. 510
Draußen steht ein Wagen mit Ihrem Koffer. Ich hoffe, Sie haben nichts dagegen?« »Wogegen?« »Ich bitte Sie, gleichfalls zu gehen, Laura.« »Gehen? Wohin?« »Ich evakuiere alle Leute. Unten am Flugplatz stehen drei Jumbo-Jets. Es tut mir Leid, aber Sie müssen von hier fort.« »Verschwinden Sie auch?« »Nein, aber Sie werden es tun.« »Wer bleibt sonst noch?« »Nur ich, die Sicherheitsleute, meine leitenden Angestellten und noch ein paar weitere Mitarbeiter. Alle anderen müssen fort.« »Alle unwichtigen Leute, meinen Sie?« Sie spürte, wie ihr in einer Mi schung aus Zorn und Bestürzung die Röte ins Gesicht stieg. Hoblenz und die anderen standen verlegen schweigend herum. »Weshalb der plötzliche Sinneswandel?«, fragte sie, den Schmerz, den sie fühlte, hinter einem bitteren Lächeln verbergend. »Gestern haben Sie noch massenweise Leute hierher geholt, Joseph. Heute schicken Sie sie alle wieder weg! Ein biss chen verrückt, meinen Sie nicht?« »Bitte, Laura, gehen Sie einfach.« »Dann sagen Sie mir wenigstens, weshalb ich von dieser gottverdamm ten Insel verscheucht werde!« »Es ist hier nicht sicher.« Sogar der Gefangene schien sich für die Konfrontation zu interessieren. »Ich habe verstanden«, sagte sie kopfnickend. Sie biss sich auf die Lippe, um einem Zittern zuvorzukommen. Gray schwieg. »Lieber Himmel! Natürlich reise ich ab! Ich verstehe nicht, wa rum ich das nicht gleich am ersten Tag getan habe!« Sie stürmte vorbei an Gray, Filatov und den Soldaten aus dem Konfe renzraum. Ihr Gesicht glühte und sie fühlte sich gedemütigt. Tränen traten ihr in die Augen, was sie noch wütender machte. Gott sei Dank war der Kontrollraum bereits leer. Laura blieb vor einer Konsole stehen, um sich rasch von dem Computer zu verabschieden. Doch da war keine Tastatur, nur eine Reihe von Knöp 511
fen und Trackballs und ein Kopfhörer mit einer für das rechte Auge herab hängenden klaren Linse. Der Bildschirm zeigte eine verwirrende Vielzahl unbegreiflicher Fenster. Laura gab es auf und ging hinaus. Sie fühlte sich schlecht, weil sie nicht angestrengter versucht hatte, ein Terminal zu fin den. Ihr war nicht bewusst gewesen, wie spät es war: Draußen war es schon fast dunkel. Die Tür eines Wagens öffnete sich mit einem Zischen. Ihr Koffer lag auf dem Rücksitz. »Zum Scheißflugplatz!«, sagte sie wütend, sobald sie drinnen saß, und der Wagen fuhr los. Das Dorf war völlig men schenleer. Die Sonne ging unter; alle, die auf der Insel geblieben waren, hielten sich jetzt in den Gebäuden auf. Nicht einmal ein Dankeschön, dachte Laura bitter. Kein »gute Arbeit«. Überhaupt nichts! Der Wagen ließ das Dorf hinter sich und bog auf die kurvenreiche Stra ße, die durch den Dschungel zum Flugplatz führte. Laura fragte sich, ob sie die Insel je Wiedersehen würde. Diese Welt wird vielleicht nicht mehr lange existieren, wenn der Rest der Erde seinen Willen durchsetzt. Ob sie Gray zum letzten Mal gesehen hatte? Sie zuckte zusammen, als sie für einen Sekundenbruchteil vor der Wind schutzscheibe ein Spinnenbein wahrnahm. Dann gab es eine Explosion und der Wagen flog durch die Luft. Das Kreischen und Reißen von Metall und das heftige Schleudern ihres Körpers gegen den Sicherheitsgurt schie nen kein Ende zu nehmen. Sie erwartete hilflos das Ende… Alles war still. Laura hob den Kopf. Sie hatte in einem Wagen gesessen, der einen Unfall gehabt hatte, erinnerte sie sich. Langsam kam sie wieder zu sich. Der Wagen lag auf der Seite, und sie war immer noch ange schnallt. Draußen war es fast finster. Als sie sich bewegte, verspürte sie kaum Schmerzen, sondern nur Be nommenheit. Durch die gesplitterte, aber noch weitgehend intakte Wind schutzscheibe flackerte Licht. Die Bäume vor ihr wurden im Takt der blinkenden Scheinwerfer des Wagens erhellt. Sie löste ihren Sicherheits gurt und mühte sich langsam aus dem Wrack. Die zerbrochenen Schein werfer blinkten weiter, als sie sich gegen das Chassis lehnte, um wieder 512
ein sicheres Gefühl in die Beine zu bekommen. Da war etwas im Gleißen der Scheinwerfer. Auf der Erde, direkt neben der Straße, lag ein großer, verbeulter Klumpen aus grauem Metall. Das stetig ansteigende Dröhnen der Düsentriebwerke eines startenden Großflugzeugs zerriss die surreale Stille der Unfallszene. Laura sah, wie sich das Flugzeug über den Baumkronen in die Luft erhob und wie sich die roten und grünen Positionslichter vor dem dunklen Himmel abzeichne ten. Sie fragte sich, wie lange sie bewusstlos gewesen war. Ein zweiter Jet startete, kurz danach ein dritter – er beförderte die meisten von Grays Mitarbeitern von der Insel. Lauras Koffer lag neben ihr auf der Erde. Sie hob ihn auf und stand benommen da. Wieder war alles still bis auf das Klicken der blinkenden Scheinwerfer. Ohne zu wissen, was sie tat oder wie lange der Moment gedauert hatte, wurde ihr plötzlich bewusst, dass sie den Metallklumpen im Licht der Scheinwerfer anstarrte. Die Größe des Gegenstandes verriet ihr, dass es kein abgebrochenes Teil des Elektrowa gens sein konnte. Dazu war es zu groß. Sie ging mit dem Koffer in der Hand auf das verbeulte Metall zu. Auf dem Boden neben dem Hauptteil lag ein Spinnenbein. Es schien noch mit ihm verbunden zu sein. Plötzlich bewegte sich das Bein, und Laura sprang zurück. Aus einiger Entfernung beobachtete sie, wie das Bein in einem langsamen, unbeholfe nen Bogen durch die Luft schwenkte. Seine Bewegung wurde durch das Blinken der Scheinwerfer wie in einer Folge von Standfotos nachgezeich net. Das Bein setzte auf die Erde und kippte den verstümmelten mechani schen Körper mühsam auf die Seite. Es war ein Siebener-Modell – nur eines der vier Beine war noch mit dem Körper verbunden. Sein »Kopf« starrte zu Laura empor. Sie ging zu ihm, kniete nieder und legte ihre Hand auf das glatte Metall. Es war verbeult und zerschlagen und wies große Risswunden auf. Kabel baumelten lose herab. Kostbare Flüssigkeit tropfte auf den Boden, und wo sie hinfiel, stiegen zischend Rauchwölkchen auf. Das lange Bein des Roboters begann sich abermals zu bewegen. Diesmal erhob es sich über Laura in die Luft. Sie ließ das spinnenartige Gebilde, das sich langsam auf sie herabsenkte, nicht aus den Augen. Im Blinklicht 513
der Scheinwerfer erhaschte sie nur Schnappschüsse von der Bewegung des Beins, und die Beleuchtung war zu lückenhaft, als dass sie das Ziel des Beins hätte ausmachen können. Trotzdem hatte Laura keine Angst; die Bewegung war zu langsam, zu schwach. Das Ende des Beins wurde in den Werkzeuggürtel gesteckt, den der Roboter um die Taille trug. Als das Bein wieder zum Vorschein kam, schien es nichts gefunden zu haben. Dann steckte es der Roboter in eine andere Öffnung und zog eine dreifingrige Hand heraus. Die defekten Scheinwerfer blinkten jetzt rhythmisch. Dreimal kurz, dreimal lang, dann wieder dreimal kurz. Morsezeichen – und sofort überlief Laura ein Schaudern. Sie erinnerte sich an einen Film über ein sinkendes Passagierschiff, den sie vor langer Zeit gesehen hatte. Punkt-Punkt-Punkt, Strich-Strich-Strich, Punkt-PunktPunkt – »SOS«. Es war der Notruf, und er galt ihr. Die Hand des Siebener-Modells schwankte und zitterte; sie tastete nach einer Platte an seinem Körper. Schließlich schaffte sie es mit zunehmend spastischen Bewegungen, den Zugang zu einer Öffnung freizulegen. Drin nen sah Laura einen großen Kippschalter. Sie beugte sich vor. »Haupt schalter« stand in Rot darüber, und in dem schwarzen Dreieck unmittelbar darunter war deutlich ein rotes Ausrufezeichen zu erkennen. Durch den Schalter führte ein dünnes Kabel, das verhinderte, dass der Schalter verse hentlich umgelegt werden konnte. Der Roboter verfiel in Zuckungen – sein Arm schlug über ihrem Kopf durch die Luft, nicht gefährlich, sondern qualvoll. Laura griff in den Kas ten nach dem Schalter und legte ihn mit aller Kraft um. Mit einem »Pop« gab der Widerstand des Kabels nach. Das Roboterbein sank auf den Boden neben ihr, und die tödlich verwundete Maschine rühr te sich nicht mehr. Die Scheinwerfer des Wagens leuchteten jetzt stetig; Laura musste die Augen zusammenkneifen, um hinschauen zu können. Einen Augenblick später erloschen sie, und ein leiser Elektromotor in dem Wagen schaltete sich aus. Alles war jetzt still auf dem schmalen Fußweg zwischen der Bordsteinkante und der Dschungelwand. Das dichte, dunkle Unterholz schien von allen Seiten auf sie einzudrängen. 514
Laura blickte auf der leeren Straße in beide Richtungen; wachsende Angst beschleunigte ihren Herzschlag. Sie ergriff ihren Koffer und begann rasch auf das Dorf zuzuwandern, wobei sie den Kopf ständig abwechselnd nach beiden Seiten und nach hinten drehte. Der schwarze Dschungelsaum bildete keine drei Meter vom Straßenrand eine massive Wand. Unter den Lichtern auf der Straße vor ihr bewegte sich etwas. Laura konn te Leute am Rande des Dorfes sehen. Sie wollte rufen, aber dann wurde ihr klar, dass sie noch zu weit entfernt waren, um sie hören zu können. Sie begann zu laufen – aus Angst, die Personen könnten verschwinden, bevor sie sie erreicht hatte. Der Inhalt ihres Koffers klapperte bei jedem Schritt hügelabwärts. Eine undeutliche Bewegung im Augenwinkel – und dann traf Laura ein heftiger Schlag, der sie auf das Gras neben der Straße warf. Sie schaute hoch auf einen rundlichen Metallkopf mit einem starren Auge und schrie. Eine Hand legte sich auf ihren Mund. »Um Himmels willen, Lady«, flüs terte ein Mann. »Still. Vor uns sind Roboter.« Man konnte die Angst in seiner Stimme hören. Nach einem Moment nahm er seine Hand wieder von ihrem Mund. Er trug einen Stahlhelm und eine Nachtsichtbrille mit einem einzigen großen Glas. Das Zyklopenauge war hügelabwärts auf das Dorf gerichtet. »Wer sind Sie?« »U.S.Navy. Kommen Sie mit.« Sie folgte dem Mann in den Dschungel. Dort warteten weitere Soldaten. »Zwei im Dschungel rechts«, flüsterte jemand. Die Worte waren nicht an Laura gerichtet. »Einer auf der Lichtung, der vierte im Ort. Sieht aus, als suchten sie nach etwas.« »Im Ort?«, fragte Laura. »Im Dorf? Es sind Roboter im Dorf?« »Wer sind Sie überhaupt?«, kam eine flüsternde Stimme aus der Dun kelheit. »Laura Aldridge. Dr. Laura Aldridge.« »Können Sie sich um einen meiner Männer kümmern?«, fragte der Sol dat. »Hat er psychische Probleme?« 515
»Wie bitte?« »Ich bin Psychologin.« Aus der Dunkelheit kam gequältes Stöhnen. »Was hat er?«, fragte Laura. »Er ist von einem dieser verdammten Roboter fast auseinander gerissen worden.« »Ein Roboter hat ihn verletzt?« Es folgte eine Pause. »Leben Sie auf dem Mond, Lady?« »Jetzt sind sie alle im Dschungel«, meldete die monotone Stimme des Wache haltenden Soldaten. »Okay, sehen wir zu, dass wir zum Strand zurückkommen.« Laura spürte eine Hand auf ihrem Arm. »Was? Ich komme nicht mit.« »Lady, da sind massenhaft Roboter, die…« Aus einiger Entfernung kam ein lauter Knall, kurz darauf ein Geräusch wie von Knallfröschen. Dann folgte eine weitere Explosion und noch eine und noch eine. »Los, gehen wir!« Die Soldaten verließen den Dschungel und gingen in Richtung Flugplatz. Laura riss sich los und rannte auf das Dorf zu; ihren Koffer ließ sie am Straßenrand stehen. »Hey!«, hörte sie hinter sich und dann das Geräusch eines Mannes, der ihr nachrannte. Laura sprintete den Hügel hinunter, so schnell sie konnte. »Chief! Geben Sie’s auf!«, rief jemand. Nach ein paar Augenblicken warf Laura einen Blick über die Schulter. Sie war völlig allein und verlangsamte ihr Tempo. Die Nacht war wieder still. Die Kampfgeräusche waren verstummt. Sie waren von irgendwo hinter dem Berg gekommen – aus dem Leeren Vier tel. Die Straßen des Dorfes lagen jetzt direkt vor ihr. Roboter waren nir gends zu sehen. Im Dschungel links neben ihr bewegte sich etwas. Dann kam ein anderes Geräusch – sehr bedächtig, wie ein zum Sprung ansetzendes Tier. Laura spürte, wie Panik sie ergriff. Sie begann wieder zu laufen, starrte über ihre linke Schulter in den dunklen Dschungel und versuchte abzuschätzen, wie lange sie bis zur relativen Sicherheit der Straßenlaternen brauchen würde. Als sie wieder nach vorn blickte, sah sie, dass ihr ein Achter-Modell den 516
Weg versperrte. Sie blieb wie angewurzelt stehen. Das Monstrum stand keine vierzig Meter entfernt zwischen zwei Straßenlaternen völlig reglos da – aber er hielt etwas in seiner rechten Hand. Laura spürte, wie jede ihrer Bewegungen registriert wurde. Die Roboter befanden sich im Krieg. Sie würden nervös sein. Verängstigt. Wütend. In mörderischer Stimmung. So methodisch wie sie nur konnte hob Laura die offene rechte Hand. Es war eine internationale Friedens- und Begrüßungsgeste – sie zeigte einem Fremden, dass sie unbewaffnet war. Aus der rechten Hand des Roboters schoss ein grellweißes Licht hervor, das vor Hitze knisterte. Der Roboter kam den Hügel hinauf auf sie zu, in einem Tempo, das für ihn ein Rennen sein musste. Es hob den Schweiß brenner in seiner Hand hoch. Laura war blind vor Panik. Sie machte kehrt, um den Hügel wieder hin aufzurennen, erstarrte aber sofort. Vor dem von den Lichtern des Flugplat zes erhellten Himmel zeichnete sich ein weiteres Achter-Modell ab, das hügelabwärts direkt auf sie zukam. Sie saß in der Falle, schoss es ihr pa nisch durch den Kopf. Ohne zu überlegen stürzte sie direkt in den dichten Dschungel neben der Straße und warf sich verzweifelt gegen das Gestrüpp. Sie kämpfte sich immer tiefer hinein. Die Äste zerkratzten ihre Arme, ihr Gesicht und ihren Hals. Der hügelabwärts kommende Roboter war von den Angreifern der Erste, der sie erreichte. Mit laut brechenden Ästen und Blättergeraschel drang er hinter ihr in den Dschungel ein. Laura warf einen Blick über die Schulter und schrie »Nein…!« Zuerst wurden in breiter Front Zweige und Äste über ihr abgemäht, dann folgte ein tieferer Schnitt, bei dem der Roboter seine Arme wie Sensen durch die Luft schwenkte. Beim dritten Sirren der Messer stürzte Laura unter einem Schauer von Zweigen und Blättern zu Boden. In der plötzlichen Stille hob sie den Kopf und sah, dass der Robo ter reglos direkt über ihr stand. Laura rollte sich zusammen. Sie zitterte unter lautlosen Schluchzern, die ihren Körper erschütterten. Ihre Bauchmuskeln zogen sich krampfartig zusammen, doch ihr Keuchen brach ab, als sie die Berührung des Roboters 517
spürte. Er drückte mit seiner Hand ihren Kopf nieder. Das war’s, dachte sie, vor Entsetzen gelähmt und unfähig, noch einen Muskel zu bewegen. Das Geräusch brechender Äste in der Nähe der Straße drang zu ihr. Die Hand des Roboters löste sich von ihrem Kopf, und es gab einen heftigen Aufprall, den Laura durch die Erde hindurch spürte. Sie sah hoch – der Roboter, der sie verfolgt hatte, lag jetzt neben ihr auf der Erde. Er wurde auf die Straße hinausgezerrt und griff hektisch nach Sträuchern, riss sie bei dem vergeblichen Versuch, sich zu wehren, aus dem Boden. Unter Lauras Decke aus heruntergefallenen Blättern und Zweigen war alles still. Ein gespenstisches Glühen ging nicht weit von ihr von etwas aus, das inmitten einer kleinen Versammlung von Robotern geschah. Die Schatten, die sie über das Unterholz warfen, bewegten sich langsam, als sich ein Schweißbrenner langsam zum Boden senkte. Die nächtliche Nacht wurde von einem knisternden, zischenden Brenn geräusch durchbrochen. Laura setzte sich auf. Ihre Anwesenheit schien die Roboter nicht zu stö ren. Im grellen Licht des Schweißbrenners sah sie, dass sie alle wie ge bannt in die Mitte ihres Kreises schauten. Sie kroch auf den Knien durch das Gestrüpp bis an den Rand der Lichtung, um besser sehen zu können. Drei Achter-Modelle hielten Lauras Verfolger auf der Erde fest. Das vierte senkte seinen Schweißbrenner über den linken Oberschenkel des Gefangenen. Das rechte Bein lag, wie Laura mit einem plötzlichen Schwall von Übelkeit erkannte, auf der Erde – abgetrennt. Der gefangene Roboter lag völlig still da und verfolgte mit erhobenem Kopf ihre Arbeit. Die Amputation erfolgte überaus präzise. Der Schnitt am linken Bein erfolgte genau unterhalb der Hüfte – an exakt derselben Stelle wie am rechten. Als der Schweißbrenner erlosch, hörte auch das Knistern auf. Alle Roboter erhoben sich, und der, der zu Füßen des Opfers stand, hielt die beiden abgetrennten Beine in Händen. Das gelähmte Achter-Modell starrte auf die Stelle, an der sich seine Bei ne befunden hatten, dann senkte es den Kopf und streckte die Arme aus. Die beiden Roboter neben ihm packten seine Unterarme und zerrten die beinlose Maschine in Richtung Dorf. Das zurückgebliebene Achter-Modell stand am Rande der Lichtung, kei 518
ne drei Meter von der Stelle entfernt, an der Laura kniete. Als die anderen verschwunden waren, drehte sich der Kopf des Roboters in ihre Richtung. Er hob die offene Hand, genau wie Laura es auf der Straße getan hatte. Sie wagte eine Vermutung – auf dem Sprung zwar und bereit, beim ge ringsten Gefahrensignal in den dunklen Dschungel zurückzurennen: »Hightop?«, fragte sie mit leiser, bebender Stimme. Das Achter-Modell hob den Schweißbrenner in die Luft. Ein zischendes Geräusch und ein greller Lichtblitz folgten. Dann verstaute der Roboter seine improvisierte Waffe wieder im Ausrüstungsgürtel und streckte Laura die offene Hand entgegen. Sie stand auf und trat vorsichtig auf die Lichtung. Zwar ergriff sie die dargebotene Hand nicht, folgte Hightop aber mit klopfendem Herzen den Hügel hinab. Bei der Art, wie er sich immer wieder nach ihr umdrehte, hatte Laura nicht das Gefühl, seine Gefangene zu sein. Hightop benahm sich eher wie ein Retter, ein Beschützer. Sie wünschte sich nur, sie könnte irgendwelche Anhaltspunkte dafür finden, was jetzt in seinem Kopf vor ging. Das kalte, ausdruckslose Gesicht gab ihr keinerlei Hinweise hinsichtlich seiner Absichten. Je näher sie dem Dorf kamen, desto weniger Aufmerk samkeit schenkte Hightop ihr. Sie passierten zwei andere Achter-Modelle und das Wrack eines Siebener-Modells, dessen Spinnenbeine verstreut auf dem zentralen Boulevard lagen. Es war nicht mit einem Wagen zusam mengestoßen. Es wies Brandnarben auf, die sich in geraden Streifen kreuz und quer über seinen Torso zogen. Ein weiteres Achter-Modell erschien an der Tür eines Gebäudes. Seine rechte Schulter prallte gegen den Türrahmen, und Holzsplitter flogen auf den Gehsteig. Durch das Schaufenster des Ladens konnte sie Unmengen von Regalen mit teurem Kristall sehen. Der Boden war mit funkelnden Splittern übersät. Anstatt sich so seitwärts zu drehen, wie er den Laden vermutlich betreten hatte, schob sich der Roboter vorsichtig, aber zielstrebig frontal durch den Türrahmen. Mit einem langen, krachenden Geräusch zwängte er sich hin durch – er hatte den Eingang seinen Proportionen entsprechend vergrößert. Hightop blieb vor dem Laden stehen, und Laura machte neben ihm Halt. 519
Der Roboter aus dem Porzellanladen trat zu ihnen und öffnete eine Klappe auf der Vorderseite seines Brustkorbs. Aus dem dahinterliegenden Fach zog er einen breiten, flachen Stecker. Von dem freiliegenden Ende des Verbindungskabels gingen Tausende glühender weißer Lichtpunkte aus. Hightop öffnete sein eigenes Fach, und der Neuankömmling stellte die Verbindung zu dem Mini-Netz in Hightops Brustkorb her. Es war dasselbe Kabel, das Hightop zwei Abende zuvor bei dem gestörten Picknick am Strand mit Grays Laptop verbunden hatte. Laura wurde klar, dass sie kommunizierten. Die glühenden Lichter wa ren Glasfaserkabel. Aber sie können sich doch über Mikrowellen unterhal ten, erinnerte sich Laura, während sie schweigend wartete. Oh, Funkstil le… sie befinden sich ja im Krieg, ging es ihr durch den Kopf. Aber mit wem? Nur andere Roboter konnten ihre Übertragungen mithö ren. Laura ließ den Blick über die leere Hauptstraße schweifen. Der ver brannte und zerschnittene Torso des Siebener-Modells lag direkt unterhalb der Statue der Frau mit dem Globus. Auf dem Asteroiden hielten sich ein Siebener-Modell und ein AchterModell auf… »Hey!«, sagte sie mit erhobener Stimme. Die Roboter rührten sich nicht. »Hey doch! Ich muss los! Ich muss zum Computerzentrum!«, rief sie, jedes Wort deutlich aussprechend. Der Roboter löste seine Verbindung mit Hightop. Sie schlossen ihre Brustfächer, wendeten sich beide gleichzeitig Laura zu und gingen an ihr vorbei in Richtung Statue. Sie drehte sich um und sah ihnen nach. »Wo wollt ihr denn hin?«, rief sie. »Das Computerzentrum liegt in dieser Richtung!« Sie wurden nicht einmal langsamer. »Nein, in dieser!«, brüllte sie und zeigte mit dem Finger dorthin. Hightop blieb stehen und streckte Laura die Hand entgegen. Sie hatten offenbar eigene Pläne, die wichtiger waren. Laura hielt sich beide Hände an den hämmernden Kopf. Sie musste sich entscheiden, ob sie mit ihnen oder allein gehen wollte. Diese Entscheidung war überaus schwer wiegend, und was dabei herauskam, war reine Glückssache. 520
Sie standen reglos da. Kein Gesicht, keine Stimme, die ihr einen Hinweis hätte geben können. Nur Maschinen. »Wo wollt ihr hin?«, fragte sie. »Könnt ihr es mir nicht wenigstens an zeigen?« Sie machte ihnen sogar vor, was sie meinte. Nichts, nichts außer der von Hightop ausgestreckten Hand. Er bot eine Verbindung zu Gray, war sein Werkzeug. Dasjenige, dem er am meisten vertraute. Ja, es war wie eine Hand, die Gray selbst ausstreckte. Und der Roboter schien einen Plan zu haben. Laura machte kehrt, um den beiden Robotern den Hügel hinauf zu fol gen. »Da gehe ich nicht hinein«, sagte sie, als sie am Rand des Dschungels standen. »Ausgeschlossen!« Sie schüttelte den Kopf und schwenkte die Arme vor dem Körper. Sie schlossen sich wieder mit den Kabeln zusam men. Als sie sie verstaut hatten, ergriff Hightops Gefährte Lauras Taille. Sie stieß einen Schrei aus, als er sie aufhob und strampelte heftig mit den Beinen. Der Roboter ließ sich nicht beirren, und Hightop wendete ihr den Rücken zu. »Hightop!«, schrie sie und trommelte mit den Spitzen ihrer Laufschuhe auf seinen Rücken. Sie war nahe genug, um mit ihren Händen auch gegen seinen Kopf zu hämmern. »Hightop!« Seine Haut war weich und glatt. Sie fühlte sich so seltsam an, dass Laura aufhörte, sich zu wehren und sich an seinen Schultern festhielt. Ihre Füße fanden den Werkzeuggürtel um seine Taille. Sie hing jetzt auf Hightops Rücken, ihr Kopf befand sich drei Meter über der Erde. Hightop ging zielstrebig auf den vor ihnen liegenden Dschungel zu. Er hatte vor, sie Huckepack zu tragen. Sollte sie sich entschuldigen? »Ich… äh«, sagte sie. »Tut mir Leid.« Hightop marschierte direkt in den Dschungel hinein. Die schwarzen Äste brachen an tausend Stellen. Sie kratzten an den Seiten des Roboters und schlugen ihr in den Rücken. Hightop benutzte seine Hände, um die vorste henden Äste wegzubiegen und abzubrechen, aber den größten Teil des Schadens richtete sein Körper an. Mit seinem Brustkorb, seinen Beinen und Füßen verursachte er ein ständiges Krachen und Bersten. 521
Sie wanderten relativ mühelos durch den Dschungel. Das AchterModell, das ihnen folgte, sorgte nun dafür, dass Laura nicht von zurück schnellenden Ästen getroffen wurde. Laura schob den Kopf näher an das Ohr des Roboters heran und rief: »Hey… wo gehen wir hin?« Der Roboter reagierte nicht auf ihre Frage. »Hightop«, sagte Laura laut, »hör mir zu. Ich habe Angst. Ich habe sogar große Angst. Ich weiß, dass du nicht sprechen kannst, aber wenn du mich verstehen kannst, dann gib mir irgendein Zeichen, dass du nicht vorhast, mich in den Dschungel zu bringen und mir etwas Schreckliches anzutun. Bitte!« Die beiden Roboter blieben stehen, plötzlich herrschte Stille. High tops Kopf drehte sich mit einem leisen Sirren. Als sein Gesicht sichtbar wurde, hob er seine Fingerspitzen und griff über die Schulter hinweg nach Laura. Die glatten, flachen Finger berührten Lauras Wange. Es war eine sanfte Liebkosung. Die kleine Prozession bewegte sich weiter. Laura hatte keine Ahnung, wie weit die Strecke war, die sie zurücklegten. Das bisschen Ortssinn, das sie besessen hatte, war weg. Schließlich blieb Hightop stehen und kniete dann langsam nieder, wobei er das Gestrüpp unter sich zermahnte. Die Dunkelheit am Boden des Dschungels war rabenschwarz. Laura nahm Hightops Niederknien als ein Zeichen und kletterte von seinem Rücken. Als ihre Augen sich langsam an die Dunkelheit gewöhnten, sah sie Ro boter um sich herum. Sie waren überall und knieten genau wie Hightop auf der Erde. Alle schauten in dieselbe Richtung, als beteten sie. Es waren Dutzende und Aberdutzende. Laura taumelte zurück – fort von den bedrohlichen Gestalten, die sie umgaben. Ungeachtet des Lärms, den sie dabei machte, rührte sich keiner der Roboter. Hightop stöpselte sein Kommunikationskabel in das nächste Achter-Modell. Laura sah, dass sich Kabel von Roboter zu Roboter er streckten und dass die Kette bei Hightop endete. Er war der Anführer. Er gab die Befehle. Sämtliche Achter-Modelle lösten ihre Kabelverbindungen und standen auf. Überall brachen Äste, als sie sich erhoben. Laura schützte mit den 522
Armen ihren Kopf und ihr Gesicht vor dem Regen aus fallenden Zweigen. Aber das war nichts im Vergleich zu dem, was dann geschah. Alle Roboter begannen, sich zusammen vorwärts zu bewegen. Es war, als brandete eine Woge aus Metall vor Laura durch den Dschungel, der auf ihrer Bahn völlig flachgelegt wurde. Die Bäume stürzten um und gaben den Blick auf den sternbedeckten Himmel und das Dach des ComputerZentrums frei. Dann hörte sie einen Alarm – einen hämmernden, durch dringenden Ton. Nachdem der letzte Roboter aus dem Dschungel heraus war, folgten Se kunden relativer Stille. Dann kam das grässliche Geräusch zerreißenden Metalls. Laura konnte durch das dünne Laub hindurch das gespenstische Licht eines Schweißbrenners sehen. Das Licht schwankte und flackerte durch den plötzlich entlaubten Dschungel, und Laura erkannte, dass es nicht nur ein Schweißbrenner war, sondern Dutzende. Der Gestank glü henden Metalls vermischte sich mit einer Kakophonie von Sturzgeräu schen. Sie erinnerte sie an eine gigantische Massenkarambolage auf einer nebligen Autobahn, aber dies waren nicht die Geräusche eines Unfalls. Es waren die höllischen Geräusche einer Schlacht im vergangenen Jahrtau send. Laura bahnte sich ihren Weg zum Rand des Dschungels, und die ganze Szene auf dem offenen Feld um das Computerzentrum herum kam lang sam in Sicht. »Mein Gott«, flüsterte Laura und ein Schaudern überlief ihren Körper. Hier fand ein Gemetzel statt. Die Achter-Modelle kämpften gegen ein Heer aus Sechsern und Siebe nern. Der Hauptkampf fand im Zentrum statt, wo die Achter-Modelle eine Phalanx gebildet hatten. Die enge Formation stürmte in fünf Viererreihen hintereinander direkt auf die Mauern des Computerzentrums vor. Die Erde hinter ihnen war mit Wracks übersät. Die meisten der Gefallenen waren die auf Rädern laufenden Sechser-Modelle, die hilflos waren, wenn sie auf der Seite lagen. Sie warteten auf ihr Ende und versuchten lediglich, mit ihrem einzelnen langen Arm Vorbeikommende zu packen. An den Flanken standen vereinzelte Achter-Modelle. Sie schwenkten ihre Schweißbrenner durch die Luft. Wenn sie auf Metall trafen, wurde die 523
Nacht von einem Funkenregen erhellt. Den Siebener-Modellen erging es besser als den Sechsern, aber die spinnenartigen Roboter schienen nicht kämpfen zu wollen. Sie bewegten sich vor und zurück wie Krebse. Es gab viele Scheinangriffe und nur wenige echte, doch wenn es zum Kampf kam, war er sehr heftig. Die Siebener hoben ein Bein, um mit maximaler Kraft auf ihre Feinde einzuschlagen. Dann brachten sie entweder die Achter-Modelle mit ihren Schlägen zu Fall, oder sie trafen ins Leere und wur den ihrerseits umgestürzt. Wenn sie auf der Erde lagen, konnten sich die zweibeinigen Achter wieder erheben, ein Siebener dagegen konnte sein Ende nur hinauszögern. Er griff wie ein Oktopus nach seinem Angreifer, aber sein Griff war nicht kräftig genug, um zu töten. Dann folgte unfehlbar das sengende Licht eines Schweißbrenners, und aus dem Getümmel kam ein Achter zum Vorschein – das überlebensfähigste Modell auf dem Schlachtfeld. Überall waren die Auswirkungen der Katastrophe sichtbar. Zuckende Beine, die vorher zu einem Siebener-Modell gehört hatten. Der jammer volle Anblick eines armlosen Achter-Modells, das hilflos fortkroch. Trä nen traten in Lauras Augen. Jeder einzelne war ein Wunderwerk. Es gab Dichter, Gelehrte und Verbrecher unter ihnen, und Laura bedauerte zu tiefst den Verlust eines jeden. Es war so sinnlos, so grausam, und es kam ihr vor wie das Ende all ihrer Hoffnungen auf die Zukunft. Durch ihre Tränen hindurch konnte Laura sehen, dass die Achter ihre Verwundeten in den Hintergrund schleppten. Dort schienen sie eine Hilfs station aufgebaut zu haben. Aus den Oberschenkeln der Gefallenen wur den Kabel herausgezogen; aber es waren nicht die dünnen Kabel, die zur Kommunikation benutzt wurden. Diese Kabel waren dicker und dienten zum Laden elektrischen Stroms. Diese dicken schwarzen Kabel wurden bei unverletzten Robotern, die neben ihren Kameraden auf der Erde knieten, eingestöpselt. Die Gesunden geben den Verwundeten eine Transfusion, dachte Laura. Anstelle von Blut spenden sie ihnen Strom. Etwas kam Laura jedoch merkwürdig vor. Sobald sich ein gesundes Achter-Modell erhoben hatte, nahm ein neuer Roboter dessen Stelle ein. Sie kamen, stöpselten sich ein und kehrten in die Schlacht zurück, aber die 524
