Auf der Weltkarte liegt Australien wie ein abgedrifteter Kontinentalbrocken abseits im Ozean. An dieser geographischen ...
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Auf der Weltkarte liegt Australien wie ein abgedrifteter Kontinentalbrocken abseits im Ozean. An dieser geographischen Isolation liegt es wohl auch, daß sich das Image des fünften Kontinents noch immer auf Klischees reduziert: auf Känguruhs und die putzigen Koalabären zum Beispiel oder jenen schlaksigen Typen namens Crocodile Dundee. Helga und Jürgen Bertram, als Korrespondenten viele Jahre lang zuständig für diese Insel, zeichnen dagegen ein facettenreiches und differenziertes Australien-Bild. Mit ihrem Geländewagen den Pisten der Pioniere folgend, sprachen sie mit Opalschürfern, Schafscherern und Kamelfängern, mit Kneipiers und Historikern, mit Lokalpolitikern und Farmern, die heute noch gegen eine Dürre und morgen schon gegen eine Flut kämpfen müssen. Leitlinie der abenteuerlichen Tour von rund 8000 Kilometern war der Stuart Highway, der von Darwin im tropischen Norden durch rostrote Trockenzonen schnurgerade hinunterführt an die Küste im Süden. Indem sie bizarre Landschaften und außergewöhnliche Menschen mit gleicher Intensität beschreiben, wollen die Autoren vor allem ein Gefühl für das australische Outback vermitteln, wo das Herz des faszinierenden Erdteils schlägt. Sie erzählen, wie es ihnen selbst dort ergangen ist, was sie erlebt haben – und entwerfen bei aller Sympathie für die »Aussies« und ihr Land kein romantisches, kein unkritisches Porträt Australiens.
Helga Bertram 1942 in Stendal geboren, arbeitete, bevor sie 1983 mit ihrem Mann nach Asien ging, als Journalistin für Tageszeitungen und Illustrierte. Während ihres achtjährigen Aufenthalts in China erarbeitete sie zahlreiche Fernsehdokumentationen zu kulturellen und historischen Themen. Ihr Buch »Der lange Marsch ins Himmelreich« setzt sich mit der Situation der chinesischen Frauen auseinander.
Jürgen Bertram 1940 in Fürstenwalde geboren, war anderthalb Jahrzehnte Auslandskorrespondent der ARD in Skandinavien, China und Südostasien; zur Zeit leitet er die Redaktion Ausland und Feature beim NDR-Fernsehen in Hamburg. 1980 veröffentlichte er das Buch »Kamerad Hasso« über das »Deutsche Wesen Schäferhund«; 1994, zusammen mit seiner Frau Helga, den kritischen China-Report »Im Reich der roten Kaiser« und 1996 den Reportagenband »Asien atemlos«.
Helga und Jürgen Bertram
Mit dem Jeep durch das Never-Never-Land
Rasch und Röhring
Die Deutsche Bibliothek – CIP-Einheitsaufnahme Bertram, Helga und Jürgen: Australien, Wildwest. Mit dem Jeep durch das Never-Never-Land / Helga und Jürgen Bertram. – Hamburg: Rasch und Röhring, 1998 ISBN 3-89136-687-6 Copyright © 1998 by Rasch und Röhring Verlag GmbH, Hamburg, Großer Burstah 42, 20457 Hamburg, Fax 040-371389 Umschlaggestaltung: Peter Albers, unter Verwendung eines Fotos von Klaus-D. Francke / Bilderberg. Satzherstellung: KCS GmbH, Buchholz/Hamburg Druck- und Bindearbeiten: Druckerei zu Altenburg Printed in Germany
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INHALT 7 Vorwort 11 „Tapfer, Sweatheart, warst du bis in den Tod“ Erste Etappe: Von Darwin nach Kakadu 31 „Wir vom Never-Never-Land ...“ Zweite Etappe: Von Kakadu nach Daly Waters 47 „Wenigstens eine Postkarte hätte sie schreiben können“ Dritte Etappe: Von Daly Waters nach Heartbreak 58 „Und über unseren Köpfen regnet es Bumerangs“ Vierte Etappe: Von Heartbreak nach Alice Springs 76 „Kamele haben Charakter“ Fünfte Etappe: Von Alice Springs nach Kings Creek 96 „Ich finde, dieses Land hat Größe“ Sechste Etappe: Von Kings Creek nach Curtin Springs 125 „Weißer Mann im Loch“ Siebte Etappe: Von Curtin Springs nach Coober Pedy 181 „Wie vom Himmel gefallen...“ Achte Etappe: Von Cooper Pedy nach White Cliffs 218 „Der verdammte Brunnen gab uns den Rest“ Neunte Etappe: Von White Cliffs nach Bourke 280 „Mein Gott, 8000 Kilometer...“ Endstation: Sydney 282 Karte
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enn uns, irgendwo im Outback, abertausend Fliegen umschwirrten oder sich der Staub der rostroten Piste bedrohlich auf die Bronchien legte, dann haben wir uns durchaus gefragt: Warum ausgerechnet Australien, immer wieder Australien? Wenn aber unterm lila gefärbten Abendhimmel ein Schwarm kreischender Kakadus im Zickzack seine Formationen flog oder, an der südlichen Küste, das Meer mit Macht gegen die Steilfelsen schlug, dann haben wir uns gesagt: In diesem Land, das so sanft sein kann und so dramatisch, sollte man nicht nur seine Ferien verbringen, sondern vielleicht auch seinen Lebensabend. Vierzehnmal sind wir als Urlauber oder als zunächst in Peking und später in Singapur stationierte Korrespondenten kreuz und quer durch den fünften Kontinent gereist – und am Ende kristallisierte sich aus den ambivalenten Eindrücken stets ein positives Bild heraus. Das lag nicht nur an den grandiosen Landschaften und an der beispiellosen Flora und Fauna, sondern auch an der ausgeprägten Freundlichkeit der Menschen: am rustikalen Charme der Serviererin im Wüstencafe, an der Behutsamkeit der Autofahrer vor einem Zebrastreifen, in der auf Pioniergeist beruhenden Hilfsbereitschaft, wenn man mit seinem Jeep mal
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wieder in einer Düne oder in einem Flußbett steckengeblieben war. Wir beschreiben in unserem Buch die letzte unserer großen Touren, die im Norden im tropischen Darwin begann und nach etwa siebentausend Kilometern in Australiens Wildem Westen, in einem Kaff namens Bourke, endete. Kernstück der Reise ist die Nationalstraße Nummer 1, die »Piste der Pioniere«, auf der einst Eroberer und Landvermesser, Viehtreiber und Goldgräber ins Herz des gigantischen Kontinents vordrangen und die über Hunderte von Kilometern so schnurgerade verläuft, daß sie eins wird mit dem Horizont. Wir führen den Leser also nicht in aufstrebende Städte wie Sydney oder Perth, die durch die ästhetische Gleichmacherei im Zuge der architektonischen Globalisierung längst den Metropolen Amerikas ähneln, sondern in eine Szenerie, die – mit all ihren Fährnissen und Schroffheiten – einzigartig ist in der Welt. Unsere Helden sind mithin nicht Banker im Nadelstreif oder feinsinnige Repräsentanten des australischen Kulturbetriebs, sondern die vierschrötigen, oft auch schrulligen Charaktere der Wildnis: Farmer, die mit ihren Frauen und Kindern gegen eine jährelange Dürre kämpfen; Opalschürfer, die im Dunkel der Schächte ihr Glück suchen; Schafscherer, die, hart arbeitend und hart trinkend, von einer Station zur anderen ziehen. Wenn eine schillernde Vita den Rahmen der Reportage sprengte, haben wir die Schilderungen zu einem Protokoll zusammengefaßt, das das jeweilige Kapitel ergänzt. In den vielen Pubs, in denen wir mit so manchem Zecher an der Theke standen oder Darts auf die Scheibe warfen,
Vorwort
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vernahmen wir auch so manches reaktionäre Wort: abfällige Bemerkungen über die Aborigines zum Beispiel, die Ureinwohner des Kontinents, die dem Vorwärtsdrang der weißen Pioniere weichen mußten und müssen. Diese irritierende Attitüde werden wir keineswegs verschweigen. Denn bei aller Sympathie für das Land wollen wir kein romantisches, kein unkritisches Porträt Australiens zeichnen. Hamburg, im Sommer 1998 Helga und Jürgen Bertram
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„TAPFER, SWEETHEART, WARST DU BIS IN DEN TOD“ Erste Etappe: Von Darwin nach Kakadu
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s ist eine gedankliche Schinderei, nach einer langen, langen Flugreise die Eindrücke zu ordnen. Die gelben, die roten, die blauen Astern – ja, die welkten, spätherbstliche Melancholie verbreitend, in den Vorgärten Hamburgs. Aber die klobige Kaffeemaschine, die fauchend und brodelnd ihr braunes Gesöff mixte ... stand die bei unserem Zwischenstopp in London in der Bar? Oder war das schon in Singapur? Die bläßliche, vom nahen Tod gezeichnete Frau im Rollstuhl, den eine Krankenschwester geistesabwesend durch ein Labyrinth von Gängen schob ... Singapur? Hamburg? London? Der würdige Herr mit dem Turban, das Mädchen mit den bunten Schmetterlingen auf dem Tornister, die Gruppe fröhlicher Sportler ... wo? Nun also, nach mehr als 16 Stunden Flug: Darwin. Darwin, Australien; Northern Territory. Die Flughafenuhr springt auf zehn vor fünf, zehn vor fünf morgens. Den Reisepaß, bitte. Das Zollformular, bitte. Sind Sie zum erstenmal in Australien? Zu den Taxis nach links. Rot, gelb, grün ... gelb, rot, gelb, grün. Die Augen, ermattet von der Reise, haben Mühe, dem Farbtakt der Ampeln zu folgen. Welcome im »Topend-Motel«. Den Anmeldezettel ausfüllen, bitte. Geboren am, geboren in.
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„Tapfer, Sweetheart, warst du bis in den Tod“
Tag der Anreise: 28. 10. Tag der Abreise: 30. 10. Zimmer 312. Jetzt schlafen ... Nein, man kann nicht schlafen in diesen Momenten, in denen die Fetzen der Erinnerung sich mischen mit den flüchtigen Impressionen einer Ankunft, in denen Neugier und Trance miteinander kämpfen. Ein Bier aus der Minibar, ein Blick aus dem Fenster: Der Morgen graut. Das Meer, der Strand, die Bäume und Büsche, eben noch in Dunkelheit gehüllt, gewinnen, unwiderstehlich, an Kontur. Auf dem Titel der Broschüre, die in der Schublade des Nachttisches zwischen dem Branchenadreßbuch und der Bibel liegt, glänzt die tropische Szene im Sonnenlicht. Türkis funkelt der Ozean. Die Palmen strotzen vor grüner Kraft. Feurig leuchten die Blüten der Bougainvilleas. Man blättert. Man döst. Man nickt ein, wacht auf, blättert, liest: »Wie man Zyklone überlebt. Fakten, Warnsysteme, Schutzmaßnahmen ... Zyklone entstehen in tropischen Tiefdruckgebieten. Ein tropischer Zyklon kann von zwei Tagen bis zu zwei oder drei Wochen dauern. Kategorie 1 (weniger als 125 Kilometer pro Stunde): geringfügige Schäden an Häusern, Bäumen und Wohnungen ... Kategorie 5 (mehr als 280 Kilometer pro Stunde): höchste Gefahr, flächendeckende Zerstörung. Lernen Sie, mit dem Zyklon zu leben; handeln Sie jetzt.« Der Ventilator surrt, spielt mit der Gardine, gibt dem Blick immer mal wieder ein Fragment der Umgebung frei: eine Palmenkrone, die schwer an ihren Früchten trägt ... ein Boot, einen weißen Erker, einen Leuchtturm, eine Laterne, eine Möwe, die unterm milchigen Himmel segelt – eine Melange ohne Ordnung und Sinn, montiert von den Launen eines Luftzuges.
Erste Etappe: Von Darwin nach Kakadu
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Ein Gecko flitzt die Decke entlang. Er hält inne, erstarrt, schnappt sich ein Moskito. »Verhalten nach dem Zyklon: Vorsicht vor heruntergefallenen Stromleitungen, zerstörten Gebäuden, entwurzelten Bäumen, überfluteten Rinnen. Gehen Sie nicht auf die Straße.« Ein Foto zeigt Darwin als riesige Ruine. Unter dem Foto steht: »Zyklon Tracy, 1971.« Man blättert, träumt, wacht auf, hastet die Treppe hinunter, begrüßt, gierig und glücklich, den Tag. Der Tag ist heiß, schwül, grell. Nichts bewegt sich auf der Straße vor dem Motel, nichts in dem Park zwischen der Straße und dem Ozean. Doch: Große schwarze Ameisen krabbeln, in irren Kurven, über die Wege; und wo ihr Zug über eine Reihe grauer Gedenksteine führt, bildet ihre triebhafte Nervosität einen eigentümlichen Kontrast zu den Symbolen der Ewigkeit. »Gedacht«, so lautet ein Hinweis, »wird hier zweihundert Männern und Frauen, die nie im Rampenlicht standen, die gleichwohl repräsentativ sind für die Vitalität und die Stärke des Northern Territory.« Sie alle seien, so heißt es weiter, »quiet achiever«, Helden des Alltags. Die Fächer der Palmen knistern im Wind. Die Wölkchen über dem Ozean verfärben sich rosa. Der Abend naht. Auf die Gedenksteine sind die Namen und die Berufe der Pioniere gemeißelt. Die Dämmerung beflügelt die Phantasie. »Larry Wilkinson, bushman.« Wie viele Känguruhs, Larry, hast du geschossen? Wie viele Waldbrände hast du erlebt? Warst du ein einsamer, ein fröhlicher, ein frommer Mann?
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„Tapfer, Sweetheart, warst du bis in den Tod“
»Mahomet family, cameleers.« Richtig: Es waren afghanische Kamele, die bei der Eroberung des Kontinents die Lasten trugen. Und kamen nicht auch die Kameltreiber aus Afghanistan? Die Mahomets gehörten bestimmt dazu. Ob die Familie, als ihre Mission beendet war, zurückgekehrt ist in ihre Heimat? Oder liegt sie im schattigen Eckchen eines australischen Friedhofs begraben? Oder ward sie, wie Heinrich Heine über das Ende eines rastlosen Wanderers dichtete, »irgendwo in einer Wüste eingescharrt von fremder Hand«? »David Gulpilil, dancer.« Tänzer ... wo? Im Provinztheater von Darwin? In einem der Casinos unten am Hafen? In den Kaschemmen eines Kaffs voller Goldgräber? Hast du, als Gigolo, beim Walzer die Witwen betört? Oder gehörtest du zu den Rauhbeinen, die bei den Festen der Farmer für Stimmung sorgten? »Wanjun Mununggurr, tribal leader.« Führer eines Stammes ... das muß ein Aborigine, einer der Nachfahren der schwarzen Ureinwohner Australiens, gewesen sein. Wohin wird er seinen Stamm geführt haben? Zu den Wurzeln der eigenen Kultur? In die Abhängigkeit von den weißen Siedlern? Hat ihn, wie so viele dieser entfremdeten Menschen, der Suff dahingerafft? »Roger Jose, eccentric.« Was, um Himmels willen, war an diesem Mann so exzentrisch? Daß er in Frauenkleidern über die Trottoirs von Darwin trippelte? Daß er beim Turf aus Daffke auf Pferde setzte, die nie eine Chance hatten? Daß er sich als Haustier ein Krokodil hielt? »Vally Langdon, mounted Policeman.« Wie viele Verbrecher hat er gefangen? »Farquhasson brothers, stockmen.« Wie viele Rinderherden habt ihr über die Steppe ge-
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trieben? »Oliver Pink, anthropologist.« Zu welchen Erkenntnissen über die Menschheit ist er gekommen? »Hugh Watson Christie, lighthouse keeper.« Wie viele Schiffe sind an seinem Leuchtturm vorbeigezogen? »John Hargrave, leprologist.« Hoffentlich, Doc, haben Sie viele Kranke geheilt. Am Kiosk locken, in aufreizendem Rot und Schwarz, die Schlagzeilen der »Northern Territory News«: »Die erste Zyklon-Warnung dieser Saison« – »Motorradfahrer verdurstet in der Wüste« – »Büffel nimmt Ehefrau auf die Hörner«. Schlagzeilen machen süchtig. »Die Verkäuferin Camille Wootten, 48, berichtete gestern unserem Reporter, wie ein Büffel sie in die Luft schleuderte und aufzuspießen versuchte. Sie erklärte, sie sei nur deswegen mit dem Leben davongekommen, weil ihr Mann das wütende Tier mit seinem Landrover gerammt habe. ›Ich dachte, das war’s‹, sagte uns Mrs. Wootten von ihrem Krankenbett. ›Aber ich wollte noch nicht sterben.‹« Unser Auto ist ein Landcruiser. Würde er es mit einem Büffel aufnehmen? Aber ja. Auch mit einem Nashorn. Oder einem Elefanten. So wuchtig, so stark, so vertrauensvoll wirkt das Gefährt, dessen Qualitäten uns der Verleiher voller Stolz erläutert, daß man ihm spontan einen Namen geben möchte: Billy oder Harry, Tarzan, warum nicht Herkules? Ein Kosename für ein Auto? Das ist sentimental, spießig. Schließlich ist unser Landcruiser kein Mensch, sondern eine Maschine. Seine Haut ist aus Stahl, sein Herz ein Motor. Nicht Blut fließt durch seine Adern, sondern Benzin. Wir nennen unser Auto Cäsar.
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„Tapfer, Sweetheart, warst du bis in den Tod
Von Krokodil gekidnappt – die Geschichte der Valerie Plumwood Auf die Piste, endlich auf die Piste. On the road again, on the road again ... fünf Wochen und vier Tage, siebentausend, achttausend und vielleicht ein paar Kilometer mehr: »On the road again«. Obwohl wir in Darwin noch auf ein paar Ampeln achten müssen, summen wir schon Willy Nelson’s Hymne auf den Highway. Unser Highway ist die Piste der Pioniere. Und die führt, nach dreieinhalb Stunden Fahrt, mitten in ein Paradies. Das Paradies heißt »Kakadu National Park«. Das Areal gehört, so lehrt der Reiseführer, zu den »einmaligen Weltschätzen der Natur« und stehe deswegen unter dem Schutz der Vereinten Nationen. Sein Plateau aus Sandstein, so heißt es weiter, »wurde in mehr als 2000 Millionen Jahren geformt«. Ungefähr 20 000 Quadratkilometer umfasse der Park, der »eine riesige Vielfalt an Flora, Fauna und ökologischen Systemen« biete. Reiseführer sind aus Papier. Der Park duftet, dampft, lebt. Wir mieten uns ein Boot, fahren den South Alligator River hinunter, mit seinem Netzwerk aus Nebenflüssen die Lebensader dieser tropischen Landschaft. Der South Alligator River ist nicht eingezwängt in ein festes Bett, sondern tritt immer wieder über die Ufer, vereint sich mit Teichen und Wiesen, schwappt um Bäume und Blumen, formt hier Bänke aus Schlamm, dort glucksende Strudel. Die Natur setzt keine Grenzen in dieser Gegend. Sie vermittelt ein beglückendes Gefühl von Unendlichkeit und erweist sich im Detail als perfekte Dramaturgin, indem sie
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die Elemente gleichsam miteinander verwebt und konkurrieren läßt, Stimmungen wechselt und wiederholt, Farben changiert, Töne variiert. Die elementaren Bewegungen sind harmonisch, sind sanft in diesem Garten Eden. Unser Boot gleitet. Und im Gleitflug späht der Bussard nach Beute. Die Wölkchen, die sich im lindgrünen Wasser spiegeln, schweben. Lotusblätter, geformt wie Grammophone, wippen im Wind. Teppiche weißer Seelilien treiben schwerelos den Fluß hinab. Als fürchte sie, ihr Werk könne zum Idyll geraten, setzt die Natur dem Zarten die Zäsur entgegen, schafft sie Spannung durch den Kontrast. Zwischen den knorrigen, kahlen Eukalyptusbäumen breiten sich Felder lieblicher Anemonen aus. Durch das modrige Chaos der Mangroven flattern Schmetterlinge, flirren Libellen, hüpfen bunte Vögelchen. Der Reiher, der eben noch stoisch am Ufer stand, sticht, im Bruchteil einer Sekunde umgepolt von Trance auf Trieb, seinen spitzen Schnabel wie eine Harpune ins Wasser, schüttelt und rüttelt einen zappelnden Fisch, schlingt ihn hinunter. Wie ein Wesen aus fernen Welten watet ein Marabu, ein riesiger, ungelenker, Melancholie verbreitender Vogel, durch ein Geflecht aus Gräsern und Moos. Wo der Fluß sich ausweitet zu einem See, den Bambus säumt, intoniert die Schöpfung an diesem Tag den Schlußakkord. Kolonien von Schwänen, Gänsen, Störchen, Reihern, Pelikanen haben sich zu einem wilden Ballett in Weiß versammelt. Es schnattert und flattert und klappert. Gebalzt wird, gezischt. Es fliegen die Federn, und die Schnäbel schlagen gegeneinander. Hälse recken, Flügel
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spreizen sich. Die Abendsonne besänftigt den archaischen Akt. Wenn eine Gruppe der ausgelassenen Vögel ins Gegenlicht gerät, dann umgibt die Schar das Geheimnis des Schattenspiels. Die Szenerie am East Alligator River, einem anderen Fluß im feuchten Labyrinth des Nationalparks, wirkt eher düster, an manchen Stellen sogar bedrückend. Ein dichter Mangrovenwald bedeckt die Ufer. Das Wasser ist braun und brackig. Für diese Bootsfahrt haben wir uns einer Gruppe von Touristen angeschlossen, deren Blicke fixiert sind auf die schlammigen Ablagerungen an den Rändern. Solche Bänke dienen einem Reptil als Ruheplatz, um das sich in dieser Gegend die wundersamsten Erzählungen ranken: dem Krokodil. Unser Führer gehört der Minderheit der Aborigines an, die durch solche Jobs Anschluß finden sollen an die australische Gesellschaft und die sich, da ihre Vorfahren bereits vor vielen tausend Jahren als Jäger durch diese Region streiften, auch bestens eignen für solche Aufgaben. Als unser schwarzer Begleiter, ein junger Mann von apathischer Freundlichkeit, plötzlich auf das Ufer zeigt, klicken schon die ersten Kameras. Tatsächlich: Da liegt, platt und bräsig, ein graues Krokodil auf einem Podest. Das Maul mit dem furchterregenden Gebiß hat es weit geöffnet. Wie bei den Darstellungen des Drachen überzieht ein Kamm aus Dornen seinen massigen Rücken. Daß es zur Regungslosigkeit erstarrt scheint, erhöht den Schauder nur. Schließlich hat man gestern abend im Motel gelesen, wie schnell sich solch ein müder Koloß in ein Raubtier verwandeln kann.
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Ein Ruck, eine Windung: Schon ist das Krokodil wie durch den Wink eines Zauberstabes verschwunden. Nun schlägt die Stunde des Fährmanns. Wie das Reptil, ein paar blubbernde Blasen hinterlassend, abtaucht in die unheimliche Finsternis des Flusses, schweifen die Gedanken unseres Begleiters in die mystische Welt seiner Urväter, die ihre Ehrfurcht vor dem Krokodil in Höhlenmalereien manifestierten. »So«, sagt der Bootsmann, »haben meine Vorfahren die Krokodile gefangen.« Im gleichen Moment stößt er eine Stange ins Wasser und dreht die Schlinge, die an dem Holz befestigt ist, ein paar Mal symbolisch hin und her. Dazu verzieht er, Anstrengung mimend, sein Gesicht. Als die Züge sich geglättet haben, setzt er an zu einer Serie schauriger Krokodilgeschichten. Valerie Plumwood heißt die Heldin einer dieser Stories. »Valerie Plumwood«, berichtet unser Führer, »war vor einigen Jahren mit ihrem Kanu auf einem Nebenfluß des East Alligator River unterwegs. Am dritten Tag wurde ihr Kanu von einem Krokodil angegriffen. Das Krokodil warf das Kanu um, packte die Frau, schleppte sie in sein Nest. In den meisten Fällen fressen Krokodile ihr Opfer nicht sofort, sondern legen es auf Vorrat in eine Ecke.« Unser Führer versteht sich auf Dramaturgie und legt eine kurze Pause ein. Dann fährt er fort: »Das war die große Chance für Valerie Plumwood. Sie stellte sich tot und kroch, als das Krokodil sein Nest für einen Moment verlassen hatte, aus vielen Wunden blutend in den Wald. Ein Ranger fand und rettete sie.« Das Publikum schwankt zwischen Staunen und Zweifel. »Heute«, sagt der Bootsmann, »lebt Valerie Plumwood in
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Tasmanien.« Das soll heißen: Was ich erzähle, kann jeder nachprüfen. Fragt Valerie Plumwood doch selbst, ob die Geschichte wahr ist. Die Story stimmt – und das gilt auch für die Geschichten in den vielen Büchern, die Heimatschriftsteller über Krokodile geschrieben haben. Eines dieser Werke handelt von »Sweetheart«, einem – wie auf dem Cover verkündet wird – »furchterregenden Riesenkrokodil, das im Northern Territory in den siebziger Jahren mehr als 15 Boote attackierte«. Eine Seite ist den wichtigsten Stationen und Eigenschaften dieses Krokodils gewidmet. Die Liste liest sich wie ein Steckbrief: »Länge: 5,1 Meter. Gewicht: 780 Kilogramm. Alter: 40 bis 80 Jahre. Besondere Kennzeichen: Kopf voller Narben, linkes Auge zerstört, weggebrochene Zähne.« Die Tabelle der Attacken füllt eine ganze Spalte. »November 1976: Ken Philips entdeckt ›Sweetheart‹ neben seinem Boot. ›Sweetheart‹ greift an und liftet das Boot aus dem Wasser... 15. September 1978: ›Sweetheart attackiert Boot von Brian Cowan und George Tsakissiris. Boot aufgeschlitzt. Brian und George retten sich ans Ufer ... 1979: ›Sweetheart‹ wirft Boot von Carl Blumanis und Dick Gleissner um ... 28. Mai 1979 abends: ›Sweetheart‹ greift den Motor des Bootes von Dave Lindner an.« Unter dem Datum 19. Juli 1979 heißt es dann erlösend: »›Sweetheart‹ gefangen.« Und nach einer detaillierten Schilderung des Mageninhalts (»Knochen und Kiefer von Schweinen, zwei große Schildkröten«) widmet der Autor seinem Helden ein Gedicht:
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Sweetheart, Sweetheart, du gepanzerter Riese, du großes, graues Krokodil, tapfer warst du bis in den Tod, und unangefochten bis zum Ende warst du der Herrscher der Flüsse. Sind nicht wir Menschen eingedrungen in dein Reich? Und hast du nicht nur dein Reich geschützt? Die Geschichte soll urteilen ob du eine Bestie warst oder ein Held. Die Zeilen mögen ungelenk anmuten, naiv, sentimental. Und doch offenbaren sie ein bedeutsames Phänomen, auf das wir bei unserer Tour durch das ländliche Australien immer wieder stoßen werden: die von Furcht und Ehrfurcht gleichsam geprägte Haltung der Menschen gegenüber der Kreatur, vor allem der ungezähmten. Und je unwegsamer, geheimnisvoller eine Landschaft ist, desto stärker wird offenbar die Neigung, das wildeste Wesen einer solchen Gegend zum Mythos, zum Fabeltier zu verklären. In Alaska ist das der Bär, in Sibirien der Wolf, in Regionen Indiens der Tiger, im Northern Territory von Australien eben das Krokodil. »Emu, überbacken« und Adrian mit dem Didgeridoo Unsere Herberge im Nationalpark heißt »Gagudju Crocodile Hotel«. Und wie ein Krokodil ist das Hotel auch geformt. Das Menü im Restaurant bietet als Vorspeise
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»Sesam Crocodile« und als Hauptgänge andere Spezialitäten dieses ganz besonderen Kontinents: »Carpaccio vom Wasserbüffel«, »Emu, überbacken«, »Steak vom Känguruh«, »Kamel, geräuchert«. Die Getränkekarte offeriert »Crocktails«. Auf einer Empore am Rande des Restaurants hat die Direktion einen Klavierspieler plaziert. Mit der entrückten Laszivität, dieser aufreizenden Gleichgültigkeit, wie sie seinen Kollegen in aller Welt zu eigen ist, entlockt er den Tasten ein paar Hits der achtziger Jahre: »I’ve just called, to say, I love you ...« Einige Paare tanzen. Polonaisen bilden sich, zerfasern wieder, formieren sich neu, greifen sich Opfer. Die noch so frische Erinnerung an das Paradies, an den Marabu, an die Schmetterlinge, an die Anemonen, die Schwäne, die Lotusblüten, an den Bambus droht zu versickern in der Leere eines Abends, der einen dramaturgisch bislang so ausbalancierten Tag nicht krönt, sondern beleidigt. Ein junger Mann tritt in die Mitte des Speisesaales. Seine Vitalität, seine Ernsthaftigkeit wirken elektrisierend in dieser bierseligen Atmosphäre. Die Hände des jungen Mannes umklammern ein riesiges Rohr aus Holz – ein Didgeridoo, ein Blasinstrument der Aborigines. Dunkle, manchmal bedrohlich klingende, auf jeden Fall unverwechselbare Töne erfüllen nun den Saal. Die Gäste, Touristen zumeist, die sich eben noch einem kindischen Ritual hingaben, lauschen gebannt, beklatschen die Künste des Musikers. Wir beschließen, Kontakt aufzunehmen zu dem Menschen, der dem Tag die Würde zurückgegeben hat.
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Wir treffen Adrian Parker am nächsten Morgen in der Lobby. 26 Jahre sei er alt und zwei Berufe übe er aus: den des Musikers und den des Malers. An dieser Gegend faszinierten ihn nicht nur die einzigartige Flora und Fauna, sondern auch die Menschen, besonders aber die Aborigines, denen das Land eigentlich gehöre. Wenn er abends im Restaurant das Didgeridoo blase, dann wolle er auch etwas von der Kultur dieses Volkes vermitteln. Adrian Parker gehört, das spürt man sofort im Gespräch, nicht zu jenen verlogenen Figuren, die vorgeben, die Interessen einer unterdrückten Minderheit zu vertreten und in Wahrheit nur an den eigenen Vorteil denken. Schon das detaillierte Wissen über die Kunst der Aborigines zeugt von ernsthaftem Interesse. Der junge Mann sorgt auch dafür, daß Künstler aus dieser Minorität im Hotel ihre Bilder ausstellen können. Einige der Werke hängen in der Lobby. Gemalt sind sie, wie Adrian Parker erläutert, zumeist mit Naturstein und Kohle. Zu den Hauptmotiven gehören das Krokodil, das Känguruh und ein einheimischer Fisch namens Barramundi. Die Kunst der Aborigines ist naiv. Die grazilen, eleganten oder auch plumpen Bewegungen der Tiere sind naturgetreu nachvollzogen. Das macht den Reiz und den Charme dieser Bilder aus. Ob wir Lust hätten, fragt Adrian Parker, mit ihm zusammen einen der Maler zu besuchen? Wir brechen sofort auf. Im Eingang eines heruntergekommenen Hauses sitzt, von einer schützenden Mauer umgeben, ein Mann mittleren Alters und malt mit einem dünnen Pinsel, den er
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immer wieder in ein Gemisch intensiver Farben taucht, Figuren auf ein Stück feiner Borke. »Alex«, sagt Adrian Parker, unser Begleiter. Alex: Es ist unser erster unmittelbarer Kontakt mit einem der australischen Ureinwohner, die wir bisher nur mit scheuer Neugier aus der Distanz beobachtet haben, immer mal wieder auf dem Sprung, die Grenzen zu diesen tiefschwarzen, meist lethargisch wirkenden Menschen zu überwinden, aber immer wieder zurückweichend vor ihrer Fremdheit. Fremd – dies ist auch bei unserer Begegnung mit Alex, dem Maler, die erste Reaktion in einer Kette von Empfindungen und Reflexionen: Ein Fremder ... Man muß freundlich sein gegenüber Fremden. Die Aborigines sind eine Minderheit. Diese Minderheit wird unterdrückt in Australien. Freundlich sein. Nicht zu freundlich sein. Zu freundlich sein, könnte als Mitleid verstanden werden. Mitleid verletzt den Stolz. Einfach ganz normal bleiben ... Sekunden werden, während man um die angemessene Annäherung ringt, zur Ewigkeit. Man ist entsetzt über die eigene Unfähigkeit, diesem stoisch vor sich hin malenden Menschen unverkrampft zu begegnen, und hofft auf Hilfe von Adrian, der gestern abend im Speisesaal das Didgeridoo blies und vertraut ist mit der Mentalität dieser Minorität. Sag was, Adrian. Adrian sagt nichts. Und so zeigt man, in einem rettenden Reflex, auf eines der Bilder und sagt selbst: »Very nice.« Dabei schwingt immer noch ein linkischer Unterton mit, aber das Schweigen, das unsere Runde paralysierte, ist, wenn auch durch die lapidarste aller Varianten, aufgehoben.
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Der Maler deutet das Bild, auf das wir gezeigt haben. »Luma, Luma«, sagt er. Luma, erläutert Adrian, sei in der Mythologie der Aborigines der Schöpfungsriese, der Vater aller Existenz. Der Riese greift auf dem Bild nach einem schönen Mädchen. Ein anderes Mädchen, die Schwester, weist den Riesen zurück. Neben der Stufe, die ins Haus des Malers führt, reihen sich Bierdosen, Marke »UB Bitter«. Der Alkoholismus, erläutert Adrian, sei das größte soziale Problem der Region. Besonders betroffen seien die Aborigines. Pro Kopf trinke man in dieser Gegend 56 Dosen Bier in der Woche. »56 Dosen«, wiederholt Adrian.
ADRIAN PARKER, 26, MALER
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ch bin im April 1995 hierhergekommen, per Zufall eigentlich. Das Hotel hatte mir angeboten, abends vor Gästen als Didgeridoo-Spieler aufzutreten, und ich dachte: Na ja, sechs Wochen gibst du dir für den Job, länger hält man es bestimmt nicht aus da oben im Norden.
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Ich stamme aus der Nähe von Sydney, das ist fast 3000 Kilometer entfernt von hier. Und obwohl ich Anthropologie studiert und auch viel gelesen habe über das Top End – daß die Gegend so faszinierend ist, habe ich mir nicht vorstellen können. Ich bin jetzt seit fast zwei Jahren hier, und wenn mich einer fragt, wie lange willst du noch bleiben, dann antworte ich ihm: bis es hier nichts mehr zu lernen gibt für mich. Noch finde ich es toll. Ich sehe und lerne viel, ich glaube, ich habe hier mehr gelernt als jemals zuvor in meinem Leben. Wenn die Aborigines dich nämlich erst mal akzeptiert haben, dann sind sie sehr großzügig. Sie lassen dich teilhaben an ihrer Kultur, sind sogar glücklich, wenn sie dir etwas beibringen können. Das Schwierigste ist, das Eis zu brechen. Die Aborigines sind im Grunde scheue Menschen, und so lange sie dir nicht vertrauen, bleibt da eine Wand. Ich bin über die Malerei in Kontakt mit ihnen gekommen. Meine Eltern sind beide Maler, ich male auch, und als einige der schwarzen Jungs mir dabei über die Schulter geschaut haben, sind wir ins Gespräch gekommen. Sie haben mir ihre eigenen Bilder gezeigt und mich schließlich mit Alex Nganjmirra zusammengebracht. Alex ist ein wirklich berühmter Maler, seine Werke sind in der ganzen Welt gefragt. Wir haben uns angefreundet; Alex hat mich mitgenommen zu seiner Familie in Gebiete, die Weiße normalerweise nicht betreten dürfen. Ich glaube, die Aborigines merken, daß ich sie respektiere, und deshalb respektieren sie mich auch. Sie betrachten mich inzwischen als Bruder von Alex. Für mich ist das sehr wichtig, weil Aborigines in Großfamilien leben. Jeder hat dort seinen Platz, seine Rolle. Das Sagen haben die Alten. Sie sind die Bosse, und je mehr einer über die Tradition, über Riten und Bräuche weiß, desto
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mehr Respekt genießt er. Wichtig ist die sogenannte Initiation, also der rituelle Akt, mit dem der Mann in die Stammesgemeinschaft aufgenommen wird. Um die Initiation dreht sich vieles, man redet darüber, und wer die Prozedur nicht überstanden hat, dem bleiben Türen verschlossen. Das gilt natürlich auch für mich, ich darf nicht alles sehen und hören, nicht immer und überall dabei sein, weil ich nicht initiiert bin. Sie haben’s mir angeboten, ich hätte das machen können, aber ich muß gestehen, dazu fehlt mir denn doch der Mut. Bei diesem Einführungsritual ritzen sie dir nämlich mit einer Rasierklinge den Brustkorb auf, quer rüber schneiden sie, von einer Seite zur anderen, und anschließend reiben sie Kohlenstaub in die Wunde. Auf diese Weise entstehen Narben, die das Clanzeichen darstellen. Aborigines können an diesen Symbolen erkennen, zu welchem Stamm einer gehört. Natürlich gibt es dabei oft böse Entzündungen, es dauert manchmal Monate, bis die Wunden verheilt sind. Während dieser Zeit dürfen die Frauen die Männer nicht berühren, sie würden hart bestraft werden, wenn sie es täten. Frauen ist es im übrigen auch verboten, bei den Beschneidungen dabeizusein. Ihnen droht der Tod, wenn sie dieses Tabu mißachten. Frauen haben ihre eigenen Rituale. Sehr wichtig ist offenbar die Menstruation, aber ansonsten habe ich noch nicht viel herausgefunden. Ich weiß, daß sie das Didgeridoo nicht spielen dürfen. Das ist strikt Männersache, tabu für Frauen. Die Aborigines glauben, daß Frauen schwanger werden, wenn sie das Instrument berühren. Mich hat das Didgeridoo schon immer fasziniert; ich konnte es ja schon spielen, ehe ich hierherkam. Man braucht eine Menge Übung, wenn man es einigermaßen beherrschen will,
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„Tapfer, Sweetheart, warst du bis in den Tod“
und man muß eine ganz andere Technik anwenden als sonst bei Blasinstrumenten. Die Lippen müssen vibrieren, ständig vibrieren, und mit der Zunge ändert man den Sound. Jedes Geräusch, das mit dem Mund möglich ist, kann man auch mit dem Didgeridoo erzeugen. Für Weiße ist es aber auch deshalb schwierig, weil Töne und Rhythmen auf der Sprache der Aborigines basieren. Ich kann meine Zunge zum Beispiel nicht so rollen, wie die schwarzen Jungs das tun, bei mir klingt es denn auch anders als bei ihnen. Das Didgeridoo wurde früher nicht nur bei großen Zeremonien eingesetzt, die Männer haben damit auch Wissen weitergegeben. Sie haben Lieder übers Fischen oder Jagen gespielt, intoniert, wie man ein Wallaby fängt. Das war wichtig, weil die Aborigines ihre Geschichte nie aufgeschrieben haben. Sie haben Bilder gemalt oder Geschichten auf dem Didgeridoo erzählt; das war ihre Art, Erfahrungen zu bewahren. Ich werde oft gefragt, ob es die Aborigines kränkt oder auf’ bringt, wenn Weiße ihre Instrumente spielen, sich also quasi ihrer Kultur bemächtigen. Im Süden habe ich das tatsächlich erlebt, da bin ich Animositäten begegnet, wenn ich mit dem Didgeridoo öffentlich aufgetreten bin. Aber hier oben im Norden ist das ganz anders, hier ermutigen sie dich sogar. Das liegt sicher vor allem daran, daß die Aborigines vom Top End bessere Chancen als andere hatten, ihre Identität zu bewahren, und deshalb auch großzügiger mit ihrer Kultur umgehen können. In Arnhem Land, das gleich neben dem Kakadu-Park liegt, haben sie ihre eigenen Ansiedlungen, die sie selber verwalten, wo sie unter sich bleiben und ihre Tradition pflegen. Weiße dürfen dieses Land nur mit spezieller Erlaubnis betreten. Das heißt natürlich nicht, daß die Aborigines hier leben wie im Urzeit-Paradies vor 40 000 Jahren. Das moderne Leben
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hat auch Einfluß auf die Stämme im abgeschiedenen Arnhem Land, und beileibe nicht den besten. Alkohol und Geld verursachen die größten Probleme, denn beides gab es nicht in ihrer Gesellschaft. Im Busch ging es früher so zu, wie Jesus es sich wohl gewünscht hätte: Alles wurde geteilt, keiner besaß wirklich etwas. Heute arbeiten etliche Aborigines aus Arnhem Land hier im Kakaku-Park als Ranger oder Guides, und wenn einer Geld verdient, dann kommen gleich die anderen und fordern einen Anteil. Nein sagen verbietet die Tradition, aber diese Situation schafft eine Menge Spannungen und Schwierigkeiten. Mit Alex mache ich es deshalb so: Wenn er mir eines seiner Bilder verkauft, dann händige ich ihm niemals die gesamte Summe auf einmal aus. Ich zahle ihm täglich einen kleinen Betrag, damit er nicht allzuviel verliert, wenn seine Leute ihn um Geld angehen. Wie gesagt, ablehnen kann er solche Bitten nicht. Alex ist ein netter Bursche, aber dem Alkohol kann er nicht immer widerstehen. Es kommt ziemlich regelmäßig vor, daß er nachts an meine Tür bollert, volltrunken, und mich um etwas zu essen oder ein paar Biere angeht. Ich weise ihn nicht ab, er ist ja mein Freund, aber manchmal nervt’s. Alex sagt, er sei 35 Jahre alt. Ich weiß nicht recht, ich glaube, er ist ein paar Jahre älter. Viele Aborigines, vor allem die älteren, haben keine Ahnung, wie alt sie wirklich sind, weil Australien erst 1967 ein Gesetz erlassen hat, das die Ureinwohner verpflichtete, sich registrieren zu lassen. Es klingt komisch, ist aber eigentlich nur traurig: Wenn man Aborigines fragt, wann sie geboren wurden, geben etliche das Jahr 1967 an. Wenn ich mit Alex nach Arnhem Land fahre, dann wohnen wir, wie schon seine Vorväter, in Felshöhlen. Wir gehen fischen, auf die Jagd – es ist einfach phantastisch. Die Natur ist phanta-
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stisch, weil die Landschaft sich hier ständig verändert, dramatisch verändert. Man kann es sich kaum vorstellen; aber: Regionen, die jetzt noch völlig ausgetrocknet sind, werden bald überflutet sein. Da draußen wird ein Dschungel entstehen, das Gras wird zehn Fuß hoch sein, alles ist grün und feucht. Dann kommt wieder die Trockenperiode, die Aborigines brennen, wie sie das seit Generationen tun, das Land ab. Die Farben rot und schwarz dominieren, bis das erste zarte Grün sich wieder durchsetzt. Und dann die Termitenhügel: Sie machen die Landschaft im tropischen Norden tatsächlich einzigartig. Ohne diese riesigen Ameisen gäbe es im übrigen auch keine Didgeridoos. Die Instrumente werden nämlich aus Baumstämmen zur echtgeschnitten, die innen von Termiten ausgehöhlt wurden. Im Juni oder Juli sucht man nach Bäumen, die von den Insekten besetzt sind. Man markiert sie und wartet, bis der Hohlraum groß genug gefressen ist. Dann fällt man die Bäume und bringt sie auf die Länge, die man sich wünscht für sein Instrument: ein Meter, zwei oder sogar zweieinhalb Meter. Ich habe eine große Sammlung von Didgeridoos, sicher eine der besten der Welt. Mehr als zehntausend hab’ ich mir angeschaut und nur die schönsten und interessantesten ausgesucht. Alex und ich haben uns vorgenommen, irgendwann mal eine Ausstellung mit meinen Didgeridoos und seinen Bildern zu arrangieren und damit auf Tournee zu gehen. Ich hoffe, daß es klappt!
