Torsten Meyer · Kerstin Mayrberger Stephan Münte-Goussar · Christina Schwalbe (Hrsg.) Kontrolle und Selbstkontrolle
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Torsten Meyer · Kerstin Mayrberger Stephan Münte-Goussar · Christina Schwalbe (Hrsg.) Kontrolle und Selbstkontrolle
Medienbildung und Gesellschaft Band 19 Herausgegeben von Winfried Marotzki Norbert Meder Dorothee M. Meister Uwe Sander Johannes Fromme
Torsten Meyer · Kerstin Mayrberger Stephan Münte-Goussar Christina Schwalbe (Hrsg.)
Kontrolle und Selbstkontrolle Zur Ambivalenz von E-Portfolios in Bildungsprozessen
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Die vorliegende Publikation wurde im Rahmen des Projekts ePUSH der Fakultät für Erziehungswissenschaft, Psychologie und Bewegungswissenschaft der Universität Hamburg mit Mitteln der Behörde für Wissenschaft und Forschung der Freien und Hansestadt Hamburg im Programm „E-Learning und Multimedia in der Hochschullehre“ gefördert. Die Auswahl des Projektes erfolgte durch das E-Learning-Consortium Hamburg. Projektträger ist die Multimedia Kontor Hamburg GmbH. Mehr Informationen: www.mmkh.de
. 1. Auflage 2011 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011 Lektorat: Stefanie Laux / Adrienne van Wickevoort Crommelin VS Verlag für Sozialwissenschaften ist eine Marke von Springer Fachmedien. Springer Fachmedien ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Satz: Annemarie Hahn Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-531-17683-3
Inhalt
Vorwort Torstetl lVIryer
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Stephan Münte- Goussa1~ Kerstin Mqyrbet;ger, Torsten M ryer, Cbristina Sl'hJvalbe Einleitung
15
Perspektiven
31
Thomas Häl'ket~ Wo!f Hilzensauer, Klaus Himpsi-Gaterman», Benj amin[orissen, Kerstin Mqyrberget~ Stephan Münte- Goussa1~ Ramon Reicbert, Gabi Reinmann. Theo Röhle, Sandra Sd}aJfert Selbs tbestimm ung und Selbs tsteueru ng In dividualisierung Selbs treflexion un d Leistungsbe wer tung Selbst-Ö konomi sierung
33 39 43
Umsichten
55
BenjaminJörissen Bildung, Visuali tät, Subjektivierung - Sicht barkeite n und Selbstverhältnisse in m edialen Strukture n
57
Theo Rijhle Ausweitung der K ontroll zon e. Cloud Computi ng und die Verdatung der Bildung unt er kommerziellen Vorzeich en
75
49
Ramon Reichert Das E -Portfolio. Eine mediale Technologie zur Herstellung von Kontrolle und Selbstkontrolle in Bildungsprozessen
Einblicke
89
109
Sch ule
M atthias C. Fink E -Po rtfolioarbeit in der Schule - Selbs tsteueru ng im Spann ungs feld vo n extrinsischer und intrinsischer Motivation
111
Thomas Unruh (E-)Portfolios in der Lehrerausbildung am Landesinstitut für Lehrerbildung und Sch ulentwicklung Hamburg
115
.Anne-Britt M ahler Der Lernpass in der Berufsvorbereitung
119
H o chschule
Peter Baasch, Detlev Bieter, Thomas CZe17vionka, Sönke Knutzen, Corinna Peters Selbs tbestimmte Kompetenzentwicklung, selbstgesteuertes Lernen Poten ziale der E- Portfolionutzung an der Te chnische n Universität H amburg-H arburg
123
Torsten M eyer Blo ggen üb er den Seitenwechse l. E -Portfolio im in tegrier ten Schulp raktikum
127
M arianne M erk t Das studien begleitende E -Lehrp ortfolio konze pt im Studiengang »Master of H igher E ducation«
133
Thomas Sporer E -Po rt folios zur Fö rderung überfachlicher K ompetenzen. Die Ums etz ung im Augsburger Begleitstudium
139
Rudo!f Kammer! In tegrierte E -Portfolio funktionen in Stud.IP das Projekt »InteLeC - Integrierter eLe arning Camp us«
145
Studierende
Sebastian Plii llges Paradoxien mit E -Po rtfolios : ein E rfahrungs bericht
151
Iris Brul"k er Führen eine s E -Portfolios - die Chance, Verantwortung für den eigenen Lernpro zess zu übernehmen
155
SarahH aese E -Po rtfolios - N euland mit un geahntem Po tenzial
157
Ansichten
159
Thomas Häl"k er Portfolio revisited - üb er G ren zen und Möglichkeiten eines viel vers p rechende n K on zepts
161
Gabi Reillmantl, Silvia Sippe! Kön igsweg od er Sackgasse? E -Portfolios für das fo rsch ende Lerne n
185
Peter Baumgarlnel~ Klaus Himpsl-Gutermantl Implem en tierungsstrategien für E -Portfolios an (österre ichischen) Hochschulen
203
Stepba» M ünte-Goussar Ambivalen te Selbst-T echniken : Por tfolio, Ökonomisierung, Selbstbest im m ung
225
Kerstin Mqyrberger Le rn en und Pr üfen mi t E -Portfolios eine explorati ve Studie zu r Persp ektive der St udieren den au f die Ambivalen z von Selbst- und Frem dkontrolle
251
Wo!fHiIZetlsauer, Sandra Schq/Ji!11 E ine Rücksc ha u auf E -Portfolios : Ausgewählte Meilensteine, quantitative E ntwicklungen sowie fünf kritische A spekte
281
Autorenverzeichnis
299
Vorwort
Social N etwo rks, Bewertungs-Plattformen für Schulen, Lehrer, Professoren und Lehrveranstaltungen, digitale Lerntagebücher und nicht zuletzt E -Po rtfolios - die aktuellen E ntwicklungen der Medientechn ologie fördern Transparenz und Öffentlichkeit . Durch die damit zusammenhängenden Kulturtechniken entwickeln sich neue Fo rmen von Kontrolle und Selbst kontro lle. Begriffe wie SurIJeiffam·e und SousIJeiffam·e (Überwachung und >Unterwachung< = Überwachung vo n unten) zeigen an, dass Mach tverh ältnisse in den Bildun gssystemen unter neuen Vorzeichen gedacht werden. Durch die i'vIöglichkeiten der freieren \'V'ahl der Lernwege und Lernziele verlieren traditionelle Verfahren der Leistungsme ssung sowie Zugangsberechtigungen, Di plome und formale Akkreditierungen an Bedeutung. Lernende können mit OnlinePortfolios ystemen ihre je eigenen Fähigkeiten und E rfolge direkt auf den globalen Markt tr agen , und die s nicht nur für einen begrenzten Zeitraum. Die Möglichkeiten zur Selbs tbestimmung steigen . Andererseit s geht die Stärkung individueller Wahlfreiheit und Eigenv erantwortung mit der Ausweitung de s Zwangs zu einem individuellen unternehmerischen Bildungsm anagement einher. Schüler und Studenten sind angehalten, für E ntwicklung, E rhalt, Sicht- und Verwertb arkeit ihrer K ompetenzen selber Sorge zu tragen . Das fordert eine be stimmte Fo rm der Selbst-Reflexivität, Selbs t-Steuerung und Selbs tKontrolle, die Bildung zur Selbs t-Bild ung und das Selbst zum Agenten seiner eigenen Ökonomi sierung werden lässt . Der G egens tand der bildenden Bemächtigung ist damit nicht mehr die \'V'elt mit ihren verschiedenen G egenständen, sondern die eigene Vita, die nun dauerhaft zum Objekt der Reflexion, N eukon figur ation und Kontrolle wird . In dem hier vorliegenden Buch geht es vor allem um die mit den T echniken von Kontrolle und Selbs tkontro lle in Bildungsprozessen verbundenen Ambivalenzen. Mit dem Fokus auf E -Po rtfolios versam m elt das Buch eine Vielfalt ganz unterschiedlicher Perspektiven auf ein T hema , da s vieler orts zunä chs t sehr euphorisch in verschiedenen Formen von p ädagogischer Praxi s adaptiert, mit seinen mittel- und langfri stigen \Virkungen auf Lehr -/Lern - und Prüfungskulturen aber bislang noch vergleichsweise wenig im Hinblick auf ein verändert es Grundverständnis von Bildung re flektier t wurde. Hi er sollen diese Am bivalenze n bis in ih re bildungstheoreti-
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Vorwort
seh e Grundsätzlichkei t hin ein diskuti ert werden , weil solch e Überlegunge n un abdingbar sind, wenn es - wie im H och schul en twicklungs-P roj ekt ePUSH, das hier den (me ta-)konze p tuellen und o rganisatorischen Rahmen bildet - nich t nur um die Fort set zung der gewo hnten Bildung mi t neuen Mitteln geht , sonde rn um wirklich nachhaltige Implem en tierung aktueller Informations- und Kommunikation stechnologien in die Hoch schull ehre und um den daraus resultierenden m edien kulturellen W and el in den Hoch schulen . Wesentli ch es Z iel des Proj ekt s ePUSH, das die Fakultä t für Erziehung swissen schaft, Psych ologie und Bewegungswissen sch aft der Universitä t H amburg von 200 7 bis 2010 durchgefüh rt hat, war es, die E insatzmöglichkeiten aktue ller Informationstechno logien in Studium und Lehre durch Bündelung und Kommunikation ins Bewus stsein der Lehre nde n und Lerne nden zu rufen und dadu rch einen selbstver ständlichen Umga ng mi t diesen Te chno logien zu förd ern . D as P roj ekt umfasst dem zugeh örigen Förde rprogramm der H amburger Behö rde für Wissenschaft und Fo rsch ung gem äß - ein Bündel von strategischen und stru kturbildenden Maßnahmen, die auf verschiedenen E benen relativ tief in die Organisationsen twicklung der Fakultät eingreifen, die se mitgestalten und kritisch begleiten, um eine nachhaltige Implementation aktueller Medientechnologie zu erreichen. Im Rahmen de s Pr ojek ts ePUSH wurde eine Arbeitsgemeinsch aft ePortfolio gegründet, die Akteure verschiedener Hamburger H oc hs chulen u.a. aus den Bereichen der Allgemeinen E rzieh ungswissens cha ft, der Fachdidaktiken und der Medienpädago gik, aus verschiedenen H amburger E -Learn ing -Pr o jekten und den zentralen E Learning-Services sowie vom Zentrum für H ochs ch ul- und \Veiterbildung, aber auch aus dem Hamburg er Landesinstitut für Lehrerbildung und Schulentwicklung an einem Tisch versammelt. Di e Arbeitsgruppe verfolgt das Ziel, eine Verständi gung üb er Möglichk eiten und G ren zen des (E-)Portfolios inn erh alb der H amburger Bildungsinstitutionen (un d darüber hinaus) anzustoße n, zu praktischen E rprobunge n im Rahmen der regulären Lehre wie auch in Prüfungsprozessen anz uregen und zur Vernetzung besteh ender Aktivitäten beizut ragen . D abei geht es auch immer darum, zu disku tieren, welch en Beitrag die Arbeit mi t (E-)Portfolios zu den Veränd erungsp ro zessen in Hochschule und Schule leisten kann. In diesem Sinne gestalte te die Ar beitsgruppe auch einen Veranst altungst ag zum Them a ePortfolio im Rahmen der Campus Innovation 2009, dem sich viele der hier versammel ten Beiträge verdanken .
Vorwort
13
E ine weitere Quelle der hier versammelten Beiträge war die Ringvorlesun g Medien & Bildung, die wir seit 2006 regelmäßig an der Fakultät für Erziehungswisse nsc haft, Psych ologie und Bewegungswissen sch aft ver anstaltet haben . Mit der Ringvorlesun g, die sich im Sommer 200 9 explizit dem Them a Kontrolle und Selbstkontrolle in Bildungsprozessen widmete, ging es darum, ein int erdi sziplinäres Bezugsfeld zu erkunden, das von der Phil osophie üb er die Kunst-, Medien- und Kulturwissen schaften bis zur Inform atik reic ht und einen Raum eröffnet für D isku ssionen um p ädagogisch p raktisch e wie bildungstheoretische Implikationen von Medien als Mittel und als G egen stand der Auseinandersetzung von Ich und \Velt . Di e Autorinnen und Autoren, die hier beiget ragen haben , en tstammen ganz verschiedenen Instituti on en und Arbeitsum feldern. D as Bu ch bild et so einen produktiven Knotenpunkt von unterschi edlich en Initi ativen und D enk rich tungen , die in der unmi ttelbar folgenden E inleitung no ch detailliert besch rieb en werden . N eben gelungenen Praxisbeispielen von Port folioarb eit in unt ersch iedlichen verschi edenen institu tion ellen Rahmenbedin gungen stehen theoretisch e Beiträge, die im oben besch rieb en en Sinn auch den Kern der Id ee des veränderten Lernens, Lehre ns und P rüfen s mit (E-)Portfolios zur Förde rung von Individualisierung und Partizip ation grundsä tzlich zur D eb att e stellen : die Kontroll e und Selbstko ntrolle in Bildungsp rozesse n.
Dank Im N amen der H erausgeb er möchte ich aus dr üc klich und herzlich allen Autorinnen und Autore n für die Mitarbeit dank en! D ank für die gu te Koop eration in der Vorb ereitung des Portfolio-Tages auf der Campus Innovation 2009 sowie für die organisatorische Begleitung des Pr ojek ts ePUSH schulden wir dem MMKH - Multimedia Kontor H amburg. Dem Dekana t der Fakultät für E rziehungswissens cha ft, Psych ologie und Bewegungsw issens cha ft gebührt D ank für den Mut zum Einlassen auf das Pr ojek t ePUSH und die damit zusamm enhängenden kulturellen Veränderu ngen in der Fakultät . Dem E -Leaming Consortium H amburg danken wir für die Weisheit, dieses Pr ojek t als förderungswürdig ausg ewählt zu haben. Torsren Meyer im Somm er 20 10
Einleitung Step han M üntc-G o ussar, Kcr stin Mayrbcrgcr, Torsren Meycr, Chri stina Schwalbe
»D iese Verbindung zwischen den Technologien der Beherrschung anderer und den Technologien des Selbst nenne ich Kontrollmentalität.« Michel Foucault 2005: 969
Selbststeuerung ist ein prominenter T opos unserer Gegenwart. Selbststeuerung - oder auch Selbst-Regulation oder Selbst-Organisation - von Systemen, von kollektiven Gebilden, von kommunikativen Vernetzungen, von Austauschverhältnissen, von Prozeduren und Vorgängen aller Art; entsprechend auch Selbststeuerung von indi viduellen Lernprozessen und persönlichen Bildungsgängen. Steuerung impliziert immer auch Kontrolle. \'Vo von Selbst-Steuerung die Rede ist, ist also immer auch Selbst-K ontrolle im Spiel. Die Bedeutung und die Formen von Kontrolle verschieben sich . Im Bildungsbereich bietet sich seit einigen Jahren das Portfolio als ein vielversprechendes Instrument der Selbststeuerung an . Es findet immer mehr Zuspruch, Anhänger und Verbreitung. Mit den Neuen Medien und insbesondere mit dem partizipativen und kollaborativen so genannten \'Veb 2.0 erhält die Debatte um das Portfolio - nun als digitales , als E -Portfolio - einen weiteren Sch ub . Dennoch tauchen in der allgemeinen Euphorie auch erste Enttäuschungen bezüglich der unerfüllten Versprechungen und einige kritische Stimmen auf. Der vorliegende Band zeichnet unter unterschiedlichen Blickwinkeln und von verschiedenen Ge sichtspunkten her jene Linien nach , die das kippelige Verh ältni s von Kontrolle, Selbstkon tro lle, neuen Medientechnologien und dem Portfolio inn erhalb von Bildungsprozessen umreißen .