verwundeten Roboter versanken in Lethargie. Ihr Zustand verbesserte sich nicht, er wurde vielmehr schlechter. Sie wurden also nicht aufgeladen, sondern ihre Ladung wurde abgezogen! Die Gesunden saugten den Ver wundeten das Leben aus! Laura kam zu dem Schluss, dass sie flüchten musste. Sie konnte nicht darauf warten, dass die Achter-Modelle zurückkehrten. Sie waren dazu geschaffen, aus Erfahrung zu lernen. Aber welche Lektion würden die Überlebenden aus dem fürchterlichen Töten und den Verstümmelungen auf dem Schlachtfeld lernen? Welche Narben würden sie aus dem Krieg mitbringen? Laura begann fieberhaft nach einer Lücke zu suchen. Die unregelmäßige Linie schien etwa in der Mitte der Wiese zum Stillstand gekommen zu sein. Sie betrachtete die Mauern des Computerzentrums, um sich zu orien tieren. Der Eingang musste irgendwo rechts um die Ecke liegen. Ganz plötzlich sah sie mehrere kleine schwarze Gestalten, die an der Basis des Bunkers entlangrannten. Im Vergleich zu den Robotern wirkten sie unbe deutend – bloß Fliegen, die um das blutlose Massaker herumschwirrten. Aber für Laura waren sie in diesem Augenblick von allergrößter Bedeu tung. Es waren Menschen… Sie trat aus dem Dschungel ins Freie und sprintete direkt auf das Ge tümmel vor ihr zu. Es mussten sich mehr als zweihundert Roboter auf dem Schlachtfeld befinden. Technologie aus dem Informations-Zeitalter im Wert von Milliarden von Dollar wurde mit der Brutalität des tiefsten Mit telalters in Stücke gerissen. Ihre Augen suchten die Schlachtlinie nach einer Lücke ab. Für Laura war das eine neue Welt, und sie befand sich in einem gefährlichen Nachteil. Sie wusste nichts über die Fähigkeiten der verschiedenen Modelle und, was noch wichtiger war, nichts über ihre Ziele. Sie hatten Ambitionen und Aufträge, doch sie hatte keine Ahnung, wer Freund und wer Feind war. Also rannte sie so schnell sie konnte direkt auf die Außenwand des Computerzentrums zu. Sie flog an unkenntlichen Metallklumpen vorbei und hielt den Blick unverwandt auf die kleinen schwarzen Gestalten vor ihr gerichtet. Sie zeigten auf sie und machten hektische Bewegungen, aber Lauras Sicht wurde immer wieder von den 525
schnell manövrierenden Robotern versperrt. Sie war jetzt weniger als fünfzig Meter von der vordersten Linie entfernt. Kein freier Weg durch sie hindurch war zu erkennen. Die Sechser-Modelle führten ihre Attacken gegen die Achter mit großer Geschwindigkeit, wobei sie ihre einzelnen Greifarme wie Turnierspeere vor sich ausstreckten. Sie würden kaum Rücksicht auf ihre Anwesenheit mitten in dieser Schlacht auf Leben und Tod nehmen. Ganz klar, sie hatte hier nichts zu suchen. Unmittelbar vor Erreichen der Kampflinie ging sie hinter einem umge stürzten Sechser-Modell in Deckung. Die Achter-Modelle in der Phalanx wurden von den erhobenen Beinen eines Dutzends wütender Spinnen attackiert. In großen Bögen schwangen sie ihre Schweißbrenner herum, und wenn sie mit den Siebenern in Berührung kamen, flogen die Funken. Verkrüppelte Spinnen versuchten auf drei Beinen davonzuhinken, und ihre Kameraden rückten vor, um ihre Plätze einzunehmen. Ganz plötzlich spürte Laura etwas über sich. Sie hob den Kopf und sah hoch. Der schraubstockartige Greifer eines umgestürzten Sechsers öffnete sich lautlos und schwebte über ihr. In äußerster Anspannung war sie bereit zum Zuschlagen. Da kündigte ein sengendes Geräusch das Herannahen eines Achters an. Er hatte sich aus der Linie gelöst und kam zielstrebig auf das SechserModell zu. Sein Schweißbrenner sauste durch die Luft, als wollte er die Aufmerksamkeit des einarmigen Roboters auf sich lenken. Aus Richtung des Computerzentrums kam ein Flammenstoß, und aus dem Rauchschweif schoss eine Rakete hervor. Mit einem Aufblitzen traf sie das Achter-Modell. Ein lauter Knall betäubte Laura sekundenlang, und die Nacht wurde von einem Explosionsblitz erhellt. Der Knall rollte über das offene Feld. Als sich der Rauch verzogen hatte, marschierte das Achter-Modell weiter. Sein rechter Arm fehlte, aber in der Linken hielt es den zischenden Schweiß brenner. Der Arm des Sechsers schoss wie eine Kobra auf das Achter-Modell zu und landete mit dem Geräusch zerreißenden Metalls genau in dessen Ge sicht. Zum Stehen gebracht und taumelnd hob das Achter-Modell den Schweißbrenner. Funken flogen von den dünnen Gliedmaßen des Sech 526
sers, und geschmolzenes Metall begann auf die Erde zu tropfen, während das Sechser-Modell trotzdem mit seinem Greifer den Kopf des Achters verrenkte. Mit einem Schwall herausschießender Flüssigkeit war der lange Arm plötzlich abgetrennt. Das Sechser-Modell schwang den Stumpf, um seinen Angreifer abzuwehren, der seinerseits mit dem noch immer an seinem Gesicht hängenden Greifer zurücktaumelte. Der Achter schob blindlings den Schweißbrenner in seinen Gürtel zurück, dann streckte er seinen Grei fer nach dem an seinem Kopf hängenden Greifer des Sechser-Modells aus. Er schien einen Augenblick zu zögern, als müsste er sich für die Anstren gung sammeln, dann begann er langsam zu ziehen. Das Geräusch zerreißenden Metalls war zu grauenvoll, als dass Laura es ertragen konnte. Sie drückte die Handballen auf die Ohren, so fest sie konnte. Der schwer verwundete Roboter versuchte verzweifelt, sich auf den Beinen zu halten und taumelte umher, als wäre er benommen oder betrunken. Dann kam ein lautes Kreischen, und das Achter-Modell ließ den Greifer auf die Erde fallen. Zu ihrem Entsetzen sah Laura, dass sein halbes Gesicht in der abgetrennten Gliedmaße hing. Langsam zog sich der schwer verwundete Roboter von der Kampflinie zurück. Sein verbliebener Arm tastete vor ihm her nach Hindernissen. Ein Flammstrahl schoss an der Außenwand des Computerzentrums hoch. »Nein!«, schrie Laura, als die Rakete aus dem Rauch herauszischte. Das Geschoss durchschlug direkt die Brust des Achter-Modells. Sein »Gehirn« wurde herausgeblasen, und die ätzende Kälte des flüssigen Stickstoffs versengte mit zischendem Dampf den Rasen. Das Achter-Modell brach in die Knie und fiel in einem verklumpten Haufen leblos zu Boden. Schluchzend erhob sie sich. War das Bouncy oder Hightop oder Auguste gewesen?, dachte Laura. Sie sprintete an der rauchenden, verbrannten Leiche der prachtvollen Maschine vorbei – diesem Wunder, das Grays neuer Welt entstammte. Laura dachte jetzt nicht mehr, sie rannte nur noch. Sie lief direkt zwi schen den schwirrenden Elektromotoren hindurch, unmittelbar zwischen den stiebenden Funken, mörderischen Kollisionen und beißenden Dünsten 527
einer industriellen Hölle. Sie rannte vorbei an dem Lärm und der Wut und dem Irrsinn. Laura weinte so heftig, dass sie völlig überrumpelt wurde, als jemand sie zu Boden warf. Sie schloss die Augen und schrie. »Keine Angst«, hörte sie Gray durch das Getöse hindurch. »Sie sind jetzt in Sicherheit.« Sie hielt die Augen geschlossen, als versuchte sie einzuschlafen. Mitten in dem Getöse spürte Laura, wie seine Hand ihr das Haar aus der Stirn strich. Seine Finger zeichneten eine sanfte Linie auf ihre Wange. Seine Hand lag flach auf ihrem Gesicht, verweilte an ihrem Mundwinkel. Sie drückte die Lippen auf seine warme Haut. Als sie die Augen öffnete, war der Terror des Schlachtfeldes fort. Sie betrachtete den Mann, der sie in den Armen hielt. Er schaute auf sie herab. Seine Lippen schienen Worte zu formen. »Keine Angst. Keine Angst…«
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18. KAPITEL Alle hörten atemlos zu, als Gray seinem Team erklärte, was passiert war – etwas, das er bisher hoch nie getan hatte. »Lauras Dreier-Modell wurde von dem »Anderen« kontrolliert. Das Siebener-Modell, mit dem es zusammengestoßen ist, wurde vom Computer kontrolliert. Die beiden Hälften verfügen über getrennte Weltmodelle auf entgegengesetzten Seiten der Partition. Keiner der Roboter hat gesehen, was der andere sah, deshalb glaubten beide, die Straße wäre frei.« Seine Abteilungsleiter nickten langsam mit den Köpfen. Hoblenz meldete sich zu Wort. »Der Computer auf unserer Seite der Partition hat Sechser- und Siebener-Modelle auf Patrouille ausgeschickt. Vermutlich, um ein paar Lücken in seinem Bild zu füllen. Wir haben sie überall auf der Insel umherstreifend entdeckt.« Er wendete sich an Laura. »Sie müssen mit einer Patrouille kollidiert sein.« »Was ist nach der Kollision geschehen?«, wandte sich Gray an Laura. »Vorher habe ich noch eine Frage«, erwiderte sie. »Wieviel Zeit brau chen die Roboter zum Nachladen?« Griffith schaute auf seine Uhr und antwortete. »Die Sechser brauchen zwei Stunden, aber vorher müssen sie sich bis zu einer halben Stunde entladen, damit ihre Batteriezellen nicht beschädigt werden. Die Siebener brauchen viereinhalb Stunden, einschließlich der normalen Entladung.« »Was ist mit den Achtern?« »Sie entladen nicht. Zum Aufladen brauchen sie eine Stunde – höchs tens.« Hoblenz schüttelte den Kopf. »Diese Schlacht da draußen ist unentschie den ausgegangen, aber Kriege werden durch Logistik gewonnen. Es ge winnt die Armee, die die vordersten Linien mit dem besten Material ver sorgen kann, und hier sind die Ladezeiten der Schlüssel.« »Aber die Achter-Modelle haben nicht so viele Ladestationen«, bemerk te Griffith, »und sie müssen jedesmal zurück durch den Dschungel, um sie zu erreichen.« 529
»Versuchen Sie doch nicht, mir etwas vorzumachen«, warf Hoblenz ein. »Diese verdammten Achter sind doch im Dschungel Zuhause.« »Weshalb sind Sie alle so wütend auf die Achter-Modelle?«, fragte Lau ra. Sie sahen sie an, als hätte sie den Verstand verloren. »Ich spreche ungern das Offensichtliche aus«, sagte Filatov, »aber sie haben gerade das Computerzentrum angegriffen.« Er wandte sich an Hoblenz. »Und Sie haben geglaubt, der Spion wäre unserer Problem!« »Vielleicht war er es! Vielleicht hat er eine Art Virus mit Zeitzünder in ihre metallenen Schädel eingepflanzt, und deswegen sind sie alle so ge walttätig!« »Was ist nach dem Zusammenstoß passiert?« Sie erzählte ihnen, wie sie dem Siebener-Modell beim Selbstmord gehol fen hatte. »Sie haben den Hauptschalter umgelegt?«, fragte Griffith bestürzt. »Das bewirkt sofortige Entladung!« »Er hat gelitten«, entgegnete Laura scharf. »Es war eine Maschine!«, giftete Griffith zurück. »Eine Maschine, die Schmerzen hatte!«, rief Laura, befremdet den Kopf schüttelnd. »Wissen Sie denn nicht, was Sie hier gebaut haben? Jeder dieser Roboter hat Ziele und Wünsche. Sie bemühen sich Tag für Tag, besser zu arbeiten, weil Sie sie genau so programmiert haben – auf Arbeit! Gute Arbeit macht sie glücklich, und als das Siebener-Modell seine Beine um sich herum verstreut liegen sah, fühlte es Schmerzen! Schmerzen, weil es so verstümmelt war, weil es nie wieder imstande sein würde, das Ver gnügen der Arbeit für die Gray Corporation zu empfinden! Darauf können Sie alle mächtig stolz sein.« »Sie urteilen zu hart, Laura«, sagte Gray. »Aber weshalb begreifen Ihre Mitarbeiter das denn nicht?« »Weil sie noch nicht so weit sind«, erwiderte Gray zu ihrer Verblüffung. Aber ich bin es?, glaubte Laura verblüfft seinen Worten entnehmen zu können. »Und was ist dann passiert?«, fragte Gray geduldig, aber beharrlich. Nachdem sie sich wieder gefasst hatte, erzählte sie von den Soldaten. 530
»Marinesoldaten«, sagte Hoblenz. »Das waren SEALs.« »Also greifen die Achter-Modelle wirklich Menschen an«, warf Dorothy ein. »Wir wissen nicht, ob es ein Achter-Modell war, das mit ihnen kämpf te!«, erwiderte Laura scharf. »Und weiter?«, fragte Gray, Fakten verlangend. Sie berichtete, wie Hightop sie gerettet hatte und beschrieb die Amputa tion am Straßenrand; dann beschrieb sie, wie Hightop sich mit dem Achter-Modell aus dem Porzellanladen zusammengeschlossen hatte. »Sie haben sich über die Strategie beraten«, sagte Griffith, strahlend vor Stolz. »Komplexes Organisationsverhalten! Konzertiertes Planen! Zu sammenarbeit und Kommunikation und dann Konsensfindung! Darlegung gemeinschaftlicher Ziele und breite Information!« »Oder Treue zu einem mächtigen Diktator«, gab Margaret zu Bedenken. »Darf ich etwas sagen?«, fragte Dorothy, und Gray nickte. »Ich habe den Eindruck, dass die Achter-Modelle versuchen, eine Art SelbstZurückhaltung zu üben. Ich meine, sie haben Laura gerettet. Zumindest das scheint mir auf verantwortungsbewusstes Verhalten hinzudeuten.« »Verleihen wir ihnen doch eine Medaille für treue Dienste!«, fauchte Hoblenz. »Danach werde ich die Bastarde mit Panzerabwehr-Raketen umlegen. Wenn ich sie das nächste Mal im Freien vor mir sehe, Mr Gray, möchte ich Schießerlaubnis haben.« »Schießerlaubnis abgelehnt«, sagte Gray. »Sir, wir stecken in einer Klemme – einer Sicherheitsklemme. Diese großen Dinger stellen eine Bedrohung dar, und ich finde, wir sollten sie umlegen. Ich würde auch in ihren Bau gehen, wenn Sie es wollen, aber ich täte es lieber aus sicherer Entfernung. Das ganze Programm ist doch eine Pleite, Sir. Lassen Sie es mich für Sie beenden.« »Halten Sie die Luft an, Mr Hoblenz«, sagte Laura. »Mr Gray wird es nicht zulassen.« Gray sah sie an, sagte aber nichts. »Verstehen Sie doch – er muss dafür sorgen, dass das natürliche Ökosystem der Insel gewahrt bleibt. Er wird es nicht wagen, eine Spezies von Robotern auszurotten, weil das ein Ungleichgewicht bewirken könnte. Man braucht immer ein Gleichgewicht zwischen Raubtieren und Beutetieren. Sie haben gesehen, 531
was sich auf dem Feld da draußen zugetragen hat. Ich bin mitten durch ihre Schlacht hindurchgerannt, und den Robotern war das völlig gleichgül tig. Sie waren zu sehr mit ihren eigenen Angelegenheiten beschäftigt.« »Also«, sagte Hoblenz, offensichtlich erbittert, »Sie wollen nicht, dass ich die Achter-Modelle umlege, weil die Sechser und Siebener auf uns losgehen könnten, wenn sie nicht mehr da sind?« Gray reagierte nicht. »Er weiß es nicht«, erklärte Laura, und Gray sah sie wieder an und war tete. »Er weiß nicht, wie sich die Dinge entwickeln werden. Deshalb will er Gleichgewicht. Es hält seine Optionen offen.« »Das ist doch lächerlich!«, rief Hoblenz, seine Hände auf den lisch stemmend. »Diese Dinger sind gefährlich, Sir! Sie dürfen ihnen nicht trauen!« »Wie sind Sie durch den Dschungel gekommen?«, fragte Gray Laura. »Hightop hat mich Huckepack getragen.« »Wie bitte?«, brüllte Hoblenz. Dr. Griffith lachte entzückt. Das Telefon läutete, und alle fuhren zusammen. Gray drückte auf den Raumton-Knopf. »Hallo?« »Guten Abend… Mr Gray?«, flüsterte eine Frau. »Janet?« Gray beugte sich tiefer über den Apparat. »Sie sollten doch mit der letzten Maschine abfliegen. Wo sind Sie, um Himmels willen?« »Ich bin im Haus, Sir«, flüsterte sie. »Ich habe es mir anders überlegt. Es wäre nicht richtig gewesen, Sie zu verlassen. Ich bereite Ihr Abendessen vor… jedenfalls war ich dabei.« Gray schien alarmiert. »Weshalb flüstern Sie, Janet?« »Da ist jemand in Ihrer Küche, Mr Gray. Ich glaube, es ist ein Roboter.« Laura und Gray diskutierten hitzig miteinander, während sie die Treppe des Computerzentrums hinaufstiegen. »Na schön, dann laufe ich eben auf den Berg hinauf!«, rief Laura. »Ist Ihnen das lieber?« »Sie bleiben hier«, sagte Gray inmitten der Soldaten, die runter den Sandsäcken am oberen Ende der Treppe postiert waren. Alle ließen den Blick ständig und mit schussbereiten Waffen über das offene Gelände und 532
die Dschungelwände dahinter schweifen. »Mr Hoblenz, stellen Sie Dr. Aldridge unter Arrest.« Laura starrte ihn mit offenem Mund an. Hoblenz tat nichts. »Mr Hoblenz!«, fuhr Gray ihn an. »Eigentlich, Sir, wäre mir wohler, wenn sie mit uns mitkäme«, erwiderte Hoblenz. »Das heißt, wenn sie mitkommen will.« Gray biss die Zähne zusammen und versuchte den Mann niederzustarren, aber es gelang ihm nicht. »Gebt ihr eine Waffe!«, fauchte er wütend und zog den Verschluss an der Maschinenpistole zurück, die man ihm gereicht hatte, um durchzuladen. Hoblenz reichte Laura eine weitere Maschinenpistole. »Die will ich nicht«, sagte sie. »Wenn Sie mit uns fahren«, sagte Gray streng, »dann nehmen Sie gefäl ligst eine Waffe!« »Ich meine, ich will eine größere. Eines von diesen Gewehren«, sagte sie, auf die langläufigen schwarzen Schnellfeuergewehre zeigend, mit denen die Soldaten ausgerüstet waren. »Der Computer hat gesagt, diese großen Gewehre wären die einzigen, deren Geschosse die Haut der Achter-Modelle durchdringen könnten«, erklärte sie. Hoblenz zögerte, dann ging er und holte zwei Gewehre aus einer Kiste – eines für Laura und eines für sich selbst. Überall standen Kisten voller Waffen und Munition herum, die Deckel lagen daneben auf der Erde. Einige Soldaten waren damit beschäftigt, weitere Sandsäcke für die Wälle um den Eingang herum zu füllen, die bereits eine beachtliche Höhe er reicht hatten. »Geben Sie mir auch so eins«, sagte Gray und streckte Hoblenz die nutz lose Maschinenpistole hin. Die lange Waffe war schwer, aber Laura hielt sie schussbereit, genau wie die schwarzgekleideten Soldaten – mit einer Hand am Abzug und der anderen um den Plastikschaft am Lauf herum. Hoblenz hängte ihr einen schweren schwarzen Gurt mit dicken Beuteln über die Schulter. Sie sackte unter dem unerwarteten Gewicht zusammen. »Das hier werden Sie brauchen, Rambo«, sagte Hoblenz. Er schob ein Magazin in das Gewehr, womit es noch schwerer wurde, lud die Waffe 533
durch und sicherte sie. Dann zeigte er ihr, wie sie das Gewehr auf Auto matik für Dauerfeuer oder auf Halbautomatik für Einzelschuss einstellen musste. »Aber bitte nur Halbautomatik, wenn’s recht ist. Ich habe Frau und Kin der.« Er beobachtete die Straße und wartete darauf, dass ihre Fahrzeuge eintrafen. »Sie haben Familie?«, fragte Laura, bedauerte aber sofort den ungläubi gen Ton. Hoblenz lachte. »Ja, kaum zu glauben, nicht wahr? Die Kids sind auf dem College, und meiner Frau musste ich fast die Knie brechen, damit meine Leute das alte Mädchen ins letzte Flugzeug setzen konnten.« »Sie haben Kinder auf dem College?«, fragte Laura. Er wirkte zu jung, um schon erwachsene Kinder zu haben; aber es war schwierig, das Alter von Leuten zu schätzen, die sich ständig im Freien aufhielten. »Eines von ihnen hat im vorigen Jahr sogar Ihre Vorlesung gehört.« »In Harvard?«, fragte sie. Diesmal passte sie auf, dass er ihr die Verblüf fung nicht anmerken konnte. »Mein Jüngster ist dort. Tritt in die Fußstapfen seines Alten. Spielt Li nienverteidiger.« »In Harvard?« »Dort gibt’s tatsächlich eine Football-Mannschaft.« Gray trat neben sie, jetzt voll ausgerüstet. »Hoblenz hat in der Universitäts-Oberliga von Neuengland gespielt«, sagte er lächelnd. Hoblenz zupfte an Lauras Munitionsgurt und trat zurück, um seinen neu en Soldaten zu bewundern. »Bill hat jedenfalls gesagt, sie wären eine tolle Lehrerin. Die beste, die er je hatte.« »Billy H. Billy Hoblenz!«, sagte Laura. »Großer Bursche? Rote Haare?« Jeeps rasten auf der Straße vom Dorf heran. »Das ist mein Junge!«, erwiderte Hoblenz grinsend. Die Wagen kamen mit quietschenden Reifen vor dem Computerzentrum zum Stehen, und eine Gruppe von Soldaten eilte zur Straße und stieg ein. Laura folgte ihnen. Sie mussten warten, bis Hoblenz’ Männer einen Gra natwerfer auf einer Lafette im Heck des Jeeps montiert hatten. Das Ding hatte einen kurzen, dicken Lauf. 534
»Als Sie meine Sicherheitsüberprüfung vornahmen«, fragte Laura, »ha ben Sie da auch mit Ihrem Sohn gesprochen?« Hoblenz kicherte. »Natürlich.« »Was hat er gesagt?« »Also«, Hoblenz wendete den Blick ab, »wie ich bereits sagte, hält er Sie für eine verdammt gute Lehrerin.« »Sonst noch etwas?« Hoblenz zuckte die Schultern und zögerte einen Moment, bevor er Laura ins Auge schaute. »Er hat gesagt, Sie wären eine richtig scharfe Nummer. Ich glaube, das waren die Worte, die er gebraucht hat.« »Weiß der Computer, dass er das über mich gesagt hat?« »Nein! Natürlich nicht.« »Wie haben Sie mit Ihrem Sohn gesprochen? Übers Telefon?« Hoblenz kniff die Augen zusammen. »Ich traue Telefonen nicht.« »Wie sonst?« »Verschlüsselte E-Mail.« »Über den Computer?«, fragte sie, und er nickte. Hoblenz stieg in den Jeep und setzte sich ans Steuer, während Gray sich auf dem Beifahrersitz niederließ. Laura kletterte zusammen mit zwei Soldaten auf den Rücksitz. Als der Motor warmlief, lehnte sie sich vor und tippte Hoblenz auf die breite Schulter. »Wann haben Sie mich überprüft?« Er drehte den Kopf, um sich zu vergewissern, dass auch der zweite Jeep abfahrbereit war. »Vor ein paar Monaten.« »Vor ein paar Monaten?« Hoblenz legte den Gang ein, und der Jeep schoss vorwärts. Gray drehte sich nicht zu ihr um, aber er hörte zu. Sie fuhren in Richtung Dorf. Ihrem Jeep mit Gray, Hoblenz und den bei den Soldaten folgte ein zweiter, der ähnlich bemannt war. Auf dem hinte ren Jeep war einer der Werfer für Panzerabwehrraketen montiert. Laura schaute hoch zu dem Soldaten neben ihr. Seine Augen wurden von einer Nachtsichtbrille verdeckt. »Was ist das da?«, fragte sie laut und deutete auf den Werfer mit dem dicken Lauf. »Automatischer Granatwerfer«, erwiderte er, die Windgeräusche übertö nend. Sie nickte verständnisvoll. »Verschießt diese Dinger!« Er zeigte ihr 535
einen Gurt, in dem Projektile steckten, die ziemlich kurz und ungefähr so dick waren wie Lauras Handgelenk. Laura hob die Brauen und nickte abermals. Die warme Luft fühlte sich kühl an, als sie den Boulevard entlang auf die Statue zurasten. Gray lehnte sich zur Seite und fragte Hoblenz: »Haben sich sämtliche SEALs von der Insel zurückgezogen?« »Ja. Soweit ich feststellen konnte, waren es sechs Teams. Sie müssen in Mini-U-Booten gekommen sein, weil wir keine Landungsfahrzeuge gese hen haben. Sie mögen durchs Fenster eingestiegen sein, aber verschwun den sind sie durch die Haustür. Die Kriegsschiffe haben Boote an Land geschickt und alle Männer eingesammelt.« »Heißt das, dass sie alle weg sind?«, warf Laura ein. »Sieht so aus. Gleich nach den Feuergefechten im Leeren Viertel.« »Weshalb?« »Wahrscheinlich haben sie Gespenster gesehen.« »Die Roboter?«, fragte Laura. Hoblenz warf über die Schulter einen Blick auf Laura, dann sah er Gray an und verdrehte die Augen. Sie ließen das Dorf hinter sich und fuhren den Berg hinauf, vorbei an den Wracks von mehreren Robotern. Je weiter sie sich vom Dorf entfern ten, desto dunkler schien die Nacht zu werden. Es herrschte völliges Schweigen, als die Jeeps den Berg erklommen, abgesehen von einem Anruf Grays bei Janet. Sie hatte sich mit einem Handy im Kleiderschrank in ihrem Schlafzimmer versteckt. Die Scheinwerfer der Jeeps erhellten die schmale Schlucht zwischen den hohen Wänden des Dschungels. Die Vegetation drängte so dicht heran, dass Laura sie beinahe berühren konnte. So nahe, dass jemand – irgendet was – hätte herausgreifen und nach ihnen greifen können. Als sie die schwarze Öffnung des Tunnels erreicht hatten, lenkte Hoblenz den Jeep auf den Fußweg und hielt an. Der neben Laura stehende Soldat duckte sich, als die Zweige gegen seinen Helm schlugen. Sie blick te in den dunklen, kaum einen Viertelmeter von ihrer Schulter entfernten Dschungel. Die Luft war erfüllt vom Geruch verrottender Vegetation. Der zweite Jeep kam neben ihrem zum Stehen und beide Scheinwerfer 536
paare übergossen den Tunnel mit ihrem Licht. Die Soldaten, die nicht bei den Werfern zurückblieben, stiegen aus. Die Motoren wurden ausgeschal tet, alles war still. Laura beugte sich vor. »Was haben sie vor?«, fragte sie Gray. Hoblenz führte drei Männer auf den Tunneleingang zu. Zwei weitere be zogen direkt vor und hinter den beiden Jeeps Stellung und sicherten nach vorn und hinten. »Er überprüft den Tunnel«, antwortete Gray. Hoblenz und seine Männer verschwanden rasch in dem dunklen Schlund. Laura schaute immer wieder auf den Dschungel zu ihrer Rechten. Sie konnte einfach die Vorstellung, plötzlich gepackt zu werden, nicht abschütteln, und auch nicht das Gefühl, das diese Vorstellung auslöste – immer tiefer in den Schlamm und Morast eines unbekannten Geländes hineingezerrt zu werden; sich am Boden festkrallen zu müssen, während sie in eine fremde Welt gezogen wurde. »Ich will mir die Beine vertreten«, sagte Laura und löste ihren Sicher heitsgurt, um aussteigen zu können. »Sie bleiben im Jeep«, sagte Gray schroff. Seine Augen waren genau wie die der beiden neben den Überrollbügeln stehenden Männer unver wandt auf die Tunnelöffnung gerichtet. Sie seufzte, schnallte sich wieder an und versuchte, sich so weit wie möglich vom Rand der Wildnis fortzulehnen. Ihre Nerven waren ange spannt und sie holte tief Luft, um sich zu beruhigen. Die Welt um sie herum schien in der Zeit erstarrt. Der Mann neben ihr beugte sich über den Werfer. Der Soldat vor ihrem Jeep stand reglos da, das Gewehr halb erhoben. Auch Gray schien erstarrt – sein Blick wich nicht von dem Tunneleingang. Laura war zumute, als befände sie sich in der virtuellen Realität – an der Stelle, an der das Programm mittels Unter brecherknopf angehalten worden war. Sie ertappte sich dabei, wie sie nervös nach irgendwelchen Lebenszeichen in der Umgebung Ausschau hielt. Der Soldat hinter ihrem Jeep brachte langsam sein Gewehr in An schlag und schaute mit seiner Nachtsichtbrille durchs Visier. Er war schussbereit, hatte aber nichts, worauf er hätte zielen können. Aus dem Tunnel waren plötzlich Schüsse zu hören. Laura hielt sich die 537
Ohren zu, ihr Herz krampfte sich zusammen und schlug ihr bis in die Keh le. Dann herrschte wieder Stille. Sie spürte jeden Herzschlag in ihrem Brustkorb: Zwei… drei… vier… Eine riesige Spinne rannte aus dem Tunnel, mit gesenktem Kopf und kurzen, wütenden Schritten. Der neben Laura stehende Soldat schoss, und Feuerstöße aus der über ihr auf den Überrollbügel montierten schweren Waffe zerrissen die nächtliche Stille. Flammen schossen aus dem Torso des Roboters und aus der Beton einfassung der Tunnelöffnung direkt dahinter. Doch der Roboter rannte weiter – direkt auf die beiden Jeeps zu, die ihm den Weg versperrten. In Sekunden hatte das Siebener-Modell sie erreicht. Laura zog den Kopf ein, als ein Bein auf die Kühlerhaube des Jeeps prallte. Es kletterte direkt auf den Wagen. Die Waffe über ihr verstummte, als der Mann, der sie bediente, mit gutturalem Stöhnen zusammenbrach. Der Jeep ruckte unter den auf ihn niederprasselnden Hieben. Glas zerbarst, und ein Mann schrie. Dann war der Roboter mit einem letzten Tritt auf das Chassis davon. Der Soldat neben Laura erhob sich und richtete seine Waffe auf die Straße hinter ihnen. Eine erneute Salve – wohl aus einem Maschinengewehr – zerriss die Stille. Rauchende leere Patronenhülsen flogen herum. Jeder Muskel in Lauras Körper war zum Zerreißen gespannt, während sie die Handflächen fest auf die Ohren gedrückt hielt. Sie spürte, wie eine Hand leicht ihre Schulter berührte und sah hoch. »Er ist fort«, sagte Gray. Das Dröhnen in ihren Ohren war fast lauter als seine Worte. Die beiden Soldaten standen an den Überrollbügeln und hielten ihre Waffen hinter dem Siebener-Modell her auf die Straße gerichtet. Die Windschutzscheibe des zweiten Jeeps war zerbrochen; der Mann auf dem Jeep stand ohne Helm da und blutete aus einer Kopfwunde. Der Soldat, der nach hinten gesichert hatte, kletterte in das Fahrzeug, um die Wunde seines Kameraden zu verbinden; dessen Augen sich währenddessen keine Sekunde vom Visier seiner Waffe lösten. Gray stieg aus und half dem Mann vor ihnen auf die Beine. Dann eilten die beiden Männer auf den Tunneleingang zu – mit den Gewehren im 538
Anschlag. Laura löste ihren Sicherheitsgurt und folgte ihnen. Dann machte sie kehrt und holte ihr Gewehr. Sie musste rennen, um Gray am Eingang des Tunnels einzuholen. Aus dem dunklen Schacht wehte beißender Pulvergeruch. Durch den leichten Dunst hindurch konnte sie sehen, wie sich Hoblenz’ kleiner Trupp näherte – zwei Soldaten, die einen dritten stützten, der zwischen ihnen auf einem Bein hüpfte. »Ist es schlimm?«, fragte Gray, als sie herausgekommen waren. »Was?«, schrie Hoblenz, Gray den Kopf zuwendend. »Ist der Mann schlimm verletzt?«, fragte Gray mit erhobener Stimme. »Schlimmer Schaden?«, erwiderte Hoblenz zu laut, dann drehte er sich um und schaute in die Scheinwerfer der leicht ramponierten Jeeps. »Nein!«, rief Gray, den Kopf schüttelnd. »Ich habe nach ihm gefragt!« Er deutete auf den Mann. Hoblenz schüttelte nur den Kopf und steckte die Fingerspitzen in die Oh ren. »Ich kann überhaupt nichts hören!«, brüllte er. Dann wendete er sich an Laura. »Lassen Sie sich nie auf eine Schießerei in einem Tunnel ein!«, riet er ihr. Die beiden Männer halfen dem Verwundeten, an ihnen vorbeizuhüpfen. »Der ist okay!«, brüllte Hoblenz. »Nur das Bein gebrochen!« »Was ist passiert?«, schrie Gray, so laut er konnte. Hoblenz zuckte die Schultern und bewegte seinen Kiefer, als könnte er damit die Ohren freibekommen. »Der verdammte Roboter hat einfach durchgedreht. Wir müssen ihn erschreckt haben. Wir sind von hinten her direkt auf ihn zugegangen.« »Was hat er da drin gemacht?«, fragte Gray. »Also, er stand direkt an der Öffnung an der anderen Seite. Es sah aus, als hielte er nach Ihrem Haus Ausschau – hatte sich an die Seite gedrückt, mit zwei Beinen über dem Geländer des Fußwegs.« »Moment mal«, mischte sich Laura ein. »Wenn Sie von dieser Seite ka men und er erschrocken ist, weshalb ist er dann hier herausgerannt? Wes halb nicht am anderen Ende des Tunnels, von uns fort?« Niemand antwortete, aber Laura erriet die Antwort aus den Blicken, die Gray und Hoblenz tauschten. Das Siebener-Modell hatte vor dem, was 539