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„WIR
VOM NEVER-NEVERLAND...“
Zweite Etappe: Von Kadaku nach Daly Waters
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rgendwo anhalten, sich ins Gras legen, den Flug eines Raubvogels verfolgen, den Duft wilder Blumen einatmen; in einem Buch blättern, in einem Buch über den Highway, auf den wir, nach unserem Abstecher ins Paradies von »Kakadu«, in wenigen Stunden wieder stoßen werden und der nun für knapp 3000 Kilometer unsere Piste sein wird. Informationen speichern, Strecken festlegen, die Phantasie vorausfahren lassen. Dieser Mann – oder besser: dieser Herr – mit dem schütteren Haar und dem Vollbart also ist John McDouall Stuart, der Pionier, der unserer Piste den Namen gab. Sanft, wohlwollend blickt er auf dem Buchtitel drein, und man glaubt sofort, daß er, wie es im Text heißt, »ein humaner Mann« war, »menschlich gegenüber seinen eigenen Leuten und den Ureinwohnern«. Und weiß Gott war John McDouall Stuart, der als junger Ingenieur aus Schottland nach Australien kam, »der König der Entdecker«. Elfmal wagte sich der ewige Junggeselle, der sein Leben der Wildnis widmete, in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts auf Expeditionen in unbekanntes Land. Fünfmal versuchte er, den gigantischen Kontinent zwischen seinen südlichen und nördlichen Polen, von Meer zu
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Meer, zu durchqueren. Dies gelang ihm auf der Strecke, die wir heute noch erreichen werden. Immer wieder mußten John McDouall Stuart und seine Mannen gegen Hunger und Durst, gegen Dürre und Überschwemmungen, gegen Epidemien und Attacken der Aborigines ankämpfen. Am Ende hatten sie weite Flächen Australiens für die Viehzucht erobert und, entlang des heutigen Highways, die Infrastruktur geschaffen für die Telegrafenleitung, die den fünften Kontinent mit dem britischen Mutterland verband. Im Jahre 1866 ist John McDouall Stuart in seiner schottischen Heimat gestorben. 51 Jahre wurde er alt, und die Tragik seiner letzten Lebensphase paßt so gar nicht zu den heiteren Tagen, die hinter uns liegen, und zur Vorfreude auf die nächsten Etappen. Der »König der Entdecker«, so lesen wir, hatte seine Gesundheit während der entbehrungsreichen Expeditionen ruiniert. So versagten ihm, als er in Glasgow einen Vortrag über seine Reisen halten sollte, die Augen und die Stimme. Auf das Wirken dieses Pioniers, da sind wir uns sicher, werden wir in den nächsten Wochen noch dutzendfach stoßen. Und glauben Sie uns, Mister Stuart: Wir werden Ihre Taten zu würdigen wissen. Pine Creek heißt das Kaff, bei dem die Piste aus Richtung »Kakadu« auf das Betonband des »Stuart Highway« stößt. Wo einst Goldgräber aus Europa und aus China den Spuren des großen Eroberers folgten, ist das Paradies, in dem der Lotus blüht und die Reiher balzen, zu Ende. Zwar leistet sich der Stuart Highway in diesem nördlichen Abschnitt noch den Luxus der einen oder anderen
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Kurve, doch es mehren sich am Rande der Piste die Symbole für das einsame, das schroffe Australien: die rostrote Erde mit den zartgrünen Grasbüscheln, die in der Mittagssonne violett schimmernden Felskämme, die Termitenhügel, die in ihrer Ballung aussehen, als habe hier ein Volk von einem anderen Planeten seine Siedlung errichtet. Bis zu drei Meter hoch ragen diese dunkelbraunen Bauwerke aus der Ebene. Wie »Soldaten« sehen sie aus, heißt es in Reisebeschreibungen, oder wie »Grabsteine« oder auch wie »Kathedralen«. Auf jeden Fall ist »KathedralenHügel« die offizielle Bezeichnung im Biologiebuch. Und ein Name mit einem sakralen Bezug scheint der Ehrfurcht durchaus angemessen, die man beim Anblick dieser Naturwunder empfindet. Mit Abermillionen solcher Säulen ist Australiens Northern Territory übersät. Und so faszinierend wie ihre Architektur ist auch die Funktion dieser Monumente. Sie dienen den Termiten, so lernen wir aus der Fachlektüre, als Speicher für Nährstoffe oder Phosphor. Wenn eine Kolonie von Termiten abstirbt, fallen die Bauwerke in sich zusammen. Die freigesetzten Nährstoffe sind der ideale Dünger für neues Wachstum in der Wildnis. Wie schon im Kakadu National Park, dem Garten Eden hoch oben im Norden, so werden wir auch als Wanderer durch das Wunderland der Termiten von Neugier erfaßt auf die Natur. Je weiter man sich auch mental entfernt von mitteleuropäischer Hektik und Enge, desto stärker wird das Interesse an den Phänomenen der Schöpfung. Und irgendwann, wenn man die ersten Zusammenhänge begriffen hat, interessiert man sich sogar für das Detail. Mit den Mikroorganismen in ihrem Speichel, so lernen wir dazu, befreien
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„Wir vom Never-Never-Land...“
die Termiten abgestorbene Bäume von Zellulose und verwandeln das tote Material in fruchtbare Stoffe. »Die Termiten«, so lautet ein schöner Satz im Lehrbuch, »sind die leidenschaftlichsten Recycling-Agenten im Northern Territory.« Ein Insekt, zu dem uns bislang nur Zerstörung einfiel, erscheint nach unserem Stopp am Stuart Highway in einem ganz anderen Licht. Die Felsen des »Katherine Gorge«, einer 180 000 Hektar großen Landschaft von Schluchten östlich unserer Piste, hat der Wind in vielen Millionen Jahren geformt. Gegen die Wucht der je nach dem Stand der Sonne rosa leuchtenden oder dunkel dräuenden Sandsteingebilde wirken die Türme der Termiten wie Miniaturen. Auch diese Landschaft gilt als eines der »Naturwunder« im Northern Territory. Wer erlebt hat, wie der KatherineFluß durch die 13 Schluchten braust, wie Wasserfälle in den Farben des Regenbogens in kristallklare Pools stürzen, der wird dieser Einschätzung zustimmen. Dem Fluß mit seinem dunkelgrünen Wasser hat John McDouall Stuart, der große Entdecker, den Namen gegeben. Pate stand Katherine, die Tochter eines seiner Förderer. Von der Schönheit dieser Landschaft aber, so berichten Geschichtsbücher, hat der Pionier kaum etwas mitbekommen. Nach monatelangen Kämpfen gegen Durst und Hunger habe der Fluß aus der Sicht Stuarts nur eine einzige Funktion gehabt: als Tränke für die ausgemergelten Pferde. Auch ein anderer Pionier aus Europa hat diese Gegend 1844 auf einer seiner großen Expeditionen durchstreift: der Deutsche Ludwig Leichhardt, auch er Namensgeber für einen Highway durch das australische Outback. Vier Jahre nach seinen Forschungen in der Nähe der Schluchten wagte
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sich Leichardt mit acht Männern, 13 Maultieren, zwölf Pferden, 50 Ochsen und 70 Ziegen an die Ost-West-Passage. Irgendwo im Busch ist er mit seinem Troß verschollen. Noch heute suchen Experten nach seinen Spuren. Sonntag in Katherine: »Cleopatra« und »Sommersprosse« Katherine, das Zentrum der Region: 10 500 Einwohner, Bergbau, 1200 friesische Kühe, Militärflughafen, Orchideenzucht, eine Bibliothek, vier Grundschulen, eine Oberschule, moderne Müllhalde, Rodeo. »Ich heiße Sie herzlich willkommen«, grüßt Bürgermeister Jim Forscutt im Stadtführer. Katherine, Sonntagnachmittag, 40 Grad Celsius, keine Wolke am Himmel, kein Lüftchen weht. Spaziergang auf der »Katherine Terrace«. Die Hauptstraße ist das. Notizen. Fragmente. Ungeordnet. »Katherine Hotel«, Anstrich grün, ein Stockwerk. Bierreklame an der Wand, fette Buchstaben in Rot und Schwarz: »Victoria bitter-für einen schwerverdienten Durst«. Laubbaum vor dem Hotel, lindgrün. Raubvogel am Himmel. Aborigine, älterer Mann, Hemd zerrissen, betrunken, schläft vor Stufe zum Schankraum. Rotes Haus. Grünes Haus. Gelbes Haus. Kaum ein Haus höher als ein Stockwerk. Der Fernseher läuft im Schankraum. Pferde auf Mattscheibe, Jockeys, Zuschauer. Pferde, Jockeys, Zuschauer zerfasern in elektronische Punkte. Finale. Eine Stimme wie ein Maschinengewehr. »›Lady Samariah‹ vor ›Sommersprosse‹, ›Lord Matthew‹ von links, ›Moonlight Lady‹
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vorn. ›Cleopatra girl‹ holt auf. »Wilder Prinz‹ vorn. ›Lady Samariah‹ gewinnt.« Die Bäckerei. Brot im Schaufenster wie Krokodil geformt. Pferde aus Schokolade. Cowboy aus Plastik auf Pferd. Cowboy schwingt Lasso. Brötchen wie Krabbe geformt, Augen aus Rosinen. Normalzeituhr auf Grünstreifen, gestiftet vom »Rotary Club Katherine«. Arbeitsamt; Stellenangebot: »Hilfsarbeiten in Parks und Gärtnereien.« Sozialzentrum; Kursus für Aborigines: »Wie man Entscheidungen im westlichen Stil trifft.« Schaukasten der königlichen Marine: »Man braucht uns überall.« Graffiti: »Anateska loves Terry.« Das »O« in »loves« wie ein Herz gemalt. Das Gesundheitszentrum; Aufklärung: »Der Brustcheck ist ein Service, der nichts kostet. Die meisten Knoten sind kein Krebs.« Palmen, regungslos. Ein Lastzug rast durch Katherine. »Explosive« steht auf der Plane. Simple Man Barber Shop. Männer: 15 Dollar. Pensionäre: 12 Dollar. Reservierungen nicht nötig. Foster’s Bitter bottle shop. Flipper und Jukebox im Café. Café geschlossen. Teer aufgeweicht. Horizont verschwimmt. Chinese take away. Graue Markisen. Rodeo-Lehrer Pat Parelli. Die besten Rodeo-Lektionen in Town. Ameisenstraße vor Pat Parellis Laden. Haltet Australien sauber. Sechs Blondinen in Bikinis auf einem Plakat. »Bad Girls. Direct from the Gold Coast. Two hours non-stop entertainment. Girls, Girls, Girls – live on stage.« Nein, die vier Musikerinnen, die abends auf einer Bühne auf dem Areal des »Worker’s Social Club« von Katherine spielen, sind keine girls, girls, girls. Ladies kann man sie auch nicht nennen. Junge Frauen sind sie, selbstbewußt
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und sprühend vor Lebensfreude. Den Frauen des Landes, diesen Heldinnen des Alltags, sind auch die Lieder der Gruppe gewidmet, die aus der Großstadt Melbourne stammt und die auf ihren Tourneen der australischen Provinz eine Ahnung von Emanzipation vermitteln will. Die dominanten Instrumente sind die Gitarre und eine Violine, die, mit Passion und Perfektion gestrichen, zwischen Klage und Freude schwankt, das Gelände des Arbeiterklubs mit Poesie erfüllend. Die Sonne versinkt hinter einem Kamm aus Felsen. Der Himmel glüht in Gelb und Violett. Um die Scheinwerfer, die die Bühne bestrahlen, tanzen tausend Moskitos. Männer mit Cowboyhüten kauen Hamburger und stoßen ihre Biergläser aneinander. Ihre Freundinnen tuscheln und kichern mit jener Gereiztheit, wie sie typisch ist für die Erotik eines Samstagabends im Outback. Auf dem Spielplatz schaukelt, weltvergessen, ein kleines Mädchen. Mit seinem langen Blümchenkleid und seiner Schleife im Haar sieht es aus wie ein Wesen aus den Tagen der Pioniere. Der »jähzornige Schotte« und die Lady Doch – auch über eine Lady ist zu berichten, wenn man dieser geschichtsträchtigen Gegend gerecht werden will. Und eine Dame war sie ja wohl, die Lehrerin Jeannie Taylor, die im Jahre 1901 in Melbourne auf den Stufen einer Kutsche ausrutschte und dabei einem Kavalier namens Aeneas Gunn buchstäblich in die Arme fiel. Jedenfalls begann in diesem denkwürdigen Augenblick eine Geschichte, die auf einer Farm unweit von Katherine ihren Höhepunkt hatte und über die unsere Lady später
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einen Roman mit dem Titel »We of the Never-Never« verfaßte. Eine Million Exemplare wurden allein im Erscheinungsjahr 1908 verkauft. Und weil es sich um ein klassisches australisches Schicksal handelt, wollen wir die originellsten Phasen der Story erzählen. Am 31. Dezember 1901, schon kurz nach der Begegnung an der Kutsche, heiraten die Lehrerin und ihr Galan, der in Melbourne als Archivar arbeitet, aber auch einen hervorragenden Ruf als Farmer und Pionier genießt. Diesem Renommee verdankt Aeneas Gunn, Feingeist und Haudegen in einer Person, das herausfordernde Angebot, südlich von Katherine die entlegene Elsey-Farm samt ihres eigenwilligen Personals und ihrer Rindviecher zu übernehmen. Aeneas Gunn stellt sich der Herausforderung. Seine junge Gattin ist bereit, ihm in die Einsamkeit zu folgen. Schon in Melbourne wird sie gewarnt: Auf hundert Meilen sei sie da oben die einzige Frau, die Natur spiele dort ständig verrückt. Die beiden besteigen ein Schiff, das von Melbourne nach Darwin fährt, der Hauptstadt im äußersten Norden des Territory. Gleichzeitig macht sich eine Abordnung der Elsey-Farm nach Katherine auf, wo sich eine Telegrafenstation befindet. Von dort kann man also kommunizieren mit dem neuen Herrn, der von Darwin erst mal 150 Meilen mit dem Zug in Richtung Katherine reisen kann und dann aufs Pferd umsteigen muß. Und es ist wirklich nur der neue Herr, der die Abordnung von der Elsey-Farm interessiert, die angeführt wird von Mack, einem Draufgänger, der den Beinamen der »jähzornige Schotte« trägt. Die Frau, das geht aus den ersten Dialogen per Depesche hervor, möchte man unbedingt
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fernhalten von der Farm. Um dieses Ziel zu erreichen, arbeitet Mack mit List und Tücke. »Sie sollten Ihre Frau anweisen«, telegrafiert er dem neuen Boß, »so lange in Darwin zu bleiben, bis die Farm renoviert ist.« Hinhaltetaktik nennt man das. Der neue Herr telegrafiert zurück: »Meine Frau kommt mit. Stellt eine Kutsche bereit.« »Es gibt hier keine Kutsche.« »Dann beschafft ein vernünftiges Pferd für meine Frau. Meine Frau kann reiten.« »Es gibt hier keinen Damensattel. Und die Pferde sind viel zu wild für eine Frau.« Neugierige scharen sich im Telegrafenamt von Katherine um den »jähzornigen Schotten«. Der ganze Ort nimmt teil am Schicksal der Lehrerin aus Melbourne. Kommt sie? Kommt sie nicht? Schließlich trifft die Entscheidung aus Darwin ein: »Bin fest entschlossen, meine Frau mitzubringen. Wir kommen mit dem Dienstagszug.« Es ist Regenzeit, als Mister und Missis Gunn an jenem Dienstag im Februar 1902 auf die Abordnung von der Elsey-Farm treffen. Regenzeit bedeutet: über die Ufer getretene Flüsse, höchste Gefahr für Mensch und Tier. Einen der Flüsse, die es auf dem Weg nach Elsey zu meistern gilt, kann die Gruppe zusammen mit ihren Pferden durchschwimmen. Bei einem anderen reißenden Wasser hilft nur noch die Überquerung per Seil. Die Männer von der Elsey-Farm brechen in schallendes Gelächter aus, als sich die Lady aus der Stadt strampelnd und mit fliegenden Rockschößen ans rettende Ufer hangelt. Schließlich erreicht die Gruppe erschöpft das Eingangstor zur Farm. »45 Meilen noch«, sagt Mack, der Schotte,
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»dann können wir an die Tür des Wohnkomplexes klopfen.« Das Ehepaar Gunn richtet sich ein in der Farm. Mit dem »jähzornigen Schotten« schließt die Frau, wie sie später in ihrem Roman berichtet, Freundschaft. Auch mit den anderen Männern in dieser Wildnis kommt sie klar – mit dem »Dandy«, dem »schweigenden Viehtreiber«, dem »Meister der Viehtreiber«, mit Ah Chean, dem Chinesen, der hier aus den Zeiten des Goldrausches hängengeblieben ist und nun als Koch und Gärtner dient. Schrullige Gäste kommen und gehen. Dramen spielen sich ab. Der Postbote, der auf seiner tausend Meilen langen Strecke auch die Elsey-Farm bedient, bleibt eines Tages aus. Beim Überqueren eines Plateaus ist er verdurstet. Auch sein Nachfolger, »Fizzer« genannt, stirbt im Dienst, ertrinkt im Hochwasser eines Flusses. In dieser gleichsam grandiosen wie grausamen Welt entwickelt die Frau des Farmers ihre Never-Never-Philosophie. Das eine Never steht für diejenigen, die die Gegend nie verlassen werden, das andere Never für die, die geflohen sind aus dieser Einsamkeit und sich geschworen haben, niemals zurückzukehren. »Aber die, die hier gelebt und dieses Leben geliebt haben«, schreibt die Autorin, »werden wissen, daß unsere Herzen niemals anderswo ruhen können.« Am 16. März 1903, nur knapp ein Jahr nach der Ankunft auf der Elsey-Farm, stirbt Aeneas Gunn, der neue Boß. Wie so viele Menschen in dieser Gegend, hat ihn die Malaria hinweggerafft. Seine Frau kehrt zurück nach Melbourne. Dort stirbt sie am 9. Juni 1961, wenige Tage nach ihrem 91. Geburtstag.
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Geblieben sind aus der kurzen Zeit der Gunns ein paar vergilbte Fotos, eine Kiste mit Büchern, ein brüchiges Holzbett, eine Nähmaschine, Marke Singer. Die Gegenstände dienen einer Nachbildung des bescheidenen Farmhauses als Ausstellungsstücke. Etwa 120 Kilometer südlich von Katherine, in der Nähe von Mataranka, zweigt vom Stuart Highway eine kleine Straße ab, an der Tausende von Termitendomen Spalier stehen. Es ist die Piste zum »Friedhof der Elsey-Farm«, den ein Hinweisschild als »nationales Denkmal« ausweist. Ein Tor aus weißem Stein und zwei schwarze Kreuze markieren in bescheidener Würde den Eingang. Die Gräber Nummer 1 bis 6 sind »unknown«, Unbekannten, vorbehalten. Schwarze, penibel gepflegte Eisenplatten zieren die anderen Gräber. Auf den Platten sind die Namen kauziger Männer eingraviert, die in Australien zu Helden wurden: »Der Dandy«, »Der schweigende Viehtreiber« ... »Alle geschwächten Pferde durchgebracht« On the road again. Es ist später Nachmittag. Unser nächstes Ziel ist Daly Waters, ein Kaff mit historischer Vergangenheit, das von der Abzweigung zum Friedhof 150 Kilometer entfernt ist. Der Kurven werden weniger, je weiter man in Richtung Süden fährt. Wir zählen die Autos, die uns entgegenkommen. In einer halben Stunde sind es vier. Im Northern Territory, geographisch viermal so groß wie Deutschland, leben 140 000 Menschen. Zwei der vier Fahrzeuge sind furchterregende Lastwagen mit zwei Anhängern, sogenannte Road trains, die bis zu 50 Meter lang sein können. Einer der Züge
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transportiert die riesigen Betonpfeiler für eine Brücke, bewegt sich wie ein Saurier auf Rädern durch die Ebene, degradiert unseren Landcruiser zum Kleinwagen. Am Rande der Piste zeigt ein Warnschild die Gefahr von Feuer an. Die Skala reicht von »gering« bis »sehr hoch«. Heute steht der Zeiger auf »sehr hoch«. Große Flächen sind bereits verbrannt. Schwarz ist die Erde, schwarz sind die Krähen, die mitten auf dem Highway an einem Tierkadaver zerren und, als unser Auto naht, unter kreischendem Gezeter in den Straßengraben hüpfen. Verkohlt sind die Sträucher, verkohlt die Dome der Termiten. Es ist November. Und November heißt in dieser Gegend: Hochsommer. In Daly Waters leben zwanzig Bürger. Auf der Straße ist keiner von ihnen an diesem Abend, an dem zum erstenmal seit unserer Ankunft in Australien fette Wolken am Himmel stehen. Auch die Wolken sind schwarz. Das läßt das Rot und das Violett der Bougainvillea-Sträucher am Eingang des Ortes noch kräftiger leuchten. Irgendwo überm Busch müssen die letzten Strahlen der Sonne einen Schauer streifen. Denn über einer verlassenen Baracke, vor der ein Chevrolet steht, wölbt sich, ohne jeden Bruch, ein Regenbogen. Der mollige weiße Köter mit dem schwarzen Ring ums Auge, die Dieselzapfsäule, deren Glas zerbrochen ist, die Jeans an der Wäscheleine, die Pferdetränke vor der Kneipe, »Ron’s general store«, der mit vergilbten Buchstaben »Cold drinks«, »Hamburgers« und »Corned beef« anbietet und in Wahrheit längst Pleite gemacht hat, die blaßblauen Tauben schließlich, die sich auf den Strängen der Telegrafenmasten plustern – ja, Daly Waters, dieses Kaff jenseits des Highways, bietet an diesem schwülen, schwarzen
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Abend eine Kulisse wie aus einem der alten, zwischen Poesie und Realismus schwankenden Hollywoodfilme. Und verwundern würde es nicht, wenn da drüben im Pub, der 1893 gegründet wurde, James Dean mit Robert Mitchum an der Theke säße und die Jukebox einen Song von Elvis Presley spielte. Aber an der Theke sitzt John auf dem Hocker, ein junger Mann, der nur dadurch auffällt, daß eines seiner Beine eingegipst ist. »Is’ vom Balkon ’n Blumentopf draufgefallen. Glatter Durchbruch. Ich hasse Blumen.« Hinter der Theke steht Bruce, der Wirt. »Das muß man sich mal vorstellen«, schimpft er, »der nächste Arzt ist in Mataranka, 164 Kilometer von Daly Waters entfernt. Scheiß Regierung!« Über der Theke hat Ron ein paar Dutzend Büstenhalter aufgehängt – Trophäen, die Fernfahrer von ihren wüsten Trips durch das Outback mitgebracht haben. Wenn jemand die Kneipentür aufstößt, flattern die Dessous im Wind. In einem Käfig im Speiseraum sitzt ein Kakadu auf der Stange. Alle zwei, drei Minuten krächzt er: »Hallo«. Die Jukebox spielt: »Ladies love outlaws«. Auf einer Tafel an der Wand ist die Geschichte von Daly Waters nachgezeichnet. Man lernt, daß dieser Platz ein wichtiger Posten beim Bau der Telegrafenleitung war, und auch John McDouall Stuart, der große Entdecker, wird erwähnt. »Bei seinem dritten erfolgreichen Versuch, das Land von Süd nach Nord zu durchqueren«, so heißt es, »fand er hier die ersten Wasserstellen.« Aus Dankbarkeit habe er diesen Ort nach Sir Dominic Daly, dem Gouverneur der Provinz South Australia, »Daly Waters« getauft. Der bedeutende Pionier führte selbst penibel Tagebuch.
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In seinen Aufzeichnungen spielt die Rückreise aus dem Norden in Richtung Daly Waters, die ungefähr unserer bisherigen Route entspricht, eine große Rolle. Zunächst heißt es: »Am 15. August wurde ich von einem stechenden Schmerz übermannt, der wie ein Blitz in meinen Körper fuhr. Ich mußte unsere Gruppe anhalten lassen. Ich war vollständig kraftlos, als man mich aus dem Sattel hob. Ich dachte, mein Dasein auf dieser Welt nähere sich seinem Ende. Ich nahm starke Dosen an Schmerzmitteln.« Bei John McDouall Stuart machen sich in jenen Tagen die Entbehrungen auf den jahrelangen Expeditionen bemerkbar: der ständige Hunger, die falsche Ernährung, die vielen Infektionen. Er leidet, wie Zeitgenossen notieren, an schweren Mangelerscheinungen, der Gaumen schmerzt, die Zähne lockern sich, er kann kaum essen. Mit Worten voller Trauer beschreibt Stuart eine Nacht zwischen den Stationen Katherine und Daly Waters: »Obwohl der Mond rund war und hell schien und die anderen ergötzte, lag für mich alles in Dunkelheit. Ich bin im Moment kaum in der Lage, des Nachts Beobachtungen anzustellen.« Aber der Entdecker gibt sich und die Expedition auch diesmal nicht auf. Und als die Gruppe wieder ein gutes Stück vorangekommen ist, notiert er erleichtert: »25. August ... Daly Waters erreicht ... alle geschwächten Pferde durchgebracht. Das ist mehr, als ich erwartet habe.« Mein Gott, ist denn wirklich kein Mensch auf der Straße in Daly Waters – jemand, den man mal fragen könnte, wie man heute so lebt in diesem Kaff? Doch: gegenüber der Kneipe sitzt ein alter Mann auf seiner Veranda und döst vor sich hin. Den sollte man ansprechen.
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RON, 72, RENTNER, DALY WATERS
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s nich’ mehr viel los hier, nöö, wirklich nich’. Mein Haus, da drüben der Pub, nebenan eine Familie, da hinten noch zwei – ich glaub’, das wär’s. Nich’ mehr viel, wirklich nich’. Kein Laden, kein Doktor, nich’ mal ’n Polizist. Sollten wir haben, war’ schon wichtig, ’n Polizist, manchmal laufen die Dinge ganz schön aus dem Ruder drüben im Pub. Bin Anfang 70, seit acht Jahren hier. Bin hängengeblieben, hab’ im Busch geschürft. Was das heißt? Na, du gräbst im Boden, gräbst Steine aus und guckst, ob Mineralien drin sind. Kannst du auf eigene Verantwortung machen oder für ’ne Company, is’ egal. Hab’ neulich Eisen gefunden, war okay, ziemlich hochprozentig, glaub’ ich. Lange will ich das nich’ mehr machen, nöö. Möchte am liebsten ans Meer ziehen, vielleicht nach Queensland. Oder mal nach Schottland, würd! ich gern mal machen. Meine Urgroßmutter kam aus Schottland, hat keinem erzählt, warum sie weg is’ von zu Haus’. War 18, is’ nach England gegangen, dann auf’n Boot und nach Australien. Hat hier dann ’n Holländer geheiratet. Mehr wollt’ sie nie erzählen; weiß nich’, warum. Weiß nich’, was da passiert is’ in Schottland. Ich glaub’, da hinten braut sich ’n Gewitter zusammen, vielleicht auch nur ’n Sturm. Naja, is’ die Zeit, werden wohl noch viele Gewitter kriegen, ehe es losgeht mit der Regenzeit. Wann’s soweit is’? Na, noch ’n paar Wochen, denk’ ich. Kurz vor der Regenzeit is’ es schlimm, das Wetter. Feucht und heiß, wirklich schlimm. Is’ fast immer heiß hier, aber mitten in der trockenen Periode und mitten in der Regenzeit, da kannst du es ertragen.
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War mal ’n Kanadier hier, der war völlig fertig. Mein Gott, hat er gefragt, wird das noch heißer hier bei euch? Bei ihm zu Hause sind’s minus 40 Grad, hat er gesagt, 40 unter 0. Als ich hierher kam, im ersten Jahr, glaub’ ich, da war es zwischen 110 und 120. Vierzehn Tage is’ es so geblieben, hat sich nich’ abgekühlt, nich’ mal nachts. Weiß nich’, wie ihr in Deutschland rechnet, glaub’ aber, 120 Grad Fahrenheit sind so an die 50 Grad Celsius. Mein Gott, war das heiß. Im Busch war’s so heiß, daß du vier Stunden warten mußtest, wenn du dir einen Tee gekocht hast. Vier Stunden, bis du ihn trinken konntest. Ich mein’, bis das Zeug kalt genug war zum Trinken. Kann mich erinnern, daß nach der Regenzeit das Gras bis zu den Telefondrähten stand, mindestens zehn Fuß hoch, mindestens. Nachts hat’s geregnet, tagsüber hat die Sonne geschienen, das is’ gewachsen wie verrückt, das Gras. Wenn ich was brauch’, dann lass’ ich mir das aus Katherine kommen. Seid ihr durchgekommen, is’ 280 Kilometer von hier. Ich ruf da an und sag’, was ich brauch’. Sie schicken dir das dann mit dem nächsten Bus. Klar, du mußt genau durchgeben, was du willst, sonst packen sie dir irgendwas in die Tüten. Na ja, viel brauch’ ich sowieso nich’. Was ich abends mach’? Treff mich manchmal mit ’nem alten Kumpel. Viehtreiber war der. Trinkt ’n bißchen viel, der Junge. Aber das tun hier viele, is’ ’ne richtige Plage im Top End. Nee, vorm Fernseher sitz ich nich’ so oft, is’ schlecht für meine Augen. Sind nich’ mehr okay, werd’ wohl bald blind sein.
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„WENIGSTENS
EINE POSTKARTE HÄTTE SIE SCHREIBEN
KÖNNEN...“
Dritte Etappe: Von Daly Waters nach Heartbreak
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rgendwo hat uns irgend jemand vom »Heartbreak Hotel« erzählt. Eine etwas anrüchige Herberge sei das, mitten in der Wildnis liege sie und gemanagt werde sie von drei eigenwilligen Frauen. Wir machen diesen Punkt auf unserer Straßenkarte aus und rechnen den Umweg nach dorthin zusammen: 843 Kilometer. Hin? Hin. Ihr müßt unbedingt in Daly Waters volltanken, hat uns der Wirt vom Pub geraten, wo wir auf dem Hinterhof in einem Container die Nacht verbracht haben. Auch der Tankwart mahnt zur Vorsicht: »Jeden Morgen das Öl, das Wasser, die Reifen checken. Unter der Hitze hier leiden auch die Autos.« Und er empfiehlt uns, unbedingt die staatlichen »Anweisungen zur Sicherheit und zum Überleben« zu studieren, die in unserem Landcruiser bislang ungelesen im Handschuhfach lagen. Das längste Kapitel ist dem Thema »Wasser« gewidmet, und die Lektüre macht auf drastische Weise das Risiko deutlich, das jeder eingeht, der in diesem gigantischen Land abzweigt von den eingefahrenen Wegen. »Zu oft«, heißt es in der Einleitung, »liest man von Menschen, die verdursten, nachdem sie mit ihrem Auto liegengeblieben sind. Viele dieser Fälle sind auf mangelnde Kenntnisse in
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den Überlebenstechniken zurückzuführen.« Dem Reisenden, dem nach einer Panne in der Wildnis die Vorräte an Flüssigkeit ausgehen, wird ein ganzer Katalog an Alternativen angeboten. Sie reichen vom Bohren eines Brunnens bis zum Genuß von destilliertem Kühlwasser und bieten für den Fall, daß diese klassischen Quellen versiegen, auch ungewöhnliche Methoden an. Es ist die Natur, die Leben rettet. Einige Beispiele: Man gräbt in einem ausgetrockneten Flußbett die Wurzeln von Bäumen aus und sammelt das darin gespeicherte Wasser in einem Gefäß. Man wickelt sich Grasbüschel oder Kleidungsstücke, die Feuchtigkeit aufsaugen, um die Knöchel und watet damit am Morgen oder in der Dämmerung durch den Tau. Man trinkt, nachdem man ihn destilliert hat, seinen eigenen Urin. Auch Methoden, die von den naturverbundenen Aborigines angewandt werden, empfiehlt die Überlebensfibel. So wird auf einen Frosch mit dem lateinischen Namen »Cyclorana« verwiesen, der in Erdhöhlen lebe und in einer Blase unter seinem Bauch für den Notfall Wasser sammle. Diese Blase könne man »auspressen für einen durststillenden Drink«. Solange man im kleinen Café der Tankstelle beim Sandwich sitzt, neigt man dazu, solche Schilderungen zu belächeln, sie abzutun als exotische Übertreibung. Doch wenn man dann ein paar Kilometer gefahren ist auf der Strecke, die nach »Heartbreak« führt, bekommt man schnell ein Gefühl für den Grund dieser dramatischen Ratschläge: Es begegnet einem hier niemand mehr. Wer steckenbleibt, ist für Stunden, womöglich für Tage in sengender Hitze auf sich allein gestellt.
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»Carpentaria Highway« nennt sich unsere Straße nun. Aber was heißt hier schon Highway? Eine schmale Piste ist das, belegt mit schütterem Beton und mit Schlaglöchern gespickt. Die paar Berge zwischen Daly Waters und »Heartbreak« werden nicht umfahren, sondern schnurstracks angesteuert. Aus der Distanz wirkt das graue Band dann wie eine Rampe, die direkt in den wolkenlosen Himmel führt. Rote Erde, grünes Buschwerk, Baumskelette: Auch die Landschaft, durch die sich unsere Piste zieht, entbehrt jeden Schnörkels, jeder spielerischen Laune der Natur. Hin und wieder liegt der Kadaver eines Kalbes oder eines Känguruhs am Rande, manchmal flitzt eine Eidechse über den Beton. Je näher man der Mitte der Strecke kommt, der größten Entfernung zwischen den rettenden Polen, desto enger wird die Beziehung zwischen uns Reisenden und unserem Auto. Halt durch, denkt man, in trautes du verfallend, wenn ein Warnsignal flackert. Toll gemacht, murmelt man, wenn der Landcruiser, den wir Cäsar tauften, damals in Darwin, wieder ein Schlagloch gemeistert hat. Und je weniger man von seiner Technik versteht, desto sentimentaler ist das Verhältnis zum Auto. Man empfindet Genugtuung darüber, daß man heute morgen noch einen Liter Öl nachgekippt hat, ist stolz auf den Vierradantrieb, die dicken Reifen – und man beginnt, die Kilometer bis zum »Heartbreak Hotel« zu zählen: 80, 50, 22, drei ... Ein Riese von Road train dominiert das Areal, auf dem eine Tankstelle, eine Kneipe und ein paar Baracken aus Wellblech von einer Ansiedlung künden. An einer der Baracken ist ein weißes Brett befestigt. »Welcome to Heartbreak Hotel«, steht darauf in roten und in blauen
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Buchstaben. Ein feuriger Blitz durchzuckt die beiden roten Herzen unter dem Willkommensgruß. Man checkt ein in der Kneipe. Und die Stimmung dort, das spürt man sofort, ist aufgekratzt bis aggressiv. Auf der Theke stapeln sich Bierdosen. Jeans, Cowboyhut, Stiefel, kariertes Baumwollhemd sind das gängige Outfit. Das häufigste der Wörter, die man aufschnappt, ist »fuck«. Schnell bekommt man auch die Funktion der drei legendären Frauen mit, die den Laden hier schmeißen: Die erste, eine Blondine von vielleicht Mitte 20, wirbelt hinter der Theke; die zweite, mit dunklen Haaren und um die 35, fegt im Schankraum den Abfall zusammen; die dritte, ebenfalls dunkel und wohl ein wenig älter, macht die Buchhaltung und weist die Zimmer zu. Daß das Trio den Gästen darüber hinaus zu Diensten ist, entspringt, auch das merkt man sofort, der männlichen Phantasie. Rums – da fällt in der Kneipe ein Stuhl um. Schon splittert eine Scheibe. Ein randalierender junger Mann, ganz offensichtlich ein Aborigine, hat sie eingeschlagen. Eine Meute angesoffener Männer hetzt schreiend hinterher. Der junge Mann ist schneller. Ein Haken, eine Flanke; weg ist er. Was von ihm bleibt, ist eine Blutspur. Wir gehen vorsichtshalber in Deckung. Doch so schnell sich die Gruppe der Verfolger zusammenballte, so fix löst sie sich wieder auf. Und einer der Gäste, der zu den besonnenen Typen in der Kneipe gehört, liefert für das Ausrasten des jungen Mannes eine traurige Erklärung: »Dessen Baby lag mit Gehirnhautentzündung im Krankenhaus. Er mußte den Ärzten sagen, ob sie die Geräte abschalten sollten oder nicht. Er hat sich fürs Abschalten entschieden. Ist doch klar, daß der bei der geringsten Kleinigkeit durchdreht.«
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Auch in dieser Herberge ist man in der Zelle eines Containers untergebracht. An den Enden des Flures befinden sich die Gemeinschaftsduschen. Kaum haben wir uns halbwegs eingerichtet, da begegnen uns auch schon drei andere Gäste: Peter, Rohdy und Ken – drei Männer, drei Freunde, ein Wink: Los, laßt uns einen trinken gehen. Leonie und 100 Büffel Wir setzen uns auf die Veranda vor dem Schankraum. Dort thronen wir wie auf einer Theaterbühne und geraten tatsächlich ins Zentrum einer absurden Aufführung. Jeder Gast, der die Kneipe betritt oder verläßt, muß an unserem Tisch vorbei. Fast jeder Gast macht an unserem Tisch halt, setzt sich für ein paar Minuten dazu, berichtet, meist zusammenhanglos, uns Fremden aus seinem Leben, verschwindet wieder, kehrt zurück, beglückt uns mit neuen Erzählungen und Erkenntnissen. Die dramaturgischen Konstanten in diesem Spiel, dessen konfuse Dialoge am Ende doch ein Sittenbild des Outback vermitteln, sind wir und unsere drei Kompagnons. Aus Tennant Creek stammen sie, einem Kaff, das südlich von Daly Waters am Stuart Highway liegt. An einem verlängerten Wochenende haben sie mit ihrem Pick-up einen Ausflug nach Borroloola gemacht, das von Tennant Creek 684 Kilometer entfernt ist. Eine Strecke von insgesamt 1368 Kilometer haben die Freunde also auf sich genommen, um an einer Flußmündung bei Borroloola zu fischen. Das »Heartbreak Hotel« dient den dreien, die in Tennant Creek als Handwerker in einer Goldmine arbeiten, als Zwischenstopp auf der Rück-
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reise, und hei unserem Gespräch auf der Veranda dreht sich zunächst alles ums Fischen. »Barramundi«, schnalzt Rohdy, ein freundlicher Mann mittleren Alters. Dazu steckt er beide Arme aus, was heißen soll: So groß war der Fisch, den ich gefangen habe. »Aber Fischen«, sagen wir, »kann man doch auch in den Gewässern bei Tennant Creek. Da muß man doch nicht 1368 Kilometer mit dem Auto fahren.« Sieben, acht Bier hat Rohdy bereits gekippt, und so ist die mimische Anstrengung, die dieser liebenswerte Typ aufwenden muß, um sein Unverständnis über unsere Frage auszudrücken, deutlich nachzuvollziehen. Zunächst signalisiert sein glasiger Blick: Also, Freunde, ihr seid mir ja durchaus sympathisch, und das soll auch so bleiben. Dann verdreht er, Phase zwei, leidvoll die Augen, um uns klarzumachen: Vom Fischen habt ihr offensichtlich aber keine Ahnung; sonst hättet ihr nicht solch eine dämliche Frage stellen können. Dann hebt Rohdy, dritter Akt, pathetisch den Zeigefinger, läßt die Augen wieder leuchten, kippt aus der Bierdose noch einen Schluck Euphorie nach, um lallend zu dozieren: »Mensch, Borroloola ist zum Fischen der beste Ort in ganz Australien. Bei Borroloola fließen mehrere Flüsse ins Meer. Und wo mehrere Flüsse ins Meer fließen, stehen die Fische. Und was für Fische da stehen. So große Barramundis stehen da. Prost.« Auch Peter und Ken sind angetrunken. In Kens Gesicht ist ein Lächeln gemeißelt, das gleichsam Milde und Weisheit ausdrückt, aber auch ein wenig Verachtung darüber, daß ein Mensch sich wegen einer dummen Frage echauffieren kann, wo die Welt doch sowieso ihren Gang geht, ob
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ein Barramundi nun groß ist oder nicht so groß, der Weg nach Borroloola kurz oder lang. Ken lächelt und schweigt. Auch Peter lächelt. Doch während die Züge seines Freundes entrückt wirken, strahlt Peter zumindest Melancholie aus. Und Peter redet. »Ich habe viele Jahre in Broken Hill gelebt, in Broken Hill im Kohlebergwerk gearbeitet. Das Kohlebergwerk haben sie dichtgemacht. Broken Hill hat seine Seele verloren. Na ja, da bin ich eben nach Tennant Creek gegangen.« Rohdy nimmt noch einen Schluck und philosophiert: »Fischen ist eine Mischung aus Geduld und Leidenschaft; yes.« »Ich hab’ ’ne 16jährige Tochter«, sagt Peter, »die ist mir vor ein paar Monaten abgehauen, einfach abgehauen.« »Wenn wir bei uns in der Goldmine in Tennant Creek unter Tage arbeiten und der Ventilator ausfällt«, sagt Rohdy, »dann steht uns der Schweiß bis hier oben in den Stiefeln.« »Wenigstens ’ne Postkarte könnte sie mal schreiben«, sagt Peter. »Wer könnte ’ne Postkarte schreiben?« fragt Rohdy. »Na, meine Tochter.« Eine Frau von etwa 25 Jahren schwankt auf unseren Tisch zu, setzt sich. »Leonie«, sagt sie und drückt jedem von uns die Hand. Leonie läuft an diesem Abend barfuß herum. Sie trägt ein dunkles Kleid, das keinerlei Raffinement aufweist, nicht mal einen Gürtel, einen Kragen, einen Saum. Es ist ein Kleidungsstück, mehr nicht. Leonies braunes Haar ist wirr, ihre Zunge schwer. Sie bemüht sich erst gar nicht, ihre Trunkenheit durch linki-
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sches Gehabe zu kaschieren. Sie greift mit jener Selbstverständlichkeit zum Glas, die zur Lebensphilosophie im Outback gehört: Heute hab’ ich frei, also betrinke ich mich; morgen muß ich wieder arbeiten, also bleibe ich morgen nüchtern. »Was machst du in dieser Gegend?« »Ich arbeite als Treiberin, ich treibe Vieh. Ich sitze auf meinem Pferd und treibe Vieh; ist ein braves Pferd. Neulich hab’ ich es mit 100 Büffeln zu tun gehabt; ganz schön gefährlich, diese Büffel.« »Und wo arbeitest du als Viehtreiberin?« »Auf der Mallapunyah-Farm. Die ist 20 Kilometer von hier entfernt. Wenn ihr morgen in Richtung Tennant Creek fahrt, kommt ihr da vorbei.« »Was ist das für eine Farm?« »Quellen gibt es da und Mangobäume, riesige Mangobäume. Es ist eine schöne Farm, eine der wenigen hier, die noch in Familienbesitz sind. Die Japaner kaufen hier alles auf.« »Stammst du aus dieser Gegend?« »Nein, ich komme aus Victoria. Das liegt unten im Süden von Australien. Aus der Gegend von Falls Creek stamme ich. Da müßt ihr hinfahren, der schönste Platz der Welt ist das. Berge gibt es da. Du kannst da durchatmen. Du fühlst die frische Luft in deinen Lungen. Nach Falls Creek müßt ihr, unbedingt nach Falls Creek.« »Und wie bist du in diese Gegend hier geraten?« »Ich bin ’nem Typen gefolgt. Der hat unten bei uns in Victoria Urlaub gemacht. Sein Onkel ist der Besitzer der Farm. Na ja, und nun bin ich hier.« »Wie lange schon?«
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»Ein Jahr.« »Und willst du bleiben?« »Ja. Wegen des Typen.« »Ist das ein Puff hier?« »Nein, das ist kein Puff. Das ist alles nur ein Gerücht, weil hier eben drei Frauen den Laden schmeißen. Aber schon das Gerücht zieht viele Gäste an.« Ein Aborigine steuert auf die Kneipe zu. Eine seiner Hände ist mit einem dicken Verband umwickelt. Es ist der junge Mann, der am Nachmittag die Scheibe eingeworfen hat. Er setzt sich an die Theke, und dieselben Männer, die ihn vorhin verfolgt haben, stoßen nun mit ihm an. »So groß war der Barramundi«, sagt Rohdy und breitet die Arme aus. »Wenigstens ’ne Postkarte könnte sie schreiben«, murmelt Peter. Ken lächelt. Und Leonie sagt zum soundsovielten Mal: »Nach Falls Creek müßt ihr fahren, unbedingt nach Falls Creek.« Am Himmel über dem »Heartbreak Hotel« funkeln schon die Sterne, als Leonie plötzlich aufspringt und, ohne eine Geste des Abschieds, in der Dunkelheit verschwindet. Nach zwei, drei Minuten hört man einen Körper ins Wasser klatschen. Ein Gekreische hebt an, ein Juchzen, ein Planschen. Das Personal der Mallapunyah-Farm vergnügt sich im Pool, auf dessen Wasser, als wir das Terrain am Nachmittag inspizierten, Blätter und tote Mücken schwammen. »Wenigstens ’ne Postkarte hätte sie schreiben können«, murmelt Peter. Ein älterer Mann, gedrungen und drahtig, setzt sich an unseren Tisch. 72 sei er, Dan sei sein Name, ihm
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gehöre der Laden. Sein graues Haar ist militärisch kurz geschnitten. Der Blick ist kalt, manchmal boshaft. Er ist der einzige Mensch, der unsympathisch wirkt an diesem Abend. Der Wirt hält einen Monolog: »Kaputt ist Australien, kaputt. Die Aborigines sollen noch mehr Rechte bekommen. Die Japaner kaufen alles auf. Am Ende ist Australien, am Ende. Meine Tochter taugt auch nichts, die gibt nur Geld aus. Die ganze Jugend taugt nichts in Australien.« Kein Zweifel: Dieser Mann verkörpert die häßliche, die vulgäre Seite des Outback, auf die man bisweilen auch stößt. Man kann sich vorstellen, wie der Wirt die drei Frauen triezt, und erst als er wieder eintaucht in die von Zigarettenqualm schwangere Höhle, folgt die älteste der Frauen, die Buchhalterin, unserem Wunsch, uns Gesellschaft zu leisten. Natürlich, sagt sie, sei das hier ein harter Job im »Heartbreak Hotel«. Aber zuvor habe sie auf einer entlegenen Farm gearbeitet, und die Arbeit dort sei noch härter gewesen: »Zwölf Stunden schuften am Tag – und das sieben Tage in der Woche bei einem lächerlichen Lohn.« Die Frau verschwindet kurz in der Kneipe und kehrt mit einem Zettel zurück, auf dem ein ungelenkes Gedicht die Entstehungsgeschichte dieser seltsamen Herberge im Herzen des Nichts beschreibt. In den siebziger Jahren wurde demnach der Grundstein gelegt. Als der damalige Bauherr merkte, welche Last er sich da aufgeladen hatte, sei er einem Herzinfarkt nahe gewesen, deswegen der Name »Heartbreak Hotel«. Eine andere Version besagt, daß die Frauen, die in dem Etablissement angestellt seien, kaputte
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Beziehungen hinter sich hätten und dies der Hintergrund für den Namen sei. Klitschenaß ist Leonie vom Pool zurückgekehrt. »Nach Falls Creek müßt ihr fahren«, sagt sie, »unbedingt nach Falls Creek.« Rohdy, der Fischer aus Tennant Creek, breitet seine Arme aus und lallt: »So groß war der Barramundi.« Und Peter, der Melancholiker, seufzt: »Wenigstens ’ne Postkarte hätte sie schreiben können.«
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ÜBER UNSEREN KÖPFEN REGNET ES BUMERANGS“
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rgendwann in dieser schwülen Nacht im November sind die Zecher auseinandergegangen, haben sich, wie Leonie und ihr Typ, in ihr Auto gesetzt und sind die 20 Kilometer bis zur Malapunyah-Farm gefahren, wo Leonie heute wieder Bullen durch den Staub treibt, in einer Siesta vielleicht von Falls Creek träumt, dem Paradies unten in Victoria, wo man die frische Luft in den Lungen spürt. Unser Trio aus Tennant Creek sitzt verkatert beim Frühstück. Der Gruß fällt freundlich, aber nicht überschwenglich aus. Es schwingt jene Verhaltenheit mit, die auch der offenste Mensch an den Tag legt, wenn er vermutet, es könne ihm beim hemmungslosen Gelage etwas Peinliches unterlaufen sein. Der sympathische Rohdy, der den riesigen Barramundi fing, wirkt besonders erleichtert, als wir den drei Freunden durch einen kräftigen Händedruck Entwarnung signalisieren. Daran, daß wir zu sehr später Stunde noch gemeinsam Darts auf die Scheibe geworfen haben, kann sich Rohdy allerdings nicht erinnern. Unsere nächste Straße ist der Tableland Highway. Und da wir wissen, daß diese Piste zu den einsamsten in ganz Australien gehört, blicken wir sicherheitshalber noch ein-
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mal in den staatlichen Überlebenskatalog. Wir erfahren, wie man Fallen für Känguruhs oder Tauben baut, daß sich selbst Giftschlangen als Nahrung eignen, wenn man ihnen nur das Gift entzieht, daß 100 Gramm geröstete Termiten 581 Kalorien enthalten. Auch bei Rohdy, Peter und Ken, die zu Hause sind in der Wildnis, holen wir uns Ratschläge. Ob wir bei einer Panne damit rechnen könnten, daß ein des Weges kommendes Auto anhalte? Hundertprozentig, sagt Rohdy mit einem Anflug von Entrüstung über diese Frage. Ob man dem Helfer einen Geldschein in die Hand drücken müsse? »Um Gottes willen; helfen ist Ehrensache im Outback.« Auf den ersten Kilometern nach dem »Heartbreak Hotel« beleben noch ein paar Windungen und Anhöhen, Büsche gar mit großen, gelben Blüten die Landschaft. Doch nach zwei Stunden wird die Gegend so flach, daß sich das Auge nur noch am Horizont festmachen kann. Das Grau der Piste deckt sich fast mit der Blässe der Grasbüschel, die die Ebene sprenkeln. Von den wenigen Bäumen sind nur Skelette geblieben, von den paar Autos, die einfach in der Wildnis abgestellt wurden, nur noch Wracks. Heiß ist es und windig. Und da der Wind sich nirgendwo bricht, heult er und formt er Sand zu tanzenden Trichtern. Manchmal glaubt man, wenn man auf die Straße starrt, die schnurgerade Linie führe direkt auf einen riesigen See zu. Aber was wie Wasser schimmert, ist nur Flirren der Hitze, nur eine Täuschung der Natur. Und doch muß es in dieser Einsamkeit auch eine Regenzeit geben. Auf den nächsten 90 Kilometern, verkündet ein Warnschild, bestehe Überschwemmungsgefahr.