Überwachen und Kontroll ieren Mit dem Begriff der Kontrolle assoziiert man gewöhnlich jemanden, der jemand anderen oder etwas anderes - einen Zu stand oder einen Vorg ang - kontrolliert: Der Schaffner kontrolliert den Fahrgast, ob dieser über einen gültigen Fahrschein verfügt.
T. Meyer et al. (Hrsg.), Kontrolle und Selbstkontrolle, DOI 10.1007/ 978-3-531-92722-0_1, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Stephan Münte-Goussar, Kerstin Mayrberger, Torsten Meyer, Christina Schwalbe
Der Z ahnarzt kontrolliert den Zustand der Z ähne. Die Radarkontrolle kontrolliert die E inha ltung der zul ässigen G eschwindigkeit . Der Lehrer kontrolliert die Anwesen heit sein er Schüler und die E rledigung der Hausa ufgab en. Der Vo rarb eiter kontrolliert die Arbeit und deren Qualität der ihm un terstellten Arbeiter. Der G renzschutzb eam te kontrolliert die Personalp apiere. Die T ru pp en kontrollieren den N orden de s fremden Landes. Die K ontrolle läuft quasi von dem einen zum anderen , von oben nach unten. Sie setzt ein Sub jekt vorau s, welches sich au f ein Objekt richtet. In die ser Sichtweise ist K ontr olle vo r allem Üb erwach ung , Prüfung, Begutachtung, Vern ehm ung, In spektion - ja zuweilen Inquisition. In die ser Sichtweise ist sie E ins chränkung , E ngführung, Repression , im Extr em fall G ewalt . Letztlich ist demnach Kontrolle die Beherrschung vo n etwas. Sie ist H errs cha ft über etwas. Sie setzt jemanden voraus, de r herrscht, un d jemanden oder etwas, das die ser Herrschaft unterworfen ist. Diese so verstan den e K ontrolle erscheint dami t immer als Frem db est immung - selbst wenn in die K ontr olle eigens eingewilligt wurde und auc h wenn klar ist, dass H err und Knecht wechs elseitig aufeinander verw iesen sin d. D as heißt auch: Die Kontrolle operiert im Rahmen klarer H ierarchien, eindeutiger Machtverteilungen und unumkehrbarer Unters chiede in den Fun ktio n en . Zumeist ist sie au f den Nachw eis einer Regelübertre tung, ein G estän dnis, die Zuweisung von Sch uld, ein Defizit oder Fe hler gerichtet . N icht selten folgt ih r eine Sanktion . Sie erwarte t Berichtigun g oder Mäng elb ehebung. Sie zielt auf einen klar und vorab definierten Zustand oder ein be stimmte s N ivea u, das erreicht ist oder eben nicht oder von dem aus m an zumindest de n noch zu erfüllenden A bs tand ermessen kann. Diese Form der Kontrolle orientiert sich an einer fixier ten, ebenso stan dardisiert en wie stan dardisierenden N orm . E in e an dere Vorstellung von Kontrolle sugg eriert die kybernetische M aschine. Bei dem von Ranulph Gl anvill e ange füh rten kyb erneti sch en Paradeb eispiel des T hermost aten - darau f weist Dirk Baecker hin - ist nicht entschei dbar, ob der Thermosta t die Raumtemperatur kontrolli ert oder ob die Raumtemperatu r durch ihr Steigen und Fa llen den Thermost aten und also auc h sich selbs t kontroll iert . Man könne nur kontroll ieren, wovon m an sich abhä ngig m ach e, wovon m an sich also seinerseits kontroll ieren lasse. D as heiße, dass m an letztlich nur sich selbs t kontrolli eren könne; dies aber wied erum nur üb er den Umweg üb er an dere und anderes (vgl. Baeck er 1994: 56). In diesem Verständnis bed eutet K ontroll e vornehmlich Reguli erung, Ste uerung, Ma nageme n t, Selbs tre fere nz und -organ isation. Hi er ers che int K ontroll e als Selbstbestimmung, zumi n des t als Selbs tste ue ru ng . Sie operiert über Rü ckk opplung
Einleitung
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und In formation saustausch inn erh alb von flach en Hierarchien . Sie ist Beobachtung, Vergleich und Ko rre ktur. Sie zielt auf die \Vahrnehmung von Abweic hunge n und die Bearb eitung von Störunge n sowie au f un ablässige Angleichung. Sie ist nicht Berich tigun g, sondern Besserun g; eine Verbesserung zudem, die sogleich die Verbesserung dieser Verb esserung vorwegnimmt. Auch dieses Vers tändnis von Kontrolle kennt so mi t eine normative Soll-G rö ße . D iese ist abe r nicht vor ab fixiert , sondern gleicht einem Approxim ationsa lgorithmus. Sie ist ein niemal s vollständi g zu erreichender, met astabiler G leichgewichtszusta nd. Insofern das Kontrollv erfahren üb er Feedback-Schl aufen permanent auf sich selb st op eriert, also perm anent D aten üb er den eigene n, annähe rn d gewün schte n od er eben un erwünschten IstZ usta nd produziert - qu asi als ein -mitlaufendes Ge dächt nis- - , ist die Soll-Größe selber variabel, flexibel und schnell anpass ba r. Es handel t sich um eine N orm mit erhöhter Plastizität. Die se ergib t sich erst aus den tats ächlich erhobenen IstZuständen, dem sta tistischen Vorhandens ein unvorsehbarer , konkreter E reignisse. Diese K ontrolle ist augensc heinlich kein Instrument der Beherr schung und Unterwerfung. Sie gibt sich nicht der Illusion der totalen K ontro lle hin . Sie kalkuliert die K ontingenz bereits mit ein . Sie sorgt für Kre ativität und Innovation , zugleich aber auch für die E ffizienz und stete Optimierung der systemis chen Abläufe .
Kontrolle und Päd a gogik Aus pädagogischer Perspektive illustriert Ludwig A. Pongratz die verschiede nen Fo rm en der Kotrolle gern am Bild eines Lehr ers, der die Ho sent aschen seiner Schüler ko ntrolliert. Ließ sich die traditionelle Pädagogik zeigen, ob sich in der Ho senta sche ein sauberes Tasch entuch befindet, so lässt »die meu e- Pädagogik umgekehrt das darin befindliche Sammelsurium au f den Tisch kehren, um Einblicke ins Schü lerleben zu gewinnen und sich die jugendliche Sammelleidenscha ft pädagogisch nutzbar zu machen« (pongratz 1990: 306). Der Lehre r begnü gt sich also nich t damit, das E rreichen des gewünscht en Zu stand s, die E rfüllung der geforderten Aufgabe zu überprüfen. Er nimmt den gegebenen Ist-Zustand der auffindbaren individuellen Motive, In tere ssen und Ressourcen als Au sgangspunkt weiterer möglicher, vorab nich t in tendierter, grundsät zlich nich t plan barer In terven tion en . De r Schüler wird bei dieser direk ten Vorlage des Innenlebens seiner Hosent aschen in seiner Eigenwillig- und -ständigkeit zwar ern ster geno mmen als früh er, aber nur, um sein Poten zial für einen vorgegebenen Rahm en produktiv zu machen und es darin mit geringeren Reibungsverlu sten einbringen zu können. Die Zuwendung zum einzelnen , individuellen Schüler wird - so
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Stephan Münte-Goussar, Kerstin Mayrberger, Torsten Meyer, Christina Schwalbe
Pongratz - unmerklich gekoppelt an das allgemeine In teresse an dessen Kr aften tfaltung, an der E ntwicklung seiner Kompeten zen und wiederum an deren Reintegration in einen »Gesamt zusamm enhang, dessen Funktio nsprinzipien den einzelnen verborgen bleiben - gerade weil alles scheinbar offen zutage liegt« (pongratz 1995: 191).
Industrie- und Wissensgesellschaft D as jeweils zuerst be schriebene, traditionelle Verständnis von Kontrolle - so kann man sicherlich sehr kn app, aber nich t un zutreffend formulieren - folgt dem Modell der Industriegesellschaft; das zweite dem Modell der nachindustriellen, der so genannten S V'issen sgesellsch aft<. An die Stelle von tayloristischem Maschinentakt und fordi stische r Fabrikation tre ten systemis che Information stechnologie und das verne tzte Unt ern ehmen mit projektorientierten Arbeitsabläufen und flexiblem Q ualitäts manag em ent. An die Stelle der geisttö tenden Fließband-Pro du ktion für den berechenbaren binnenwirtsch aftlichen Massenkon sum tritt die exp or torientierte, permanente >schö p ferische Zerstörung< für die Unwägbarkeiten de s globalisiert en Marktes. D abei hat die Wissensges ellscha ft - so be schreibt es G ernot Böhme (vgl. 2002) - als Postindustrie - und zunehm end weniger Arbeits-Gesellsch aft die Tendenz, trotz des erwirtsch afteten Reichtums soz ialer Ausgrenzun g Vorschub zu leisten und mehr und mehr Menschen aus ihren Reproduktionszusammenhängen zu entl assen . Es ist bereits von den -Üb er flüssigen- als neuer soz ialer Ka tegorie die Rede (vgl. Bude / Willisch 200 7). N achdem die Industri alisierung die regionale und paterna listische Inte gratio n der Menschen zerstö rt hatte, hat sie diese du rch die Integration der G esamtgesellscha ft über Arbeit und Markt ersetzt. Beide In tegr ationsmuster h aben laut Böhme heute aber an Bedeutung verl oren. D as zent rale Problem der \'V'issen sgesellsch aft be stehe nun darin, neue Prinz ipien der soz ialen In tegration zu en twickeln . D afü r bedürfe es politisch er Anstrengungen. Ansons ten besteh e die G efah r, dass das neue Integration sp rin zip die Erfassung üb er D aten sein werd e. D enn die mi t der Wissen sgesellsch aft einherge hende Liberalisierung und Individualisierung etwa vo n Ar beitsver hältnisse n od er in der \'V'ahl der Lebens füh run g würd en p ot en ziell kon terkariert durch verstärkte Registrierung und Kontro lle des Verh alten s des Ei nz elnen üb er die D aten, die er produziert : »E rfol gs- und Qualitätskontrolle der Arbeit, Eins chätzung [...] nach T estergebni ssen in Bezug au f Veranlagungen, Leistungsfähigkeit, G esundheitsrisiko - bis hin zur G enkartierung - , das sind die un sichtbaren N etze, in denen der E inzelne in der \'V'issen sgesellsch aft hängt« (Böhme 2002 : 64). Schon ist die Rede von so genannt en >Int egratio nsver-
Einleitung
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weigerern<, deren - nicht zuletzt bildungsb ezogen en - Aktivitäten entsprec hend erfasst und ggf. sanktioniert werden müssten .
Disziplinar- und Kontrollgesellschaft Das erste Modell - das Modell der industriellen G esellsch aft und der ihr eigene n Kontrollver fahr en - ents p richt dem , was Michel Foucault die >D isziplinarge sellsch aft
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Stephan Münte-Goussar, Kerstin Mayrberger, Torsten Meyer, Christina Schwalbe
Anlass lieh der Reform der Bildung könne man vorhersehen, dass die Ausbildung nicht länger ein geschlossenes Milieu bleiben werde, das sic h von der Arbeitswelt unterscheidet. Bei des werde verschwinden zugunsten einer permanenten, modularisierten \'(1eiterbildung. Anstelle de s E xamens trete eine kontinuierliche Kontrolle, welcher sich »der Arbeiter-Gymnasiast oder der leitende Angeste llte -Student« an heim ste llen werden (ebd.: 25 1) . Auch J ean-F ran<;oi s Lyotard hatte in seinem Bericht über Das postmoderne WisSell prognostiziert, dass das \'(1issen den jungen Menschen nicht mehr -cn bloc . und abschließend bereits vor dem E intritt in s Berufsleben ge leh rt werde. Es werde vielm ehr an akti ve Erwac hsene >a la carte- verm itt elt, um deren -Kornpetenzen- un d -beru flichen Aufstieg< zu verbess ern . D amit unterste llen sich da s \'(1issen un d deren Träger einem Management, das bezüglich die ses \'(1issen s nicht länger fragt: »Ist da s wahr?« Vielmehr legt da s neue >\'(1issensmanagement
Kybernetische Maschinen und kulturelle Codes J eder Gesellschaftsty p - so Deleuze - sp iegelt sich in den von ihm ge sch affenen Ma schinen : ein fache dynamische Ma schinen für di e So uveränitätsgesellschaften; energeti sche Maschi nen für d ie Diszip lin argeseIlsch aften ; Kybernetik und Comp uter für die Kontrollges ellschaften. Für di e Lehre in Schulen und Universitäten erwartet Lyotard, d ass allen Fachrichtungen, d ie eine Verbin dung zur .relemarisehe n Bildung< aufweisen - d .h . In fo rm atiker, Kybernetiker, Linguisten u sw . P rio rität einge räum t werde . A ber d ie Ma schin en un d ih re Logiken allein besagen nicht viel. Bedeutung un d Wirkung er h alt en sie durch die ko llektiven Gefüge, in d ie sie einverflo ch te n , von den en sie ein A u sd ru ck un d zug leic h ein stützender T eil sin d . Die zeitgenössischen Ma schinen, innovat ive T echniken und d ie so genannten -N eucn Medien- können also n ur in ihren Relatio n en zu kulturellen Symbolen sowie so zialen un d ökonomischen Verhältni ssen an alysiert werden . Mit den Worten Fo ucault s:
Einleitung
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In Bez ug auf die »fundam en ralcn Co des einer K ultur, die ihr e Sprache, ihre \Vah rn eh mungssch emata, ihren Au stausch , ihre T echniken , ih re \Vert e, die Hi erarchi e ihr er P raktiken b eh errsch cn « und die »glcich zu An fang für jed en Me nsche n die em pirische n O rdnungen [fixieren], [. .. ] in den en er sich wiederfinden wird.« (Fo uca ult 1971: 22) Aktuelle Me dien technologie erklärt .an sich- also wenig, so n dern nur insofern sie im Verbund mi t an deren kulturellen Sprech akten und sozialen Praktiken als ebe n solch e, let ztlich als -sozio -technisch e K onstellationen . interpretiert wird . Von an alytisch em Interesse können also nur die Gebrauch swe isen , die H andlungsp räfigu rarione n, die Legiti mation sfiguren, Versp rechungen und U top ien sein , die mit den N euen Medien verknüp ft und in ihnen manifestiert sin d . In dem hier gegeb en en Zusammenhang interessieren vornehmlich kollektive Ordnungen und I-Iandlungskontexte, innerhalb derer Menschen zu Sub jekten werden - also solch e, die bilden.