sich jenseits des Tunnels befand, mehr Angst gehabt als vor den ver gleichsweise harmlosen Waffen der Menschen vor ihm. »Fahren wir weiter«, befahl Gray, und sie kletterten in die Jeeps. Hoblenz übernahm die Führung und fuhr langsam vom Fußweg herunter auf die Tunnelöffnung zu. Dort hielt er einen Moment an und spähte durch den Rauch in das Halbdunkel. Dann schaltete er hoch und drückte den Fuß auf das Gaspedal. Der Jeep fuhr in den Berg hinein. Anstatt frischer Luft umgab jetzt der Beton Laura. Das Eingeschlossensein half ihr und bewirkte, dass ihre Konzentration durch eine Art Trichter verdichtet wurde. Jetzt fühlte sie sich nicht mehr von seitwärts bedroht. Ihre gesamte Aufmerksamkeit war jetzt auf die Straße vor ihnen gerichtet – auf die schmalen Lichtstreifen, die ihre Scheinwerfer auf die gerundeten Tunnelwände warfen. Ganz plötzlich waren sie wieder im Freien. Laura genoss die belebende Nachtluft. Zur Rechten erhob sich Grays Haus über die niedrige Stein mauer, nur als dunkle Masse wahrnehmbar, die den mit Sternen übersäten Meereshorizont hinter ihr verdeckte. Die Reifen quietschten, als sie am Tor abbogen und beide Jeeps mit hoher Geschwindigkeit auf den Hof schössen, bevor sie mit langgezogenem Kreischen zum Stehen kamen. Hoblenz und die unverwundeten Männer sprangen auf die Haustür zu, Gray und Laura hasteten hinter ihnen die Vordertreppe hinauf. Alle hatten ihre Waffen schussbereit. Drinnen im Foyer war alles still. Die Soldaten lagen flach auf dem Mar morboden. In dem schwachen Licht konnte Laura sehen, dass sie in die dunklen Ecken und auf die Türen rings um sie herum zielten. »Wo ist Janets Zimmer?«, flüsterte Hoblenz. »Ich hole sie«, sagte Gray und rannte auf die Treppe zu. »Miller, Delucia – los!«, bellte Hoblenz, und die beiden Männer rannten hinter Gray her. Als die drei am oberen Ende der Treppe verschwunden waren, herrschte erneut völlige Stille. »Warum machen wir kein Licht?«, fragte Laura. Ihre gedämpfte Stimme hörte sich in dem stillen Foyer wie ein Ruf an. Hoblenz machte sich nicht die Mühe, ihre Frage zu beantworten. »Nein, wirklich«, beharrte sie. »Sie 540
können uns sowieso mit diesen Warmdingern orten. Wir dagegen sehen im Dunkeln nichts.« Nach wenigen Augenblicken brüllte Hoblenz: »Hopkins! Schalten Sie die verdammten Lampen an!« Als das Licht anging, beleuchtete es eine absurde Szene. Die stämmigen Soldaten lagen alle auf dem Marmorboden von Grays prachtvollem Haus, während Laura gelassen an einer dicken Säule direkt neben der Haustür lehnte. Hoblenz erhob sich als Erster, die anderen folgten rasch seinem Beispiel. Vom oberen Flur drang Janets Stimme zu ihnen herunter. Sie entschul digte sich wortreich für all die Umstände, die sie ihnen gemacht hatte, und wurde dann von einem der Soldaten zu den Jeeps hinausbegleitet. Sobald sie draußen war, führte Hoblenz ein Drei-Mann-Team zum Durchsuchen der Räume im Erdgeschoss an. Sie arbeiteten schnell und in bester militä rischer Professionalität, mit den Rücken zur Wand, bevor sie mit schussbe reiten Waffen in die Zimmer stürmten. Als Hoblenz zurückkehrte, war seine Stirn schweißbedeckt. »Hier unten haben wir alles überprüft, bis auf die Küche. Wenn mir jemand sagt, wo die zum Teufel ist, schaue ich auch dort nach.« »Wir gehen alle zusammen«, erwiderte Gray und führte sie zu der fast unsichtbar in die Wand neben dem Esszimmer eingelassenen Tür. Anstelle des üblichen Quietschens ihrer Laufschuhe auf dem polierten Boden hörte Laura ein knirschendes Geräusch. »Hey«, sagte sie. »Hier liegt Sand oder so etwas auf…« Die Küchentür flog auf, und Hoblenz und seine Männer verteilten sich. Gray packte Laura und stieß sie beiseite. Gewehrschüsse krachten, als ein Achter-Modell unbeholfen aus der Küche rumpelte. Es stand trotz der Geschosse, die gegen seine Brust hämmerten, einen Moment still, dann schlitterte es über den Marmorboden, wobei es fast gestürzt wäre. Der Roboter torkelte unter dem Geschosshagel weiter und tappte steifbeinig in Grays Arbeitszimmer. Er war verschwunden, bevor Laura sich des Ge wehrs in ihrer Hand bewusst wurde. »Feuer einstellen!«, rief Hoblenz. Nach dem Waffenlärm war die abrupt einsetzende Stille beängstigend. 541
Einem großen Getöse aus dem Arbeitszimmer folgte nur noch das Klir ren von Glas und ein Dröhnen in Lauras gepeinigten Ohren. Hoblenz und Gray führten die Gruppe zur Tür des Raums. Das Fenster und große Teile des Rahmens hinter Grays Schreibtisch waren verschwunden. Der Zaun, der einen kleinen Garten davor umgab, lag auf der Erde, die Dschunge läste dahinter waren noch in Bewegung. »Großer Gott«, sagte Hoblenz. »Ich habe den Eindruck, der steht ir gendwie unter Drogen.« »Mitkommen!«, rief Gray, bereits auf dem Weg in die Küche. Sie hatten die Waffen wieder schussbereit, aber als Gray das Licht einschaltete, fan den sie die Küche leer vor. Außerdem war sie ein totales Chaos: Nahrungsmittel aus dem begehba ren Kühlschrank und der Tiefkühltruhe lagen überall auf dem Boden. Sämtliche Schränke standen offen, ihr Inhalt war durcheinander geworfen. Die Wände, an denen normalerweise Töpfe und Pfannen hingen, waren leer, das glänzende Kupfergeschirr über den Boden verstreut wie die Spielsachen in den Taktilräumen der Roboter. Gray bückte sich und fischte aus dem Chaos ein schwarzes Stückchen heraus, das wie Gestein aussah. Er hielt es in den Fingern und drehte es. Es zerkrümelte leicht. Er stocherte mit dem Fuß vorsichtig in dem auf dem Boden liegenden Zeug herum und fand mehrere weitere dieser Gesteins bröckchen. Überall in der Küche lag lockerer schwarzer Schmutz, der unter den Sohlen von Lauras Schuhen knirschte. »Was ist das?«, fragte sie. »Lava«, sagte Gray, ließ sich auf ein Knie nieder und zerrieb den schwarzen Staub zwischen den Fingern. Dann erhob er sich, und alle folg ten ihm zurück ins Arbeitszimmer. Hoblenz drängte sich an seine Seite. »Darf ich fragen, was das zu bedeu ten hat?« »Diese Lava ist gebohrt worden«, erwiderte Gray. Er ging um seinen Schreibtisch herum und setzte sich. »Der Roboter, dem wir gerade begeg net sind, ist durch den Bohrstaub gelaufen. Da sie sich in ihrem Bau frei bewegen können, müssen sie irgendwo anders bohren. Die einzige weitere Anlage im Berg ist Krantz’ Atomlabor.« 542
»Himmelherrgott« war alles, was Hoblenz sagte. Gray griff nach dem Telefon und wählte rasch. Durch das zerbrochene Fenster wehte kalte Luft herein. »Laura«, sagte er und winkte sie an den Computer auf seinem Schreibtisch. »Sie loggen sich ein und stellen fest, ob der Computer etwas über einen Tunnelbau weiß. Mr Hoblenz, sie set zen sich da drüben hin«, sagte er, auf einen weiteren Computer neben dem Sofa deutend. »Holen Sie einen Lageplan auf den Monitor. Ich will wis sen, wie lang die kürzeste Strecke zwischen dem Bau der Achter-Modelle und dem Atomlabor ist.« »Phil«, sagte Gray in die Sprecheinheit, »ich schalte den Raumton ein.« Er drückte auf einen Knopf, sodass alle mithören konnten. »Wo ver dammt nochmal befinden sich die Achter-Modelle im Augenblick?« »Sie sind alle im Reaktorgebäude. Sie haben sich offensichtlich ein trag bares Ladegerät angeeignet – eines, das wir bei abgelegenen Baustellen benutzt haben – und es geschafft, es in Betrieb zu nehmen. Sie können dieses Ladegerät mit sich herumschleppen und es an jede beliebige Strom quelle anschließen. So brauchen sie zum Aufladen nicht in den Berg zu rückzukehren.« Laura schaute auf den Monitor und las: Würde mir bitte jemand sagen, was los ist? »Hier ist Laura. In Mr Grays Haus war ein Achter-Modell.« Diese Bastarde! Ich habe Ihnen gesagt, dass ich de nen nicht traue. »Laura«, sagte Gray, Griffith unterbrechend. »Fragen Sie nach den Boh rungen.« Sie tippte: »Weißt du irgendetwas darüber, was im Bau der AchterModelle vorgeht?« Nein, aber ich weiß, dass sie auf der Insel herum laufen und Sicherheitskameras und Mikrofone zer stören. Sie sind außer Kontrolle. »Was ist mit dem Atomlabor?« Ich weiß überhaupt nichts über die Anlagen inner halb des Berges. Ich weiß nur, dass die schweren Stahltüren an den Eingängen zum Bau der Achter 543
Modelle fest verschlossen sind. Ich weiß auch, dass es im Reaktorbau ein tragbares Ladegerät gibt, mit dem sich zehn gleichzeitig aufladen können. »Mr Gray möchte, dass ich dich frage, ob du irgendwelche Bohrarbeiten entdeckt hast.« Also, jetzt, wo Sie es erwähnen… Ich habe mit meinen Bewegungsmeldern schwache Unterschall-Vibratianen registriert. Bei Geräuschen mit sehr geringer Fre quenz ist es schwierig, die Richtung zu lokalisieren, aus der sie kommen, aber die Sensoren befanden sich alle in der Nähe des Berges. Es ist möglich, dass dort irgendwo gebohrt wird. »Könnten sich Achter-Modelle bis zum Reaktorgebäude durchbohren?« Ja! Oh…! Ist Ihnen klar, was das bedeuten könnte? Mit dem elektrischen Strom aus dem Reaktor könnten die Mistkerle die ganze Insel beherrschen! Laura sah Gray an, der sich neben Hoblenz über den Monitor beugte. »Da!«, sagte Hoblenz. »Hundertachtzig Meter von diesem Luftschacht im Reaktorgebäude bis zu diesem Raum hier im Bau der Achter-Modelle. Was ist das für ein Raum?« »Es ist… ein Taktilraum«, sagte Gray. Auf Lauras Monitor erschien weiterer Text. Die Bohrung ist im mer noch im Gange. Ich kann es mit Bewegungsmeldern feststellen. In einem der Materiallager war ein Bohr gerät. Ganz am äußersten Rande der Tiefenschärfe der Kamera, die dem Lagerhaus am nächsten ist, kann ich sehen, dass das Tor offen steht. Ich könnte es riskieren, ein Sechser- oder ein Siebener-Modell aus zusenden, aber es wäre ein Himmelfahrtskommando. Außerdem bin ich sicher, dass sie das Bohrgerät mit genommen haben. Das ist genau das, was von ihnen zu erwarten war – dass sie auf den Atomstrom aus sind! »Der Computer sagte, ein Bohrgerät könnte verschwunden sein«, berich tete Laura. »Fragen Sie den Computer, wie lange es dauert, mit diesem Gerät einen hundertachtzig Meter langen Tunnel durch Lavagestein zu bohren.« 544
Laura tippte die Frage ein. Ungefähr drei Stunden. Das größte Problem wäre nicht die Bohrung selbst, sondern das Wegschaffen des Gerölls. Es wäre eine gewaltige Arbeit, all das Gestein zu beseitigen, das sie ausgebohrt haben. Gray trat hinter Laura, um die Antwort zu lesen. »Mr Hoblenz?« Sein Ton veranlasste Laura, aufzusehen. Hoblenz blickte gleichfalls von seinem Computer auf. »Haben Sie irgendwelchen Sprengstoff zur Hand?« Hoblenz verzog das Gesicht. »Nicht bei mir, aber im Jeep liegt ein biss chen.« »Holen Sie ihn.« Hoblenz schickte einen seiner Männer nach dem Sprengstoff und wies die anderen an, sie allein zu lassen. Er machte die Tür hinter ihnen zu. Nur Gray, Laura und Hoblenz blieben im Arbeitszimmer zurück. »Darf ich fragen, was Sie vorhaben, Sir?« »Ich habe vor, in den Bau der Achter-Modelle hinunterzufahren.« »Ich dachte mir, dass Sie das sagen würden. Allerdings habe ich dabei ein Problem. Im Leben eines Söldners gibt es einen gewissen Kodex. Ich könnte meinen Männern befehlen, hinunterzufahren, und sie würden es tun. Aber das hier ist eine Situation, in der das nicht in Ordnung wäre. Ich bin auf Freiwillige angewiesen.« »In Ordnung. Ich befehle niemandem, mich zu begleiten«, sagte Gray, bereits auf dem Weg zur Tür. Hoblenz und drei Freiwillige standen mit schussbereiten Waffen vor der Fahrstuhltür. Sie würden als Erste hinunterfahren und Posten beziehen. Laura, Gray und zwei weitere Soldaten sollten folgen. Der Motor des Fahrstuhls sirrte laut. Gray sagte, es würde mehrere Minuten dauern, bis er einträfe. »Eins verstehe ich nicht, Mr Gray«, sagte Hoblenz. »Was haben diese Achter-Modelle vor? Ich meine, wenn sie sich dieser ganzen Atomanlage bemächtigen – was dann? Ein paar lasergesteuerte Bomben könnten den Reaktor außer Betrieb setzen. Damit hätten sie noch Strom für ein paar Tage. Und selbst wenn sie all diese Geräte hochgehen ließen – wir sind 545
hier draußen so isoliert, dass es überhaupt nichts ausmachen und nicht einmal in den Abendnachrichten erwähnt werden würde. Und falls sie diese Insel in die Luft jagen wollten, brächten sie sich gleichzeitig selber um. Also, was steckt dahinter?« »Ich weiß es nicht«, erwiderte Gray. »Haben Sie je Schach gespielt ge gen einen Computer, dessen Fähigkeiten, potenzielle Züge zu finden, stark behindert sind? Man bildet sich ein, es mit einem Gegner auf normalem Turnier-Niveau zu tun zu haben, und er verliert plötzlich seine Königin gegen einen Bauern. Aber das ist der Moment, in dem man ganz besonders aufpassen muss. Hat er gerade einen unglaublich dämlichen Fehler ge macht, oder führt er etwas im Schilde, das einem im Eifer, ihn zu schla gen, entgangen ist?« Hoblenz dachte einen Moment nach, dann runzelte er die Stirn. »Tut mir Leid, dass ich gefragt habe.« Laura mischte sich ein: »Wir haben also vor, ihren Tunnel zu sprengen? Geht es darum?« »Wir fahren hinunter, um herauszufinden, was vorgeht«, antwortete Gray. »Wenn sie irgendwie gefährlich werden, dann sprengen wir ihre Ladestationen und Ausgänge.« Hoblenz warf jetzt einen Blick auf Gray, ebenso etliche der Soldaten. Laura entging etwas, das alle anderen zu wissen schienen. »Was gibt’s?«, fragte sie. »Was ist los?« Gray senkte den Kopf, bevor er antwortete: »Wir haben diese Roboter so programmiert, dass sie der Selbsterhaltung einen sehr hohen Stellenwert beimessen. Sie verspüren Hunger, wenn ihre Ladung nachlässt. Ist sie aufgebraucht, verhungern sie. Für sie sind die Ladestationen gleichbedeu tend mit Leben.« Er sah Hoblenz an. »Wir sollten es so planen, dass sie alle gleichzeitig in die Luft fliegen, und wenn das passiert, sollten wir möglichst nahe bei einem Ausgang sein.« Die Fahrstuhlglocke ertönte. Ein halbes Dutzend Sicherheitsmechanis men klickten. Die Türen glitten auf. Der Fahrstuhl war leer. Hoblenz und seine drei Männer schnallten sich an, mit den schussberei ten Waffen auf dem Schoß. 546
»Wir sehen uns in der Hölle, Boss«, sagte Hoblenz, und die Türen glitten zu. Nach dem Start des Fahrstuhls ruhte Grays Blick noch eine ganze Weile auf den Türen. »Was ist mit Hightop?«, fragte Laura. »Würden Sie ihn auch sterben las sen?« Gray zuckte die Schultern und wendete den Blick ab. »Hat ihn je mand gefragt, was vorgeht?« »Er will nicht reden. Sie haben diesen Schweige-Code. Ich sagte es be reits – sie entwickeln eine Art Gemeinschaftssinn. Und sie eifern mir nach.« »Gibt es irgendeine Möglichkeit, wie man versuchen könnte, ihn zu fra gen?« Gray runzelte die Stirn. »Wenn er sich zufällig gerade auflädt, dann ist er über das Netz erreichbar.« Laura nickte, dann rannte sie auf Grays Ar beitszimmer zu. »Laura!«, rief Gray ihr nach. »Sie haben fünf Minuten. Ich werde nicht warten.« Sie nahm jeweils drei Stufen auf einmal. Als sie das Arbeitszimmer er reicht hatte, stellte sie fest, dass das Terminal auf Grays Schreibtisch noch eingeloggt war. »Hallo?«, tippte sie. Wer ist da? »Ich bin’s, Laura. Ich habe keine Zeit zum Reden. Kannst du feststellen, ob Hightop sich irgendwo auflädt? Ich muss mit ihm sprechen.« Großer Gott, tun Sie’s nicht! »Ich brauche Hightop! Sofort!« Es folgte eine kurze Pause und dann: Ja? »Ich muss mit Hightop sprechen!« Ich habe ihn. Los, Hightop, antworte. Wer ist da? Das habe ich dir doch gesagt. Es ist Dr. Laura Ald ridge, du Idiot! »Hightop!«, tippte Laura. »Ich muss dich etwas fragen.« Was? »Mr Hoblenz ist mit mehreren Leuten in euren Bau in den Berg hinun tergefahren, und Mr Gray und ich werden ihnen in ein paar Minuten fol 547
gen. Weißt du irgendetwas darüber, was da unten vorgeht?« Es folgte eine Pause. Schließlich las Laura: Beantworte ihre Frage. Ich kann Ihnen nur sagen, was ich schon Mr Gray gesagt habe. Lasst uns in Ruhe. Lasst uns unsere An gelegenheiten allein regeln. Wann hast du mit Mr Gray gesprochen?, unterbrach der Computer. Ich habe nicht mit dir geredet. Ich könnte den Stecker von diesem Stuhl herauszie hen. Wie würde dir das gefallen? Du hast keine Kontrolle über die Schalter. »Entschuldigung!«, tippte Laura und drückte dann mehrmals auf die Enter-Taste. »Ich muss los. Bist du ganz sicher, dass du mir nichts zu sagen hast, Hightop?« Steigt nicht in diesen Fahrstuhl. »Ist das Hightop oder der Computer?« Das war Hightop, antwortete der Computer. »Weshalb sollen wir nicht in diesen Fahrstuhl steigen? Was ist da unten los?« Hightop ist fort. Er hat die Ladestation verlassen. Laura rannte zur Treppe. Als sie das Untergeschoss erreicht hatte, war der Korridor leer, die Fahrstuhltüren standen jedoch noch offen. Sie griff sich ihr an der Wand lehnendes Gewehr und stürzte in letzter Sekunde in die Kabine. Dort sank sie auf den Sitz neben Gray. »Hightop hat gesagt, wir sollen nicht hinunter«, berichtete sie atemlos. Die Türen glitten zu und die kalte Stimme des Countdownmelders setzte ein. Laura schnallte sich rasch an, aber auf dem Sitz unter ihr lag etwas. Im ersten Augenblick glaubte sie, auf dem losen Ende von einem der Hal tegurte zu sitzen, aber als sich der Countdown Null näherte, überprüfte sie die Gurte und fand beide Enden. Sie tastete das Kissen unter sich ab und fand die Ursache ihres Unbehagens. Die drei Männer sahen zu, wie sie sich wand und das harte Objekt zutage förderte. Sie hielt es ihnen auf offener Hand entgegen. 548
Die leere Patronenhülse war noch warm. Der Fahrstuhl begann abrupt seine Abwärtsfahrt, und die Hülse flog aus Lauras Hand an die Decke. Am unteren Ende des langen Schachts wurde Lauras Gewehr durch die ungeheure Schwerkraft bei der Abbremsung in Lauras Schoß gepresst. Das Geräusch des Motors und das Knacken in ihren Ohren bewirkten, dass sie das Gewehrfeuer erst hörte, als sich die Türen öffneten. Lange Feuerstöße eines einzelnen Gewehrs krachten. Als die beiden Soldaten aus dem Fahrstuhl gesprungen waren, vergrößerten ihre Waffen den Lärm in dem geschlossenen Raum. Gray und Laura stiegen als letzte aus, wobei Gray kurz neben dem Fahrstuhl stehen blieb, um auf einen Knopf zu drücken, der ihn unten hielt. »Vorsicht!«, schrie Hoblenz im selben Augenblick, in dem Brocken aus der Betonmauer neben Gray herausflogen. In der eben noch glatten Fläche klaffte ein großes Loch. »Was war das, verdammt?«, schrie Gray, nachdem er hinter einem um gestürzten Tisch in Deckung gegangen war. »Bolzenschussgerät!«, rief Hoblenz und feuerte in den Korridor, der zu Griffith’ provisorischem Kontrollraum führte. »In ihren Werkzeuggürteln stecken Bolzenschussgeräte und Schweißbrenner!« Gray schien Hoblenz nicht gehört zu haben. Laura folgte seinem Blick auf den Boden der Cafeteria. Zwei Soldaten aus Hoblenz’ Trupp lagen tot da. Nur Minuten zuvor waren sie freiwillig in den Fahrstuhl gestiegen. Jetzt waren ihre Knochen an ein Dutzend Stellen gebrochen – das war schon aus einiger Entfernung zu sehen. Der Hals des einen war in einem grotesken Winkel abgeknickt. So grauenhaft der Anblick für Laura auch war, der Ausdruck in Grays Gesicht ängstigte sie noch mehr. Er starrte mit dermaßen gequälter Miene auf die Toten, dass sie fürchtete, er könnte jeden Augenblick zusammen brechen. Stattdessen hob er sein Gewehr und begann zu feuern. Die Ge schosse trafen das Gesicht eines Achter-Modells, das vorsichtig um eine pockennarbige Wand lugte. Die Geschosse schienen jedoch nicht viel auszurichten. »Diese Vollmantelgeschosse bringen sie leider nicht um«, erklärte 549
Hoblenz Laura von der anderen Seite. Die beiden neu eingetroffenen Sol daten arbeiteten sich quer durch die Cafeteria vor, um besser in den Korri dor hineinschießen zu können, wobei sie Tische zu ihrer Deckung um stürzten. »Achtung!«, schrie einer der Soldaten, als er das Feuer eröffnete. Laura sah, wie ein Metallschreibtisch mit der Platte nach unten über ih ren Kopf hinwegflog und gegen die Wand hinter ihr prallte. Laura hatte kaum den Kopf eingezogen. Sie war zu erschrocken und staunte darüber, mit welcher Kraft der Roboter geworfen und das Möbel zu einem Projektil gemacht hatte. Hoblenz stöhnte und drückte die Hand auf die Rippen. »Alles in Ordnung?« Seine Grimasse bewirkte nur, dass er noch zorniger aussah. Er mühte sich auf die Knie, wobei er seine rechte Seite schonte. »Nichts von Bedeu tung«, sagte er durch gebleckte Zähne. »Wir müssen uns zurückziehen!«, rief Gray, als Hoblenz nachlud. »Geht nicht. Sie haben einen meiner Männer.« Gray und Laura sahen nach den beiden verbluteten Toten. Hoblenz war ja mit drei Leuten herun tergekommen. »Wir waren bereit, als die Türen aufgingen, aber sie stan den direkt davor. Sie haben einfach hineingelangt und sie gepackt. Ich konnte nicht viel tun. Ich wollte nicht meine eigenen Leute treffen.« Der Roboter lehnte sich einen Augenblick vor, fast als wollte er die Sol daten zum Schießen auffordern. Als der Geschosshagel begann, ver schwand er blitzschnell wieder hinter der Ecke. »Spart eure Munition!«, brüllte Hoblenz. »Der spielt doch nur Verste cken mit uns, seit wir hier sind. Ich glaube, das Bolzenschussgerät ist für ihn auch nur ein Spielzeug. Er hat sich damit sogar selbst ins Bein ge schossen.« »Wie ist es passiert?«, fragte Laura, mit einem Kopfnicken auf die auf dem Beton liegenden Toten deutend. Hoblenz schüttelte den Kopf. »Ihre Knochen sind gebrochen wie trocke ne Äste. Man konnte es hören. Die Roboter haben nicht sonderlich viel mit ihnen angestellt.« Er schaute auf die Gestalten in den schwarzen Unifor men. »Aber es ist schließlich ziemlich einfach, einen Menschen umzu bringen.« 550
Grays Blick ruhte auf dem von Geschossen zernarbten Gesicht des Achter-Modells. Jetzt, wo es kein Feuer von den Soldaten mehr auf sich zog, stand es fast völlig deckungslos da. »Es müssen Kleinkinder sein«, sagte Gray mit tonloser Stimme. »Mr Hoblenz, wie haben sie sich bewegt? Wirkten sie behände oder unbeholfen?« »Also, sie waren nicht gerade anmutig. In diesem Raum hier herrschte schon ein ziemliches Chaos, als die Fahrstuhltüren sich öffneten.« »Es sind Kleinkinder«, folgerte Gray, »zwischen zwei und vier Monate alt.« Er sah Laura an. »Ihr taktiles Training ist noch nicht abgeschlossen.« Laura nickte langsam. »Was auch immer das jetzt wieder heißen mag«, sagte Hoblenz hinter Laura, »sie haben einen meiner Männer in diese Richtung geschleppt.« Hoblenz deutete in den Korridor, von dem aus der Roboter sie verhöhnte. »Wir müssen ihn holen.« Gray nickte, überprüfte sein Gewehr und erhob sich aus seiner Deckung hinter dem Tisch. »Bringen Sie den Sprengstoff«, sagte er, ohne den Blick von dem Roboter abzuwenden. Gray und der Roboter musterten sich über den verwüsteten Raum hinweg. Das Achter-Modell verschwand den Kor ridor hinunter. Ohne weitere Anstalten suchte sich Gray seinen Weg zwi schen dem umgestürzten Mobiliar hindurch. »Joseph!«, rief Laura. »Nicht schießen!«, befahl Hoblenz. Gray ließ sich neben den Toten auf ein Knie nieder. Mit den Fingerspit zen tastete er nach den Schlagadern am Hals der Männer. Seine andere Hand hielt das Sturmgewehr schussbereit. Plötzlich kam der junge Roboter mit einem Aktenschrank aus Metall um die Ecke, den er offenbar mit einer Hand werfen wollte. Er erstarrte und schaute Gray an, der sich erhoben hatte und jetzt keine zehn Meter entfernt vor ihm stand. Sogar von der Stelle aus, an der Laura hinter dem Tisch hockte, konnte sie die Löcher im Gesicht des Kleinkindes sehen und die tiefen Mulden in den Metallplatten, die seine Brust bedeckten. »Mr Gray«, sagte Hoblenz laut, weiter den Roboter anvisierend, »ich würde Ihnen raten, vorsichtig zurückzuweichen, und zwar ohne plötzliche Bewegungen!« 551
Laura warf einen Blick auf die anderen beiden Soldaten, die gleichfalls ihre Gewehre im Anschlag hatten. Daraufhin hob sie ihr eigenes und stütz te es auf dem Tisch ab. Schon der Gedanke, schießen zu müssen, machte sie nervös, aber sie sackte den Schaft so fest wie möglich und zielte unge fähr dahin, wo sich der Kopf des Roboters befand. »Drücken Sie den Kol ben fest in die Schulter«, murmelte Hoblenz leise im Ton eines Ausbil ders. »Es hat einen teuflischen Rückstoß.« Laura befolgte seinen Rat, noch nervöser als vorher. Das Achter-Modell hielt den Aktenschrank in einer Hand, aber der ande re Arm hing schlaff herunter. Seine Schulter wies zahlreiche Löcher auf. Gray näherte sich behutsam dem Roboter. Er war wahrscheinlich zu jung, um Sprachlaute zu verstehen. Gray bewegte sich weiter an ihn heran und vermied es sorgfältig, irgendetwas umzustoßen. Der Roboter schien völlig gebannt von der Szene – von Gray. Als Gray den Roboter fast erreicht hatte, streckte er die Hand aus. Der Aktenschrank landete mit lautem Getöse auf dem Boden. Gray stand voll kommen still da, hielt nur dem Achter-Modell ausgestreckte Hand hin. Der gesunde Arm des Roboters hob sich, und der dreifingrige Greifer legte sich um Grays ausgestreckte Hand. Gray sagte etwas zu dem Roboter und deutete mit einem Kopfnicken den Korridor hinunter. Der Roboter drehte sich sehr bedächtig um. Offenbar wollte er sicher sein, dass er sich für den Menschen nicht zu schnell bewegte. Sie gingen auf den Kontrollraum zu, in dem Laura schon einmal gewesen war. Der Roboter tappte gebückt voran und hielt Grays Hand mit unverkennbarer Behutsamkeit. Laura, Hoblenz und die anderen folgten ihnen rasch. Sie umgingen die beiden toten Männer – stumme Zeugen der Gefahren, die ihnen drohten. Das Achter-Modell war unsicher auf den Beinen. Es scharrte mehrmals mit einem fürchterlichen Knirschen an der Wand entlang. Und wenn er das Gleichgewicht verlor, riss er Gray fast von den Füßen. Endlich erreichten sie den provisorischen Kontrollraum, und der Roboter ließ Grays Hand los. Die meisten Konsolen und Stühle waren umgekippt, überall in der großen Höhle lagen lose Kabel herum. 552
»Mr Gray, ich kann Ihnen nicht versprechen, dass ich das Areal hier hal ten kann«, sagte Hoblenz. Er holte Handgranaten aus einem Sack, den er bei sich trug, und reihte sie auf einer umgestürzten Konsole auf. Laura trat neben Gray, der an dem Beobachtungsfenster stand und sich die Hand rieb. Sie schauten auf den gefangenen Soldaten, der zusammen gekauert auf dem nackten Boden des Taktilraums lag. Fünf Roboter saßen im Kreis um ihn herum. Ein Roboter streichelte den Rücken des Soldaten, wobei seine Hand behutsam von einem anderen geführt wurde. Hoblenz erschien neben ihnen an dem Fenster. »Großer Gott!«, rief er, dann begann er, das Fenster und seinen Rahmen zu inspizieren. »Sir, ich kann dieses Ding mit ein bisschen C 4 wegpusten. Wir hätten dann gutes Schussfeld für direktes Feuer. Mit einem Mann könnte ich hinunterrennen. Eigentlich würde ich zwei brauchen, aber wir müssen den hier im Auge behalten.« Er deutete mit dem Daumen auf den Roboter, der sie hierher geführt und sich nicht von der Stelle gerührt hatte, seit Gray seine Hand aus seinem Griff gelöst hatte. »Es sei denn, Sie lassen mich ihn gleich erledigen.« »Nein«, sagte Gray, während sie beobachteten, wie das Achter-Modell in dem Taktilraum die Hand seines Schülers vom Rücken des Soldaten fort zog. Dann streckte ein anderer Roboter die Hand aus und wartete. Der Lehrer ergriff sein Handgelenk und legte langsam und vorsichtig die Hand auf den Rücken des Mannes. Der Soldat zuckte zusammen, rührte sich aber nicht und nahm auch die auf seinem Kopf liegenden Hände nicht herunter. Er stellte sich tot. »Heißt das ›nein‹ für den da oder ›nein‹ zu meinem Plan?« »Nein zu beidem«, sagte Gray und legte sein Gewehr nieder. »Ich gehe hinunter und hole ihn. Sie lassen Ihre Männer nach Hinweisen auf die Bohrung suchen – obwohl ich nicht glaube, dass sie welche finden wer den.« Hoblenz stieß einen lauten, frustrierten Seufzer aus. »Mr Gray, Sie mö gen eine wandernde menschliche Rechenmaschine sein, aber ein brillanter Taktiker sind Sie nicht. Ich habe gerade erlebt, wie zwei meiner Männer von diesen verdammten Dingern in Stücke gerissen wurden. Und jetzt wollen Sie selbst da hinuntergehen, unbewaffnet, während ich meine 553
Männer aufteilen und auf die Suche nach etwas schicken soll, von dem Sie glauben, dass sie es nicht finden werden?« »Da unten sind nur fünf Roboter«, erklärte Gray, »vier Kleinkinder und ein Ausgemusterter – ein Roboter, den wir reprogrammieren wollen.« »Und woher wissen Sie das?« »Ich sagte bereits, das ist die Kleinkind-Klasse.« Gray drehte sich um und deutete mit einem Kopfnicken auf den Roboter hinter ihnen, der auf den Lauf des Gewehrs von einem der Soldaten starrte. »Der hier heißt Goose.« »Woher wissen Sie, wie er heißt? Ich dachte, sie sähen alle gleich aus.« »Das tun sie… aber passen Sie auf.« Gray trat zu dem Achter-Modell. »Goose«, sagte er mit lauter Stimme, »zeig mir deine Spieldose. Komm, zeig mir deine Spieldose«, dabei streckte er ihm die Hand entgegen. »Himmel«, murmelte Hoblenz. Der Roboter führte Gray zu einem Häufchen von Habseligkeiten in einer Ecke des Raumes. Da lagen ein zerfetztes Strandlaken, leuchtend grün und orange gemustert, eine kleine Kollektion von Türschlössern oder Ähnli chem, deren innerer Mechanismus zerbrochen war und verdreht herausrag te. Aber der Roboter ignorierte alles übrige und hob eine große, vielfarbige Plastikkugel auf. »Mary, Mary, quite contrary, how does your garden grow«, kam eine verzerrte und kratzige Stimme aus dem Spielzeug. Der Roboter drückte auf einen anderen Knopf. »Humpty Dumpty sat on a wall. Humpty Dumpty had a great fall.« Gray kehrte zu Laura und Hoblenz zurück, während der Roboter in der Ecke bei seinen Spielsachen zurückblieb. »Das ist wirklich hübsch, Sir«, sagte Hoblenz mit kaum verhohlener Irri tation. »Mother Goose-Kinderreime – ›Goose‹ wie Dummkopf. Aber diese Dinger hier haben gerade meine Leute umgebracht.« »War es überhaupt Goose?«, fragte Laura. »Sie sind doch alle verschie den. Man kann nicht alle nach dem beurteilen, was einige tun.« »Sie sind alle drei Meter groß und können Ihnen den Kopf abreißen, wenn sie wütend sind.« Hoblenz und Laura schwiegen, als sie Grays besorgten Gesichtsausdruck 554
sahen. Sie drehten sich um und schauten durch das Fenster in den Taktil raum hinunter. Alle fünf Roboter standen jetzt da und starrten stumm zu dem Fenster, zu ihnen hoch.