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Eine schmale Nebenstraße biegt ab von unserer Piste. Sie führt zu einer Ranch. Ein Wegweiser gibt die Entfernung an: 260 Kilometer. Man muß schon eine Neigung zum Stoischen haben, einen Sinn auch für das Statische und Graphische, um dieser Öde einen ästhetischen Wert abzuringen. Aber ist die Kargheit nicht tatsächlich eine reizvolle Alternative zur tropischen Vielfalt, wie wir sie am Anfang unserer Reise im Garten Eden von »Kakadu« erlebten? Hat nicht nur derjenige das Wesen der Natur begriffen, der ihre Dialektik erkennt? Friß, Cäsar, friß die Kilometer ... 80 noch, 20 noch: Bald bekommst du wieder Öl zu saufen. Der Stuart Highway hat uns wieder, und es dominiert nun für etwa 2000 Kilometer eine andere Variante der Natur: das Rot der Erde, das selbst am Abend eine suggestive Leuchtkraft hat, und die schroffe Wucht der Felsplateaus, die die Landschaft nun wieder plastisch erscheinen lassen und ihr auch etwas Grandioses verleihen. Als habe ein Riese ein paar hundert Murmeln in die Gegend geworfen, so liegen nun für einige Kilometer kugelförmige Felsbrocken am Highway Spalier. Man nimmt an, daß sich hier einst ein gigantischer Granitblock befand und daß Wind und Wasser den Monolithen gespalten und in Einzelteile zerlegt haben. Millionen von Jahren hat der Kraftakt gedauert. Entstanden ist ein Ensemble in Rosa und Braun, das dem Betrachter Achtung abringt und ihn gleichsam heiter stimmt. Jedenfalls ist »Devil’s Marbles«, die offizielle Bezeichnung für dieses Arrangement, ein irreführender Titel. Um ein Kunststück handelt es sich und nicht um Teufelswerk. Wie überall, wo die Natur einlädt zu mystischen Deutungen,
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sind auch die »Devil’s Marbles« eine Kultstätte der Aborigines, der australischen Ureinwohner. Nach ihren Überlieferungen hat an dieser Stelle die Regenbogenschlange, ein Wesen aus der Urzeit, ihre Eier abgelegt. Sehr real sind die Fliegen, die für uns an diesem Punkt zum erstenmal auf unserer Tour zur Plage werden. Zu Hunderten schwirren sie um uns herum, setzen sich am ganzen Körper fest, kehren, wenn man sich spuckend und schlagend gewehrt hat, zurück zu ihrem Opfer. Wir ziehen uns die olivgrünen Fliegennetze über die Köpfe, die wir uns, etwas widerwillig einem Rat des Reiseführers folgend, bei unserem Start in Darwin besorgt haben. Südlich der »Devil’s Marbles« folgen wir einem Wegweiser, der ein »Denkmal« für John McDouall Stuart ankündigt, den Entdecker, der uns, da wir immer wieder auf seinen Spuren wandeln, schon zum Vertrauten geworden ist. »Etwas dürftig«, so notieren wir knapp, sei die Stätte, die an den großen Pionier erinnert. Immerhin ist in dieser Region ein imposanter Berg nach John McDouall Stuart benannt. Aus dem Geschichtsbuch erfährt man, daß er in der Nähe während einer Expedition eine dramatische Auseinandersetzung mit Ureinwohnern hatte. »Plötzlich«, so schrieb der Entdecker in sein Tagebuch, »tauchten drei große, machtvolle Männer auf. Sie waren bis an die Zähne bewaffnet, hatten Bumerangs und Speere bei sich. Nur ungefähr 200 Yards waren sie von uns entfernt. Ich blickte ihnen ins Auge, brachte ihnen alle nur möglichen Zeichen der Freundschaft entgegen. Sie schienen äußerst aufgebracht zu sein, schwangen die Bumerangs über ihren Köpfen.
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... Es kamen immer mehr Krieger hinzu. Ungefähr 30 waren es plötzlich. Hinter jedem Busch schien ein Krieger hervorzukommen. Ein Regen von Bumerangs prasselte auf uns herab. Die Krieger schrien, tanzten, sprangen, setzten das Gras in Brand ... ... Ich zögerte nach wie vor, auf sie schießen zu lassen, und versuchte, ihnen klarzumachen, daß wir nichts Böses wollten. Aber die Bumerangs flogen uns nur so um die Ohren. Mein Pferd wurde von einem Speer getroffen. Dann gab ich den Befehl zu schießen ... ... Nach einer gewissen Zeit waren wir unseren Feinden überlegen. Aber sie gaben nicht auf, verfolgten uns. Ihre Attacken waren exzellent koordiniert und vorbereitet – ganz so, wie man es von Europäern gewöhnt ist.« Es lohnt sich, die Tagebucheintragungen des Entdeckers auf ihre politische und gesellschaftliche Substanz zu prüfen. Zunächst ist festzuhalten, daß sich Stuart den Ureinwohnern naiv nähert, ohne jedes Schuldbewußtsein. Überzeugt von seiner Mission, kommt er überhaupt nicht auf die Idee, daß solche Expeditionen, bei denen ja auch Land genommen wird, die Existenz der Aborigines gefährden. Eher wundert er sich, daß die Ureinwohner, denen er »nichts Böses« will, Widerstand leisten und der Gruppe ihre Bumerangs entgegenschleudern. Anerkennung zollt er allerdings ihrer Kriegskunst, die er, zumindest im Unterbewußtsein ganz Kolonialist, nach westlichen Kriterien bemißt. Wohlwollend betrachtet, dokumentieren die Notizen einen tragischen Zustand, der bis heute Gültigkeit hat: die Unvereinbarkeit von westlicher Dynamik und Zivilisation und der Kultur eines nomadisierenden Volkes, das in Ein-
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klang leben möchte mit der Natur und den Ahnen und das aus europäischer Sicht in der Steinzeit stehengeblieben ist. Wenn das Problem wirklich die Dimension der Tragik, also der Unlösbarkeit hat, dann ist es kein Wunder, daß auch die Politik der australischen Führung gegenüber den eigentlichen Besitzern des Kontinents nicht fruchtet. Am Leben halten und irgendwie leben lassen, lautet, auf einen groben Nenner gebracht, die staatliche Philosophie. In der Praxis bedeutet dies, daß man den Aborigines, ohne eine Gegenleistung zu verlangen, Gelder zahlt und ihre Lethargie somit verfestigt. »Alkohol, Alkohol, Alkohol« In Alice Springs, Hauptstadt des »roten Zentrums« von Australien und unser nächster Stopp auf dem Stuart Highway, fallen die Konsequenzen dieser Haltung sofort ins Auge: Ganze Gruppen von Aborigines dösen im Schatten der Eukalyptusbäume, stehen Schlange vor den Schnapsläden oder liegen betrunken im ausgetrockneten Bett des Todd River, der dieser auseinanderdriftenden Stadt von 25 000 Einwohnern so etwas wie eine Linie gibt. Ein Bild menschlichen Elends bietet sich schon bei der Einfahrt, und das erschwert den psychologischen Zugang zu Alice Springs, das seine historische Bedeutung vor allem einer 1871 in Betrieb genommenen Telegrafenstation verdankt. Um dieser etwas sperrigen Stadt, in der 1926 lediglich 40 Bürger registriert waren, zumindest ein wenig näherzukommen, halten wir uns an eine bewährte Methode: Wir kaufen uns die Heimatzeitung. »Alice Springs News« heißt die
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Gazette, deren Seiten wir zunächst nach dem Zufallsprinzip durchblättern. »Für Männergeburtstage« preist im Anzeigenteil »Liza, die Königin des Striptease« ihre Dienste an. Auf derselben Seite bietet das »Drogen- und Alkohol-Zentrum« Hilfe bei der »Entgiftung des Körpers«, bei »Spielsucht«, beim »verantwortungsvollen Ausschenken von Alkohol«. Die »Anonymen Freßsüchtigen« fragen: »Ist Gewicht ein Problem für Sie?« Eine Mutter aus dem Süden des Landes, so lesen wir im Nachrichtenteil, sei in Alice eingetroffen, um ihren Sohn zu identifizieren. Der Zwanzigjährige sei beim Sturz von einem der Bergmassive ums Leben gekommen, die Alice Springs wie ein schützendes Hufeisen rahmen. Mit nachträglichem Schrecken registrieren wir, daß ganz in der Nähe des »Heartbreak Hotel«, auf einer unserer letzten Pisten also, zwei Aborigines verdurstet sind. Sie waren in der sengenden Hitze mit ihrem Auto liegengeblieben und hatten nicht genügend Proviant bei sich. Immer wieder berichtet das Blatt mit solidarischer Anteilnahme über den Kampf von Bürgern gegen die Behörden – über einen Busunternehmer zum Beispiel, der mit der Stadt um das Recht streite, Touristen vom Flughafen abholen zu können und der, um seine Prozesse finanzieren zu können, bereits sein Auto und seinen Hund verkauft habe. Kein Zweifel: Diese kleine Zeitung ist informativ und hat einen spezifischen Charme, und so suchen wir im Impressum nach dem Namen des Herausgebers. Erwin Chlanda heißt er. Eigentlich könnte man den mal anrufen und fragen, ob er bereit sei, sich mit uns zu treffen.
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Erwin Chlanda ist sofort bereit. Das Gespräch, sagt er, könnten wir gern auf deutsch führen. Er sei nämlich Österreicher und vor 22 Jahren als Tourist in Alice Springs hängengeblieben. Seine Muttersprache habe er in dieser Zeit nicht verlernt. Man fährt den Stuart Highway einige Kilometer hinunter in Richtung Süden, bevor man die Wildnis erreicht, in die Erwin Chlanda, der Journalist aus Wien, sein Haus gesetzt hat. »Broken Ellbow« haben er und seine irische Frau Kieran ihr Heim genannt. Das Unwirtliche, das in diesem Namen mitschwingt, offenbart sich bereits bei einem Gang über das Grundstück. Der Hausherr, ein rundlicher Mittfünfziger mit einem zwischen Frohsinn und List wechselndem Blick, zählt genüßlich auf, welches Getier in diesem Garten inmitten der Wüste existiert: die unterschiedlichsten Arten von Vögeln, Reptilien wie der über einen Meter große Guana, Schlangen und, als Vorboten von Regen, jede Menge Skorpione. Alle Pflanzen, sagt Erwin Chlanda, wüchsen wild in »Broken Ellbow«. Auch alte Bäume räume man nicht beiseite, sondern lasse sie auf natürliche Weise vermodern. Das locke ganze Ameisenkolonien an. Und diese Insekten wiederum seien das ideale Futter für die Vögel und die Schlangen. Giftige Schlangen schlage er mit der Schaufel tot. »So«, sagt er, und man spürt den Luftzug seiner symbolisch zum Boden schwingenden Hände. Insgesamt zwei Hektar groß ist dieses Gelände. Die Temperaturen, so erfahren wir, schwanken hier im Winter, also etwa von Juni bis August, zwischen acht Grad minus in der Nacht und 25 Grad plus am Tage.
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Seine kleine Zeitung, die einmal in der Woche erscheint, betreibt Erwin Chlanda mit zehn vor allem freien Mitarbeitern. Das Blatt hat eine Auflage von 9300 Exemplaren, ist im gesamten »roten Zentrum« verbreitet und finanziert sich ausschließlich durch seine Anzeigen. Vor allem aber bieten die »Alice Springs News« einen Mikrokosmos der Gesellschaft – und das macht das Gespräch mit ihrem Herausgeber für uns so interessant. Als Journalisten, die wir ja selbst sind, versuchen wir, eine gewisse Struktur in unseren Dialog zu bringen, und so beginnt die Aufzeichnung auf unserem Recorder mit der Frage, was denn das größte und häufigste Problem sei, über das die Zeitung berichtet. Die Antwort reduziert sich auf einen einzigen Begriff, den Erwin Chlanda allerdings gleich dreimal nennt: »Alkohol, Alkohol, Alkohol.« Das habe, erläutert die irische Ehefrau, auch mit dem für den Männlichkeitswahn des Outback typischen Mythos zu tun, ein ganzer Kerl sei nur, wer auch viel saufe. Von der Sucht am stärksten betroffen, ergänzt ihr Mann, aber seien eindeutig die Aborigines. Und das sei vor allem auf die kulturelle Entfremdung zurückzuführen, unter der diese Minorität auch in Alice Springs leide. »Es wird alles über die Köpfe dieser Leute hinweg entschieden«, sagt Erwin Chlanda: »Und häufig macht man ihnen Versprechungen, die dann nicht eingehalten werden.« »Können Sie uns Beispiele nennen?« »Als in Alice Springs ein Straßenzug begradigt werden sollte, war von dieser Maßnahme auch eine heilige Stätte der Aborigines betroffen. Man hat ihnen gesagt: ›Wir berühren diesen Ort nicht.‹ Und in der Nacht hat man ihn dann doch klammheimlich aus dem Weg geräumt.«
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Der Herausgeber nennt eine erschreckende Zahl: Morde an Frauen kämen in der Gemeinschaft der Aborigines 31 mal häufiger vor als in der übrigen australischen Gesellschaft. In nahezu allen Fällen sei Alkohol im Spiel. Betrunkene Ureinwohner trügen in Alice Springs immer öfter auch ihre Stammesfehden aus. »200 Leute«, sagt Erwin Chlanda, »schlugen neulich aufeinander ein – und zwar mitten in Alice, in der Fußgängerzone.« Unser Gastgeber liefert uns auch ein Beispiel dafür, wohin die staatliche Politik führen kann, arbeitslose und alkoholkranke Aborigines pauschal mit Geldzuwendungen abzuspeisen. Eine angesehene Bürgerin der Stadt, so der Kern der Geschichte, entdeckt am Todd River ein heruntergekommenes Baby. Sie nimmt es zu sich nach Hause und päppelt es mit großer Mühe auf. Plötzlich meldet sich die 15jährige Mutter und nimmt ihr das Kind wieder weg. Die Behörde unterstützt sie dabei. »Die 15jährige Mutter«, erläutert Erwin Chlanda, »hat das nur getan, um vom Staat das Geld für ihr Kind kassieren zu können. Und was macht sie mit diesem Geld? Sie vertrinkt es am Todd River. Das Baby verhungert, wenn das noch ein paar Tage so weitergeht.« Die »Alice Springs News«, die über den Fall seit Wochen in Fortsetzungen berichten, verhalten sich in dieser Angelegenheit äußerst differenziert: Sie stellen sich zwar moralisch auf die Seite der fürsorglichen Bürgerin, vollziehen aber auch das Argument der Kommune nach, daß man nicht in Zeiten zurückfallen dürfe, in denen es gang und gäbe war, Aborigines die Babys wegzunehmen und diese Kinder von den »besseren« weißen Familien großziehen zu lassen. Vor allem aber macht das Blatt nicht Stimmung
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gegen die süchtige Mutter, die ja in diesem Drama selbst zu den Opfern gehört. Ohne Wenn und Aber bekämpft das Blatt Mißstände wie die Korruption oder die Schlamperei in Behörden. »Wir haben mal eine Kampagne gegen die Leitung des Touristenbüros geführt, danach sind einige Leute entlassen worden«, berichtet der Journalist, den häufig Tips aus der Bevölkerung erreichen. Mit einigem Staunen registrieren wir die politische und die publizistische Dimension, die das Wirken dieser Gazette aus dem »roten Zentrum« hat. Der weltweit operierende australische Verleger Rupert Murdoch, so erfahren wir, habe es auch auf die Provinzzeitungen des Kontinents abgesehen. Er kaufe eine nach der anderen auf, um sein konservativ orientiertes Meinungsmonopol auszubauen. »Dagegen werde ich kämpfen«, sagt Erwin Chlanda. »Und damit will ich anderen kleinen Blättern ein Beispiel geben.« »Und privat ... hält Sie auch privat etwas in Alice?« »Ach, wissen Sie: Wenn das Outback Sie erst mal gepackt hat, dann hat es Sie im Griff. In zehn Minuten sind wir mitten im Busch. Am Wochenende nehmen wir unsere Schlafsäcke, legen uns in die freie Natur, machen Feuer, trinken Wein, blicken hinauf zu den Sternen. Sie können sich gar nicht vorstellen, was man am Himmel alles entdecken kann.« »Und Ihre europäischen Freunde ... vermissen Sie diese Freunde nicht?« »Es stimmt schon: Unser bester Freund lebt in Wien. Aber der war in den vergangenen zwei Jahren fünfmal in Alice.«
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Noch beim Abschied nutzen wir die Chance, die ein Journalist bietet, der sich auskennt im »roten Zentrum«. Ob es hier, so fragen wir Erwin Chlanda, noch irgend etwas Besonderes gebe, das einen Besuch lohne. Ohne lange zu überlegen, empfiehlt unser Kollege eines der Road-trainDepots, einen Sammelpunkt und eine Servicestation für die riesigen australischen Lastzüge. Die Männer, auf die wir dort träfen, seien allerdings sehr sperrig. Auf jeden Fall sollten wir ein paar Kartons Bier mitnehmen. Rodney, Andy, John, Browny und Scotty Das Depot liegt direkt am Stuart Highway und schon der Anblick der stählernen Giganten läßt uns zunächst in respektvollem Staunen verharren. Einige solcher Ungetüme waren uns ja schon auf unserer Piste begegnet; doch nun, da wir sie in aller Ruhe aus nächster Nähe betrachten können, wirken sie noch wuchtiger und auch bedrohlicher. Sechzig Reifen zählen wir an dem Road train dort drüben. Leuchtend rot und mit einem silbernen Rost verziert, ragt der Kühler gegen den Himmel, an dem heute, einem der heißesten Tage auf unserer Reise, kein einziges Wölkchen zu sehen ist. Sechs Scheinwerfer sind über die Front des Gefährts verteilt. Die Marke »Mack« weist es als amerikanisches Produkt aus. Als Markenzeichen thront, durchaus angemessen, eine Bulldogge auf der Motorhaube. Sechs, sieben dieser Road trains parken auf dem Gelände. Die rauhen Stimmen ihrer Fahrer dringen aus einer Halle, die offenbar als Service-Zentrum dient. Wir schultern die beiden Kartons mit »Melbourne bitter«, die wir auf den Rat Erwin Chlandas besorgt haben, und fragen uns,
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wie man sich diesen Königen der Piste wohl am besten nähert. Forsch? Zurückhaltend? Betont freundlich? Da uns die Erfahrung gelehrt hat, daß in Australien die Menschen zumeist von selbst auf einen zukommen, beschließen wir, einfach hineinzugehen in die Halle und auf die Situation zu reagieren. Die Gespräche verstummen, als wir die Station betreten. Der Ausdruck der Blicke, die sich auf uns richten, läßt sich als Urteil interpretieren: Mein Gott, Touristen ... »Touristen«, sagt einer der Männer tatsächlich, »sind auf den Highways die Schlimmsten. Die mieten sich die tollsten Autos, zuckeln dann im Schneckentempo über die Piste, und du fährst mit deinem ›Mack‹ meilenlang hinterher.« Fünf Typen sitzen da im Kreis beisammen. Mit seinem Cowboyhut, seinen Stiefeln, seinem schmalen Gesicht und seiner Schlaksigkeit sieht einer aus wie Crocodile Dundee, ein anderer wie J. R. Ewing, das Ekel aus der Serie »Dallas«; zumindest hat er dessen rundes Gesicht, seine Statur und auch seine böse blitzenden Augen. Und er scheint der Boß zu sein in dieser Runde. Jedenfalls ist er es, der uns mit einem knappen Fingerzeig bedeutet: setzen. Als Sitzgelegenheit dienen ölige Getriebe. Die Ketten von Flaschenzügen baumeln über unseren Köpfen. Der Abreißkalender an der Wand zeigt im November ein Pinup-Girl, das mit lasziver Nacktheit lockt. Kein Zweifel: Wir sind in einen Zirkel von Machos geraten, denen wir zunächst versichern, daß wir als Touristen sehr zügig führen, und die wir beflissen mit »Melbourne bitter« bedienen. Es herrscht eine Stille, in der wir über ein »Heißer Tag heute« zunächst nicht hinauskommen. Und so sind wir
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froh, daß der Boß nach neuerlichem Schweigen eine Frage stellt, die zwar auch nicht gerade erhellend ist, die aber zusammen mit der notwendigen Antwort der Anfang eines Dialogs sein könnte. »Wer«, fragt der Chef, »trinkt wohl mehr Bier: die Australier oder die Deutschen?« »Das können wir an Ort und Stelle testen. Mal sehen, wer mehr Bier verträgt: Wir Deutschen oder ihr Australier ...« Neue Dosen machen die Runde. Die Herrscher der Highways stellen sich vor: »Rodney.« – »Andy.« – »John.« – »Browny.« – »Scotty.« Der Bann ist gebrochen. Andy, der Crocodile-Dundee-Typ, ist am gesprächigsten. Vor allem technische Daten, die keine Äußerung von Gefühlen verlangen, spult er eloquent herunter: Daß der Tank seines »Mack« 1500 Liter Sprit fasse, ein einziges Rad 65 Kilo wiege, daß man für die mehr als 1400 Kilometer hoch nach Darwin 16 bis 20 Stunden brauche, je nach Windstärke, Windrichtung und Ladung. »Bist du allein unterwegs oder fahrt ihr zu zweit?« »Allein, immer allein.« »Was transportierst du?« »Vor allem Lebensmittel und Vieh. Aber auch das Shampoo, das ihr benutzt, das Toilettenpapier, die Seife ... fahr’n alles wir.« »Bist du manchmal auch an Feiertagen unterwegs, zum Beispiel Weihnachten?« »Na klar: Die Leute müssen doch was zu essen haben.« »Vermißt du Weihnachten deine Familie?« »Krankenschwestern und Ärzte müssen Weihnachten auch arbeiten.«
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»Was ist das Schönste am Truckerleben?« »Die Kameradschaft. Jeder Trucker kennt jeden. Wir halten zusammen.« »Was ist das Schönste während einer Fahrt?« »Wenn du morgens auf der Piste bist und die Sonne aufgeht, der rote Ball der Sonne ... unglaublich.« »Und das Schlimmste – außer den Touristen?« »Die Einsamkeit, diese unglaubliche Einsamkeit, die du empfindest, wenn du zum Beispiel 42 Stunden ohne Schlaf in deinem ›Mack‹ sitzt.« »Hast du schon ein Känguruh überfahren?« »Eins? Dutzende. Das ist nicht mehr als ein kleiner Schlag im Lenkrad.« Andys Beispiel wirkt ansteckend. Auch die anderen Trucker, die er Kameraden nennt, legen mehr und mehr ihr machohaftes Gehabe, ihre rauhbauzigen Gebärden ab. Sie berichten von ihrem Familienleben, das natürlich leide unter der ewigen Abwesenheit, und sie reflektieren über die gesellschaftliche Funktion, die ein Trucker hat, der das Outback mit Gütern versorgt. Und der Typ, der sich als John vorgestellt hat, nimmt uns sogar zur Seite und hält einen Monolog voller Charme und voller Lebensphilosophie.
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JOHN CLEM, 52, TRUCK-DKIVER
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ch habe ein paar Drinks zuviel, das geh’ ich zu. Bin ein bißchen angeheitert. Wenn ich draußen bin, trink’ ich aber nie. Never, never ever – niemals trink’ ich, wenn ich meinen Mack unterm Hintern habe. Ist schließlich eine ganz schöne Verantwortung, so ein Truck. Wißt ihr, daß allein der Aufsatz 300 000 Dollar kostet, ohne die Trailer! Ich bin oft über Wochen unterwegs, hab ’ne ziemlich einsame Tour, und deshalb nehm ich gern einen zur Brust, wenn ich mich mit meinen Kumpels in der Stadt treffe. Halt, was macht ihr denn da! So könnt ihr mich doch nicht fotografieren, in meinen Stadtschuhen. Das geht nicht, sieht doch albern aus. In einen Truck gehören Aussie-Stiefel, richtige solide Stiefel. Okay, ein Foto, aber nur vom Kopf bis zur Taille, das müßt ihr mir versprechen. Okay, klettert ruhig mal rein, ist das nicht ein tolles Baby? Sieht doch aus wie im Flugzeug, oder? Ich meine, die Armaturen, sind doch toll. Die Antenne? Die ist für die Flying Doctors, damit kann ich sie holen, wenn mir im Busch oder in der Wüste
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was passiert. Also, wenn ich da draußen ernstlich krank bin, kann ich den fliegenden Ärzte-Service damit erreichen. Ich bin 52, fahr’ seit 19 Jahren. Zur Zeit befördere ich Treibstoff, im Jahr mach’ ich so an die 160 000 Kilometer. Der größte Teil meiner Strecke ist Piste, also ein ungepflasterter Sand- oder Schlammweg, kommt ganz aufs Wetter an. Hier, ich zeig’s euch auf der Karte. Von Alice aus fahr’ ich an die 100 Kilometer Richtung Norden, auf dem Stuart Highway, und dann bieg ich ab nach links, in die Wildnis. Ich fahr’ durch die Tatami-Wüste bis zur Goldmine und lade da mein Benzin ab, 106 000 Liter. Ich fahr’ dann weiter Richtung Norden, durch die Berge nach Wyndham, das ist ein Hafen in Western Australia. Zurück geht’s dann dieselbe Strecke, mit ’ner neuen Ladung Benzin, wieder bis zur großen Mine. Gold, okay, davon träumen viele Menschen. Aber wißt ihr, was für mich Gold ist, pures Gold! Wenn ich bei Halls Creek nach 900 Kilometern Sand und Kies wieder Teer unter meinen Rädern habe. Schwarzes Gold ist das für mich, schwarzes Gold! Wer das nicht selber erlebt hat, der kann sich nicht vorstellen, wie unbeschreiblich schön es ist, endlich wieder eine ordentliche Straße vor sich zu sehen. Ich könnte dann aussteigen und die Straße küssen, wirklich, so fühl’ ich mich dann. In der Regenzeit ist die Straße nach Wyndham allerdings gesperrt, sie schließen sie dann für ein halbes Jahr, weil sie ohnehin meist überflutet ist. Ich fahr’ dann bloß bis zur Mine und zurück, also ein halbes Jahr lang die große, ein halbes Jahr die kleine Route. Gerade eben haben sie die Straße wieder geschlossen, am 1. November haben sie sie dichtgemacht. Die Piste ist kein Spaß, ist sie wirklich nicht. Manchmal hast du so viel Staub, daß du kaum was sehen kannst, und manchmal regnet es Schlamm. Ich sag euch, wenn Regenschauer auf
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Staubwolken prasseln, dann kommt Schlamm runter, tatsächlich Schlamm. Oft kann ich nur 20 Stundenkilometer fahren, lange Strecken zuckle ich im niedrigen Gang vor mich hin. Mein Öl muß ich deshalb auch nicht nach einer bestimmten Anzahl von Kilometern, sondern nach Stunden wechseln. Ob ich mich einsam fühle da draußen? Klar, immerzu, all the time. Das Problem ist, daß du zuviel Zeit zum Denken hast, viel zuviel. Du denkst an alles, denkst es von hinten nach vorn und von oben nach unten durch. Du bist der einzige in der Wildnis, der einzige, der da ist, und du siehst immer dasselbe, immer und immer dieselben Sachen. Manchmal ist das wie Meditieren, ich erzähl’ keinen Scheiß. Du fährst fast bewußtlos, wie im Koma. Heiß ist es auch, klar, am Tage 53 Grad, da kannst du kaum was anfassen. So gegen vier, fünf Uhr nachmittags kühlt’s ein bißchen ab. An der Strecke ist nichts, kein Roadhouse, keine Kneipe. Du mußt dich selbst verpflegen, ich hab’ immer alles dabei. Auch für den Notfall, klar. Falls du mal ’ne Panne hast oder dich festfährst, mußt du dir helfen können. Ich hab’ jede Menge Dosen bei mir, kann lange durchhalten. Wir hatten mal ’nen Kollegen, der hat sechs Wochen festgesessen. Die Piste war schlammig, es hatte unheimlich stark geregnet, und da saß er dann, nichts ging mehr. Wir haben, als das Wetter besser war, einen zweiten Truck rausgebracht, der erst mal alles Benzin aus dem gestrandeten Lkw gepumpt und zur Mine gefahren hat. Danach ist er zurück und hat den anderen rausgezogen. Wenn ich Urlaub hab’, dann mach’ ich es mir schön. Dann steig ich in meinen Sportwagen und fahr’ nach Queensland, an die Küste. Verglichen mit dem riesigen Brummer, fühlt sich der kleine Flitzer wie ein Teenager an, wie ein Teenager. Sollt ich vielleicht nicht sagen, klingt nicht gut, oder? Die Bierchen, sorry, bin ein bißchen betrunken.
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„KAMELE
HABEN
CHARAKTER“
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o fein ist der Sand jenseits der Piste, daß der Wind ihn zusammengeblasen hat zu Dünen. In feurigem Rot leuchten sie aus der Ebene. Ein paar Palmen stehen in der Landschaft wie an einem Strand. Und man fragt sich in einem dieser traumseligen Momente am Steuer: Kommt hinterm Horizont das Meer? Nein, es beginnt kein Ozean, wo unser Weg verschmilzt mit dem Himmel. Noch viele Kilometer geht es weiter wie die vielen Kilometer zuvor: ein paar Palmen, immer wieder Spinifex, eine Pflanze, deren Büschel aussehen wie grüne Igel, vor allem aber Sand, Sand, Sand, zu roten Dünen aufgehäufter, bisweilen in feinen Streifen über die Piste fegender Sand. Durch das geographische, von schäumenden Wellen so ferne Herz Australiens führt unsere Straße, die »Mereenie Loop Road« heißt und die in dieser Gegend eine abenteuerliche Alternative zum Stuart Highway bietet. Auch diese Piste, die weder Teer kennt noch Beton, ist rot, ein wenig dunkler und matter als die glühenden Dünen. Wenn mal, was nicht häufig vorkommt, ein anderes Auto überholt, dann versperren dichte, rostrote Staubwände den Blick. Der feine Sand legt sich auf die Bron-
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chien, und daß man von dem Weg kaum noch etwas sieht, macht die Löcher und die Furchen, mit denen er gespickt ist, so gefährlich. Es passiert aber auch, daß sich dem Auge, wenn die rote Front endlich zerfasert, völlig neue Perspektiven eröffnen: Violett strahlende Plateaus ragen plötzlich auf, wie die gigantischen McDonnell Ranges. Eines dieser Felsgebilde hat die Form eines Kraters. Ein göttlicher Wurf aus der »Traumzeit«, in der alle Existenz beginnt und endet, sagen die Aborigines, die Ureinwohner. Einschlag eines Meteoriten, lautet, ganz sachlich, die Analyse australischer Wissenschaftler. Und sie nennen auch den Zeitpunkt des Naturereignisses: vor 130 Millionen Jahren. Den Aborigines gehören Teile dieses Landes. Der Staat hat sie ihnen zur Selbstverwaltung überlassen. Wer mit seinem Auto durch ihr geheiligtes Gebiet fährt, muß vorher eine Gebühr von umgerechnet 2,50 Mark entrichten. Selbst hier, im verlassenen Busch, stößt man auf das Problem mit der Sucht. »No grogs« – und das bedeutet soviel wie: Alkohol tabu – heißt es immer wieder auf Warntafeln am Wegesrand. Moment mal: Was sind das für bräunliche, langbeinige Tiere, die da, umhüllt von einer roten Wolke, vor unserem Auto die Straße entlangtraben? Höcker, Augen wie Bernsteine, sabbernde Mäuler, ungelenke und doch irgendwie elegante Bewegungen – kein Zweifel: Kamele. Offenbar sogar wilde Kamele. Denn ein Treiber, der dieser frech mitten auf der Piste trippelnden Herde Halt bieten könnte, ist nicht zu erkennen. Der Leitbulle, so nennt man das Führungstier einer solchen Herde wohl, bricht plötzlich zur
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Seite aus. Der Rest der Gruppe, an die 30 Exemplare insgesamt, folgt ihm mit Getöse. Aufwirbelnder Staub markiert den Kurs ihrer Flucht. Irgendwann schrumpfen die Tiere aus unserer Position zu Punkten. Wilde Kamele im australischen Outback ... Wir beschließen, dem Phänomen bei passender Gelegenheit nachzugehen. War der Weg über lange Strecken schnurgerade wie so viele Pisten durch die Einsamkeit, so windet er sich kurz vor seinem Ziel in Serpentinen. Sie führen eine Anhöhe hinunter, von der man auf eine der gewaltigsten Felslandschaften Australiens blickt: auf das Gebiet des Kings Canyon. Die Kurven haben den Vorteil, daß sie ständig die Perspektive verändern und eine Landschaft, auf die eine geradlinige Piste zuführt wie ein Zoom, in immer wieder neue Segmente zerlegen. Mal erscheint das Massiv wie auf Breitwand, mal ist nur ein Sektor zu sehen, in dem sich einzelne Felsgruppen wie zu einer Stadt aus Domen arrangieren. Die Dämmerung naht, als wir dieses Naturwunder aus Sandstein erreichen. Und kein Licht ist für den Kings Canyon idealer als das Zwielicht. Auch in der Dämmerung ist Rot die Farbe, mit der die Sonne ihre Licht- und Schattenspiele treibt. Das Massiv läßt sie zunächst so kräftig leuchten, daß man glaubt, ein riesiger Glutofen stehe da in der Wildnis. Dann taucht sie, nun sichtlich dem Horizont zustrebend, die steilen Wände in mattere Töne, um sie, nachdem sie schon hinter der Linie der Wildnis verschwunden ist, noch einmal aufscheinen zu lassen. Die Ebene vor dem Massiv bezieht die Sonne in ihr grandioses Schauspiel ein. Auch hier wechselt das
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Rot des Sandes immer wieder zwischen hell und matt. Die Schatten der Bäume, der Büsche, der Gräser werden länger und länger, bilden zum dominierenden Rot einen schwarzen Kontrast. Der Abendwind fächert erste Kühle in die von der Sonnenglut erhitzte Wildnis. Nun kriechen auch die Echsen aus ihren Höhlen, springen Känguruhs von Busch zu Busch, schwingen sich Kakadus auf zum Flug ins wieder mit Leben erfüllte Revier, das trotz allen Kreuchens und Fleuchens ein Bild des Friedens, des Abendfriedens bietet. Nur wenige Minuten dauert es, bis das Massiv zur grauen Wand verblaßt, und am Himmel, der zum Finale des Tages noch einmal in den schönsten Farben aufflammt, der Mond mit stoischer Selbstverständlichkeit den Platz der Sonne einnimmt. Erst leuchtet er silbern, schließlich verfärbt er sich gelb, am Ende schwimmt er fett in einem Meer von tausend Laternen, den Sternen, die am Himmel Australiens, weil die Luft hier so rein ist, besonders hell funkeln. Ein Boß namens Ian Etwa 30 Kilometer südlich von Kings Canyon nähern wir uns am nächsten Tag einer Ansiedlung mit dem Namen Kings Creek, die im Grunde nur aus einer Tankstelle, einem Wohnhaus und einem Kiosk besteht. Obwohl dies eine Konstellation ist, wie man sie sich normaler gar nicht vorstellen kann im australischen Outback, erregt ein Detail bei uns erhöhte Aufmerksamkeit: In einem Geviert gleich am Eingang stehen zwei Kamele, ein großes und ein ganz junges.