Medien, Bildung und Portfolios Die akt uellen E ntwicklung en der Medientechnologie fördern T rans p arenz , Reflexion, P arti zip ation und Offenheit. >\Veb 2.0<-Anwendun gen, Social N etworks, onlin eE ch tz eitkommunikation und Sma rtph on es lade n jeden E inz eln en zum Mitmachen ein. Rarnon Reichert erinnert in sein er Soz ialth eorie de s Social \Veb daran, wen da s Time A1agazjlle E n de 2006 als »Person of the Year« ausgeru fen h atte - n ämli ch schlicht: »You,«. Un d für alle Ung läubigen bekräftigt das Magazin : »Yes, you. Yo u control the Information Age .« (Vgl. Reichert 200 8: 39) A ufgrund weitgeh en d un b esch ränkt er Informationsflüsse, Zugang zu umfassenden \Vissenss peich ern und verschiedener Feedb ack-System e, bei spielswei se virtueller Bewertun gs-Pla ttformen für Sch ulen, Leh rer und Lehrveran staltungen, p endeln sich auch im E rzieh ungssystem die Mac h tverhä ltn isse zwisc he n Surveiffance und Sousveiffance - d .h. der Überwachung von unten - n eu ein . Schüler, E lte rn und Stude n ten werd en T eilh ab er der Mac h t. Sie übernehmen selbs t die K ontroll e üb er ihre Bildung. Sie üb ernehmen Verantwortung für ihren eigene n Lebe ns lauf. Bildungsgänge und Lern prozesse werd en -sclbstgesreucrr-, Es ents tehe n n eue Freiheiten b ei der \Vahl der Schule, der Lehrer, der Fä cher und sogar der Curricula. D as Angeb o t an \Veiterbildung wäch st, wird differen zierter und p assgen auer. E ntspreche n d verändern sich die Forme n und K onzepte von Bildung, Le hren, Lernen und Bewert en . Durch zune hmend weniger stan dardisierte, vielmeh r indi vidualisiert e Lernwege und -ziele verlieren tra ditio ne lle
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Stephan Münte-Goussar, Kerstin Mayrberger, Torsten Meyer, Christina Schwalbe
Ver fahren der Lei stungsüberprüfung sowie Zugan gsberechtigungen, Diplome und formale Akkreditierungen an Bedeutung. Umgekehrt steigt in einem durch Selbs tK ontr olle geprägten Um feld an Sch ulen und H ochschulen die Bedeutung von alterna tiven Ver fahren zur Dokumentation und Evaluat ion von Lernleistungen. Portfolio s und Lerntagebücher - ob nun elektronisch oder nicht - ermöglichen in die sem K ontex t den Sch ülern und St udenten nicht nur, mi ttel s Sammlung, A rran gem ent und Pr äsentation ihrer Arbeitsergebnisse und Lei stungsn achweise ihren eigenen Lernproze ss retrospektiv n achzuvoll ziehen, zu reflektieren, zu regulieren, selbst zu be urteilen und auf zukün ftige Ziele hin zu en twerfen. Die Anwendung vo n Portfolio s verspricht nicht nur, da ss Lernende da s -Ler ncn lernen. können. Lernende können dami t auch ihre Lei stungen, Lernfort schritte und be sonderen Fä higkeiten sichtb ar m achen. Portfolios ermöglichen Sch ülern und anderen Lernenden, sich und ihren Lernproze ss in einen permanenten Sichtba rkeitsz ustan d zu versetz en. Mit Online-Portfoliosystemen, also E -Po rtfolios , kann direk t, weltweit und lebenslang für die erw orbenen Qualifikationen und die je eigenen, einzigartigen persönlichen Qualitäten um Anerkennung gewo rb en werden . Es en twickeln sich somi t neue individuelle sowie soz iale Mechani smen de r Bewertung, Selektion, Bewerb ung und K ontrolle.
Individualisierung und Ökonomisierung D ie Betonung individueller W ahlfreih eit und E igenveran tw o rt ung b ezü glich d er eigene n Bildungsbiografie ist au ch Aus d ru ck der Ein fü h ru ng des -Unr ernehmensauf allen E b en en und in allen Dimensionen des Bildungsbereiches. Sie ist an die schrittweise E tab lierung ein es freien Bildungsmarktes und an einen zunehmend flexibilisierten Arbeit smarkt gekn üp ft . Dies legt auch dem Individuum ein untern ehmeri sches Bildungs-Management nahe. E h em alige Überwa che r und Üb erwachte stehe n sich nun als Vertragsp artner , als K u nde n und Dienstleister gegenübe r. Die ehe de m bildungsadminist rativ Kontrolli erten und Beurteilt en können nun für E n twicklung, E rh alt, Sich t- und Ve rwe rt b arke it ihrer Kompet enze n selber Sorge tragen. Dies er fordert eine spezifische Form der Selbs tReflexivität . Die Figur des Le hrers oder Professo rs w eicht dem des Co aches , F allmanagers oder .H um ano n rogenesebegleiters-. Bildung ist m ehr denn je su b jektive .Selbst-Bildungc D as P o rtfolio fö rd ert Au fmerks am ke it für da s und die Aus rich tung an dem Vermögen d es E inzelne n - hier wied erum an dem, wa s von diesem Vermögen o der w as in dieses Vermögen am nutzb ringendsten investiert
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werden kann . Das Selbst wir d so zum Agent en seiner eigene n >Ökonomisierung<. D er Gegenstand der bildenden T ätigkeit ist nich t m ehr die Erschließung der W elt , sonde rn die Bewi rtsch aftung der eigene n Vita, die K ommodifizierung des eigene n Können s und der Lei de ns chaften . D as sub jektive Le be n wird zum O b jekt stä ndige r Thematisierung, Konstruktion, Konfigu ration und Kontrolle. In einer Formulierung von Kä te Meyer-Drawe : »Das Subjekt wird zu einer sich selbs t un entwegt deform ierenden Formation . Es legt ununt erb rochen Ze ugn is von sich ab. Un ter dem Vorwand von Individualisierung wird seine Intimi tät liquidi ert .« (Meyer -Drawe 2006 : 127)
>Individualisierung< ist wom öglich eine Falle. D enn im Gegensatz zu Individualität mei n t .In timitä« gera de nicht Abges chiedenhei t und P rivath eit, sondern Erfahrung, Vertrauth eit und tiefe Ver bundenheit.
Selbstreflexion und Beurteilung E inen anderen Zugang zur Di sku ssion um das Portfolio biete t T ho mas H acker an . Fü r ihn ist das H erzstück des Portfolioansatzes die Reflexion. Di es meint die Rückbiegung des D enk en s. H äcker vers teht darunter die Rückwendung auf das eigene Lernen, die eigene Leistun g, die eigene Entwicklung , die eigene Per son. Vielleicht kann dies tatsächlich die Rückbiegung, die Anwendung de s Denkens auf sich selbst bedeuten; also das E ingedenken de s eigenen G ewo rdens eins , die Umw endung der kulturellen Co des, in denen m an sich wiedererkennt, die K on ver sion der soz ialen und ökono misc hen Bedi ngungen , in denen m an steht. Möglicherw eise kan n es gelingen , das Portfolio von der Vo rstellung zu lösen, es ginge stets allein wn die Selbstbeoba chtu ng des eigenen Lernp rozesses, die Bilanzierung der persönlichen Ler nleistung. die Bu chführung üb er die individuelle K ompeten zentwicklung. Vielleicht kann m an das Portfolio m eh r noch von der Vo rstellun g lösen - die auch G abi Reinmann und Silvia Sippel problem atisch ersc hein t - , es gehe in ers ter Linie um Selbs tinsze nie rung, Selbs tver marktung und Selbs top timierung. Vor allem kann es vielleich t gelinge n, das Po rtfoli o vor der Vors tellung zu bewah ren - die auc h Wol f Hilzen sauer und Sandra Schaffert in ih rem Beitrag un ter den kritisch en Anmerkungen auflisten -, es sei eine obligato risch und leben sbegleitend zu führe nde , weltweit verfügbare, digitale D okumen ten -Mapp e, ein Kompeten z-P ass, um jederzeit und üb erall seine persönliche Qualifikation s- und E rwerbsbiografie ausweisen
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zu können. Vielleicht ist das Portfolio als eine Reflexion zu pr aktizieren, in der nicht ein isoliertes Selbst solipsistisch um sich selbst kreist und G efahr läuft, dem OverReßeding anheim zu fallen . Unter die ser Perspektive wäre das Portfolio vielmehr als eine Reflexion zu pr aktizieren, in der dieses Selbst einem Lerngegen stand verfa llt, in der es sich hin gebungsvoll in einer Sache reflektiert, sich in ein intimes Verhältnis zu den Dingen der \'V'elt setzt und so Teil einer soz ialen Selbstverstä ndigung wird. Eine solche Reflexion gleicht dem, was Fo uca ult im Rückgriff auf die Antike als die Selbsttechnik der >Sorge um sich . in Erinneru ng geru fen hat und gleichsa m als Antwo rtv ersu ch auf die modernen T echniken der Di sziplinierung und K ontrolle interpretiert. Benjamin Jörissen und letztlich auch Rarnon Reichert versuchen, ebendiese \'V'eisen der Selbstsorge, -gestaltung und -transform ation auch an die Mög lichkeitsräume der medialen Konstellationen de s Social \'V'eb heranzut ragen . Stephan Münte-Goussar un ternimmt einen vergleichbaren Versuch bezüglich de s Portfolio s. Le tztlich - so die Verm utung - geht auch T homas Häckers Vors chlag, sich darauf zu be sinnen, das Portfolio als Medium einer Rückbiegung des Denkens zu gebrau chen, in eine ähnliche Rich tung. E r fasst Denken in eine r Form ulieru ng , die er I-Iannah Arendt entleiht, nämlich so: »D enken [...] bedeutet für menschli che Wesen , sich in die Dimension der Tiefe zu begeben, \'V'urzeln zu schlagen und so sich selbst zu stabilisieren , so dass man nicht bei allem Möglichen - dem Zei tgeist, der G eschicht e und einfach der Versuch ung - hinweggeschwemmt wird .« (Arendt 2008: 77)
Zu den Beiträge n im Einzelnen D er erste T eil dieses Band es fokussiert das Po rtfolio von unterschiedlich en Standpunkten . Diese Perspektiven stellen eine ausgewählte Sammlung knapper Statemen ts dar, die alle BeiträgerInnen als Antworten auf vier Fragen formuliert haben. Di e Fragen umkreisen im Hinblick auf das Portfolio die Problemfelder der Selbstbestimmung und Selbststeuerung, der Individualisierung, des Verh ältnisses von Selbstreflexion und LeistungsbeJve1tung und schließlich die der Selbst-Ökonomisierung. Di e An twor ten, die kurzen, thesenha ften Beme rkun gen und No tizen erge ben in ihrer Zu sammen stellung einen breit gest reuten Überblick übe r die Begriffe, Axiome und Argu mentatio ns figuren, die gegenwärtig in der D ebatte üb er das Portfolio kursieren. Sie gebe n also einen E inblick in den aktuellen Di skur s. In diesem Sinn kann die vorliegende Sammlung als ein Portfolio übe r das Portfolio vers tanden werde n.