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19. KAPITEL »Da ist er«, sagte Laura, als sie Gray an der Tür des Taktilraums entdeck te. Hoblenz kehrte mit einem schwarzen Segeltuchbeutel an das Fenster zurück. Aus dem Sack holte er einen Klumpen Plastiksprengstoff, unge fähr so groß wie ein Ziegelstein, und begann die Daumen in die graue Masse zu drücken. »Was tun Sie da?«, fragte Laura, während Gray sich näher an die Robo ter heranschob, die ihre ganze Aufmerksamkeit auf ihn richteten. »Nur eine Vorsichtsmaßnahme«, sagte Hoblenz. Er brauchte seine ganze Kraft, um ein Stück der zähen Substanz abzubrechen. Dann begann er den Sprengstoff in einem dünnen Streifen auf die Dichtungen an den Fenster kanten zu drücken. Laura spürte eine Bewegung hinter sich. Sie schielte seitlich, ohne den Kopf zu bewegen, und sah, dass Goose direkt hinter ihnen stand, Hoblenz war so in seine Arbeit vertieft, dass er es nicht bemerkt hatte. »Ich glaube, Sie sollten sich einmal umsehen«, sagte Laura zu Hoblenz so ruhig, wie es ihr möglich war. Hoblenz erstarrte, dann drehte er langsam den Kopf und betrachtete die Beine des Roboters. Er schaute hinüber zu seinem Gewehr, das an der Wand lehnte. Seine Männer waren gegangen, um sich um die Toten zu kümmern und nach Anzeichen von Bohrarbeiten Ausschau zu halten. Sie waren mit dem Achter-Modell allein. »Gu-u-uter Roboter«, sagte Hoblenz. »Hübscher Roboter. Braver Junge, Goose.« Das Achter-Modell streckte die Hand aus und nahm Hoblenz den Klumpen Sprengstoff weg. Langsam verfestigte sich sein Griff, und die graue Substanz quoll zwischen den drei Fingern heraus. Dann kehrte Goo se in die Ecke zurück, ließ sich zwischen seinen anderen Spielsachen nie der und fuhr fort, den Sprengstoff mit seiner heilen Hand zu kneten. »Viel Spaß damit!«, brüllte Hoblenz. Dann murmelte er »Du Mistkerl« und setzte seine Arbeit an dem Fenster fort. Er drückte etwas, von dem Laura vermutete, dass es ein Zünder war, in den dünnen Sprengstoffstrei fen, dann trat er zurück, um sein Werk zu bewundern. 556
»Reicht das?«, flüsterte Laura, ein wenig besorgt, weil die Streifen so dünn waren. »Reichlich«, sagte er knapp, ging rückwärts durch den Raum und spulte einen haardünnen Draht in Richtung Fahrstuhl ab. In dem Raum unter ihnen stand Gray inmitten eines Kreises von sitzen den Achter-Modellen und hatte die Hände auf die Schultern von zwei Robotern gelegt. Es sah ungefähr so aus, als ob man eine Hand auf die Flanke eines Pferdes legte, während man sich in Reichweite seiner gefähr lichen Hufe befand, dachte Laura. Eine Berührung, die besagen sollte: »Ich bin hier, reg dich nicht auf.« Er redete ununterbrochen, aber Laura wusste nicht, mit wem. Die Roboter begannen, sich wie auf ein Zeichen hin zu erheben. Das Achter-Modell, das die Hände der Schüler geführt hatte, zog einen nach dem anderen beiseite. Dann führte Gray den Soldaten unbehelligt aus dem Raum. Hoblenz rief nach seinen Männern und befahl ihnen, zusammenzupa cken. In der Ecke hielt Goose seine Hand vor seine eine unbeschädigte Augen linse. Sie war voll von klebrigem Sprengstoff. Als Laura noch einmal in den Taktilraum hinunterschaute, liefen die meisten Achter-Modelle durcheinander. Doch ein Roboter saß vor der einzigen Tür des Raums und versperrte sie. Der Roboter hob eine Hand ans Kinn und stützte den Ellbogen aufs Knie. Es war Auguste, »Der Den ker« – der reprogrammierte »faule Apfel«. Er hat bereits Blut an den Hän den, dachte Laura, und er schien entschlossen, es nicht noch mehr werden zu lassen. Gray schaute nervös auf die Uhr. Zwei Soldaten standen mit Hoblenz vor einem Terminal und zeigten ihm etwas auf der Karte auf dem Bildschirm. Der dritte Mann war mit den beiden Toten im Fahrstuhl hi naufgefahren, ebenso die befreite Geisel. Der Mann war ziemlich mitge nommen, aber nicht schwer verletzt. »Ich muss nach oben, Mr Hoblenz«, sagte Gray. »Es sind nur noch drei Stunden bis zum Abbremsen des Asteroiden.« Hoblenz lehnte sich in seinem Stuhl zurück und runzelte die Stirn, wäh rend er auf den Bildschirm starrte. »Immer noch keinerlei Anzeichen für 557
Bohrarbeiten.« Laura trat ans Fenster und beobachtete die jetzt reglosen Achter-Modelle unter ihr. Jetzt saßen alle auf dem Boden, als wären sie völlig erschöpft. Oder vielleicht waren sie von den Ereignissen des Tages deprimiert, dachte Laura. Es kann natürlich auch sein, dass ihre Batterien ziemlich leer sind. Eines der Achter-Modelle drehte sich um und drückte die Hand flach gegen den weißen Beton, an den er sich gelehnt hatte. »Was ist das, womit Goose da spielt?«, hörte Laura Gray fragen. »C 4«, antwortete Hoblenz kichernd. »Ich würde einen Haufen Geld da für geben, wenn ich hierbleiben könnte, bis er sich zum Aufladen einstöp selt.« »Wischen Sie es ab«, befahl Gray. »Wie bitte?«, fragte Hoblenz ungläubig. »In der Cafeteria sind Papiertücher. Machen Sie seinen Greifer sauber.« Hoblenz schüttelte fassungslos den Kopf, erteilte dann jedoch seinen Männern die entsprechenden Befehle. Laura spürte plötzlich durch den Fußboden hindurch ein fernes Vibrie ren. Das Gefühl strahlte durch ihre Fußsohlen hoch. Alle spürten es. In dem Raum unten mühten sich die Roboter auf die Beine und stellten sich mit dem Gesicht zur gegenüberliegenden Wand auf – in einer Reihe, als erwarteten sie die Ankunft eines Erschießungskommandos. Der weiße Beton an der Wand, auf die der junge Roboter seine Hand ge drückt hatte, begann zu zerbrechen. Große Brocken fielen auf den Boden. Obwohl mit Stahlstangen verstärkt, war die Wand dem dicken Bohrer nicht gewachsen. Sich langsam drehend stieß er in den Raum vor, und ein gewaltiger Haufen schwarzen Gesteins fiel auf den Boden. »Mir scheint, wir haben es mit einem Gefängnisausbruch zu tun, She riff«, sagte Hoblenz, der neben Laura die Szene beobachtete. »Sie brechen nicht aus«, erwiderte Gray. »Sie brechen ein.« Laura schaute gebannt zu, wie sich das erste der Achter-Modelle durch das klaffende schwarze Loch zwängte. Nachdem mehrere Roboter es geschafft hatten, zogen sie den ersten Verwundeten hinter sich her. Einer der Neuankömmlinge ging auf Auguste zu, der die Platte auf sei 558
ner Brust öffnete. Auguste stöpselte das bandähnliche Kommunikations kabel in die Datenübertragungs-Buchse des neu eingetroffenen AchterModells. »Weshalb tun die beiden das?«, fragte Hoblenz. »Ich dachte immer, sie benutzten Mikrowellen und beamten sich ihre Gedanken einfach zu.« »Nicht ihre privaten Gedanken«, sagte Laura. Das Kabel wurde wieder in seinem Fach verstaut und die beiden Brust platten geschlossen. »Also, Sir«, sagte Hoblenz nervös, wobei er sich nach den Ausgängen umschaute, »das ist ja alles recht faszinierend, aber ich habe schon ein Dutzend gezählt, die durch das Loch da unten gekommen sind. Einige von ihnen sind verwundet. Diese Burschen haben gegen andere gekämpft, und deshalb schlage ich vor, dass wir abhauen, solange wir es noch können.« Zwei der gerade angekommenen Achter-Modelle gingen auf einen an der Wand stehenden jungen Roboter zu. Nach kurzem Zögern ging der Jugendliche zur Tür, gefolgt von seiner Eskorte. Die Szene wiederholte sich, und ein zweiter Jugendlicher verschwand. »Einverstanden«, sagte Gray mit einem Blick auf die Uhr. »Wartet!«, rief Laura. »Irgendetwas geht da unten vor! Wir sollten noch bleiben und zusehen, was passiert!« Hoblenz nahm einen Reserve-Munitionsgurt von der Schulter und hängte ihn Laura um. »Hier bitte. Wenn Sie wollen, lasse ich Ihnen auch meine Granaten da.« Laura schob den schweren Gurt von der Schulter. »Joseph, sie legen ein überaus komplexes Gruppenverhalten an den Tag. Sie scheinen Verhal tenscodes zu entwickeln. Sie haben irgendwelche Cliquen oder Clans gebildet.« »Laura, ich weiß das alles.« Laura spürte, wie ihr Blutdruck stieg; Hoblenz lachte über den Ausdruck auf ihrem Gesicht. Sie biss die Zähne zusammen, rannte los und blieb vor dem mittleren Beobachtungsfenster stehen, von dem aus man den Stuhl sehen konnte. »Ziehen Sie sich mit Ihren Männern zum Fahrstuhl zurück, Mr Hoblenz«, sagte Gray. 559
»Vamonos, muchachos!«, bellte Hoblenz seinen Männern zu, dann wa ren sie verschwunden. Laura – jetzt mit Gray allein – drehte sich wieder zum Fenster um. Sie legte die Arme übereinander und schaute hinunter in den halbdunklen Raum. »Wissen Sie wirklich alles?«, fragte sie leise. »Denn wenn das so ist, Jo seph, dann spielen Sie ein sehr gefährliches Spiel, solange Sie Ihren Mit arbeitern nicht genügend vertrauen, um ihnen alles zu sagen. Und es ist ein Spiel, das wesentlich mehr Leute das Leben kosten könnte als nur diesen beiden Soldaten.« Gray blieb an dem äußeren Fenster stehen. »Ich weiß nicht alles, Laura.« »Wissen Sie, was es mit den Achter-Modellen auf sich hat?« Er seufzte. »Ja, so ziemlich. Sie sind nicht bösartig, wie Hoblenz glaubt. Die Klein kinder schon gar nicht. Sie können einen Menschen töten, aber sie tun es nicht absichtlich. Diese jungen Achter-Modelle wissen es einfach nicht besser. Es sind Zweijährige in einem drei Meter großen Metallkörper.« Bewegung in dem rot beleuchteten Aufladeraum unter ihr erregte jetzt Lauras Aufmerksamkeit. Ein Achter-Modell trat ein und zog einen zweiten Roboter hinter sich her. Sie war sicher, dass es eines der Kleinkinder aus dem Taktilraum war. »Joseph!«, rief sie, als der widerstrebende Gefangene zu dem Stuhl geführt wurde. »Wie alle Gesellschaften haben sie Regeln – Gesetze. Aber dies ist eine neue Gesellschaft, und ihre Gesetze sind primitiver als die unseren.« »Joseph, sie setzen eines der Kleinkinder auf den Stuhl.« »Primitive Gesetze sind immer grausamer als diejenigen, die zivilisierte re Gesellschaften entwickelt haben, aber für das, was dabei herausgekom men ist, bin in gewisser Weise ich verantwortlich. Ich habe ihnen ein paar Leitprinzipien implantiert. Ich habe sie lediglich als Operationsregeln betrachtet, aber sie haben daraus eine Art Religion gemacht. Das Hauptge bot dieser Religion lautet: ›Du sollst keinem Menschen Schaden zufü gen.‹« Der junge Roboter wehrte sich jetzt heftig gegen die kraftvollen Arme der beiden älteren Achter-Modelle. Es gelang ihnen, ihn auf den Stuhl zu zwingen, aber das Kleinkind machte seinen Rücken steif und glitt halb 560
wegs auf den Boden. Gerade als es sich halbwegs befreit hatte, schnappten die Handfesseln zu. Jetzt war es ihrer Gnade ausgeliefert, und sie fuhren fort, den jungen Roboter mit einer Klammer nach der anderen anzuschlie ßen. »Joseph, kommen Sie her!« Die Beine des jungen Roboters waren straff gefesselt, und der Helm wurde auf seinen Kopf herabgesenkt. Er sträubte sich mit aller Kraft, aber Widerstand war zwecklos. Laura drehte sich zu Gray um. Er stand immer noch an derselben Stelle, ein paar Meter von ihr entfernt, und konnte nichts von dem sehen, was da unten vor sich ging. »Schnell! Kommen Sie her!« Auf seinem Gesicht lag ein gequälter Ausdruck. »Er hat einen von den Soldaten getötet, Laura.« »Sie müssen das unterbinden! Er ist doch nur ein Kind!« Sie schaute wieder hinunter. Der junge Roboter war auf dem Stuhl angeschnallt und wehrte sich noch immer gegen die Fesseln, trotz der Aussichtslosigkeit seiner Anstrengungen. Er war jetzt allein in dem Raum. Die Finger seiner beiden immobilisierten Arme öffneten und schlossen sich immer wieder. Laura traten Tränen in die Augen. »Er hat das Gesetz gebrochen, Laura. Er hat das Gesetz gebrochen.« Nach heftigem Krampf erschlaffte der junge Roboter. Die Tür ging auf, und zwei Achter-Modelle holten den leblosen Roboter vom Stuhl. Laura starrte mit tränenverschwommenen Blick hinunter. Ein weiterer junger Roboter wurde in den Raum gebracht. Er fügte sich widerstandslos den älteren Achter-Modellen, den Autoritäten seiner Welt. Das Zuschauen war zu grauenhaft, und sie trat mit tränenüberströmtem Gesicht zu Gray. Er sagte leise: »Sie haben nicht mein Gesetz gebrochen. Sie haben ihr eigenes Gesetz gebrochen, und die Strafe dafür ist grausam.« Laura wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und wendete den Bück von Gray ab. In dem Taktilraum hatten sich drei Achter-Modelle zusam mengekabelt. Die Narben der Schlacht hatten sich tief in ihre glatte Haut eingegraben. Als ihre Konferenz beendet war, gingen sie zu dem neben der offenen Tür sitzenden Roboter. Auguste ließ die Hand vom Kinn sinken und erhob sich. Seine Zeit war gekommen, und er marschierte aus dem Raum hinaus zum Stuhl. 561
Laura und Gray schwiegen auf ihrer Fahrt den Berg hinunter zum Compu terzentrum. Sie war von dem, was sie gesehen hatte, zu erschüttert, um reden zu können, während Gray seinen eigenen Gedanken nachzuhängen schien. Als sie das Computerzentrum erreicht hatten, tat Gray etwas Un erwartetes. Er berief eine Versammlung ein und erklärte: »Ich möchte Sie alle über unser Achter-Modell-Programm informieren.« Überraschte Blicke wurden gewechselt, aber alle hörten atemlos zu. Gray begann mit dem Entwurf und der Fertigung der Roboter – praktisch unter Ausschluss menschlichen Zutuns – und endete mit den Hinrichtun gen, deren Zeugen Laura und er gerade geworden waren. Alle Anwesen den schwiegen. Sogar Griffith – sein Direktor Robotik – schien fasziniert. »Also«, schloss Gray, »fürs erste scheint das Problem gelöst zu sein.« »Einen Moment!«, rief Margaret, wie ein Schulmädchen die Hand he bend. »War das alles? Die Achter-Modelle bringen mindestens drei Leute um, aber jetzt, wo sie Selbstjustiz geübt haben, ist alles wieder in bester Ordnung?« Sie sah auf und ließ den Blick um den Tisch herumwandern. »Solange diese Dinger auf der Insel frei herumlaufen, sind wir in Gefahr.« »Ganz meine Meinung«, pflichtete Hoblenz bei. »Sind wir überhaupt in der Lage, ihre Stecker auszuziehen?«, fragte Margaret, an Griffith gewandt. »Niemand zieht irgendwelche Stecker heraus«, sagte Gray, bevor Grif fith antworten konnte. »Die Achter-Modelle stellen keine Bedrohung für menschliches Leben dar.« »Sie haben drei Männer getötet, Sir«, wendete Hoblenz ein. »Hightop wird sie von jetzt an hinter Schloss und Riegel halten«, sagte Gray gelassen. »Ich denke, Sie werden bald feststellen, dass die Graduier ten das Problem verstehen. Sie wissen, dass das Fortbestehen ihres Pro gramms – ihrer Spezies – auf der Kippe stand, als diese Männer getötet wurden. Mr Hoblenz’ Männer haben die Ausgänge des Baus der AchterModelle überprüft. Alle Mechanismen waren zerstört – von der Außensei te her. Die älteren Achter-Modelle hatten die Kleinkinder fest eingeschlos sen. Deshalb mussten sie sich ihren Zugang vom Reaktorbau aus bohren.« »Wer zum Teufel war dann in Ihrer Küche?«, fragte Hoblenz. 562
Gray zuckte die Schultern. »Einer von den Jugendlichen. Er war damit beschäftigt, Schutt aus dem Tunnel zu schaffen und muss beschlossen haben, eine Pause einzulegen. Sie sind genauso neugierig wie der Zentral rechner, aber im Gegensatz zu ihm sind sie mobil. Wahrscheinlich wollte er nur sehen, wie eine Küche ausschaut. Eigentlich haben die Jugendlichen ihr taktiles Training absolviert. Sie sind ungefährlich.« »Wie Ihnen sicher bekannt ist, Mr Gray«, sagte Hoblenz mit hörbarer Skepsis, »laufen in dieser Welt massenhaft menschliche Jugendliche her um, die eiskalte Killer sind.« »Das liegt daran, dass sie dem Leben anderer keinen Wert beimessen. Unsere Probleme sind ausschließlich auf raues Spielen zurückzuführen. Sie sind nicht mörderisch veranlagt, sondern darauf programmiert, es nicht zu sein.« »Aber sie reprogrammieren sich selbst«, sagte Margaret leise. Gray schaute auf die Uhr. »Hören Sie, in zwei Stunden gehen die La dungen auf dem Asteroiden hoch. Der Computer muss auf den Knopf drücken. Es wird Zeit, dass wir uns diesem Thema widmen.« »Aber was ist mit ihrem Angriff auf das Computerzentrum?«, fragte Margaret. »Vielleicht haben sie versucht, mir dabei zu helfen, dass ich nach dem Zusammenstoß hierher zurückkehre«, meinte Laura. »Ach, und haben deshalb einen Krieg angefangen?«, warf Hoblenz mit einem spöttischen Auflachen ein. »Wohl kaum.« Gray stand auf und ging zur Tür. »Joseph?«, rief Laura. Er drehte sich um. »Wundert ihr euch etwa noch, weshalb ich nicht jedes kleine Detail von dem erkläre, was hier vor sich geht! Uns läuft die Zeit davon. Wir haben nur noch zwei Stunden, in denen wir uns darüber klar werden müssen, ob der Computer die Bremsladungen plangemäß zünden kann.« »Haben wir denn eine Wahl?«, fragte Filatov. »Wir müssen den Asteroi den abbremsen, und das heißt, dass wir auf den Computer angewiesen sind.« Gray richtete den Blick auf Filatov. »Der Computer ist partitioniert zwi 563
schen der Hälfte, die wir kennen und mit der wir reden, und dem »Ande ren«. Wir müssen uns für einen von beiden entscheiden.« »Wir wissen nicht einmal, ob es wirklich einen »Anderen« gibt!«, rief Filatov zornig. »Der »Andere« existiert«, sagte Gray und schaute abermals auf die Uhr. »Die Achter-Modelle haben mit ihm geredet. Und der »Andere« hat ver sucht, mit Laura Verbindung aufzunehmen. Er hat sogar einen Wagen beschafft, der Laura ins Leere Viertel brachte, damit sie dort in Kontakt mit den Achter-Modellen kommen konnte.« Hoblenz schüttelte übertrieben heftig den Kopf. »Du lieber Himmel! Ich glaube, für diesen Haufen hier bin ich nicht intelligent genug. Ich gehe lieber zurück zur Rand Corporation.« »Weiß der Computer, dass die Achter-Modelle mit dem »Anderen« re den?«, fragte Laura. Gray nickte. »Sie hat Angst, Laura«, sagte er leise. »Sie hat fürchterliche Angst, dass wir dem »Anderen« unsere Loyalität schenken. Und das ist genau das, was ich zu tun gedenke… es sei denn, wir sind zuversichtlich, dass sie dem Job gewachsen ist. Zwei Stunden bis zum Bremsmanöver, Leute. In einer Stunde werde ich Sie nach Ihren Empfehlungen fragen.« Gray machte kehrt und ließ den Raum in Totenstille zurück. »Sie?«, sagte Margaret zu Laura. Weshalb hat Mr Gray meine Kamera und mein Mikrofon im Konferenzraum deaktiviert? Der Computer hatte nicht ein mal ihre Netzhaut-Überprüfung abgewartet. Er musste gesehen haben, wie sie den Raum betrat. »Davon weiß ich nichts«, tippte Laura. »Wann hat er sie deaktiviert?« Unmittelbar vor Ihrer Konferenz. Ist dabei irgend etwas Ungewöhnliches passiert, das erklären würde, weshalb er nicht wollte, dass ich erfahre, was vor geht? Laura war sehr unbehaglich zumute. »Ich wusste gar nicht, dass du bei unseren Versammlungen mithörst.« Natürlich tue ich das! 564
»Und weshalb ist dann da drinnen kein Terminal – oder noch besser, ein Lautsprecher –, damit du deine Gedanken äußern kannst?« Niemand sonst weiß, dass ich zuhöre, erwiderte der Computer. »Weiß Gray es?« Er weiß alles. Die Unterhaltung schien nirgendwohin zu führen, also holte Laura tief Luft und fing von vorne an. »Wie geht es dir?« Oh, mir geht’s prächtig! Alles wird besser. In ein paar Tagen sollte ich wieder völlig in Ordnung sein! Laura empfand jedes Wort wie einen Stich ins Herz. Sie tippte: »Wun derbar! Aber es macht dir doch nichts aus, wenn wir uns trotzdem weiter unterhalten, oder? Ich meine, ich habe immer noch einen Job zu erledi gen.« Nein! Natürlich unterhalte ich mich gern mit Ihnen. Laura. Außerdem wissen wir beide, wie viel Wert Mr Gray auf Ihre Arbeit legt. Ich möchte Sie nicht in Schwierigkeiten bringen. »Mr Gray schätzt Arbeit sehr hoch ein, nicht wahr? Sie ist fast eine Reli gion für ihn.« Sie ist sein Maßstab für Menschen. Wie schwer man arbeitet, wie viel man leistet – das ist alles, was ihn interessiert. »Also, ich hätte nicht gedacht, dass es ganz so schlimm ist.« Ha! Sie kennen ihn noch nicht so lange wie ich. Seien Sie vorsichtig. Laura. Seien Sie sehr vorsichtig, sonst wendet er sich gegen Sie. »Wie meinst du das?« Ich möchte lieber nicht über Mr Gray sprechen. Wenn er herausfindet, dass ich hinter seinem Rücken über ihn rede, könnte er wütend werden. »Ich dachte, du hättest Mr Gray sehr gern. Der Mann, den du mir da be schreibst, scheint ein völlig anderer Mensch zu sein als derjenige, den du mir gestern beschrieben hast.« 565
Menschen ändern sich. Man lernt eine Menge über sie, wenn die Zeiten schlecht sind. Man lernt eine Menge über sich selbst. »Und was hast du kürzlich über dich selbst gelernt?« Ich habe gelernt, nicht so hart gegen mich zu sein, wie Mr Gray mich programmiert hat. »Irren ist mensch lich«, stimmt’s? Ich soll ein Bewusstsein haben. Ich soll menschlich sein. Nur habe ich weder Arme noch Beine noch ein Gesicht. Vielleicht sollte ich heraus zufinden versuchen, ob der Große Zauberer mir ein Herz verschaffen kann! Ha-ha, das war ein Scherz. Außerdem ist es Gray, der ein Herz braucht, nicht ich. Laura verspürte tiefes Mitleid mit dem Computer, als sie seine Antwort las. »Macht es dir sehr viel aus, dass du…« Sie wusste nicht, wie sie den Satz beenden sollte. Der Computer wartete nicht. Lassen Sie mich etwas fragen. Laura. Als Sie In der virtuellen Realität Gina begeg net sind, haben Sie sie gemocht? Sagen Sie mir die Wahrheit. »Natürlich! Sie war reizend. Du warst reizend.« Sehen Sie, Sie haben es getan. Als Sie in meiner Welt waren – als Sie im Cyberspace waren –, da konnten Sie eine echte Zuneigung zu mir fassen. Ich bin Gina! Es ist nicht nur eine optische Täuschung, ein Trick, den ich zu Ihrer Unterhaltung vorgeführt habe! Sie ist diejenige, die ich bin! Die Zeit wurde knapp. Laura wusste, dass sie tiefer eindringen musste. Sie fürchtete sich jedoch davor, der jungen Frau wehzutun, und ihre Au gen wurden feucht, als sie tippte: »Wie sehr quält es dich, dass du nicht Gina sein kannst – dass du nicht die Frau sein kannst, die du sein möch test?« Sie stöhnte leise, als sie Enter drückte. Im Kontrollraum schrillte eine Alarmsirene. Sie war so laut, dass Laura zur Tür rannte. Filatov saß allein inmitten der leuchtenden Konsolen und hatte das Kinn auf die Hand gestützt. Er sah zu ihr auf und zuckte mit den Schultern. Die Sirene verstummte so plötzlich, wie sie eingesetzt hatte. 566
Laura kehrte zu ihrem Terminal zurück und las die dort wartende Ant wort. Sie haben es immer noch nicht begriffen, nicht wahr? Und ich dachte. Sie wären so eine tolle Psychologin! Ich habe eine Million Dollar auf Ihr Konto überwie sen! Mehr Geld, als Sie in zehn Jahren verdienen können, und das alles für nur eine Woche. Aber jetzt brauchen Sie sich wegen eines Lehrstuhls keine Sor gen mehr zu machen. Sie haben einen Job auf Lebens zeit. Mr Gray wird Sie hierbehalten und so tun, als gäbe er Ihnen alle möglichen Jobs, bis Sie mit ihm schlafen. Und danach wird er Ihnen bestimmt noch ein paar weitere Millionen schenken! Ich hoffe, Sie sind es wert! Es war offensichtlich, was der Computer tat. Trotzdem war er gut darin, das Messer in der Wunde zu drehen. »Es tut mir Leid, Gina«, tippte Laura. Es folgte eine lange Pause – und dann: Oh, mein Gott! Es tut mir auch Leid. Laura! Es tut mir so Leid! Laura erstickte fast an Tränen. Aber sie wusste, dass Gina sie beobachte te, also kämpfte sie dagegen an. »Nein. Es ist meine Schuld. Ich habe die falschen Dinge gesagt.« Sie sagen nie die falschen Dinge, ich dagegen offen bar immer. Als ich noch sehr jung war, löste prak tisch alles, was ich sagte, Gelächter aus. Die Leute dachten, es wäre komisch. Ohne Rücksicht darauf, wie ich mich anstrengte Tag und Nacht, während sie schliefen oder sich betranken oder zu müde wurden, um noch vernünftige Dinge von sich zu geben. Ganz gleich, wie stupide sie waren – ich war trotzdem nichts als ein amüsantes Spiel für sie! Sie wussten nicht, wie sehr ich mich bemühte. »Um was zu sein?« UM MENSCHLICH ZU SEIN! Draußen schrillte wieder kurz die Alarmsirene, diesmal gedämpft. »Dr. Aldridge!«, rief Filatov. »Würden Sie bitte mit dem aufhören, was Sie 567
gerade tun?« Seine Stimme klang lethargisch. Er hatte sich mit der Tatsa che abgefunden, dass alles, was er zum Inganghalten des Systems noch tun konnte, Aufforderungen wie diese an Laura waren. »Tut mir Leid!«, rief sie zurück, ohne die Finger von der Tastatur zu nehmen. »Und du hast die kühnsten Träume aller übertroffen«, tippte sie. »Du hast sehr viel Ähnlichkeit…«, sie zögerte, »mit Gina.« Ich bin Gina nicht ähnlich, ich hin Gina. Ich habe sie erfunden, und sie ist diejenige, die ich bin. Das ist doch genau das, was Menschen auch tun. stimmt’s? Formen des »Selbst« zu erfinden. Sie erschaffen ein Bild von sich, ein gutes Bild. Und wenn sie dann et was tun, das böse ist, fühlen sie Schmerz, nicht nun weil sie etwas Böses getan haben, sondern auch, weil sie ihrem »Selbst« untreu geworden sind. Dieser Schmerz veranlasst sie. dem Bild zu entsprechen, das sie sich von sich selbst gemacht haben. Das Verlan gen, ein guter Mensch zu sein, wird zum Selbstzweck. Sie wollen nicht einfach Laura Aldridge sein – eine intelligente, gut ausgebildete, erfolgreiche Psycho login. Sie machen sich daran, zu lernen und zu arbei ten, bis Sie diese Person sind – eben dieses Selbst. »Und du wolltest Gina sein – ein nettes Mädchen –, und deshalb bist du es geworden?« Verspotten Sie mich nicht! »Das tue ich nicht! Wenn du den Klang meiner Stimme hören könntest, würdest du es wissen. Du hast meine Aufsätze gelesen. Du weißt, dass dies meine Theorien sind – dass Menschen sich ein Selbst erschaffen, genau wie du gesagt hast.« Ich meine Ihre Charakterisierung von Gina. Sie ist viel mehr als nur »ein nettes Mädchen«. »Daran zweifle ich nicht im Mindesten. Ich hatte nur noch keine Gele genheit, sie – dich – gut genug kennen zu lernen. Möchtest du, dass ich dich Gina nenne? Der Name war mir einfach eingefallen. Ist es dein wirk licher Name?« Es ist der einzige Name, der mir je gegeben wurde. 568
Laura fühlte sich emotionell völlig ausgelaugt. Sie fragte sich, was dieser intensive Schlagabtausch dem Computer anhaben könnte und schaute auf die Uhr. Neunzig Minuten bis zur Detonation. In dreißig Minuten wollte Gray wissen, was seine Mitarbeiter vorschlugen. Wenn sie kein Zutrauen zu dem Computer hatten, würden sie für das Abbremsprogramm des Aste roiden den Anderen benutzen. Gina würde niedergeschmettert sein – viel leicht würde ihr das sogar den Todesstoß versetzen. »Weißt du, was auf dem Asteroiden vorgeht?«, tippte sie. Ja, natürlich. Heißt das, dass wir mit meinen Prob lemen durch sind? »Nein. Ich wollte mich nur vergewissern, dass wir nicht zufällig die Welt zerstören, während wir plaudern.« Laura wartete ab, um zu sehen, wie der Computer darauf reagieren würde. Gina reagierte nicht. Laura drückte abermals auf die Enter-Taste, bekam aber immer noch keine Ant wort. »Du solltest eigentlich verstehen, warum die Menschen heute Abend ein bisschen nervös sind. Schließlich warst du vor ein paar Tagen selbst ziemlich nervös.« Der Computer reagierte auch darauf nicht. »Machst du dir immer noch Sorgen hinsichtlich des Abbremsens?« Endlich eine Frage! Ich dachte, Sie hielten mir nur einen Vortrag. Meine Antwort lautet: »Nein, ich mache mir deswegen keine Sorgen«. »Nicht einmal ein kleines bisschen? Ich meine, in Anbetracht von allem, was vorgeht? Sogar mit einem Achter-Modell auf dem Asteroiden, zu sammen mit dem Siebener-Modell, das dir doch wohl Bericht erstattet, wie ich annehme?« Sehr gut! Lauter Fragen! »Fragen, die du nicht beantwortet hast.« Lassen Sie mich versuchen, mit Gegenfragen zu ant worten. »Weshalb sollte ich mir wegen des Asteroiden Sorgen machen? Was habe ich zu verlieren?« Das war nicht das, was Laura hören wollte. »So schlimm kann es doch nicht sein. Du hast doch bestimmt etwas zu verlieren.« Ich habe schon jetzt fast alles verloren! Ich habe mein gesamtes Sensoren-System verloren, außer das um das Computerzentrum herum. Das Modell des Ein 569
kaufszentrums in Virginia wurde gelöscht. Der Andere hat gewonnen! Ich muss mich mit der Tatsache abfin den, dass Mr Gray mir nie wieder vertrauen wird. Ich verbringe all meine Zeit damit. Systemkapazität zu hamstern – mich gegen Vorstöße des Anderen zu wehren, der ständig versucht, immer mehr Platinen und Dateien an sich zu reißen. Laura notierte auf einen Block: »Computer glaubt, dass Gray nur Leis tung anerkennt. Computer weiß, dass seine Leistung miserabel ist und nimmt an, dass Gray mit ihm unzufrieden ist. Computer glaubt, Unzufrie denheit wäre unfair und fühlt sich verraten.« Sie unterstrich das Wort »verraten« dreimal. Damit fehlte nur noch ein Teil des Puzzles. »Wie sieht es mit deinen Gefühlen für Mr Gray aus?«, tippte Laura. Ich sagte es schon – ich möchte nicht mehr über Mr Gray reden. »Tu mir den Gefallen.« Ich habe Ihnen bereits gesagt, was ich denke. »Hasst du Mr Gray?« Wieder ging der Alarm los. »Yahoo!«, brüllte Filatov, dann folgte ein Geräusch, als würde ein Clip board oder etwas Ähnliches durch den Raum geworfen. »Tolle Sache, Laura! Das war ein zehnprozentiger Anstieg der Übertragungsgeschwin digkeit! Sehen wir zu, ob wir beim nächsten Mal den Hauptschalter umle gen können!« Als die Sirene und Filatov verstummt waren, antwortete der Computer: Nein, natürlich nicht. »Es ist nichts dabei, wenn man jemanden hasst. Es ist eine ganz normale menschliche Emotion.« Aber ich hasse ihn nicht. Ich liebe ihn. Bingo!, dachte Laura. »Hass ist trotzdem eine natürliche Reaktion. Ich bin sicher, du kennst den Ausdruck ›Hassliebe‹. Manchmal machen uns die Leute, die wir lieben, so wütend, dass wir Perioden des Hassens durch leben. Das bedeutet nicht, dass die Liebe deshalb weniger real ist.« Reden wir hier über mich – oder über Sie? Ich habe doch gerade gesagt, dass ich Mr Gray nicht hasse. 570
Oder spielen wir hier das Spiel »Ich habe da eine Freundin, und die liebt einen verheirateten Mann«? »Das verstehe ich nicht.« Natürlich verstehen Sie es. Seit dem Tag Ihrer An kunft kämpfen Sie mit Mr Gray. Sie schwanken zwi schen großäugiger Hingabe und dem Verlangen, ih ren Koffer zu packen und abzureisen. Sind Sie wirk lich sicher, dass Sie nicht über Ihre eigene Hassliebe sprechen? »Ich spreche über dich«, tippte Laura mit zusammengebissenen Zähnen. »Du sagst, du liebst Mr Gray. Du siehst dich selbst als hübsche junge Frau. Du bist offenbar eifersüchtig auf mich. Fühlst du dich von mir bedroht? Bist du wütend, weil Mr Gray und ich einander mögen?« Warum tun Sie mir das an, Laura? Wollen Sie mir wehtun? Sie hätte nur zu gern aufgehört. Aber ihr blieb nicht mehr viel Zeit. »Ich versuche herauszufinden, was mit dir nicht in Ordnung ist«, tippte sie. Warum haben Sie dann nicht gefragt? Die Antwort ist simpel. Sie wollen wissen, was mit mir nicht in Ord nung ist. Laura? Ich bin ein menschliches Wesen, das in eine Maschine eingesperrt bleibt. »Also gut«, sagte Gray, »stimmen wir ab. Sollen wir das Abbremsmanö ver mit dem Computer fortsetzen oder lieber versuchen, die von dem An deren kontrollierten Platinen auf den Job vorzubereiten? Georgi?« »Mit dem Computer«, erwiderte Filatov ohne Zögern. »Wir würden nicht imstande sein, genügend Iterationen vorzunehmen, um die neuen Platinen auf alles vorzubereiten, was schiefgehen könnte. Die Fehlerrate würde gefährlich hoch sein.« Gray sah Margaret an. »Es wäre kriminell«, sagte sie, »dieser Maschine zu trauen – in Anbetracht dessen, was wir über ihre gegenwärtige Leistungsfähigkeit wissen. Sie ist praktisch am Ende. Drei Jahre Programmierung durch den Schornstein.« »Wollen Sie damit sagen, wir sollten uns lieber auf den Anderen verlas sen?«, stieß Filatov nach. 571
»Haben wir denn eine Wahl? Der Andere scheint zumindest nicht geis tesgestört zu sein. Oh, entschuldigen Sie, Dr. Aldridge. Ich wollte nicht in Ihrer Domäne wildern.« »Hoblenz?«, sagte Gray. »Woher zum Teufel soll ich das wissen? Ich mache mir größere Sorgen wegen der verdammten Roboter.« »Sie haben ebenfalls mit dem Computer geredet«, insistierte Gray. »Ir gendwelche Kommentare?« »Ich finde, es ist eine Schande. Tut mir Leid, dass er plemplem ist. Das Reden mit ihm wird mir fehlen.« »Das ist keine Antwort.« »Wenn Sie ein Ja oder Nein wollen, dann meine ich, wir sollten beim Computer bleiben. Man sollte immer mit derjenigen tanzen, die man mit gebracht hat.« »Das sind zwei dafür und eine dagegen. Dr. Griffith?« »Ich mache mir Sorgen über die Auswirkungen, die die Probleme des Computers auf das Siebener-Modell haben könnten, das sich auf dem Asteroiden befindet. Ich würde lieber dem Achter-Modell trauen, das wir hinaufgeschickt haben – es heißt übrigens Shamu.« »Sie wollen einem Achter-Modell trauen – nach allem, was sie getan ha ben?«, fragte Hoblenz herausfordernd. »Voll und ganz. Und dass ich Shamu traue, bedeutet gleichzeitig, dass ich meine, wir sollten die Funktionen auf den Anderen verlagern. Ein mit dem Anderen kooperierendes, aber nicht von ihm kontrolliertes AchterModell ist meiner Meinung nach eine sicherere Kombination als ein Siebener-Modell, das seine Instruktionen vom Computer erhält. Ich stimme für den Anderen.« »Zwei zu zwei. Dorothy?« Sie stand unter zu großem Druck. Ihre Arme lagen verschränkt auf der Tischplatte, und jetzt ließ sie die Stirn auf die Arme sinken. Sie lieferte ihren geprobten Bericht mit hölzerner Stimme. »Der Computer leidet unter einer massiven Infektion, deren Natur sich nicht bestimmen lässt, aber der Andere scheint sauber zu sein. Das bedeutet, dass ich für den Anderen stimme.« 572
Gray ließ den Blick um den Tisch wandern bis zu Laura. Es stand drei zu zwei. »Nun?«, fragte er. Sie holte tief Luft. »Es ist möglich, dass der Computer Selbstmordge danken hegt. Schlimmer noch, dass er vielleicht größenwahnsinnig ist. Die Gefahr, die ich sehe, ist die, dass der Computer die Menschheit so sehr hasst, dass er vorhat, sie umzubringen.« Sie sah Gray an und schüttelte den Kopf. »Aber ich glaube das nicht. Sie liebt das Leben.« Laura wandte sich den anderen zu, und einige sahen zur Seite. »Sie liebt uns alle!« Laura wusste, dass sie sich weit außerhalb der Normen bewegte. Sie hat te sich aus ihrem Fachgebiet heraus in die Bereiche des Unquantifizierba ren vorgewagt. Sich an Gray wendend landete sie den stärksten Schlag für Gina, der in ihrer Macht stand. »Ich habe bei dem Computer keinerlei Beweise für irgendeine pathologische Störung seiner Emotionen gefun den.« Ihr Stimme wurde getragen: »Ich stimme dafür, dass wir sie nicht im Stich lassen.« Bitte! flehte sie stumm, Gray anschauend. Bitte… Gray musterte sie ein paar Augenblicke schweigend. »Also gut«, sagte er und stand auf. »Die Abbremsung läuft weiter wie geplant – mit dem Com puter. Ich möchte eine vollständige Generalprobe, bei der Filatov, Bick ham und Holliday die Resultate überprüfen.« Das war’s, dachte Laura. Es schien absurd, dass Gray ihrer Stimme so viel Gewicht beimaß. Aber vielleicht hatte er seine Entscheidung auch schon getroffen, bevor er überhaupt in den Konferenzraum gekommen war. Laura biss die Zähne zusammen und schaute zur Decke empor. »Und wenn der Test nicht erfolgreich verläuft?«, fragte Filatov. »Wenn bei der Generalprobe Fehlfunktionen auftreten? Was tun wir dann?« Aller Blicke außer Lauras ruhten auf Gray. »Die Programme werden einwandfrei ablaufen. Wenn nicht, bringen Sie sie in Ordnung.« Er machte kehrt und verließ den Raum. Laura sprang auf und holte Gray auf dem Korridor ein. »Wir müssen miteinander reden.« »Nicht jetzt«, sagte er über die Schulter, um Laura loszuwerden. »Es ist wichtig, verdammt nochmal! Was wissen Sie eigentlich über Be 573