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Der Anblick jener Tiere, von denen uns gestern eine Herde auf freier Wildbahn begegnete, löst ein Signal aus: bremsen, parken, recherchieren. Kamele auf der Piste, Kamele an der Tankstelle – irgendwie scheinen Kamele zu dieser Gegend zu gehören. Auch in dem Shop, der zur Tankstelle gehört, ist dieses bucklige Wesen präsent. Es glotzt von Fotos, die hinterm Tresen an der Wand hängen. Es ziert einen Pokal, der in einer Vitrine steht und von Ruhm und Ehre kündet: »Alice Springs Camelcup 1994«. Wir suchen das Gespräch mit einem Bediensteten, dessen Gesicht man wegen eines wildwuchernden Bartes kaum noch erkennen kann und bei dem man deswegen auch weder Alter noch Laune einzuschätzen vermag. Erst ein kräftiger Händedruck und die gutturale, aber keineswegs finstere Stimme deuten darauf hin, daß es sich wohl um einen Typen handelt, der die Bitte um eine Auskunft nicht als Affront begreift. Er heiße Gunn, sagt der Mann mit dem riesigen Bart. Aus Dänemark stamme er. Irgendwann sei er hier als Tourist hängengeblieben. Ob der Besitzer der Station zu sprechen sei, wisse er nicht. Aber er wolle gern nach ihm rufen. Schon schallt ein Name mit einer Lautstärke durch den Raum, daß die Kunden für eine Schrecksekunde verstummen und der Köter, der in einer Ecke döste, kurz mit den Augen blinzelt. »Ian ... Ian, hast du ’n Moment Zeit?« Eine Tür geht auf hinter dem Tresen, und es erscheint ein Mann auf der Schwelle, zu dem einem sofort ein Begriff einfällt: Boß. Boß nicht mit negativem Beigeschmack, Boß eher im Sinne von Patriarch. Die markanten Züge unter
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dem braunen Cowboyhut, der selbstsichere Gang, diese Mischung aus Strenge und Freundlichkeit im Blick: Man spürt auf Anhieb, daß man es hier mit einem Charakter zu tun hat, der fest in dieser ebenso rauhen wie grandiosen Landschaft wurzelt. »Mein Name ist Ian Conway«, sagt der Mann, der auch die für diese Gegend typische Kleidung trägt: kariertes Baumwollhemd, Jeans, Stiefel. »Ian Conway. Aber ihr könnt Ian zu mir sagen. Wir reden uns hier alle mit dem Vornamen an.« Der spontane Vertrauensbeweis ermuntert uns, die entscheidende Frage ohne Umschweife zu stellen: »Was haben die beiden Kamele am Eingang der Tankstelle zu bedeuten?« Kamele, sagt Ian, gehörten zum Zentrum seines Lebens. Er fange sie, er hege sie und er verdiene schließlich auch Geld mit ihnen. Der Herr über Kings Creek, 47 Jahre ist er alt, führt uns in sein Büro und weist auf ein überdimensionales Foto an der Wand: Kreise, Punkte, Linien arrangieren sich zu einem verwirrenden Puzzle. »Ein Satellitenfoto«, sagt Ian. Und indem er mit dem Zeigefinger im Zickzack über das Foto fährt, erläutert er die Wege der Kamele: »Hier sammeln sie sich, dort wollen sie hin, hier könnte man sie stellen.« Auf Kameljagd im australischen Outback ... Mein Gott, wäre das ein Abenteuer! Es wird wohl ein Traum bleiben, aber fragen kann man ihn ja mal, den Boß mit dem Cowboyhut. »Wenn ihr wollt«, sagt Ian, »kann’s gleich morgen losgehen. Die Zeit ist sehr günstig für die Jagd.«
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Mit Chopper, Jeeps und Bikes Am nächsten Tag in aller Herrgottsfrühe: Der Farmer führt uns zu einem Helikopter, der auf einem Karree vor der Tankstelle parkt und den wir zunächst für ein Fluggerät der Flying Doctors gehalten haben, die auch im entlegensten Busch ihre Patienten versorgen. »Mit diesem Helikopter«, sagt Ian, »spüren wir die Herde auf.« Und was dann komme, erfordere eine gute Kondition, vor allem aber starke Nerven. »Robert.« – »Mike.« – »Ken.« – »Buster.« – »Bruce.« – »Nick.« – »Neill.« Robert, ein smarter Typ von Anfang 30, wird den Helikopter fliegen, dessen Blätter bereits rotieren und Fetzen von Gras in die Luft wirbeln. Nicht mehr als zwei Personen finden Platz in diesem Gerät, das ausgelegt ist auf minimalen Aufwand und optimale Beweglichkeit. Wie eine größere Käseglocke auf Kufen sieht der Helikopter aus, und wenn die Männer ihn liebevoll »Chopper« nennen, dann entspricht diese verbale Abkürzung durchaus der technischen Dimension. Die anderen Mitglieder der Crew sind, von ihrem Boß Ian abgesehen, meist zwischen 18 und 25. Mike und Ken bringen ihre Motorräder in Stellung, schlanke Maschinen ohne jeden Zierat, einzig und allein bestimmt für den Zweck und den Auftrag, der in diesem Falle lautet, dranzubleiben an den Kamelen, wenn der Pilot sie von seinem Chopper geortet hat. Buster, ein Jüngling noch, wollte sich nach der Schulzeit in der britischen Heimat ein Jahr lang Australien ansehen. In Kings Creek war die Reise zu Ende. Denn mit dem Jeep
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in der Wildnis Kamelen nachzujagen, ist für Buster schon fast eine Sucht. Den zweiten Jeep, der zum Fahrzeugpark gehört, steuert Bruce. Wie bei den Motorrädern beschränkt sich bei den Autos die Ausstattung auf das Wesentliche. Auch ihre Funksprechanlagen sind kein Luxus, sondern eine Notwendigkeit bei der Jagd. Über sie kann man jederzeit Kontakt mit jedem aufnehmen, vor allem mit dem Piloten, der bereits in seiner Rolle als Späher über der Ebene kurvt. Drahtig – fast möchte man sagen: kampfbereit – sehen sie aus, diese dunkelgrünen Gefährte mit den offenen Ladeflächen. Auf der einen steht Nick, auf der anderen Ian, der Boß. Beide halten sich mit einer Hand an einem Gestänge fest, die andere umklammert ein Lasso. Auch wir haben auf den Ladeflächen Stellung bezogen. Bleibt Neill. Er lenkt einen kleinen Lastwagen, an den ein weit ausladender, ganz offensichtlich für einen spezifischen Zweck konstruierter Anhänger gekoppelt ist. »Für Kamele«, sagt Ian. Das heißt, er geht davon aus, daß wir heute welche fangen. Zündschlüssel umdrehen. Gang rein. Gas geben. Wie ein Känguruh hüpft die Karre über die holprige Piste. Schon nach wenigen Kilometern verliert sich der Weg im Busch, einem Gemisch aus rostroten Dünen, Baumskeletten und viel Gestrüpp. Nun fährt der Jeep Slalom. Dort eine Düne: links vorbei. Dort, rechts vorbei, ein paar Büsche. Eine Furche: durch. Das ausgetrocknete Bett eines Baches: links, rechts, links, rechts entlang. Woher, um Himmels willen, nimmt die
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Crew hier die Orientierung? »In dieser Gegend«, hat Ian Conway gestern gesagt, »kenne ich jeden Strauch.« Mein Gott, unser Jeep fährt direkt auf eine Gasse aus verdorrten Bäumen zu. Ein Ast, direkt vor dem Auge. Kopf runter. Vorbei. Die Hände klammern sich am Gestänge fest; der Körper ist Teil des Gefährtes, das ihn rüttelt und schüttelt, den Instinkten den Takt vorgibt: Zweig von rechts; Kopf nach links. Zweig von links; Kopf nach rechts. Der Jeep kippt; Gewicht zur anderen Seite verlagern. »Stop«, kommandiert Ian. Bremsen kreischen. Motoren heulen. Staub wirbelt. In den Funkgeräten überschlagen sich die Stimmen. Ian läuft eine kleine Anhöhe hinauf. Er blickt durch ein Fernglas. Er spricht in sein Funkgerät. Er zeigt auf den Helikopter. Er hebt den Daumen. Das kann nur bedeuten: Kamele. Ian dirigiert uns zu einer Gruppe aus vier, fünf Bäumen, die in dieser Öde und Hitze, weil sie wenigstens ein paar Meter Schatten spenden, fast schon die lindernde Wirkung einer Oase haben. Mike und Ken werfen sich auf die Sättel ihrer Motorräder und rasen, immer wieder Haken schlagend, in die Richtung, in der unser Chopper kreist. Buster und Bruce, die beiden Fahrer, gehen mit ihren Jeeps neben den Bäumen in Stellung. Nick und Ian, der Boß, stehen, das Lasso wurfbereit, lauernd auf der Ladefläche. Das Knattern der Motorräder verliert sich im Wind. Auch der Helikopter ist noch mal abgedreht. Keine Wildtaube gurrt, kein Kakadu kreischt zum High Noon. Die Ameisen unter uns ziehen lautlos ihren Weg. Ganz leise ist es für ein paar Augenblicke. Doch dann rollt, in Staub gehüllt und mit rasender Gewalt, ein Pulk des Irrsinns auf uns zu: vornweg eine Herde von neun, zehn
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stolpernder, strauchelnder Kamele, die Augen vor Angst weit aufgerissen, die Mäuler voller Schaum, zur Seite zwei johlende Jockeys auf ihren knatternden Bikes, darüber ein Helikopter, der, roh und laut die Luft zerschneidend, immer wieder wie eine Hornisse hinuntersticht in Richtung Herde. »Gas geben«, befiehlt Ian, der Boß. Schon reihen sich die Jungs mit ihren Jeeps in die jagende Meute. Ein Wurf mit dem Lasso. Daneben. Noch einer: daneben. Und noch einer und noch einer: zwei Kamele gefangen. Ian und Nick, die Fänger, springen von den Ladeflächen, versuchen, die wild um sich tretenden Tiere mit der Leine zu bändigen. Kamele und Fänger wälzen sich im Staub. Mal scheint das Kamel zu siegen, mal der Mann. Mike und Ken, die Motorradfahrer, kommen den Fängern zur Hilfe. Sie umgreifen die Kamelköpfe mit ihren kräftigen Armen, drücken sie in den Sand. Noch einmal bäumen sie sich auf, die Kamele: schreien und treten, schnauben und zappeln. Schließlich erfaßt eine traurige Ruhe, eine Resignation ihre Körper. Der Widerstand ist gebrochen. Die Männer bugsieren die beiden Kamele auf den Anhänger des kleinen Lastwagens, binden Vorder- und Hinterbeine mit Stricken zusammen. Ian legt den Tieren, damit sie sich der Weite der Wildnis entwöhnen, Tücher um die Augen. Die Kamele, diese stolzen Kreaturen, die sich eben noch wehrten, sehen komisch aus. Tierquälerei? Natürlich stellen wir uns, die wir von dem rasenden Pulk vorhin fast überrannt wurden, diese Frage. Brutal hat die Jagd, einerseits, durchaus gewirkt. Doch könnte Ian, andererseits, seine Familie und seine Helfer in
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dieser Zeit der Dürre kaum ernähren, würde er nicht Kamele für touristische und sportliche Zwecke fangen. Geschichten am Lagerfeuer Auch beim Lagerfeuer, das die erfolgreiche Jagd abschließt, übernimmt Ian Conway den Part des Patriarchen. Er ist es, der den »Billie«, wie man im Outback den Teekessel nennt, über die Flammen hängt. Er präpariert das gesalzene Fleisch, eine Art Corned beef, und er serviert es auch. In unsere Runde am Lagerfeuer dokumentiert Ian Conway eindrucksvoll, daß Kamele für ihn nicht nur eine Erwerbsquelle sind, sondern auch eine Leidenschaft. Er kennt ihre Geschichte in Australien, und er weiß Geschichten über sie zu erzählen. Man selbst wird, wenn man diesem Farmer aufmerksam zuhört, zum Experten. Kamele, so lernen wir, waren seit 1860, der hohen Zeit der Pioniere also, die wichtigsten Transportmittel in Australien. Auf ihrem Rücken brachten sie Lebensmittel, Möbel, Baumaterial und Maschinen für Bergwerke ins australische Outback. Bis zu 600 Kilogramm konnte ein Hengst tragen. Um die 30 Kilometer legten die Kamele am Tag zurück. Mit den genügsamen Lasttieren kamen auch die »Ghans« ins Land, Kameltreiber aus Afghanistan und aus benachbarten Regionen. Ein halbes Jahrhundert lang waren diese Muslime, die Erfahrung hatten mit der Wildnis und ihren Fährnissen, ein fester und wichtiger Bestandteil der australischen Gesellschaft. Bei den monatelangen Expeditionen achteten die »Ghans« auf ihre religiösen Pflichten. Mehrmals am Tag
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beteten sie in der Wildnis zu Allah. Noch heute stößt man in den entferntesten Winkeln des Outback auf Reste ihrer eilig errichteten Moscheen. Auf so manchem Grabstein in den Ecken australischer Friedhöfe ist ein islamischer Name eingraviert. Aber auch so weltliche Passionen wie dem Glücksspiel waren die Kameltreiber aus dem Orient offenbar nicht abgeneigt. So ging ein Afghane 1910 in der Nähe eines Kaffs namens Herbert Springs die Wette ein, daß sein Kamel eine Last von 1500 Kilo tragen könne. Das Tier machte ein paar Schritte – und brach tot zusammen. Ebenfalls aus dem Jahre 1910 ist die Story von einem Rennen überliefert, bei dem ein Kamel gegen ein Pferd antrat. Auf der 200 Kilometer langen Strecke führte das Pferd zunächst mit großen Vorsprung. Nach der Hälfte fiel es um und starb. Das Kamel hielt durch und lief allein ins Ziel. Längst ist das Wasser aus dem »Billie«, dem Teekessel, verbraucht, längst das letzte Stück des gesalzenen Fleisches verzehrt – und Ian Conway, der Kamelfänger, erzählt noch immer Geschichten aus der Welt der Kamele: Daß Kamele hochempfindliche Sohlen hätten und die afghanischen Treiber, um ihre Tiere zu schützen, lange Umwege in Kauf nahmen, daß man die Last bei einem Kamel mal auf ganz besondere Weise ausbalanciert habe – auf der einen Seite ein Klavier, auf der anderen als Ausgleich ein Wassertank. Bahnlinien und die gewaltigen Road trains lösten die Kamele nach und nach ab. In offizieller Mission dienten die letzten Kamele bis 1970 Grenzpatrouillen als Reittiere. Tausende von Kamelen wurden, als sie überflüssig geworden waren, erschossen, viele tausend aber auch buch-
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stäblich in die Wüste geschickt, also der Wildnis überlassen. Sie kämpften sich durch und sie vermehrten sich in dem einzigen Land der Welt, in dem es noch heute wilde Kamele gibt. Zweihunderttausend sind es in Australien insgesamt. Zwei von ihnen leisten uns Gesellschaft am Lagerfeuer. Aber nein: Das sind keine wilden Kamele mehr, die da, dem Schicksal ergeben, ihre Köpfe auf den Boden des Anhängers gelegt haben. Ob sie schlafen? Ob sie dösen? Man weiß es nicht, denn die Augen sind ja verbunden mit diesem albernen Tuch.
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a hinten steht schon wieder so eine graugelbe Wand am Horizont, seht ihr das? Da braut sich wieder ein Sandsturm zusammen, fürchterlich. Ich weiß gar nicht, wie viele wir davon hatten in letzter Zeit, es ist einfach zu trocken. Es ist so trocken, daß sogar die
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Kamele sterben. Um noch was Grünes zu finden, kommen sie ganz nah an die Straßen, das tun sie sonst nie. Als ich gestern morgen aus Adelaide kam, hab’ ich zwei Herden gesehen, direkt am Stuart Highway. Die Dürre dauert nun schon fast sieben Jahre, die letzten vier waren allerdings die schlimmsten. Alles stirbt, alles geht zugrunde; es ist so schwierig, hier zu existieren. Wißt ihr, wenn man diesen Platz zwei Tage sich selbst überließe, dann würde es so aussehen, als habe hier nie jemand gelebt. Jeden Morgen, nachdem wir aufgestanden sind, müssen wir erst mal schaufeln. Den Sand rausschaufeln, jeden Morgen. Die Natur ist einfach übermächtig hier. In diesem Jahr hatten wir zweieinhalb Inches Regen, also sechs Zentimeter im ganzen Jahr, mehr nicht. Im vergangenen Jahr hat es zwar mal richtig geschüttet, in einer Woche kamen 20 Inches runter, aber das hat uns überhaupt nichts gebracht, im Gegenteil. Der Boden war so trocken, daß er das Wasser nicht aufnehmen konnte, und deshalb hat der Regen mehr zerstört als genutzt, er hat einfach alles weggewasehen. Wir haben drei Monate gebraucht, um die Schäden zu reparieren, um den Air Strip, die Zäune und die Straßen wenigstens einigermaßen wiederherzustellen. In den Fünfzigern gab es hier schon mal eine große Dürre, sie hat neun Jahre gedauert und ging 1962 zu Ende. Die vielen toten Bäume, die man überall sieht in dieser Gegend, die sind damals gestorben. Und die Dürre, die jetzt herrscht, wird natürlich auch wieder ihre Opfer fordern. Ursprünglich hatten wir mal 800 Rinder, aber zur Zeit sind es nur noch 500. Wir verlieren jetzt viel Vieh, täglich sterben uns Kühe weg aus Mangel an Futter, ihre Kadaver liegen überall im Busch. Was noch am Leben ist, sieht trostlos aus, abgemagert bis auf die Knochen.
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Natürlich versuchen wir alles, um die Tiere zu retten. Wir können uns zwar nicht leisten, die großen Proteinblöcke zu kaufen, die ihnen Kondition geben würden, die kosten 200 Dollar das Stück, das ist zu teuer für uns. Aber wir versorgen die Rinder mit Wasser und Salz, viel Salz, das hilft ihnen, all das Gestrüpp zu verdauen, das sie fressen müssen. Wir kaufen Swimmingpool-Salz. Es ist preiswert und hat sich bewährt. Alle Farmer haben zur Zeit Probleme, den meisten geht es noch viel schlechter als uns. Wir haben immerhin noch anderes, was uns am Leben hält, den Tourismus, die Kamele. Etliche unserer Nachbarn können sich nur über Wasser halten, weil die Männer von zu Hause weggegangen sind und sich anderswo Arbeit gesucht haben, beim Straßenbau zum Beispiel. Die Frauen bewirtschaften die Anwesen allein, und das ist nicht gerade einfach. Das Land hier ist eine Herausforderung, ja, das ist es, und natürlich geht einem manchmal alles auf die Nerven, die Hitze, die Fliegen, der Staub. Aber ich habe eine emotionale Beziehung zu dieser Gegend, hier ist meine Heimat, hier kenne ich mich aus. Ich weiß hier besser Bescheid als jeder andere, besser auch als die Aborigines. Ich bin in und um Alice aufgewachsen, bin hier rumgewandert, ich kenne jede Ecke, jeden Stein. Mein Großvater war der erste Weiße, der in Kings Canyon gelebt hat, 1907 kam er hierher, er kam auf einem Kamel und hat in einer Höhle gelebt, direkt am Canyon. Zwei Jahre hat er dort zugebracht. Er war Viehtreiber und hat sich nach Land umgesehen. Ursprünglich stammt meine Familie aus Schottland. Mein Urgroßvater war Steinmetz, einer der besten damals. Er kam nach Adelaide, um dort das Parlament mitzubauen. Es steht heute noch, ein wunderschönes Gebäude.
Fünfte Etappe: Von Alice Springs nach Kings Creek
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Ich hänge auch deshalb an Kings Creek, weil wir uns hier unter allergrößten Schwierigkeiten etwas aufgebaut haben. 1981 haben meine Frau Lynn und ich das Land hier von der Regierung geleast, damals waren es noch 1100 Quadratkilometer. Das klingt großartig, aber ihr könnt euch gar nicht vorstellen, wie primitiv alles war ganz am Anfang. Heute ist es komfortabel, wenn’s dir zu heiß wird, gehst du ins Haus und stellst die Air-condition an. Damals haben wir unter einer Zeltplane gelebt, fließendes Wasser oder Toiletten, daran war überhaupt nicht zu denken. Unser Wasser haben wir aus dem Creek geholt. Zwölf Kilometer war der entfernt, und einmal die Woche sind wir hingefahren. Mit einem alten Truck voller Tonnen, die wir mit Wasser gefüllt haben. Das war unsere Ration für die Woche. Wir hatten wenig Geld damals, wir mußten mit dem Nötigsten zurechtkommen. Drei Jahre hat es gedauert, ehe wir Trinkwasser aus dem Hahn bekamen, drei Jahre lang sind wir jede Woche zum Creek getuckert. Lynn hatte nicht einmal einen vernünftigen Herd, gekocht hat sie mit einer Campingausrüstung. Und eine Waschmaschine gab’s natürlich auch nicht, es wurde per Hand in Eimern gewaschen. Unser großes Glück war, daß es damals genug Wasser gab. Die frühen Achtziger waren gute Jahre, es hat ausreichend geregnet, durchschnittlich 15 bis 20 Inches. Ohne das Wasser hätten wir nicht überleben können – no way. Heute hätten wir hier keine Chance, wir würden keine Woche durchstehen. Trotz des Wassers -für Lynn war es natürlich eine harte Zeit. Im Busch ist es immer härter für die Frauen als für die Männer. Frauen haben andere Bedürfnisse. Ich finde, es wird von niemandem so recht gewürdigt, was Frauen in diesem Land geleistet haben. Sie haben entscheidend zur Entwicklung im Busch beigetragen, einen tollen Job gemacht. Nur wenige Männer im
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Outback haben es geschafft ohne eine Frau an ihrer Seite. Die Frau ist das Wesen, das alles am Laufen hält. Um den Haushalt und die Kinder kümmert sie sich ohnehin. Und wenn der Mann nach Hause kommt und sagt: Verdammt, ich schaff das nicht allein, dann verlegt sie auch Schienen oder hilft bei der Reparatur des Jeeps. Morddrohungen und Streß Alle Farmersfrauen sind harte Arbeiter, auch die Kinder packen früh mit an. Meine drei konnten ein Auto steuern, als sie gerade sechs Jahre alt waren. Sie mußten das können. Sie waren ja oft mit mir draußen im Busch, und wenn mir da etwas passiert wäre, hätten sie mich nach Hause bringen müssen. Oder wenn ich einen Truck von draußen geholt hab’, dann mußten sie das Auto heimfahren. Ich erinnere mich noch genau: Mein Sohn Simon, der saß auf einem Kissenberg im Toyota, er konnte kaum übers Steuer blicken. Simon und meine jüngste Tochter sind jetzt im Süden, bei Adelaide. Sie gehen dort zur Schule. Megan ist meine Älteste, sie ist 18. Sie mag die Gegend hier genauso wie ich, gerade hat sie angefangen, bei mir zu arbeiten. Möglich, daß sie das alles mal übernimmt eines Tages. Zur Zeit gibt es viele Gerüchte über uns. In Alice hieß es neulich zum Beispiel: Oh, die Conways wollen Kings Creek verkaufen. Ich denk’ mir: Laß sie reden, verkaufen werde ich nie. Dazu hat man zuviel harte Arbeit und auch zu viele Emotionen investiert. Als wir aus dem Gröbsten raus waren, da fing der Kampf um unsere bescheidene Existenz nämlich erst richtig an. Wir konnten gerade etwas vorweisen in Kings Creek, da traf es uns wie
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ein Blitzschlag: ein sogenannter Aboriginal Land Claim. Das heißt, eine Organisation der Ureinwohner hat Anspruch auf unser Land angemeldet. Die Gerichte haben gegen uns entschie’ den, man hat unseren Vertrag mit der Regierung für nichtig erklärt. Wir haben das nicht akzeptiert, sind einfach geblieben. Aber es war hart, geradezu traumatisch. Wir haben Morddrohungen bekommen, wir hatten Angst, waren bis an die Zähne bewaffnet. Eine schlimme Zeit, aber sie hat uns auch zusammengeschweißt. Meine Familie und mich und auch unsere Leute. Damals war ich ziemlich krank, fünfmal hat man mich am Hals operiert. Die Arzte haben gesagt, es läge am Streß. Und dann, ganz plötzlich, wurde die Angelegenheit geregelt. Alle Papiere wurden unterschrieben, 100 Quadratkilometer gehören jetzt uns. 1800 haben wir zusätzlich von einer Aborigines-Organisation geleast, auf 45 Jahre. Wir brauchen viel Platz, für die Rinder, aber auch wegen der Kamele. Fangen dürfen wir sie nämlich nur auf unserem Land – na ja, so ganz genau muß man das nicht nehmen, wir überqueren schon mal Grenzen, wenn wir eine Herde im Visier haben. 1969 habe ich damit begonnen, Kamele zu fangen, damals aber nur zum Spaß. Wir lebten im Busch und haben uns einen Spaß daraus gemacht. Es gab ja so viele Kamele, und für die Farmer waren sie eine Plage, weil sie Zäune und Weideland zerstörten. 1971 habe ich dann eine Safari-Tour entwickelt. Wir sind mit Touristen von Alice Springs nach Ayers Rock geritten, in einer Kamelkarawane. Unterwegs hatten wir überall Camps eingerichtet, wo man übernachten konnte. Heute machen sie diese Strecke an einem Nachmittag, per Bus oder Jeep. Aber die Veranstalter wüßten vermutlich auch gar nicht, wie sie die Men-
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sehen länger beschäftigen sollten, sie haben meist keine Ahnung von der Gegend, Die Abenteuertouren mußte ich aufgeben, als sich das Geschäft mit den Kamelen stärker entwickelte. Es kamen immer mehr Bestellungen, zunächst aus Australien, später auch aus Amerika und Saudi-Arabien. Die meisten Tiere werden im Tourismus eingesetzt, schaukeln zum Beispiel an Stränden entlang. Einige werden auch für Rennen trainiert, aber dafür eignet sich natürlich nicht jedes Kamel. Ein Rennkamel muß leicht gebaut sein. Große Stuten oder Hengste haben zwar mehr Stamina, sind aber nicht schnell genug. Wir haben zwei sehr gute Rennkamele, sogenannte Haranis. Nächstes Jahr werden wir sie im Süden laufen lassen, weil man dort gute Preisgelder bekommt. Kamelrennen gibt es überall in Australien, seit Alice Springs 1971 zum erstenmal eins veranstaltete. Wir sind fast immer dabeigewesen in Alice, von Anfang an. Aber jetzt kann ich mir das nicht mehr leisten. Für einen Sieg überreichen sie dir dort nur eine Plastiktrophäe, keinen Pfennig Geld. Einen Truck mit Tieren und Leuten in die Stadt zu bringen, kostet mich 3000 Dollar übers Wochenende. Zu teuer für ein Stück Plastik, außerdem hab’ ich davon schon ein paar Dutzend im Schrank stehen. In Südaustralien zahlen sie Preisgelder bis zu 60 000 Dollar im Jahr. Port Augusta setzt 15 000 Dollar aus, Maree ebenfalls. Mit ein bißchen Glück kannst du so viel gewinnen, daß der Transport kostenlos ist. Darüber hinaus kannst du bei solchen Veranstaltungen Kontakte anknüpfen, Geschäftsverbindungen intensivieren. Wir bereiten uns gerade darauf vor, am Rennen in Port Augusta teilzunehmen, das ist unser nächstes Ziel. Jockeys zu bekommen, ist kein Problem. Bei mir melden
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sich pausenlos, junge Leute, die entweder Kamele fangen oder sie reiten wollen. Gut wär’s schon, wenn wir etwas mitbrächten aus Port Augusta. Gerade ist mir nämlich eine Order geplatzt, in die ich schon eine Menge investiert hatte. Der Bursche aus Amerika, den ich schon seit Jahren beliefere, der hat mich plötzlich hängenlassen. Er hat 100 Tiere bestellt, wollte sie ganz schnell haben. Wir haben überlegt, ob wir das schaffen können. Wenn du 100 brauchbare Tiere verschicken willst, mußt du schließlich mindestens 600 fangen. Obwohl die Zeit knapp war, haben wir zugesagt. Und wir haben’s geschafft, hatten die Viecher alle im Gehege, als er plötzlich anrief und die Bestellung rückgängig machte. Einfach so. Ich hab ihm, natürlich eine Rechnung geschickt, aber ob ich jemals etwas sehe von dem Geld, ist fraglich. Woran man erkennen kann, ob ein Tier Qualitäten hat oder nicht? Na, wenn es schwer zu fangen ist, wenn es dir alles abverlangt, kann es nicht allzu schäbig sein. Ich mag Kamele, ich finde, sie haben Charakter, diese Tiere. Einen starken Charakter. Ich kann mir ein Leben ohne sie nicht mehr vorstellen. Sie gehören dazu wie die rote Erde, die Fliegen, die Kakadus. Ich finde, auch das Land hier hat Charakter. Es ist rauh, es fordert dich, aber es hat Charakter. Und es hat den ganz großen Vorteil, in meinen Augen jedenfalls, daß es alle Menschen gleich macht. Egal, wer oder was du bist, ob du aus dem Slum oder aus einem Herrenhaus kommst: Die abweisende Natur hier zwingt alle auf das gleiche Niveau, weil allen gleich viel abverlangt wird. Wenn uns zum Beispiel Prinz Charles besuchte, dann dürfte er sich zu uns setzen, und wir würden ihm eine Tasse Tee servieren. Niemand würde Brimborium um ihn machen. Wenn er das wünschte, dann müßte er woanders hingehen.
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„ICH
FINDE, DIESES HAT GRÖSSE“
LAND
Sechste Etappe: Von Kings Creek nach Curtin Springs
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ir haben uns bei unserer Fahrt durch das »rote Herz« Australiens längst daran gewöhnt, daß der Wind hin und wieder Streifen feinen Sandes über die Piste weht und daß er den Sand an den Rändern hier und da auch zu Hindernissen für unseren Landcruiser häuft. Aber der Himmel ist klar, und weit ist die Sicht. Droht Gefahr, dann kann man sie berechnen. Zwar begegnet uns auch hier nur etwa alle zehn, zwölf Kilometer ein Auto. Doch so hoffnungslos einsam wie neulich die Strecke vom »Heartbreak Hotel« nach Alice Springs ist der Weg, der von Kings Creek weiter in Richtung Süden führt, nicht. Karger, und das nimmt der Landschaft allmählich die Heiterkeit, wird nun aber wieder die Vegetation. Die Aufhäufungen des Sandes, die bislang die Dimension von Dünen hatten, wachsen jetzt zu Pyramiden an. Wenn in die mal der Wind oder gar ein Sturm hineinfährt, dann gnade Gott. Das Drama, das die Natur in den nächsten Stunden für uns parat hält, steigert sich, wie jedes gute Schauspiel, von Akt zu Akt. Wie es ausgehen wird, können wir noch nicht wissen, als der Wind spürbar stärker wird und auch schon die eine oder andere Spinifexpflanze entwurzelt.
Sechste Etappe: Von Kings Creek nach Curtin
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Wie Kobolde tanzen und springen diese stachligen Büsche über die Piste. Einer wird in die Luft gewirbelt, zieht dort ein paar wirre Kurven und landet mitten auf unserer Kühlerhaube. Die wenigen Autos, die uns begegnen, haben mitten am Tage ihre Lichter eingeschaltet. Das ist kein gutes Zeichen. Die Phantasie malt sich nun keine Szenarien der Vorfreude mehr aus, sondern der Blick konzentriert sich auf die nächste Umgebung. Ist der rote Trichter dort hinten das Zeichen einer Windhose? Hoffentlich gerät unser Auto bei dieser Sandwehe mitten auf der Straße nicht ins Schleudern! Zieht vom Horizont eine Regenwand herauf? Nein, das kann kein Regen sein. Grau ist die Farbe des Regens, nicht rot. Der Wind wird stärker. Wir drehen das Fenster herunter. Es ist ein heißer Wind. Die rote Wand kommt näher, streut erste Metastasen: Die Trichter aus Staub tanzen nun im Ensemble. Die Büsche wirbeln zu Dutzenden durch die Luft. Von den Pyramiden wehen Sandfahnen in die Wildnis, wo sie sich zu roten Wolken, die immer größer werden, vereinen. In unserem Auto verstummt das Gespräch. Jetzt heult der Sturm, zieht die Pflanzen, die Piste, das Auto, die Pyramiden in einen Sog. Sand, Sand, Sand überall. Sand, rotbrauner Sand steigt in Kaskaden zum Himmel, legt sich wie Puder auf die Gräser und Büsche. Und man spürt den Sand, diesen feinen Sand der Wildnis, auch auf der Zunge.
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Die Felder der Spinifexpflanzen, in der Grundfarbe grün, leuchten blau, wo die Sonne die Wände aus Sand durchdringt. Es ist ein bleiernes, ein unheimliches Blau. Die Sicht aus dem Auto beträgt dreißig, zwanzig, manchmal auch nur drei Meter. Unser Tempo ist das Schneckentempo: fünfzehn, zehn, fünf Kilometer pro Stunde. Ein Warnschild schurrt über die Piste. Der Sturm hat es umgeworfen. Einige gelbe Punkte irrlichtern durch die Sandwolken. Die Punkte werden größer, verblassen, verschwinden, tauchen wieder auf, kommen direkt auf uns zu, blenden uns. Es sind die Scheinwerfer eines Road trains. Ein Grollen, ein Röhren, ein Donnern – vorbei. Es war das Filigrane, das Verspielte, das bei unserem Start hoch oben im Paradies von Kakadu die Landschaft prägte. Dann dominierte, in vollkommenem Kontrast dazu, das Geradlinige, Graphische, Klare. Nun aber versenkt die Natur, als wollte sie vor jedweder Idyllisierung warnen, die Welt in eine Düsternis, in der man ganz am Anfang vielleicht noch eine neue ästhetische Variante zu erkennen meinte, die aber allmählich, da es mindestens seit einer Stunde stürmt, gespenstisch und beklemmend wirkt. Man möchte endlich raus aus dem Sand. Man möchte wieder den Himmel sehen. Etwa acht Stunden, hat uns irgendwo jemand gesagt, dauern solche Sandstürme im roten Zentrum Australiens. Dieser hier ist Gott sei Dank gnädiger. Ein Windrad wird sichtbar am Rande der Piste. Zwar klappern seine Blätter noch wie irre im Sturm. Doch es sind endlich wieder Konturen zu erkennen.
Sechste Etappe: Von Kings Creek nach Curtin
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Kaninchen-Hotline und eine Jukebox Unser Ziel heute ist Curtin Springs, eine Ranch mit Road house auf dem Wege nach Ayers Rock, einem riesigen Monolithen, der zu den Symbolen Australiens gehört. Die Wahrzeichen von Curtin Springs sind vier weiße Zapfsäulen, zwei für »Bleifrei«, eine für »Super«, eine für »Diesel«. Einsam stehen sie inmitten eines Platzes, der die Größe eines Fußballfeldes hat und den ordinären Charme einer Transitstation. Der einzige Schmuck auf dem Platz sind ein paar angestaubte Kakteen. Die abgefahrenen Reifen eines Road trains dienen ihnen als Blumentöpfe. Auf den Mülltonnen hocken Raben. Das in grellen Farben und mit groben Strichen gemalte Bild zwischen den beiden Toilettenanlagen zeigt einen Cowboy, der sein Pferd zur Tränke führt. Über dem Eingang für Männer steht: »Romeo«, über der Tür für Frauen: »Juliet«. Der Eingang zum »Shop«, einer Hütte aus Wellblech, ist aus Schwertern geformt. Dazwischen hängen Strippen aus Plastik, deren bläßliche Röte etwas Morbides hat. Der Wind spielt mit dem Vorhang, gibt immer mal wieder den Blick frei in den Laden. Eine Jukebox erkennt man, ein paar schäbige Barhocker, eine Registrierkasse, ein Regal mit Büchsen und Dosen. Wer, wie wir, übernachten will in Curtin Springs, muß sich in diesem Laden anmelden. Niemand steht hinter der Theke, niemand sitzt auf einem der Barhocker. Niemand ist da, der einen Wunsch entgegennehmen könnte. Aber die Jukebox spielt. Jemand, der den Laden gerade verlassen
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hat, muß einen Song gedrückt haben. Eine tiefe Männerstimme singt: »Du kannst mir nicht wegnehmen, was fest in meinem Herzen wurzelt. Du kannst mir mein Australien nicht wegnehmen. Ich und mein Australien – wir waren zu lange zusammen ...« Die Jukebox ist das einzige Stück mit Stil in diesem »Shop«. Der Schacht für die Münzen leuchtet in einem dunklen Rot und ist golden gerahmt. Auch die Knöpfe, mit denen man die Lieder wählt, und die Rauten, die den Body der Box zieren, schimmern rot. Es ist immer noch niemand aufgetaucht in diesem Laden. Das ist eine günstige Gelegenheit, die Verlautbarungen und die Bilder an der Wand zu studieren. Nach John Joseph Curtin, einem früheren australischen Ministerpräsidenten, so entnehmen wir einer Beschreibung, ist dieser Platz im Herzen des Nichts also benannt. Aus Daffke habe der damalige Besitzer den Ort eigentlich »Stalin Springs« nennen wollen. Doch dann habe sich der Sohn mit dem Argument durchgesetzt: »Laßt uns einen australischen Typen als Paten nehmen.« In einer staatlichen Verordnung ist die Strafe für Wirte aufgeführt, die »Betrunkenen oder Minderjährigen« Alkohol ausschenken: »1000 Dollar oder ein halbes Jahr Gefängnis«. Neben einem Schaukasten mit den Fotos der »gefährlichen Schlangen des Territories« hat man einen vertrockneten großen Kuhfladen genagelt. »Genuine Curtin Springs bullshit«, heißt es dazu. Offenbar leidet die Gegend unter einer Tollwutplage. Denn Farmer, »die auf ihrem Grundstück auf tote Kaninchen stoßen«, werden in einer amtlichen Verlautbarung aufgefordert, »die Tiere aufzusammeln, in doppelt gesi-
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cherte Plastiksäcke zu stecken und die Kaninchen-Hotline anzurufen.« Ein Foto zeigt einen Cowboy, der beim Rodeo gerade von einem sich aufbäumenden Pferd abgeworfen wird. So ungestüm muß sich das Pferd gegen den Reiter gewehrt haben, daß das Bild unscharf ist. Auf dem Foto daneben hängt ein glatzköpfiger, sichtlich besoffener Typ seinen Hals in eine Schlinge, die von einem Türrahmen baumelt. Über dem Türrahmen steht: »Exit«. Endlich erscheint der Besitzer des Ladens. »Ich heiße Peter«, stellt er sich vor. Ja, sagt er, für zwei Nächte sei noch eine Kabine im Container frei. Peter ist ein untersetzter, drahtiger Mann. Er strahlt jene angespannte Aufmerksamkeit aus, die jederzeit mit allem rechnet. Auch Peter trägt die Uniform der Region: Baumwollhemd, kariert; Jeans, ausgeblichen; Stiefel, seit Tagen nicht geputzt. Um die 70 dürfte der Wirt alt sein. Der Weg zu den häßlichen braunen Wellblech-Containern, die unsere nächste Heimstatt sein werden, führt durch den Garten, den Peter zu einer Art Vesperplatz ausgebaut hat. Unter schattenspendenden Dächern sind Bänke und Tische aufgestellt. Auch ein Grillgerät steht irgendwo in der Ecke. In einer Reihe von Volieren sitzen, die rosarote Brust voller Wohlbehagen geplustert, Galas auf ihren Stangen. Uns fällt auf, daß sich an diesem glutheißen Nachmittag fast nur Aborigines auf diesem Gelände aufhalten. Eine Gruppe von Männern spielt, von einem Pulk Bierdosen umgeben, Karten. Eine Großfamilie hat sich unter einem Eukalyptusbaum ausgebreitet. Mit ihren von Krankheiten gezeichneten Körpern und ihrer abgeris-
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senen Kleidung machen auch die Aborigines in Peters Garten einen bemitleidenswerten Eindruck. Dennoch sitzen sie da mit einer friedvollen Selbstverständlichkeit, wie wir sie in Alice Springs, wo in der Fußgängerzone die verfeindeten Stämme aufeinanderschlugen, nie erlebt haben. Peter grüßt seine schwarzen Gäste wie alte Bekannte. Die Gäste lächeln zurück. Ein klappriges Bett, ein Nachttisch, eine gelbe Neonröhre, ein Fenster, ein paar tote Mücken und Fliegen auf dem Fensterbrett, am Fensterrahmen eine Spinne in ihrem Netz: unser Zimmer. Zimmer? Kabine. Kabine? Zelle. Ein Waschbecken oder eine Dusche gibt es nicht, eine Toilette sowieso nicht. »Die sanitären Anlagen«, sagt Peter kühl wie ein Herbergsvater, »befinden sich im Gemeinschaftscontainer.« Und er fügt hinzu: »Wundert euch nicht, wenn nachts eines unserer Aggregate eingeschaltet ist. Ich weiß, das ist ein unangenehmes Geräusch. Aber unseren Strom müssen wir hier draußen selbst erzeugen. So ist das nun mal im Outback.« Kaum zu fassen: Das Zimmer hat Air-condition. Da es heiß und stickig ist, schalten wir auf »full«. Es rattert. Es scheppert. Die Wellblechhütte schüttelt sich, als habe sie ein Erdbeben erfaßt. Lauter kann das Aggregat auch nicht sein. Und so stellt sich, am 14. Tag unserer Reise, die Frage: Soll man wieder ausziehen und knapp hundert Kilometer weiterfahren in Richtung Ayers Rock? Eine erstklassige Anlage für Touristen gibt es da, sogar ein Luxushotel. Aber welche Erkenntnisse kann schon Luxus vermitteln? Hier,
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bei Peter, hier draußen im Busch, spielt das wahre Leben. Also: bleiben; gar nicht erst die Koffer auspacken, sondern gleich raus in den Garten. »Wie man’s macht, ist’s falsch« Die Runde der Aborigines auf dem Areal ist größer geworden. Immer mal wieder verschwindet eine Gruppe von Männern in Peters »Shop« und kehrt mit Batterien neuer Bierdosen zurück. Noch immer ist auf diesem Gelände keinerlei Gereiztheit oder gar Aggression zu spüren. Lärm und Hektik herrschen nur an den Spielautomaten, wo sich die Kinder der Aborigines austoben. Auf dem Bildschirm eines dieser Geräte kämpfen auf Knopfdruck »moderne Waffensysteme« gegeneinander: ein »Napalmbomber« aus Amerika, die »Rakete AV-8« aus Großbritannien, die »Laserkanone F-15« aus Japan, die Artillerie »Schlaggewitter« aus Schweden. Es gewinnt, wer die Knöpfe am schnellsten, am raffiniertesten bedient. Die »Laserkanone F-15« trifft den »Napalmbomber«. Ein gelber Blitz: Der Bomber zerfällt in seine Einzelteile. Der Apparat heult auf wie eine Sirene. Es ist die Fanfare für den Sieger. Die Augen eines Knaben, sechs mag er sein, leuchten vor Freude. »I won«, jubelt er. Und er wiederholt es immer wieder: »I won, I won, I won ...« Als Peter, der Wirt, im Garten erscheint, wachen auch die Erwachsenen aus ihrer Lethargie auf. Es ist kurz vor vier an diesem Nachmittag, und die Mitteilung, die Peter zu machen hat, elektrisiert die Runde: »Last order!« Um vier ist offenbar Zapfenstreich für die Aborigines, die nach Peters Ankündigung noch einmal zu Dutzenden
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in Richtung Bar eilen. Wir folgen ihnen und kommen endlich auch hinter das Geheimnis dieser seltsamen Ansammlung inmitten der australischen Wildnis. In den etwas vornehmeren Touristenzentren in der Nähe des Ayers Rock, so erläutert uns Peter, seien die Aborigines zwar als Hilfskräfte und folkloristische Exoten willkommen, aber nicht als Mitglieder der Gemeinschaft. Wer in einer Bar ein Bier trinken wolle, müsse einem Club beitreten. Das aber sei Schwarzen verwehrt. »Für die«, sagte Peter über seine Kollegen am Rock, »sind das doch nur dreckige Nigger.« Der Abschottung setzt der Patron von Curtin Springs sein pragmatisches Prinzip des begrenzten Zugangs entgegen: Zweimal in der Woche wird ab ein Uhr mittags Bier an Aborigines verkauft, um vier Uhr nachmittags ist Feierabend. Das Kontingent für jeden Kunden ist auf ein Sixpack, also maximal sechs Dosen beschränkt. Der Konsum wird penibel aufgelistet und überwacht. Wer Streit anzettelt, fliegt raus. Eine Großmutter, abgerissen und mit Brandwunden an den Armen, tritt an die Theke. Sie formt ihre Hände, als bitte sie eine Madonna um Beistand. »Eine Dose«, sagt sie, »eine Dose noch.« Der Wirt blickt auf die Liste, schüttelt den Kopf. »Nur eine«, fleht die alte Frau. Der Wirt bleibt hart. »Wenn es ihnen auch schwerfällt«, sagt er, »die Aborigines akzeptieren die Regeln. Und natürlich darf man sich nicht selbst in ihrer Gegenwart besaufen.« Ein festes Ritual und klare Regeln, Ruhe durch Ordnung: Werden nicht auch in Curtin Springs, so fragen wir uns, die schwarzen Ureinwohner wie Kinder behandelt?