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In eine m zweiten Te il - der als Umsichten betitelt ist - wird der Blick geweitet. Es werde n allgeme ine und umfassende Sichtweisen auf Kontroll verfahren sowie Subjektivierungsfo rm en und Selbstt echno logie n in medialen G e fügen , globalen D atennet zen und vor dem Hintergrund eine r neu entstehe nde n Medienkultur eingenomme n. Benjamin [orissen p roblematisiert am Beisp iel des gege nwärtig populären TV-Formats
der kosmetisch en Ch iru rgie-Show s spezifische Selbs tp raktiken an der Schn itt stelle zwis che n Körpernorm und in tims ter Selbs tbez iehung in der m edi alen Öffentlichkeit, also innerhalb einer visuellen K onstellation. Er bezieh t sich in sein em Beitrag Bildung, Visualität, S ubjek tivim mg - S ichtbark eiten und S elbstverhältnisse in medialen S truk turen au f Foucaults K onzep tion der Sub jektivierung. H ierbei unters ch eidet er zwisch en disziplinierender Individualisierung eine rseits und den Praktik en der .Selbs tsorge- an de rerseits. Le tz tere versucht er als ein alte rnatives Subjektivie rungs m ode ll, als eine -Praxis der Freihei ts, auch in den m edi alen A kten des -Sich -zu -seh cn G cb ens- und der sArrikulation- auf den neu en tstehe n de n ssoz ialcn Aren en- des p artizip ativ stru ktur ierten Soc ial \Vebs aufz usp üren. Theo R ob!« b eschreibt am Beispiel der Google Apps E ducation E dition die Aus lageru ng von universitärer Bildungsinfrastruktu r an p riv ate An bieter, die er als eine Ausweitung der Kontrollzolle in terp retiert. Ange sich ts von Cloud Computing und Verdatung der Bildung unter k ommerzjellet! V orreichen m öchte er - auch hier exp lizit in Bezug au f den von Foucault, im An schlu ss d aran von G illes Deleu ze en twickel ten Begriff der K ontroll e - den Blick auf n eue, san fte, hierarchi efreie Fo rmen der Kontroll e rich ten . D ie flexibl e D aten erfassung, -clusteru ng und -au swertung, die kontinuierlich Auskun ft üb er G ewohnheiten, Konsumverh alten und P räferen zen derjenigen gibt, den en die N u tzung jen er Bildungsdi ens te von ihren Ei nri ch tunge n n ahe- oder sogar auferlegt wird, diene n äml ich zuvorderst den Zwecken eine s ebenso individuell an pa ssba ren, flexiblen wie effektiven, -kollab orativen Marketings<. Vor dem Hintergru nd der Akteur-Netzwerk-Theorie nach Bruno Lato ur argum entiert Röhle schließlich, da ss die gegenwärtige Ausrichtung der -sozio-technischen Konstell ationan vorn eh m lich ökonomis ch en Kriterien durchaus nicht notwendig ist . Ram6n R eichert thematisiert schließlich expli zit das E -Portfolio. E r befasst sich mit den T h eorien und Praktiken de s Portfolio s im Web 2.0. Sein e Kernthese ist, da ss E Portfolio s eine neue Medienkultur der Selbs tdars tellung generieren. Um den Stellenwert der medialen T echn ologien zur H ers tellung von Kontrolle und Selbs tkon -
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trolle in einer sub jekt orientiert en Bildungspädagogik ang em ess en beurteilen zu können, müssen lau t Reichert ab er hi stori sche, soziale und politische Kontex te der -Technologien de s Selbst- Berücksich tigung finden. E ntsprechen d vero rt et er die zun ehm en de Be achtung vo n E -Port fo lios als eine s kollektiven Diskurs- und Refle xions ra umes innerhalb eine s medialen Sub jektivierungsregim es, welch es sich gegenwärtig in einer Um b ruc h phas e befindet. Dieser neue Sub jektivieru ngs m od us etabliert ne ue Visibilitätszwäng e, Kreativitätsimperative und Bewe rtungsprozeduren. In die sem Sinn e unternimmt der Beitrag den - in ähnlicher \V'eise wie Benj amin Jör issens Beitr ag vo n F oucaults Begrifflichkeiten in spirierten - Versuch , die Konzepte de s E -Po rt folios im bildungsstra tegisch releva nten Spa n nungs feld ZWi sch en >Sub jekt ivierung
Lehrerbildung und SehulentJvieklung H amburg. D ie Anwe ndung eines mit dem -Individual P ortfolio- verwandten In struments beschreib t .Anne-Britt Mabler aus der eigene n Praxis an eine r H amburger Berufsschul e. Der so gena nnte Lernpass dient in der Bernfsvorbereittmg dazu , einen komplex orga nisiert en, sta rk individualisier ten Lernprozess zu steuern und au f de ssen G ru ndlage persönliche Ziele im Dialog zwischen Lernenden und Lernbegleitern zu vereinbaren. D as Team der Techniscbe» Universität H ambur;g-Harbur;g sp ürt den Potenzialen der E Porifoliotltltzung im Rahmen de s von ihm initiierten Projektes studl Port nach . D as hier entwickelte , mit einer digitalen Lernpl attform vers ch rän kte E -Portfolio zielt auf selbstbestimmte Kompetenzentwü'k lung und selbstgesteuettes L ernen. Um die se Ziele zu erreichen, ist die Portfolionutzung hier frei willig und vo n der formalen Lei stungsbewertung abg eko p pelt. Torsten Meyer berichte t üb er das E -Porifolio im integtierten Schulprak tikum im Rahmen der Lehrerbildung an der Universität H amburg. Begleitend zum P raktikum ließ er die T eiln ehmerInnen ihre Erfahru nge n beim W ech sel von der Schülerperspe ktive zur Le hrerperspe ktive in eine m W eblog nied ersch reib en . Er ließ die Studiere nde n
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also BIoggen überden Seitenmechsei; Meyers Bericht ist sein erseits ein Au szug aus eine m Blo g, w elch er seine Erfah rungen als Praktikumsbet reu er re flektie rt. Das studienbegleitet!de E-L ehrporifOliok onzept im Studiengang »M aster ofHigher E ducation« an der Universitä t H amburg steht im Mittelp un kt des Beitrages von M ariatme Merkt. Im Rahmen der h ochschuldidakti sch en W eit erb ildung sollen mit dem E -Portfolio d as eige ne Lehrhan deln sowie die diesem zugru n deliegen de Leh rp hilosop hie und d as Wi ssen schaftsv erständnis re flektiert werd en . Di e P ortfolios dien en schließl ich auch der Bewertung und Anrechnung von Studienleistunge n . Im Augsburger Begleitstudium ProblemliJsekompetenz werd en E- PortfOlios zur Fördmmg übeifachlicher Kompetenzet! eingesetzt. Thomas Sparer berichtet davon, wie m itt els eines Online-Portfolios die p ersönlichen K ompeten zen, die in selbstorgani sier ten Pro jektgruppen erworben werden, vo n den Studieren den als individ uelle Lerngeschichten darge stell t und reflektiert so wie letztlich formal anerkannt, d .h. mit ECTSPunkten vergütet werden können. Rudo!f Kammer! be schreibt integlierte E -PortfOlio[tmk tionet! in stud.IP, die im Rahmen de s vo m BMB F geförderten Proiee tes ))InteL eC - Integlierter eLeaming Campus« bi s 200 8 an der Univ ers ität Passau en twickelt wu rden. E r them atisiert Pr obleme der Kontrolle im Sinne rechtlicher Regulierungen, die bei der E in führu ng vo n E -Port folios be dacht werden m üssen, etwa be züglich de s Sch utz es pe rsönlicher D aten oder de s Urh eberrechtes. Aus der Sicht eines studen tischen T ut ors , der in Lehrveran staltungen an der Universitä t Ham burg die Arbeit mi t Portfolio s be gleitet h at, gibt Sebastian Plönges eine n E ifahrtmgsbni dJt bezüglich der Paradox ien mit E -Portfolios. Die Paradoxie zeigt sich laut Plönges vorn ehm lich in der Frag e, ob Selbs treflexio n, zu de r das Portfolio au ffordert und die nicht zuletzt in der Bearbeitung de s eigenen -N icht-Wissens - und der eigenen un gelö sten Frag en be steht, be wertb ar ist . Iris Brnceer wu rde als Stu dentin mit dem E -P ortfolio im Rahmen eine s Seminars an der Universität Mainz konfrontiert. Ihr erscheint da s Führet! eines E -PorifOlios als Chance, V erantJIJorümg fiir den eiget!et! L emprozess '1ft iibernebme« - gerade im G egens atz zu herkömmlichen Leistungsn ach weisen und vor dem H intergrund, Materialien , Inhalte und E r fahru ng en aus verschiedenen Zusammenhängen untereinander verbinden sowie auch unfertige G edankengä ng e mit anderen ö ffentlich austauschen zu können. Nettland mit ungeahntem Potenzjal war das E -PorifOlio auch für die Studentin Sarah H aese. Dieses Potenzial entdeckt sie vorn ehm lich in der Vers chriftlich ung eigener Gedanken bei der Bearbeitung be stimmter Semi na rmaterialien sow ie im gegens eitigen Austau sch mi t den K ommilitonInnen über eben die se verfassten Gedankengänge .
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Die Beiträge des vierten und letz ten T eils - Ansichten - adressieren schließl ich den Portfoli o an satz, in sbesondere das E -Portfo lio , in seine m theo retische n , erz ieh ungssowie sozialwiss ens cha ftlieh en Kontext. Sie the matisieren d en E ntstehungs- und Begründungszusammenhan g des Po rtfolio s eb en so wie de ssen p ädagogische un d bildungstheoreti sche Implikationen; aktuelle Syst ematisieru ngs - sowie konkrete Implementierungsve rsuche; sch ließlich erste Ergebnisse b ezüglich der Akzep tanz vo n E -Portfo lios im Ra hm en univer sitärer Lehre.
Thomas H äck er unterzieht das Portfoli o einer Re vision: Porifolio revisited. Um die Grmzen und M öglü-hk eitm einesvie! zersprechenden Konzepts in den Blick zu nehmen, lässt er z unächst die G esc hichte de s Portfoli os seit den 1980er -Jahren au sgehend von den USA Revue p assier en . E r arbe itet als ein zentrales Lei tmo tiv de s Port foli oan satzes in sb esondere die fvIöglichkeit einer selbstb es timmten >D emonstra tio n vo n K o m p et en zen . he rau s. Die eman zipatori sche H offnung au f mehr \'{1ertsch ätzung für die Individualität de r Lernenden dr oht allerdings in ein en D arstellungs- und Be wei szwang umzuschl agen. E m pirische Befunde zeigen neben der ungeb ro ch en en E uphorie entsprech end bereits erste E rnüchteru ng ang esichts der uneingel östen Verh eiß ungen de s Portfolio an satze s. A ls ein e gr undsätzliche Kritik formuliert Hacker schließlich die T h ese, dass das Portfolio nicht nur in der G efahr ste ht, d urch ne oliberale T enden zen in der Päd agogik ver ein na hmt zu wer den , so nder n womöglich vo n Anfang an neoliberalem Denken entsprungen ist. D as H erzstück de s P o rt folios - welch es es nach H äcker zu ve rt eidig en gilt - ist aber die Refl exion.
Gabi Reinmann und Silvia Sippe! fragen in ihrem Bei trag dan ach, ob sich E -Portfolios sp eziell ftir das forschende Lernen als ein Königsweg oder Sackgasse erwei sen. E ntsprech en d den -alten Idealen- de s forschenden un d sit uier ten Lernens werden die N euen T ech n ologien d araufhin b efragt, ob sie eine kri tisch -refl exiv e G ru n dha ltu ng b efö rdern , di e au f individuelle A u to n o mi e und di e A us ein an dersetzung mi t einer Sache ziel t. Vor di esem H intergrund kann das Po rt folio als -Koordin ationsin srru rne n r in A k tivitätssystem en< ers che ine n . Dies is t allerdings n icht o hne Risiko , gerade do rt, wo das P o rt foli o als ein au f A n p assung, Selbstdarstellung und Fehl erv ermeidung gerichte tes K arriere-, Selbstve rmarkt ungs - und Sho wcaseportfolio verst anden wi rd .
Peter Baumgarttzer und Klaus Himpsl-C uterman» ge be n in ihrem Beit rag auf der Basis einer n eu en tw icke lte n T axono mi e fü r E-Po rtfolio s eine n Ü berblick über m ö gliche
Implemmtimmgsstrategim für E-Portfolios an (osterreicbischen} Hacbschuien. Sie fasse n di e
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wesentlichen Ergebn isse eines zwe ijährigen Forschungs projektes zusa m me n , d as im Au ftrag des österre ichische n Bundesministeriums für \Vissens ch aft und Forschung (bmwf) durchgefüh rt wurde. D ab ei werd en vier Strategiem o delle vorgestellt und die n otwendigen organisatorische n Rahmenbedingungen für eine erfolgreiche Konzep tion und Implem entierung b eschrieb en . Im Beitr ag von Stephan Münte-Goussar interessiert d as P ortfolio als eine ambivalente Selbst-Technik , als eine p ädagogisch e T echnik der Sclbstthe m atisierung, -gestaltung und -kon tro lle. D amit in teressiert es als eine >Sub jektivieru ng swei se<. MimteGoussar vero rt et das p äd agogische Pro gramm des Portfolio ans atzes im Spa nn ungs feld zwische n >gouve rnementaler K ontrolltechnil« und den Übungen einer >Sorge um siehe E r vers ucht also im Rückgriff au f Foucault - darin den Beiträgen vo n Benjamin J örissen und Rarnon Reichert nicht un ähnlich - , jene Momente zu ma rkieren, an denen eine an Selbs tbestimmung und E rm ächtigung der Sub jekte interessierte Portfolio -P äd ago gik seicht hinüber gleitet zu einer neoliberalen >Ö ko n omis ieru ng de s Selbsr-; und an denen sich umgekehrt Möglichkeiten ergeben, mi ttel s de s P ortfolio s die selbs treflexive H ingab e an die Dinge als eine -EntSub jektivieru ng< zu prakti zieren. Der Beitr ag vo n Kerstin Mqyrberger widmet sich dem Lernen und Hilfen mit E -Porifolios. Sie thematisiert au f Grundlage einer exploratioe» Studie die Perspektive der Studierenden auf die Ambivalenz von Selbst- und Fremdkontrolle beim Führen eine s E -Port folios . Die Erkenntnisse aus de r qu alita tiven Interviewstudie zum Umgang mit die sem Mecha ni smus werden im Kon text von Lernen und Prüfen in der alltäglich en akademi sch en Lehre verankert und Folgeru ng en für die G estaltung von geö ffn eten Lernumgebungen diskutiert.
WolfHilzensauer und S andra Schaffert nehmen eine Rückschau au f ausgewä hlte As pe kte der E-Porifolio-E n twicklung der let zt en J ah re in E uropa vor. Sie ide n tifiziere n und diskutieren ausgeJvählte Meilensteine, kommentieren quantitative EntJvicklungen und erörtern au f dieser G ru ndlage fünf kritische A spekte der aktue llen D eb att e und P raxis rund um die E -Portfolioarbei t. Unter an derem w erfen sie die Frage au f, inwiewe it die Vermi ttlung vo n Selbstorgan isation durch E -Portfolios üb erh aupt m öglich ist und ob es tatsächlich eine n Bed arf an leb en sbegleitenden E -Portfo lios gib t. D er Beitrag schließ t mi t einer kur zen Verortung der akt uellen Di sku ssion im .Gartner-H ype Cyclec
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Perspektiven
Selbstbestimmung und Selbststeuerung (E-}Portfolios versprechen, Lernende bei der selbstbestimmten, selbstgesteuerten und eigenverantwortlichen Entwicklung ihrer individuellen Kompetenzen zu unterstützen. Sind aber Selbstbestimmung, -steuerung und -verantwortung synonym zu gebrauchende Begriffe? Lässt sich im Rückgriff auf diese Konzepte (E-}Portfolioarbeit allgemein-didaktisch sowie lern- und bildungstheoretisch begründen und methodisch-technisch umsetzen?