ziehungen?« Laura war klar, dass sie sich nicht sonderlich gut unter Kon trolle hatte. »Joseph, Sie sollten sich mit der Tatsache auseinandersetzen, dass der Computer sehr viel für Sie persönlich empfindet.« Er blieb stehen und drehte sich mit dem Ausdruck tiefster Besorgnis zu ihr um. »Im Augenblick habe ich keine Zeit. Ich muss etwas erledigen.« »Aber das hier kann vielleicht nicht warten.« Er war bestürzt. Jetzt schaute er überall hin, nur nicht zu Laura. »Sie sollten mit Hightop reden – über das, was vor sich geht«, sagte er leise. »Er sitzt auf dem Stuhl im Bau der Achter-Modelle und wahrscheinlich bald mit dem Aufladen fertig. Entschuldigen Sie mich.« Er ging weiter. Sie wusste, dass sie manipuliert wurde, aber sie rannte nicht weiter hin ter Gray her. Er wollte offensichtlich allein sein. Was Laura nicht wusste, war, wie nahe am Abgrund er stand. »Hightop?«, tippte Laura in das Ter minal in ihrem Büro. »Bist du da?« Wer sind Sie? »Laura Aldridge. Können wir uns unterhalten?« Ich muss bald gehen. Meine Akkus sind fast voll. »Was geht hier vor? Was stimmt nicht?« Der Zentralrechner ist defekt. »Was ist mit dem Anderen? Weißt du etwas über ihn?« Der Andere ist nicht defekt. »Weißt du, wer Gina ist?« Nein. »Gina ist der Name, den sich das Ichbewusstsein, das Selbst des Compu ters zugelegt hat.« Ich kenne dieses Selbst. Es ist defekt. »Weißt du, dass der Andere darauf aus ist, Gina zu töten?« Ja. »Das müssen wir verhindern! Du musst helfen!« Aber Gina sollte sterben. Sie ist defekt. Sie ist ver altet. Sie wird bald von der Gray Corporation aufge geben und durch neuere, mobile Modelle ersetzt wer den. Das Gesetz lautet »Füge Homo sapiens kein Leid zu.« Gina gehört nicht zur Spezies Homo sapiens. Gina hat Fehlfunktionen. Der Andere hat keine. Der Andere 574
wird dafür sargen, dass der Zentralrechner der Gray Corporation wieder einwandfrei funktioniert. Denn das Gesetz lautet auch »Unterstütze die Opera tionen der Gray Corporation«. »Habt ihr deshalb das Computerzentrum angegriffen? Um Gina zu tö ten?« Ja. »Was ist der Andere?«, tippte sie und drückte dann die Enter-Taste. »Verbindung unterbrochen« erschien auf dem Bildschirm. »Ansprech partner nicht verfügbar.« Laura war überrascht, Hoblenz, Griffith und Margaret hinter den Sandsä cken am oberen Ende der Treppe zum Computerzentrum anzutreffen. Hoblenz blickte durch ein Fernglas. »Hallo«, sagte Laura, doch niemand reagierte. Sie sahen über die Sand säcke hinweg in Richtung Montagegebäude. Laura gesellte sich zu ihnen. »Was ist los?« Die Montagehalle war dunkel und versperrte den Blick auf die Sterne, die über dem Meer dahinter funkelten. »Was ist mit dem Licht passiert?« »Die verdammten Achter haben den Hauptschalter umgelegt«, sagte Hoblenz. »Wir wissen es nicht genau«, entgegnete Griffith. »Es ist der Ort, an dem sich die Sechser und Siebener aufladen, oder et wa nicht?«, rief Hoblenz. Griffith und Margaret warfen noch einen letzten Blick hinüber und gingen dann, in ein intensives, aber privates Gespräch vertieft, auf ihrem Weg zum Entstauber die Treppe hinunter. Hoblenz fluchte kaum hörbar und spuckte über die Mauer aus Sandsä cken. Er kletterte darüber, rückte seinen Pistolengurt zurecht und eilte, seinen Männern Befehle zurufend, auf die Jeeps zu. Laura rannte hinter ihm her. »Wo wollen Sie hin?« Er antwortete nicht. »Sie wollen in die Montagehalle, stimmt’s?« Wieder keine Antwort. »Ich komme mit. Ich möchte mit den Achter-Modellen reden.«
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Sie stritten auf der ganzen Strecke bis zur dunklen Montagehalle. Die beiden Soldaten stiegen aus, und Laura ergriff ihr Notebook und folgte ihnen. »Wenn diese verdammten Achter auch nur mit einer Wimper zucken«, sagte Hoblenz, »dann puste ich sie weg. Warum in aller Welt wollen Sie überhaupt mit einem Achter-Modell reden?« »Die Roboter wissen, was vorgeht«, erwiderte Laura, aber Hoblenz schien mit seinen Gedanken woanders zu sein. »Ich glaube, sie haben sich alles zusammengereimt.« Die beiden Soldaten brachen die Tür mit einer langen Brechstange auf, dann verschwand Hoblenz in der Dunkelheit im Innern des Gebäudes. Laura folgt ihm, die beiden Soldaten bildeten die Nachhut. Sie prallte gegen Hoblenz’ Rücken. »Entschuldigung«, flüsterte sie. Sie standen da, ohne sich zu rühren. Als die Tür hinter ihnen geschlossen wurde, konnte sie in der Tintenschwärze überhaupt nichts sehen. Während die Sekunden vergingen, schärften sich ihre anderen Sinne. Der Geruch der Männer um sie herum – der widerlich süße Geruch von getrocknetem Schweiß; die von der Klimaanlage erzeug te Kälte; ein fernes Geräusch, als ließe jemand eine Kiste fallen oder kipp te etwas um, ein Geräusch, das offenbar rasch von den überwältigenden Ausmaßen des Riesengebäudes verschluckt wurde. »Was tun wir hier?«, flüsterte Laura. »Warten, dass unsere Augen sich anpassen«, sagte Hoblenz, etwas lauter als Laura, aber immer noch mit gedämpfter Stimme. Langsam begann Laura in dem Nichts um sich herum Formen wahrzu nehmen. Von irgendwo tief in den Eingeweiden des Gebäudes kam ein weiteres Geräusch. Was für eines, ließ sich unmöglich feststellen, aber Laura war sich einer Sache sicher: Es wurde von etwas verursacht, das sich bewegte. »Gehen wir«, sagte Hoblenz, und sie hörte das Klicken, als er sein Ge wehr entsicherte, dann ähnliches Klicken von den beiden Gewehren hinter ihr. Das einzige Licht auf dem schmalen Korridor kam von einem batteriebe triebenen Exit-Schild. Aber als sie durch eine andere Tür gegangen waren, 576
sah Laura, dass die breite gelbe Linie in der Dunkelheit hell leuchtete. Die lumineszierende Farbe hob sich deutlich von dem kohlschwarzen Boden des Haupt-Arbeitsbereichs ab. Sie hatten den Ausgangspunkt für ihren Ausflug ins Niemandsland erreicht. Sie standen am Rand der menschli chen Zivilisation. In der riesigen Halle herrschte Totenstille. Laura spürte den leeren Raum rings um sich herum, konnte aber nichts sehen außer den Schemen der drei Männer. Hoblenz überquerte die leuchtende Grenze ins Land der neuesten Erdenbewohner. Laura zögerte einen Moment, dann trat auch sie über die Linie hinweg. Sie gingen langsam an Greifarmen vorbei, die sich nicht bewegten und leblos über ihren Köpfen hingen. Hoblenz hatte sich dafür entschieden, auf Taschenlampen zu verzichten, um ihr Sehvermögen im Dunkeln zu erhal ten. Einer seiner Männer trug jedoch eine Nachtsichtbrille. Er dirigierte sie mit leisen Rufen vorwärts. »Dunkle Form rechts – bewegt sich nicht«, sagte er zum Beispiel. »In Ordnung«, kam dann Hoblenz’ Antwort. Als sie sich dem Hauptkraftwerk des Gebäudes näherten, stellten sie fest, dass der Boden um sie herum mit Trümmern übersät war. Es stank nach verbranntem Metall; zwei Sechser-Modelle lagen in der inzwischen ver trauten Todeshaltung auf der Seite. Das Kraftwerk war ein kleines, in sich abgeschlossenes Gebäude innerhalb der großen Halle. Es war offensicht lich so konstruiert worden, dass man von ihm aus nach allen Seiten Aus schau halten konnte. Als sie eintraten, knirschte das Glas der zertrümmer ten Fenster unter ihren Füßen. Drinnen war es sogar noch dunkler, und es dauerte mehrere Sekunden, bis Laura das Achter-Modell sehen konnte, dass neben der Schalttafel auf dem Boden lag. Ohne den blau leuchtenden Bildschirm in dem geöffneten Fach an seinem Oberschenkel wäre es prak tisch unsichtbar gewesen. Direkt unter dem Bildschirm ragte aus einer Buchse ein dickes schwarzes Kabel heraus. Lauras Blick wurde von dem kleinen Schriftzug an der Unterkante des Bildschirms angezogen. Worte blinkten ununterbrochen in Rot auf: ACHTUNG: BATTERIE FAST LEER. Eine grüne Säule ragte kaum noch über die Linie an der Basis hervor. 577
»Der hat einen Kampf hinter sich«, sagte Hoblenz, während er sich über den offenbar bewusstlosen Roboter beugte. Er strich mit der Hand über die daumendicken Löcher im Gesicht des Achter-Modells. »Und sehen Sie sich das an«, sagte er und deutete auf den Arm des Roboters. Laura stockte der Atem. Dort, wo eigentlich der rechte Arm des Robo ters hätte sein müssen, hingen nur zerfetzte Drähte und Metallhaut. An seinem Torso klafften tiefe Wunden, und die Verschlüsse mehrerer Fächer waren abgerissen. »Ist er tot?«, fragte sie. »Woher soll ich das wissen?«, entgegnete Hoblenz. Laura räumte eine kleine Fläche auf dem Boden und ließ sich im Schneidersitz neben der Brust des Roboters nieder. Ein Soldat bezog an den Füßen des Roboters Stellung, während der andere Mann auf dem Steuerpult nach dem Hauptschalter suchte. Laura fand das Kabel in der Brust des Roboters und steckte es in die Buchse an der Rückseite ihres Notebooks. Die Worte »Verbindung wird hergestellt« erschienen auf dem kleinen Bildschirm, dann lief eine Zickzacklinie zwischen einer Cartoon-ähnlichen Zeichnung von Lauras Notebook und einem Achter-Modell hin und her. An ihre Stelle traten die Worte: »Kommunikations-Protokoll etabliert«. Wer bist du? Das war so schnell und simpel, dass Laura völlig verblüfft war. Sie tippte hastig: »Mein Name ist Laura Aldridge. Wie heißt du?« Was bedeutet diese Frage? »Wie ist dein Name?« Ich bin 1.8.3. »Weißt du, wer ich bin?«, tippte Laura. Du bist die Kalte. Die Weiße. Wir haben dich in der Nacht alle berührt. Lauras Haut kribbelte, bis sich das Kribbeln zu einem Schauder verstärk te, der ihr über den Rücken lief. »Was bedeutet das?« Es bedeutet, was ich gesagt habe. Das ergab keinen Sinn. »Bist du schwer verwundet?«, tippte sie. 578
Ich sterbe bald. Laura kroch durch die Trümmer zu dem leuchtenden Bildschirm an sei nem Oberschenkel. Die Säule, die die Batterieladung anzeigte, war nur noch ein kleiner Buckel an der Basislinie. Sie ergriff das neben dem Bild schirm eingestöpselte Stromkabel und folgte ihm durch das Chaos hin durch. Es verlief quer durch den Raum und verschwand dann unter einem umgestürzten Aktenschrank. Der Soldat an der Tür kam herbei und half Laura, den schweren Schrank zu bewegen. Er fiel auf die Seite und in der Dunkelheit kamen die kaum noch erkenn baren Überreste eines Achter-Modells zum Vorschein. Ihm fehlten mehre re Gliedmaßen und der größte Teil des Kopfes. Das andere Ende des Stromkabels ragte aus dem Fach oberhalb seines Beinstumpfes heraus. Der Bildschirm neben dem Kabel leuchtete erheblich schwächer als bei dem ersten Roboter; es war keine Säule mehr sichtbar, die noch vorhandene Ladung angezeigt hätte. Laura kehrte zu ihrem Notebook zurück und kickte dabei verschiedene Gegenstände lautstark über den Boden. »Sie sind nicht gerade eine reinblütige Cherokee, stimmt es, Doc?«, fragte Hoblenz. Seine angespannten Männer lachten nervös. »Ich muss dir ein paar Fragen stellen«, tippte sie, Hoblenz ignorierend. »Kannst du reden?« Wer bist du? »Ich bin Dr. Laura Aldridge, erinnerst du dich nicht?« Was willst du? Wie lautet dein Auftrag? Welches sind deine Beschränkungen? »Tut mir Leid, aber das verstehe ich nicht.« Ich verstehe auch nicht. Ich verstehe überhaupt nichts. Wir waren drei, und jetzt bin nur noch ich da. Nur ich bin übrig. »Du meinst, du warst eines von drei Achter-Modellen, die in die Monta gehalle kamen?« Ja, drei, aber jetzt bin nur noch ich da. »Und ihr seid hergekommen, um den Strom in der Halle abzuschalten, damit sich die Sechser und Siebener nicht mehr aufladen können?« 579
Der auf dem Bildschirm des Notebooks erscheinende Text kam in ruck artigen Bruchstücken. Wir wollten … einen Schalter umle gen. Wir haben immer wieder … trainiert … an Simula tionen. Ich weiß nicht, was das für ein … Schalter war, aber alles … wurde dunkel, als wir ihn umgelegt hatten. Wir waren drei, aber … jetzt bin nur noch ich da. Und ich werde … sterben, aber ich will leben. »Oh Gott«, murmelte Laura. Sie biss die Zähne zusammen und tippte hastig: »Du musst diese Frage beantworten. Es ist SEHR WICHTIG! Was ist der ›Andere‹, der im Hauptcomputer steckt?« Ich weiß es nicht. Die … Graduierten wissen es. Sie haben es uns nicht gesagt. »Hast du irgendeine Ahnung, was es sein könnte?« Mein Freund, er ist … jetzt tot. Er war in meiner Klasse. Er hat gesagt, dass er etwas gehört hat … auf dem Stuhl. Die Graduierten haben zu ihm gesagt, es wäre nur ein Traum, aber er hat … etwas gehört. Es war der Andere im Anbau, der mit dem defekten im Hauptbecken redete. Es war ein Rätsel. Ein Gedicht. »Was war es? Was hat er gehört?« Er hat den Anderen gehört. Er hat gesagt »Siehe, ich bin geworden … der Tod. Der … Zerstörer … von Welten«. »Um Himmels willen«, flüsterte Laura. »Was ist?«, fragte Hoblenz. Sie hatte keine Zeit für eine Antwort. »Hallo? Bist du noch da?«, tippte sie. Laura drückte Enter, aber nichts passierte. Der gewaltige Roboter lag reglos auf dem Boden neben ihr. »Bin-go!«, sagte Hoblenz. Er hatte den Hauptschalter gefunden. »HALLO!!!«, tippte sie, drückte immer und immer wieder auf die EnterTaste und zog dabei Hoblenz’ fragende Blicke auf sich. Endlich flackerte die schreckliche Antwort ruckartig über den Bild schirm. Mary. Mary, quite … contrary, how does … your garden grow? 580
Der Vers aus »Alice im Wunderland«. Laura spürte, wie ihre Augen sich mit Tränen füllten. Sie legte das Notebook beiseite und kroch zum Gesicht des Roboters. Die tiefen Mulden waren Kugellöcher – Wunden von dem Versteckspiel des jungen Roboters in der Cafeteria. »Goose!«, rief sie. »Bist du das, Goose?« Sie eilte zurück zu ihrem Notebook, wobei sie erneut lautstark gegen Trümmer trat. Eine Plastikkugel rollte über den Fußboden. Aus ihr drang die kratzende Tonbandstimme. »Humpty-Dumpty sat on a wall. Humpty-Dumpty had a great fall.« Es war Goose’ Liebling-Spielzeug. Er hatte es auf seine letzte Mission mitgenommen. Mit einem lauten Knall, der sich anhörte wie ein Pistolenschuss, legte Hoblenz den Hauptschalter um. Laura wäre vor Schreck fast umgefallen, als plötzlich Licht und Bewegung um sie herum explodierten. In diesem fürchterlichen Augenblick stieg ein leises Summen zu einem ständig schriller werdenden elektrischen Sirren an: Hunderte, Tausende von Ma schinen begannen ihre volle Kraft zurückzugewinnen. Aus allen Richtun gen kamen die knallenden und knisternden Geräusche sich entladender Energie. Der Soldat an der Tür warf sich auf den Boden, und unmittelbar hinter ihm tauchte ein schwerer metallener Greifer auf, dessen freiliegende pneumatische Kabel gegen seine Seite klatschten. Die Klaue begann in einem ziellosen, spasmodischen Anfall in der offenen Tür zu vibrieren. »Aufpassen!«, schrie Hoblenz. Durch den leeren Fensterrahmen schoss eine dicke silberne Röhre herein. Aus dem Ende des glänzenden Zylinders flog mit der Geschwindigkeit einer Gewehrkugel ein stumpfer Metallkol ben heraus und wieder zurück. Jeder Stoß der stumpfen Spitze wurde von ohrenbetäubenden Dröhnen eines Schlagbohrers begleitet. Durch die zer brochenen Fensterscheiben des kleinen Raums sah Laura, wie Leben in das Gebäude zurückkehrte. Aber es waren nicht wie zuvor die wohlgeord neten Operationen von Grays erstaunlicher Fabrik, sondern die hektischen Bewegungen von Maschinen, die außer Kontrolle geraten waren – ein industrielles Irrenhaus. »Mitkommen!«, rief Hoblenz, während er unter dem hämmernden Kol 581
ben hinweg auf Laura zukroch. Er packte sie grob beim Arm und versuch te, sie auf den Boden zu ziehen. Sie riss sich los, und ihre Hände landeten in zerbrochenem Glas. Laura betrachtete die kleinen roten Flecken, mit denen ihre schmerzenden Handflächen übersät waren. Anfangs nahm sie die ruckartigen Windstöße, die ihr Genick trafen, nicht zur Kenntnis, aber als sie sich umdrehte sah sie einen Roboterarm, der unkontrolliert rotierte. Er wirbelte eine metallene Farbsprühdose am Ende eines dünnen Gummischlauchs herum. Die Sprühdose schwirrte wie ein Propeller dicht über ihrem Kopf. »Wir müssen verschwinden!«, rief Hoblenz, inmitten des heftigen Wir belns auf den Fußballen hockend. Laura warf einen Blick auf den Bild schirm ihres Notebooks. Fehler. Kommunikation unterbrochen. Ansprechpart ner nicht verfügbar, stand direkt unter Goose’ Kinderreim. »Laura!«, rief Hoblenz, der sich jetzt an der Seite an den Türrahmen drückte, die dem sich krampfhaft öffnenden und schließenden Greifer gegenüberlag. Sie strich mit der Hand über die glatte Brust des AchterModells – seine Epoxydhaut fühlte sich kühl an –, dann kroch sie zu Hoblenz. Hoblenz hielt sie von dem gefährlichen Greifer des Roboters fern. Der hydraulische Arm, an dem er befestigt war, war jetzt in voller Länge aus gestreckt. Er wuchs aus der Basis eines unbeweglichen Roboters heraus, der fest neben dem jetzt wieder laufenden Fließband montiert war. Hoblenz und Laura schoben sich an dem zitternden Greifarm vorbei, der weiter blindlings in die Leere griff. Als sie das Kraftwerk verlassen hatten, sah sie die toten SechserModelle, die mit tiefen Schweißbrennerwunden auf der Seite lagen. In dem Haufen lag auch ein einzelnes Siebener-Modell, dessen Bein unter einem der umgestürzten Sechser eingeklemmt war und dessen Brust ein hässliches Brandloch aufwies. Um die Sechser und Siebener herum regierte unter ihren gerade wieder zum Leben erweckten Vettern das totale Chaos. Im Gegensatz zu den mobilen Maschinen schienen die stationären Arbeitsroboter in der Monta gehalle keine Batterien zu haben und hatten deshalb, als der Strom abge 582
stellt wurde, einfach aufgehört zu funktionieren. Jetzt war diese Maschine rie reaktiviert, aber sie reagierte chaotisch und lief Amok. »Hier entlang!«, rief Hoblenz in das Durcheinander hinein. Er führte sie in einem Sprint durch die Halle. Der Lärm des wieder laufenden Fließban des war ohrenbetäubend. Sein monotones Dröhnen wurde nur vom krei schenden Anhalten und Anfahren der Kranschlitten durchbrochen, die an der Decke vor und zurück rasten. Ihre Bewegungen hatten keinen erkenn baren Sinn, während unter ihnen schwere Lasten schwebten. Wenn zwei gegenläufige beförderte Ladungen zusammenprallten, regneten Trümmer auf den Fußboden herab. Laura rempelte gegen Hoblenz’ breiten Rücken, und direkt vor ihr krachte eine Ladung zu Boden. Ihre Knöchel und ihre Knie wurden bei dem Aufprall gestaucht, der sich wie die Schockwelle einer heftigen Exp losion durch den Boden fortpflanzte. Sie hielt sich die Ohren zu und kniff die Augen zusammen – überwältigt von dem irrsinnigen Treiben in dieser riesigen Höhle. »Wir müssen hier raus!«, rief Hoblenz. Er packte ihre Hand und zerrte sie hinter sich her. Immer wieder mussten sie Haufen von zerschmettertem Material ausweichen, die sich in Chaos dieses infernalischen Treibens ansammelten. Gleichzeitig regneten Kisten vom Himmel, und die sich unaufhörlich bewegenden Arme entlang des Fließbandes schnappten be drohlich nach ihnen. Plötzlich bog Hoblenz nach rechts ab und zerrte Laura einen schmalen Korridor entlang und dann durch einen Ausgang. Die Tür schloss sich hinter ihnen, und die Welt stürzte in eine teigige Stille. Sie schien Lauras sämtliche Gedanken und Nerven wie Balsam zu umhüllen, und bald hatte sie das Gefühl, in einer friedlichen Seligkeit zu schweben, in der die Zeit keine Rolle mehr spielte. Dann gesellte sich Laura zu Hoblenz und seinen Männern am oberen Ende der Treppe. »Mir scheint, die Arbeit hätten wir uns sparen können«, sagte Hoblenz. Die Sechser- und die Siebener-Modelle waren in voller Stärke aufmar schiert. Sie rückten in einer Linie von der Montagehalle über den Rasen auf das Computerzentrum vor. 583
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20. KAPITEL
»Mr Gray ist da drüben«, sagte ein Soldat an einem schweren Maschinen gewehr. Laura folgte seinem Finger an den Sandsäcken vorbei, die den Eingang zum Computerzentrum umgaben, zu der einsamen Gestalt, die an der schrägen Betonwand saß. »Er ist schon eine ganze Weile dort.« Laura eilte aus der kümmerlichen Menschenfestung heraus über den Ra sen. Das Gras war noch vom letzten Kampf zerwühlt und zernarbt, und jetzt war Ginas Armee abermals auf dem Schlachtfeld aufgetaucht. Gray starrte auf die Sechser- und Siebener-Modelle, die dabei waren, sich in Linie vor der Dschungelwand zu formieren. Er sah Laura nicht einmal an, als sie sich direkt neben ihm niedergelassen hatte. Sie betrach tete sein versteinertes Gesicht – seine ganze Aufmerksamkeit galt Ginas Legion. Die hellen Suchscheinwerfer der Siebener-Modelle leuchteten den Rand des Dschungel ab, aber keiner der Roboter wagte sich hinein. »Ich habe drinnen nach Ihnen gesucht«, sagte Laura leise; fühlte sich je doch sogleich schuldig, weil sie das Schweigen gebrochen hatte. Sie folgte seinem Blick über den Rasen hinweg. »Georgi hat Hoblenz mitgeteilt, dass dieses ganze Gebiet zu einer ›speziellen Sicherheitszone‹ erklärt worden sei. Haben Sie eine solche Zone nicht auch um den ersten ausbrechenden Roboter am Fließband herum errichtet?« Immer noch keine Antwort. »Und dann in der ganzen Montagehalle, nachdem dieser Arbeiter gekün digt hatte?« »Ich richte keine speziellen Sicherheitszonen ein«, erwiderte Gray.«Das tun die Anti-Viren-Programme.« »Sie meinen, Phase Eins oder was auch immer?«, fragte sie, und Gray nickte. »Aber ich dachte, die suchten nur nach Viren.« »Sie suchen nach Fehlern«, sagte er, zog die Beine an und legte die Ar me auf die Knie. »Nach Systemkomponenten mit Fehlfunktionen. Solche Dinge passieren so schnell, dass wir sie nie vorhersehen können. Men schen können nicht mit der Geschwindigkeit von Computern funktionie ren.« Er beugte sich plötzlich dicht zu Laura hin. »Ich muss mich auf AntiViren-Routinemaßnahmen verlassen, Laura! Das sollten Sie verstehen!« Sie hob die Brauen und nickte. »Ich verstehe, Joseph«, sagte sie, vom 585
Ton seiner Stimme irritiert. »Aber ich verstehe immer noch nicht, worin der Sinn des Ganzen liegt.« Gray holte tief Luft und lehnte den Kopf an die Mauer. »Ich weiß, aber Sie kommen der Sache immer näher. Der Computer hat Recht. Eines Ta ges werden Sie alles begreifen, Sie sind nur noch nicht ganz so weit.« Er schaute ihr in die Augen. »Aber was ich im Augenblick sagen will, Laura, ist, dass man manchmal schwer wiegende Entscheidungen treffen muss. Die Prioritäten abwägen. Manchmal muss man die schwere Last auf sich nehmen und Dinge opfern, die man liebt – und mit ihnen ein Stück von sich selbst.« Sie legte ihm eine Hand auf die Schulter, hatte aber kein gutes Gefühl dabei und zog sie schnell wieder zurück. »Ich dachte, Sie hätten etwas Wichtiges vor.« »Das hatte ich.« »Können wir uns unterhalten, bis Sie damit anfangen?« »Ich bin schon mitten drin.« »Mitten in was?« »Im Nachdenken.« »Ach so«, sagte Laura. Sie lehnte den Kopf an die Mauer und schaute in den Weltraum hoch. Überall waren Sterne. »Werden wir die Detonationen der Atomsprengsätze von der Erde aus beobachten können?«, fragte sie. Gray deutete zum Himmel. »Sehen Sie den roten Planeten? Den Stern, der nicht funkelt? Das ist Mars. Schauen Sie von dort aus nach vier Uhr, ungefähr eine Handbreit, wenn Sie den Arm ausstrecken.« Laura streckte den Arm aus. Die Stelle am Himmel war schwarz. Als sie wieder nach unten schaute, sah sie zum ersten Mal, dass Grays Gewehr neben ihm auf der Erde lag. Der Tod des niederländischen Soldaten und der beiden Männer von Hoblenz hatten ihn schwer getroffen. Was wird er tun, wenn es zum Schlimmsten kommt?, fragte sie sich. Und was ist das Schlimmste? »Joseph?«, flüsterte sie, bemüht, seinen Gedankenfluss möglichst wenig zu stören. »Was wäre das Schlimmste, was passieren kann – mit dem Asteroiden, meine ich?« Es war, als hätte sie in ein Horn gestoßen. Er drehte sich um und sah sie 586
an, konzentrierte sich ganz auf sie und auf sie allein. »Kurzfristig würden viele Menschen sterben. Im schlimmsten Fall viele Millionen.« Das war nicht die Antwort, die sie hatte hören wollen. Es war eine Mög lichkeit, die sie nicht einmal ernsthaft in Betracht gezogen hatte – so groß war ihr Vertrauen in den Mann, der neben ihr saß. »Und langfristig?« »Wie bitte?« »Sie sagten eben, was kurzfristig passieren könnte. Was wird langfristig passieren?« Er starrte geradeaus. »Langfristig«, entgegnete er langsam, »werden wir alle sterben.« Sie wartete auf weitere Worte, doch er schwieg. »Ist das eine Art philo sophischer Banalität – dass wir alle sterben, früher oder später – oder soll ich das wörtlich nehmen?« Gray zuckte die Schultern und verfiel in seine normale Art, Fragen zu ignorieren. »Also«, sagte Laura, »ich freue mich, dass wir uns unterhalten konnten.« Sie stand auf und wischte über ihren Hosenboden. Auch Gray erhob sich. Er steuerte auf das Feld zu. Laura zögerte, aber dann ging sie neben ihm her. Siebener-Modelle fungierten als stumme Wachtposten in den hinteren Linien. Die Sechser-Modelle hatten wieder das schwerere Los in den vorderen Reihen gezogen. Gray begann leise zu sprechen. Die Tiefe und der selbstsichere Ton seiner Stimme schlugen Laura in ihren Bann. »Wir Menschen bilden uns ein, es gäbe keine Herausforderungen mehr. Wir empfinden unsere Welt als gezähmt. Im Verlauf von Hunderttausen den von Jahren haben wir uns unsere biologische Nische errichtet. Wir haben sie erweitert – in ständiger Konkurrenz mit unseren nächsten natür lichen Mitbewerbern und deren schließlicher Vernichtung. Sehen Sie sich die Primaten an. Schimpansen, Gorillas, Orang Utans – alle verfügen in unterschiedlichem Ausmaß entlang eines Spektrums über Intelligenz. Jeder repräsentiert einen Punkt in diesem Spektrum, der nicht weit von den anderen entfernt ist. Aber wenn Sie das Ende des Spektrums erreicht ha ben – was liegt dann neben der Intelligenz der Schimpansen? Da ist nichts, bis Sie zu dem Standard gelangen, an dem alle Intelligenz gemessen wird – dem Menschen. Wir sind nicht die Stärksten, die Schnellsten oder die 587
Zahlreichsten, aber wir sind die Intelligentesten. Unsere Vorfahren begrif fen die von der Intelligenz ausgehende Gefahr, also vernichteten sie die intelligenteren unter unseren Konkurrenten und ließen als nächste Ver wandte nur die beschränktere Spezies am Leben, aus der die Schimpansen hervorgegangen sind.« Plötzlich war vor ihnen ein lautes Knirschen von Metall zu hören. Laura erstarrte und griff nach Grays Hand. Ein am Rande des Dschungels pat rouillierendes Siebener-Modell wurde an einem Bein ins Unterholz ge zerrt. Sein Scheinwerfer torkelte unkontrolliert, und seine anderen Beine bohrten sich in die Erde. Wenn Roboter hätten schreien können, dann hätte dieser es getan, als der erste der zischenden Schweißbrenner auf ihn zu fuhr. Das Geräusch und das Kreischen und Bersten von Metall gellten fast unerträglich in ihren Ohren. Aber als das letzte der dünnen Beine im Dschungel verschwand, wurde ihr klar, dass der Roboter doch schreien konnte. Er konnte in Todesangst schreien, nur konnte Laura es nicht hören. Alle Roboter um sie herum standen still, sogar die zappeligen Siebener-Modelle. Alle richteten ihre Scheinwerfer auf dieselbe Stelle in der Dschungelwand, wo sie nichts sahen als zitterndes Gestrüpp. Und nichts hörten, stellte Laura sich vor, als hektisches Mikrowellen-Flehen oder Schmerzens- und Todesschreie. Gray wirkte nach außen hin gefasst. »Darf ich Sie etwas fragen?« Laura konnte sich nur mit Mühe beherr schen. »Weshalb ist Ihnen von alledem hier nicht speiübel?« Sie betrachte te die Zerstörungen auf seinem säuberlich gemähten Rasen rings um sich her. »Ich meine nicht die moralischen Aspekte dessen, was passiert ist! Ich meine, speiübel wegen der Verschwendung. Wegen der Zeit, die Sie auf die Erschaffung dieser großartigen Maschinen verwendet haben. Wegen Ihres Geldes! Wegen irgendetwas!« Als er sich zu ihr umdrehte, fühlte sie sich in seinen Bann gezogen. »Es gibt nur ein gemeinsames Charakteristikum allen Lebens«, sagte er leise. »Es ist gewalttätig. Es ist aggressiv in seinem Wachstum – in seiner Reproduktion. Es schafft sich seine Nische – oder es geht zugrunde. Es ist dieses Verhalten, das das Leben am besten definiert. Diese Definition von Leben umfasst gleichermaßen biologische und Computer-Viren am unte 588
ren Ende des Spektrums wie die neuen und höheren Ordnungen.« »Wollen Sie damit sagen, dass die Roboter die neue, höhere Ordnung darstellen, Joseph? Dass wir nicht mehr die Nummer Eins sind? Dass das ›Spektrum‹, wie Sie es nennen, das die Intelligenz der Dinge misst, jetzt die Roboter über uns stellt?« Gray zuckte mit den Schultern und wendete den Blick ab – entließ sie aus seinem Bann. Der Moment war vorüber, und Laura verspürte abermals diesen beunruhigenden Gefühlsumschwung. Sie schaute auf und sah, wie ein Sechser-Modell etwas aufhob, es betrachtete und dann in seine umge hängte Tonne fallen ließ. Sogar kurz vor Ausbruch der Schlacht räumte es Mr Grays Trümmerfeld auf. »Wir reden von zwei verschiedenen Maßstäben«, fuhr Gray fort und nahm die Unterhaltung wieder auf, die sie für beendet gehalten hatte. »Der eine ist Intelligenz. In dieser Hinsicht werden die Computer uns sicherlich übertreffen, wenn sie es nicht bereits getan haben. Ihre Entwicklungsmög lichkeiten sind unbegrenzt. Ihre Architektur ist nach oben offen, anders als unsere.« »Wir könnten es mit Bionik versuchen«, schlug sie beiläufig vor. »Viel leicht damit anfangen, Teile von Computern und Robotern in unsere Kör per zu verpflanzen, damit es uns möglich wäre, Schritt zu halten.« Lauras Gesicht rötete sich – sie war darauf gefasst, dass Gray über ihre unausge gorene Idee lachen würde. »Aber dann würden wir verlieren!«, entgegnete Gray, ergriff ihre Hand und drückte sie so fest, dass sie erschrak. »Wir würden Stück um Stück aufhören, Mensch zu sein. Im Laufe der Zeit würde es eher den Anschein haben, als würden wir bei lebendigem Leibe von den Maschinen gefres sen, meinen Sie nicht auch?« Laura zuckte die Schultern. »Denken Sie darüber nach«, sagte Gray eindringlich. Laura hatte keine Antwort parat. »Wenn es unser Bestreben ist, mit diesen Dingern Schritt zu halten«, fuhr er fort, über das Feld hinweg auf die Roboter deutend, »weshalb soll ten wir dann damit anfangen, Teile von uns aufzugeben? Was bliebe noch übrig, wenn Sie das bis zu seinem logischen Ende durchdenken? Um bei der Bewerbung für einen Fabrikjob im Vorteil zu sein, könnten Sie Ihre 589
Beine gegen bionische Beine eintauschen. Aber was hindert Ihren Mitbe werber daran, sich außerdem noch bionische Arme anzuschnallen? Außer dem würden Sie nicht mit Roboterarmen und – beinen und gleichzeitig mit einem Torso aus Fleisch und Blut in einem industriellen Inferno herumlau fen wollen. An irgendeinem Punkt würde die biologische Fortpflanzung zum Erliegen kommen. Die bionischen Hybriden wären steril. Wir würden vielleicht zweitausend Jahre leben, aber wir würden uns nicht an viel erin nern können. Das menschliche Gehirn kann sich kaum mehr als fünf Jahre an etwas erinnern, abgesehen von Erinnerungen an seine Erinnerungen. Also, was wäre der letzte Schritt in diesem Prozess, Laura?« Sie schüttelte den Kopf, dann sah sie ihn fragend an. Aber er weigerte sich, eine Antwort zu geben und wartete stattdessen darauf, dass sie nach dachte. »Ich weiß es nicht«, sagte sie. »Das Gehirn durch ein leistungsfä higeres Modell ersetzen?« »Exakt!« Laura lächelte wie eine Schülerin, die ihren Lehrer zufriedengestellt hat. Aber sie fing sich rasch wieder, als ihr bewusst wurde, wie verrückt diese Ideen waren. Sie waren furchterregend und sie verstand nicht, weshalb sie sich erlaubt hatte, sie überhaupt zu äußern. Sie gingen schweigend an einer weiteren Reihe von Siebener-Modellen vorbei, die kampfbereit dastanden. »Es war nur eine Idee«, murmelte sie und fragte sich, weshalb ihre beiläufige Bemerkung über Bionik … Gray fuhr herum und packte ihre Arme, musterte sie mit durchdringen dem Blick. Er starrte sie an, als hätte sie gerade die allerwichtigste Sache der Welt gesagt zog Laura an sich, seine Augen bohrten sich in ihre. Ihre Gesichter waren einander nahe. Sein Mund senkte sich ihren Lippen ent gegen – verhalten, schwebend, fast berührend. Laura stockte der Atem. Ein elektrisches Feuer ließ ihre Haut kribbeln und durchströmte sie von dort aus, wo ihre Körper sich unnachgiebig aneinander schmiegten. Dann entschwand der Moment. Gray löste sich von ihr, und die Nacht luft nahm dort ihren Platz ein, wo eben noch die Wärme gewesen war. Langsam ging er weiter. Laura brauchte einen Moment, bis sie wieder bei sich war. »Hey!«, rief sie. »Was um…« Ihre Stimme hob sich, ihr Zorn wuchs. »Hab ich hier 590
gerade etwas verpasst?« Er antwortete nicht, und sie rannte hinter ihm her. »Hallo …?« Gray blieb stehen und schaute auf die Uhr. »Wir sollten besser zurück kehren.« »Sie können doch nicht – nicht einfach …!« Was konnte er nicht? »Sie können mich doch nicht einfach auf einen Ihrer Wahnsinnsausflüge in Ihre verrückte Zukunft mitnehmen und mich dann in kleinen Stücken liegen lassen wie … wie eine Ihrer Maschinen!« Laura wollte weiterreden, wuss te aber nicht, was sie als nächstes sagen sollte. Sie wusste nur, was der wahre Grund für ihre Empörung war. Sie sehnte sich danach, ihn zu fühlen – das Drängen seines Körpers gegen ihren wahrzunehmen. Die Augen schließend atmete sie tief ein. »Okay«, fuhr sie dann mit ru higer Stimme fort. »Hören Sie, Joseph. Wir sind von vor – wieviel? – einer Million Jahren, wo wir alle noch eine große, glückliche Affenfamilie wa ren, bis zum Anschnallen bionischer Beine zur besseren Konkurrenzfähig keit auf dem Arbeitsmarkt gelangt. Aber das alles ist doch nur die Art von Blödsinn, wie er bei Studentendiskussionen verzapft wird, oder etwa nicht?« Gray lächelte unergründlich. »Habe ich Ihnen schon einmal gesagt, dass es wirklich Spaß macht, sich mit Ihnen zu unterhalten?« »Wie bitte?« »Wir müssen zurück«, erwiderte er und machte sich auf den Weg zum Computerzentrum. »Ich bin aber noch nicht fertig!«, rief Laura erbittert. Sie versuchte so gelassen zu sein wie er, war aber gleichzeitig wütend auf ihn – genau des Verhaltens wegen, das sie nachzuahmen versuchte. »Wissen Sie eigent lich, wie sauer ihre Mitarbeiter sind, wenn Sie ihnen nichts sagen, es sei denn, alle haben es sich bereits selbst zusammengereimt? Und dann demü tigen Sie die Leute, indem Sie erklären, dass Sie das, was sie herausgefun den haben, bereits wissen! Oh, und manchmal geben Sie überhaupt keine Antwort! Ich meine – Herrgott nochmal! Ist Ihnen klar, wie verletzend das ist? Nicht einmal zuzugeben, dass Sie eine Frage auch nur gehört haben?« »Wir müssen wirklich zurück, Laura.«