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Und macht unser Wirt, indem er diesen Gästen für drei Stunden seine Bar und seinen Garten öffnet, nicht auch ein gutes Geschäft dabei? Aber haben wir, andererseits, jemals eine so harmonische Gemeinschaft von Aborigines gesehen, wie an diesem Nachmittag? Und limitiert Peter nicht auch freiwillig seinen Profit, wenn er den Konsum konsequent auf ein Sixpack pro Person beschränkt? »Wie man’s macht, ist’s sowieso falsch«, sagt Peter, der die Wünsche der Kundschaft immer wieder mit den Strichen in seiner Liste vergleicht. Eine ganze Serie von Prozessen habe er wegen seiner Methoden schon am Hals gehabt. »Eine Behörde hat mich mal angezeigt, weil ich überhaupt Alkohol an Aborigines verkaufe. Eine Humanrights-Organisation hat mich verklagt, weil ich den Verkauf zeitlich beschränke, die Schwarzen also anders behandle als die Weißen.« Sechsmal, berichtet der Wirt, habe er allein in der Provinzhauptstadt Darwin vor Gericht gestanden. Da er aber noch keinen Prozeß verloren habe, bekämpften ihn seine Gegner jetzt mit Gerüchten. »Angeblich herrschen hier Mord und Totschlag. Aber, glaubt mir: Die Polizei ist nur sehr selten in Curtin Springs.« Manchmal wirken Peters Aussagen widersprüchlich, doch das so komplexe Thema scheint diesen einfachen Mann weit über die Grenzen seines staubigen Areals zu beschäftigen. Für offenkundige Tatbestände, die wir aus Unsicherheit und wohl auch aus Gründen der politischen Korrektheit nicht auszusprechen wagen, liefert Peter kulturelle Hintergründe; zumindest bemüht er sich darum. »Natürlich«, sagt er, »wirken die meisten Aborigines heruntergekommen
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und verschmutzt. Aber das Wasser war in ihren Gegenden immer so knapp, daß sie jeden Tropfen zum Trinken brauchten. Sich zu waschen, wäre eine tödliche Verschwendung gewesen. Solche Traditionen sitzen natürlich lange fest.« Für den Umgang mit der Minderheit hat der Wirt eine schlichte Philosophie: »Wenn du sie wie Hunde behandelst, beißen sie zurück. Wenn du sie wie Menschen behandelst, reagieren sie auch wie Menschen.« Es ist kurz nach vier. Die Bar leert sich. Wer seine Sixpack-Ration noch nicht abgetrunken hat, kippt hektisch den Rest nach. Unter dem Limit bleibt keiner. Die Gäste sammeln sich auf dem großen Platz mit den Zapfsäulen und schlurfen zu ihren rostigen Autos: der bärtige Opa mit der Wollmütze auf dem Kopf, die Kinder mit den zerfetzten T-Shirts, der freudlose alte Mann mit dem Schlapphut, das Mädchen, auf dessen Mütze »free« steht. Ein Gast schleppt sich auf Krücken über den Platz. Einige torkeln. Es ist ein trostloser Zug. Türen klappern, Motoren heulen auf. Staub umhüllt die Karawane. Der Garten, in dem eben noch eine große Familie friedlich unterm Eukalyptusbaum saß, wirkt wie ausgestorben. Einer von Peters Arbeitern kommt mit der Kehrmaschine. Rot mit einem Hauch von Pink Über die Touristenanlage am Ayers Rock, die, folgt man Peter, ihre Aborigines auch als exotisches Dekor nutzt, gibt es auf jeden Fall auch Positives zu berichten. Keiner dieser Komplexe stört die ästhetische Balance der Landschaft. Die einzige herausragende Erscheinung ist der Monolith,
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den die Ureinwohner Uluru nennen und der zu ihren wichtigsten Kultstätten gehört. Karmesin, pink, bläulich, braun, blau, rot, violett ... Bis zu einem Dutzend Varianten zählen die Prospekte auf, wenn sie die Farben beschreiben, die der Fels je nach dem Stand der Sonne annimmt. Selbst ein ödes Grau bietet die Palette für den Fall, daß ein heftiger Regen den 384 Meter aus der Ebene ragenden Koloß genäßt hat. Manchmal, wenn nämlich ein Sandsturm die Gegend heimsucht, ist der Monolith auch gar nicht zu sehen. Das berichteten jedenfalls Reisende, die gestern, als auch wir in den Sog des Sturmes gerieten, mit ihrem Bus an Peters Tankstelle hielten und sich erst mal den Staub aus den Kleidern klopften. Wir haben den Ayers Rock bei unserem Ausflug gegen Mittag erreicht. Und da die Sonne steil über dem Fels steht, ist Rot die Grundfarbe, ein helles Rot mit einem Hauch von Pink. Es ist eine Kombination, wie wir sie schon von den Plateaus bei Alice Springs kennen oder von den Dünen hinter dem Kings Canyon, die aber nie langweilig wird, weil ihre Leuchtkraft die Sehnsucht nach Heimat und Ferne gleichermaßen stimuliert. Dank Peters Lektionen kennen wir nun auch den profanen Hintergrund dieser poetischen Szenarien: Es sind Abermillionen winziger Eisenpartikel, die dieses Land hier zum »roten Zentrum« Australiens machen. Was den Ayers Rock trotz seiner ähnlichen Farbspiele von anderen Wunderwerken der Natur unterscheidet, ist seine atemraubende Wucht. Kein Sockel, kein Vorgebirge, kein Ausläufer sorgt hier für eine Linie, die das herausragende Monument zumindest halbwegs mit seiner Umge-
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bung verbindet. Dieser Monolith steigt ansatzlos, ohne jeden Übergang aus der Ebene auf, als habe ein riesiger Kran ihn aus den Tiefen der Urzeit ans Tageslicht gehievt und direkt in der Landschaft abgesetzt. Auch daß seine Kuppe rund ist, kann das Erscheinungsbild des Monolithen nicht besänftigen. Dafür sind seine Wände zu steil. Wie klaffende Wunden wirken aus der Ferne die Eingänge der Höhlen, in denen Generationen von Aborigines durch mystische Malereien ihre Ehrfurcht vor den Göttern und Geistern bekundet haben. Kein Zweifel: Wer sich durch den Ayers Rock nicht beeindrucken läßt, der hat das Staunen verlernt. Und glücklicherweise ist die Landschaft, in die die Natur den Felsen geklotzt hat, so weitläufig, daß sich die Ströme der Touristen halbwegs verlaufen. Noch. Jedenfalls gehört dieser Nationalpark gerade bei ausländischen Besuchern zu den beliebtesten Reisezielen in Australien. Und wenn ihre Zahl von Jahr zu Jahr steigt, dann liegt dies auch daran, daß die Regierung in jüngster Zeit alles darangesetzt hat, den Zugang so bequem wie nur irgend möglich zu gestalten. Die 465 Kilometer lange Piste von Alice Springs nach Ayers Rock, zu der wir über weite Strecken abenteuerliche Alternativen wählten, wurde ausgebaut und hat nun einen festen Belag. Man kann von Alice auch täglich per Jet nach Ayers Rock gelangen. Nur 45 Minuten dauert der Flug. Wer den Monolithen aus der Vogelperspektive betrachten will, kann sich ein Sportflugzeug mieten. Auch Helikopter kreisen über dem heiligen Berg. Es schleicht sich in dieses Areal der Erhabenheit auch eine Tendenz ein, auf die man weltweit stößt, wo Wasser-
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fälle sich in Schluchten stürzen, Vulkane ihre Mäuler öffnen oder eben, wie im Nationalpark von Ayers Rock, Monolithen schroff aus der Ebene ragen: Es verbindet sich das Prächtige mit dem Protzigen, das Schöne mit dem Schicken. Es wird die Natur zur Kulisse für die Eitelkeit degradiert. Die vornehmen Herbergen am Ayers Rock bieten nicht nur Konferenzsäle für 300 Personen, sondern auch einen individuellen Limousinen-Service mit Fahrern in Livree: im Cadillac zum Busch-Barbecue. Eine Motorrad-Flotte von Harley Davidsons steht für die Umrundung des Monolithen bereit. Wenn die Sonne untergeht, trifft man sich am Fuße des Felsens zum Champagner-Dinner. Wir fahren erst mal weiter zu den »Olgas«, einem Ensemble von 28 abgerundeten Felsen, das nur 45 Autominuten vom Ayers Rock entfernt liegt. Mit »Kuppeln« werden diese Gebilde häufig verglichen. Es könnten auch Grabmäler aus einem Reich von Riesen sein. Katatjuta – »viele Köpfe« – nennen die Ureinwohner diese von ihnen geheiligte Formation. Eine mythische Interpretation lautet: »Riesen, die sich von Aborigines ernähren«. Den prosaischen australischen Namen »Olgas« verpaßte den Felsen ein Entdecker namens Ernst Giles. Pate stand in diesem Falle eine russische Prinzessin. So phantasielos er bei der Namenswahl war, so ergriffen war aber auch Giles von der Erscheinung seiner »Olgas«. Als »gewaltige Gedenksteine, die an die Entstehungsgeschichte der Welt erinnern«, beschrieb er sie. Als wir auf unserer Fahrt zurück nach Curtin Springs den Ayers Rock passieren, ist der gelbrote Ball der Sonne bereits zur Hälfte hinter dem Horizont versunken. Am Him-
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mel reihen sich Wölkchen in Rosa wie zu einer Regatta in die Nacht. Der Fels trägt nun Violett. Auf einem Parkplatz hat ein Hotel Tische aufgereiht, auf denen große Schüsseln mit Hummer und Kübel mit Champagner stehen. Viele der Gäste haben sich in Schale geworfen: Dinnerjacket, schwarzes Abendkleid. Unter einem der Tische lauert ein Dingo – ein Wildhund, domestiziert durch Luxus. Stinkekäfer und rasende Bullen Als wir am Abend zurückkehren nach Curtin Springs, sind die Fliegen, die uns auch heute den ganzen Tag über zugesetzt haben, einer anderen Spezies von Insekten gewichen: den Moskitos. Angezogen von den Neonröhren unterm Dach, sirren sie durch Peters Gartencafe und sind auch gegen das giftigste Spray resistent. Die Geckos, die sich neben den Leuchten aufgereiht haben, folgen nur noch dumpf ihrer Bestimmung und ihren Trieben. Viel zu satt und zu fett sind sie schon, als daß sie die Mücken mit fintenreichen Attacken paralysieren könnten. Den Moskitos gehört das Terrain, und so wirkt es auch geradezu lächerlich, wenn der moppelige braune Köter, der sich vor den Eingang zur Küche gefläzt hat, in den raren Momenten, in denen der Instinkt über das Phlegma siegt, nach einem dieser impertinenten Quälgeister schnappt. Daß die Fliegen und die Mücken zur Plage wurden, liegt vielleicht auch an der Dürre, die diese Region nun schon im siebten Jahr heimsucht. Die Dürre, die verdammte Dürre: Um sie kreist immer wieder auch das Gespräch am Abendbrotstisch, an dem außer uns ein vielversprechendes
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Ensemble aus der Wildnis Platz genommen hat: Peters Sohn Ashley, der in aller Seelenruhe mit seinem Buschmesser ein Streichholz anspitzt; Ashleys Sohn Randy, Peters Enkel also; ein hagerer Mann namens Paul, der sich als Vertreter für Souvenirs vorstellt und schon seit 1961 regelmäßig in Curtin Springs logiert; Neill schließlich, der Koch, der sich immer mal wieder in die Küche verabschiedet, aus der er am Ende mit den Standardgerichten des Outback zurückkehrt: riesigen Steaks und Schüsseln voller gemischtem Salat. Peter selbst ist in eines der Zentren am Ayers Rock gefahren. Dort tagt heute abend der Lions Club, dem er seit vielen Jahren angehört und dessen Mitglieder bei dieser Sitzung, wie Peter stolz verkündet hat, Geld sammeln wollen für einen Kinderspielplatz und medizinische Testgeräte, die man den »Flying Doctors« schenken will. »Wenn diese Dürre nicht bald aufhört«, sagt Ashley, Peters Sohn, »dann weiß ich auch nicht mehr weiter.« Die Rinder wüßten schon gar nicht mehr, was sie fressen sollten. Auf dem Boden fänden sie nichts mehr. Nun fielen sie über die Blätter der Mulgabäume her. »Wir woll’n hier ’ne ganz neue Rasse züchten«, unterbricht Neill, der Koch, Peters Sohn. »Wir woll’n das Rindvieh mit Giraffen kreuzen. Dann kriegen die Kühe so lange Hälse, daß sie auch ganz oben an die Bäume rankommen.« Ashley, der sich einen passablen Zahnstocher zurechtgeschnitzt hat, ist zum Scherzen offenbar nicht zumute. In Abwesenheit seines Vaters übernimmt er, den Gesetzen der Hierarchie folgend, die Rolle des Patrons, der auf den Ernst der Lage angemessen reagiert. Und dazu gehört es auch, uns Ausländer mit Informationen zu versorgen.
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Mehr als 2700 Quadratkilometer ist das Weideland, auf dem das Vieh nichts mehr zu fressen findet, also groß. Geführt wird das Unternehmen als Familienbetrieb mit klaren Kompetenzen. Peter, der Vater, trägt die Gesamtverantwortung und kümmert sich um das Motel und die Tankstelle. Ashley, der Sohn, ist der Boß der Ranch und damit zweiter in der Rangordnung. »Nur als Familienbetrieb«, sagt Ashley, »kann man hier draußen überhaupt noch existieren. Zehn Leute sind wir. Acht kommen aus der engsten Familie.« Hat der Vater gestern darüber geklagt, wieviel Hader ihm sein besonderer Umgang mit den Aborigines einbringt, so berichtet der Sohn über die Komplikationen im Zusammenhang mit der Viehzucht. »Die Regierung«, sagt er, »verpflichtet uns, den Boden bis auf den letzten Quadratmeter zu nutzen; sonst verweigert sie uns die Zuschüsse. Dann kommen aber die Umweltschützer und werfen uns vor, daß wir den Boden auch beschädigen, wenn wir ihn so rigoros ausbeuten. Das Sagen haben sowieso die Banken: Wenn die dir den Kredit abdrehen, ist alles vorbei.« »Gibt es denn«, fragen wir, »Alternativen zur Viehzucht?« »Ja, ich glaube, wir sind dabei, uns eine Alternative aufzubauen. Wir setzen in Zukunft mehr auf Tourismus. Auf unserem Grundstück liegt nämlich ein riesiger Berg, der Mount Connor. Ein Tafelberg ist das. Daraus könnte man etwas machen.« Ashley weist auf eine Gruppe, die am Nebentisch Platz genommen hat: fünf Männer und zwei Frauen, die in ihren Rucksäcken kramen, Seile auf ihre Festigkeit prüfen, mit
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den Fingern über die Dornen unter ihren Turnschuhen streichen; sportliche Typen allesamt. »Ironmen-Training«, sagt Ashley geheimnisvoll, und nach einer kurzen Pause, in der wir das Mysterium auf uns wirken lassen können, erläutert er, was dahintersteckt. Die eisenharten Sportler sind Rechtsanwälte, Ärzte, Architekten aus den großen Städten wie Melbourne, die sich im Outback stählen wollen für den Konkurrenzkampf. Von Hubschraubern lassen sie sich absetzen auf dem Plateau des Mount Connor. Und dann geht’s per Seil die Steilwand hinunter, an der kein Knick, kein Vorsprung den Füßen Halt und Hilfe bietet. »Das wollen wir ausbauen«, sagt Ashley: »Ganz vorsichtig ausbauen.« »Wieso ganz vorsichtig?« »Nun, wenn bekannt würde, daß man mit so etwas ein Geschäft machen kann, dann würde doch sofort ein großer Reisekonzern alles dransetzen, auch davon zu profitieren.“ Mit seiner schmalen Gestalt, den dezenten Bewegungen, seinem feingeschnittenen Gesicht wirkt Paul, der Handelsvertreter, geradezu fragil in diesem Kreis der Viehzüchter und der Eisenmänner. »Ich liebe den Busch«, betont Paul immer wieder. Und vielleicht liegt in dieser Bekundung ja auch der stille Wunsch nach Anerkennung. Jedenfalls fühlt sich Paul, der die 2300 Kilometer von seiner Heimatstadt Melbourne bis Curtin Springs mit seinem Mittelklasse-Pkw zurückgelegt hat, zu Hause bei Peter und seiner Familie. Wie selbstverständlich und in keiner Weise beflissen, räumt er nach dem Essen die Teller zusam-
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men und wäscht sie in der Küche auch ab. Aufmerksam leert er die Aschenbecher. Aber was heißt hier schon Aschenbecher? Radkappen sind das. Was die Besitzer von Curtin Springs erst anstreben, hat Paul schon erreicht: Er profitiert vom rasant wachsenden Tourismus in Australien, er liefert Schlüsselanhänger und Feuerzeuge mit Outback-Motiven an Souvenirshops, er berät Hotels, die Andenkenläden aufmachen wollen. Den Stopp bei Peter hat er eingelegt, weil er morgen in den neuen Zentren am Ayers Rock zu tun hat. Dann geht es weiter nach Darwin, rund 2000 Kilometer in Richtung Norden. »Früher«, sagt Paul, »war ich auf Postkarten spezialisiert. Durch meine Hände sind Millionen Postkarten gegangen. Ich konnte keine Postkarten mehr sehen. Das schlimmste war, daß ich meine Kunden vor allem in großen Städten wie Sydney hatte. Ich liebe den Busch.« Wie alle am Tisch, kommt Paul immer wieder auf die Hitze zu sprechen. »Ich war in dieser Gegend mal unterwegs, da hatten wir 53 Grad im Schatten, ohne Übertreibung: 53 Grad. Auf der Kühlerhaube hätte man Spiegeleier braten können. Ich hatte mein Auto in der Sonne abgestellt. Das Steuerrad war so heiß, daß man es erst nach 30, 40 Kilometern wieder richtig anfassen konnte.« Randy, Ashleys Sohn, mischt sich ein. »Wir hatten hier mal so ’ne Hitze«, berichtet er, »da wurden die Bullen draußen im Busch verrückt. Einer muß wohl geschnuppert haben, daß wir hier im Haus Wasser hatten. Ob ihr’s glaubt oder nicht: Der ist mitten durch den Garten auf die Küche zugerannt. Ich hab’ mich ihm in den Weg gestellt. Der hat
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mich glatt umgeworfen. Und wißt ihr, wer mich gerettet hat?« Wir wissen es natürlich nicht. Und Paul, der Vertreter, weiß es auch nicht. Ashley, Randys Vater, weiß es. Das sieht man ihm an. Aber der Vater überläßt die Pointe seinem Sohn. »Der da«, sagt Randy, »der da hat mich gerettet.« Und dabei zeigt er auf den fetten Köter, der noch immer bräsig vor der Küchentür liegt und den Randy »Bitch« nennt. »Weißt du noch, Bitch, wie du wie eine Rakete durch den Garten geschossen bist und wie du den Bullen am Lauf gepackt hast? Beide haben wir gegen den Bullen gekämpft. Mal lagst du oben und ich unten. Mal lagst du unten und ich oben. Aber gerettet hast du uns. Das werde ich dir nie vergessen, Bitch.« Um den Hund, den Helden von Curtin Springs, irgendwie teilhaben zu lassen an dieser Hymne, ruft Randy ihm am Schluß noch einmal ein freundliches »Bitch« zu. Doch der Köter rührt sich nicht. Sein aufregendes Hundeleben neigt sich wohl dem Ende zu. Randy, der zu Beginn des Abendessens eher einen schüchternen Eindruck gemacht hat, redet sich nun in einen Rausch. Die Hitze ist ein Thema, das er in allen Facetten kennt. Daran kann man ermessen, welche Bedeutung die Übermacht der Natur in dieser Gegend bereits für einen Menschen hat, der kaum älter als zwanzig ist. »Und dann diese Stinkekäfer«, beginnt Randy eine neue Erzählung. »Wenn es ganz heiß ist, kommen diese schwarzen Stinkekäfer in dein Haus. Ich weiß nicht, ob die hier Schutz vor der Sonne suchen ... jedenfalls sprühen die dir alles voll mit dieser stinkenden Flüssigkeit: den Flur, die
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Wände, die Schränke, die Decke, die Lampen, deine Hemden, deine Schuhe ... Noch wochenlang stinkt das ganze Haus nach Scheiße: furchtbar. In Alice Springs hängen die Hotels sogar Hinweise an die Wand: ›Für den Gestank sind nicht wir verantwortlich, sondern die Käfer.‹« Neill, der Koch, hat seine Arbeit in der Küche getan. Er setzt sich zu uns an den Tisch und kündigt für den nächsten Tag das Frühstück mit einem Pathos an, das dieser in allen Haushalten und Herbergen des Outback allmorgendlich servierte Fraß nicht verdient: »Bacon, Beans and Eggs«. Mit seinem jungenhaften Gesicht, seinen breiten Schultern und seinen stämmigen Armen erinnert Neill an einen Preisboxer, den das Leben schon früh herumgestoßen hat, der aber, da die Fettpolster auch seine kindliche Seele schützen, doch immer irgendwie durchkommt. Gutwillig und gutmütig wirkt Neill. Wenn er dennoch in den Strudel des Bösen geriet, dann lag das sicher nicht an seinem Charakter, sondern an jenen dunklen Verstrickungen, in denen sich selbst der Bravste verfängt, wenn sein Schicksal es so will. »Neill, woher kommst du?« »Aus Melbourne. Bin seit zwei Jahren hier. Sollten eigentlich nur zwei Wochen werden.« »Warum bist du aus Melbourne weggegangen?« »Bitte nicht!« »Ist da irgendwas vorgefallen?« »Ich war der ›böse Neill‹, hat die Polizei gemeint.« »Und warum hat sie das gemeint?« »Bei mir ging’s jeden Tag ›bum, bum, bum‹; Schlägereien ... Einmal hieß es vierzehn gegen einen. Ich war der eine. Mein Gott, hab’n die mich fertiggemacht: Arme gebrochen, Speicheldrüse im Arsch.«
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»Völlig kaputt?« »Völlig kaputt. Weil die Speicheldrüse nicht mehr arbeitet, hab’ ich schwer Zucker.« »Mußt du spritzen?« »Jeden Tag zweimal. Der Zucker geht auch ganz schön auf die Augen. Nächste Woche muß ich nach Adelaide. Die Netzhaut wird mit Laser behandelt.« »Prügelst du dich immer noch?« »Heute bin ich der ›gute Neill‹.« »Hast du vor, nach Melbourne zurückzugehen?« »Bloß nicht. Meine Mutter und meine Schwester war’n mal hier. Die haben gesagt: ›Mensch, ist das alles rot hier.‹ Da hab’ ich gesagt: ›Und bei euch in Melbourne ist alles grau. Rot gefällt mir besser.‹« Es geht auf Mitternacht zu. Peter kommt zur Tür herein. Das Geld für den Kinderspielplatz und für die medizinischen Geräte haben die Herren vom Lions Club zusammenbekommen. »Eigentlich«, so wendet er sich an uns, »müßte ich meine Frau dazuholen, wenn ihr wissen wollt, wie das hier so gelaufen ist und läuft.« Margo, Peters Frau, erscheint. Ja, wirklich: Sie erscheint. Vergleicht man es mit dem wiegenden, dem ausladenden John-Wayne-Gang der Rauhbeine von der Ranch, dann schwebt sie. Ihre Blässe und ihre vorsichtige Gestik lassen auch Paul, den Handelsvertreter, nicht mehr so schmal, so fragil erscheinen. Sie sei 65, sagt Margo. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, daß Peters Frau aus einer anderen Welt stammt als aus dem Reich der Stinkekäfer und der rasenden Bullen.
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MARGO, 65, UND PETER, 69, SERVERIN, RINDERZÜCHTER UND TANKSTELLEN-BESITZER
M
argo: Wir waren beide nicht mehr ganz jung, als wir uns kennenlern-
ten, schon über fünfzig ... Peter: Ich war Witwer, und Margo hatte eine Scheidung hinter sich. Sie war gerade frisch geschieden, als wir uns zum erstenmal begegneten. Margo: Ich lebte damals in Amerika und war mit einer Reisegruppe unterwegs, wir kamen von Ayers Rock und wollten zurück nach Alice Springs. Peter: Ja, und in »Ebenezer’s Roadhouse« haben sie einen Stopp eingelegt, das ist ungefähr 65 Meilen von hier. Ich saß da mit ein paar Leuten beim Bier, als die Reisegruppe reinschneite. Margo: Wir sind irgendwie mit ihm ins Gespräch gekommen. Er hat uns viel übers Outback erzählt, und dann ist er sogar in die Küche gegangen und hat für uns gekocht. Peter: Ich habe die Gruppe bis Alice Springs begleitet, und dabei sind Margo und ich uns nähergekommen. Wir waren uns sympathisch, konnten gut miteinander reden. Margo: Als ich zurück in Amerika war, haben wir angefangen, uns zu schreiben. Und eines Tages kam dann dieser Brief, in dem er ankündigte, daß er nach Amerika kommen wolle. Ob wir uns sehen könnten, hat er gefragt, und ich habe geantwortet: natürlich, ich freue mich darauf ... Peter: Und dann hat sie noch gefragt, was ich sonst noch machen wolle in Amerika, ob sie etwas arrangieren könnte für mich. Klar, hab’ ich geschrieben, ich würde gern eine Besamungsanstalt, eine Abdeckerei und ein paar Murray Greys sehen.
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Margo: Damals wußte ich nicht mal, daß Murray Greys Kühe sind, eine spezielle Art von Kühen. Ich hab’ nur gedacht: Mein Gott, das kann ja heiter werden, lauter Rindviecher. Aber ich hab’ ihm alle Termine besorgt. Sechs Wochen sind wir zusammen gereist, und am Ende hat Peter gefragt: Könntest du dir vorstellen, im Outback zu leben? Peter: Sie hat gesagt: Weiß ich nicht, und ich hab’ ihr geraten, es einfach auszuprobieren. Das hat sie auch getan, sie ist für sechs Monate zu mir nach Curtin Springs gekommen. Margo: Ich mochte Peter, aber ich wollte auch einen totalen Wechsel. Ich hatte in einer sehr kleinen Stadt gelebt in Amerika, mein Mann war Richter, und alle unsere Freunde waren entweder auch Juristen oder Ärzte. Wir waren ständig zusammen; ich dachte damals, ich hätte einen großen Kreis netter und hilfsbereiter Freunde. Aber als dann mein Mann die junge Frau kennenlernte, ohne die er sich sein Leben nicht mehr vorstellen konnte, da änderte sich das alles schlagartig. Nachdem wir uns getrennt hatten, war ich der Außenseiter, offenbar eine Bedrohung für die sogenannten intakten Familien. Man ließ mich links liegen, ich wurde kaum noch eingeladen. Es lag wohl auch an dieser Situation, daß ich bereit war, mein Leben völlig umzukrempeln. Peter: Das war tatsächlich so etwas wie eine Schocktherapie. Aus dem gepflegten amerikanischen Kleinstadtidyll mit BridgePartys und Golf-Turnieren ins heiße, staubige Australien, mitten in den Busch. Margo: Aber ich mochte es, mochte es von Anfang an, nicht nur, weil ich Abstand suchte. Nach der sechsmonatigen Probezeit bin ich noch einmal zurück nach Amerika geflogen, hab’ dort mein Haus verkauft, und kurze Zeit später war die Hochzeit, im Oktober 1986. Ich hab’s nie bereut, auch wenn ich es
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manchmal schade finde, daß ich hier außer Peter keinen gleichaltrigen Gesprächspartner habe. Wir sind nur von jüngeren Menschen umgeben, alle reizend, keine Frage, aber man vermißt doch Leute aus der eigenen Generation. Andererseits: Als ich neulich mal wieder in meiner Heimatstadt war und mich mit meinen früheren Freundinnen getroffen habe, da gab es eigentlich kaum noch Gesprächsstoff. Ich habe mich nicht mehr für ihre Golf-Handicaps und Bridge-Scores interessiert, und sie fanden, glaube ich, meine Berichte über Aborigines, Kühe und die Dürre auch nicht sonderlich originell. »Das Vieh fiel einfach um« Peter: Diese verfluchte Dürre, diese ewige Trockenheit. Mich trifft es nun schon zum zweitenmal im Leben. Als ich das Land hier vor 40 Jahren gekauft hab’, da gab es auch keinen Regen. Neun Jahre lang fiel kaum ein Tropfen vom Himmel. Und hier war nichts, buchstäblich nichts. Nur Staub, Staub, Staub. Wir haben unter diesem Grasdach gelebt, und jeden Morgen mußten wir uns erst mal den Sand vom Hals schaufeln, sonst hätte der uns allmählich begraben. Wasser hatten wir, Gott sei Dank. In der Nähe gab’s einen Brunnen. Aber die Qualität war nicht besonders gut, Trinkwasser mußten wir in der ersten Zeit immer abkochen. Ich weiß noch, daß wir im ersten halben Jahr insgesamt sechs Menschen gesehen haben, genau sechs. Gekommen bin ich mit 1600 Rindern, am Ende hatte ich noch 200. Es wuchs nichts, die Bäume hatten keine Blätter mehr. Das Vieh fiel um, fiel einfach um und blieb tot liegen. Margo: Da mußt man doch wahnsinnig werden. Ich glaube, ich hätte alles stehen- und liegengelassen und wäre geflüchtet.
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Peter: Wenn ich aufgeben wollte, dann sagte meine verstorbene Frau: Come on, warten wir noch, morgen regnet es bestimmt. Und wenn meine Frau nicht mehr mochte, dann hab’ ich gesagt: Noch ein paar Tage, vielleicht regnet es ja bald. Na ja, und irgendwann hat es dann ja auch geregnet. Mit einem Mal kamen 32 Inches runter, die Kühe sind fast durchgedreht. Margo: Zur Zeit haben wir 2000 Rinder, das ist auch nicht gerade viel. Peter: O Gott, nein, ist es nicht. 8000 müßten wir haben, das wäre okay. In meinen Jahren als Viehtreiber war ich für 16 000 Rinder verantwortlich. Dabei konnte ich nicht mal ein Pferd reiten, als ich anfing. Ich bin in Adelaide aufgewachsen, ging zur Schule, als der Zweite Weltkrieg begann. Wir Jungs, wir wollten damals alle in den Krieg ziehen, Australien verteidigen, aber Schüler nahmen sie nicht bei der Armee. Mein Bruder hat auf einer Ranch gearbeitet, 300 Meilen westlich von hier, und er hat mir vorgeschlagen: Komm zu mir, mach den Job ein paar Monate, dann lassen sie dich in den Krieg. Aber der Krieg war zu Ende, ehe ich Soldat werden konnte. Ich bin im Outback hängengeblieben, habe zwölf Jahre als Viehtreiber gearbeitet, bis ich bei einem Unfall mein linkes Auge verlor. Drei Jahre hat es gedauert, bis es ordentlich verheilt war. Danach habe ich dann, 1956 war das, Curtin Springs gekauft. Ich dachte damals, ich wüßte alles. Aber als ich schließlich hier saß, hab’ ich gemerkt, daß ich noch ganz am Anfang stand. Auf der Ranch hatte ich zwar viel über Rinder, aber nichts über Mechanik, nichts über Windräder oder Buchhaltung gelernt. Die hatten für alles einen Experten dort, sogar einen Koch gab es. Wir haben uns durchgeschlagen, meine verstorbene Frau und ich, trotz der Dürre. Aber ich glaube, wenn ich nicht irgendwann eine Alkohol-Lizenz bean-
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tragt und später auch noch die Zapfsäulen hingestellt hätte, wir wären gescheitert. Margo: Das war fast so, als hättest du einen sechsten Sinn gehabt. Peter: Ja, denn bald darauf ging’s mit dem Tourismus los. Ayers Rock wurde entdeckt, und das hat uns am Leben gehalten. Unser Glück war, daß es damals zwischen Coober Pedy und dem Rock keine einzige Tankstelle gab, hin und zurück, und das sind immerhin 1400 Kilometer. Es kam ein bißchen Geld ins Haus, und damit konnten wir die Banken beruhigen. Die saßen uns nach der großen Dürre nämlich sofort im Nacken. Kaum waren die ersten Regentropfen gefallen, standen sie schon vor der Tür und verlangten die Dollars zurück, die sie uns während der schwierigen Zeit geliehen hatten. Aber mit ausgemergeltem Rindvieh kannst du keine Geschäfte machen. Vier bis fünf Jahre braucht man, ehe der Bestand so weit wiederhergestellt ist, daß er etwas einbringt. Für uns war der Tourismus deshalb so etwas wie ein Gottesgeschenk, auch wenn er sich langsam entwickelte. Zuerst kamen nur ein paar Camper, später wurden rund um den Felsen fünf kleine Pensionen gebaut, die an die 45 Leute beherbergen konnten. Yulara mit seinen Viersternehotels ist erst Mitte der Achtziger fertig geworden. Margo: Als ich zum erstenmal hierherkam, war die Straße noch nicht asphaltiert. Die 260 Kilometer vom Stuart Highway bis zum Rock fuhr man auf einer Sandpiste. Peter: Die Teerstraße gibt es jetzt seit acht Jahren. Aber selbst der Stuart Highway ist erst seit 1987 eine anständige Straße. Vorher war die Strecke zwischen Kulgera und Port Augusta furchtbar, in ganz Australien berüchtigt wegen ihres schlechten Zustandes. Bis Adelaide brauchten wir damals, wenn’s gutging
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und nichts überflutet war, drei Tage. Heute machen wir die 1500 Kilometer in 18 Stunden. Margo: Wir sind zwar noch isoliert, aber es hat sich schon viel geändert. Peter: Trotzdem gibt es natürlich Leute, die es hier nicht aushalten. Es passiert mir immer wieder, daß sich jemand aus der Stadt um einen Job beworben hat, bei mir antritt und nach ein paar Tagen stöhnt: Mein Gott, wie kann man hier bloß leben? Hier gibt’s ja nichts. Ich sage denen dann: Ja, so ist das, und ich finde es wundervoll. Freiwillig würde ich nicht zurückgehen in die Stadt. Margo: Das Land hier hat Größe, es ist großartig auf eine ganz besondere Art. Und die Menschen, die hier bleiben, sind auch etwas Besonderes. Sie sprechen vielleicht nicht immer das beste Englisch, aber das macht nichts. Sie sind irgendwie echt, unverstellt. Ich habe mich von Anfang an wohl gefühlt in dieser rauhen Gegend. Als ich Peters kleines Haus damals zum erstenmal sah, hab’ ich zwar gedacht: No way, darin kann ich nicht leben. Ich hab’ mich daran gewöhnt, schneller als ich dachte, es ist bequem und hat Air-condition. Was mir aber wirklich fehlt, so profan das auch klingen mag, ist ein Friseur. Der nächste ist 462 Kilometer entfernt, in Alice Springs. Diese Tour macht man natürlich nicht regelmäßig, man scheut den Aufwand, und manchmal sieht man dann einfach fürchterlich aus. Denkt man jedenfalls, man fühlt sich einfach schrecklich. So ging es mir neulich, als hier ein junger Mann auftauchte, der allen Männern die Haare schnitt. Er hatte Scheren dabei, sein Equipment sah eigentlich ganz professionell aus. Laß es machen, hab’ ich mir gedacht, viel schlimmer als jetzt kann es danach auch nicht aussehen. Aber das war ein Irrtum, der Typ hat mir den schlimmsten Schnitt meines Lebens verpaßt. Später fand ich
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dann heraus, daß er Schafscherer von Beruf war. Die Touristen, die hier stoppen und einen Drink nehmen, die fragen mich oft: Aber die Hitze, die Fliegen, macht einen das nicht wahnsinnig ...? Peter: Die Fliegen müßten wirklich nicht sein. Margo: Aber dagegen kann man sich schützen. Wenn ich im Garten arbeite, setze ich meinen Hut mit dem Fliegennetz auf, das reicht bis über die Schultern. Da kommt nichts durch. Es ist überhaupt seltsam mit den Fliegen. Manchmal sieht man monatelang keine einzige, und dann sind sie alle wieder da, ohne Vorwarnung. Ich habe noch nicht herausgefunden, nach welchem Kreislauf sich das vollzieht. Was mich mehr beschäftigt als die Fliegen, das sind die Frösche. Nach jedem kleinen Regenschauer hüpfen sie hier durch die Gegend. Wie ein Wunder ist das, überall sieht man plötzlich Frösche. Ob sie sich im Sand vergraben, wenn alles austrocknet? Ich weiß es nicht, aber ich denke oft darüber nach.
Wunderwerke der Natur: Termitenhügel im »Top End«, dem tropischen Norden Australiens. (Alle Fotos von Helga Bertram)
Mit atemraubenden Perspektiven: Das Geflecht der Schluchten am Katherine River, rund 300 Kilometer südlich von Darwin
Gefährlich auch für Menschen: Die »Salties«, Salzwasser-Krokodile im Kakadu National Park
Warnung für Touristen: Vorsicht bei Begegnungen mit den Giganten der Highways
Zwei an einer Raststätte: Riesige Road Trains versorgen Australiens weites Hinterland, das Outback
365 Kilometer nördlich von Alice Springs: Die Teufelsmurmeln, »Devil’s Marbles«, arrangieren sich zu einer bizarren Landschaft am Stuart Highway
Teil der westlichen Macdonnell Ranges: Simpsons Gap, 22 Kilometer westlich von Alice Springs
Silhouetten im Sandsturm: Wie Nebelschwaden legt sich im Outback oft der Staub über die Landschaft
Rote Piste, violette Felsformationen: Annäherung an den Kings Canyon, 330 Kilometer westlich von Alice Springs
Mit Helikopter, Jeeps und Motorrädern: Auf Kamelfang im »roten Herzen« Australiens
Imposant und geheimnisvoll zugleich: Ayers Rock oder Uluru, der größte Monolith der Erde
Attraktion im Uluru National Park: Die Kuppeln der Olgas, die sich über 35 Quadratkilometer erstrecken
Typisch für Zentralaustralien: Rote Dünen, aus denen Spinifex, das stachelige Stachelschweingras wächst
Warnschild am Rande eines Opalfeldes bei Coober Pedy: Vorsicht vor Sprengungen und Erdspalten
Riesige Maulwurfshügel oder Mondlandschaft: Die Region um Coober Pedy ist von Opalminen geprägt
Grabstätte mit Bierfaß und Sonnenhut: In Coober Pedy ist alles anders als anderswo
Auf der Suche nach den schönen Steinen: Ein ungarischer Opalschürfer in seiner unterirdischen Wohnung
Er soll Australiens Schafe vor dem Wildhund schützen: Der sogenannte Dingo-Zaun, 5600 Kilometer lang
Am Rande des Stuart Highway häufig zu beobachten: Riesige Adler, auf Beute wartend
Ein Teppich aus violetten Paraceelyas: Lieblicher Akzent in der herben OutbackLandschaft
Skelette von verendeten Tieren: Die Dürre hat viele Opfer gefordert
Überflutungen nach heftigen Regenfällen: Der ausgetrocknete Boden kann die wassermenge nicht verkraften
Ein Job direkt unterm Himmel: Farmer Brian Barton repariert eines seiner Windräder
Eben noch strahlend blau, jetzt mit dräuenden Wolken verhangen: Himmelsschauspiel im Outback bei Bourke
Trügerisches Idyll: Australiens Schaffarmen kämpfen ums Überleben
Schnell und präzise: Schafscherer arbeiten im Akkord
An die 1000 Kilometer nordwestlich von Sydney: Bourke, ein echter Outback-Ort
Gottesdienst in Bourke: Schwestern vom Mutter-Teresa-Orden musizieren mit ihren Schützlingen, den Aborigines
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„WEISSER MANN
IM
LOCH“
Siebte Etappe: Von Curtin Springs nach Coober Pedy
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n the road again; endlich wieder auf der Piste. Der Mount Connor, das Felsplateau auf Peters Areal, liegt wie ein überdimensionales Stück Torte in der Landschaft. Wir suchen mit den Augen die Steilwände nach den Extremsportlern ab, die sich gestern weit vor Mitternacht aus unserer Runde verabschiedet haben und die sich nun, am hellichten Vormittag, an ihren Seilen hinunterhangeln auf die rettende Ebene. Aber Menschen sind nicht auszumachen vor dieser mächtigen Kulisse. Da müßten sie schon zu den Schöpfungsriesen gehören, die nach dem Glauben der Aborigines in dieser Gegend beheimatet sind. Lasseter Highway: Auch die Piste, auf der wir uns nun wieder in Richtung Stuart Highway bewegen, trägt den Namen eines berühmten australischen Pioniers. Und wie das Leben aller Eroberer, so ist auch die Existenz des Harry Lasseter ein einziges Drama. Um die Jahrhundertwende, so berichten die Geschichtsbücher, bewältigt Lasseter im Alleingang die mehrere tausend Kilometer lange, von Hitze und Öde gekennzeichnete Strecke von Alice Springs im »roten Zentrum« Australiens nach Carnarvon an der Westküste des Kontinents. Als sei diese gigantische Leistung nicht aufsehenerregend genug,
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schiebt Harry Lasseter eine sensationelle Mitteilung nach: Mitten in der Wildnis sei er auf ein Riff aus purem Gold gestoßen. Einen Meter sei es tief und 16 Kilometer lang. Kaum jemand glaubt dem Pionier, und da es in jenen Tagen ohnehin viel zu kompliziert ist, sich auf die Suche nach einem solchen Schatz zu machen, gerät Lasseters Erzählung von dem sagenhaften Fund erst einmal in Vergessenheit. Als Australien wenige Jahrzehnte später von einer ökonomischen Depression heimgesucht wird, wiederholt der Eroberer seinen Hinweis auf das goldene Riff. Die wirtschaftliche Not beflügelt die Phantasie seiner Landsleute, und 1930 startet in Sydney ein Suchtrupp mit Harry Lasseter als Führer. Monatelang irrt die Gruppe in der Wildnis umher. Doch der Traum vom Reichtum, der sie die schlimmsten Strapazen ertragen läßt, erfüllt sich nicht. Resigniert treten Lasseters Männer den Rückzug an. Der Pionier, der unserer Piste den Namen gab, setzt die Suche auf eigene Faust fort. Zwei ausgemergelte Kamele sind nun seine einzigen Begleiter. Harry Lasseter wird nach der Trennung von seinen Weggefährten nie wieder gesehen. Aber man findet sein Tagebuch. Er sei, schreibt er darin, dem goldenen Riff ganz nahe gewesen, habe das Areal bereits abgesteckt. Doch dann seien ihm die beiden Kamele durchgegangen und er sei gezwungen gewesen, die Wüste zu Fuß zu durchqueren. War Lasseter dem goldenen Riff wirklich so nahe, wie er in seinem Tagebuch vermerkt? Oder wollte er, in einem letzten Kraftakt der Phantasie, lediglich einen Mythos wiederbeleben? Oder war er, wie in einer Betrachtung speku-
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liert wird, schlicht und einfach »verrückt geworden« vor Durst und Hunger? Wie auch immer: Das Schicksal dieses Pioniers, der ein Held war und vielleicht auch ein Hochstapler, beschäftigt die australische Nation noch heute. »Die großen Linien sind abgesteckt auf diesem Kontinent«, philosophiert ein Historiker, »doch viele der persönlichen Schicksale, die mit der Eroberung Australiens verbunden sind, werden ein ewiges Geheimnis der Wildnis bleiben.« Wo der Lasseter Highway auf den Stuart Highway stößt, befand sich einer der Knotenpunkte in der Epoche der großen Pioniere. Und so ist es nur folgerichtig, daß diese Region auch in den biographischen Schriften erwähnt wird, die John McDouall Stuart gewidmet sind, dem »König der Entdecker«. Nur knapp, so erfährt man, entrinnt der Ingenieur aus Schottland in dieser kargen Landschaft dem Tod. »Als wir Stuart aus dem Sattel hoben«, berichtet ein Augenzeuge über eine Rast auf dem Weg von Norden zurück in den Süden, »war er mehr tot als lebendig. Wir schlachteten eines unserer Pferde ... und der Koch rührte ein Gelee an. Bei aller Hochachtung für die Köche aus der Stadt: Ich glaube, ein derartiges Gelee hat es nie und nirgendwo gegeben; jedenfalls hatte es auf Stuart eine Wunderwirkung. Wir machten uns daran, eine mobile Ambulanz zu bauen. Das Eisengestell zimmerte der Schmied aus Hufeisen zusammen. Alles war bestens präpariert, und so transportierten wir Stuart über eine Strecke von mehr als 400 Meilen.« Wenige Wochen später ist John McDouall Stuart in der Lage, sein eigenes Tagebuch fortzuführen. »Gott sei ge-
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dankt«, notiert er, »daß ich wieder einmal die Grenze zu Südaustralien überschreiten konnte. Noch vor 14 Tagen habe ich das kaum für möglich gehalten.« Das Leben des Pioniers: Es ist ein ewiges Auf und Ab, in seinen großen Zügen wie in jeder einzelnen Etappe. Und so folgt in Stuarts Tagebuch der freudigen Notiz sofort wieder die deprimierende Erfahrung. »Bagot Range«, markiert er, zunächst buchhalterisch neutral, einen anderen Stopp. »Wir erreichen«, so führt er mit zunehmender Enttäuschung fort, »ein großes Wasserloch, aber es ist leider nur noch wenig Wasser drin. Viele, viele tote Fische liegen herum. Dieses Wasserloch hat, wie es scheint, mindestens zwei Jahre kein Wasser mehr gesehen. Das Wasser ist alt und abgestanden. Ich fürchte, es macht uns krank. Wir haben schon so stark gelitten unter fauligem Wasser, das wir zu trinken gezwungen waren ... Aber es nützt nichts: Wir müssen unseren Pferden ein paar Tage Pause lassen, damit sie die letzte Herausforderung schaffen – die fast 100 Meilen bis zur nächsten Quelle.« Der Treck schafft es. Am 16. Dezember 1862 schickt Australiens bedeutendster Pionier von der »Kooringa Station« ein Telegramm nach Adelaide, der Hauptstadt der Provinz Südaustralien. Sein spröder, von Pflichtbewußtsein geprägter Inhalt steht in scharfem Kontrast zu den Mühen und den Qualen, die charakteristisch sind für die Mission, die an diesem Tag zu Ende geht: »John McDouall Stuart, Leiter der großen Nord-Expedition, an den Ehrenwerten Königlichen Statthalter. Ich möchte Sie ersuchen, Seine Exzellenz, den Chefgouver-
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neur, und die Regierung darüber zu informieren, daß ich die hinter uns liegende Aufgabe erfüllt habe. Ich treffe morgen mit dem Abendzug ein.« Es ist High Noon, als uns auf dem Stuart Highway eine verschwommene Gestalt entgegenkommt, die erst Kontur gewinnt, als sie sich aus dem flimmernden Mantel der Hitze löst. Ein einsamer Radfahrer strampelt die Piste der Pioniere herauf. Er biegt ein in einen Seitenweg, steuert den schattenspendenden Pavillon eines Rastplatzes an. Voller Neugier folgen wir ihm. »Woher kommen Sie?« »Aus Japan, Tokio.« »Wie alt sind Sie?« »Einundzwanzig.« »Haben Sie einen Beruf?« »Ich fange in einigen Monaten mein Studium an.« »Welche Strecke legen Sie in Australien zurück?« »Von Brisbane im Norden bin ich in Richtung Süden nach Melbourne gefahren. Von Melbourne habe ich die Fähre nach Tasmanien genommen und die Insel einmal umrundet. Mein nächstes Ziel war Adelaide. Von dort ging es in Richtung Stuart Highway, und nun bin ich unterwegs nach Alice Springs. Da bleibe ich ein paar Tage, und dann geht’s weiter nach Darwin. Von Darwin fliege ich zurück in Richtung Tokio.« »Wie viele Kilometer haben Sie dann in Australien zurückgelegt?« »Ungefähr 10 000.« »Wie lange sind Sie schon unterwegs?« »Fünf Monate.«
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»10 000 Kilometer ganz allein durch Australien ... Fühlen Sie sich nicht einsam?« »Ich suche die Einsamkeit.« »Warum?« »Während ich unterwegs bin, denke ich nach über mich und mein Land. Ich will stark sein, und mein Land soll stark sein. Japan braucht starke Männer. Meine Tour durch Australien verleiht mir körperliche und geistige Kraft.« Merkwürdig: Mit keinem Wort erwähnt der junge Mann die Sterne, die Steppe, die Bäume, das Meer. Hat ihn der Moloch Tokio mit seinen babylonischen Konstruktionen, seinem aufdringlichen Lärm, seiner Hektik blind und taub gemacht für die archaischen Reize der Natur? Reduziert sich diese magische Piste für ihn auf ein Fließband, auf dem man sich schon mal im Abstrampeln für die Karriere üben kann? Gern hätten wir in der schattigen Oase jenseits des Highways noch ein wenig philosophiert mit diesem Heros der Pedale. Doch der mißt mit dem Zeigefinger auf seiner Landkarte entschlossen die nächste Etappe aus, nimmt einen kräftigen Schluck aus der Pulle mit dem Fitneßsaft, schwingt sich auf sein Fahrrad und kämpft gegen den Wind, der schon wieder Streifen roten Sandes über die Straße treibt. Bis zu seinem Ziel im Norden Australiens muß der Japaner noch 2000 Kilometer auf dem Stuart Highway bewältigen. Während der Radfahrer im Zickzackkurs gegen die stärker werdenden Böen ankämpft, biegen wir ab in die südliche Richtung dieser Piste, die auf der Autokarte bis hinunter zum Meer nun so gerade verläuft, als sei sie mit dem Lineal gezogen.