T. Meyer et al. (Hrsg.), Kontrolle und Selbstkontrolle, DOI 10.1007/ 978-3-531-92722-0_2, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Selbstbestimmung und Selbststeuerung
Rornon Reichert I So un ter schiedlich die Begriffe der Selbstbes timmung, -steueru ng und -verantwortung auch sind, ihn en inhäriert eine gru ndsätzlich o ffen e D imension . Da (E-)Portfolios grundsätzlich keine abges chlo ssene n Bildungsbio grafien abbilden , sonde rn im Selbstbildungsprozess entwi cklungsfähig bleiben sollen, löst sich die Ko mpe tenze ntwicklung der Le rne nden von den übe rko mmenden Vor stellunge n eine s auto nome n, autarken Individ ualsubjekts. An seine Stelle soll ein Subjekt rücken , das an der Selbst ko nt ro lle int eressiert ist, die Bewertung durch andere ein fordert und damit eine Bereitwilligkeit zur Kritikfähigkeit ausbild et. Von Por tfoliosubj ekten wird verallgemeinern d die Bereitschaft erwartet, aktiv und regelm äßig Feedback durch andere zu verlangen und sich innerh alb eines andauern den kompetitiven Bildungspro zesses weiterzuentwickeln. Infolged essen kann die (E)-Po rt folioarbeit immer auch als eine dynami sche Beob ach tun gsanordnung betrach tet werd en, die ein au sgeprägtes N ahverhältnis zum 360 o -Feedbackmodell unterhält. I
Klaus Himpsl-Gutermann I Lerne n in form alen Settings findet immer unter Anleitung statt, also im \Vechselspiel zwischen Fremd- und Selbststeueru ng, un d ich würde da s G espü r für die richtige Mischung als xlie hohe K unst des Le h rens- bezeichn en. D abei gefa llt mir das Bild des .Scaffolding, besonders gut: Di e Le rnenden - insb esondere, wen n sie noch unerfah ren sind - unterstützen und vor sichtig einzelne Stütze n wieder wegnehmen , ihnen also mehr Verantwo rtung üb ertragen und Selbs tbes timmung zulassen . G enau dafür ist meiner Meinung nach das Po rtfolio hervo rragend geeigne t, denn ich kann mich als Lehrender - je nach G rad der Anleitung der Portfolioprozesse - fast beliebig auf der Skala zwischen Fremd- und Selbststeueru ng bewegen . Enge Vorgaben hin sichtlich der Lerninhalte, Lernziele, Lernergebnisse und Beurteilungskriterien nach genauen Rastern kann ich mit zuneh mende r E xpertise der Lerne nden schrittweise lockern, währe nd gleichze itig durch da s Reflexion sportfolio die für die Selbs tverantwortung wichtigen metakognitiven Kompe tenze n erwo rben wer den. Technische Lö sun gen spielen dafür eine un tergeordnete Rolle, viel entscheidende r sind die Fragen, die ich an mich und mein Portfolio stelle. I
Gab i Reinmann
I E -Por tfolios KÖNNEN selbs tveran twort liches und selbst bes timm -
tes Lernen anregen und begleiten , ab er wie jed e ande re Methode auch sind sie nur so gut wie diejenigen , die sie anbi eten und einse tze n. Selbs tbes timmung und verwa ndte, T. Meyer at al., Kontrolle und Selbstkontrolle, DOI 10.1007/978-3-531-92722-0_2, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
Selbstbestimmung und Selbststeuerung
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abe r sicher nich t syno nyme Bezeichnungen wie Selbststeueru ng oder Selbstorganisatio n werden unterschiedlich definiert. Vor allem pädago gische und ps ychologische Definitio nen decken sich hier nicht immer, weshalb die int endierten Botschaften wichtige r sind als die gebrauchten \'Vort e. \'Venn diese Botschaften lauten, dass Le rnende an der Auswahl vo n Le rn inhalten und an der Bestimmung von Lernz ielen beteiligt we rden, dann sind (E -)Por tfolios allenfalls ein Werkze ug, dies um zusetzen , aber sie kön nen es weder vo n allein in Gang setzen noch gara ntiere n. Dazu sind ande re Maßn ahmen nötig, nämlich organisato rische, did aktische und kulturelle. (E-) Portfolioarbeit lässt sich bildungsthe oretisch siche r un terschiedlich begründen und es kommt auf eben diese Begründung an, in welchen didaktischen Szena rien Por tfolios sinnvoll bzw erfolgversprechend sind. Di es gilt auch für die technischen Lösungen, die eine Passun g zu dem aufweisen mü ssen, was m an bezweckt. O der kurz : Man mu ss als Lehrender klar sagen können, was man erz ielen möchte. Davo n hängen alle weite ren m ethodischen und auch technischen E ntscheid ungen beim E insatz von (E-) Portfolio s (und nicht nur diesen) ab. I
Kerstin Moyrberger
I E- Portfolios
k i nnen die selb stbestimmte, selbstgest euert e und
eigenverantw or tliche Ko mpe tenze ntwi cklung der Le rne nden unterstützen . Inwie fern E- Po rtfolio s es tatsächlich tun, hängt aus der Perspek tive der Lehre nden davon ab, wie sie E- Po rtfolios in das jeweilige didaktische Szenari o einbette n . E s ko mmt also darauf an , wie Lehrp rozesse methodisch gestaltet sind und welches dida ktische Modell bzw. welche did aktisch e Persp ektive ver folgt wird . Ko nk ret heißt das : Wird ein Lernen ermöglicht , das tatsächlich selbst bes timmt ist, d.h. die Lernenden (phase nweise) eigene Inhalte und Ziele be stimmen lässt? O der werden den Lernenden in einem inh altlich vorgegebe ne n Rahmen lediglich die Steueru ngsprozesse zum Erreichen der vorgegebene n Ziels tellunge n überlas sen (d.h. sie entscheiden u.a. wann und wie sie vo rgege bene Au fgabens tellungen zu vo rgege benen Them en bearb eiten)? In beiden Fällen wird das eigenvera ntw or tliche Handeln der Lernenden in einem unt erschiedlichen G rad gefördert und gefordert - abhängig vo m didaktischen Szenario ha t beides seine Berechti gun g. Ze nt ral ersch eint mir, dass von Seiten der Lehrenden da s eigenverantwortliche Lernen bewu sst gefördert , gestalte t und begleitet wird . D afür ist es essenzie ll, ein genaues Bild von den Lernenden mit ihren Lernvoraussetzungen und ihrer Lernbereitschaft zu erh alten . D enn die Versuchung erscheint gro ß, die Verantwor tu ng für den erfolgreiche n Lern p rozess im Rahmen eines Lehrangebots lediglich zu delegieren und selbst or ganisieren zu lassen (Gefahr des -laissez faire-),
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Selbstbestimmung und Selbststeuerung
Andere rseits hängt die Kompetenz en twicklung der Lernend en auch davon ab, ob sie die ihnen gebotene n (medien-)pädagogischen, fachlichen und technischen Fre iräume im Lern prozess (aus-)nut zen wollen und kö nne n. Partiiipation und Selbstbestimmung im formalen Lernprozess Zu ermijglichen und (gemeinsam) Zu realisieren, erfordert von allen beteiligten Personen Anstrengung! I
Wolf Hilzensauer, Sandra Schaffert I Bezüglich der Begriffe .Sclbstbcstimmung. und .Sclb ststcucrung . verweisen wir auf die pro funden Ausführu ngen von T ho mas H äcker, der diesem The ma ein K api tel seiner H abilitationsschrift gewidmet ha t, und gehen direkt auf den zweiten Teil der Frage ein. D ie Implementi erung vo n E- Po rtfolios in Bild ungsin stitutionen bedarf neben eine r genauen Planung sowie Schulung des Lehrperso nals vor allem einer Lern - und Unterrichtskultur, die das Ar beiten mit selbstorganisierten, tatsächlich selbs tbe stimmten und individu ellen Lernprozessen ermöglicht und trägt. Dies bezieht sich neb en me thodisch en Adaptierunge n bestehender Un terrichts formen vor allem auch auf die Lern- und Prüfungskultur in den Bildungsin stitutionen. Um Por tfolioarb eit zu ermö glichen , müssen flexible und adaptierbare Un terrichts- und E valuieru ngsfo rm en nicht nur zugelassen, sonde rn auch vo n allen Lehr pe rso nen getragen und unterstützt wer den. D azu zählt vo r allem eine kon zertiert e Adaptieru ng und Um setz ung der bildungspoli tisch en Zielsetzunge n, der Cur ricula sowie der Prüfungsordnungen. In weiterer Folge sind technische Lösungen individuell an die Schwerpunkte der einzelnen In stitutio nen anzupassen, was neben einer planerischen auch eine finanz ielle Fr age darstellt. I
Benjamin Jörissen I Selbstbestimmung, Selbststeueru ng und E igenverantwo rtung sind unterschiedlich gelagerte Begriffe. Im Rahmen instituti onali sierten Lernen s sollte mi t der Emph ase des Begriffs .Sclbst bestimmung. vo rsichtig um gegangen werd en : Im Rahmen vorgegebener K ompetenzziele kann kaum davon gespro chen werden, denn Selbstbestimmung impliziert dem Begriff nach eine von direkten äußeren Vorgab en freie Zielsetzung. >E igenverantwortliche Kompe tenz ennvicklun g
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es Fragen der Selbstführu ng implizi ert, wie sie im Rahmen der gege nwärtigen erziehungswissen sch aftlichen Di skussio nen um >G ouverne me ntalität< in ihrer A mbivalenz sichtba r werden. E-Po rtfoliolösunge n sollten -str ukturell sensibel. im Hinblic k auf impl iziert e Macht - und H errscha ftsaspekte sein. I
Theo Röhle I G ene rell ers cheint mir der von (E-)Portfolios angestoß ene Kreislauf
zwisch en eigen ständiger Pl anung, Aus führu ng und E valuati on gut geeignet, um die Entwicklung individueller Lernstr ategien zu un ter stü tzen . Im Trans fer vom konkreten Lerngegen stand zur Metaeb ene und wied er zurück sehe ich einen der zen tralen Vorteile von (E-)Po rtfolio s im Hinblick auf die K ompetenz en twicklung der Lernen den . Wichtig erscheint mir, da ss diese erhöhte E igenständigkeit nicht als eine Verlageru ng der Verantwo rtung für den Lern prozess auf die Seite der Le rne nden interpretiert wird. D as K o nze pt der (E-)Po rtfolios stellt vo r allem an die Leh renden erhö hte An for de ru nge n. E in besonders wichtiger Aspek t scheint mir hier die Unters tütz ung von Gruppenprozessen wie Peer Feedback zu sein, die ggE nicht von den Le rne nden selbst initiiert werd en . Auch bei der Auswahl bzw; Entwicklung der technischen Lösunge n ist dah er darauf zu achten, da ss die A spek te des Gruppenfeedbacks und der Gruppenreflektion nicht dem - technisch leicht er zu implementierenden - A spek t der Präsentation untergeo rdn et wird. I
Stepha n Münte-G o ussa r I Die Verwendungsweise der Begriffe Selbstbes tim mung, Selbs tsteueru ng, Ei genveran twortun g und Kompetenzentwicklung in der gegenwärtigen pädago gisch en und bildungspolitischen Diskussion lässt diese als E igenschaften, Attri bute, Fertigkeiten, Wirksamkeiten und D ispositio nen vo n Indi vidu en erscheinen - ebe n als Ko mpe tenze n; genaue r: als Ko mpe tenz, Ko mpe tenz zu erwer ben; als »Inko mpe tenz ko mpe nsatio nsko mpe tenz« (Vereinigung der Bayerische n \V'irt schaft (Hg.) (2008): Bildungsrisiken und -chancen im G lobalisieru ngspro zess. Jahresgu tach ten des Aktio ns rats Bildung, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenscha ften, 98). In diesem Sinne handelt es sich um Selbst-Techniken, üb er die die Einzelnen ver fügen oder verfüge n sollen . Sie zielen vo rnehm lich auf Selbstbehaupt ung. Zumindest Selbst bes timmung war ur sprünglich ein politi scher Begriff, der keine individuelle Fähigkeit beschrieb, sondern die Verfas sung einer G em einscha ft, die ihren Mitgliedern bestimmte Rechte, Möglichkeiten und Freihe iten einrä umt. I
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Selbstbestimmung und Selbststeuerung
I Die Fragen, ob ein Lehr-/Lernarrangement darauf zielt, Selbstbestimmung, Selbststeue ru ng und E igenverantw o rtung zu förde rn beziehungsweise ob in eine m Lehr-/Lern arra ngeme nt E-Por tfolios eingesetzt werd en , liegen auf unt erschiedlich en didaktischen E benen . D ie erste Frage betri fft die (Bildungs-)Z iele und Zwe cke des Lc rne ns, der zweite Frage richt et sich darau f, zu klären, ob und in welcher Weise der E in satz bestimmter Medien funk tio nal sein kö nnte im Hinblic k auf die Erreichung der angestrebten Ziele und Zwecke. Ob E -Portfolios in einem auf Selbst bestimmung, Selbs tsteuen mg und Eigenveran twortung gericht ete n Lehr-/ Lernszen ario eine diese Ziele un ter stü tzende Funktion haben können, hän gt sehr stark von ihrer Einbettung in diesem Prozess ab. E s wäre also aus meiner Sicht in didaktischer Perspektive zu fragen : \Vie und von wem werd en mod erne Informations techno logien beim Lernen in s Spiel gebracht? Wird die Verlageru ng des Lehr-/ Le rn prozesses in eine webba sierte Lernumge bung didaktisch plausib el begründet od er aus dem P rozes s herau s zwinge nd notwendi g? Thomas Höcker
D ie Beg riffe Selbstb estimmung und Selbststeuerung wer den in der pädago gischen Literatur oftmals synonym verwandt. D ies ist au s meiner Sicht unangemessen , weil das Konzep t der Steueru ng seinen genuine n -O r t: in kybernetischen Modellen des Le rne ns hat, während der Begriff der Selbstbes timmung dem Dis kur srahmen eine r ema nzipatorisch sich verstehe nden E rziehungswissen schaft zuzuo rdnen ist. Di e synonyme Verwen dung dieser Begriffe verdeckt aus meiner Sicht etwas \Vesentliches: Der Begri ff der Steueru ng bezieht sich auf die regulativ-ope rativen A spek te des Le rne ns (wie lerne ich, wann , wo, mit wem, wie lange, wie oft USw.), während sich der Begri ff der Selbstbes tim mung über die gena nnten As pek te hinaus auch noch auf die inhaltlich -th ematischen As pe kte de s Lernens bezi eht (was lerne ich?). Stark vereinfacht und überspitzt könnte m an sagen, da ss Selbs tsteue rung auf die Optimierung des Lerne ns (durch die Steigeru ng vo n E ffizienz und E ffektivität) zielt, während Selbstb estimmung in so fern auf eine Subjektivierung des Le rne ns zielt, als die Mitbestimmung bei den Inhalten und G egenständen den Zusamme nhang vo n Sinn , Bedeutung und der eigene n Lebensperspektive bewahrt. G erade dann, wenn Bildungsproz esse auf Selb stb estimmung, Selbs tsteueru ng und Eigenverantwortung zielen , können technische Lösungen nur o ptional sein, mü sste die K onfi guration einer eigene n Lern- und A rbeitsumg ebung eine herausfordernde, individuell bzw kooperativ zu lösende Aufgabe der Lernenden sein. Für deren Lösung liegen im Internet bereits viele Inhalte und Werkzeuge bereit. I
Individualisierung {E-}Portfolios sind Mittel der Individualisierung von Lehr-jLernprozessen. Was bedeutet dies für die Motivation der Lernenden und die Förderung von Kreativität, Innovationsfähigkeit und Problemlösekompetenz? Wie gestaltet sich hier der Bezug zum jeweiligen Lerngegenstand?