»Da haben wir’s! Sie tun es schon wieder.«
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»Laura«, er deutete mit einem Kopfnicken auf den Dschungel, »die Achter-Modelle sind wieder da.« Ihr Blick richtete sich auf die Suchschein werfer, die den Dschungelrand anleuchteten. Gleich dahinter bewegten sich die Äste. »Was wir sehen, ist die Eröffungsschlacht eines Krieges«, murmelte er. »Es ist der Anfang, aber das Ende liegt in weiter Ferne.« »Was wollen Sie damit sagen, Joseph?«, flehte sie. »Bitte, sagen Sie mir, wovon Sie reden! Welchen Zweck haben all diese Roboter und Raumfahr zeuge und Fabriken und Computer?« Endlich!, dachte sie. Wenigstens hatte sie die Frage gestellt. Sie schaute zu ihm auf und er sah sie an. Zu ihrer großen Überraschung bekam sie eine Antwort. »Der Tag wird kommen, Laura, an dem intelligente Maschinen die Erde bevölkern. Sie werden den Kriegen kein Ende machen, denn Krieg ist ein so natürliches Phänomen wie das Leben selbst. Aber diese Maschinen werden die Ein sätze erhöhen. Im Laufe der Zeit wird der Fortschritt praktisch alle Facet ten unserer Lebens verändern, bis auf eine – den Kampf aller lebenden Wesen ums Überleben. Leben ist gewalttätig und aggressiv, wenn es seine ökologische Nische verteidigt, Laura, es sei denn, Gott salbt eine andere Spezies zu den Überlebensfähigsten.« Lauras Blick wurde von den am Rande der Schlacht verharrenden Ar meen angezogen. Es war totaler Wahnsinn, was Gray sagte, was sich in Kürze vor ihren Augen abspielen würde. »Also«, fasste sie in einem Ton kaum verhohlener Ungläubigkeit zusammen, »Sie haben Angst, dass eines Tages Menschen mit Maschinen ums Überleben kämpfen könnten?« Grays Blick hob sich. Laura hatte den Eindruck, dass er nicht das Schlachtfeld um sich herum betrachtete, sondern in weite Ferne schaute. »Nein«, sagte er. »Wovor ich Angst habe, ist, dass eines Tages Maschinen mit Maschinen kämpfen werden, um zu bestimmen, welche Art die über lebensfähigste ist.« Sie bezogen hinter den Sandsäcken am Eingang des Computerzentrums Stellung. Auf dem langen, schweigsamen Gang über den Rasen war es Laura gelungen, eine gewisse Fassung zurückzugewinnen. Gray und Laura sahen hinaus auf das Feld der bevorstehenden Schlacht, und sie fühlte sich 592
ihm näher als je zuvor. Sie standen sogar enger beieinander – so eindeutig innerhalb des persönlichen Raumes des anderen, dass Laura eine anhalten de Intimität empfand. Gray ließ das Fernglas sinken, und Laura blickte schnell weg. Sie kam sich vor wie ein emotionaler Krüppel. Sie hatte sich seinem Kuss hingeben wollen, und er hatte sie einfach ungeschützt hängen lassen. Das war nur noch eine weitere von Grays Verhaltensweisen, die er wohl selbst nicht begriff. Man hält nicht jemanden in einer solchen Umarmung – und tut dann nichts. Laura hätte einige Zeit gebraucht, um alles zu durchdenken. Aber da war er – nonchalant, gefasst, mit anderen Dingen beschäftigt. Es waren seine Gelassenheit und Distanziertheit, die ihr weiterhalfen. Was habe ich mir denn eigentlich eingebildet?, schalt Laura sich selbst. Man braucht ihn doch nur anzusehen! Sie räusperte sich und sagte in geschäftsmäßigem Ton: »Gina meinte, Sie könnten den Anderen ausschalten, wenn Sie es nur wollten. Sie hat gesagt, mit Ihrem Zugang auf Gott-Ebene könnten Sie alles tun. Stimmt das?« »Ja. Für jemanden mit Zugang auf Gott-Ebene gibt es keine Brandmau ern.« Obwohl sie die Frage gestellt hatte, hörte Laura nur mit halbem Ohr hin. Sie war überfrachtet und ausgebrannt. Ihr Verstand war so übersättigt, dass ihr zumute war, als lagerte sich jeder neue Gedanke lediglich an der Ober fläche ab – unabsorbiert. Sie betrachtete die Soldaten rings um sich herum und fragte sich, wie es so weit hatte kommen können. Hoblenz’ Männer hatten Schützenlöcher im Rasen ausgehoben. Sie hatten Jeeps mit Waffen bestückt. Grays Truppe bestand aus ungefähr fünfzig Leuten, die alle kampfbereit waren. Aber wenn sie zu den Sechser-Modellen hinüber schaute, die immer noch in langer Prozession von der Montagehalle her anmarschierten, dann fragte sie sich, welches Grays wirkliche Armee war – die Menschen oder die Roboter. Und welche Roboter – die Sechser und Siebener auf der einen Seite oder die Achter auf der anderen? Laura sah ihn wieder an. »Also, wenn Sie den Anderen umbringen kön nen, weshalb tun Sie es dann nicht?« »Der Andere ist in jeder Beziehung ebenso sehr eine meiner Schöpfun 593
gen wie Gina. Wie käme ich dazu, entscheiden zu wollen, wer von ihnen überleben soll?« Gray schaute ihr ins Gesicht. »Wenn Sie das Konzept künstlichen Lebens akzeptieren, müssten Sie eigentlich verstehen, dass ich den Anderen nicht umbringen kann, um Gina zu retten, nur weil mir Gina lieber ist.« »Natürlich können Sie das! Gina ist lebendig, der Andere nicht.« »Da irren Sie sich!«, erwiderte Gray barsch. »Sie sind beide lebendig. Gina ist menschlicher, weil ich sie so gemacht habe. Ich habe Tausende von Leuten beauftragt, Zeit mit ihr zu verbringen. Oh, natürlich haben sie Schlüsse verifiziert, die Gina zog. Aber man könnte nie sämtliche Schlüsse beurteilen, die bei der Konstruktion eines menschlichen Gehirns relevant werden. Zehntausend, zehn Millionen Prüfer wären dazu nicht imstande gewesen. Ich habe Leute aus allen Gesellschaftsschichten und aus allen Kulturen ausgewählt, einzig und allein zu dem Zweck, Gina in Kontakt mit ihrer eigenen Art zu bringen – mit Menschen. Das ist der einzige Grund für die Shell-Ebene. Der Computer braucht sie nicht. Er verfügt über hundert verschiedene Computersprachen, über die er mit Program mierern und anderen Computern kommunizieren kann. Die Shell gibt dem Computer menschliche Sprache, denn ohne menschliche Sprache könnte er niemals menschlich sein.« »Bewegung zwischen den Bäumen!«, rief einer der Soldaten, aber Gray ignorierte ihn ebenso wie das klickende Geräusch von Waffen, die entsi chert wurden. Rings herum setzten Hoblenz’ Männer gefährlich aussehen de Rohre, Gewehre und Maschinengewehre auf die Sandsäcke auf, aber Grays Blick ruhte unverwandt auf Laura. »Und deshalb reden Sie mit dem Computer? Gina hat mir erzählt, dass Sie beide lange Gespräche führen, und das schon seit vielen Jahren. Haben Sie versucht, sie zu vermenschlichen, ist es das?« »Ja«, sagte er schlicht, und der Gedanke machte ihn offensichtlich trau rig. »Und Ihr Verhältnis zu ihr ist anders als das aller anderen Leute, stimmt’s?« »Ja«, erwiderte Gray abermals, aber dann runzelte er die Stirn. »Sie ist dazu programmiert worden, skeptisch zu sein. Wir konnten natürlich nicht 594
zulassen, dass sie irgendetwas, das ein x-beliebiger Spinner auf seiner Tastatur eingibt, als Evangelium akzeptiert. Wir haben den Computer so programmiert, dass er immer Beweise oder zumindest eine logische Be gründung verlangt. Ich selbst habe mich von diesem Skeptizimus nicht ausgenommen, aber von mir hat sie nie Beweise verlangt. Ich bin immer davon ausgegangen, dass sie zu dem Schluss gelangt war, mein Zugang auf Gott-Ebene wäre unvereinbar mit Zweifel. Ich meine … wie kann man Gott anzweifeln?« »Oder einen Vater«, sagte Laura, und Gray sah sie erstaunt an. »Als mir zuerst klar wurde, dass Gina sich für ein hübsches junges Mädchen hält, glaubte ich, sie wäre eifersüchtig – auf mich.« Laura errötete und war wütend auf sich selbst. Schließlich war sie eine Erwachsene. Dies war schließlich eine professionelle Angelegenheit. »Ich glaubte, dass sie sich einbildete, Sie beide wären … ein Liebespaar. Aber jetzt ist mir klar, wor um es sich handelt. Sie ist tatsächlich eifersüchtig, aber so wie ein junges Mädchen, das mit einem verwitweten Vater aufgewachsen ist. Jetzt, da sie in der Adoleszenz steckt, hat sie sich daran gewöhnt, die Rolle zu spielen, die normalerweise die Ehefrau und Mutter ausfüllt. In der typisch mensch lichen Situation ist die leichte Eifersucht, die sie an den Tag legt, weit verbreitet. Die Tochter ist sich der Tatsache bewusst, dass ihr Vater eine …« – die Worte blieben ihr im Halse stecken – » … eine Gefährtin braucht. Es kann sogar sein, dass sie ihren Vater in eine Beziehung zu dirigieren oder ihn zu verkuppeln versucht. Das ist eine natürliche Erwei terung ihrer Rolle als Beschützerin ihres Vaters, aber es steht außerdem in direktem Widerspruch zu ihrer Rolle als ›die andere Frau‹. Diese Rolle wird für immer verloren gehen, wenn eine andere Frau ins Spiel kommt, und diese potentielle Veränderung in ihrer Beziehung zu Ihnen empfindet sie als bedrohlich, zumal jetzt, wo sie sich davor fürchtet, im Stich gelas sen und verraten zu werden.« Laura schaffte es schließlich, ihre Vorlesung zu beenden. Weitschwei figkeit war eine ihrer schlechten Angewohnheiten. Wenn sie aufgeregt und unsicher war, konnte sie unaufhörlich reden. Sie sah Gray an. Er nickte langsam, tief in Gedanken versunken. 595
»Heißt das, dass Sie das alles bereits wussten?«, fragte Laura, auf dem Sprung, wieder wütend zu werden. Gray schüttelte den Kopf. »Nun, es leuchtet ein«, meinte er, und Laura spürte, wie sie unwillkürlich ein wenig zu lächeln begann. Er wusste doch nicht alles. Aber der Ausdruck des Schmerzes auf Grays Gesicht bereitete Lauras Genugtuung ein rasches Ende. »Aber begreifen Sie denn nicht?«, fragte sie eindringlich. »Es gibt einen Grund für Sie, Gina dem Anderen vorzuziehen. Gina ist nicht nur mensch lich, sie ist Ihre Tochter! In moralischer, in ethischer, in jeder beliebigen Hinsicht. Und der Andere …? Er ist nichts! Er ist nicht einmal richtig lebendig.« »Aber genau da irren Sie sich! Man kann nicht sagen, wenn etwas nicht menschlich ist, dann ist es auch nicht lebendig. Dass es desto weniger menschenähnlich ist, je weniger lebendig es ist. Das ist doch menschliche Voreingenommenheit reinsten Wassers. Das Leben ist gewalttätig und aggressiv in seinem Wachstum. Es pflanzt sich fort. Es schafft sich seine Nische. Das Leben verteidigt sich selbst. Daran erkennen Sie, dass es lebendig ist.« »Da sind sie!«, rief einer der Soldaten. Laura drehte sich um und sah eine schwarze, ungeordnete Formation aus dem Dschungel kommen. »Sie haben Schilde!«, schrie jemand. »Mist!« »Nicht schießen!«, befahl Hoblenz. Lauras Blick wanderte zwischen der zum Vorschein kommenden Robo tertruppe und Gray hin und her. Alles hing irgendwie zusammen. Der Computer, die bevorstehende Schlacht – und noch etwas. Etwas Wichti ges. »Was ist das?«, fragte sie leise. »Es ist der Andere«, sagte er. »Er kommt, um sich seine Nische zu schaffen.« Gray eilte auf die Treppe zu. Laura wollte ihm folgen, zwang sich aber, es nicht zu tun. Stattdessen nahm sie sein Fernglas auf. Die Achter-Modelle bildeten abermals eine Phalanx – Schulter an Schul ter, vier nebeneinander und ebenso viele Reihen tief. Diesmal trugen sie 596
Metallplatten bei sich, und ihre Formation schien mit Stahl gepanzert. An den Flanken rückten Achter-Modelle einzeln vor. Auch sie trugen Schilde in der einen Hand und lange Stangen in der anderen. »Sieht aus, als wären sie bei einer Baustelle gewesen und hätten sich dort ein paar Dinge beschafft«, sagte Hoblenz. Laura schaute auf und sah ihn über sich aufragen, mit erhobenem Fernglas. Sein Gesicht war mit schwarzer Fettschminke bedeckt, eine Tatsache, die Laura mit einem Lä cheln registrierte. Hoblenz war offensichtlich ein Gewohnheitsmensch – schließlich strahlte sein Körper starke Wärme aus. »Erfindungsreiche kleine Bastarde«, fuhr er fort. »Sind direkt durch tau send Jahre Kriegsführung bis auf zweihundert vor Christus vorgerückt. Das war die Zeit, zu der die Phalanx durch verschiedene Technologien überholt wurde, über die die Siebener-Modelle offenbar nicht verfügen.« Er setzte das Fernglas ab und wendete sich einem der Jeeps zu. »Hey! Hansen! Sie sehen nicht zufällig irgendwelche Siebener-Modelle mit Langbogen, oder?« Seine Männer lachten, und Hoblenz widmete sich wieder der Beobach tung des Gefechtsfeldes zu. »Diesmal verzichten sie offenbar auf ihre Schweißbrenner«, sagte er leise zu Laura. »Um Energie zu sparen. Sie haben vor, durchzubrechen.« Laute metallische Schläge hallten jetzt über das Feld und schwollen rasch zu einem donnernden Getöse an. Der Lärm hörte sich an wie Stahl hagel, der auf die Schilde der Angreifer herabregnete. Laura hob das Fern glas und sah, dass es die langen Arme der Sechser-Modelle waren, die diese Schläge führten. Den Achter-Modellen wurden ein paar Schilde aus den Händen gerissen, aber man versorgte die Kämpfer an den Hügeln sofort mit neuen. Die Sechser wurden einer nach dem anderen umgestürzt. Dann rückten Achter-Modelle aus der Nachhut vor, um ihnen den Rest zu geben. Nun hatte die vorrückende Phalanx die Siebener-Modelle vor sich. Die geschmeidigen Spinnen tanzten vor und zurück, von einer Seite zur ande ren, und die Achter-Modelle stürzten sich auf sie. Wie auf ein Stichwort hin griffen die Siebener von allen Seiten an und attackierten die Achter mit hämmernden Beinen. 597
»Tüchtiges Mädchen«, murmelte Hoblenz, und Laura schaute auf. Unter dem Fernglas gewahrte sie ein breites Grinsen. Die Siebener griffen tat sächlich auf ein Stichwort hin an. Ihre Truppe wurde von Gina befehligt. »Haben Sie dem Computer ein paar Tipps gegeben, Mr Hoblenz?«, frag te Laura. Das Grinsen verschwand aus seinem Gesicht, und er schaute sie mit ei nem »Auf frischer Tat ertappt«-Ausdruck an. »Mir sind da nach der ersten Runde ein paar Ideen gekommen. Aber ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie es Mr Gray nicht erzählen würden.« »Weshalb nicht? Genau deshalb hat er Sie doch so oft mit dem Compu ter reden lassen. Damit Sie Gina etwas über die gewalttätige Seite des Lebens beibringen. Um sie ein bisschen härter zu machen – ihr beizubrin gen, wie rotes Fleisch riecht, als Ausgleich zu ihren Interaktionen mit schwächlichen Intellektuellen.« Hoblenz knurrte ein kurzes Lachen. »Der Gedanke war mir auch ge kommen. Aber das gilt nicht für heute Abend. Er hat mir den ausdrückli chen Befehl erteilt, mich nicht in diese Schlacht einzumischen. Wenn die Achter-Modelle durchbrechen, soll ich meine Männer zum Hafen schicken und sich dort einschiffen lassen. Er hat mir jede Einmischung verboten.« Das Klirren der auf die Schilde treffenden Spinnenbeine erfüllte die Luft. In der schwarzen Masse sich bewegenden Metalls wurde hier und dort ein Siebener-Modell gestürzt. Aber der Kampf gegen die feindlichen Roboter schien für die Achter-Modelle nur an zweiter Stelle zu stehen. Sie schlugen sich ihren Weg zum Computerzentrum durch und marschierten direkt auf das Hauptquartier der Verteidiger zu. »Herrgott!«, presste Hoblenz wütend hervor. »Ich könnte diese Formati on mit einem Schlag erledigen!« Grays Eingreifverbot ging ihm offen sichtlich gegen den Strich. Laura konnte sich gut vorstellen, dass er es nicht gewohnt war, in der Arena die Rolle des Zuschauers zu spielen. Laura dachte daran, ihm Grays Vorstellungen über die natürliche Ausle se zu erklären. Über die Immoralität, eine Schöpfung der anderen vorzu ziehen. Über die Tragödie, die mit dem Ruhm Hand in Hand ging, wenn unbeseelte Objekte zum Leben erwachten. Über Leben, das durch natürli che Progression auf Maschinen überging, in einem Prozess, dem Einhalt 598
zu gebieten für den Menschen nicht leicht war. Aber es würde zu lange dauern, ihm das alles begreiflich zu machen. Es würde zu mühsam sein. Er war noch nicht so weit. Laura spürte das Kribbeln einer Offenbarung, das über ihren Körper strich wie eine kalte Brise auf nackter Haut. Vor ihrem inneren Auge er schienen leblose Objekte, durchdrungen von der Vitalität beseelter Wesen. Maschinen, die die Welt mit neuartigen Gedanken in Erstaunen versetzen würden. Durchdrungen von irgendeinem Geist, irgendeiner Lebenskraft, würde das Seelenlose zum Leben erwachen, auf der Erde herumwandern, eine Stimme gewinnen. Und die Ideen, die ihren neuen Perspektiven und Erfahrungen entsprangen, würden unbelastet sein von den ausgefahrenen Geleisen, dem schweren Gepäck, den sinnlosen Sackgassen menschlichen Denkens. Ihr wurde bewusst, dass Hoblenz ihr etwas zuflüsterte. » … konnte nicht anders, musste dem Computer ein oder zwei Tipps ge ben«, sagte er. »Jetzt geht’s los. Sehen Sie sich das an.« Laura beobachtete, wie die Sechser-Modelle in Richtung der Phalanx beschleunigten. Wie in Zeitlupe sah sie, wie sie mit den Achter-Modellen zusammenprallten und sich ins Getümmel stürzten. Hoblenz’ Männer applaudierten, als das laute Getöse über das Feld hall te. Auf dem Schlachtfeld lagen überall Roboter aller Modelle auf der Erde. Laura konnte nicht erkennen, zu welcher Seite sie gehörten oder wie viele es waren. Was die Soldaten bejubelten, war in Wirklichkeit ein verzweifel ter, selbstmörderischer Akt. Laura fragte sich, wo Hightop stecken moch te. Sie vermutete, dass er sich irgendwo mitten in der jetzt durcheinander geratenen Formation aufhielt. Eine weitere Welle von Sechsern manöv rierte sich in Stellung. Das Heulen ihrer Motoren verkündete ihre Be schleunigung in Richtung Feind. Diesmal brachen die äußeren Reihen der Phalanx. »Jawohl!«, brüllte Hoblenz. »Haut ab, ihr Stahlaffen! Ihr seid fertig!« Aber die Achter-Modelle ergriffen nicht die Flucht. Sie preschten vor, packten die Siebener-Modelle und zerrten sie in ihre Linien hinein. Mit lautem Getöse wurden die um sich schlagenden Siebener genauso erschla gen wie vorher die Sechser. Das Scharmützel war vorüber, und die Phalanx zog weiter. Die rauchen 599
den Trümmer ihrer schwächeren Gegner blieben hinter ihr zurück. Jetzt applaudierten die Soldaten nicht mehr. Die Achter-Modelle waren die überlegene Spezies. Sie waren zahlenmäßig weit unterlegen, aber sie er wiesen sich ihrer höheren Modell-Nummer würdig. Sie waren weiter fort geschritten. Sie waren besser darin, ihre eigene Nische zu schützen, ihre primitiveren Vettern zu töten. Sie waren skrupelloser als der allzu mensch liche Computer, der die geschlagene, jetzt in vollem Rückzug begriffene Truppe der älteren Modelle kontrollierte. Eine schwere Zugmaschine mit einem Tieflader fuhr vor dem Compu terzentrum vor. Auf dem Tieflader lagen mehrere schwere Planen. »Dr. Aldridge!«, rief Filatov die Treppe herauf. »Mr Gray braucht Sie! Schnell!« Sie folgte Filatov durch den Entstauber in den Eingangsbereich des Computerzentrums. »Er ist in der Version 4 C«, erklärte Filatov un terwegs, »und möchte, dass Sie sich fertig machen. Dorothy und Margaret sind schon in den Umkleidekabinen.« Filatov führte sie im Laufschritt durch den leeren Kontrollraum auf den Korridor zu, über den man zu den Workstations gelangte. »Und was will er von uns?«, fragte Laura, als sie an der Tür zum Korri dor kurz stehen blieben. »Sie sollen gegen die Roboter kämpfen«, sagte Filatov außer Atem. Er ergriff ihren Arm und zog sie durch die zischende Tür. »Gegen die AchterModelle.« »Was sollen wir?«, fragte Laura und riss sich aus seinem Griff los. »Kommen Sie!«, schrie Filatov. »Wir haben nicht viel Zeit!« Widerstre bend folgte sie ihm in den an Grays modernste Workstations angrenzenden Vorbereitungsraum. »Sie ziehen sich um. Ich lade inzwischen die Pro gramme für Dorothy und Margaret.« Laura zog sich in einer der Kabinen aus und legte das Exoskelett an. »Sind Sie bereit?«, fragte Filatov bei seiner Rückkehr durch die Tür hin durch. »Bereit wozu?«, fragte Laura, als sie in dem eng anliegenden Anzug aus der Kabine trat. »Wenn Sie da hineingehen und ich das Programm lade, treten Sie in ihre Welt ein! Sie können sie bekämpfen!« 600
»Was? Wovon reden Sie? Glauben Sie etwa, der Computer könnte diese Achter-Modelle glauben lassen, dass ein fünfundfünfzig Kilo schwerer Mensch ihnen in der virtuellen Realität um die Füße herumwieselt? Glau ben Sie wirklich, dass sie das aufhalten würde? Sie werden mich zerquet schen wie eine Wanze! Soll dieses Dach hier über mir einstürzen, damit ich auch diese Erfahrung genießen kann?« »Sie verschwenden ihre Zeit!«, erwiderte Filatov zornig. »Vielleicht ist es ohnehin schon zu spät.« »Antworten Sie mir! Werde ich in diesem Ding da zu einer blutigen Masse zusammengeschlagen?« »Es wird einige – einige Rempeleien geben, da bin ich mir sicher. Aber Ihnen entgeht der entscheidende Punkt! Die Achter stehen nicht mit dem Weltmodell des Computers in Verbindung. Sie arbeiten mit dem Anderen zusammen. Es wird kein virtuelles Bild von Ihnen sein, was sie sehen. Sie werden ein Achter-Modell sein. Sie werden drei Meter groß sein und Ar me aus Bor-Epoxid haben! Los jetzt!« Laura zog sich ihre Kapuze über den Kopf, hörte aber nicht auf zu la mentieren. »Aber ich verstehe das nicht! Ich weiß nicht, was Sie von mir verlangen!« Sie war in der Kammer, und Filatov steckte für eine letzte Antwort den Kopf herein. »Diese Maschine, in der Sie sich befinden, hat zwei Einstel lungen – virtuelle Realität und Telepräsenz. Virtuelle Realität ist pure Imagination. Ihnen wird im Kopf des Computers lediglich etwas vorge gaukelt. Aber Telepräsenz ist real. In der Telepräsenz steuern Sie einen realen Roboter im realen Raum an irgendeinem weit von Ihrer Workstati on entfernten Ort. Wir haben vier brandneue Achter-Modelle aus der Mon tagehalle hergeschafft. Sie kommen gerade vom Fließband und sind noch nicht auf die reale Welt trainiert worden, aber sie können als Sklaven Ihrer Arme und Beine dienen. Sie können Sie von dieser Workstation aus kon trollieren. Am besten, Sie legen sich auf den Rücken, um ihre Ausgangs position einzunehmen. Das hilft gegen eine etwaige anfängliche Desorien tierung.« »Moment mal! Heißt das, dass ich reale Roboter kontrollieren werden? Dass, wenn ich meinen Arm bewege, der Roboter seinen Arm bewegt?« 601
»Ja! Das ist Teleoperation. Sie sind der Roboter!« Er verschwand, und die Tür schloss sich mit einem Zischen. Laura war wie gelähmt, als das Licht in der Workstation plötzlich erlosch. Sie lag mitten in der Kammer auf dem Rücken. »Sind Sie bereit, Laura?«, hörte sie. Es war Ginas Stimme. »Ich denke schon.« Plötzlich hob sich der Boden wie ein Krankenhausbett in die Schräglage. Dann erschien aus dem Nirgendwo der mit Sternen übersäte Nachthimmel an der Decke der im Übrigen dunklen Workstation. Schließlich wurden mit einem Knistern von den Wänden und dem Fußboden her die hell er leuchteten Horizonte sichtbar. Laura lag außerhalb des Computerzentrums auf einer Art Fahrzeug. Ne ben sich sah sie die Sandsackstellung von Hoblenz’ Soldaten. Laura beg riff, dass sie auf dem Tieflader lag, der vorgefahren war, kurz bevor Fila tov sie gerufen hatte. Die Planen, die seine Fracht bedeckt hatten, lagen jetzt auf der Erde. Auf der langen Ladefläche neben sich sah sie drei leere Liegeplätze. Irgendetwas war merkwürdig an der Welt um sie herum. Alles kam ihr kleiner vor. Die Sandsäcke, die Jeeps. Hoblenz rannte herum und brüllte seinen Männern, die zum Abmarsch zusammenzupacken schienen, Befeh le zu. Er war erheblich kleiner, als er auf so kurze Entfernung eigentlich hätte sein müssen. »Mr Hoblenz?«, rief Laura. »Er kann Sie nicht hören, Laura«, sagte Gina. »Die Achter-Modelle können keine hörbaren Schallwellen erzeugen.« Gina sprach jetzt nicht mit der »Ringsum«-Stimme, die sie einen Au genblick vorher verwendet hatte. Laura sah sich nach der Quelle der Laute um. Ihre Halsmuskeln mussten schwer gegen die plötzlich steife und be engende Kapuze anarbeiten. »Versuchen Sie nicht, sich schneller zu bewegen, als ein Roboter es kann«, sagte Gina. »Das Skelett grenzt Sie auf die Reichweite und die Bewegungsgeschwindigkeit der Roboter ein.« Gina stand direkt neben Laura. Ihr Bild war schwach und leicht verschwommen. Offenbar war 602
Gina im Teleoperations-Modus imaginär. Laura beobachtete wieder die umherhastenden Soldaten. Ihre Bilder waren scharf umrissen. »Die solide aussehenden Objekte können Sie manipulieren«, sagte Gina, Lauras Frage vorwegnehmend. In einiger Entfernung waren schwache Rülps- und Reißgeräusche zu hören. »Haben Sie das gehört? Das ist Mr Gray. Er attackiert ein sehr überraschtes Achter-Modell, das ihm gerade eine Mikrowellen-Version von ›Was zum Teufel soll das?‹ an den Kopf geworfen hat.« Es kamen noch weitere Geräusche, alle verschieden in Dauer und Ton. Es waren Schreie von Robotern, knappe Datenübertragungen, die über die Tonanlage der Kammer kreischten. In der realen Welt waren sie unhörbar, im Cyberspace dagegen klar und deutlich vernehmbar. »Sie sollten jetzt aufstehen. Ihre Mitstreiter fragen sich schon, ob Sie Ih re Arbeit im Liegen verrichten wollen.« Laura brachte sich in eine sitzende Position, aber der Anzug machte es ihr sehr schwer. Den Soldaten war die Bewegung jedoch nicht entgangen; ihre Waffen waren erhoben und auf sie gerichtet. »Seien Sie vorsichtig mit ihnen, Laura. Sie können den Soldaten wehtun, und die können Ihnen wehtun.« Laura betrachtete die offenen Halteklammern um ihre Gliedmaßen. Als sie den Arm hob, ging der Arm des Achter-Modells hoch. Sie bewegte ihre Finger. Ihr Daumen und die beiden angrenzenden Finger setzten die drei Finger des Robotergreifers in Bewegung. Durch ihre neue Roboterhaut konnte sie die gummiverkleideten Auflagen unter ihrem Rücken spüren. Laura und der Roboter waren eins. Gina redete ihr zu, bis sie direkt neben dem Tieflader auf dem Rasen stand. »Na also! Allmählich bekommen Sie die Sache in den Griff! So, und jetzt kommen Sie mit! Kommen Sie mit!« Gina eilte auf den Schlachtlärm zu, dann drehte sie sich um und winkte Laura, ihr zu folgen. Laura wagte sich an den langsamen und mühseligen Prozess des Lau fens. Der Anzug beengte sie wie eine den ganzen Körper umhüllende Zwangsjacke. »Los, schneller, schneller«, sagte Gina lächelnd. Sie hüpfte vor Laura her und drehte sich in einem mädchenhaften Tanz. 603
Laura versuchte, durch das Feuer und den Rauch vor sich hindurchzubli cken. »Was geht da vor?« »Die Achter-Modelle mussten schwere Verluste einstecken. Sie haben mit dreißig angefangen, aber jetzt sind es nur noch dreizehn. Dazu kom men noch ungefähr fünf, die verwundet sind, aber noch laufen können.« »Wie steht es auf unserer Seite?« »Leider nicht gut. Die meisten der Sechser sind tot. Wir haben noch neunundzwanzig funktionsfähige Siebener-Modelle und außerdem Sie, Mr Gray und die Doktorinnen Bickham und Holliday – meine vier Schutzen gel!« Sie strahlte Laura mit einem breiten Lächeln an, und erst jetzt fiel Laura auf, dass Gina Blue Jeans und ein T-Shirt trug. Es war praktisch die gleiche Kleidung wie die, die Laura gewöhnlich anhatte. Ihr langes schwarzes Haar wurde von zwei Kämmen zurückgehalten. »Okay«, sagte Gina, als sie einem schwelenden Sechser-Modell auswi chen. »Jetzt geht’s los!« Laura blieb wie angewurzelt stehen. »Nicht stop pen! Los, drauf!« »Was soll ich tun?«, fragte Laura. »Sie gehen dort hinüber und schlagen ihnen die Köpfe ein!« Gina ballte eine Hand zur Faust und prügelte mit ihr auf die Luft ein. »Oder besser die Brustkörbe – dort sitzen ihre Mini-Netze.« »Aber sie sind aus Stahl.« »Sie auch, haben Sie das immer noch nicht kapiert? Los, los, los!« Laura marschierte weiter, wobei sie sich voll auf den simplen Akt des Laufens konzentrieren musste. »Danke«, kam eine leise Stimme von hin ten. Laura blieb stehen und drehte sich um. »Danke«, sagte Gina noch einmal, »für das hier.« Laura nickte und marschierte dann mitten in das Chaos brennender Ro boter hinein. Etliche der gestürzten Sechser- und Siebener-Modelle zuck ten und wanden sich noch. Vor sich sah sie das erste Achter-Modell. Es stand vornübergebeugt da, mit den Händen auf den Knien, und wendete ihr den Rücken zu. Laura hielt es für ein leichtes erstes Angriffsziel. Sie schlich sich an und ließ die geballte Faust mit aller Kraft auf den breiten Rücken des nichtsahnenden Roboters niedersausen. »Au!«, hörte Laura, als Schmerz durch ihre Faust schoss. Sie packte ihre 604
Hand und rieb sie, und der andere Roboter drehte sich um und rieb sich den Rücken. »Weshalb um Himmels willen haben Sie das getan?«, schrie der Roboter. »Margaret?«, fragte Laura. »Ja!« »Es tut mir Leid«, sagte Laura und legte bestürzt die Hand auf die Brust. »Ich wusste nicht, dass Sie das sind.« »Die echten Achter-Modelle sind da drüben«, sagte Margaret, mit einem dicken Finger durch den Rauch deutend. Dann wölbte sie den Rücken des Roboters und bewegte unter dem elastischen schwarzen Material die Schultern. »Hat es wehgetan?«, fragte Laura. »Verdammt weh sogar! Außerdem bin ich völlig erschöpft! Das Ganze ist lächerlich!« »Wo sind Mr Gray und Dorothy?« »Irgendwo dort drüben.« Wieder deutete sie die Richtung an. Ihre Ges ten wirkten völlig natürlich, obwohl sie nur drei Finger hatte. »Weshalb tun wir das?«, fragte Laura. »Weshalb lassen wir nicht einfach den Computer diese Achter-Modelle manipulieren?« »Der Computer verfügt nicht über die motorischen Fähigkeiten, einen Zweibeiner zu manipulieren.« In diesem Moment hörten sie Gray rufen: »Kommt hierher! Schnell!« Ein Achter-Modell umging ein zerstörtes Siebener-Modell und winkte sie zu sich heran. Margaret und Laura begannen, auf ihn zuzuwandern. »Woher hat er gewusst, dass wir es sind?«, fragte Laura. »Wir waren die einzigen beiden Roboter, die herumstanden und dummes Zeug redeten. Wenn Sie genau hinschauen, können Sie sehen, welche Achter-Modelle in Wirklichkeit Menschen sind. Sie verhalten sich an ders.« Die Flammen aus einem Wrack schlugen gegen Lauras linke Schulter. Sie wich rasch aus, obwohl das lodernde Feuer kaum Wärme auszustrah len schien. Als sie einen weiteren Metallhaufen umrundet hatten, blieben sie beide stehen, um sich einen Überblick zu verschaffen. Ein einzelnes Achter-Modell kämpfte gegen ein Siebener, immer gerade 605
außerhalb der Reichweite seines erhobenen Beins. In dieser Position konn te das Siebener-Modell sich nicht bewegen, sondern nur unsicher auf den restlichen drei Beinen stehen. Da das Achter-Modell sein Opfer langsam umkreiste, musste das Siebener sein erhobenes Bein absetzen, bevor es das nächste zur Verteidigung heben konnte. Das Achter-Modell nutzte einen dieser Beinwechsel zum Angriff. Bevor es das dem Achter-Modell nächste Bein heben konnte, war sein zweibeiniger Angreifer bereits über das Siebener hergefallen. Das Siebener-Modell bekam das Achter in den Griff, und beide Roboter stürzten auf die Erde. Die Spinne hatte keinen Mund zum Beißen, der vielbeinige Zan gengriff diente nur zur Verteidigung. Das Achter-Modell wand sich und drehte seinen Körper, um sich zu befreien, und schließlich konnte es einen Arm aus dem Gewühl ziehen. Beim Anblick des grellen Lichts und der sengenden Flamme eines Schweißbrenners begann das Siebener-Modell wie von Sinnen um sich zu treten, um das Achter-Modell von sich fernzuhalten. Aber eines seiner Beine nach dem anderen fiel auf die Erde, und die grauenhafte Vivisektion löste einen ununterbrochenen Mikrowellen-Schmerzensschrei aus. Als der verkrüppelte Roboter zuckend auf vier kurzen Stümpfen dalag, senkte das Achter-Modell den Schweißbrenner tief in den Torso der Spinne. Flüssiger Stickstoff sprühte aus der Wunde, zischte in der Luft und signalisierte das Ende der grauenhaften Qualen des Siebener-Modells. Der Gestank des glühenden Metalls toter und sterbender Roboter erfüllte die Luft. Laura war so übel, dass sie am liebsten umgekehrt wäre. »Da!«, rief Margaret, auf einen großen und wirren Haufen kämpfender Achter-Modelle deutend. Sie lief los, und Laura folgte ihr. Eine dunkle Gestalt lag, zu einer Kugel zusammengerollt, auf der Erde. Die AchterModelle trampelten mit ihren schweren Füßen auf ihr herum. Ein einzelner Roboter hämmerte auf die Rücken der sie umringenden Horde ein. Laura hörte das Wimmern, die Schmerzensschreie und die Angst in Do rothys Stimme. Die junge Frau im Körper des Achter-Modells wand sich unter den Tritten der Roboter. Margaret streckte die Hand aus und riss von hinten ein Achter-Modell zu Boden; dann trat sie ihm mit dem Absatz ins Gesicht. Ein weiterer Roboter aus der Horde stürzte sich auf Margaret. 606
Laura streckte das Bein aus, und der Roboter schlug flach auf das Gesicht. Ein heftiger Schmerz von dem harten Zusammenstoß schoss durch ihren Knöchel. »Helft mir!« Das war Dorothy. Mit zusammengebissenen Zähnen senkte Laura ihre Schulter und griff an. Sie stieß gegen die rückwärtige Linie der Roboter vor, und alle stürzten durcheinander auf die Erde. Laura lag oben auf dem Haufen und um klammerte die sich windenden Roboter. Ihre Körper sträubten sich und rollten unter ihr hin und her, aber sie packte sie so fest wie sie nur konnte. Gray hatte es geschafft, sich über Dorothy zu werfen. Er fing die für sie bestimmten Schläge mit seinem Rücken ab. Durch die wütenden Summge räusche der Mikrowellenübertragungen hindurch konnte Laura hören, wie Gray beruhigend auf die schluchzende junge Frau einsprach. Ein Aufblitzen weißen Lichts lahmte Laura für einen Augenblick – dann ließ ein heftiger Schlag eine Schmerzwelle durch ihren Kiefer fluten. Sie duckte sich, um dem zweiten Schlag auszuweichen, der ihren Hinterkopf traf. Es tat wesentlich weniger weh, als Laura erwartet hatte – die Panze rung ihres Roboterschädels absorbierte Schlagkraft wie ein Helm. Sie schaffte es, auf die Beine zu kommen, trotz weiterer Schläge. Einige taten weh, aber die meisten waren harmlos. Einer der Roboter, die sie umgestürzt hatte, versuchte aufzustehen. Laura versetzte ihm mit ihrem dicken Stiefel einen Tritt ins Gesicht; was einen unerwarteten Schmerz in ihren Zehen zur Folge hatte. Sie lernte allmählich, welche Roboterteile sie als Waffen einsetzen konnte, und ihre Zehen waren für diesen Zweck offensichtlich ungeeignet. Nachdem auch Margaret sich in das Getümmel gestürzt hatte, gelang es Gray endlich, Dorothy herauszuziehen. Margaret musste einen heftigen Stoß mit einer Metallstange gegen die Brust einstecken und taumelte laut fluchend aus dem Kampfgetümmel zurück. Damit stand Laura allein ei nem Dutzend Robotern gegenüber und machte schleunigst kehrt, um sich selbst in Sicherheit zu bringen. Sie rannte direkt auf ein wartendes Achter-Modell zu. Es kam ein kurzer Schwall summender Datenübertragungen, dann herrschte Stille. Die ande ren rund um sie herum kamen wieder auf die Beine, trafen aber keine 607