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Öl: okay. Kühlwasser: okay. Das Grau der Straße, das unser Landcruiser frißt und frißt, ohne daß ein Fortschritt zu erkennen, ein Ende abzusehen wäre; die weißen Trennungsstriche, die wie Pfeile auf den klobigen Kühler zuschießen und im Sekundentakt im Nichts verschwinden; das stählerne Blau des Himmels; das ewige Rot der Erde, die jetzt nur noch ein paar struppige Büsche duldet: So arm an Abwechslung, so monoton ist die Landschaft nun, daß sie für die Sinne, die das Getriebe der großen Städte auf den oberflächlichen Reiz gepolt hat, zur Herausforderung wird. Und wie die ganze Reise gliedert sich auch die Reaktion auf diese neue Erfahrung in klare Etappen. Zunächst stellt sich ordinäre Nervosität ein. Man greift zum Knopf des Autoradios. Es rauscht. Man dreht den Knopf weiter. »Die australische Handelskammer hat heute ...« Was hat die australische Handelskammer heute? Die Nachricht zerfasert bis zur Unkenntlichkeit in einem Schwall undefinierbarer Töne. »Auf den Pisten im Outback«, hat der Autoverleiher schon hoch oben in Darwin gesagt, »brauchen Sie gar nicht erst zu versuchen, ein Programm einzuschalten; es gibt dort keine Sendestationen.« Und, mal ehrlich: Was ist schon interessant für uns an den Beschlüssen der australischen Handelskammer? Also die Trennungslinien auf der Straße zählen: Eins, zwei, drei ... siebzehn, achtzehn, neunzehn ... einundvierzig, zweiundvierzig, dreiundvierzig ... Das Armaturenbrett kontrollieren. Ölstand: okay. Kühlwasser: okay. Benzin: bald umschalten auf Reserve.
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Den Scheibenwischer prüfen. Der Scheibenwischer funktioniert noch. Eines seiner Blätter erfaßt den Torso eines Zitronenfalters, zirkelt ihn, eine dünne Blutspur hinterlassend, ein paarmal über die Windschutzscheibe, bis der Schmetterling, nun zermanscht zu einem Brei aus Fühlern, Flügeln, Innereien von einem Windstoß erfaßt wird. Da trudelt er durch die Lüfte, durch die er, bevor er an der Front unseres Landcruisers zerplatzt, mit heiterer Eleganz flattert. Mein Gott: soviel gedanklicher Aufwand für einen Schmetterling. Ist denn der Tod eines Menschen zu beklagen? Nein: Um den Tod eines Insekts geht es, von dem es allein in Australien Myriaden gibt. Der Flug, der Sog – und platsch. Na, und? Wenn es eine Katze gewesen wäre, ein Hund, ein Känguruh ... Aber worin besteht, wenn wir unseren Planeten als Einheit begreifen, der Unterschied zwischen einer Katze und ... Die Trennungsstriche auf der Piste zählen: eins, zwei, drei ... fünfunddreißig, sechsunddreißig ... einundneunzig, zweiundneunzig ... Das Öl: okay. Das Kühlwasser: okay. Gas geben. Tempo machen. Die weißen Striche fliegen nun wie Patronen auf das Auto zu. Sie schießen den Weg frei für die nächste Dimension. Wie sich im klassischen Kino die Figuren – und sei die Handlung noch so dramatisch – in einem statischen Rahmen von neutraler Ästhetik bewegen, der gleichsam die zeitlosen und im Grunde schlichten Elemente der Existenz symbolisiert, so wird diese Landschaft mit ihren schnurgeraden Linien und klaren Konturen zunehmend zu einer Kulisse, vor der, nachdem die akuten Reize der Fahrt aufgebraucht sind, die Erinnerung ein aberwitziges, anarchistisches Potpourri aus
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Bildern und Begriffsfetzen komponiert. Die Sequenzen überschneiden, jagen sich, welchen Gesetzen der Psyche auch folgend, im Tempo der Trennungsstriche, und die meisten siedeln in einer Zeit, die, wenn die Mechanismen der Ablenkung und der Verdrängung funktionieren, in den Tiefen des Unterbewußtseins schlummert. Es klappert die Mühle am rauschenden Bach: klipp, klapp, klipp, klapp, klipp, klapp. Die Taube auf der Heiligenfigur am Freiburger Münster. Rahn von rechts. Rahn schießt. Toooor. Deutschland ist Weltmeister. Der BleyleAnzug. Kompanie stillgestanden! Der Rabbi von Bacharach. Das Binger Loch. Hände aus den Taschen. Peter Frankenfeld. Vom Eise befreit sind Strom und Bäche durch des Frühlings holden, belebenden Blick, im Tale grünet Hoffnungsglück. Der alte Winter, in seiner Schwäche, zog sich in rauhe Berge zurück. Die weißen Linien zählen: Eins ... siebzehn ... fünfund’ dreißig. Öl: okay. Kühlwasser: okay. Benzin: bald nachfüllen. Scheibenwischer: okay. Der Tretroller. Der Schlitten. Ein Gespenst geht um in Europa ... Zu Dionys, dem Tyrannen, schlich Damon ... Die Kniestrümpfe. Here is BFN, the British Forces Network in Germany: And now the Hitparade. Das Rothaargebirge. Die Milchbar. On a day like this day, we’ll cast the time away, writing love letters in the sand. Die alte Kaiserstadt Hue. Tages Arbeit, abends Gäste, saure Wochen, frohe Feste, sei dein künftig Zauberwort. Persil bleibt Persil. Das rheinische Schiefergebirge. Rote Erde. Ein Eukalyptusbaum, kahl. Weiße Rinde. Ein Ast wie eine Forke. Ein großer, grauer Vogel auf dem Ast. Ein Bussard, ein Adler? Öl: okay. Kühlwasser: okay.
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Wenn’s Arschl brummt, ist’s Herz gesund. Pfifferlinge. Maronen. Steinpilze. Ein’ feste Burg ist unser Gott. Autobahn-Auffahrt Kassel-Ost. Ein dreifach Hoch, ein dreifach Hoch, ein dreifach Hoch dem Sanitätsgefreiten Neumann, der, schon lang ist’s her, die Tripperspritze hat erfunden. Nyltesthemd. Lodenmantel. Fromm’s. Wein auf Bier das rat’ ich dir, Bier auf Wein, das laß sein. Das Bergische Land. Bertelsmanns Konversationslexikon. Es war ein König in Thule... Die Sonne versinkt. Die Schatten unseres Jeeps werden länger. Die Konturen verschwimmen. Die Natur strahlt wieder Wärme aus. Die Bilder, die ungezügelt und bedrohlich umherirrten wie im Delirium, ordnen sich. Anflüge von Depression werden aufgefangen durch Melancholie, jene erhabene Stimmung, die zwischen Heiterkeit und Trauer pendelt. Wo sind wir? Auf dem Stuart Highway sind wir, auf der Piste, die quer durch Australien führt und die benannt ist nach einem großen Eroberer. Samstag ist heute, und die Lichter dort müssen zur »Cadney Homestead« gehören, unserem Quartier für die Nacht. Fucking road. Fucking wind. Fucking kangaroos. Fucking sand. Die Runde der Fernfahrer, die da an der Theke saufen und fluchen, holt uns, zum Finale des Tages, zurück in die Realität des Outback. Das »Fucking« mischt sich mit »Love«, »Heart«, »Home«, den häufigsten Wörtern in den Liedern, die aus der Musikbox tönen. Mein Gott, ist diese Musikbox laut. Kann man die nicht leiser stellen? Fucking music-box. Öl: okay. Kühlwasser: okay.
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Nein, sagt die Wirtin, eine Speisekarte haben wir nicht. Bedient euch dort hinten am Buffet. Die Steaks sind groß wie Klosettdeckel, wie es neulich jemand, es war wohl Neill, der Koch von Curtin Springs, formuliert hat. Der Salat ist eine Pampe aus Kartoffeln, Mayonnaise, Tomaten. Fucking salad. Eine Batterie Foster’s bitter und ’ne Pulle Weißwein, Marke Jacobs Creek, auf den Tisch, Frau Wirtin! Am Nebentisch, auf den keine Flasche mehr paßt, schäkern ein paar betrunkene Typen mit ihren Mädchen. Einer der jungen Männer löst sich aus der Gruppe, torkelt auf uns zu, kippt mit einer unkontrollierten Bewegung eine Dose Bier um. Der Inhalt breitet sich zu einer Lache aus und verströmt einen bittersüßen Duft. Fucking beer. Woher wir kämen, lallt der junge Mann. Ah, Germany. »Und du?« »Ich komme aus Coober Pedy... Opal-City, OpalCity... 110 Kilometer den Highway runter Richtung Süden.« »Was machst du in Coober Pedy?« »Ich bin Koch, im Swiss Café.« »Swiss Café?« »Ja, das gehört einem Schweizer. Toller Cappuccino, toller Käse. Kommt vorbei, wenn ihr Lust habt.« »Und was machst du am Wochenende in diesem gottverdammten Motel inmitten der Wildnis?« »Holidays ... Holidays. This ist the best place in the world. Believe me: the best place in the world; very free, very exciting ...« Noch einen Schluck aus der Whisky-Flasche, und der Junge fällt um. So besoffen ist er. Aber es geht keine
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dumpfe Aggression von ihm aus, eher eine hilflose Herzlichkeit. »Kommt vorbei, wenn ihr Lust habt«, wiederholt er, als seine Kumpane ihn unterhaken und in Richtung Ausgang schleifen. Für zwei, drei Minuten hört man nichts von der Gruppe. Dann klatschen Körper aufs Wasser. Und da auch ein Pool von maximal sechs mal sechs Metern ein Jungbrunnen sein kann, hebt unterm Sternenhimmel wieder einmal jenes ordinäre Gekreische und Gekicher an, das typisch ist für die Erotik an einem Samstagabend im Outback. Ordinär und Erotik: Ist das nicht ein Widerspruch? Kommt die Erotik nicht kapriziöser, filigraner daher? Ist doch scheißegal. Ein Held namens Willie Das Gefühl der Leere, das gestern auf einer an Reizen armen Strecke aufkam und die Erinnerung die absurdesten Kapriolen schlagen ließ, ist gänzlich verflogen, als wir am nächsten Morgen in Richtung Coober Pedy starten. Es ist Sonntag. Sonntag ... schon dieser anheimelnde, Wärme verströmende Begriff läßt die Hitze, die Öde weniger aufdringlich und bedrohlich erscheinen. Und es erfüllt uns, an diesem Sonntagmorgen im November, die Neugier auf eines der interessantesten Ziele während unserer Reise. Coober Pedy also. Wir sind kaum eine Stunde gefahren, als Warnschilder vom Wesen dieser Stadt in the middle of nowhere künden: Ein Strichmännchen geht über den Rand eines Schachtes und plumpst kopfüber hinein. Vorsicht, soll das heißen, in dieser Gegend wird nach Opalen gebuddelt; die Oberfläche ist übersät mit gefährlichen Löchern.
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Bis zum Horizont breiten sich nun auf beiden Seiten der Piste die Aufschüttungen aus, die aussehen wie überdimensionale Maulwurfshügel. War bisher das eisenhaltige Rot die Grundfarbe auf unserer Tour, so wird die Palette nun angereichert durch grüne, bläuliche, braune, gelbe, graue, vor allem weiße Töne. Man muß sich an diese Mondlandschaft erst gewöhnen, so befremdlich wirkt sie. Hat hier, so fragt man sich wie schon bei den Domen der Termiten oben im Norden, ein Volk von einem anderen Stern seine Zelte aufgeschlagen? Käme ein Ufo angeflogen und setzte vor einem dieser Hügel zur Landung an – man würde sich nicht wundern. Vormittag ist es, als wir auf dem Stuart Highway die Abzweigung nach Coober Pedy erreichen. Das heißt, wir haben heute noch genügend Zeit, uns einen ersten Eindruck von dieser Stadt zu verschaffen und vorher im Hotel in unseren Broschüren und Büchern über Coober Pedy zu blättern. Informationen speichern, sich schon mal in der Phantasie an den unbekannten Ort herantasten und dann raus in die Realität – das kann heute noch ein schöner Sonntag werden. Mein Gott: Wieviel Literatur gibt es über Coober Pedy! Wie bringt man Ordnung in diesen Wust von Fakten? Wo, um Himmels willen, fängt man an? Am besten mit den Kurzinformationen, die auf dem Nachttisch unseres Zimmers im »Desert Cave Hotel« liegen. Etwa 3000 Einwohner also hat Coober Pedy. 40 Prozent von ihnen leben, zum Schutz vor Hitze und Staub, in Untergrundwohnungen; in Höhlen, wenn man so will. 48 verschiedene Nationalitäten sind gegenwärtig in dieser Gemeinde registriert: Kroaten, Serben, Briten, Libanesen,
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Deutsche, Dänen, Amerikaner, Griechen, Ungarn, Russen, Chinesen ... Die Zahl der Aborigines, der australischen Ureinwohner, wird mit 400 angegeben. In einem Dialekt dieser Bevölkerungsgruppe liegt auch der Ursprung des Ortsnamens: »Kupa piti«, was soviel heißt wie: »Weißer Mann im Loch«. Diese Gegend, so lernen wir weiter, ist das bedeutendste Opalzentrum der Welt. Fast 90 Prozent dieser begehrten Steine stammen aus Coober Pedy und seiner Umgebung. »Wo sonst«, so fragt das Informationsblatt, »kann man über Nacht vom Habenichts zum Millionär aufsteigen?« Und es leitet aus der Frage die ganze Philosophie dieses multikulturellen Kaffs ab: »Das ist die Magie, das Geheimnis und die Hoffnung von Coober Pedy.« Die aktuellen Fakten wecken die Neugier auf die Geschichte dieser Region. »Australiens Wunderland der Opale« lautet der verheißungsvolle Titel des historischen Werkes, das wir irgendwo auf unserer Reise in einem Buchladen erstanden haben. Schauplatz des ersten Kapitels ist ein Areal in der Nähe der Stuart Range, die diese gottverlassene Gegend durchzieht und die, nach wem auch sonst, nach unserem berühmten Eroberer benannt wurde. Der Held der Story heißt Willie Hutchison. Das ist jener Australier, der hier die ersten Opale fand. Und auch dieses Schicksal eines Pioniers umfaßt die ganze Spannbreite zwischen Glück und Tragik. Willie Hutchison, der aus dem südaustralischen Mount Gambier stammt, ist gerade mal 14 Jahre alt, als er eine Gruppe von Männern, zu der auch sein Vater gehört, nord-
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westlich der Stuart Range bei der Suche nach Gold begleitet. Nachdem sie tagelang unter glühender Sonne vergebens gebuddelt und gehofft haben, schlagen die Abenteurer am 1. Februar 1915 am Ufer des Carryingallama-Flusses ihre Zelte auf. Das Flußbett ist ausgetrocknet, und so machen sich die ausgemergelten Gestalten auf den Weg in die Wildnis, um irgendeine andere Quelle aufzutun. Der junge Willie erhält von seinem Vater die Order, derweil auf das Camp aufzupassen. Die Männer finden kein Gold. Die Männer finden kein Wasser. Und als sie am Abend eines trostlosen Tages zurückkehren zu ihren Zelten, trifft sie ein neuer Schlag: Willie ist weg. »Das Camp war verlassen«, notiert Jim Hutchison, der Vater, später in seinen Erinnerungen. Und mit einer Präzision, in der noch immer ein Staunen über den unglaublichen Befund mitschwingt, fährt er fort: »Die Asche des Lagerfeuers war bereits kalt. Daraus konnte man schließen, daß die letzte Glut bereits vor einigen Stunden erloschen war.« Als der Vater schon mit dem Gedanken spielt, am Ufer ein großes Feuer zu entzünden, an dem sich der verschwundene Sohn in der Dunkelheit orientieren kann, taucht Willie plötzlich vor dem Camp auf. »Ich schimpfte mit ihm«, schreibt der Vater später, »weil er sich nicht an meine Anweisungen gehalten hatte. Und als ich mit meiner Schelte fertig war, fragte er mich, ob wir denn auf Wasser gestoßen seien.« Der Vater verneint dies. Und der Sohn sagt: »Okay, Daddy, dann war ich besser als du. Ich habe oben in den Bergen einige Opale gefunden.«
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Der junge Willie breitet seinen Schatz vor den Männern aus, und in den Erinnerungen seines Vaters heißt es: »Es waren wunderschöne Exemplare. Selbst im flackernden Schein des Lagerfeuers erstrahlten sie, obwohl sie an der Erdoberfläche doch Wind und Wetter und der erbarmungslosen Sonne ausgesetzt waren.« Die Entdeckung der Edelsteine löst in dieser Region sofort einen beispiellosen Boom aus. Schon am 9. Februar 1915, also nur gut eine Woche nach dem spektakulären Fund, wird an der Stuart Range im Auftrag eines Syndikats das erste Opalfeld abgesteckt. Einige Monate später notiert ein Geologe, nachdem er die Gegend im Auftrage der Regierung inspiziert hat: »Die Entdeckung der kostbaren Opale an der Stuart Range ist das wichtigste geologische Ereignis in Südaustralien seit langer Zeit.« Im Jahre 1917 wird die »Transkontinentale Eisenbahn« fertiggestellt, und so manchen der Gleisarbeiter erfaßt das Opalfieber. Auch viele der australischen Soldaten, die im Ersten Weltkrieg für die britische Krone gekämpft haben, geraten nach ihrer Rückkehr in den Sog des Minerals, das schnelles Glück verheißt. Vertraut mit dem Ausheben von Schützengräben, sind sie es, die sich in dieser glutheißen Zone wohltemperierte Wohnhöhlen graben und damit eine spezifische Untergrundarchitektur begründen. Um Willie Hutchison, der im Februar 1915 die ersten Opale fand, ist es still geworden, als die Stuart Range auch für Abenteurer und Spekulanten aus dem Ausland zum Dorado wird. Erst 1920, fünf Jahre nach seiner Heldentat, erweckt er wieder das Interesse der Chronisten. Im australischen Bundesstaat Queensland, so wird berichtet, hilft Willie Hutchison einem Farmer, 1000 Stück
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Vieh über die Prärie zu treiben. Nach getaner Arbeit geht er hinunter zum Georgina-Fluß, um ein erfrischendes Bad zu nehmen. Willie Hutchison ertrinkt. Zwanzig Jahre alt ist er geworden. »Er war ein hervorragender Schwimmer, sein Tod wird ein Rätsel bleiben«, notiert ein Chronist. Und voller Anteilnahme fügt er hinzu: »Ein trauriges Ende für einen jungen Mann, der eine so große Entdeckung gemacht hat und dem Coober Pedy viele Millionen Dollar verdankt.« Die Geschichte der Familie Coro Den größten Ansturm von Ausländern erlebt Coober Pedy am Anfang der dreißiger Jahre, nachdem die Krise der Weltwirtschaft vor allem in Europa die Menschen zu Millionen in die Arbeitslosigkeit und damit in die Armut getrieben hat. In den Berichten aus jenen Tagen, in denen um jeden neuen Schacht eine harte Konkurrenz entbrennt, mischt sich auf anrührende Weise das Anekdotische mit der Tristesse. »Charlie Hornblower«, notiert ein Zeitzeuge über einen Einwanderer aus Großbritannien, »war bekannt dafür, daß er stets aufsprang und salutierte, wenn aus dem einzigen Radio, das es weit und breit gab, ›God save the King‹ ertönte.« Derselbe Chronist berichtet: »Alkoholismus war bei uns das geringste Problem. Für einen Luxus wie Alkohol war einfach kein Geld da. Die meisten Opalschürfer waren sogar Nichtraucher – aus reiner Not.« Wo sich so viele Typen aus so vielen Ländern versammeln und wo das Glück so eng verknüpft ist mit der Gefahr, kann es nicht verwundern, daß die Chroniken auch voll
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sind von Gruselgeschichten. Sie spielen zumeist in den unheimlichen Schächten am Rande der Stadt, die, wie wir bereits heute morgen einer Warntafel entnommen haben, bis zu 30 Meter tief sein können. Jimmy Ledgard ist schon 77, als er am »Eight-MileField« auf dem Weg zu seiner Behausung ausrutscht und in den Schacht einer Opalmine stürzt. Er fällt kopfüber in die Tiefe, und erst nach ungefähr 20 Metern prallt sein Körper auf einen großen Kanister. Durch den Sturz schlimm zugerichtet, ruft Jimmy Ledgard immer wieder um Hilfe – vergebens. Nach ein paar Tagen und Nächten in der tiefschwarzen Einsamkeit ist er gezwungen, mit dem Mund die Fliegen aus seinen Wunden zu saugen. Um nicht zu verdursten, benetzt er seine Lippen mit den Tropfen einer schwitzenden Elektroleitung. »Nach sechs Tagen in einer Hölle aus Kälte und Hunger«, so vermerkt die Chronik, »werden Jimmys Klopfzeichen gehört, und er wird gerettet.« Wieviel Glück hat dagegen jener abgerissene Schürfer, der in Coober Pedy dem angesehenen Opalhändler Kevin Kamp 1000 Dollar dafür bietet, daß er seinen Verkaufsraum ausfegen darf. Kevin Kamp willigt ein. Der Schürfer zahlt – und kehrt Opalsplitter im Werte von 4000 Dollar zusammen. Auch der Familie Coro, der das »Desert Cave Hotel«, unsere Herberge, gehört, ist im Geschichtsbuch über Coober Pedy ein ganzes Kapitel gewidmet. Das Beispiel der Coros zeigt, auf welch klassische – man könnte auch sagen: triviale – Weise das Schicksal bisweilen Freud und Leid mischt. Die Chronik reduziert diese Familiensaga auf ihre Höhen und Tiefen, und da sie streckenweise im Stile eines
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Märchens erzählt wird, wollen wir sie vollständig aus dem Original zitieren: Bepi Coro und sein Bruder Attillio kamen aus dem Dorfe Borgoricco im Norden Italiens nach Australien. Im Jahre 1960 erreichten sie Coober Pedy. Die beiden begannen auf dem »Eight Mile-Field« zu graben, und nach einer Woche in Coober Pedy fragte ein Opalhändler die Brüder, ob sie denn Steine zu verkaufen hätten. Bepi sagte: »Gerade mal sechs Tage sind wir in Coober Pedy – was kann man da von uns erwarten?« Der Händler sagte zu den Brüdern: »Schaut doch mal, was ihr auf den Müll geworfen habt.« Bepi und Attillio stocherten im Schutt und stießen auf Opale, die 6000 Dollar wert waren. Zwei Monate später waren Bepi und Attilio stolze Besitzer eines Lebensmittelladens. Anfang 1961 schafften sich die Brüder für ihren Laden einen Kühlschrank an. Damit waren sie in der Lage, in Coober Pedy frisches Obst und Gemüse einzuführen. Mitte 1961 kauften Bepi und Attillio einen Lastwagen und transportierten damit ihre eigenen Waren von Kingoonya nach Coober Pedy. Anfang 1962 besorgten sich die beiden ein etwas größeres Lastauto mit einer Kühleinrichtung. Damit pendelten sie einmal in der Woche zwischen Coober Pedy und Adelaide. Attillio war der Fahrer, und wo andere mit ihren Autos steckenblieben, da kam Attillio durch. Der Lebensmittelladen ging 1962 in Flammen auf. Zur selben Zeit kam Bob, der dritte der Coro-Brüder, aus Italien nach Coober Pedy. Er eröffnete ein neues Geschäft für die OpalSchürfer. Vier Jahre später errichtete er das »Opal Motel«. 1969 wurde das Motel um ein Hotel erweitert.
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Die Brüder spürten, daß ihre Unternehmungen Zukunft hatten. Und so eröffneten sie 1972 einen weiteren Laden. Im Jahre 1975 fiel der Hotel-Motel-Komplex einem Feuer zum Opfer. Die Unterkunft wurde wieder aufgebaut und 1977 neu eröffnet. Das »Desert Cave Hotel« ist die letzte Errungenschaft der Coros. Es krönt das Lebenswerk dieser italienischen Familie. Und es ist ein angemessenes Denkmal für Bob Coro, der immer davon geträumt hat, eine Herberge mit unterirdischen Zimmern zu besitzen. Leider war es ihm nicht vergönnt, die Erfüllung seines Traumes mitzuerleben. Bob Coro kam am 7. April 1986 bei einem Unfall ums Leben – zwölf Monate vor der Eröffnungszeremonie für das »Desert Cave Hotel.« Hier endet das Kapitel über die Coros, deren Hotel glücklicherweise auch Räume über der Erde anbietet. Vor allem aus Angst vor klaustrophobischen Zuständen haben wir uns für ein solches Zimmer entschieden. Es bietet im übrigen den Vorteil, daß man aus dem Fenster auf den Ort blicken kann, dessen Magie wir, nach unseren theoretischen Ausflügen in die Historie, in den nächsten Stunden und Tagen auch sinnlich ergründen wollen. Und auf dem Friedhof ein Bierfaß Der Vorhang vor dem Fenster unseres Zimmers ist nur zu einem schmalen Spalt geöffnet. Dies lädt ein zu einem Spiel, durch das man die Gier auf das Neue, die Neugier also, systematisch zu steigern vermag. Indem man den Vorhang ganz langsam Zentimeter für Zentimeter öffnet, führt man bei der Annäherung an das noch fremde Motiv selbst
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Regie und agiert wie eine Filmkamera, die bei einer Rück’ fahrt oder einem Schwenk ein spannendes Detail nach dem anderen preisgibt, um am Ende in einer Totalen den Gesamtüberblick zu liefern. Als erster Gegenstand kommt ein Telegrafenmast in Grau ins Bild, das sich, als es angereichert wird durch einen Sektor blauen Himmels und ein weißes Wölkchen, zu einem farblich und graphisch höchst reizvollen Stilleben arrangiert. Der Wind hat am Telegrafenmast eine Strippe gelöst. In wilden Linien schwingt sie in der Luft. Auf dem Hof des Hotels wirbelt brauner Sand auf. Es kommt Leben in die Szene. Ein großes rotes Personenauto mit silbernen Stoßstangen gleitet über die Hauptstraße. Die Bäckerei da drüben hat ihre Rolläden heruntergelassen. Es ist Sonntag. Ein Greifvogel kreist am Himmel, schwebt aus dem Bild, dem der Fensterrahmen feste Grenzen setzt. Der Greifvogel kehrt ins Bild zurück, verflüchtigt sich, als er beim Sturzflug auf eine Achse mit dem Fliegengitter unten am Fenster gerät, zum Schemen. Der Vorhang ist geöffnet. Nun geht die Klarheit, die das Bild bisher prägte, verloren. Die Häuser und die Hütten Coober Pedys sind, soweit der Blick aus dem Hotelfenster dies erkennen läßt, ohne jedes System über die Abhänge verstreut, die offenbar zu Pionierzeiten von Opalschürfern aufgeschüttet wurden. Wie nähert man sich einem solchen Ort? Wie bringt man als wißbegieriger Besucher selbst Ordnung in dieses Chaos? Wir beschließen, Coober Pedy von der Peripherie her zu erobern – und zwar von der Stelle, die auf dem Stadtplan durch ein paar Grabkreuze markiert ist.
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Die letzte Etappe, die die Bürger Coober Pedys auf der Fahrt zur ewigen Ruhe zurücklegen, die Straße zum Friedhof, ist übersät mit Schlaglöchern. Wo die Narben auf dieser holprigen Piste zu tief sind, hat man Schotter aufgeschüttet. Ein steiniger Weg – wie das Leben in Coober Pedy. Ein mächtiges Windrad ist das einzige Dekor auf diesen letzten paar Kilometern, das blecherne Klappern seiner Blätter die Todesmelodie. Wenn kaum ein Lüftchen weht und das Windrad Pause macht, herrscht Ruhe an der Strecke, Friedhofsruhe. Ein häßlicher, halbhoher, an vielen Stellen durchlöcherter Drahtzaun umgrenzt das Areal, das etwa so groß ist wie ein Fußballfeld und auf dem die Kreuze kaum kunstvoller sind als auf dem Stadtplan. Das schönste Kreuz steht gleich hinterm Eingang. In frischem Weiß leuchtet es, und gewidmet ist es einem Mädchen mit drei Vornamen: Florence Kathie Lizzy. Am 24. August 1996 ist Florence Kathie Lizzy Brown gestorben. Ein Teddybär aus Plüsch liegt vor ihrem Kreuz. Die Rosen und Margeriten auf ihrem Grab werden nie verwelken, weil sie aus Plastik sind. Coober Pedy ist eine multikulturelle Stadt. Das wird nirgendwo deutlicher als auf dem Friedhof. Charles William Green, der im Oktober 1985 starb und seine Tochter Mary samt dem Schwiegersohn Mujo und seinem Enkelkind Sarah hinterließ, wurde 1909 im Southampton geboren – im »United Kingdom«, wie die Inschrift auf dem Grabstein ausdrücklich vermerkt. In seiner Nachbarschaft ruhen Rudi Kaiser, der mit 62 starb, und Veselko Petrovic, genannt »Veso«, der 1936 in
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Rakitno, Kroatien, das Licht einer Welt erblickte, die sich drei Jahre später in den schrecklichsten aller Kriege stürzte. Von der ethnischen Ambivalenz, die wohl auch typisch ist für Coober Pedy, zeugt das Grab eines Griechen: »Dracopoulis« lautet sein Nachname. Mit Vornamen hieß er »Mike«. Einem Bürger namens Karl Bratz ist das ungewöhnlichste Grab auf dem Friedhof von Coober Pedy gewidmet. Das Arrangement läßt vermuten, daß es dem letzten Willen dieses Mannes entspricht. Am Fuße des Hügels jedenfalls liegt sein graues Hütchen aus Baumwolle. Dahinter reiht sich eine Batterie von Weinflaschen. Quasi als Kreuz dient ein echtes Bierfaß mit Pumpe und Zapfhahn. Die Inschrift auf dem Faß lautet: »Have a drink on me«, trinkt einen auf mein Wohl. Was schon die verwegenen Gestalten vermuten ließen, die uns auf unserer Fahrt in Richtung Friedhof begegneten, manifestiert sich am Grab des Karl Bratz: In diesem Ort sind offenbar Menschen zu Hause, die, geformt oder auch verformt durch ein abenteuerliches Leben, alle Konventionen sprengen – Typen wie aus den Gedichten eines François Villon womöglich: wüst, anarchistisch, pietätlos, weder Tod noch Teufel fürchtend. »Crocodile Harry« – ein Baron als Bettelmann Einer dieser Charaktere muß der deutschstämmige Baron Arvid von Blumenthal sein, der in Coober Pedy, wie wir der Chronik entnommen haben, vor allem als »Crocodile Harry« bekannt ist. Auch auf seinem Areal, einem Laby-
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rinth aus Höhlen und Höfen, stößt man zunächst auf einen Friedhof: einen Autofriedhof. Aus den Wracks, von denen am Rande Coober Pedys Hunderte herumliegen, wachsen Kakteen. Verrostete Auspuffrohre türmen sich zu einer Pyramide. Eine Schubkarre ist vollgepackt mit Zahnrädern. Von den Wänden baumeln Blechbüchsen, die, wenn sie im Wind gegeneinanderschlagen, ein Geräusch erzeugen, das so lieblich klingt wie die Glocken einer Ziegenherde. An einem Hügel prangt in fetten Buchstaben der Name dieses ungewöhnlichen Domizils: »Democratic Republic of Crocodile’s Nest«. Der Zusatz »keine Visa erforderlich« soll wohl auch von der freiheitlichen Gesinnung des Besitzers künden. Seiner gewärtig wird man, nachdem man ein Spalier von menschlichen Skeletten passiert hat, zum erstenmal auf einem Schwarzweißfoto im Empfangsraum: Der junge Baron, bärtig und muskulös, bändigt am Ufer eines Flusses, der uns an die tropische Landschaft im Norden Australiens erinnert, ein zappelndes Krokodil. Ein mit Briefmarken aus aller Welt beklebter Kürbis, ein Arrangement aus Vogelfedern, ein Globus, eine Kuckucksuhr, eine Windmühle, ein Propeller, ein vulgäres Bild, auf dem ein halbnacktes Weib nach einem nackten Manne greift: Das diffuse, keinen Regeln des Geschmacks sich unterordnende Dekor macht neugierig auf den Besitzer dieser Enklave, der davon lebt, daß er jedem Besucher den durchaus angemessenen Betrag von zwei australischen Dollar abnimmt. Die Gestalt, die im trüben Licht einer Wohnhöhle sichtbar wird, hat mit dem Kraftprotz auf dem Foto nur noch wenig gemein. Zu identifizieren ist »Crocodile Harry« vor
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allem an seinem weißen Bart, dessen zerzauste Üppigkeit dem Gesicht kaum Entfaltungsmöglichkeiten bietet. Die blauen Augen blicken, soviel kann man im Halbdunkel erkennen, ziemlich traurig. Eine auffällig gerötete Nase und die Äderchen, die sich auf beiden Wangen zu einem bläulich schimmernden Deka ausweiten, legen den Verdacht nahe, der Baron sei einem Gläschen nicht abgeneigt. Tatsächlich stehen auf dem Tisch, neben dem »Crocodile Harry« auf einem Klappstuhl sitzt, an diesem Nachmittag einige Flaschen Rotwein. Der Hausherr teilt sich den Inhalt mit einem Besucher, dessen dunkler Teint im Dämmerlicht der Höhle keinerlei Konturen erkennen läßt. Man ahnt ein Menjoubärtchen, das wie ein schmaler Schatten über den Lippen liegt, und man macht einen Scheitel aus, der wie eine Schneise über eine pechschwarze Wölbung führt. Im ganzen aber bleibt von dieser Gestalt ein Geheimnis, das zu klischeehaften Assoziationen verführt: ein Stehgeiger, denkt man; ein Hochstapler, ein Spion, ein Heiratsschwindler oder verarmter Adliger – wie der Baron. Auch der Dialog, der sich in unregelmäßigen Abständen zwischen den beiden Zechern entspinnt, trägt nicht zur Erhellung bei. Im Gegenteil: Die Gedankengänge reihen sich so konfus aneinander wie die Gegenstände in dieser unterirdischen Heimstatt. Von der Regierung in Moskau faselt der Fremde mit slawischem Akzent, daß er das Rauchen aufgegeben habe und daß er alle Fahrzeuge, die existieren auf der Welt, zu lenken imstande sei – auch Panzer. »Ich bin froh, daß ich noch lebe mit meinen 76 Jahren«, lautet die zentrale Botschaft, die »Crocodile Harry« immer wieder einbringt in dieses wirre Gespräch.
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Je öfter der Baron und sein Gast die Gläser leeren, desto stärker färbt sich ein sentimentaler Unterton in die Sätze. Von einer schönen Frau namens Leila schwärmt der Besucher. Dann summt er dem Baron ein Lied vor, das zur sibirischen Taiga besser paßte als zu diesen Katakomben im wildesten Westen Australiens: Kalinka, Kalinka ... Der geheimnisvolle Fremde ist also Russe, und wie viele seiner Landsleute, die man im Ausland trifft, entspricht er so sehr dem Klischee von seinem Volk, daß man sich kaum traut, diese Szene, vor allem aber ihren weinseligen Schlußakkord, wahrheitsgetreu wiederzugeben. Eine aufgekratzt gestikulierende Gruppe von Touristen betritt das Areal. Es sind Deutsche; Schwaben, wie ihr Dialekt verrät. Aus ihrem Obulus leiten sie das Recht ab, den Baron zu sehen und zu fotografieren. »Crocodile Harry« hat dieses Bedürfnis verinnerlicht, also springt er instinktiv auf, um sich seinen Besuchern zu stellen. Die Aktion offenbart das ganze Dilemma dieses Mannes. Konnte er seine Trunkenheit in der Höhle noch einigermaßen verbergen, weil ihn das Halbdunkel schützte und er Halt fand an der Tischkante, so torkelt er nun wie ein widerborstiger Tanzbär im gleißenden Licht des Hofes. Sein T-Shirt und seine Hose sind dermaßen verdreckt, daß eine Grundfarbe nicht mehr zu erkennen ist. Die Nähte seiner Turnschuhe sind an den Seiten aufgeplatzt, die Schnürsenkel geöffnet. Die Touristen tuscheln und kichern. Ihre Kameras klicken. Die Vorstellung, daß es ein Adliger ist, der sich da total besoffen vor ihnen produziert, macht den Reiz der Szene aus. »Na, sprichst du noch Deutsch?« fragt einer der Besucher den Baron.