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Individualisierung
Gab i Reinmann I (E-)Portfolio s regen den Lernenden an, Lernergebnisse zu samm eln und (im Idealfall) zueinande r in Beziehung zu setzen, gemachte E rfahru nge n zu reflektieren und wenn möglich Prozesse des eigenen Lernens au f diesem \V'ege für sich selbst und andere verständlich zu machen. Das alles sind Vorgänge, bei den en sich der Lernende auf sich selb st bezieht, weshalb (E-)Po rtfolio s mit Siche rheit so ang elegt sind, dass sie eine Individualisierung des Lernens befördern können. Ob da s jemand als motivierend oder aber als extrem an strengend und damit eher hemmend erlebt, ist aber ebenso individuell und von vielen Aspekten der Person abhängig. Menschen sind nicht gleich und sie un terscheiden sich auch darin, wie gern und gekonn t sie Selbstreflexion praktizieren. Ob man lern t, Prob leme noch dazu auf neuartige \Veise zu lösen , wenn man ein (E-)Portfolio führt, bezweifle ich . Jeden falls kann ich mir nicht vorstellen , dass das ein gängiges Ergebnis ist. Man müsste schon Portfolios gezielt etwa in Proj ektveranstaltungen od er Proj ektgruppen implementieren und da wiederum könnte es vorteilhafter sein, nicht allein , sondern im Di alog mit anderen den Problemraum abzustecken und nach Lö sungen zu such en . Fragen dieser Art zeigen, dass man eine Methode gerne üb erfrachtet und zu viele Dinge auf einmal erwartet. I
Wolf Hilzensauer, Sandra Schaffer! I Bildungsinstitutionen wird zuneh mend die Au fgabe zugesprochen, Lernende für die Fähigkeit zum lebenslangen Lernen auszubilden . Unter diesen Voraussetzungen sind Faktoren wie Individuali sierung und Kompetenz zum eigenständigen Lernen als zentrale Bildungsaufgab en anzus ehen . Portfolio arb eit bietet (neben anderen lernerzentrierten Methoden) eine Möglichkeit , die Interessen und Kompetenzen junger Lernender individuell zu fördern. Dies ist vor allem darin begründet, dass dem in klassischen Lernsettings oft vern achlässigten Prozess der indi vidu ellen Lern zielvereinbarung eine explizite Bedeutung eingeräumt wird und diese daher ein zentrales Element der Lern- und Arbe itsplanung darstellt. Von Curricula od er Lehrpersonen vorgegebene Jahresziele können somit um individuelle Zwischenziele erweitert werden, um auf der Reise ans Ziel jeweils individuelle Routen zu verfolgen . Dabei muss aber auch klar sein, dass die Portfoliomethode und die damit zusammenhängende Individualisier ung des Lern ens im Unterricht nicht für alle Lern enden geeignet ist und damit andere Verfahren nicht ersetzen, sondern erweitern und unterstützen soll. Individualisier ung darf hier übrigens nicht mit .Vereinzelung. verwechselt werden, die E-Po rtfolioarbeit leb t und arbeitet auch mit dem vielseitigen Austausch un d Ko op erationen zwisch en den Lernend en sowie zwischen Lernenden und Lehrenden. I
Individualisierung
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Stephan Münte-Goussar I Peter Sloterdijk hat auf dem vorläufigen Höhepunkt der aktu ellen \V'irtschaftskrise und anlässlich des E rsche inens seines neuen Buches - welches von >Anthropotechnik
»Man hat uns in ein psychopolitisches Großexp erim ent üb er Frivolität verwickelt - [... ] Leichtsinn und E goi smu s für jeden . Man hat in dieser Zeit behauptet, G emeinwohldenken sei gescheitert. Also blieb der As ozialismus, den wir höflicherweise Individualismus genann t haben [.. .]. Doch was sind konsequente Individualisten? E s sind Menschen, die ein Experiment darüber veranstalten, wie weit m an beim Überflüssigma che n sozialer Bezie hungen gehen kann.« (Sloterdijk , Peter: »N ur Verlierer koop erieren«, Ein G esp räch mit Rob ert Misik. In: tageszeitung vom 5.5.2009) Vielleicht ist es unlauter, den hier gemeinten Individu alismus mit dem zu asso ziieren, was im aktuellen pädagogischen Diskurs mit .Individ ualisier ung. bedeutet werd en soll. Ta tsächlich liegen die Dinge komplizierter. Bei Letzterem geht es darum, die E inzigartigkeit jedes Menschen hervorzuh eben, die Mannigfaltigkeit der .Begabungen<wert zuschätzen und die E igenwilligkeiten der individuellen Id een und Interessen zu berücksichtigen - nicht zuletzt auch diejenig en der so genannten -Schwachen c Genau dies verleiht individualisierten Le rn fo rme n die breite Akzeptanz . Aber es ist sicherlich nicht un angemessen, zuminde st die Frage zu stellen, ob hier ein Z usammenhang mit jen em Großexperim ent vorliegt. I
I Di e Frage der In dividuali sierung und Differen zierung von Lehr -/ Le rn prozessen wird nicht dur ch Mittel entschieden. Mittel werden allenfalls im An schluss an eine po sitive E ntscheid ung für Individualisi erung so gut es geht dafür genutzt. In der Regel wird zur Stü tzung der T hese, das s E -Portfolios zur Individualisierung von Lehr-/ Lern prozessen beitragen können , angeführt, dass webbasierte Lernumgeb ungen zeit- und ortsunabhängige Kommunikationen ermöglichen . Das ist zwar theoretisch richtig, Studien zur Mediennutzung von Jugendlichen deuten jedoc h sehr stark darauf hin , dass die raum -zeit liche Entgrenzung von Kommunikationsmöglichkeiten den ho hen Stellenwert von Face-to-face-Kommunikatio n nicht geschmälert hat. Thom as Höcker
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Individualisierung
Ob Lernende papierbasierte oder webbasierte Portfolio s nutzen, wird sehr stark davon abh ängen, ob und in welchem Maße ihn en bei der E rstellung von Portfolios eine erhöhte Verfügu ngs- und Handlungsmöglichkeit in der Welt er fahrbar od er antizipierb ar wird bzw ob und wie spürbar sich ihre subjektive Lebensqualität dadurch erhöh t. I
Selbstreflexion und Leistungsbewertung {E-}Portfolios setzen bestimmte Formen der Selbstreflexion, -darstellung, -beurteilung und -kontrolle mit Formen des Coachings, der Fremdbeurteilung und des Assessments ins Verhältnis. W ie müsste Lehre verändert und mit welchem Aufwand müsste sie betrieben werden, damit hier ein sinnvolles Verhältnis entsteht?
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SelbstreAexion und Leistungsbewertung
Klaus Himpsl-Gutermann I In eine m Punk t sind sich die Exper tinn en und Exper ten wohl einig: Sollen nich t bloß obe rflächliche .H ochglanzportfolios. entstehe n, ist die Portfolioarbeit mi t eine m hoh en Aufwand verbunden, sowo hl auf Seite der Lernen den als auch de r Lehrenden . Bei der Po rtfoliomethode gilt meines Erach ten s genauso wie bei allen anderen Lehr-/Lernformen : Einer der wich tigsten Fakto ren für eine n hohen Lernerfolg ist ein regelmäßiges, kritisch-kon struktives Feedback. Dem sind leider in fast allen Bildungsorgani sationen aufg ru nd ungünstiger Rahmenbedingun gen, insbesondere mangelnd er Zeit- und Personalressourcen. enge Gren zen gesteckt. D ie Peers sind wegen des hohen Work loads meis t allein mit dem eigenen Po rtfolio zu Genüge besch äftigt , die Lehre nden schaffen wege n der gro ße n Le rng ruppe n und des ungün stigen Betr euungsverh ältnisses meist nur eine abschließende Beur teilung. D abei ent faltet das Portfolio er st in der for ma tiven, prozesso rienti ert en Variante seine ganze Stärke. Durch die Möglichkeit der Überarbeitung nach einem kriti schen Feedback sowie über Dialoge zum Portfolio und die Bewertung der darin enthaltenen Art efakte werd en zusätzlich e wertvolle Einsichten gewonnen und die Motivation für da s künftige Lernen gesteigert. D as Scha ffen günstigerer Betreuungsverh ältni sse ist vorn ehmlich eine bildungspoliti sche Aufgabe und nicht portfolio spezifisch, jedoch profitieren meiner Meinung nach die Lerne nden insbesondere bei der Por tfoliomethode von den Vorteilen eine s form ativen Assessm ents . I
I Die Erfahrung hat gezeigt, da ss eine Reflexion sbzw. (Peer-)Feedbackkultu r in heutigen Bildungssystem en kaum eine methodische Verankeru ng hat und hauptsächlich auf individueller Basis von engagier ten Leh rpersonen eingesetzt wird. D abei ko mmt es nicht nur zu eine m ungleichen Verhältnis zwisch en individuellen Lernzielen und -pro zessen und den Beurteilungs- und Ass essmentkriterien, vielmehr ist eine stru kturiert e Reflexion skultur im methodi schen Repertoire der ver schiedenen Bildungsinstitutionen und deren Richtlinien bislang kaum zu finden . Für eine ausgewoge ne Umse tzung der Portfolioarbeit ist es eine rseits notwendig, eine K ultu r der Selb streflex ion bereits in der Grundschul e einz u führe n bzw. anzu streb en. Andererseits mü ssen Kri terie nsam mlung für die Be urteilung der Po rt folioarbeit sowie die Rahmenbedingungen für die Feedback und Assessmentprozesse von den Lernenden und deren Pee rs mitb estimmt werden . D iese Fo rderungen dürfen dabei nicht nur -zum guten Ton- gehöre n, sonde rn sollten eine o rganisatorische Voraussetzung dar stellen und in Curricula bzw. in stitutionellen Rich tlinien verankert werden. I
Wolf Hilz ensa uer, Sand ra Schaff ert
Sel bstreflexion und leistungsbewertung
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Gabi Reinmann I Ich frage mich oft, wie man denn die Lernerfahrungen anderer bewerten kann. \'V'a s bewert et man da? D as, was inhaltlich erlebt wu rde? Di e Art, wie das E rlebte dargestellt wird ? D en Bezug, den ein Le rne nder zwischen seinen E rfahrungen und den curricularen In halten herstellt? Und nach welchen Kri terien mache ich das? Und wie komme ich au f diesem \'V'ege zu N oten? G ar nicht, werde n die meisten (zu Recht) sagen und dann emp fehlen, da ss man Po rtfolios üb erh aupt nicht bewerten sollt e. \'V'e nn ma n sie aber nicht bewert et, sind viele Le rnende nicht motivi ert, überh aup t ein Por tfolio zu führen . D ann m achen es eben nur die ohnehin In ter essierten, die es ja immerhin auch noch gibt. Konzen trieren wir un sere Bemühungen auf genau diejenigen, werden wir jedoch dem ebenfalls legitimen Ans pruch nich t gerecht, möglichst viele zu fördern und ihnen die G elegenheit zu bie ten, neue Erfahrungen (z.B. mit Selb streflexion ) zu machen. Eine Patt-Situation? An sich ja! Solange wir an den Hochschulen so viel E nergie darauf verwe nden mü ssen , Leistungen mit N oten zu ver sehe n und diese N o ten zu begründen , wird es un s an Ze it fehlen, Studierenden so etwa s wie ein .Coaching- in dem Sinne anzubieten, dass wir ihn en helfen , das Beste aus sich herauszuholen . I
Kerstin Ma yrberger I D as Verhä ltni s von selbstbezogen em Tun und frem dem E influss auf dieses seh r persönliche Tun in Fo rm von Coaching, Beur teilung und As sessme nt durch D ritte bzw. Leh rende ist in fo rmalen Bildungs ko ntex ten noch nicht alltäglich und erschei nt dah er allen Beteiligten (noch) frem d. Das Be fremdliche liegt m.E. daran , dass hier das traditionelle Rollen verständnis zwische n den Lehrenden und Lernenden aufgebro chen werden muss, damit ein ernst gem einter, subjektiv m otivierter und gestalteter Lernprozess sich entwickeln kann. D abei sehe ich die größ ere H erausforderung darin, dass sich die Le rnenden vo n etablierten Bilde rn der /des Lehrende n als Person mit der Leh r- und Prüfungshoheit lös en und auf sich vertrauen. D as bedeutet, dass sie den ange botene n alternativen fremdbez oge ne n Verfahren zur Leistung sbewertung wie z.B. eine r geme in same n Bewertu ng von E rgebnissen nach geme insa m festgelegten Kriterien (ver-)trauen können. An dieser Stelle ste ht die Leh rp er son vor der Herausforderung, das eigen e Rollenverständnis von offener und partizip ativer Lehre nich t nur ändern zu wollen, sondern auch aut hentis ch (vor-) leben zu können . In diesem Sinne sollte Lehre in formalen Kontext en sowo hl Offenheit als auch trans parente Verbindlichke iten und Regeln förd ern und zugleich ein profession elles Klim a gege nseitige r \'V'e rt schätzung unterstützen . E in solche s professionelles Klima ist not-
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wendig, dami t die selbstbezoge nen Aktivitäten nich t den Rahm en einer pädagogisc h und didaktisch mo tivierten Lehr-, Lern- und Prüfungssituation überschreiten und ins T he rape utische abdri ften. Auf Seiten der Lehre und der O rganisation bedarf es einer Förderung der E ntwicklung einer en tsprechenden Lern -, Lehr- und Prüfungskultu r, die beide Seiten ermutigt und legitimiert, sich zu ö ffnen . I
Stephan Münte-Goussar I Man kann die T hese ver treten, das Por tfolio stelle eine Übung dar, >äuß ere< Kon trolle mittels Selbs treflexion in >innere< Selbstregulation zu überführen. In Bezug auf die Selbst bestimmungstheorie der in trin sischen Motivation nach Edward L. D eci und Rich ard M. Ryan - die auch für die Por tfoliod ebatte einen wichtige n Bezugspunkt darstellt - schreiben z.B. G abi Reinmann und Tamara Bianco: Für »die gru ndsät zliche Fähigkeit des Men sche n, externe Kontro lle (direkter und indirekter Ar t) in intern e Kontro lle zu transformi eren«, ist es zentra l, »sich autonom bzw. selbstbe stimmt zu erleben«. (Reinm ann, G abi/ Bianco, Tama ra (2008): Knowledge Blogs zwischen Kompetenz , Auto no mie und sozialer Eingebundenheit, Universität Augsburg; s. unt er http:/ /www.imb -uni-augsburg.de/ files/ Ar beirsbericht Tf .pdf [27.8.2010], 11)
Der Zusamme nhang von Autonomie und K ontrolle bekommt eine andere \V'e ndung, wen n Selbstre flexion nicht als eine gedacht wird, die vor der Folie eines Innen-AuBen-D ualismus selbstbez üglich um sich selbst kreist, sondern als eine, von der man eingesteh t, dass sie nur in Bezug auf, ja nur in der H inga be an etwas anderes bzw an den Anderen zu haben ist. Dieses unverfügbare Andere ist der G rund des Selbst. Damit auch der G ru nd der Selbstbegrenzung und Kontrolle..Mit andere n \V'orten: Bildung bedarf der bedingungslosen Selbst reflexion in der Sache und dem Mitme nsehen. Selbstthematisieru ng, Selbstbeurteilung und Selbsti nszenierung als Konsequen z einer kont rollierten Autonomie verhinde rn in der Regel genau dies. I
Thomas Höcker I Por tfolioarb eit zielt u.a. darauf ab, die Kommunikation üb er Leis-
tun gen in Ga ng zu bringen . Sie will die Partizipation aller Betroffenen und Beteiligten am Beurteilungsgeschehen för dern, die Tran spa renz hin sichtlich der Leistungsanforderungen und Beurteilungsk riterien steigern und einen reflexiven Lerns til förde rn .