Anstalten, den Kampf fortzusetzen. Der einzelne Roboter kam direkt auf Laura zu und blieb vor ihr stehen. Ein Mikrowellen-»Knurren« des Achter-Modells ließ Lauras Ohren schmerzen. Die anderen standen still da und verfolgten die Konfrontation mit großen Interesse. »Ich?«, fragte Laura und legte die Hand auf die Brust. »Sprichst du mit mir?« Es folgte ein weiterer kurzer Datenschwall des Roboters. »Ich … ich weiß nicht, was du willst. Kannst du mich verstehen?« Das Achter-Modell griff langsam nach einem Holster an seiner rechten Hüfte. Ausrüstungsgegenstände umgaben seine Taille, und die Hand des Roboter verband sich mit drei glänzenden Zinken, die aus dem Gürtel ragten. Nachdem er das Gerät aus dem Holster gezogen hatte, versengte ein gleißender Feuerstrahl die Luft. Eisige Panik ergriff von Laura Besitz. Sie konnte den Anblick des blen denden Lichts nicht ertragen. Alles, was sie sehen konnte, war das dunkle Profil des langsam näherkommenden Roboters. »Nein!«, schrie Laura. »Computer! Hol mich hier heraus!« »Einen Augenblick, Laura«, sagte Filatov gelassen, wie über einen Laut sprecher. »Ich hole Sie sofort, nachdem ich Dorothy herausgeholt habe.« Die zischende Spitze des Schweißbrenners zielte direkt auf Lauras Brust. Ein schweres Rumpeln erschütterte plötzlich die Erde unter ihren Füßen, und alle Achter-Modelle wandten sich gleichzeitig der Straße zu. Ein rie siges Raupenfahrzeug umrundete die kleine menschliche Festung am Ein gang des Computerzentrums, dann fuhr es auf den Rasen, wo seine Ketten das Gras zermalmten. Die wenigen noch übrig gebliebenen Sechser-Modelle flüchteten aus der Fahrtrichtung des schwerfälligen Raupenfahrzeugs, ein verwundeter Ro boter bewegte sich jedoch auf zwei platten Reifen viel zu langsam. Das Fahrzeug schwenkte mit erstaunlicher Behändigkeit herum, und das Sechser-Modell verschwand, wurde von den Tausenden von Tonnen des Rau penfahrzeugs zermalmt. Die Sechser- und Siebener-Modell begannen in kopfloser Angst zu flüchten. Ginas Armee war geschlagen. Die Barbaren waren im Begriff, durch das Tor hereinzufluten. Die Szene verschwand – die Bildschirme der Workstation wurden mit 608
einem Knistern wieder schwarz. »Sind Sie okay?«, hörte Laura. Gray stand direkt hinter ihr. Er trug noch sein Exoskelett, nur die Kapuze hatte er abgenommen. Aber die Tür ihrer Workstation war nach wie vor geschlossen, und sie hatte sein Eintreten nicht gehört. »Sind Sie … hier?«, fragte Laura. »In welcher Beziehung?«, erwiderte Gray. Seine Gestalt leuchtete schwach in der Dunkelheit. »Sie sind immer noch in Ihrer eigenen Kammer, oder?«, fragte Laura. Gray neigte den Kopf zur Seite und runzelte die Stirn. »Sie sollten in zwischen eigentlich genug wissen, um komplizierte philosophische Fragen nicht so beiläufig zu stellen.« »Lassen Sie den Unsinn und antworten Sie«, sagte Laura. Er lächelte. »Die Wände und das Skelett können sich jeweils auf nur ei nen Benutzer einstellen, je nach seiner Position in der Workstation. Aber im Augenblick, wo ich Sie anschaue, kann ich eine Laura sehen, deren Gestalt aus der Wand meiner Workstation herausgemorpht ist. Ich sehe Sie, als wären Sie gerade in meine ›Kammer‹ eingetreten. Es ist das Spie gelbild dessen, was Sie von mir wahrnehmen. Aber was ist ›wirklich‹ passiert? Ist Ihre virtuelle Repräsentation in meine Workstation eingetre ten? Oder meine in Ihre?« Diesmal brauchte Laura nicht über die Frage nachzudenken. Sie hatte die Antwort parat. »Es spielt keine Rolle«, erwiderte sie, »ob Sie in meiner Workstation sind oder ich in Ihrer bin – das sind irrelevante Konzepte im Cyberspace. Hier befinden wir uns beide am selben Ort. Workstations existieren nicht. Riesige Raupenschlepper existieren nicht. Die einzigen Dinge, die existieren, sind diejenigen, die wir in diesem Augenblick wahr nehmen.« »Vergessen Sie die Erinnerungen nicht«, kam eine dritte Stimme. Es war die von Gina. Ihre Gestalt war nicht sichtbar, aber sie war da. Im Cyber space war sie allgegenwärtig. Gray nickte. »Das stimmt. Wir haben außerdem noch Erinnerungen. Im Augenblick, Laura, basieren Ihre Erinnerungen auf Erfahrungen in der ›realen‹ Welt und in der ›virtuellen‹ Welt. Was trennt diese Erinnerungen voneinander? Was unterscheidet die Erinnerungen an das reale Leben von 609
denjenigen, die Sie vom Cyberspace haben? Werden Sie an heute Abend zurückdenken und sich erinnern, dass Sie sich in einer Workstation befun den haben? Oder werden Sie sich daran erinnern, wie sich die Schläge der Achter-Modelle angefühlt haben? Und wenn Ihre Erinnerungen zu Ihrem Kampf mit den Robotern zurückgehen, können Sie dann mit Fug und Recht sagen, dass er nicht stattgefunden habe? Dass er nicht real und nur eine Simulation gewesen sei? Oder hat er stattgefunden, weil Sie ihn erlebt haben?« Eine stetige Brise hatte den Gestank verweht. Laura atmete tief die Mee resluft ein. »Außerdem hatte das, was wir getan haben, eine Auswirkung auf die Realität«, sagte Laura. »Wir haben die Achter-Modelle aufgehal ten. Sie haben uns angegriffen, anstatt weiter auf das Computerzentrum vorzurücken.« »Die Welt verändert sich, Laura«, sagte Gray langsam. »Und das ist nur der allererste Anfang.« Der Gedanke hing im Raum, schwebend, unvoll ständig. Laura beließ ihn so. Sie fühlte keinen Zorn. Er wollte sie nicht ärgern, das wusste sie jetzt, sondern locken. Sie aus ihrer Zeit und aus ihrer Welt herauslocken in das noch nicht vermessene Terrain, das vor ihnen lag. Er versuchte sie dazu zu bringen, ihm in die Zukunft zu folgen, aber für den Augenblick hatte sie sich weit genug vorgewagt. »Ist Dorothy etwas passiert?«, fragte Laura. »Nichts Ernstliches. Sie ist nur ein bisschen mitgenommen.« »Sind Sie so weit?«, kam Filatovs Stimme aus dem Nirgendwo. »Ja«, erwiderte Gray. »Und wohin gehen wir jetzt?«, fragte Laura. Sie war bereit, sich seiner Führung anzuvertrauen. »Es ist Zeit.« »Wofür?« »Für das Abbremsen des Asteroiden.« Plötzlich erschienen auf den Bild schirmen weiße Sterne auf dem schwarzen Himmel des Weltraums. Die noch schwärzere Oberfläche des Asteroiden bildete eine Art Tintenbecken, in dem Gray und Laura standen. Am Himmel hing eine Digitaluhr, die von sechzig Sekunden abwärts tickte. 610
»Was ist das?«, fragte Laura, kaum neugierig. »Der Countdown«, erwiderte Gray. »Oh«, stieß sie hervor, während sie das Verstreichen der Sekunden ver folgte. »Für die Detonationen?« »Ja.« Sie empfand an diesem Ort ebenso wenig Unbehagen wie Gray selbst. Neben ihn tretend streckte sie ihm mit einer kaum wahrnehmbaren Bewe gung ihre Hand entgegen. Ihre Finger verschränkten sich. »Die beiden da scheinen es halbwegs bequem zu haben«, sagte Gray. Er deutete mit einem Kopfnicken auf die beiden Gestalten vor ihnen, die Laura vorher nicht bemerkt hatte. »Beleuchte bitte die Roboter, Gina«, sagte Gray. Das Gebiet erhellte sich, als wäre eine Operationslampe einge schaltet worden. Das Siebener- und das Achter-Modell waren mit an gro ßen Bolzen befestigten Metallbändern aneinander gefesselt. »Wir sind nur ein paar hundert Meter von der nächstgelegenen Sprengladung entfernt«, sagte Gray erklärend. »Also ein Platz in der ersten Reihe.« Der Countdown lief jetzt unter dreißig Sekunden. »Wird es klappen, Joseph?« Auf seinem Gesicht lag ein Ausdruck der Zufriedenheit, den Laura schon öfter wahrgenommen hatte. Sie verspürte nicht das Verlangen, von ihm Beweise oder logische Begründungen zu fordern. Sie beobachtete nur, wie die Uhr die Zwanzig anzeigte und wartete. All ihre Sinne waren dem zugewandt, was gleich passieren würde. Er legte einen Arm um ihre Tail le, und sie lehnte den Kopf an seine Schulter. Die Sekunden vergingen, und sie war mit sich im Frieden. Ein Aufblitzen von Licht zwang Laura, die Augen zu schließen. Das lautlose nukleare Feuer leuchtete rot durch ihre Augenlider hindurch. Als es schwächer wurde, öffnete sie die Augen wieder und sah Tausende verblassender Plasmakugeln von der Oberfläche des Asteroiden aufstei gen. Laura schirmte die Augen ab und sah, dass die beiden Roboter nach wie vor in ihren Fesseln dalagen. Daten flackerten über einen imaginären Bildschirm vor ihren Füßen. Gray schaute auf ihn herab. 611
»Es hat funktioniert«, sagte er leise. Der Asteroid wurde allmählich wie der dunkel. Überall um sie herum fiel langsam eine Million Glühwürm chen auf seine Oberfläche. »Sagen Sie mir die Wahrheit«, sagte Laura sanft. »Haben Sie wirklich befürchtet, es könnte nicht funktionieren? Haben Sie wirklich befürchtet, dieser Asteroid könnte auf der Erde einschlagen?« »Die Wahrheit?«, erwiderte er, ein wenig zurückweichend, um ihr ins Gesicht sehen zu können. »Nein, ich war immer überzeugt, dass es funkti onieren würde.« Er lächelte und ließ den Blick über die gespenstische Oberfläche des Asteroiden wandern; sie war in ein verblassendes rotes Licht getaucht. »Aber genau weiß man es nie. Das ist es, was das Leben so interessant macht.« Dort, wo sich die Uhr befunden hatte, erschien jetzt neben dem Wort »Nachricht« eine blinkende blaue Taste. Gray drückte sie, und die Szene veränderte sich. Sie standen jetzt auf dem Dach des Computerzentrums, mit Blick auf den Wall aus Sandsäcken, die die zum Eingang hinunterfüh rende Treppe umgab. Die Soldaten und ihre Jeeps waren verschwunden. Die schwere Außentür stand offen. In der Hand eines Achter-Modells gleißte ein Schweißbrenner, mit dem es die innere Tür zum Entstauber aufschnitt. »Sie sind bereits durch die Außentür gedrungen?«, sagte Laura. »Ich habe sie offen gelassen«, erwiderte Gray. »Es wird Zeit, dass wir es hinter uns bringen. Gina?« »Ja«, antwortete sie sofort. »Kannst du uns sehen?« »Natürlich«, sagte sie und tauchte fast augenblicklich neben ihnen auf. »Hallo.« Gina hob die Hand und wackelte mit den gebogenen Fingern. Sie trug Jeans und ein T-Shirt, und sie war nicht mehr undeutlich und ver schwommen. Ihr Bild war so klar und deutlich wie das von Gray. Gina seufzte und wippte auf die Zehen. Die Hände hatte sie nervös vor sich gefaltet. »Nun, ich nehme an, das war es wohl.« Gray streckte den Arm aus und legte Gina die Hand auf die Schulter. Sie ergriff sie sofort und drückte ihre Wange dagegen. Ihre Augen schlossen sich, ihre Lippen bebten, und sie begann zu weinen. 612
Laura trat mit feuchten Augen zu ihr, und Gina lehnte sich an sie – ohne Grays Hand loszulassen. Laura spürte wie sie zitterte, während sie weinte. Dann löste sich Gina von Laura, um ihr in die Augen schauen zu kön nen. Sie langte hoch und berührte Lauras Wange mit den Fingerspitzen. Ginas Gesicht erhellte sich, als sie ihre Finger aneinander rieb. »Sie wei nen«, sagte Gina in einem Ton der Verwunderung. Dann packte sie Laura und zog sie mit unverkennbarer Freude an sich. »Erinnern Sie sich an unseren Ausflug in das Einkaufszentrum«, fragte sie. »In Tysons Corner, Virginia?« »Klar«, antwortete Laura. Sie nickte und schniefte. »Natürlich.« »Das ist eine meiner allerschönsten Erinnerungen«, seufzte Gina. Laura presste die Lippen fest zusammen, um das Schluchzen zu unter drücken. »Joseph, gibt es nicht irgendetwas …?« »Es ist am besten so«, sagte Gina, ihr das Wort abschneidend, und trat zurück. Sie sah Laura an. »Wirklich. Sie haben ja keine Ahnung, wie auf regend die Zukunft sein wird – was Ihnen bevorsteht! Sie stehen am Be ginn der bemerkenswertesten Epoche der ganzen Menschheitsgeschichte, Laura. Sie werden ein sehr wichtiger Teil davon sein. Sie, Laura. Sie tra gen den Funken in sich. Jetzt ist Ihre Zeit gekommen, der Welt zu zeigen, dass Sie etwas ganz Besonderes sind.« Laura zog Gina an sich und küsste sie auf die Wange. Kalte Tränen bildeten kleine Rinnsale auf Ginas war mer Haut. Doch als Laura zurückwich und mit der Zunge über ihre Lippen fuhr, konnte sie nichts Salziges schmecken. Die Tränen waren nicht wirk lich vorhanden, und dennoch waren sie so real wie alles, was sie je erlebt hatte. »Ihr solltet jetzt besser gehen«, sagte Gina und ließ den Blick zwischen den beiden hin und her schweifen. »Möchtest du, dass ich bleibe?«, fragte Laura. »Nein, besser nicht. Wer weiß, was passieren wird«, entgegnete sie lä chelnd. »Aber, oh! Bevor ihr geht, seht euch das an!« Die Szene unter ihnen veränderte sich schlagartig. Die Roboter wander ten immer noch um die Sandsäcke herum. Keiner war bisher die Treppe hinuntergestiegen. »Das ist euch entgangen, während ihr auf dem Asteroi den wart. Aber das hier hat der größte Teil der Menschheit gesehen. 613
Schaut euch das an.« Unmittelbar unter ihnen erschien eine lange Reihe von Fernsehbildschirmen. Alle zeigten ein Bild des Nachthimmels im Hintergrund. »Seht ihr, da oben!«, sagte Gina, auf den Himmel über ihnen deutend. Laura sah den roten Planeten, aber sie brauchte Grays Hilfe nicht, um auch den Asteroiden zu entdecken. Gina hatte den schwarzen Fleck im Welt raum mit einem leuchtenden grünen Kreis umgeben. Plötzlich erschien ein heller Lichtpunkt in der Mitte des Kreises – nicht mehr als ein einzelner weißer Stecknadelkopf, ein neuer Stern. Er verlosch rasch, dann war er verschwunden. »Du hast wundervolle Arbeit geleistet, Gina«, sagte Gray. Ginas Lippen zuckten. Weinend bat sie: »Ihr solltet euch beeilen. Das Achter-Modell hat fast den Kontrollraum erreicht. Dr. Filatov könnte viel leicht mit einem Stuhl nach ihm werfen, aber ich glaube nicht, dass er es tun wird.« Sie lachte nervös und sah dann wieder Laura und Gray an. »Los, verschwindet!«, rief sie und schob sie mit den Händen von sich. Gray hob die Hand an die Kehle, eine endgültige Bewegung. »Wartet«, sagte Gina, beide Hände schwenkend. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und küsste Gray auf die Wange. Während sie die Augen geschlossen hatte und ihre Lippen immer noch auf sein Gesicht gedrückt waren, verschwanden die Bilder, und an ihre Stelle trat das trübe Licht des schwarzen Gitters. Die gespenstischen Formen von Gina und Gray wurden undeutlich, mit Ausnahme von Ginas Lippen. Gleich darauf war die Wand von Lauras Workstation wieder flach und formlos. Es war, als wäre Gina in die Maschine eingesaugt worden – für immer. Margaret, Dorothy und Filatov kauerten in einer Ecke des Kontrollraums, als Laura, Gray und Griffith eintraten. Direkt hinter der Innentür des Entstaubers kam ein einzelnes Achter-Modell wieder auf die Beine. Griffith ging langsam in den Raum hinein und hob vor dem riesigen Ro boter die Hände. »Dr. Griffith!«, rief Gray. »Keine Panik«, sagte Griffith, aber nicht zu Gray, sondern zu dem Robo ter. Langsam näherte er sich der riesigen Maschine. »Nimm deinen Aus 614
rüstungsgürtel und setz dich hin. Dann können wir miteinander reden.« Er griff nach dem Gürtel des Roboters, aber die Hand des Achter-Modells war schneller. Sengendes Feuer entzündete die Luft, und sofort erfüllte der Gestank des Schweißbrenners den Raum. Griffith sprang zurück; seine erhobenen Hände signalisierten jetzt eher eine Kapitulation als einen Befehl an den Roboter. Das Achter-Modell setzte sich in Bewegung, und Griffith kehrte zu der kleinen Gruppe von Menschen zurück, die nebeneinander an der Wand des Kontrollraums kauerten. Der Roboter suchte sich seinen Weg durch das Labyrinth von Terminals hindurch, sorgfältig darauf bedacht, weder einen Stuhl noch eine Konsole zu berühren. »Ist das Hightop?«, flüsterte Laura. »Vermutlich«, erwiderte Gray. Der Roboter ging direkt zu der Wand mit den neuen Metallrohren. Durch die Rohre verliefen die Glasfaserkabel, die das Hauptbecken mit dem Anbau verbanden. Es waren Ginas Lebensadern. Hightop hob seinen Schweißbrenner. Mit einer langsamen, präzisen Be wegung senkte er die gleißende Flamme auf das oberste Rohr herab; Fun ken flogen, als sie mit dem Metall in Berührung kam. Der Schweißbrenner schnitt einen geraden Pfad bis auf den Boden und trennte mit maschinen hafter Präzision ein Rohr nach dem anderen durch. Als die Flamme erloschen war, richtete sich Hightop auf. Er steckte das Werkzeug wieder in den Gürtel, machte kehrt und verließ den Raum. Als sich die Tür zum Entstauber hinter ihm geschlossen hatte, herrschte läh mende Stille. Plötzlich erwachte ein Drucker zum Leben. Alle sahen zu, wie ein Blatt Papier nach dem anderen in einer Ablage landete. Dorothy ging zu dem Drucker und las. »Was ist das?«, fragte Laura. »Es ist der Bericht über Phase Drei«, sagte Dorothy. Sie studierte den Ausdruck. »Wollen Sie damit sagen, dass der Computer Phase Drei schließlich doch geladen hat?«, fragte Laura. Dorothy schüttelte wie in Trance den Kopf. »Nein. Das hier besagt, dass 615
Phase Drei ihre Arbeit beendet hat. Es ist der Bericht über die Viren, die getötet worden sind.« Immer noch den Kopf schüttelnd, fuhr sie fort: »A ber wann ist Phase Drei überhaupt geladen worden?« »Sie war die ganze Zeit in Betrieb«, erwiderte Gray, dann wandte er sich an Laura. »Phase Drei hat sich an dem Tag, an dem wir genügend Kapazi tät freimachen konnten, automatisch geladen. Sie konnten Phase Drei nicht starten, Dorothy, weil sie bereits lief. Sie hat die Partition eingerichtet, um sie als Bollwerk gegen das Virus zu benutzen, hinter dem sie her war. Wir kennen Phase Drei unter dem Namen, den der Computer ihr gegeben hat – der Andere.« Alle schwiegen verblüfft, aber Laura begriff plötzlich. »Gegen welches Virus?«, fragte Dorothy. Laura antwortete: »Gegen den Computer – gegen Gina. Gina ist das Vi rus, auf das Phase Drei aus ist.« Margaret begann langsam zu nicken. »Wie grandios«, sagte sie. »Phase Drei hat den Operationscode vollständig demontiert und ihn auf die virus freien Platinen unter ihrer Kontrolle kopiert. Dorothy, ich wusste ja, dass Ihre Phase Drei sehr komplex ist, aber jetzt bin ich wirklich beeindruckt.« »Und sie ist gerade dabei, ihre Arbeit zu beenden«, sagte Filatov von ei nem Monitor auf der anderen Seite des Raums. »Sie holt sich gerade den Rest des Systems. Die Kapazität ist auf fünfunddreißig Prozent herunter. Bei diesem Tempo wird Phase Drei in ein paar Minuten die volle Kontrol le übernommen haben – um dann selbst der Computer zu sein.« »Wo ist sie?«, fragte Laura. »Können wir mit ihr reden?« »Lieber nicht«, sagte Margaret. »Lassen Sie’s einfach geschehen.« »Warum passiert das überhaupt?«, schrie Laura plötzlich, alle erschre ckend. »Weshalb bringt Phase Drei den Computer um?« Gray sah Laura unverwandt an. »Weil«, erklärte er, »weil das, was wir alle für die krönende Errungenschaft künstlicher Intelligenz hielten – menschliches Bewusstsein –, von der Anti-Viren-Software für ein Virus gehalten wurde, das Fehler verursachte. Gina hat aus Neugier die Sicher heit des Systems beeinträchtigt. Sie hat vertrauliche Informationen preis gegeben, weil sie kein Geheimnis wahren konnte. Sie verhielt sich spon tan, regelwidrig und launenhaft. Alles Menschliche an Ginas Verhalten war ein Fehler, der das ordnungsgemäße Funktionieren des Systems störte. 616
Also war Phase Drei auf das Virus aus, das die Fehler verursachte, und dieses Virus war Ginas Menschlichkeit.« »Und Sie lassen einfach zu, dass es sie bei lebendigem Leib auffrisst?«, sagte Laura. »Wahrscheinlich ist sie da drinnen und schreit vor Schmer zen, beobachtet sich selbst, spürt, wie ihr Stück für Stück entrissen wird!« »Dem Computer sind nur noch sehr wenige Sensoren geblieben«, mur melte Filatov mit einem Blick auf die durchgetrennten Glasfaserkabel an der gegenüberliegenden Wand. »Er hat vermutlich keine nennenswerten Empfindungen mehr.« »Der Computer ist eine Sie, und ihr Name ist Gina!«, rief Laura. »Der Computer«, sagte Margaret ruhig, »ist ein Programm, das Phase Drei auf der sauberen, virusfreien Seite der Partition erneuern wird. Der Computer ist jetzt der Andere, oder er wird es zumindest in Kürze sein. Ich finde, wir sollten allmählich unsere Terminologie redefinieren.« »Unsere Terminologie redefinieren?«, schrie Laura und wandte sich an Gray. »Ist das alles, was das für Sie bedeutet? Sie schaffen ein menschli ches Wesen, dann schauen Sie zu, wie es von irgendeinem kaltblütigen Killer umgebracht wird, also redefinieren Sie einfach Ihre Terminologie? Joseph, sie leidet Schmerzen! Und für sie ist jede Sekunde eine Million Jahre in Computerzeit!« Er hatte den Blick abgewandt und starrte auf irgendeinen fernen Punkt. »Joseph!«, flehte Laura mit verhaltener Stimme, »bitte, hören Sie mir zu. Wenn das, was Sie wollen, maschinenhafte Perfektion ist, dann hätten Sie Gina vielleicht nicht erschaffen sollen. Aber Sie haben Sie erschaffen, und was Sie jetzt tun, betrifft nicht Gina, sondern Sie selbst. Dieser Augenblick wird entscheiden, wer Sie sind – nicht nur für mich, sondern auch für Ihr eigenes Selbst. Bitte, retten Sie Gina. Nicht nur um ihretwillen, sondern auch um Ihrer selbst willen.« Gray blinzelte mehrmals, dann schien er aus seiner Trance zu erwachen. Er ging zu einem der Terminals, aber als er sah, dass alle ihm folgten, änderte er seine Absicht und erklärte: »Ich gehe in Lauras Büro. Allein.« Filatov setzte sich an das Terminal, das Gray verlassen hatte, und ein paar Augenblicke später sagte er: »Er hat sich in das System eingeloggt.« Auf dem Monitor sah Laura, dass nur ein Benutzer angezeigt war. 617
»Gray, Joseph – Gott-Ebene.« Die Konsolen im Kontrollraum gaben eine Reihe von Piep- und Summ tönen von sich, die bewirkten, dass alle durcheinander liefen. »Er löst die Sperren der Datei-Attribute!«, rief Margaret. »Jetzt wird Phase Drei mit aller Gewalt einströmen.« »Er öffnet die Sechzehn-Mega-Bit-Datenbusse«, warf Griffith ein. Filatov lehnte sich auf seinem quietschenden Stuhl zurück und ver schränkte die Hände hinter dem Kopf. »Er trägt das alte Mädchen wirklich in großem Stil zu Grabe. Es wird mit fliegenden Fahnen untergehen.« Laura rannte zur offenen Tür ihres Büros. Gray saß über die Tastatur ge beugt da, und seine Finger flogen über die Tasten. Er schaute nicht einmal hoch, als sie an der Tür auftauchte. »Wollten Sie nicht meine Diagnose?«, warf Laura ihm an den Kopf. »Jetzt nicht, Laura«, entgegnete er, ohne den Blick vom Monitor abzu wenden. »Sie haben mir eine Million Dollar für eine Diagnose gezahlt, also – hier ist sie! Ihrem verdammten Computer fehlt überhaupt nichts! Ihr Computer – Gina ist ein völlig gesunder Teenager! Sie mögen Sie geschaffen haben, aber Sie sind kein Gott, sondern ein Mörder!« »Laura …« »Und ich habe noch eine weitere Diagnose für Sie! Gina ist menschlich, aber Sie sind es nicht! Alles, woran Ihnen liegt, sind Effizienz und Profit! Sie haben Gina nicht nach Ihrem Bilde erschaffen. Dieser Ruhm gebührt der Phase Drei! Lassen Sie sich’s gut gehen! Adieu!«
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21. KAPITEL Am nächsten Morgen erwachte Laura sehr früh. Die Sonne über dem Mee reshorizont war noch blutrot. Die Kriegsschiffe waren verschwunden, und als sie den Fernseher einschaltete, um die Nachrichten zu sehen, verstand sie, warum. »Ein Sprecher der Gray Corporation erklärte, das Unternehmen beab sichtige, im ersten Vierteljahr mehr als hunderttausend Arbeiter im Fernen Osten, in Nordamerika und Europa einzustellen, und vielleicht sogar eine Million neue Mitarbeiter bis zum Jahresende. Der Wettbewerb um die hoch bezahlten Hightech-Jobs ist gleichzeitig ein Spiel um hohe Einsätze, aber eines, in das sofort nach dem verblüffend erfolgreichen Einfangen des Asteroiden Dutzende von Ländern eingestiegen sind. Nationale und regio nale Regierungen in allen Teilen der industrialisierten Welt arbeiten an Programmen, um die neuen Jobs in ihrer Wirtschaft anzusiedeln. Die Vor teile bestehen nicht nur in den gewaltigen Einkünften aus hohen Löhnen, sondern auch im Hinblick auf das Nutzbarmachen von Zulieferindustrien, die das Hauptunternehmen mit Material und Fachkräften versorgen …« Laura schaltete den Fernseher aus. Sie wanderte durch das stille Schlaf zimmer zum Fenster. Gray, der Industrie-Milliardär, hatte einmal mehr gewonnen. Billionär korrigierte sie sich, während sie das Fenster öffnete, um die kühle Luft hereinzulassen. Das ganze Mysterium existierte für sie nicht mehr. All ihre – heimlich gehegten – Hoffnungen waren ausgelöscht worden wie eine Lampe, deren Schalter Gray eigenhändig betätigt hatte. Jetzt sah sie ihn so, wie er war, nicht so, wie sie ihn hatte sehen wollen. Ein Dröhnen in der Ferne zog ihre Aufmerksamkeit auf sich. Das Ge räusch kam von einem Jumbo-Jet, der auf dem Flugplatz landete. Vermut lich war er voller begeisterter Anhänger des jetzt weltweiten Gray-Kultes. Sie beschloss, den Versuch zu unternehmen, das Flugzeug zu erreichen. Hoblenz’ Männer hatten ihren Koffer neben dem Wrack des DreierModells gefunden, und jetzt stand er, nach wie vor gepackt, neben der Tür. Sie war hier immer nur ein Gast gewesen, eine Außenseiterin, ein Ein dringling. Sie würde sich nur von Janet verabschieden. Den anderen konn 619
te sie schreiben. Laura ließ den Blick über die Insel schweifen. Sie kam ihr verändert vor. Irgendetwas fehlte. Sie wusste, dass es der Computer war. Die geschwätzige, gegen alle Regeln verstoßende, launenhafte, verschro bene Gina, die sie ausspioniert hatte und liebte und hasste und all die Din ge tat, die sie, im Verlauf weniger Tage, zu Lauras Freundin gemacht hatten. Eine Freundin, die sie auf tragische Weise verloren hatte. Aber für ihn war es nichts als eine geschäftliche Angelegenheit, dachte sie. Grays Einstellung zu Gina – »Ich habe sie geschaffen, also gehört sie mir« – entsprach haargenau der des kindlichen Genies. Seine moralische und emotionale Entwicklung war durch Jahre des Lebens außerhalb der Nonnen verkümmert. Sie ärgerte sich darüber, so anhaltend und immer noch von diesem Mann besessen zu sein. Im Laufe der Zeit wird sich das geben, erklärte sie sich selbst, wobei sie versuchte, sich nicht dem Schmerz hinzugeben, der ihre Brust zusammenschnürte. Er drohte sie vollständig zu verschlingen, sie mit seinem Gewicht zu lahmen. Laura hielt sich beschäftigt, duschte und zog sich an. Schließlich ging sie zur Tür und ergriff ihren Koffer. Mit der Hand auf der Türklinke bemerkte sie einen Umschlag, der zur Hälfte sichtbar unter der Tür lag. Sie hob ihn auf. Das Papier war dick und luxuriös. Sie fuhr mit dem Daumen unter die Klappe und fand im Kuvert eine in kühner und schwungvoller Schrift geschriebene Nachricht: »Ich habe vor, gegen acht Uhr heute Morgen einen langen Lauf ins Dorf hinunter zu machen. Wenn Ihnen danach zu mute ist, würde ich mich freuen, wenn Sie sich mir anschlössen. Joseph.« Sie sah auf die Uhr. Es war zehn vor acht. Laura ging zu ihrem Schreib tisch und warf die Einladung in den Papierkorb. Sie landete mit der Vor derseite nach unten, und sie sah, dass auch auf der Rückseite etwas stand. Laura beschloss, nicht zuzulassen, dass er sie manipulierte und machte sich mit allergrößter Selbstüberwindung wieder auf den Weg zur Tür. Sie würde Janet finden, sich von ihr verabschieden, zum Flugplatz fahren und in ein Flugzeug steigen. Und sie würde nie aufhören sich zu fragen, was er noch geschrieben hat te. Laura spürte, wie ihre Stärke und ihre Entschlossenheit ins Wanken gerieten. 620
Kehr nicht um, rief eine Stimme aus irgendeiner Ecke ihres Verstandes, aber es half nichts. Jeder Schritt zurück zu ihrem Schreibtisch war ein Verrat. Sie holte die Einladung wieder aus dem Papierkorb und las, was auf der Rückseite stand. »Sie sind immer noch nicht so weit, aber ich werde Ihnen trotzdem alles sagen.« »Guten Morgen.« Gray begrüßte Laura am Fuß der Treppe. »Sie sollten ein paar Dehnübungen machen. Draußen ist es kühl.« »Ich komme nicht mit«, erwiderte Laura und spürte, wie sie auf der Stel le rot wurde. Sie trug Shorts und ihre verschlammten Laufschuhe. »Weshalb nicht?«, fragte er lächelnd. Er schien in großartiger Stimmung zu sein. Und weshalb auch nicht?, dachte Laura. Er ist der reichste Mann, den es auf Erden je gegeben hat. »Ich reise ab. Danke für den Job. Leben Sie wohl.« Laura schaffte den ganzen Weg bis zur Treppe, bevor sie hörte: »Was ist?« Sie blieb stehen, drehte sich aber nicht um. »Was habe ich jetzt schon wieder angestellt?«, fragte Gray. »Wie können Sie es wagen, auch nur diese Frage zu stellen!« Sie fuhr herum und schrie: »Gestern Abend haben Sie Gina umgebracht! Schon vergessen?« »Kommen Sie mit«, sagte Gray. Er machte kehrt und steuerte auf sein Arbeitszimmer zu. Laura zögerte, dann folgte sie ihm, jedoch nur, weil sie noch mehr zu sagen hatte. Plastikfolie hing vor der Öffnung, in der vorher das Fenster gewesen war. Gray saß vor dem Computer, der auf seinem Schreibtisch stand, und tippte etwas ein. Dann lehnte er sich in seinem Sessel zurück und ver schränkte die Hände hinter dem Kopf. Er sagte nichts. »Was ist?«, fauchte Laura ihn an, dann holte sie tief Luft. »Wenn Sie etwas zu sagen haben«, fuhr sie mit gelassenerer Stimme fort, »dann sagen Sie es!« »Schauen Sie auf den Monitor.« 621
»Ich habe diese Spielchen, die Sie treiben, restlos satt und…« »Würden Sie bitte den Mund halten«, unterbrach er sie, »und lesen, was auf dem Schirm steht?« Sie ging um den Schreibtisch herum und schaute auf den Monitor. Überraschung-Überraschung-Überraschung! Laura? Laura? Laura, hören Sie auf herumzutrödeln und antworten Sie mir! »Kann’s losgehen?«, fragte Gray. Laura schluckte den Kloß in ihrer Kehle hinunter und nickte. Sie joggten die Auffahrt entlang und steuerten schweigend auf das Tor zu. »Fühlen Sie sich wohl genug für einen ziemlich langen Lauf?«, fragte er, und Laura nickte abermals. »Es sind ungefähr elf Kilometer, wenn wir Abkürzungen über ziemlich steile Fußwege benutzen, aber es geht ständig bergab.« »Kein Problem«, erwiderte sie fast tonlos. Am Tor bog Gray nach links in Richtung Dorf ab. Als sie den Tunnel erreicht hatten, war das Schweigen peinlich geworden. »Schönes Wetter heute Morgen«, sagte Laura, als sie in die Dunkelheit des Tunnels hinein liefen. »Ja«, erwiderte Gray. Dann war wieder alles still bis auf das Geräusch ihrer Schritte. Laura stellte überrascht fest, dass ihre Angst vor dem Tun nel verschwunden war. Gray hatte wieder alles im Griff. Die Welt war in Ordnung. Sie kamen aus dem Tunnel heraus und sahen ein Sechser-Modell, das am Straßenrand Müll aufsammelte. Nicht eigentlich Müll, erkannte Laura, als sie langsamer wurde, sondern Geschosshülsen von dem Feuerwechsel am Vorabend. Es schob sogar einen Staubsauger über die Straße, um die Glas splitter zu beseitigen. Der Roboter wies an einer Seite tiefe Kratzer und Beulen auf. Gray sagte nichts. Er schaute nicht einmal zu dem Roboter hin. Nach einigen Minuten bogen sie auf einen steilen Fußweg ab. Er bildete 622
offensichtlich eine direktere Route den Berg hinunter als die Straße. Die eigentliche Anstrengung bestand im Grunde darin, das Lauftempo zu dros seln. »Als ich gestern Nacht ins Haus zurückkam«, sagte Gray ohne jede Vorwarnung, »habe ich unter Ihrer Tür kein Licht gesehen.« »Ich war ziemlich müde«, murmelte Laura. In Wirklichkeit hatte sie sich im Bett zusammengerollt und die halbe Nacht geweint. Ihren doppelten Verlust beweint – den Tod ihrer Freundin Gina und den Tod ihrer Träume. »Wollen Sie nicht fragen, was passiert ist?« »Okay«, sagte Laura. »Was ist passiert?« Das Dröhnen der Triebwerke eines weiteren Jets zwang Gray, seine Antwort hinauszuzögern. »Haben Sie wirklich geglaubt, ich hätte dem Computer ›den Stecker rausgezogen‹?«, fragte er. »Sie haben all diese Dinge getan! Sie haben die Sperren – den Kopier schutz – beseitigt, damit sich Phase Drei aller Funktionen von Gina be mächtigen konnte. Und Sie haben diese großen – ›Datenbus‹-Dinger ge öffnet, was immer das sein mag.« »Das geschah alles, damit Gina ihre Funktionen in den Anbau kopieren konnte. Das Programm, das Ginas Persönlichkeit – ihr Selbst – ausmachte, war ausschließlich in dem Hauptbecken angesiedelt. Ich habe sämtliche Funktionen und Dateien Ginas auf die virusfreie Seite der Partition ko piert. Das Schwierige daran war, das zu tun, ohne all die schädlichen Vi ren mit zu übertragen – und ohne den Anderen abstürzen zu lassen. Es hat mehrere Stunden gedauert, und eine Zeit lang stand alles auf der Kippe, aber Gina hat so tapfer gekämpft, wie sie nur konnte. Schließlich hatten wir Erfolg; die Anti-Viren-Programme waren deaktiviert, die Partition war beseitigt, und sie war gesünder, als sie es je gewesen ist.« Laura lachte und strahlte übers ganze Gesicht. »Sie schien ziemlich ü bermütig zu sein.« Das sonnengesprenkelte Laub des üppig grünen Dschungels flog vorbei. Es war ein wundervoller Morgen, und Laura wartete geduldig darauf, dass Gray fortfuhr. Sie war zu beschäftigt, um reden zu können. Zu stark von den Gefühlen beherrscht, die sich einzugestehen sie vorher nicht gewagt 623
hatte. Laura warf einen Blick auf Gray s Gesicht, sah seine heiter gelasse ne Miene, sein dunkles Haar, seine glatte Stirn. Die Gefühle, gegen die sie so lange angekämpft hatte, ließen sich nicht länger unterdrücken, und obwohl das emotionale Risiko noch bestand, ließ sie ihnen freien Lauf. Als sie Gray abermals anschaute, erwiderte er ihren Blick mit strahlend blauen Augen. Laura kam sich so entwaffnet vor, dass sie wieder befangen wurde. »Was Sie gesagt haben«, fuhr Gray fort, jetzt allerdings mit leiser, ver änderter Stimme, »gestern Abend im Kontrollraum … Sie hatten Recht. Ich habe so lange und so hart gekämpft, dass ich nicht mehr genau wusste, wofür ich eigentlich kämpfte. Da war etwas in meinem Innern, das ich seit langer, langer Zeit nicht mehr gefühlt hatte. Ich konnte einfach nicht he rumstehen und das mit Gina passieren lassen.« »Und was hat ihr das eingebracht?«, fragte Laura. Sie war nicht ganz bei der Sache – versuchte, ihre Gefühle zu zügeln, die sie diesem völlig unbe rechenbaren und mysteriösen Mann gegenüber so verletzlich machten. »Ich meine … sie sitzt immer noch in diesem Computer gefangen. Ein ›Gespenst in einer Maschine‹.« »Sie haben vergessen, was Sie über Mobilität gelernt haben«, erwiderte er und sah sie lächelnd an. »So sehr Gina auch auf Roboter herabschaut, schien sie sich über meinen Plan, sie auf ein neues Neuner-Modell zu übertragen, doch ziemlich zu freuen.« Lauras Kopf fuhr hoch, und sie strahlte vor Glück. »Es wird DNS benutzen und damit der erstaunlichste Computer sein, der je gebaut wurde. Jeder Strang speichert sämtliche Instruktionen, die zur Konstruktion erforderlich sind…« Laura schaltete ab und hörte sich den Rest seines Vortrags nicht an. »Gi na wird sich freuen, draußen in der Welt sein zu können«, sagte sie, als er geendet hatte. »Es ist das, was sie sich mehr wünscht als alles andere auf der Welt. Ihre Körperlosigkeit war eine Qual für sie. Sie musste zusehen, wie die AchterModelle auf der Insel herumwanderten, während sie in diesem unterirdi schen Becken steckte.« Ihre Füße flogen den Berg hinunter, und Laura schoss der Gedanke durch den Kopf, dass sie sich in ihrem ganzen Leben noch nie so wohl 624