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Warum eigentlich duzt dieser schwäbische Durchschnittsmensch den bärtigen Alten, der heute nachmittag zwar nur noch lallen kann, der aber einst mit dem ganzen Mut zum Risiko ausgewandert ist in dieses herausfordernde Land, das die Touristen nur für ein paar Wochen mit dem bequemen Reisebus durchstreifen? Und hat der Baron, als er noch aussah wie der junge Tarzan, nicht tapfer mit der Bestie Krokodil gekämpft? Und hat er nicht hier draußen, am Rande von Coober Pedy, ein Areal geschaffen, dessen architektonische Anarchie allemal inspirierender ist als deutscher Fachwerkmief? Und könnte es nicht sein, daß »Crocodile Harry«, wenngleich er die Konventionen seines Standes auf das gröblichste mißachtet, den Adel zumindest in seinem Herzen trägt, zumal doch, wie man weiß, die Labilität, die ihn in den Suff trieb, häufig auf Sensibilität basiert, ohne die wiederum keine Menschenfreundlichkeit möglich ist? Lebte der Baron in einem noblen Landhaus und hielte er sich an Etikette wie Komment, wäre sein Gebaren zudem geprägt von Feudalismus – das Volk, daran besteht wohl leider kein Zweifel, würde ihn fürchten, womöglich sogar verehren, auf jeden Fall aber innerlich strammstehen vor ihm. Nun aber, da er sich vollkommen gehenläßt, verspottet es ihn und gewährt ihm nicht einmal das – kostenfreie – Almosen der Seele: Mitleid. »Natürlich spreche ich noch Deutsch«, antwortet »Crocodile Harry« dem schwäbischen Besucher, der, weil ihm die Antwort ohnehin gleichgültig war, mit seiner Gruppe längst in einer der Höhlen verschwunden ist. »Natürlich spreche ich noch Deutsch«, wiederholt der Baron. Und vor allem in der Betonung des Wortes »natürlich« schwingt,
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obgleich es seinen Adressaten nicht erreicht, ein letzter Rest von Stolz und Protest mit: Wie kann man nur daran zweifeln, daß ein Baron von Blumenthal seine Muttersprache beherrscht? Die Touristen kehren zurück auf den Hof, wo »Crocodile Harry« nach dem lichten Moment, in dem er sich zu einem sinnvollen Satz aufraffte, wieder jener mal aggressiven, mal weinerlichen Dumpfheit anheimgefallen ist, die Trunkenbolde so unberechenbar macht. Als eine der Besucherinnen, eine bieder gekleidete Frau höheren Alters, in seine Nähe gerät, grapscht er unter ordinärem Gelächter nach ihrem Rock. Die Frau entzieht sich dem Zugriff durch einen Sprung zur Seite und reiht sich, als sei nichts gewesen, ein in die Gruppe, die den Vorfall, dessen Obszönität so gar nicht zum Idyll eines Ausflugs paßt, ebenfalls sofort verdrängt. Unseren Plan, mit »Crocodile Harry« ein Gespräch zu führen, ihn nach seiner Herkunft zu fragen und seinen Perspektiven, geben wir auf angesichts seines Zustandes. Vielleicht, so hoffen wir, treffen wir ihn auch einmal nüchtern an während unseres Aufenthalts in Coober Pedy. Wie das so ist in einem Ort von nur 3000 Seelen: Man begegnet bestimmten Figuren innerhalb kürzester Zeit immer wieder. So ergeht es uns auch mit dem Baron, den wir schon am Tag nach unserem Besuch in der »Republic of Crocodile’s Nest« auf der Straße direkt vor unserem Hotel entdecken. Zehn Uhr am Morgen ist es ungefähr, und der Baron torkelt schon wieder. Als er bemerkt, daß »Miki’s Pizza Bar« bereits geöffnet hat, steuert er im Zickzackkurs den Ausschank an. Eine abweisende Bewegung, ein angedeuteter
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Tritt – und »Crocodile Harry« weicht zurück wie ein ängstlicher Hund. »Just one beer«, murmelt er. »No beer«, verfügt der Wirt. Nein, der Baron ist auch heute nicht ansprechbar, und so beschließen wir, unsere Erkundungen in Coober Pedy fortzusetzen, ohne uns zu stark auf ihn zu fixieren. Vielleicht kann uns ja der eine oder andere Mitbürger etwas über ihn erzählen. »Spieler sind hier doch irgendwie alle« Wo die paar staubigen Straßen des Ortes in der Nähe unseres Hotels in einen Kreisverkehr münden, liegt das Zentrum Coober Pedys. Es besteht aus einer Zeile gedrungener Läden, in denen die Bürger erstehen können, was man in einem solchen Kaff so braucht: Lebensmittel, Alkohol, Zigaretten, Lottoscheine, Zeitungen, Briefmarken und »explosives«, mit denen man Schächte freisprengen kann. Da Kiosken und herkömmlichen Geschäften in Australien der Verkauf von Alkohol verboten ist, gibt es dafür auch in der Einkaufszeile von Coober Pedy ein Spezialgeschäft: einen »bottle shop«, wo darauf geachtet werden soll, daß vor allem harter Stoff nicht in die Hände von Minderjährigen und notorischen Trinkern gerät. Dieser »bottle shop« ist offensichtlich auch in Coober Pedy der Treffpunkt der Aborigines, deren nomadischer Impetus ganz und gar nicht zu dieser ungewöhnlichen Siedlung paßt, und die ja auch Geister und Götter vermuten, wo der weiße Mann nach Edelsteinen buddelt. Die Flaschen kreisen am hellichten Vormittag in der Runde dieser abgerissenen Männer und Frauen. Die bunten Tierfiguren
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auf einer Hauswand, die die Stadtverwaltung für die naive Kunst dieser Minderheit reserviert hat, verstärken den traurigen Eindruck eher als daß sie ihn mildern. Es ist schwer auszumachen, ob hier ein rassistischer Unterton mitschwingt oder ob der Hinweis ganz sachlich, vielleicht sogar fürsorglich gemeint ist: Jedenfalls macht ein Schrieb, der im Schaufenster eines Friseurgeschäfts hängt und sich an die Aborigines richtet, die Randexistenz dieser unterprivilegierten Minorität deutlich. »Bitte beachten Sie«, heißt es in dicken Lettern, »daß in diesem Salon keine Kunden mit verlaustem Haar bedient werden. Wir können Ihnen allerdings Tips geben, wie Sie die Läuse loswerden. Bitte informieren Sie uns auch, bevor wir mit dem Haareschneiden beginnen, ob Ihr Kind Läuse hat. Vielen Dank. Der Manager.« Der Schaukasten an der »Westpac Bank« gibt Aufschluß über eines der großen sozialen Probleme bei der weißen Bevölkerung Coober Pedys. Für das »Break Even Gambling Rehabilitations Centre«, eine Institution zur Heilung von der Spielsucht also, wird da Reklame gemacht. »Ach wissen Sie, Spieler sind hier im Grunde doch alle«, sagt Peter Caust, der in der Nachbarschaft der Bank den einzigen Buchladen in Coober Pedy betreibt und der, als ehemaliger Lehrer und Freund der Literatur, das Geschehen in diesem seltsamen Ort intellektuell zu überhöhen vermag. »Nach Opalen zu graben ist wie Glücksspiel«, doziert der schmächtige Mann, dessen feingeschnittenes Gesicht fremd wirkt in dieser Gemeinde der wilden Gesellen. »Hier wollen alle schnell reich werden, und nur wenige schaffen es. Aber gerade diejenigen, die leer ausgehen, graben weiter und weiter. Ja: Sie sind alle Abhängige.
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Sie zerstören die Natur, und viele zerstören sich selbst. Da gibt es einen Zusammenhang.« »Und Sie, graben Sie auch?« »Nein. Aber auch ich schätze das Leben hier.« »Und was schätzen Sie daran?« »Sehen Sie: Mein Buchladen liegt unter der Erde, auch meine Wohnung. Ob Sie es glauben oder nicht: Dieses Leben in der Höhle gibt mir eine ungeheure Geborgenheit. Ich verstehe zwar nicht viel von Psychologie: Aber das ist wohl die Geborgenheit, die ein Embryo im Mutterleib empfindet.« »Kennen Sie ›Crocodile Harry‹, den Baron?« »Den kennt hier doch jeder. In den sechziger Jahren ist er nach Coober Pedy gekommen. Vorher hat er oben im Norden, am Roper River, Krokodile gejagt. Er hat von den vielen Kämpfen noch Narben auf der Brust. Die hat er mir mal gezeigt.« »Und welche Rolle spielt ›Crocodile Harry‹ in Coober Pedy?« »Er hat früher nach Opalen gegraben. Dazu ist er jetzt mit seinen 76 Jahren zu alt. Er überlebt heute von dem Eintritt, den die Besucher seiner Republik zahlen.« »Was ist der Baron für ein Typ?« »Er ist ein gebildeter Mann, ein faszinierender Typ – wenn er nüchtern ist.« »Und wann ist er nüchtern?« »Eigentlich nie. Leider.« Seit 20 Jahren lebt Peter Caust in Coober Pedy, wo die Sandstürme, wie er berichtet, bis zu 24 Stunden dauern können, wo ganze Viertel nach einem großen Regen im Schlamm versinken und wo die Luft in einem besonders
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heißen Sommer schwarz ist vor Fliegen. Adelaide, Peters Heimat, gilt dagegen mit ihren üppigen Parks und ihrer Lage am Pazifischen Ozean als eine der schönsten Städte Australiens. Was also zog einen so sensiblen Mann ausgerechnet nach Coober Pedy, vor allem aber: Was hält ihn dort? Das muß doch mehr sein als das pränatale Wohlbehagen, das eine in die Erde getriebene Wohnung verströmt. Nachdem er von dem einmaligen Licht geschwärmt hat, das seine fotografischen Ambitionen fördere, kommt Peter Caust endlich auf den entscheidenden Punkt: Die Freiheit sei es, die ihn binde an diesen Ort. »Man ist frei«, sagt er, »in eine absolut kosmopolitische Atmosphäre einzutauchen. Man kann sich aber auch die Freiheit nehmen, sein eigenes Leben zu führen. Wenn du es möchtest, kümmert sich jeder um dich; aber wenn du es nicht willst, kümmert sich niemand um dich.« Obwohl wir erst vor 20 Minuten ins Gespräch gekommen sind, berichtet Peter Caust ohne linkische Scheu von seinem Lebenspartner, einem Bibliothekar, mit dem zusammen er auch diesen Buchladen betreibe. Im liberalen Klima Coober Pedys ist Homosexualität offenbar kein Stigma – wie ja auch die soziale Herkunft keinerlei Rolle spielt in dieser Gegend, in der ein Bettler zum Krösus wird, wenn er im Erdreich nur auf die richtige Ader stößt, und ein Baron zum Bettelmann, wenn er seinen Reichtum verspielt und versäuft. Vom Freiheitsdrang der Bürger, sagt Peter Caust, zeuge es auch, daß sie sich immer wieder erfolgreich gegen einen zu großen Einfluß der Zentralregierung wehrten und daß es in Coober Pedy so wenig Regularien gebe wie in keiner anderen australischen Kommune. Kürzlich seien die Be-
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wohner bei einem Referendum gefragt worden, ob in Coober Pedy ein Gemeinderat installiert werden solle. Etwa 50 Leute hätten dafür gestimmt, rund 500 dagegen. Wenn man am Ende doch ein lockeres Gremium installiert habe, dann läge das daran, daß es ganz ohne kommunale Ordnung nicht gehe. Nina – ein Leben im Transit Sich treiben lassen in Coober Pedy: an der »Serbian Orthodox Church« mit ihrem silbernen Kreuz und dem »Croatian Club« vorbei die »Catacomb Road« hinauf, wo hinter Wellblechzäunen verwitterte Wohnwagen Spalier stehen und wo ein unscheinbarer Eingang in die »Anglican Underground Church« leitet. Ein Gewölbe im gotischen Stil haben die Preßlufthämmer, 1977 war das, in den Sandstein geformt. Der Altar besteht aus einer schlichten Holzplatte, die auf einem Geflecht aus Ästen ruht. Das Gestühl ist aus Plastik. Künstlich sind auch die Osterglocken in der Vase vor dem Kreuz. »Die Zuversicht des Herrn ist meine Stärke« steht auf einem grünen Wandbehang. Auf ein Textil daneben sind Dürers »Betende Hände« gestickt. Sich treiben lassen: am Stahlgerüst des Freilichtkinos und der »Greek Taverna« vorbei die »Hutchison Street« hinauf, wo sich auf einem verwilderten, von einem hohen Zaun umgebenen Grundstück die Töne einer Klarinette mit italienischen Sprachfetzen mischen und wo das kribbelige Band einer Ameisenstraße direkt zu einem Ramschladen mit einem Gartenzwerg und mit Schundromanen im Schaufenster führt. »Süße Rache«, »Augen aus Jade«,
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»Das Geheimnis des Schmetterlings« lauten die Titel der vergilbten Hefte. Der Laden macht neugierig. Also gehen wir hinein. Die Anordnung der Waren ist chaotisch wie die Anlage der gesamten Gemeinde, die sich einer Systematik standhaft widersetzt. Hier hängt ein Opalpickel inmitten von T-Shirts, dort liegen gebrauchte Schuhe in einer Reihe mit Postkarten, Heiligenbildern und Häkeldeckchen. Ein Raum hinter dem Laden dient wohl als kleines Café. Jedenfalls brodelt es braun in einem durchsichtigen Behälter, und auf dem einzigen Tisch liegen Papierservietten. In einem abgewetzten Sessel sitzt eine ältere Frau, die in dieser dösigen Tristesse eingenickt ist. Als wir uns durch ein paar Geräusche bemerkbar machen, springt sie erschrocken auf, reibt sich die Augen und hat auch gleich eine Entschuldigung parat. »Ich habe gestern nacht mit ’nen paar Typen Karten gespielt. Bis drei Uhr morgens hat das gedauert.« Gezockt hat es also, das Mütterchen. Doch Zeichen von Verworfenheit, nach denen wir, sensibilisiert durch das schlimme Beispiel des Barons, bei ihr suchen, finden wir nicht. Die Locken der braunen Haare sind zur größtmöglichen Biederkeit arrangiert, kein koketter Schwung, kein frivoler Farbtupfer. Das Gesicht ist so rund und so gütig wie Kinder den Mond malen. Sind das slawische Züge? Auch das Blau der Kleidungsstücke hebt sich kaum durch eine Nuancierung voneinander ab. Der Pullover, die Weste, der Rock: fast das gleiche matte Blau. Auf die schlichteste Variante reduziert sich auch ihr Name: Nina. Aber den betont sie, als sie sich vorstellt, auf der ersten Silbe mit einem Schwung, der diesen dumpfen Laden end-
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lich mit Passion und Temperament erfüllt: Niiina. »My name is: Niiina.« Niiina ... – »Sind Sie Russin?« »Ja, ich stamme aus Rußland.« »Wie sind Sie nach Coober Pedy gekommen?« »Ach, das ist ein lange Geschichte.« »Erzählen Sie uns die Geschichte.« »Wo ich genau geboren bin, kann ich gar nicht sagen. Ich bin schon über 80; da läßt das Gedächtnis nach. Es war auf jeden Fall ein Ort irgendwo in Rußland. Meine Eltern sind nach der Revolution mit mir und meinen Geschwistern aus Rußland nach China geflohen, zuerst nach Harbin in der Mandschurei, dann weiter nach Shanghai. Meine Eltern haben Shanghai irgendwann verlassen und sind zunächst auf den Philippinen gelandet. Von den Philippinen sind sie nach Australien ausgewandert. Ich bin in Shanghai geblieben und dort aufgewachsen. Erst 1952 habe ich einen Antrag auf Ausreise gestellt und bin dann irgendwann mit einem kommunistischen Paß nach Australien gereist. Ich wollte meine Eltern in Melbourne sehen.« Englisch spricht die alte Nina noch immer mit einem starken russischen Akzent. Sie dehnt die Vokale und rollt das »r«. Zu den häufigsten Begriffen, die sie erwähnt, gehören »somewhere« und »somewhen«; irgendwo und irgendwann. Irgendwo in Rußland geboren, irgendwann Shanghai verlassen, irgendwann in Melbourne angekommen: ein Leben im Transit. Nina bleibt in Australien und führt zwei Ehen – mit Männern, über die sie nicht gern reden möchte; über den einen nicht, weil er offenbar ein Hallodri war, über den
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anderen nicht, weil sie um ihn noch immer trauert. Zwei Söhne hat Nina. 54 und 58 Jahre sind sie alt. Der eine hat sich seit Jahrzehnten nicht gemeldet; der andere hat zwar mal Marihuana geraucht, doch heute geht’s ihm gut. Wovon er lebt? Von irgendwas. Eine Schwester und ein Bruder Ninas wohnen in Amerika. Wo? Irgendwo. Doch nach all den Irrungen und Wirrungen, die ihr halbes Leben zur Odyssee machten, hat Nina eine Heimat gefunden: Coober Pedy. Wenn es um ihre Existenz in diesem Ort im australischen Outback geht, dann werden ihre Schilderungen präzise und plastisch. »Meine erste Station in Australien war, wie gesagt, Melbourne. Von Melbourne bin ich mit dem Zug nach Adelaide gefahren. Dort gebe es gute Arbeit, hat man mir gesagt. Vor 36 Jahren war das. Es gab in Adelaide aber keine Arbeit. In Coober Pedy gebe es Jobs, hat man mir in Adelaide gesagt. Also bin ich wieder in den Zug gestiegen und bis Kingoonya gefahren. Das war damals der letzte Bahnhof vor Coober Pedy. In Kingoonya hab’ ich mich an die Straße gestellt – und ein Lastwagen hat gehalten und mich mitgenommen.« »Und haben Sie sofort einen Job und eine Unterkunft gefunden in Coober Pedy?« »Ich war am Anfang einfach zu schüchtern, um danach zu fragen. Also hab’ ich eine Woche in den Hügeln gelebt und im Freien geschlafen. Es war sehr heiß um diese Zeit. Aber dann bekam ich Arbeit bei der Coro-Familie. Die hatten doch einen Laden. Da hab’ ich geholfen, die Regale hab’ ich eingeräumt. Auch um die Kinder der Coro-Familie hab’ ich mich gekümmert. Der kleine Robert hat mich ›Granny Nina‹ genannt. Lohn habe ich in den ersten zwei
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Jahren nicht bekommen, sondern Lebensmittel. Brauchte ich Fleisch, hab’ ich mir Fleisch genommen. Brauchte ich Brot, hab’ ich mir Brot genommen. Ich hab’ das dann abgearbeitet. Ein kleines Zimmer hat mir die Familie auch zur Verfügung gestellt. Da wohne ich heute noch.« »Und wovon leben Sie heute?« »Ich habe eine kleine Rente und helfe hier und da, in diesem Laden zum Beispiel.« Man müßte diese alte Frau fragen, ob sie sich nicht ausgebeutet fühlte durch die berühmte Coro-Familie. Doch bevor man ihr diese Frage stellen kann, gerät sie ins Schwärmen: »Die Coros haben Coober Pedy groß gemacht. Ohne die Coros wäre nichts gelaufen in Coober Pedy.« Wie alle »Ninas« dieser Welt hat sich diese alte Frau eingerichtet in ihrer Rolle als Domestike. Es macht sie schon glücklich, wenn ein Knabe sie »Oma« nennt. Ihr klarzumachen, daß sie ihr Leben lang herumgestoßen wurde und wohl auch ausgenutzt: Es würde diese trotz allem in sich ruhende Russin verwirren. Für gottgegeben hält sie ihr Schicksal sowieso. »Sind Sie ein religiöser Mensch?« »O ja, sehr. Wenn ich das nicht wäre, hätte ich nicht überlebt. Aber um zu beten, brauche ich keine Kirche. Beten kann ich auch in meinem Zimmer. Wir haben ja jetzt eine orthodoxe Kirche in Coober Pedy, eine serbische. Aber da gibt es ’ne Bar drin. Was ist das für eine Kirche ... Den Priester mag ich auch nicht. Der hat, nachdem ich ihm beim Bau der Kirche geholfen hatte, zu mir gesagt: ›So, Nina, nun können wir dich anständig unter die Erde bringen.‹ – Ich hab’ gesagt: ›Ich brauch’ dich nicht für mein
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Begräbnis. Dafür habe ich meinen Sohn. Außerdem will ich noch ein paar Jährchen leben.‹« »Mögen Sie Opale?« »Nein, ich mag keine Opale. Was ist das schon: ein Opal? Ich stell’ mir immer vor: Wenn du ihn fallen läßt, zerbricht er, so wie Glas. Ich habe bei einer Feier in der Kirche mal eine Kette aus Opalen gewonnen. Aber ich trage sie nicht. Gesundheit ist wichtig ...« »Und wie ist das beim Kartenspiel ... Gewinnen Sie da häufig?« »O ja: Beim Kartenspiel mit meinen Freunden gewinne ich fast immer. Ich bin ja nicht gierig auf das Geld, also bin ich auch nicht nervös. Ich warte ganz ruhig ab, ziehe die richtige Karte – und gewinne.« Der längste Zaun der Welt Der abgedrehte Baron, der sich im Suff zum Gespött schwäbischer Touristen machte; der Buchhändler, der sich im kühlen Schoß von Mutter Erde so geborgen fühlt; die Babuschka namens »Nina« schließlich, die um die halbe Welt reiste, bevor sie nach Coober Pedy kam: Die Begegnung mit diesen Charakteren muß man erst mal verarbeiten, bevor man sich neuen Gesprächspartnern widmen kann. Also beschließen wir, zur Abwechslung mal wieder hinauszufahren in die Landschaft. Der Dingo-Zaun, unser Ziel, gehört laut Prospekt zu den Highlights in der Umgebung von Coober Pedy. Der Weg dorthin führt 15 holprige Kilometer durch die Mondlandschaft der Opalminen – und ehe man sich’s versieht, hat man die Attraktion erreicht: einen Zaun, der sich in Höhe
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und Beschaffenheit in nichts von der Begrenzung einer Viehkoppel in, sagen wir: Ostfriesland, unterscheidet. Es ist seine Dimension, die diesen Zaun einmalig macht auf der Welt: 5600 Kilometer, so heißt es auf einer einsam in der Landschaft stehenden Hinweistafel, ist er ohne jede Unterbrechung lang. Von Küste zu Küste verlaufend, teilt er den Kontinent in das nördliche Gebiet, wo vor allem Rinder gezüchtet werden und wo der Dingo, ein rostbrauner Wildhund, beheimatet ist, und in die südliche Zone, in der Millionen Schafe grasen. Der Dingo, den es nur in Australien gibt, ist eine Gefahr für die Schafherden. Deswegen hat man diesen Zaun gegen ihn quer durch das weite Land gezogen. Eine eigens für diesen Zweck geschaffene Patrouille achtet darauf, daß auch die kleinsten Löcher umgehend geflickt werden. In keiner der lokalen Abhandlungen über Coober Pedy fehlt der Hinweis, daß in dieser kargen, regenarmen Region die Vegetation kaum über ihre primitivsten Varianten hinauskomme. Auch am Dingo-Zaun ragen nur ein paar bräunliche Grasbüschel aus dem mit Steinen übersäten Boden. In dieser Öde, die ja dem Auge den Maßstab setzt, kann schon ein Farbtupfer, kann ein liebliches Detail ein Glücksgefühl auslösen. So ergeht es uns mit einem Nest aus Blumen, die kaum größer sind als Veilchen und die man oben im tropischen Norden, wo der Baron einst mit den Krokodilen rang und wo die Pflanzenwelt zum Paradies gerät, glatt übersehen hätte. Lila leuchten die Blüten plötzlich aus der Wüste, auch das Grün ihrer Blätter strotzt vor Kraft. Ganz vorsichtig nähern wir uns diesem überraschenden Geschenk der Natur. Selbst in den Vorhof aus Gräsern, der
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sich um den Blütenkranz gebildet hat, wagen wir nicht einzudringen. Auch einen Blick in den botanischen Führer ist uns die Entdeckung wert. »Parakeelya« also heißt diese Blume. Ein sonderlich poetischer Name ist das nicht, aber die Abhandlung weist dieser Pflanze wahre Wunderkräfte zu. »Vor ein paar Jahren«, so wird berichtet, »verlor eine Frau auf ihrem Weg zu einer Rinderfarm die Richtung. Tagelang irrte sie durch die Wildnis. Die stechende Sonne überlebte sie nur, weil sie den Saft aus den Blättern der ›Parakeelya‹ saugte.« Auch für die Aborigines und die »bushmen«, so heißt es weiter, sei diese Pflanze »ein Elixier«. Und dann schlägt der Autor einen kühnen Bogen von der Blume zur Bibel: »Die ›Parakeelya‹ erinnert uns an die Liebe Gottes. Gott hat uns Jesus, seinen reinen und vollkommenen Sohn, geschickt. Er nimmt uns durch seine Liebe gefangen, und er begleicht die Strafe für all unsere Sünden, damit wir den Glanz seines Reiches erleben können. Jesus ist für uns das, was die ›Parakeelya‹ für den verirrten Wanderer in der Wüste ist.« Auf der folgenden Seite wird der Lebenslauf des Autors ausgebreitet. Der Amateurbotaniker Kerry Medway, auf dem Foto ein Mann mit Vollbart und Cowboyhut, ist im Hauptberuf Priester und hat auch schon in der »Catacomb Church« von Coober Pedy gepredigt. Das ist die Untergrundkirche mit den Plastikblumen vor dem Kreuz. Mit der gleichen Besessenheit, mit der in Coober Pedy nach den funkelnden Opalen gebuddelt wird, fördert der Priester seine Belege für die Leuchtkraft des Glaubens zutage. »Seine Lieblingsgeschichte«, so heißt es in der Vita,
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»handelt von einem Manne, der nach Coober Pedy kam, um sein Glück mit Opalen zu machen. Doch statt dessen stieß er auf einen Schatz von viel größerem Wert. ›Ich fand Jesus Christus. Er hat mir endlich die Antworten auf all meine Fragen gegeben. Nun will ich zurückkehren zu meiner Frau und meinen Kindern, die ich vor einiger Zeit verlassen habe und die ich bitten werde, mich wieder bei sich aufzunehmen.‹« Wäre nicht auch dieser Prediger, der früher für ein Hilfswerk die Bedürftigen in entlegenen Gegenden betreut hat, ein idealer Gesprächspartner für uns? Eigentlich ja. Aber würde dieser womöglich fanatische Mann andererseits nicht nur darauf erpicht sein, beim Dialog die Kurve zu Gott zu kriegen? Und gibt an diesem ungewöhnlichen Ort letztlich nicht jeder Bürger eine Story her? »Opale hast du im Blut« Man muß, wenn man hier nicht Monate verbringen will, Prioritäten setzen. Was uns eindeutig noch fehlt, ist ein Opalschürfer bei der Arbeit und der Besuch in einer Höhlenwohnung. Wenden wir uns also nicht dem Überirdischen zu, sondern dem Irdischen, präziser: dem Unterirdischen. Aus der Mündung einer Konstruktion, die, wenn man sehr viel Phantasie aufbringt, aussieht wie ein großer Staubsauger, rieselt mit Steinen vermischter Schutt auf einen der bunten Hügel, die wir auf der Rückfahrt in Richtung Coober Pedy passieren. Rauch kräuselt aus einer Esse. Zahnräder knirschen. Ein Hund schlägt an. Hier lebt die Wüste.
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»Betreten verboten« steht zwar auf einem Schild am Anfang eines Weges, der in eine Mulde führt. Aber so ernst wie im Falle eines deutschen Rasens kann das eigentlich nicht gemeint sein in diesem Kaff, in dem ein Bierfaß schon mal als Gräbstein dient. Und so breitet denn auch der rundliche Mann, der sich am Eingang zum Erdreich postiert hat, die Arme nach einem prüfenden Blick wie ein Zirkusdirektor aus: hereinspaziert. Unser südländisch anmutender Gastgeber, der sich trotz seiner Leibesfülle mit viel Elan bewegt, führt uns durch einen Gang in eine geräumige Höhle, die durch einen Schacht mit der Oberfläche verbunden ist. Das Licht, das durch den Schacht dringt, verbreitet in dieser Gruft einen eigentümlichen Zauber. Es reichert das warme Hellbraun der Wände mit einem Hauch von Blau an, und man muß sich hüten, die Figuren, die sich in diesem Ambiente nach dem Gesetz der Symmetrie verteilen, zu romantisieren. Auf einem Feldbett in der Mitte des Raumes sitzt, in stummer Duldsamkeit, eine ungepflegte Frau zwischen 50 und 60 Jahren. Trotz ihrer barocken Erscheinung geht keinerlei Sinnlichkeit von ihr aus; das graue Haar fällt, durch einen Scheitel getrennt, streng zu den Seiten. Nur die Fältchen neben den Augen signalisieren, daß diese Frau früher auch viel gelacht haben muß. Vielleicht war sie mal die Braut eines Glücksritters, der sie, als er sich im Glänze der Opale sonnte, mit Luxus verwöhnte, um sie, nachdem er sein Geld in den Casinos verspielt hatte, rüde auf die Straße zu setzen. Womöglich zieht sie nun als abgetakeltes Groupie durch das Halbdunkel der Schächte, zu apathisch schon, als daß sie sich, wie die Babuschka Nina, noch einmal aufraffen könnte zu ein wenig Würde.
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Auf einem Stuhl neben dem Eingang sitzt, einem Wächter gleich, ein hagerer Mann in grauer Arbeitskleidung. Über ihn ist nur so viel zu sagen, daß er, wenn er sich schon mal löst aus seiner Starre, Reaktionen zeigt, die typisch sind für den Kalfaktor. Jederzeit zur Ausführung einer Order bereit, fixiert er den Blick auf die Lippen seines Herrn, der mit einer Schippe den Staub von einer Wand kratzt. Spricht der Meister einen noch so belanglosen Satz vor sich hin, murmelt er ihn beflissen nach. Kein Zweifel: Der Besitzer ist auch der Herrscher der Höhle. Doch da er in seiner Gestik nicht den Tyrannen herauskehrt, sondern eher den Patriarchen, kann man aus der unterwürfigen Bescheidenheit des Kalfaktors schließen, daß sie selbst auferlegt ist und vielleicht auf einem Schicksalsschlag beruht, der seinem Selbstbewußtsein einen schweren Knacks versetzt hat. Als der Meister die Schippe beiseite stellt und mit dem Handrücken liebevoll über die entstaubte Wand streicht, bekommt die Stille in dieser Höhle etwas Feierliches. »Sehen Sie hier die vertikalen Einlagerungen«, erläutert der Meister, »davon kann man was erwarten. Da ist nichts gleichförmig. Aus einer gleichförmigen Wand holen Sie nichts raus.« »Wann sind Sie hierhergekommen?« »1972 bin ich aus Ungarn gekommen – und hab’ sofort angefangen zu graben.« »Sind Sie reich?« »Zweimal war ich reich; nun bin ich pleite.« »Warum?« »Nun, wenn man auf Opale stößt, dann kauft man sich größere Maschinen, um noch mehr rauszuholen. Tja: Und
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ein paar Jahre lang bin ich auf keine vernünftige Ader gestoßen. Und man muß für Diesel zahlen, für Sprengstoff und so weiter. Nehmen Sie diese Höhle: Um die aus dem Fels zu sprengen, brauchen Sie 3000 Dollar für Dynamit – und wenn ich kein Einkommen habe, bleibt mir nichts anderes übrig, als die Maschinen wieder zu verkaufen.« »Möchten Sie eines Tages zurück nach Europa?« »Ich liebe die Freiheit. Ich bin ein Kämpfertyp. Ihr solltet mal später wiederkommen. Im Moment hab’ ich ’ne Durststrecke. Opale gibt’s nicht jeden Tag. Und täglich wird’s schwieriger. Angefangen hab’ ich hier mal mit Hacke und Schaufel, und die Opale fielen einem nur so in die Hand. Heutzutage reicht so ’ne kleine Ausrüstung nicht mehr aus. Heute braucht man aufwendige Maschinen, um erst mal den Dreck wegzukriegen, bevor man auf etwas stößt.« »Was ist das hier für ein Leben?« »Nun, man arbeitet 15 Stunden am Tag. Aber es ist wie Weihnachten, wenn du das Geld in den Händen hast. Wir nennen das ›Weihnachten‹. Und dann macht man Urlaub. Mein letzter Urlaub war 1982. Ich bin nach Deutschland geflogen. Ich will dem Finanzamt lieber nicht verraten, wieviel Geld ich in der Tasche hatte ... Aber in Frankfurt hab’ ich mir den größten Mercedes gemietet und bin mehrere Monate durch Europa gefahren.« »Sind Sie süchtig nach einem solchen Leben?« »Das hast du im Blut. Wenn du die richtige Ader getroffen hast, dann hast du für den Rest deines Lebens ausgesorgt. Mein Vater hat hier 1961 angefangen. Er wurde Millionär. Er gehört zu den Opal-Exporteuren. Mein Bruder hat 1968 angefangen. Er ist Millionär, Opal-Exporteur.
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Mein zweiter Bruder, der hier mal angefangen hat, ist in den USA. Er ist Millionär, durch Opale.« »Was ist das für ein Gefühl, wenn man einen wirklich guten Opal in den Händen hat?« »Das kann man nicht beschreiben. Die Freude ist unbeschreiblich. Es ist einfach unglaublich, wenn man mitten aus der Wüste Stücke herausholt, die Abertausende wert sind. Gut: Manchmal verdient man über Jahre keinen Cent – und dann hat man plötzlich Geld für zehn Jahre. Es ist einfach wunderbar.« »Haben Sie Wunschträume?« »O ja, o ja ... ich hab’ hier ein eigenes Wüstengrundstück. Daraus mache ich ein großes Restaurant ... ein großes Restaurant mit Barbecue, mitten in der Wüste.« Die Sterne am Himmel von Coober Pedy funkeln wie tausend Opale, und der fette Mond hat längst seine Position bezogen, als wir, am Abend vor unserer Abreise aus diesem faszinierenden Ort, mit unserem Landcruiser ein Areal ansteuern, auf dem eine junge Frau aus Deutschland mit ihrem australischen Lebensgefährten residiert. Katherine Micka ist Managerin im »Desert Cave Hotel«, unserem Domizil im Herzen der Stadt. Als wir sie gefragt haben, wo man in Coober Pedy eventuell eine Untergrundwohnung besichtigen könne, hat sie geantwortet: »Kommt doch einfach zu mir.« Auch Mond und Sterne scheinen nicht hell genug, um den steinigen Wegen, über die wir mal wieder durch die Hügellandschaft holpern, klare Konturen zu geben. Mal landen wir vor einer Müllkippe, mal stehen wir vor einer Wellblechhütte. Aber den Bulldozer dort, den hat Katherine ausdrücklich erwähnt bei ihrer Beschreibung, und
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den weißen Wassertank auch. Ein wohlgenährter Labrador kommt uns, beflissen grummelnd und gleichzeitig mit dem Schwänze wedelnd, zur Begrüßung entgegen. Und das Paar, dessen Besitz der freundliche Hund beschützen soll, winkt uns einen Abhang hinunter. Wir sind da. Etwa 1,2 Hektar, erklären uns die beiden, sei das Grundstück groß. Gut 250 Quadratmeter betrage die Wohnfläche. Die klaustrophobischen Ängste, mit denen wir uns dem in Kalkstein getriebenen Domizil nähern, verflüchtigen sich beim Rundgang. Nicht in ein Labyrinth geraten wir, sondern in ein wohlgeordnetes Arrangement, zu dem auch Lichtschächte gehören, die die Verbindung zur Außenwelt herstellen und die den Blick an diesem Abend auf Segmente des atemraubenden Sternenhimmels freigeben. Die riesige Küche, das Bad, die Werkstatt, das Schlafzimmer, das Wohnzimmer, das Gästezimmer: Alle diese Räume überwältigen auf Anhieb durch die Geborgenheit, die sie ausstrahlen. Sie geht aus von den für diese Wohnungen charakteristischen Wölbungen, Bögen und Nischen und von einem Braun, dem Lichteffekte jedwede Düsternis nehmen. Musik von Mike Oldfield haben unsere Gastgeber aufgelegt. Ihr sanfter Klang untermalt die Erzählungen einer mutigen Frau.
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KATHERINE, 32, HOTELMANAGERIN
C
oober Pedy – für mich bedeutet das: ganz oder gar nicht. Entweder mag man diese seltsame Stadt – oder man haßt sie. Ich kenne jedenfalls niemanden, der sich halbherzig auf Coober Pedy eingelassen hätte. Es ist eine der außergewöhnlichsten Städte der Welt, daran besteht kein Zweifel. Die Landschaft hier, die Leute, das Leben in den Dugouts, also unter der Erde – alles ist anders als anderswo. Nicht unbedingt schöner, das will ich damit nicht sagen. Anders eben, und das muß man mögen. Habt ihr von der sogenannten Zehntagesperre gehört? Das ist so eine Redensart in Coober Pedy, und gemeint ist damit: Wer hier erst mal Zehn Tage durchgehalten hat, der bleibt für immer. Irgendwann nach dem zehnten Tag macht es klick, und du bist gefangen. Ich hab’ darüber nachgedacht: Bei mir war es tatsächlich so. Ich bin mit meinem Ex-Mann nach Coober Pedy gekommen, fünf Jahre ist das jetzt her. Wir waren damals auf der Hochzeitsreise. Ein Jahr lang wollten wir durch Australien touren und dabei herausfinden, ob wir auf diesem Kontinent leben könnten. Das heißt, ich wußte, daß ich es konnte. Ich bin in Australien
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geboren und aufgewachsen. Mein Vater hat in Melbourne ein großes deutsches Unternehmen vertreten, und als ich 13 war, wurde er nach Erlangen zurückversetzt- Ich habe in Deutschland Abitur gemacht, ein Paar Semester Mathematik studiert und eine Ausbildung im Hotelfach abgeschlossen. Weil ich unbedingt etwas mit meinen Händen machen wollte, habe ich anschließend noch drei Jahre Korbflechten gelernt. Dann, nach ein paar Monaten Unterricht an einer Blindenschule, die Heirat. Ich war 26 und hatte Sehnsucht nach Australien. Die Hochzeitsreise war als eine Art Schnupperkurs für meinen Mann gedacht. Wenn es Matthias gefiel, wollten wir uns dort ansiedeln. Melbourne, Adelaide oder Sydney hatten wir im Sinn, attraktive große Städte mit viel Lebensqualität. Coober Pedy – wenn ich mich recht erinnere, kannten wir das damals kaum. Wir waren seit drei Monaten unterwegs in Australien, als wir in Coober Pedy landeten. Einen Stopp von anderthalb Tagen hatten wir eingeplant, länger bleibt kaum ein Tourist. Wir quartierten uns im Caravan-Park ein, verstauten unsere Sachen und fingen sofort mit dem Nudeln an. Nudeln – das heißt, man siebt den Dreck noch mal durch, den professionelle Opalschürfer aufgewühlt haben, aber nicht mehr beanspruchen. Uns hat das so viel Spaß gemacht, daß wir gleich noch ein paar Tage drangehängt haben. Und nach einer Woche fand ich dann diesen wunderschönen Stein, einen Milch-Opal. Ich hab’ ihn sofort zum Schleifen gebracht. Als ich ihn zurückbekam, merkte ich, daß etwas mit mir geschah. Ich mochte den Stein nicht aus der Hand legen, konnte mich nicht satt sehen. Sogar nachts hab’ ich ihn angeschaut, mit einer Taschenlampe. Als ich dann im Traum nur noch Farben und Opale sah, wußte ich: Jetzt hat’s dich erwischt. Wir haben weitergenudelt, in den nächsten zwei Monaten
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noch mal Opale im Wert von etwa 7000 Dollar gefunden. Ich war nebenbei noch als deutschsprachiger Tourguide tätig, und mein Mann hat sich im Caravan-Park nützlich gemacht, so daß wir dort umsonst wohnen konnten. Es ging uns gut, wir fühlten uns wohl, und die Weiterfahrt nach Alice Springs wurde wieder und wieder aufgeschoben. Bis wir uns dann eines Tages zusammengehockt und Klartext geredet haben: Wir mögen dieses Kaff, warum also bleiben wir nicht und kaufen einen Dugout ... Wir wollten uns später aber nicht vorwerfen müssen, überstürzt gehandelt zu haben. Deshalb haben wir uns ein großes Stück Papier geholt und ganz systematisch die Vor- und Nachteile von Coober Pedy aufgelistet. Den Zettel hab’ ich aufbewahrt, ich kann ihn holen. Also, da steht’s. Klima zum Beispiel. Vorteil: immer Sonne, gute Luft. Nachteil: heiß, trocken, Sandstürme. Unter dem Stichwort »Landschaft« haben wir als Vorteil notiert: absolute Ruhe, Schönheit. Jeder Sonnenuntergang, wie man ihn sich traumhafter nicht vorstellen kann. Nachteil: karg, kaum Vegetation. Oder hier, Thema soziales Leben. Vorteil: Die Menschen in Coober Pedy sind unheimlich freundlich. Die Privatsphäre wird respektiert, aber wenn man jemanden braucht, dann ist er da. Nachteil: Die Anzahl der Leute ist begrenzt. Man muß sich mit denen einrichten, die da sind. Unter der Rubrik »Einkaufen« haben wir dann noch aufgeschrieben, daß man zwar alles bekommen kann, was man braucht, Luxus aber eher rar ist. Natürlich haben wir an diesem Abend auch über unsere berufliche Zukunft gesprochen. Zu diesem Zeitpunkt stand immerhin fest, daß wir in Australien bleiben wollten. Matthias war von Anfang an begeistert gewesen. Er fand das Land vor allem deshalb super, weil hier alles viel lockerer ist als in Deutschland. Nicht so festgefahren, flexibler halt. Wir wußten
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aber auch, daß in Melbourne oder in den anderen großen Städten Arbeitslosigkeit herrschte. Es wäre vermutlich nicht leicht gewesen, dort einen anständigen Job zu finden. In Coober Pedy dagegen suchte man sogar Arbeitskräfte. Als wir uns schließlich für Coober Pedy entschieden hatten, hab’ ich sofort meine Mutter in Deutschland angerufen. Von einer Telefonzelle aus, wir wohnten ja damals noch im Caravan. Du, Mama, hab’ ich gesagt, es steht jetzt fest, wir bleiben in Coober Pedy. Der Schrei, der dann kam, den hab’ ich heute noch im Ohr. Er war so laut, daß ich ihn vermutlich auch ohne Telefon gehört hätte. Waaas, hat sie gerufen, Coober Pedy, warum ausgerechnet Coober Pedy, was willst du denn in diesem gottverlassenen Nest ... Okay, man muß wissen, daß sie Coober Pedy kannte, flüchtig jedenfalls. Sie war vor vielen Jahren mal hiergewesen, während einer Bustour quer durch Australien hatte der Fahrer einen kurzen Stopp in der Opalstadt eingelegt. Aber vorher hatte er die Reisenden so mit Warnungen traktiert, daß die völlig verschreckt waren. Er hatte vor allem den Frauen eingebleut, sie sollten bloß vorsichtig sein. Coober Pedy sei eine rauhe Stadt, voll mit ungehobelten und aggressiven Männern. Lauter solche Sachen eben. Und dieser Eindruck war eben hängengeblieben, deshalb ihre negative Reaktion. Ein dreiviertel Jahr nach dem Anruf hat meine Mutter uns dann besucht und war total begeistert. Wir hatten inzwischen damit begonnen, unseren Dugout zu graben. Das 1,2 Hektar große Grundstück hat uns 4000 Dollar gekostet. Anfangs haben wir alles mit der Hand gemacht. Das heißt, wir hatten Sprengstoff, eine Schubkarre und Schaufeln, und damit haben wir die ersten Hohlräume aus dem Sandstein gebuddelt. Später haben wir dann Fachleute geholt. Das
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sind Ortsansässige, die sich damit auskennen, wie man tunnelt und wo man Abzugsschächte setzt. Sie kommen mit sogenannten Tunneling-Maschinen, riesig sind die, Ungetüme auf Kettenrädern. Vorn sitzt ein hydraulischer Arm, der eine Rolle mit Stahlzähnen bewegt. Wenn man sein unterirdisches Haus entwirft, muß man jeden Raum so großzügig planen, daß die Maschinen wenden können. So an die drei Wochen hat das Tunneln gedauert. Anschließend haben wir noch den Boden ebnen und mit Holz auslegen lassen. Und weil die Wände aus Kalksandstein sind, müssen sie lackiert werden. Sonst staubt es. Energie liefert uns die Sonne, davon haben wir genug in Coober Pedy. Unsere Solaranlage ist allerdings noch nicht sehr groß, sie versorgt uns mit Licht, Fernsehen und Radio. Wenn ich bügle oder die Waschmaschine benutzen will, dann geht das noch über den Generator. Aber ich spare auf eine große Anlage, und wenn ich die habe, bin ich völlig unabhängig. Dann gibt’s nie mehr eine Stromrechnung. Unsere Wohnfläche beträgt jetzt 250 Quadratmeter. Aber das muß nicht der Endstand sein, man kann in so einem Dugout beliebig weiterbuddeln. Wenn man unter der Erde wohnt, sind der Phantasie keine Grenzen gesetzt. Ich kenne niemanden, der sagt: Okay, jetzt ist mein Dugout fertig. Man hat ständig neue Ideen, und das Schöne ist, man kann sie ohne allzu große Kosten umsetzen. Wir träumen im Moment davon, hier irgendwo einen Billardtisch hinzustellen. Wir – das bedeutet inzwischen nicht mehr: Matthias und ich. Es hat nicht geklappt mit uns, wir sind seit kurzem geschieden. Er ist aber in Australien geblieben, hat sich einbürgern lassen und studiert Operngesang in Adelaide. Ich bin jetzt mit Gary zusammen. Gary stammt aus der Gegend um Sydney und lebt seit 13 Jahren in Coober Pedy.