SelbstreAexion und lei stungsbewertung
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Damit hat das Konzept eine N ähe zu offen eren, dialogbasier ten und auf die Partizipation der Betroffenen gerichteten Konzepten un d setzt entspreche nd ganz bestimmte Rahmenbedingungen vo raus. \\10 dies e nicht gegeb en sind beziehungsweis e nicht herstellba r sind , hat Portfolioarb eit erfahrungsgemäß kaum Chancen, nachhaltig implementie rt zu werden. I
Selbst-Ökonomisierung In welchem Zusammenhang stehen (E-}Portfolios mit dem, was aktuell unter den Stichworten Flexibilisierung und Deregulierung der Arbeit und Ökonomisierung des Selbst diskutiert wird? Gibt es hier einen Zusammenhang?
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Selbst-Ökonomisierung
Rom ön Reichert I Die neuen Vernetzungsstrukturen im Internet ermöglichen dezentrale und dereguliert e Handlungs- und Koope ratio nschancen jenseits der traditionellen Bildungsinstitutionen , bleiben aber auch anfällig für Mikropolitik und personenbezog en e Ma ch tausü bung. Als kollaborative Proj ekte siedeln sich (E-)Po rtfolios an der G rauzone von Selbstpraktiken, Herrschaft und Macht an. Di e Zo nen uneindeutiger Zugehö rigkeit und flexibler Teilexklusion bzw Teilinklusion ermöglichen neue Fo rmen von Responsibilisierungs- und Visibilisieru ngszwängen, die kein homogen es und in sich abge schlo ssene s Kernselbst generieren , sondern vielmehr Selbst- und Fremdwahrnehmungsprozesse in G ang setzen, die in kontinuierlichen Feedbackschleifen und temporären N etzwerkbildungen immer wieder aufs N eue verhandelt werden müs sen . I
I Ich denke, diese Frage lässt sich am besten durch einen näheren Blick auf die Technik beantworten . Technische Lösungen beruhen immer zu eine m bestimmten G rad auf Fo rm alisieru ng. Eine spezifische Ar t der For malisieru ng ist dann einerseits als Resultat gesellschaftlicher Verhandlungen zu betrach ten, andererseits bringt sie bestimmte Subjekteffekt e hervor. Konkret heißt das: K om men (E-)Po rtfolio s in eine m Rahmen zum E insatz, der von Unter finanzieru ng und schlechten Betreuungsquo ten gep rägt ist, so ist davon auszugehe n, dass sie auch auf der technischen E bene auf Fremdbeur teilung und formales Asses sment hin ausgerichtet sein werden. Flexibilisieru ng beinh altet in diesem Fall keine tiefgreifende N euausrichtung der gesamten Le rn situatio n an den Bedürfnissen der Lernenden . Stattde ssen erfolgt eine Verdatung de s Lernprozesses, die zwar eine gewisse zeitliche und räumliche Flexibilität scha fft, gleichzeitig jedoch die Voraussetzungen für eine Au sweitung von Übe rwachung und Kontrolle schafft - ggf. auch unter kommerziellen Vorzeichen. I
Theo Röhle
I \Venn man den Vorhersagen traut, dann werd en heutige SchülerInnen bis zu ihrem 38. Lebensjahr im Durchschnitt 14 Jobs gehabt haben. Ein G roß teil der Berufsbilder, die in der Zukun ft gefragt sein werden, existieren dabei heute noch gar nich t, demen tspr echend sind dafür keine oder kaum Ausbildungsmöglichkeiten vorhanden. Um Jugendliche von heute auf da s Berufsleben von morgen vo rzube reiten, ist es dah er notwendig, dass sie in der Lage sind , auf wechselnde Anforde ru nge n zu reagieren und möglichst rasch (>in tirne-) die jeweils
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erforderlichen Kompetenz en für eine neue H erausfo rd erung zu erwerben . Unte r dem Stichwort .Ö ko no rnisierung des Selb st- bietet die Por tfolioarbeit die Möglichkeit, Lernende au f eine selbstve rantwortliche \'Veise auf eine Zukunft vorz ubereiten, in der sie mehr als früher auf wech selnde Anfor de ru nge n reagieren mü ssen. D ad urch machen sich Pädago gen in gewisser Weise un freiwillig zum H andl anger neolib eraler Mark tentwicklunge n. Daher kann die pädago gische Zielsetzung nich t allein da rin bestehen, Mens che n darin zu unterstü tzen , sich willfahrig x-beliebigen Änderu nge n des (Arbeits -)Marktes selbstorganisierend und ständig lern end anzupassen, vielm ehr sollte sich pädagogische s H andeln gleichermaßen auch weiterhin an den traditionellen Bildungsidealen mündiger, d.h. auch kriti scher Bürger o rien tieren. I
Benjamin Jörissen I E- Po rtfolio s (wie überhaupt mediale Lern tec hnologien) stehe n selb stverständlich in einem Ko ntext vo n Um br üche n im Bildungssektor, wie sie im Z uge der Um setzung des Bolognaprozes ses überall unter ökonomisierten Vorzeichen stattfi nden. Sie steh en einerseits für ö konomisiertes E ffizienzdenken in der Bildung (bspw: als preiswer te Lösung innerb etrieblicher \'Veiterbildung), andererseits bieten sie aber auch die Chance, Mo mente des alten Id eals der Selbstbildung neu zu entdecken (so etwa durch Ums tellung auf artikulative und informellere Lern praxen im Rahmen vo n Personal Learn ing Enviro nments od er lose gebundener soz ialer Networks of Pr actice). D as E- Po rtfolio stellt durch seinen selbstreflexiven Charakter bildungsnahe Prozesse in Form medialer Ar tikulatione n in ein (päd ago gisches) Feld der Sichtba rkeit, das entsprechend durchaus in eine m Spannungs feld vo n reflexiver .Sclbs tpraktil« und ökono misier ter Selbs tpräsen tation (im Rahmen von Bewertung, Z ertifizieru ng und Bewerbung) steh t. I
G ab i Reinman n I Menschen wollen ein gute s und angene hmes Le ben haben . D azu brauchen sie G eld und folglich einen Arbeitsplatz. Die A rbeitsplatzsitua tion ist an die lokale und globale \'Virtschaft gebunden - ökono mische Bedingun gen haben also immer und üb erall einen großen Einfluss auf un ser Leben und darauf, wie wir es gestalten (können). Diesen Einfluss werden wir nie abs tellen können. Bildung kann un s dabei helfen, un sere Fähigkeiten so auszubauen, dass wir Arbeitstä tigkeiten üb erneh men können , die uns persönlich auch mit Sin n er füllen. An dieser Stelle KÖNNTEN sich Bild ung und Ö konomie freundschaftlich begegn en . An vielen ande ren Stellen
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stehe n sie sich wie erbitte rte Kontrahen ten gegenübe r und wir machen heute die Erfahrung, dass ökonomische Ziele und Legitimati one n zune hmend die O be rhand gewinnen. D ies füh rt unweigerlich dazu, dass auch Methode n entspre chend ins trumentali siert werden . Ich sehe aber nicht, dass dies ein besonderes Schicksal der (E -) Portfolios sein sollte: J EDE Methode lässt sich zweckentfrem de n und sie lässt sich so verwenden, dass eigene Ziele erreicht werde n. \V'ir dürfen in dieser Beziehung wohl nicht so starr auf die Methoden blicken , sondern wir sollten darauf schauen , wer in un serer G esellscha ft Lehrfunktionen übernimmt, welche Per sonen/Persönlichkeiten (H ochs chul-)Lehrer werden, wie anerkannt diese Berufe sind, welche Voraussetzungen m an dazu haben mu ss und wie viele Fr eiheiten m an ihnen gibt. Sie nämli ch sind es, die da s Verhältni s von Ökonomie und Bildung mitge stalten können, und nich t einzelne Methoden, denen keine In ten tion en innewohnen. I
Ste pha n Münte-Gous sa r I Als eine >Wortme ldung im Di enste des Widerstandes gegen die neolib erale Invasion- sch rieb Pierre Bo urdieu bereits 1998:
»Und so schwingt sich die unumschränkte Herrschaft der Flexibilität empo r, eine der befristeten Ar beitsverhältnisse, der Leiharbeit, [.. .] trägt den Wettbewerb in die Unterne h men selbst, zwische n un abhängigen Zweigstellen , Arbeitsgruppe n, zuletzt eines Jeden gege n den ande ren, den die Individualisierung der Beschä ftigungsverhältnisse mit sich brin gt: individu elle Zielvorgabe n, individu elle Bewertungsverfah ren , individu elle Lohne rhöh ungen [...]; Strategien der .D elegario n vo n Verantwor tung<, die die Selbs tausbeutung der Angest ellten gewährleisten sollen [. .. ]; eine sSelbs tkontro lle-, die ihre .E inbezichung. der Beschäftigten nach allen Regeln des >partizipa tiven Manageme nts< auch über die Ange stellten schaft hinaus gre ifen läßt - alles ratio nale Unterwerfungstechniken , die l...] um eine Schwächung od er Beseitigung des kollektiven Z usamme nhalts [...] wett eifern.« (Bourdieu, Pierre (1998): Gegen feuer. Wortmeldungen im Di enste des \V'iderstands gegen die neo liberale Invasio n, Ko nstanz: U VK, 112) Das hier G esagte lässt sich mühelos auf die Begriffe und Praktiken rund um da s pädago gische Portfolio übertragen . Sicherlich wird man damit der Komplexität de s Portfoliodi skur ses nich t vollends gerecht, trifft ab er einen wesentlichen Pun kt. Entspre che nd hab en Jan Massehelein und Mar ten Simons im Hinblick au f die Planungen bezüglich des E uropäischen Qualifikationsrahmen s, dessen kon krete Umse tzung u.a.
Se lbst-Ö kono misler unq
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der Europass - also ein Portfolio für jeden Bewohner des euro päischen Bildungsraumes - dar stellt, jüngst geschrie be n: »Was nötig ist, sind [... ] globale Positionsbestim mungs syste me für alle Le rne nden, damit sie ih re Position kenne n, ihren \'Vettbewerbsvorteil messen können und fähig sind, über ihre zukün ftigen Lerninves titionen [... ] zu entscheiden . [. . .] Was au f diese Weise entsteht, ist eine (natio nale, europäis che) >Währu ng des Humankapit als. und in nah er Zukunft wahr scheinli ch eine .Z en tralbank des Humankapitals- [... ]. Lernen de können sich auf eine endlose solipsistische Reise der K apitalisierung de s Leb en s freuen. Diese Reise, auf der man elektronische Portfolio s und andere Humankapit alPortemonnaies mi t sich füh rt, ist ein gleichermaßen hochmaterialistische s wie zunehmend virtuelles und spekulatives Un ternehrnen.« Massehelein. Jan/ Simon s, Marten (2010): Jen seits der Exzellenz . Eine kleine Morphologie der Welt-Universität, Z ürich: diaphanes, 37f. I
I Das Aufko m men de s Portfolioansatze s Mitte der 1980er-Jahr e geschieht historisch zeitgleich zur Pro klamation der >Ä ra des U nterne h mertu m s- und der damit in Verbindung ge brachten schnellen Verbrei tung neolib eraler Sichtweisen. E s ist nicht zu überseh en , dass sich der Po rtfolioan satz in besonderer \'Veise dazu eignet, Lerne nde in neolib erale Sicht- und Denkweisen einz usoz ialisieren . D ie Ratio ge sellschaftlicher Strö munge n, Tendenzen und Programme einer kritische n Analyse zu unterzieh en , Bildung immer wieder im Spa nnungs feld von Antino mien zu rekon struieren und den Bildungsprozess immer wieder gege n gesellscha ftliche und institutionelle Fr emdregulienmgen zu ö ffnen, ist wesen tlich eine Aufgabe did aktischer Reflexion . Im Falle des Portfolioansatzes geht es vor diesem Hintergrund darum, Lehre nde dabei zu unterstützen , die Implikationen der Methoden, Techniken und Prinzipien zu reflektieren und \'Vege aufzuzeigen , wie Selbststeuerung immer wieder zur Selbstbestimmung hin übersch ritt en werden kann . I Thomas Hä cker
Umsichten
Bildung, Visualität, Subjektivierung Sichtbarkeiten und Selbstverhältnisse in medialen Strukturen Benjamin J örissen
E s ist ein un gewöhnliches Phänomen - im du rchaus blutigen Schnittfeld von Körper und Körperno rm auf der einen Ac hse , von medialer Ö ffent lichkeit und intimster Selbstbe ziehung auf der anderen -, dem der H isto riker, Kulturwissen sch aftler und Medienforscher Mark Poster sich im Rahmen eines Aufsatzes widmet, den ich als Moven s meiner nachfolgenden Überlegungen kurz referiere und an den ich mit eine r bildungstheo retis chen Perspektive ansc hließe n möchte (vgl. Poster 2008). Poster wid met sich eine m TV-Genre, das in den 2000er-Jah ren au fgeko mme n ist, schnell an Popularität gewo nnen hat und in diversen Fo rmaten realisiert wu rde : Di e Rede ist von Reality-TV-Shows üb er kosmetische Chirurgie . E xtreme Makeovers, Sun, Sea and Silicone, 10 u arJ- Younger und - von Poster in sbesondere berüc ksichtigt - The Slvan (USA, FOX, 2004) un d I wanta Famous Face (USA, MTV, 2004) sind die Titel derar tiger Serien, die auch in Deutschland ausgestr ahlt und adaptiert wurde n . Man kann, so Po ster, »sich diesen Programmen leicht zuwende n als elenden Beispielen für Patriarchat, kapit alistisch e Ideologie, neolib erale Marktkultu r, qu älend schlechten G eschmack, bedauernswert e Masse nkultu r. beschämen de Aus be utu ng, Publikum srnanipulation, hetero sexu elle N ormativität, postmoderne Vorste llungswelt, dekaden te am erikani sche Zivilisation, unerbittliches Sperrfeuer mit Bildern von Schönhe it, Narzissmu s der Konsumenten, Stump fsinn, eine Kultur ob erflächlichen A müse me nts usw « (2008: 202 [) . Was Poster aber int eressiert, ist nicht Kultur- und Medienkritik in diesem Sinne; vielmeh r geht es ihm um die diesen Formaten inh ärente, seh r auffällige Verbindung vo n Medienkultur eine rseits und Selbs tverhältniss en - die m an mag kosmetische Chir urgie beurteilen wie man will, ohne Zw eifel eine Kernthematik dieses Feldes ausmachen andererseits. Die beiden Fo rmate The Swan und I want a Famous Face weisen bedeutende Unterschiede auf, wie Poster au fzeigt . In The Swan wird, dem Mo tiv des .H assliche n E ntlein s- entspreche nd, der individuelle T rans formatio nsp rozes s ausgrei fend orga-
T. Meyer et al. (Hrsg.), Kontrolle und Selbstkontrolle, DOI 10.1007/ 978-3-531-92722-0_3, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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hierfür wich tige K onzep te aus dem \Verk Michel Fo ucaults erläute rt , die einerseits mit der visuellen Ko nstellatio n, ande rerse its mit dem bereits angeklungenen Thema des Selbstbezugs in Verbindung steh en.