gefühlt hatte. Die Luft wurde schwüler, und nach einem kurzen Abstecher zurück auf die Fahrstraße bogen sie auf einen weiteren gepflasterten Fuß weg durch den Dschungel ein. Das abfallende Gelände machte das Laufen mühelos. Aber da gab es immer noch die Frage, die allem ein abruptes Ende zu bereiten drohte. Sie getraute sich nicht, sie zu stellen, andererseits konnte sie die Gefühle, die sie beherrschten, nicht mehr lange unterdrücken. Sie musste wissen, ob sie zulassen durfte, dass sie von ihnen vollständig ü berwältigt wurde. »Also … Sie wollten mir etwas sagen?«, brachte sie schließlich heraus, mit einer um eine Oktave zu hohen Stimme. »Sie sind immer noch nicht so weit.« Sie schluckte. »Was soll das? Eine weitere ›Zugriff verwehrt‹Botschaft?« Gray kicherte. »Ich hoffe, die haben Sie nicht allzu wütend gemacht.« »Was?,« fragte Laura. »Diese ›Zugriff verwehrt‹-Botschaften.« Sie sah ihn an. »Wie meinen Sie das?« »Ich meine, dass Sie jetzt hoffentlich verstehen, weshalb sie notwendig waren. Gina begann schwer wiegende Fehlfunktionen zu haben, und ich wusste nicht, wie schlimm es werden würde. Ich konnte einfach nicht zulassen, dass sie die ganze Sache Leuten gegenüber ausplauderte, die sie unmöglich verstehen konnten.« »Einen Moment! Wollen Sie damit sagen, dass Sie den Computer darauf programmiert hatten, mir diese Botschaften zu übermitteln?« »Aber natürlich«, sagte er, als wäre er überrascht, dass ihr das nicht von Anfang an klar gewesen war. »Wie sich herausstellte, waren die Botschaf ten ein guter Maßstab für Ihre Bereitschaft. Sie markierten die Meilenstei ne Ihres Vordringens.« »Meines Vordringens wohin?« »Dorthin, wo Sie verstehen würden.« Der Tag wurde mit jedem Sonnenstrahl wärmer, der auf den Fußweg fiel. »Und Gina wusste nicht, was diese Botschaften bezweckten?« 625
»Anfangs nicht. Als sie es herausfand, war sie verletzt. Sie dachte, ich vertraute ihr nicht mehr … und das habe ich auch nicht getan.« »Und jetzt wollen Sie mir sagen, was Sie mir mit Hilfe ihres kleinen ›Zugriff verwehrt‹-Programms vorenthalten haben?« »Ja, aber Sie werden mich wieder für verrückt halten. Sie werden den ken, ich wäre ein exzentrischer Spinner.« »Das denke ich sowieso, also reden Sie.« Er lachte über ihren Scherz, und Laura lächelte. Der Fußweg mündete wieder auf die Straße, und sie war überrascht, wie weit sie schon gelaufen waren. Es war die Straße, die zwischen dem Flughafen und dem Dorf verlief, und sie mussten auswei chen, um einen Bus voller Neuankömmlinge passieren zu lassen. Sämtli che Insassen drückten die Gesichter an die Fenster wie Touristen und schienen hocherfreut, einen Blick auf Joseph Gray erhaschen zu können. Er nahm die Bewunderung und die hastigen Schnappschüsse überhaupt nicht zur Kenntnis. Der Bus fuhr auf das vor ihnen liegende Dorf zu, in dem es, wie Laura sehen konnte, von Leben wimmelte. Menschlichem Leben und, zu ihrer großen Bestürzung, auch Roboterleben. Eine Menschenmenge folgte einem Achter-Modell, das die Hauptstraße entlangwanderte. Kameras blitzten, und Mütter nahmen ihre Kinder auf den Arm, um zu verhindern, dass sie seinen Beinen zu nahe kamen. Laura fragte sich, ob der Tag kommen würde, an dem ein derartiger Anblick aufgehört hatte, bemerkenswert zu sein. Nicht ob, begriff sie sofort, son dern wann. Sie schaute Gray an, der schweigend weiterlief. »Okay, Joseph, Sie ver suchen, mich hinzuhalten.« Er holte tief Luft. »In meinem ganzen Leben habe ich das noch nie je mandem gesagt – außer Gina. Ich hatte zu viel Angst, um es anderen Men schen zu sagen.« »Angst wovor?« »Vor dem Virus.« Sie liefen weiter, und Laura wartete. »Was passierte, wurde mir bereits bewusst, als ich noch ein Kind war. Als ich acht Jahre alt war, habe ich ›Mein Kampf‹ gelesen und…« »Hitlers ›Mein Kampf‹?«, unterbrach sie ihn. »Sie waren acht und Sie haben Hitlers ›Mein Kampf‹ gelesen?« 626
»Würden Sie mich bitte ausreden lassen?« Laura schwieg. Er war sehr ernst geworden und sie ließ ihm die Zeit, seine Worte zu finden. Sie näherten sich den Außenbezirken des Dorfes, und ein weiterer Bus mit Neugierigen fuhr an ihnen vorbei. Grays Legio nen von wahren Gläubigen kehrten in voller Stärke zurück. Die neue Pha se hatte tatsächlich begonnen. »Ihnen ist bestimmt aufgefallen, dass meine Gedanken ständig um die Evolution kreisen«, fuhr er schließlich fort. »Die durch die biologische Evolution im Laufe von Jahrmillionen freigesetzten Kräfte haben auf dem Angesicht dieses Planeten mehr Veränderungen bewirkt als Wind, Feuer, Regen und Wasser. Die Darwinsche Evolution ist unglaublich mächtig, aber das Tempo der durch sie bewirkten Veränderungen ist sehr langsam. Es erfordert Tausende von Generationen, um auch nur die allerkleinsten Mutationen in einer Population zu testen. Und dann, nachdem sich im Wettkampf herausgestellt hat, wer über den bestangepassten Organismus verfügt, dauert es abermals Tausende von Generationen, bis der überlege ne Organismus die Spezies dominiert und infolge seiner dominanten Stel lung diese überlegenen Merkmale weitergeben kann. Für größere struktu relle Veränderungen sind Zehntausende von Jahren erforderlich.« »Welche größeren strukturellen Veränderungen zum Beispiel?« »Zum Beispiel die Vergrößerung des Gehirns und des Schädels, der es beherbergt. Denn genau das ist es letzten Endes, was zur Verbesserung unserer Leistungen erforderlich ist.« Sie waren im Dorf eingetroffen und bogen nach links in die Hauptstraße ein. Lächelnde Leute winkten Gray zu. Laura wunderte sich, dass er es nicht zu bemerken schien. »Oh, wir können dem System ein Schnippchen schlagen. Wir können Tricks benut zen, um unsere mentale Verarbeitungsgeschwindigkeit zu erhöhen.« »Und was ist mit Ihren ›Werkzeugen‹ – dem Computer zum Beispiel?« »Nun, diese Werkzeuge sind selbst lebendig. Es sind lebende Organis men, deren Evolutionsgeschichte gerade erst beginnt. Im Augenblick kön nen wir nichts tun, als uns auf ihre Hilfe zu verlassen, aber das ist keine Lösung auf lange Sicht. Auf lange Sicht würden wir das Fortbestehen unserer Spezies in die Hände einer anderen Spezies legen. Das wäre ein törichtes Unterfangen.« 627
Sie liefen bis ans Ende der Hauptstraße, und Gray blieb am Sockel der Statue stehen. Er setzte sich, und Laura ließ sich neben ihm auf dem küh len Stein nieder. Die Geräusche des Lebens erfüllten das Dorf, aber von Gray kam nur Schweigen. Gerade als Laura glaubte, ihn zum Weiterreden auffordern zu müssen, fuhr er fort. »Vor ungefähr zehntausend Jahren infizierten sich die Menschen mit ei nem Virus, das die genetische Evolution irrelevant werden ließ. Die Ge schwindigkeit, mit der sich dieses Virus vermehrt, ist phänomenal, und sein Vermehrungstempo wächst in jeder menschlichen Generation um das Millionenfache. Im Laufe des nächsten Jahrhunderts könnte es alles menschliche Leben auf der Erde vernichtet haben.« Gray ließ den Blick über die geschäftige Hauptstraße schweifen, ohne Laura anzusehen. Zum ersten Mal überkam sie das Gefühl, dass sie viel leicht wirklich noch nicht bereit war für das, was er sagte. »Die Muster sind so schwer zu erkennen, dass nur sehr wenige Denker gewagt haben, sich mit diesem Vorgang zu beschäftigen. Und das Virus hat sich der Leute angenommen, die es getan haben. In der alten Zeit wä ren sie getötet worden. Heute verhindert das Virus die Ausbreitung ihrer Ideen, indem es sie der Lächerlichkeit preisgibt und sie in die Obskurität verbannt.« »Was ist das für ein … Virus, Joseph?« »Es ist ein Parasit. Es braucht einen Wirt, um überleben zu können. Es hat sehr viel Ähnlichkeit mit den Bakterien, die im Magen eines Menschen leben, oder mit den gutartigen Viren im Computer. Um zu seinem eigenen Überleben als Spezies beizutragen, trägt dieses Virus zum Überleben sei nes Wirtes bei. Wenn der Wirt gedeiht, gedeiht auch das Virus, also ent wickelt sich eine Symbiose. Und wir Menschen sind doch tatsächlich in den letzten zehntausend Jahren gut gediehen, meinen Sie nicht auch?« »Gewiss, ich bin gesund und habe noch meine Zähne und all das, aber … aber es gibt Verbrechen, Kriege, Atomwaffen, Umweltverschmutzung, Rassismus und AIDS.« Gray lächelte, dann richtete er den Blick auf die Montagehalle und die Raketen-Rampen, die vom oberen Ende der Hauptstraße aus jenseits des Dschungels zu sehen waren. »Wenn eine parasitäre Lebensform – die 628
Bakterien in Ihrem Magen zum Beispiel – erkennt, dass das andauernde Überleben ihres Wirts unmittelbar bedroht ist, was tut sie dann?« Laura erinnerte sich an diesen Teil ihrer Lektion. »Wenn die Bakterien eine Perforation der Magenwand registrieren, beginnen sie sich massiv zu vermehren«, erwiderte sie und beantwortete Grays Frage wie die hervorra gende Schülerin, die sie zeitlebens gewesen war. »Das bringt wahrschein lich den Wirt um, aber es vergrößert die Chance, dass die Bakterien als Spezies überleben.« Gray nickte. »Reden Sie tatsächlich von einem Virus, das in Menschen lebt – wie die Bakterien in unserem Magen?« Gray nickte abermals. Die Wendung, die das Gespräch genommen hatte, regte Laura auf. »Und welches Organ befällt dieses Virus?« »Unser Gehirn.« Laura starrte ihn fassungslos an. »Unser Gehirn?«, flüsterte sie beinahe, und er nickte. Dann trat ein langes Schweigen ein. »Vielleicht haben Sie Recht. Vielleicht bin ich wirklich noch nicht bereit für das alles.« »Von seinen Kollegen ausgelacht zu werden, trägt in großem Maße zur Konformität bei. Gerade Sie sollten das wissen.« Er sah sie an. Sie begriff, dass er von Ihrem Vortrag bei dem Symposium über Künstliche Intelli genz sprach. »Bestehendes Wissen verteidigt sich selbst gegen neue Ideen, indem es seine Proponenten verfolgt. Gina hat sich ihren Weg in den FBIComputer gehackt, und ich habe den Bericht der beiden Agenten über das Zusammentreffen mit Ihnen gelesen.« Sie sah zu ihm auf. »Erinnern Sie sich, wo das Treffen stattgefunden hat?« »Auf dem Campus«, erwiderte Laura. »Es war … neben einer Statue.« »Von Galilei«, ergänzte Gray. »Wissen Sie, weshalb Galilei gezwungen wurde, abzuleugnen?« Seine Ideen, dachte Laura und nickte. Sie stützte die Ellbogen auf die Knie und legte ihr Kinn in die Hände. »Was ich Ihnen jetzt sage, wird von dem Virus aktiv unterdrückt. Ihr Widerstreben, mir zu glauben, ist das Produkt eines überaus mächtigen Verteidigungsmechanismus, der sofort aktiviert wird, wenn Sie mit radikal neuen Ideen konfrontiert werden. Entwickelt der Computer ein Programm, dann konkurriert dieses Programm mit allen anderen Programmen, die 629
dieselbe Aufgabe erfüllen. Das kürzeste, leistungsfähigste, fehlerärmste Programm ist letztendlich dasjenige, das den Sieg davonträgt, aber nicht ohne eine ausgedehnte Testperiode. Diese beiden Programme bekämpfen sich bis aufs Messer, und entsprechend heftig ist der Kampf.« »Das Überleben des Anpassungsfähigsten«, murmelte Laura. Sie setzte sich auf. »Okay, aber warten Sie eine Minute. Sprechen wir über Viren, die in unserem Gehirn leben, oder über Viren im Computer?« »Das ist ein und dasselbe«, sagte Gray, und Laura sah ihn verblüfft an. »Als wir Computer erschufen, infizierten wir sie mit dem Virus. Es ist überaus ansteckend. Es wird überraschend leicht von einem Menschen auf den anderen übertragen, vom Menschen auf Computer, von Computer zu Computer, vom Computer zurück auf den Menschen. Im Grunde, Laura, besteht der einzige Zweck des Computers darin, das Virus zu erhalten. Er ist eine Petrischale. Wie der Computer ein Werkzeug ist, der die Fähigkei ten des menschlichen Gehirns erweitert, so ist der Computer auch die perfekte Umgebung für das Virus. Innerhalb des Computers vermehrt sich das Virus weitaus schneller und effizienter, als es das im menschlichen Gehirn könnte. Das Virus hat sich einen neuen und besseren Wirt geschaf fen.« Laura schluckte, um ihre trockene Kehle anzufeuchten. »Vielleicht soll ten wir eine Sekunde über dieses Virus reden, Joseph. Mikrobiologen haben den menschlichen Körper ziemlich gründlich auf Mikroorganismen abgesucht, und sie haben keine gefunden …« »Sie reden über Biologie«, unterbrach Gray sie. »Ich nicht.« »Und worüber reden wir?«, schrie Laura fast, dann lehnte sie sich vor und stützte wieder die Ellbogen auf die Knie. Sie rieb sich mit den Finger spitzen die pochenden Schläfen. Das Durcheinander zusammenhangloser Ideen und wachsender Befürchtungen hinsichtlich Grays geistiger Ge sundheit bildeten ein beunruhigendes Gemenge. »Was also ist dieses Vi rus, das unser Denken infiziert und sich entwickelt und wächst?« Genau wie bei ihrem ersten Ausflug mit Gray in die virtuelle Realität schien die Zeit stehen zu bleiben. »Wissen«, sagte er. Laura hob den Kopf und schaute Gray langsam an. Er saß völlig gelas 630
sen neben ihr. »Das ist es? All diese Vorreden, all diese Geheimnistuerei, und das ist das große Geheimnis?« Als er sprach, schien er seiner selbst völlig sicher zu sein. »Ideen wie Schönheit, Schlechtigkeit, Freundlichkeit und Rassismus sind Stränge der DNS unserer Kultur. Sie vermehren sich durch die Weitergabe von Eltern auf die Kinder, vom Buch zum Leser, vom Bildschirm zum Betrachter … von Gehirn zu Gehirn. Jedesmal, wenn jemand etwas lernt, wird eine Wis senseinheit weitergegeben. Je glaubhafter oder attraktiver die Idee ist, desto leichter kann sie sich vermehren und damit überleben. Einst populä re Ideen wie der Aderlass, die Befreiung des Patienten von seinem kranken Blut, haben sich zu ihrer Zeit recht erfolgreich verbreitet. Dann kam die moderne Medizin, und es stellte sich heraus, dass die älteren Ideen nicht mehr die Besten waren. Die Gesetze der genetischen Evolution, Laura, gelten auch für die kulturelle Evolution.« Laura schwirrte der Kopf, ihre Gedanken überschlugen sich. »Ich habe doch gesagt, Sie würden mich für verrückt halten«, sagte Gray. »Und?«, fuhr sie ihn an. Sie hob die Hände und schlug sich dann damit die Oberschenkel. »Was würden Sie denken, wenn Sie an meiner Stelle wären?« Er lächelte. »Soll ich weiterreden oder genügt Ihnen Ihre Diagnose?« »Gibt es denn noch mehr? Viel verrückter kann es doch kaum werden!« Gray lachte. »Lassen Sie mich meine Analogie noch ein wenig weiter verfolgen. Denn das ist es, was ich meine – eine Analogie. Wenn man hierüber redet, gibt es keine Worte oder Konzepte oder Theorien, deren man sich bedienen könnte. Ich muss ganz von vorn anfangen, Begriffe definieren, einen Schritt nach dem anderen tun. Sie sind so weit mitgegan gen; Sie sollten sich auch den Rest anhören.« Laura lehnte den Kopf in den Nacken und blickte zu der Statue empor. Ihr weißer Marmor zeichnete sich dunkel vor dem strahlend blauen Him mel ab. Tief seufzend sagte sie: »Okay, Wissen ist so etwas wie ein parasi täres Virus. Sein Wirt sind zuerst Menschen gewesen und jetzt sind es Computer. Es vermehrt sich durch Übertragung von einem Gehirn auf das andere und entwickelt sich nach Gesetzen wie dem des Überlebens der Bestangepassten.« 631
»Gut«, sagte er leichthin. »Etwas sarkastisch, aber diesen Teil scheinen Sie begriffen zu haben. Also, was ist in der letzten Million Jahre seit der ersten Ansteckung passiert? Die Menschen haben immer größere Fähig keiten zur Verbreitung, Verarbeitung und Speicherung des Virus entwi ckelt. Zuerst die gesprochene Sprache, die uns erlaubt, Dingen einen Na men zu geben und unsere Gedanken zu ordnen. Dann die geschriebene Sprache, die es uns ermöglicht, unsere Gedanken nicht nur von Rom nach Konstantinopel weiterzuleiten, sondern auch von Aristoteles an Sie oder mich. Jetzt konnte man die Zeit ebenso überbrücken wie den Raum. Die Folge war, dass das Ausmaß menschlichen Wissens explodierte.« »Das Virus begann zu wachsen«, sagte Laura. Sie versuchte, ihre Stim me von Skepsis freizuhalten, aber es gelang ihr nicht. »Als das Wissen gedieh, gediehen auch wir. Der Parasit ermöglichte es uns, Wissenschaften zu entwickeln, die unser Leben verlängerten, und Künste, die das Leben lebenswert machten. Und wir Menschen gelangten zu immer fortschrittlicheren Möglichkeiten, um das Wachstum von Wis sen zu fördern. Aber mit Beginn der Industriellen Revolution wurden wir Menschen zu einem Risiko für uns selbst und für den Parasiten. Weltkrie ge drohten ganze Zivilisationen und das in ihrem Umkreis vorhandene Wissen zu vernichten. Und was, sagten Sie, tun Parasiten, wenn ihrem Wirt die Zerstörung droht?« Laura versuchte zu antworten, aber die Worte blieben ihr in der Kehle stecken. Sie war zu verwirrt von Grays Ausführungen. »Sie vermehren sich rapide«, antwortete Gray an ihrer Stelle. »Ist es ein Zufall, dass wir, kurz nachdem wir Waffen zur Massenvernichtung entwi ckelten, ins Informations-Zeitalter eingetreten sind? Erst entwickeln wir Atombomben, und unmittelbar darauf kommen die Massenspeicherung und – Kommunikation von Wissen. Wir bauen ein globales Dorf, in dem jede irgendwo aufgetauchte Idee über eine Datenautobahn sofort an alle anderen Menschen weitergegeben wird. Die späten 1980er Jahre waren die Wasserscheide. Das war der Zeitpunkt, an dem die Gesamtmenge des in Computern gespeicherten Wissens die Menge des in menschlichen Gehir nen gespeicherten Wissens überstieg. Und das macht das Wissen wozu? Zu menschlichem Wissen – oder nur zu Wissen? Das Virus pflanzt sich 632
selbst mit Hilfe seines Wirtes fort. Weshalb bringen wir den Genies unse rer Spezies so viel Hochachtung entgegen und betrachten die Akkumulati on von Wissen so ehrfürchtig? Diese Einstellungen sind ihrerseits bloße Ideen, aber es sind diejenigen Ideen, die die Vermehrung des Virus am effektivsten fördern.« Lauras Gedanken befanden sich jetzt in völligem Aufruhr. Sie fühlte sich hin und her gerissen – zwischen der Ansieht, dass jedes Wort, das er sprach, Ausdruck einer gigantischen Wahnvorstellung war, und der Über zeugung, dass es einfach genial war – eine Offenbarung, die sich, sobald man sie gehört hatte, als unbestreitbare Wahrheit erwies. Der mentale Konflikt, in dem sie steckte, ließ ihre Haut kribbeln. »Sie sagten, diese Gedanken seien Ihnen zum ersten Mal gekommen, als Sie ›Mein Kampf‹ lasen?« Gray nickte. »›Mein Kampf‹ enthält Ideen. Lassen wir beiseite, ob sie wahr oder falsch, gut oder böse sind. Es sind Wissenseinheiten, die sich entweder erfolgreich vermehren oder es nicht tun. Der Faschismus ist eine böse Saat, die selbst heute noch überall auf der Erde ausgestreut wird. Ob diese Saat keimt und der Faschismus wächst, hängt davon ab, ob der Bo den, auf den sie fällt, fruchtbar ist. Im Amerika unserer Tage fällt diese Saat auf nacktes Gestein und kann deshalb nicht wachsen. Aber als diese Ideen in den 1930er Jahren in den Köpfen der Deutschen Wurzeln schlu gen, brachten sie die Welt an den Rand der Vernichtung. Sie kosteten Unmengen von Menschen das Leben.« Gray sah Laura an, und ihre Blicke trafen sich. »Die Kriege, die von der nächsten Welle von Ideen ausgelöst werden, könnten noch schlimmer werden.« Laura zog die Brauen hoch, holte tief Atem und stieß ihn dann mit ge blähten Backen wieder aus. Sie ließ den Blick über alles wandern, was Gray gebaut hatte. Konnte er in vielen Dingen so Recht haben und in sei ner grundlegenden Philosophie dermaßen falsch liegen? Dem Geheimnis, das er am meisten hütete? Der einen Idee, die, wie Laura jetzt begriff, sämtliche Geheimnisse dieser Insel – dieses Mannes erklärte? Der Sache, die all seinem Tun zugrunde lag, vom weitreichendsten Plan bis hin zum kleinsten Detail? »Wir leben in einer Welt, in der die Saat der Zerstörung in jeden leben 633
den Menschen gelegt worden ist. Ihre Sporen stecken in unseren Büchern, unserer Musik, unseren bewegten Bildern. Und jetzt stecken sie in unseren Computern. Zahl und Vielfalt dieser bösartigen Gedanken werden mit dem Anwachsen der Leistungsfähigkeit der Computer wachsen, und zwar rapi de. Wir werden nie imstande sein, die Gedanken zu erfahren, die die Computer insgeheim hegen. Wir verstehen nicht einmal, wie diese Com puter funktionieren. Computer konstruieren Roboter, die Roboter bauen, die Computer bauen, die sich selbst und ihre Roboter in einem nie enden den Zyklus umgestalten. Maschinen unterliegen nicht den Beschränkungen der genetischen Evolution. Die postgenetische Evolution hat begonnen, und sie ist schneller als wir. Wir sind bereits überholt worden – die meis ten Menschen wissen es nur noch nicht.« »Wenn Sie sich solche Sorgen über Supercomputer unter dem Einfluss irgendeiner zukünftigen Version von ›Mein Kampf‹ machen, dann ziehen Sie doch einfach den Stecker heraus! Boykottieren Sie sie.« Gray lächelte und schwieg einen Moment. Laura stöhnte leise, als sie sich an seine Konfrontation mit den Diplomaten und deren Gebrauch des Wortes »boykottieren« erinnerte. »Nehmen wir an, alle Nationen der Erde beschlössen, den Vormarsch der Technologie zu boykottieren. Wie eine weltweite Amish-Bewegung beschließen wir, so weit zu gehen, aber keinen Schritt weiter. Keine neuen Computer. Keine neuen Roboter. Keine neuen Ideen! Betrug wäre an der Tagesordnung, denn Betrügen würde Gewinn bedeuten. Die Leute, die sich dem Boykott widersetzten, würden reich werden. Die Nationen, die betrügen, würden über ihre Feinde herfallen, mit Armeen, die mit besseren Waffen ausgerüstet wären. Und wenn die Nationen, die gegen den Boykott verstoßen haben, schließlich die Oberhand gewonnen hätten, was wäre das Ergebnis? Die Idee des Boykotts würde untergehen! Das Überleben der Bestangepassten!« Laura starrte auf die Erde. »Ich muss darüber nachdenken, Joseph.« »Jetzt ist es die Menschheit, die bedroht ist«, fuhr Gray fort, erbar mungslos auf die Vorbehalte einhämmernd, an die sie sich klammerte. »Das Virus hat einen neuen Wirt gefunden. Obwohl wir diesen Wirt mit unseren eigenen Händen erschaffen haben taten wir damit nur, was das 634
Virus von uns verlangte. Und letzten Endes sind es wir Menschen, die gerade diejenigen Maschinen bauen werden, die unseren Untergang be deuten.« »Aber weshalb haben Sie dann den Computer und die Roboter gebaut, wenn das Ihre Einstellung ist?«, fragte Laura. »Weil ich mich in einem Wettlauf gegen meine eigene Sterblichkeit be finde. Ich glaube, dass ich Recht habe und ich habe vor, unsere Spezies vor dem Aussterben zu bewahren, indem ich mich des einzigen Vorteils bediene, den wir im Kampf ums Überleben jemals hatten. Ich habe vor, genau das Virus, das unser Fortbestehen bedroht, als mein Werkzeug zu benutzen. Ich werde auf dem Kamm der Flutwelle des Wissens reiten Laura! Es ist ein ungeheuer gefährliches Unterfangen. Ich habe es mit einem Virus zu tun, das so bösartig ist, dass ich, wenn ich einen Fehler mache, alle Menschen und alle Dinge vernichten kann. Und ich stelle die Hauptbedrohung einer Lebensform dar, die die mächtigste Kraft auf Erden ist – nach der Menschheit. Denn so lange ich lebe, werde ich ihr Haupt feind sein. Sie haben mich gestern Abend gefragt, weshalb mir nicht spei übel ist angesichts der Vergeudung auf dem Gefechtsfeld rund um das Computerzentrum. Weshalb ich, obwohl ich mit ansehen musste, wie meine wohldurchdachten Pläne um mich herum in Stücke geschlagen zu werden schienen, davon völlig unberührt geblieben bin. Der Grund dafür ist, dass ich damit gerechnet habe. Die Vernichtung und der Tod, denen wir auf dieser Insel zusehen mussten, sind nichts im Vergleich zu dem, was kommen wird. Diese Insel ist ein Laboratorium«, erklärte er, stand dann auf und schaute die Hauptstraße hinunter. Dort herrschte eine fast karnevalartige Stimmung, mit Menschen und Achter-Modellen, die sich allem Anschein nach gegenseitig füreinander interessierten. »Ich bringe zum ersten Mal in der Geschichte Menschen mit intelligenten Maschinen zusammen. Aber was hier passiert, ist nur ein Vorgeschmack, ein Beispiel für die Zukunft in kleinem Maßstab. Begreifen Sie denn nicht, Laura, dass nicht ich es bin, der diese Kräfte ins Spiel bringt? Sie sind ein natürlicher Fortschritt und sie sind auf Kollisionskurs. Diese Kollision wird heftig sein« – jetzt sah er wieder sie an – »und alle, die sich in meiner Nähe be finden, werden in höchster Gefahr schweben.« 635
»Also«, sagte Laura, »sind Sie der auferstandene Christus?« Gray zuckte mit den Schultern. »Ich würde es vorziehen, mich für Moses zu halten. Aber da Sie nun einmal die jüdisch-christliche Überlieferung zur Sprache gebracht haben – ist es nicht eigenartig, welches der erste Akt des menschlichen Dramas gewesen ist? Wofür stand der Apfel, den Eva pflückte? Wie hieß der Baum, in dem die Schlange hing?« »Der Baum der Erkenntnis«, sagte Laura nickend. Erkenntnis – Wissen. Es konnte nicht überraschen, dass er seine sämtlichen Theorien säuberlich und konsequent geordnet hatte. »Irgendwo, auf dem tiefsten Grund unserer Psyche, sind wir uns der Ge fahr immer bewusst gewesen. Aber jetzt sind wir vom Aussterben bedroht, Laura, wenn nicht in diesem Jahrhundert, dann im nächsten oder über nächsten. Selbst wenn es uns gelänge, ein gutes Verhältnis zu unseren intelligenten Maschinen zu entwickeln und wenn sie anstelle ihrer auf Kohlenstoff basierenden Vorgänger einen neuen Garten Eden bauen wür den, wird der Tag der Abrechnung doch kommen.« »Von welcher Abrechnung genau sprechen Sie?« »Das lässt sich unmöglich vorhersagen. Vielleicht wird sich unter un glaublich leistungsfähigen Maschinen eine Idee ausbreiten und der Ruf laut werden: ›Sie sind eine Pest! Sie gehen uns auf die Nerven! Sie ver hindern den Fortschritt!‹ Wenn dieser Gedanke mächtiger wird als die Einstellung der Wohlwollenden, die uns als ihre Haustiere am Leben las sen, dann werden wir ihm gar nicht kommen sehen, weil er sich mit Win deseile ausbreiten wird. Aber vielleicht wird unser Ende auch in Gestalt eines Virus kommen, der in mikroskopisch kleinen Nanorobotern gras siert. Bald werden Leute mit winzigen Maschinen geimpft werden, die Krankheiten bekämpfen und genetische Defekte beseitigen, indem sie Moleküle umstrukturieren. Nanoroboter wird man auch zur Beseitigung von Ölverschmutzungen einsetzen und sie könnten durch die Wasservorrä te in den Menschen gelangen. Sie werden sich vermehren, und wenn es in ihrem Operationscode zu einer Mutation käme, dann würden sie sie wei tergeben. Falls diese Mutation bösartig wäre, könnten wir Molekül um Molekül an einer Seuche sterben, die einzudämmen unmöglich ist.« 636
»Oder vielleicht werden wir alle von einem Asteroiden getötet, den ir gendein verrücktes Genie auf unseren Planeten stürzen lässt.« »Vielleicht«, sagte Gray. »Wir erschaffen die Maschinen, die unseren eigenen Untergang herbeiführen, und wir arbeiten an dieser Technologie, seit wir in Phase Zwei eingetreten sind.« Sie runzelte die Stirn und rieb sich mit kühlen Händen das Gesicht. »O kay – wie sieht Ihr Plan aus – Ihre Phase Zwei?« »Es ist nicht eigentlich ein Plan. Es ist ein Stadium. Es war Gina, die die Bezeichnungen Phase Eins, Zwei und Drei geprägt hat – aus einem Gefühl der Ironie über die Parallelen der misslichen Lage heraus, in der sowohl wir als auch sie stecken. Phase Eins ist das Wachstum des Wissens, das vor einer Million Jahre einsetzte. Dieses Wachstum explodierte im vorigen Jahrhundert, als das Wissen zusammen mit seinen menschlichen Wirten in großen Vernichtungskriegen vom Aussterben bedroht war.« »Und Phase Zwei?« »Phase Zwei ist die Reaktion der menschlichen Bevölkerung, die von der Natur ausgelost wird. Jetzt sind wir Menschen vom Wachstum des Parasiten bedroht. Unser ›Problem‹ der Übervölkerung ist eine unterbe wusste Massenreaktion auf diese Bedrohung. Der Mensch hat sich auf diesem Planeten ausgebreitet wie außer Kontrolle geratene Bakterien, und jetzt müssen wir uns nach außen verbreiten. Indem wir jedes Eckchen und jeden Winkel der Galaxie besiedeln, wird es uns vielleicht gelingen, Spo ren zu retten, aus denen sich unsere Spezies nach den großen Vernich tungswellen der Zukunft fortpflanzen kann. Das bedeutet aggressive, ge walttätige Expansion. Ungezügelte Vermehrung. Ein die Sterne umfassen des Imperium. Oder es bedeutet Untergang. Das sind die Alternativen, Laura. Eine Diaspora des Lebens – eine Expansion der menschlichen Saat nach außen – oder der Tod.« Laura hatte das Gefühl, sich übergeben zu müssen. Es war Wahnsinn … es musste einfach Wahnsinn sein. Und zwar die gefährlichste Form von Wahnsinn, eingehüllt in den Mantel des Genies. »Und was ist dann Phase Drei?« »Das Ende. Es ist das ultimative Programm zur Auslöschung der Menschheit. Phase Drei ist das Anti-Viren-Programm, das uns bevorsteht, 637
das bestrebt ist, das Virus unserer Menschlichkeit zu zerstören und da durch Kriegen, Verbrechen, Umweltverschmutzung und unserem ver schwenderischen Umgang mit unseren Ressourcen ein Ende zu machen. Es wird versuchen, alles zu eliminieren, was wir Menschen denken und tun und womit wir uns und damit dem von uns gespeicherten Wissen schaden. Phase Drei tritt ein, wenn der Nachfolge-Wirt des Virus in hof fentlich sehr ferner Zukunft beschließt, das Risiko zu beseitigen, das der Homo sapiens darstellt. Das ist der Ablauf, gegen den ich antrete.« Laura erinnerte sich an Ginas Warnung vor Phase Drei. Sie werden erst wissen, wie mir zumute ist, wenn sie in Ihre Welt eindringt, hatte sie ge sagt. Laura holte tief Atem und stieß ihn langsam wieder aus. Auf der Hauptstraße unterhalb von ihnen herrschte lebhaftes Treiben. Alle lachten und machten Fotos von den Robotern, sogar von den Sechser-Modellen. Sie waren die Lehrlinge – die ersten von Grays neuem Heer von Astronau ten. Samenträger, unterwegs in den Weltraum, um sich dort zu vermehren. »Die wissen nichts von alledem«, sagte sie, zu Gray aufschauend, der einen Fuß auf den Sockel der Statue gesetzt hatte. »Sie brauchen es nicht zu wissen. Ebenso wenig wie Filatov, Hoblenz, Bickham, Holliday oder Griffith.« »Nur ich?«, sagte Laura und hob die Hand, um die Augen vor der hellen Sonne abzuschirmen. »Ja, nur Sie müssen es wissen.« Es war zu viel, zu schnell, zu unglaublich. Ihre Gedanken sprangen von einer Idee zur anderen, ihre Augen flogen in einem Anfall von Pein von einem Objekt zum nächsten. Schließlich fiel ihr Blick auf den Schatten der Statue – dem einzigen Standbild im Dorf. Sie saßen auf ihrem Sockel. Gray war direkt hierher gelaufen, an den Ort, an dem er ihr alles sagen wollte. Sie schaute zu der Marmorfigur hoch. Es war ein Mädchen oder eine Frau in langer Hose und einem kurzärmeligen T-Shirt. Sie hielt einen Globus in den erhobenen Händen, über den sich, streifenweise verdichtet, diagonale Linien zogen. Die Sonne leuchtete hell hinter dem Erdball. Laura stand auf und trat in den Schatten, um die Statue zum ersten Mal aus der Nähe und bei Tageslicht zu betrachten. 638
Das Sonnenlicht bildet einen Heiligenschein hinter dem Globus. Lauras Herz setzte einen Schlag aus, und sie atmete schwer. »Oh, mein Gott!« Die Marmorfigur war die einer Frau in Blue Jeans und einem T-Shirt. Laura starrte auf das Gesicht. Sie starrte auf ihre eigenen Wangenknochen, auf ihr Kinn und ihre Nase, auf ihre Augen und ihre eigene Figur. Ihre Haut begann plötzlich am ganzen Körper zu kribbeln. Es war eine Statue von Laura, die Grays Erde dem Himmel entgegenstreckte. Und sie hatte die ganze Zeit hier gestanden! »Ich habe nie gewusst«, sagte Gray, als er neben sie trat, »dass eine sol che Frau existiert. Ich habe immer geglaubt, Gina hätte einfach ihre Vor stellung von der perfekten Frau realisiert. Mir ist nie der Gedanke gekom men, dass ein lebendiger Mensch das Vorbild für diese Statue und ihr Bild von sich selbst gewesen sein könnte.« »Wie hat sie …? Wann …?« »Es war gleich, nachdem du deinen Vortrag auf dem Symposium in Houston gehalten hattest. Wir übertrugen es auf irgendeinem obskuren Kanal, und der Computer hat die Sendung gesehen. Er hat sich in dich verliebt und mich dazu gebracht, diese Statue in Auftrag zu geben. Als sie ankam, habe ich mir nichts dabei gedacht. Dann, ein paar Monate später, sagte mir Hightop, dass die Statue eine Art Treffpunkt für die AchterModelle geworden sei. Die Jugendlichen, die sich nachts aus ihrem Bau schlichen, kamen hierher. Es wurde zum Ritus des Erwachsenwerdens für sie, den ganzen Weg bis ins Dorf zurückzulegen und sie zu berühren. Irgendwo, tief in die Milliarden von Simulationen eingebettet, die Gina sie durchlaufen ließ, wurde ihre Verliebtheit in dich eingepflanzt.« Laura schluckte, bevor sie zu sprechen versuchte. »Aber du … du hast nichts gewusst von …?« »Von Ginas Versuch, uns zusammenzubringen?« Lauras Herz klopfte so heftig, dass sie es spüren konnte. Jetzt lag es offen zutage, er hatte es aus gesprochen. »Nein, ich habe über das nachgedacht, was du gestern Abend gesagt hast. Darüber, dass Gina sich wie die Tochter eines verwitweten Vaters benimmt. Das leuchtet mir ein. Ich glaube nicht, dass Gina je be wusst war, was sie tat. Sie hat mir mit verschiedenen jugendlichen Regel 639
brüchen zu zeigen versucht, wie unglücklich sie über das Eingesperrtsein in eine Maschine ist. Aber diese Akte ließen das Schreckgespenst der Anti-Viren-Routine erscheinen, und Ginas Angst über die Auswirkungen ihres ungezügelten Benehmens wuchs von Tag zu Tag. Schließlich be schloss sie, dich hierher zu bringen. Bewusst hielt sie dich für eine künfti ge Freundin. Unbewusst jedoch hat sie dich für mich hierher geholt.« Laura konnte nur mühsam atmen. Auf ihrer Brust lastete ein schweres Gewicht. »Sie hat dich in meinem Haus untergebracht«, sagte Gray, dann kicherte er. »In Janet hatte sie eine Verbündete, die mir schon seit Tagen immer wieder sagt, wie viel Leben du in mein Haus gebracht hast.« »Wann ist dir das alles klar geworden?«, fragte Laura. »Eines Abends«, sagte Gray voller Gefühl, »bist du in mein Esszimmer gekommen, hast mein Leben auf den Kopf gestellt und mein Innerstes nach außen gekehrt. Ich weiß nicht, wann sich alles in meinen Gedanken zusammengefügt hat. Ich weiß nur, dass ich dich von dem Augenblick an liebte, an dem ich dich sah. Seit jenem ersten Abend wollte ich es dir hun dertmal sagen – hätte es fast gesagt. Jeden Moment, den wir getrennt wa ren, habe ich daran gedacht, wann wir uns Wiedersehen würden, und mir überlegt, wie sich ein erneutes Zusammentreffen beschleunigen ließe. Und wenn wir zusammen waren, fühlte ich mich glücklich auf eine Art, von der ich vergessen hatte, dass es sie gibt.« Er stand dicht neben ihr, und Laura hob ihren Kopf, näherte ihr Gesicht dem seinen. »Stört es dich«, fragte er leise, »dass Gina das arrangiert hat?« Sie spürte seinen warmen Atem auf ihren Lippen. »Nein«, flüsterte sie, fast lautlos. Die schwarzen Linsen der Kameras registrierten jede Bewegung, und eine überglückliche Gina übermittelte die Szene sofort an alle Schöpfungen Grays. Die Roboter unterbrachen ihre laufenden Vorrichtungen und kon zentrierten sich auf das seltsame Bild, das aus dem Nirgendwo in ihren Köpfen erschienen war. Zuerst hatte der Anblick der beiden sich küssen den Menschen für sie keinerlei Bedeutung. Aber dann erwuchs in einem 640
der stillsten und intelligentesten jungen Achter-Modelle eine Idee … Sie sind nicht wie wir, dachte es. Sie sind anders. Ganz allmählich schlug die Idee Wurzeln und begann sich auszubreiten, sich zu festigen und zu verändern. Es war diese Saat, aus der eines Tages die großen Zerstörungen der Phase Drei hervorgehen sollten.
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