Exkurs: Vom Disziplinarsubjekt zu Praktiken der Selbstsorge D ass .Sub jekrivit ä« sich nicht um standslos mit .Freiheir- und .Selb stmä chtigke ir- ko nno tieren lasse, ist ein Topos, der bereits seit üb er zweihundert Jahr en den Diskur s um das m od erne Individuum begleitet wie ein - nach wie vo r überwiegend ungeliebt er und wenig vers tandener - Schatten (vgl. Taylor 1996; Gödde 2000; Lütkeh aus 2005). Als Vollzu g der reflexiven Bezi ehung auf sich bleib t das (egologisch , also vom singulären Ich her ged ach te) Subjekt eine par adoxale Figur (wie an den mod ernen Selbs tbew usstseins theo rien ablesba r; vgl. Frank 1991). Das Subjekt ist nur scheinbar das .Z ugrundeliegende- (wie es in seine r E tymologie als hypokeimenon bzw. subiectum in eine r bestimmten Lesart anklingt) , denn es kan n sich in seiner E xistenz nicht aus sich selbst heraus, also aus der reflexiven Selbstb eziehung heraus, begründen , wie beispielsweise H eidegger in Sein und Zeit mit große r Wirkung auf die nachfolgenden Sub jekt diskurs e aufgezeigt hat." Im Anschluss an die dami t ange deute te nietzsche anisch-h eideggerianische Linie der Subjektkritik hat Michel Foucault das Subjekt als E rgebnis einer zugru ndeliegenden subjek tivierenden Macht,3 die in gesellscha ftliche n D iskur sen, Pra xen und Dis positiven sich manifestiert , th ematisiert: als sub -iectum nicht im Sinne des -Un rer-Liegende n ., sondern vielmehr des .Unrerwo rfene nc G enauer: als in der unauflösbaren Doppelstruk tur dieser beiden Bedeutungen vo n Z ugru ndeliegen und Unterwerfen (Ricken 2004 : 135) je und immer wieder aus Akten der Unte rwerfung Entstehendes. Die -Mach t. des Subjekts verdankt sich aus dieser Perspektive sowohl system atisch als auch sozialisatorisch, ja ontogenetisch zu den kend en Un terwe rfungspro zessen, die in den performativen P raxen des Alltags immer Vgl. Il eidegger, Sein und Zeit (I leidegger 1993), § 10. Ich möchte an dieser Stelle nicht im Detail erläutern, was im erzieh ungs wissenscha ftliehen Diskurs mitt lerweile als bekannt vorausgese tzt werden kann (vgl. bspw Ricken / Rieger-Ladich 2004; Pon gratz/ Wimmer /Nieke/l\!a sschc1ein 2004; Weber /Maurer 2( 06): dass der fou caultschc Machtb egriff nicht mit I Ierrschaft, po litisch er Macht etc. gleichz usetze n ist, sondern auf der Eben e gesellschaftlicher Pra xen ansetzt; dass Mach t in diesem Sinne nich t ungleich verteilt, sondern überall ist; dass sie nicht restriktiv wirkt, sondern produ ktiv ist; dass sie in eine ökono mische und po litische G esellschaftsgeschicht e eingebe tte t ist, die im 18. Jahrhundert - also zeitgleich etwa mit dem Ende de Absolutismus in Europa und der Entstehung der bürgerlichen G esellschaft en - eine entscheidende Wend e erfuhr (vgl. auch : Foucault 1977; Foucault 20(5). 2
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wied er in wechselnden Ausprägung en vollzogen werden . In sofern Bildungspr oze sse immer auch als Subjektivieru ngs prozesse geda cht werde n können und mü ssen , liegt die bildungsth eo retische Relevanz dieses D iskurse s - wie immer man sich im E rgebnis in ihm positionieren mag - auf der Hand. In seinem Band Überwachen und Strafen hat Fo ucault die sozialhisto rische Archä ologie freigelegt, die dieser G en ealogie des Subjekts im Feld der Macht zugru ndeliegt (vgl. Foucault 1977; vgl. auch Eigenmann/Rieger-Ladich 2010). Foucaul t rekon struiert diese Geschich te als eine Di sziplinargeschich te, bei der die Mach t zuerst - wie im Mittel alter so auch im neuzeitlichen Europa - am K örper an setzt; un ter anderem be kanntermaßen in Form der .pcinlichcn Strafen., also öffentlicher tö dliche r Folterungen und Hinrichtungen . Er be schreib t eine enorm e Veränderung die ser Strafpraxis inn erh alb eine s Ze itraums von nur etwa 20 Jahren am E nde des 18. Jah rhunderts. Di e peinlich en Stra fen und öffentlichen Manifestat io nen der absoluten (göttliche n und weltlich en) Mächte weichen zunehme nd Kontrollinstitutio nen - K linik, Militär, Sch ule, G efängnis - , die weitgehend ohne solche Maß nahme n auskomme n, ind em sie Individuen ers t .individualisieren . - also Dossiers üb er sie anlegen, in den en E ntwicklungsverläufe minutiö s verzeichnet werden - und diese qua si administrative Perspektive auf da s Selbs t als Vergleichs ba sis zu normiert en Standards verwende n . D ie historische List der Vern unft besteht nun darin, dass die E inzelnen selbst in den no rmierenden Vergleich eintre ten (wer sieht, wie Grundschüler lernen, ih re T ätigkeiten als mit eine r Zahlenskala bewertbare Leistu nge n zu bet rachten , wird die Aktua lität dieses Skripts leicht nach vollziehen kö nnen) . E ine Selb stbez iehung entsteht, in der die Individu en sich im Rahmen von Skalen, Listen, Reihungen einordnen und selbst messen : Sie be trachten sich mit den Augen anderer, genauer gesagt: eines normierenden, abs trakte n, nich tsde stoweniger (wie m an durchaus in Ans pielung auf G.H . Me ad sagen kann) .sign ifikanten- Ande ren . Prototypisch für diese tiefg reifende und in Bez ug auf heutige Persö nlichkeits form en und -no rmen enorm bedeutsame Ums tellung , in der da s moderne, mit eine r verinnerlichten , kontrollförmigen Selbstbe ziehung -ausge stattete , Subjekt auf der historischen Bildfl äche erschein t, ist eine architektonische Stru ktur, die zeitgleich aufkam: da s »Panop tikon«, de ssen Id ee der utili tari stische Sozialphilosoph Jeremy Ben tham (1748- 1832) formuliert hat. Das Panoptikon ist nichts anderes als »eine Maschine zur Scheidung des Paares Sehen /Gesehen werden« (Fo ucault 1977: 259): Während die Inhaftierten jederzeit in
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Die panop tisch e Struk tur steht als disziplinäre Machttechno logie im Zeiche n eine r H errschaftsform , die üb er den Weg der subjektivierende n Individualisieru ng »p ro du ktive Subjekte« verfer tigt (vgl. Foucault 1974). Die vo n Fo ucaulr in Übenvachen und Strafen he rausges tellte »Disziplinargesellschaft« etablierte au f ver schiedene n E benen E nsem bles vo n Praxen der permanenten Selbst befragung (Selbstein schätzung, Selbs tbewertung, Selbstko ntro lle), die letztlich auf ein no rmi erendes Wahrheits spiel hin auslaufen (vgl. Foucault 1977: 236ff.) - auf die Suche der Wahrhe it eines -inneren Selbst<. Die ses Selbst, das als Innerlichkeitsidee eine eigene G eschichte aufweist, die zur Ze it de r -Empfindsamkcir . und -Roman til« wesen tlich artikuliert wurde (vgl. Taylor 1996) - und das von Men schen, die in einer be stimmten sozio-kulturell-his torischen Lagerung aufgewachse n sind, als etwas vollkommen N orm ales, ja .N at ürliches . ange seh en wird - , wird somit durch ents prechende, in un terschiedlichen Kontexten von den Individuen selbst immer wieder eingeübte Befragungspraktiken analoge n Muste rs ers t als solches hervo rgeb racht (vgl. etwa zur Aktualität des G eständ nisses: Reichertz/ Schn eider 2007). Subjektivieru ng ers che int im »panoptische n« Modus als E ffekt einer gese llschaftlichen Praxis, die wesen tlich auf der Internalisierung des fremden, normierenden Blicks beruht. Das mit eine r spezi fischen Form des Inneren , mit einer spez ifische n H altung der Selbstbefragung ausgestatte te Subjekt steht - vielmehr, entsteht - in einem Feld der Sichtbarkeit, das man dah er als peiformativ bezeichnen kann (\'Vulf 2005). Visualität, Macht und Reflexivität erscheinen darin als untren nb ar mit einand er verbunden . In sofern existiert eine verzweigte (mediale) G eschich te der Ordnungen des Visuellen, des Sehen-\'Vollen s, G eseh en-werd en -\'Vollen s und des Sich-zu-sehe nG ebens, von der ausgehe nd sich die Fr age nach medialen Bildungsarchitekturen als Fr age nach den von ihnen im plizier ten Sub jektivieru ngsweisen, und im Anschluss da ran, nach den impli ziert en Bildungspotenzialen, stellen lässt. Jedoch bleiben wir - mit Mark Poster - nicht bei dieser histo risch begren zten Dia gnose einer subjektivierenden D isziplinargesellscha ft stehe n. Foucault hat in seinen spä teren Arbeiten nach \'Vegen gesucht, wie sich Selbstbe ziehunge n auß erhalb dieser Form von Unterworfenheit denken lassen . Er suchte im Rückgang auf an tike Selbstpraktiken alternative Fo rmen von Selbs tverhältnissen , die er, wie hier nur ange deutet werd en kann, un ter dem Titel Die Sorge um sich dargelegt ha t (Foucault 1989). E s geht dab ei letztlich um die Frage, wie Strategien aussehen könnten , welch e die Unterwe rfung unter relativ persistente od er gar zementierte H errschaftsverh ältniss e durch Selbs tbem ächtigu ngss tra tegien unterwand ern ; also darum, einen Modus des
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Benjamin Jörissen
Spiels mit Ma cht zu finde n, welche r er möglicht, sich nicht in der herrschaftsseitig angedacht en Ar t und \V'eise zu un terwerfen : »nicht auf diese \V'eise und um diese n Preis regie rt zu werd en« (Foucault 1992: 12; vgl. Maurer /Weber 1996). Denn .Macht: ist für Fouc ault un vermeidbar; sie ist üb erall, nich t nur auf der Seite der Herrschenden (so m an die se überhaupt noch identifizieren kann). Mac h t impli;;jert soga r, wie Foucault be ton t, Freihei t - denn sie rich tet sich nich t dir ekt auf Individuen od er O b jekte (wie es bei der Gewalt der Fall ist), so ndern sie rich tet sich auf Handlungen, H andlungsspielräume, H andlungsoption en, H andlungsmuster. In sofern solche Bestimmung en von H andlungsweisen nur .mit- und nich t gegen Individuen vollzogen werde n kö nnen, mu ss die Macht diejenigen, auf die sie abzielt, als in diesem Sinne freie Subjekte anerkennen : E s kann »Machtbez iehungen nur in dem Maße gebe n [...], in dem die Subjekte frei sind . [... ] D as heißt, dass es in Machtbez ieh unge n notwendigerweise Möglichkeiten des Wide rsta nds gibt« (Fo ucault 2005 : 288). Ma cht kann also aufgrund der »irritierende n G egenläufigkeit« vo n Subjektivieru ngsp rozessen (RiegerLadich 2004 : 214) gewendet bzw. um gewendet werd en ; der Punkt ist dabei der, da ss Individuen ihr eine andere Rich tung als die ang edach te geben müssen, wollen sie nich t dazu beitragen, H err schaftsverhältni sse durch deren permanente Wiederholung zu begünstigen oder zu perp etui eren : E s geht weniger um einen ein maligen Akt der Befreiung, sondern um »Praktiken der Freihe it«, welche die Ma chtve rhältnisse verflüssigen und fluide Machtver hältnisse ko ntro llieren (Fo uca ult 2005 : 274ff.). In diesem Sinne zielt Foucault also ab auf Praktiken der Freiheit als »E inwirkungen des Subjekts auf sich selbs t, durch die man versuch t, sich selbst zu bearb eiten, sich selbst zu tran sforrnieren« (ebd.: 275). Solche alternativen Formen der Selbstregieru ng sind es, die Foucault im Rückgang auf die antike As kese und Diätetik sucht. D abei handelt es sich durchaus nicht um Vorschriften, die auf die Kon stitution eines In neren nach xmodernem . Muster zielen . E s geht weder um .Sclbstfindung- noch um .Selb stausdruck- oder um .Selbstsuche . im Sinne de s Aufdeckens einer verborgenen inneren \V'a hrheit; dennoch geh t es um eine Steigeru ng und Intensivierung der Selbs tbezichung, die der Idee eine r -sch önen . oder >guten