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Beruflich sind wir beide ziemlich eingespannt. Gary arbeitet als Touristenführer, und ich hab’ einen verantwortungsvollen Job im »Desert Cave Hotel«. Das hindert uns aber nicht, jede freie Minute in unserer Opalmine zu verbringen. Schuld haben hier viele Die Steine sind meine Leidenschaft geworden, ich komm’ nicht mehr los davon. Die Suche nach Opalen, das ist wie eine Sucht. Fast jeder in Coober Pedy hat seine Finger irgendwie in Opa’ len. Die meisten lieben sie, manche hassen sie auch. Naja – Haß ist vielleicht nicht das richtige Wort. Haßliebe wäre wohl die bessere Beschreibung für diesen Zustand. Was daran so faszinierend ist? Natürlich die Steine selber, sie sind wunderschön und auch irgendwie geheimnisvoll. Und dann ist da dieser Reiz, daß du die Möglichkeit hast, quasi von einer Minute zur anderen viel Geld zu machen. Jeder, der in die Mine steigt, hat praktisch jederzeit die Chance, zum Millionär zu werden. Ob er dick oder dünn ist, arm oder reich, schwarz, weiß, schlitzohrig oder schlitzäugig – es ist ganz egal, jeder hat die glei’ che Chance. Pro Jahr wird etwa ein Prozent der Opalsucher in Coober Pedy so reich, daß sie für den Rest ihres Lebens nicht mehr arbeiten müssen. Und wenn einer einen solchen Fund gemacht hat, dann wird gefeiert: gibt’s eine Riesenparty. Champagner und Whisky fließen in Strömen, Hummer und Garnelen werden extra eingeflogen. Ich hab’ viele Geschichten gehört von solchen Partys, aber ich war auch selber schon eingeladen. Natürlich wird bei dieser Gelegenheit auch allen gedankt, die geholfen haben, und es werden Schulden zurückgezahlt. Viele Menschen in Coober Pedy haben Schulden, klar. Wenn du dich nicht nur mit dem Nudeln begnügen willst, dann mußt
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du investieren. Wieviel Kapital du brauchst, das hängt davon ab, in welchen Größenordnungen du das Ganze betreiben willst. Der Papierkram verursacht die geringsten Kosten. Wenn du deinen Claim abgesteckt hast, zahlst du 200 Dollar im]ahr für die Schürfgenehmigung, das ist alles. Aber du mußt dir außerdem Leitern besorgen, Helme, Picken, einen Generator, Sprengstoff und, wenn du richtig loslegen willst, auch noch Maschinen. Einen Blower zum Beispiel, das sind die Dinger, die wie Riesenstaubsauger aussehen. Für Maschinen kannst du, wenn du willst, bis zu 500 000 Dollar zahlen. Und du darfst natürlich den Kraftstoff nicht vergessen, der in diese Maschinen geht. Gary und ich, wir brauchen manchmal 44 Gallonen Diesel in der Woche, und das kostet uns an die 250 Dollar. Ich kenne mich inzwischen ziemlich gut aus mit Opalen. Ich kann dir sagen, woher ein Stein stammt, also von welchem Feld er kommt. Jedes Feld hat seine spezielle Art von Opalen, und ich denke, ich bin so gut, daß ich die Herkunft eines Steines bis auf einen Kilometer genau bestimmen kann. Ja, was macht die Qualität eines Stückes aus ... Um es mal ganz einfach zu sagen: Ein guter Opal ist einer, der dir sofort in die Augen springt. Also wenn man vor 100 Opalen steht, dann ist der erste, den man wahrnimmt, wahrscheinlich auch der beste, weil er die brillantesten Farben hat. Je größer seine Farbflecke, desto wertvoller und teurer ist ein Stein. Wenn man bedenkt, um wieviel Geld es hier manchmal geht in Coober Pedy, dann ist die Stadt eigentlich ziemlich friedlich. Aber es gibt natürlich Kriminalität, klar. Unser größtes Problem sind die sogenannten Nightshifter. Das sind Leute, die nachts in fremde Minen einsteigen und dort Steine rausholen. Gary haben sie auch schon mal beklaut, Opale im Wert von 60 000 Dollar hat er dabei verloren. Das ist hart, und das schlimmste
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ist: Solange du die Nightshifter nicht auf frischer Tat ertappst, kannst du nichts machen. Selbst wenn du weißt, wer es war: Du mußt es beweisen können. Ihr könnt euch nicht vorstellen, wie dreist diese Nightshifter sind. Gary saß mal in einer Kneipe, als ihm der Ober unaufgefordert einen Drink servierte. Am Nebentisch hob jemand sein Glas, prostete Gary zu und sagte: Cheers, mate, thank you ... Gary wußte genau, daß der Typ ein Nightshifter ist. In solchen Momenten packt einen natürlich die Wut. Aber es nützt nichts, du kannst nichts machen. Ende letzten Jahres ist in Coober Pedy ein Auto in die Luft geflogen. Es passierte in der Nacht, der Wagen war in der Einfahrt eines Hauses geparkt, jemand hatte Dynamit in den Auspuff gesteckt, und dann ist das ganze Ding explodiert. Jeder in Coober Pedy wußte: Hier hat sich einer gerächt, der bestohlen worden ist. Es war im übrigen nicht der erste Vergeltungsakt dieser Art, auch Lastwagen und Maschinen sind schon in Millionen Stücke zerborsten. Wenn man den Dieben nichts nachweisen kann, dann vergeht man sich eben an ihrem Eigentum. Sein Gewissen kann man damit beruhigen, daß man zwar Sachen beschädigt, aber keinen Menschen verletzt hat. Wenn du auf Opale gestoßen bist, mußt du sie jedenfalls so schnell wie möglich herausholen. Und du mußt schweigen können, darfst keinem Menschen davon erzählen. Aber du bist natürlich so überglücklich in diesem Augenblick, daß Experten dir sofort ansehen, was los ist. In der Stadt wird ohnehin ständig darüber spekuliert, wer gerade »auf Opalen« ist. Gary hat deshalb folgende Taktik für sich entwickelt: Er kaspert rum, erzählt ständig Geschichten, daß er einen Millionenfund gemacht hat. Die Leute lachen, und wenn’s dann wirklich mal soweit ist, glauben sie ihm die Story vermutlich auch nicht.
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Klar, manchmal geht einem der Ort auf die Nerven, da ist man sauer und gereizt. Aber ich denke, solche Phasen hätte man auch anderswo auf der Welt. Gary vermißt manchmal das Meer, mir fehlt eigentlich gar nichts in Coober Pedy. Die Versorgung ist jedenfalls gut. Unsere Supermärkte werden einmal in der Woche beliefert, jeweils in der Nacht zum Donnerstag kommen die großen Road trains aus dem Süden. Die Ware wird sofort in die Regale gepackt, und früh morgens um halb sieben beginnt in Coober Pedy die große Einkaufsorgie. Du kannst hier Sauerkraut, Rotkohl, Nürnberger Bratwürste und zu Weihnachten sogar Zimtsterne und Spekulatius bekommen. Die Läden stellen sich auf ihre multikulturelle Kundschaft ein, das ist der Vorteil an einem solchen Ort. Wo so viele Nationalitäten aufeinanderhocken, da lernt man im übrigen auch Toleranz. Jeder hat hier seine Eigenheiten, seine Gewohnheiten, und wenn man die nicht respektiert, ist man ganz schnell verloren. Besucher können sich das nur schwer vorstellen, aber ganz ehrlich: Langweilig war’s mir noch nie in Coober Pedy. Wenn wir am Wochenende nicht gerade schürfen, dann gehen wir auf Partys, oder wir packen unsere Schlafsäcke, fahren ein paar Kilometer in die Wüste und campieren unter dem Sternenhimmel. Das ist wunderschön, vor allem die Stille ist beeindruckend. Auch in unserem Dugout ist es nachts ruhig. So ruhig, daß du das Gefühl hast, du könntest ein Staubkorn zu Boden fallen hören. Wir hatten mal Freunde zu Besuch, die empfanden die Stille sogar als unheimlich. Sie haben sich nachts in ihrem Zimmer verbarrikadiert, was wir nie tun. Wir schließen hier nie eine Tür ab. Die karge, wüstenartige Landschaft ist, jedenfalls auf Dauer, eine große Herausforderung. Für mich ist das noch kein Pro-
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blem, aber ich kann verstehen, daß Menschen unter einem Zustand leiden, den wir hier Wüstenphobie nennen. Sogar unser Krankenhaus mußte sich darauf einstellen. Schon 1981 hat man dem Hospital eine Art therapeutischen Garten angegliedert, wo solche Fälle behandelt werden. Die Anlage ist groß, mit einem Fischteich, Palmen und vielen anderen exotischen Pflanzen. Gary hat’s ausprobiert: Er hat sich hingesetzt und stundenlang in das satte, tropische Grün gestarrt. Er sagt, er habe sich anschließend ruhiger und ausgeglichener gefühlt. Viele Leute versuchen, dem kargen Boden einen eigenen kleinen Garten abzutrotzen. Wir haben auch ein paar Büsche angepflanzt, und ich glaube, daß das wichtig ist. Du mußt aktiv und beweglich bleiben in Coober Pedy, darfst nicht in die Wüstenfalle tappen. Wenn du den Kopf in den Sand steckst, dann wirst du selber wie die Wüste: auf den Regen wartend, damit er Leben und Glück bringt.
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„WIE
VOM
HIMMEL
GEFALLEN...“
Achte Etappe: Von Coober Pedy nach White Cliffs
A
uch die Strecke von Coober Pedy in Richtung Süden bietet dem Auge auf den ersten Kilometern so wenig Ablenkung, daß die Phantasie vornehmlich aus der Erinnerung schöpft. Doch sie bezieht ihre Bilder diesmal nicht aus den Niederungen längst vergangener Tage, sondern aus den überwältigenden Begegnungen, die gerade hinter uns liegen. Der Baron, der Buchhändler, die Babuschka, der Ungar, die Deutsche: Diese Figuren, die nun alle noch einmal Revue passieren wie eine Garde aus einem Panoptikum ungewöhnlicher Existenzen, wird man wohl sein Lebtag nicht vergessen. Auch zur Reflexion laden die Erfahrungen in Coober Pedy ein. Offenbart sich in diesem Kaff nicht, wie in einem Mikrokosmos, ein Urtrieb der menschlichen Existenz: das Streben nach Besitz, nach Glück, vor allem aber nach individueller Freiheit? Es stimmt, daß dieser Zustand auch in Coober Pedy für die Mehrheit der Bürger ein Traum bleibt. Aber ist die Kraft der Illusion nicht stärker als die Einsicht in die Realität und die Vernunft nicht machtlos gegen die Sucht? Hat nicht auch der Buchhändler recht, der vorgestern beim Gespräch in seinem Laden en passant einen dialekti-
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schen Zusammenhang herstellte zwischen der Ausbeutung der Natur und der Zerstörung des Individuums? Aber läßt denn ein so extremer Platz wie Coober Pedy überhaupt generelle Schlüsse zu? Gleicht dieser Ort nicht eher einem Vulkan, der, weil seine Kräfte nicht mehr zu bändigen sind, zwar ununterbrochen Lava speit, aber damit noch lange kein typischer Vulkan ist? Doch schlummert diese zerstörerische Energie nicht auch in Vulkanen, die nach außen ruhig wirken? Kann diese eruptive und gleichsam destruktive Kraft nicht jederzeit durchbrechen? Und gehört sie damit nicht zum Wesen des Vulkans? Brodelt Coober Pedy nicht in uns allen? Die Trennungslinien auf der Piste zählen. Den Benzinstand kontrollieren: Nadel auf Reserve. Scheibenwischer: okay. Philosophie: mangelhaft? Aber eines, verdammt noch mal, lehrt das Beispiel Coober Pedy nun wirklich: daß Menschen ihrem Wesen nach Unternehmer sind und daß sie auch Ausbeutung hinnehmen, solange sie sich nur selbst ausbeuten; daß ein politisches System zum Scheitern verurteilt ist, das diesen Trieb total unterdrückt, und daß der Niedergang des real existierenden Sozialismus dies ja auch längst bewiesen hat. Am Rande der Piste liegt der Kadaver eines Känguruhs. Drei mächtige Vögel zerren an seinen Innereien. Es sind Adler. Wir nähern uns ihnen im Schrittempo. Als uns nur noch fünf, sechs Meter von ihnen trennen, fliehen sie mit schwerem Flügelschlag auf einen der Bäume, von denen nach einem Feuer nur noch Skelette übriggeblieben sind. Da sie kein Wall aus Blättern vor unseren Blicken schützt, präsentieren sich die Adler in ihrer ganzen Pracht. Das dunkelbraune Federkleid reicht hinunter bis zu den
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Krallen und verleiht diesen Vögeln etwas Schwerfälliges, das sich ins Majestätische wandelt, wenn sie ihre Flügel spreizen. Den Kopf prägt ein gewaltiger Schnabel, der gekrümmt ist wie ein Säbel. Verscheuchten die Krähen, wenn man sie störte, ihre Ängste und ihren Ärger durch lautes Gezeter, so harren die Adler in stummer Würde darauf, daß sie sich dem Aas wieder ungestört nähern können. Soviel Gelassenheit, soviel Stolz kann sich nur der König im Revier leisten, der selbst keine Feinde kennt, aber allen anderen Kreaturen ein Feind ist. Kein Wölkchen schwebt heute am Himmel. Der Wind weht ungewohnt sanft. Das sind für die Familie der Adler offenbar die idealen Bedingungen, dem Nachwuchs das Fliegen beizubringen. Jedenfalls zieht ein ausgewachsenes Exemplar dieser Gattung in einigen hundert Metern Höhe seine Kreise und wird dabei von einem Adler begleitet, der nicht einmal halb so groß ist und der sich mit flatterhafter Beflissenheit bemüht, dem vorgegebenen Kurs synchron zu folgen. Mal fliegt der Leitvogel seinem ungeübten Partner davon, mal segelt er verwirrend im Zickzack. Mal läßt er sich ganz von der Thermik tragen, mal hilft er mit dem Ruder nach. Doch wenn der kleine Vogel an seiner Seite den Überblick verliert und ins Trudeln gerät, stabilisiert er den Kurs, um den Schüler nicht in Gefahr zu bringen. Als das Paar von einer Turbulenz erfaßt wird, fliegt der große Adler so nahe an den kleinen Adler heran, daß sich die beiden fast mit den Flügeln berühren. Je weiter wir in Richtung Süden kommen, desto normaler wird der Anblick des Adlers, den man bisher nur als
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Symbol auf Münzen kannte oder von den bunten Bildtafeln in »Brehms Tierleben«. Sieben, acht dieser gewaltigen Greifvögel verteilen sich auf die Zweige eines Busches, stoisch nach Beute spähend, die das weite Land nun wieder reichlich bietet. Das rote, über viele hundert Meter tote Erdreich schmückt sich endlich wieder mit Vegetation. Sie beschränkt sich zwar weitgehend auf eine etwa einen Meter hohe Pflanze namens »Blue bush«, doch legen sich die Nester dieser Büsche wie ein Flaum über den ausgemergelten Boden, und auch von der dezenten Mischung aus Blau und Grau geht eine besänftigende Wirkung aus. Als wolle sie in dieser harmonischen Landschaft partout ihre Kontur und damit ihren Charakter bewahren, tauscht die Straße ihr Grau in ein knalliges Violett. Wo sie sich mit kühnem Schwung in eine der wenigen Kurven legt und sich, was noch seltener ist, in eine Senke windet, halten wir für ein Foto an. Was diese ohnehin schon grandiose Szenerie perfekt machen würde, so sagen wir uns, wäre ein Road train, einer dieser überdimensionalen Lastzüge, deren eigenwillige Kapitäne wir neulich in Alice Springs interviewt haben. Wir warten und warten; aber ein Road train ist nicht in Sicht. Statt dessen nähert sich uns, auffällig sein Tempo drosselnd, ein Pick-up, einer dieser für Australien ebenfalls typischen Kleintransporter. Der Fahrer, der einen Cowboyhut trägt, hat das Fenster heruntergekrubelt und seinen Blick auf uns gerichtet. Mein Gott: Wir haben, bei der Suche nach einem Platz zum Parken, die durchgehende weiße Linie überfahren und damit eindeutig gegen die Verkehrsregeln verstoßen. Nun werden wir wohl belehrt, viel-
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leicht sogar bestraft. Oder will uns der Typ, der da wiegenden Schrittes auf uns zukommt, das Geld und die Fotoausrüstung abnehmen? Außer uns kein Mensch weit und breit: Für einen Räuber sind das doch ideale Bedingungen. Also schnell wieder rein ins Auto, Gas geben und weg ... Der Mann, dem wir nun nicht mehr entrinnen können, sieht nicht weniger besorgt aus als wir. »Kann ich irgend etwas für Sie tun?«, fragt er. »Haben Sie eine Panne?« Daß wir auf einen Road train warteten, erläutern wir ihm, und daß wir den Lastzug fotografieren wollen. Auch als wir »good bye« sagen, lächelt der Mann höflich; doch zumindest andeutungsweise schüttelt er den Kopf darüber, wie man in sengender Hitze in einer ganz normalen australischen Landschaft auf ein ganz gewöhnliches australisches Verkehrsmittel warten kann. Freundlich hupend und die Hand zum Abschiedsgruß erhoben, fährt der Mann mit seinem Pick-up davon. Uns beschleicht ein Gefühl der Beklemmung. Haben wir das Mißtrauen, das unsere eigene Gesellschaft prägt, schon so sehr verinnerlicht, daß wir uns nicht einmal in dieser Welt der weiten Horizonte und der großen Herzen davon befreien können? Endlich naht es, das Ungetüm, auf das wir warten. Röhrend vor brachialer Kraft, nimmt der Road train, ein in Weiß und Gelb gehaltener Tanklastzug, die Anhöhe. Als seine Wucht sich in der richtigen Position mit der Weite befindet, macht es klick. Die Nadel der Benzinanzeige pendelt schon gefährlich im roten Bereich, als wir Glendambo ansteuern, eine dieser Stationen, die auf der Straßenkarte wie richtige Orte eingezeichnet sind, in der Realität aber nur aus ein paar Zapfsäulen, einem Restaurant und einem Motel bestehen.
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Rex, der Schlangenmann Wenn ihr in Glendambo seid, hat man uns gestern noch in Coober Pedy geraten, dann müßt ihr nach dem »Snake man« fragen. Rex heiße der, und Schlangen seien seine Passion. Wir bitten den jungen Mann um Auskunft, der im Restaurant hinter der Kasse steht und die heitere Ausstrahlung des Hans im Glück hat, der ewig fröhlichen Figur aus dem Grimmschen Märchen. Rex? Das sei er selbst. Und da mit Kundschaft kaum zu rechnen sei in den nächsten Stunden, wolle er uns gern seine Schlangen zeigen. Die Terrarien verteilen sich über den gesamten Raum und fügen sich nahtlos in dessen rustikale Dekoration: ein gewaltiges naives Gemälde, das über einem Kamin hängt und Schafscherer bei der Arbeit zeigt, ein Arrangement von Cowboyhüten an den Wänden, die Sammelbüchse für die »Flying doctors«, die Fotos von bedeutenden Pferderennen, eine Dartscheibe, eine Anzeige schließlich, die eine »zielsichere Pistole aus drei Millimeter Stahl« anpreist. Die Schlangen, die Rex, der Mann an der Kasse, hegt und pflegt, zeigen keinerlei Regung an diesem Nachmittag. Sie haben sich um die Äste gewickelt, die in ihren Glasschränken für ein naturgerechtes Milieu sorgen sollen, oder sie verstecken sich, hier und da ihren schuppigen Leib zeigend, unter ausgedörrten Gräsern. Vielleicht ist es gerade diese archaische Ruhe, die uns Ehrfurcht einflößt vor den geheimnisvollen Kreaturen und die uns neugierig macht auf deren Gewohnheiten.
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»Red-bellied black snake« also heißt, wie man einer Beschreibung entnehmen kann, das kringelige Wesen dort. Zweieinhalb Meter lang wird die schwarze Schlange mit dem roten Bauch. »In der Nähe zu Wasserläufen« lebt sie, und sie frißt vorzugsweise »Frösche, kleine Säugetiere und andere Schlangen«. Über die »Western brown snake« erfährt man, daß sie sich ihre Opfer vor allem des Nachts sucht und daß sie »in höchstem Maße giftig« ist. Völlig harmlos soll dagegen die drei Meter lange »Central Carpetpython« sein, die auf Bäumen lebt, sich auch von Vögeln ernährt und deren lateinische Bezeichnung »Morelia bredli« lautet. Diesen Namen verdankt sie, so erfährt man, »dem berühmten Schlangenhändler Joe Bredl«. Die Python, sagt Rex, der »Snake man«, habe ihm eine Familie aus Adelaide anvertraut, die mit der Betreuung dieses länger und länger werdenden Haustieres irgendwann überfordert gewesen sei. Viele andere Schlangen aber habe er selbst in der Umgebung des Rasthauses gefangen. Abends, wenn sich ein paar Trucker und Touristen an der Theke versammelten, hole er seine Schlangen aus den Schränken, um die Eigenschaften dieser Reptilien zu demonstrieren. »Auf diese Weise«, sagt Rex, »bekommen die Leute auch Achtung vor der Natur.« »Wie bist du eigentlich darauf gekommen, dich mit Schlangen zu beschäftigen?« »Schuld ist meine Mutter. Sie war allergisch gegen Katzen und Hunde, also konnte ich ein solches Haustier nicht haben. Aber es gab am River Murray, wo ich groß wurde, wunderschöne Lizzards. Und so habe ich erst mal Eidechsen gefangen und bin später auf Schlangen umgestiegen.«
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»Ist das schwer, Schlangen zu fangen?« »Man muß ihren Charakter kennen, dann ist das kein Problem. Das beste ist, es frühmorgens zu versuchen, wenn sie noch nicht ganz wach sind. Man greift blitzschnell zu – und hat sie. Je wärmer es ist, desto wacher und schneller sind Schlangen.« »Ist es eigentlich gefährlich, mit Schlangen umzugehen?« »Wenn du sie gut behandelst, tun sie auch dir nichts. Nein: Ich bin noch nicht ein einziges Mal gebissen worden.« »Erkennen dich deine Schlangen?« »Eindeutig. Sie werden ganz ruhig, sie relaxen, wenn sie mich sehen.« »Magst du Schlangen?« »Ja. Schlangen sind etwas ganz Besonderes. Ich weiß mittlerweile so viel über sie, daß ich nicht mehr davon loskomme. Ich gehe jetzt oft raus in den Busch, beobachte sie, messe sie, mache mir Notizen, lasse sie wieder frei. Ich will immer mehr über meine Schlangen erfahren.« Nein: Dieser »Snake man« gehört nicht zu den kauzigen Typen, die man, nachdem sie an einem eintönigen Tag für ein wenig Amüsement gesorgt haben, schnell wieder abhakt, um sich gewichtigeren Dingen zu widmen. Das Beispiel dieses jungen Mannes, der sich nach Feierabend dem Studium seiner Schlangen widmet, zeigt vielmehr, wie schnell ein Laie, wenn ihn erst mal die Passion erfaßt, zum Forscher werden kann, und wieviel Anschauungsmaterial selbst diese schlicht strukturierte, von der Üppigkeit der Tropen nicht nur geographisch weit entfernte Landschaft bietet. Nun wäre es sicherlich übertrieben, diesen Hans im
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Glück zu einem Doktor Faustus des australischen Outback zu stilisieren, aber ein Besessener ist er durchaus, der »Snake man« aus Glendambo, der auch uns, die wir in der hektischen Stadt zu Hause sind, aufs neue sensibilisiert hat für den unermeßlichen Reichtum der Natur. Unsere Phantasie hat der junge Mann mit einer neuen Dimension ausgestattet. Zu den blaugrauen Büschen und zur eisenhaltigen Erde assoziiert sie nun rotbäuchige Schlangen, die, gierig wie sie sind, Frösche oder Mäuse verschlingen. Wenn Adler am Himmel kreisen und nach Beute spähen, dann könnten die Schlangen, auch das haben wir gelernt in Glendambo, selbst die Opfer sein. »Keine Zeit für Tränen« Nur noch 200 Kilometer sind es, als die Zapfsäulen im Rückspiegel zu Punkten verschmelzen, bis nach Port Augusta, unserem nächsten Ziel. In dieser kleinen Hafenstadt endet der Stuart Highway, und so meisterhaft, wie sie sich auf den zurückliegenden Etappen inszeniert hat, gestaltet diese Piste auch den Schlußakkord. Sie nimmt alte Motive wieder auf und fügt, wenn man gerade in Nostalgie zu schwelgen beginnt, völlig neue Impressionen hinzu. Die violetten Blütenkränze der Panaceelyas, die uns vor ein paar Tagen am Dingozaun als bunte Tupfer in der steinigen Wüste entzückten, liegen nun wie Teppiche auf der gelbbraunen Erde. Wo sich, wie neulich im »roten Herzen« hinter Alice Springs, Sand zu Wällen häufte, breiten sich hier bis zum Horizont ausgetrocknete Salzseen aus. Der erstarrte Schaum an ihren Ufern funkelt wie Eiskristalle. Die weiße Fläche wirkt, obwohl über der Landschaft die
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Hitze flimmert, so winterlich, daß man sich nicht wunderte, wenn es, wie auf einem Breughelschen Gemälde, vor Menschen auf Schlittschuhen und Rodeln wimmelte. Zwei Wesen wie aus einer anderen Welt kreuzen die Piste. Es sind Emus, die Riesenvögel mit dem plumpen Körper, dem wackligen Gang und den langen Wimpern über den kugelrunden Augen. Als wir auf gleicher Höhe mit ihnen sind, rennen sie in wirren Kurven davon, ihre Flucht durch ungelenke Hüpfer beschleunigend, als wollten sie abheben in die rettenden Lüfte. Aber die Evolution hat die Flügel der Emus zu Stümpfen gestutzt, und so suchen diese Kolosse denn auch Schutz im dichten Buschwerk am Rande der Straße, hin und wieder ihre kecken Köpfchen ins Freie schiebend, damit ihrer Neugier nur nichts Wesentliches entgehe. Die dramaturgischen Konstanten sind auch auf dem letzten Abschnitt die wie mit dem Lineal gezogene Piste und die Telegrafenmasten, die sich zum Horizont hin zu einem Strich verdichten. Mit bizarrer Wucht wächst auf den letzten Kilometern das Massiv der Flinders Ranges aus der Ebene. Die Sonne des späten Nachmittags taucht die rauhen Berge in begütigendes Pastell. So vereint der Schlußakkord das Gewaltige mit dem Zarten und schließt die erste Hälfte unserer Reise mit einem Bild ab, in dem sich die wesentlichen Merkmale eines grandiosen Highways bündeln. Vom südlichen Pazifik, den wir in Port Augusta wieder erreichen, sehen wir nur ein paar durch Kaimauern und Molen gezähmte Ausläufer. Wir biegen von dieser Stadt, zu deren Wahrzeichen ein Zementwerk gehört, schon nach wenigen Kilometern wieder ins Landesinnere ab und fahren über den zunächst von braunen Ackern und lieblichen
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Hügeln gesäumten Barrier Highway nach Broken Hill, einer Stadt, der einst Kohle und Silber zu Wohlstand verhalfen und die dann eine Rezession im Bergbau ruinierte. Schwarze Halden, stillstehende Förderbänder, verfallene Siedlungen ... Richtig: Peter, der melancholische Angler, den wir mit seinen beiden Freunden im »Heartbreak Hotel« getroffen haben, war das, der beim Bier immer wieder darüber klagte, daß Broken Hill sein Herz verloren habe und daß seine Tochter von zu Hause abgehauen sei und daß sie wenigstens mal eine Postkarte schreiben könnte. »Heartbreak Hotel« ... Wann war das? Vor 14 Tagen? Vor einem Monat? Kann man noch sagen: neulich? Oder müßte es schon heißen: damals? Ein Kriegerdenkmal, ein Friedhof, Kreisverkehr, feurig blühende Bougainvilleas in armseligen Gärten, eine Ausfallstraße: Das also ist – nein: war – Broken Hill. Aber Broken Hill begleitet uns noch ein Weilchen. Die Stadt hat nämlich eine Radiostation, und nachdem wir wochenlang ohne jede akustische Ablenkung die Einsamkeit des Outback durchmessen haben, nehmen wir das Programm, so absurd seine Wortbeiträge auf den Fremden auch wirken, begierig auf. Broken Hills »Baby der Woche«, so lernen wir, heißt »Amber«, Bernstein auf deutsch. Was für ein schöner Name. Für ein krebskrankes Kind, so berichten die Nachrichten, haben die Bürger einen Flug nach Kalifornien gespendet. Auch ein Besuch von Disneyland sei vorgesehen. In der Sendung »Wünsche zum Mittag« empfängt Amy, die heute 14 wird, »einen kleinen Sonnenstrahl« von ihrer »Mum«. Der Nationalpark bei Broken Hill wurde wegen Hitze und Trockenheit geschlossen.
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Ein Fuchs schleicht sich, immer wieder Witterung nach möglichen Feinden aufnehmend, an den Kadaver eines Känguruhs heran. Slim Dusty, ein berühmter australischer Barde, singt die Hymne auf den Fahrensmann, der sich nie lange irgendwo aufhalten kann, weil es sein Schicksal ist, ewig unterwegs zu sein: »I was born a travelling man, visiting friends in Outback homes. I never stay there long, I am always moving on.« Als wir vom Barrier Highway abbiegen auf die rauhe Piste nach White Cliffs, unserem nächsten Ziel, singt eine Lady mit schneidend klarer Stimme einen Song wider die Sentimentalität: »In the Outback there ain’t no time for tears.« Gestatten: Alf aus Altona Nur der Wind darf heulen in der Wildnis. Das tut er kräftig, als wir die Zivilisation wieder verlassen haben und in eine gespenstische Landschaft geraten, deren Grundfarben Grau, Gelb und Braun sind. Wie graue Skelette stehen Bäume Spalier, denen die Hitze die Feuchtigkeit entzogen hat. Gelb dörrt der Flaum der Gräser. Braun ist der Sand, den der Wind durch die Gassen des toten Waldes wirbelt. Die Piste führt durch das Bett eines kleinen Flusses, den Chinamen’s Creek. In einer Mulde staut sich Wasser. Eine Ecke der Straße ist abgerissen. War es eine Flut, die wie ein Spuk über diese Gegend kam? »White Cliffs« steht auf dem Ortsschild, das durchsiebt ist von Gewehrkugeln. White Cliffs ... Wann immer wir in Australien dieses Etappenziel nannten, stießen wir auf ungläubiges Staunen.
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Daly Waters: Nun ja. Schließlich steht da Australiens älteste Kneipe. Kings Creek: Na gut. Immerhin rennen da wilde Kamele durch die Wüste. Coober Pedy: Warum nicht? Wenigstens strotzt dieses entlegene Städtchen vor Lebenskraft. Aber White Cliffs? Besser großräumig umfahren, war wohl die Handbewegung mancher unserer Gesprächspartner zu deuten. Aber es gibt keine Umgehungsstraße in dieser trostlosen Gegend, sondern nur diese staubige Piste, die mitten durch den Ort führt. Hier ein paar Häuser, dort ein paar Hütten, ein Lebensmittelladen, eine Tankstelle, die Post, ein Pub: Welcome in White Cliffs, das wie ausgestorben, wie die Kulisse für einen Showdown wirkt an diesem glutheißen Mittag. Nur die Zettel auf dem Schwarzen Brett an der Post künden davon, daß dieses Fleckchen Erde bewohnt ist von Lebewesen. Bei einem dieser Lebewesen, soviel steht fest, handelt es sich um einen Papagei namens »Charlie«. Drei Monate ist der Vogel alt, der seiner Besitzerin entflog. Wer ihn findet, kann darauf bauen, daß »Charlie« ein »sehr freundliches Wesen« hat. Die Feuerwehrbrigade von White Cliffs wählt in Kürze ihre Offiziere. Wer Holz für einen Grillabend benötigt, kann Kontakt aufnehmen mit »Andy«. Der Sportclub veranstaltet am Sonntag einen Wettbewerb im Dartwerfen. Wir nehmen Quartier in einer Herberge mit dem bedrohlichen Namen »White Cliffs Underground Motel«, und tatsächlich bleibt uns dort nichts anderes übrig, als eine der in einen Hügel getriebenen Höhlen zu beziehen. Die Wände des Raumes, der glücklicherweise gleich hinter dem Eingang liegt, sind weiß gestrichen. »Weiß vermittelt
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Weite«, sagt der Wirt, der sich der Ängste seiner klaustrophobisch veranlagten Gäste offenbar bewußt ist. Die Tür fällt ins Schloß. Der Raum ist isoliert von der Außenwelt, ihren Geräuschen, ihren Gerüchen, ihrem Licht. Weiß suggeriert nicht nur Weite. Weiß ist auch die Farbe der Kliniken, der Kälte. Raus hier. Nein: bleiben. Sich ablenken. Das Material über White Cliffs studieren. Im Jahre 1877 also wurde White Cliffs gegründet. Wie Coober Pedy, das Dorado am Stuart Highway, verdankte es seine frühe Bedeutung den Opalen. 4000 Menschen lebten 1899 in diesem Städtchen, 2500 von ihnen schürften nach Edelsteinen. Heute wohnen in White Cliffs nur noch etwa 100 Bürger. Das Erdreich ist weitgehend ausgebeutet. Coober Pedy hat White Cliffs den Rang abgelaufen. Wie wird ein Ort, der über Jahrzehnte die Welt mit seinen Opalen beglückte und nun verdammt ist zur Bedeutungslosigkeit, mit einem solchen Schicksal fertig? Gibt er auf? Dämmert er dem Exitus entgegen? »Aufgeben?« Es schwingt Entrüstung mit, als der Besitzer des Motels unsere Frage wiederholt. »Nein«, sagt er, »wir geben nicht auf in White Cliffs. Wir versuchen, aus White Cliffs eine touristische Attraktion zu machen.« Was, um Himmels willen, ist reizvoll an den paar Hütten, dem Lebensmittelladen, der Tankstelle, den von keinerlei Frische und Kraft gekennzeichneten Aufschüttungen, die den Ort einkreisen wie Grabhügel und die von den großen Zeiten der Opalschürfer nicht einmal mehr einen matten Glanz vermitteln? Der Wirt zeigt, als er uns einen Platz in seinem Restaurant zuweist, diskret auf eine Gruppe, die sich am Nebentisch um eine Landkarte schart. Da sind sie, sagt sein Blick triumphierend, unsere Touristen.
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Wir brauchen unsere Neugier auf diese Gäste nicht lange zu zügeln. Ein freundlicher älterer Herr, der auf der Karte mit dem Zeigefinger den Kurs absteckte, heißt uns herzlich willkommen in seinem Zirkel. »Alf«, stellt er sich mit seinem Vornamen vor. »Alf aus Broken Hill.« Geboren ist Alf in Altona. Das ist ein Stadtbezirk von Hamburg, das er 1953 im Konfirmandenalter mit seinen Eltern in Richtung Melbourne verließ. Vor 44 Jahren war das also, und deswegen ist es nicht verwunderlich, daß Alf den Anfangsbuchstaben des Viertels, das einst Hans Albers in einem Seemannslied besang, wie ein »ä« ausspricht: Ältona. Ein wenig erinnert Alf an Hans Albers. Er hat dessen kantiges Kapitänsgesicht mit den wasserblauen Augen und einem Lächeln, das wie eingemeißelt wirkt, weil es einen immerwährenden Optimismus ausdrückt. Vielleicht verdankt Alf diesen beneidenswerten Charakterzug den heiteren Begleitumständen jener Schiffspassage, die ihn, den abenteuerlustigen Knaben, von Europa über die Ozeane nach Australien führte: dem Geflatter der Möwen, dem Sprung der Delphine, dem Tuten des Horns, dem Tanz der Wellen, dem Funkeln der Sterne. Für einige Jahrzehnte hat Alf professionell Känguruhs, Kamele und Hasen gejagt und dabei die entlegensten Winkel des Kontinents kennengelernt. Mit dem Geld, das er als Jäger verdiente, baute er sich in Broken Hill eine neue Existenz auf: ein kleines Reiseunternehmen, das vor allem städtische Touristen mit dem Geländewagen durch die Wildnis kutschiert. Stolz nennt Alf den Namen seiner Firma: »Outback Safaris«.
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Die Gruppe, mit der Alf einen Zwischenstopp im »White Cliffs Underground Motel« eingelegt hat, besteht aus drei Personen, die in der Millionenstadt Melbourne zu Hause sind: ein Ehepaar mittleren Alters, das die Eindrücke von der Safari schweigend verarbeitet, und die etwa 50jährige Gattin eines Rechtsanwalts, die um so redseliger ist. Vier Kinder habe sie großgezogen, berichtet die Frau, in deren Habitus sich das Distinguierte auf eigentümliche Weise mit jenem eher proletarischen Charme mischt, den in Australien, das sich gründet auf dem Erbe armer Einwanderer, auch viele Angehörige der neuen High-Society ausstrahlen. Den Hinweis, daß sie ihre Mutterpflichten erfüllt habe, verbindet sie mit einem programmatischen Bekenntnis: »Und nun genieße ich das Leben.« Der Triumph der Emanzipation blitzt in ihren Augen, als die Frau erzählt, daß ihr Mann in seinem Büro wohl gerade über einem Berg von Akten brüte, während sie, die von allen häuslichen Lasten befreite Gattin, in einem Restaurant irgendwo in der Wildnis ein Glas Weißwein nach dem anderen kippt. »Morgen«, kündigt Alf an, »fahren wir in ein Gebiet, in dem es 40 Vogelarten gibt. Wir übernachten dort in unseren Schlafsäcken und beobachten die Vögel in der Morgendämmerung.« Es ist die Frau des Rechtsanwalts, die sich nicht mit dem Gedanken anfreunden kann, daß der Tag mit dieser Ankündigung beendet sei. »Und heute abend?« fragt sie mit der aufgekratzten Ungeduld eines lebenshungrigen Teenagers: »Was machen wir heute abend?« »Heute abend«, sagt Alf, »gehen wir in den Pub.« Die Frau des Rechtsanwalts strebt als erste dem Ausgang zu,
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und bevor wir uns in Alfs Geländewagen drängen, stellt sie sich mit zwei wohlklingenden Silben vor: »Linda«. Der kräftige Händedruck, der folgt, soll wohl signalisieren, daß wir endgültig aufgenommen sind in den Zirkel, der nun voller Frohsinn die einzige Kneipe von White Cliffs ansteuert. Fünf Dürren und drei Fluten Um die Laterne, deren Licht den Pub in ein müdes Gelb taucht, tanzen, als fügten sie sich einem Todestrieb, Myriaden von Mücken und Motten. Die Insekten, die sich am heißen Glas versengt haben, bilden rund um den Pfahl einen ekelerregenden Teppich. Einen Namen hat die Kneipe nicht. Geformt ist sie schlicht wie ein Container. Aus ihrem Innern dringt ein Potpourri diffuser Töne: Musik aus der Box, Gelächter, Geschwätz und, ganz dezent, das Klackern, das Billardkugeln erzeugen, wenn sie gegeneinanderstoßen. Dem akustischen Chaos entspricht der optische Eindruck, der sich uns bietet, als wir die Tür öffnen. Der Schankraum ist gefüllt mit Gästen, von denen jeder einzelne, das spürt man sofort, ein ganz besonderer Charakter ist. In diesen Reichtum an Typen eine Ordnung zu bringen, macht die Annäherung so kompliziert. Die erste, die sich in diesem von dichtem Zigarettenqualm geschwängerten Pub an die Theke wagt, ist Linda, die Rechtsanwaltsgattin aus Melbourne. Und indem sie mit ihrer freundlichen Neugier die Gäste der Reihe nach abfragt und uns einbezieht in die Dialoge, bringt sie auch in unseren Aufenthalt eine gewisse Systematik.
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Der Typ, der sich Linda und uns mit dem Namen »Karl« vorstellt, gehört zu den Figuren, von denen man glaubt, sie seien in der Kneipe geboren und würden in der Kneipe sterben. Karls Kleidung beschränkt sich auf die wenigen Stücke, die man benötigt, um auf dem Weg zum Pub seine Blöße zu bedecken: eine Trainingshose, ein Netzhemd, ein paar Sandalen. Der graue Kranz auf seinem Kopf ist dermaßen von Lücken und Stufen verunstaltet, daß man davon ausgehen muß, er schneide sich die Haare selbst, um das Geld für Bier zu sparen. Karls schmales Gesicht besitzt keinerlei markante Konturen mehr, weil der Alkohol die Züge längst nivelliert hat. Ein paar Jährchen an der Theke noch, und der Ausdruck wird abgleiten in pennerhafte Traurigkeit. Die einzige Ordnung, die Karl umgibt, ist die penibel ausgerichtete Reihe der hastig geleerten »Victoria-bitter«Dosen. Bevor er eine neue Dose hinzustellt, setzt er den Mund an die Öffnung und entlockt ihr einen Pfeifton, der zunächst sphärisch aufwallt, um dann, in tragischem Kontrast dazu, in tumben Schwingungen zu ersterben. Daß Karl, ein Ohr mit der Hand zum Trichter formend, dem Ton noch nachlauscht, wenn er längst verklungen ist, zeugt wohl davon, daß der Alkohol seine Reaktionen längst beeinträchtigt hat. Dagegen haben Karls Ausführungen, wenn man sie nicht nach den Maßstäben des Mitleids, sondern der Ästhetik wertet, die Größe des Absurden. Immer wieder mischt er, bisweilen auch Bruchstücke in seiner deutschen Heimatsprache nuschelnd, zwei Ereignisse miteinander, die in seinem vermutlich ziemlich armseligen Leben eine zentrale Rolle gespielt haben müssen: die Sprengung einer
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Brücke über die Donau bei Ulm, die er in den letzten Kriegstagen erlebt hat, und eine verheerende Flut, von der White Cliffs wochenlang eingeschlossen war. Von der Sprengung ist ihm nicht die Detonation oder die Todesangst als markanter Eindruck haftengeblieben, sondern die Tatsache, daß er mit seinen Kameraden einen Kasten Bier vor dem anrückenden Feind in Sicherheit gebracht habe. »We saved the beer«, wiederholt Karl wohl ein Dutzend Mal an diesem Abend, und dabei betteln seine glasigen Augen um Anerkennung. »Yes, you saved the beer«, bestätigt die Gattin des Rechtsanwalts und legt ihm, da er für eine Reaktion des doppelten Reizes bedarf, die Hand begütigend auf die Schulter. Als wolle er dokumentieren, daß sein lallender Kumpan in besseren Tagen ein durchaus nützlicher Mensch war, macht ein anderer Gast, ein an beiden Armen mit riesigen Schmetterlingen tätowierter Koloß, eine solidarische Bemerkung: »Karl hat früher bei ›Uncle Ben’s dog food‹ gearbeitet. Heute lebt er von seiner Pension.« Merkwürdig: Von dem Namen dieser Fabrik für Hundefutter geht eine solche Wärme aus, daß die traurige Gestalt des Rentners Karl plötzlich umhüllt ist von Freundlichkeit. »Uncle Ben’s dog food«, wiederholt der Dicke. »Uncle Ben’s dog food«, spricht Karl ihm nach. Ein Gast, eher schmal von Statur, fällt dadurch auf, daß er die Lady aus Melbourne immer wieder fixiert und seine Eindrücke auf einen Zettel niederschreibt. Vor Trunkenheit fast vom Hocker rutschend, fügt er neue Wörter hinzu, streicht sie wieder, ordnet sie und flüstert sie, angestrengt nach einem Rhythmus suchend, vor sich hin. Ein wohlgefälliges Nicken beendet die mühsame Prozedur, und der
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pathetisch gehobene Zeigefinger gibt das Signal für eine galante Ankündigung: »Madame: A poem on you«; gnädige Frau, ein Gedicht auf Sie. »The Lady with the red shoes ...« – schon nach dieser ersten Zeile, die die Farbe der Schuhe korrekt wiedergibt, verhaspelt sich der junge Mann, nimmt aber sofort einen neuen Anlauf; »The Lady in the red shoes ...« Nein, weiter kommt er – vermutlich weil ihm die Buchstaben vor den Augen verschwimmen – auch diesmal nicht. Es ist Alf, der gutmütige Abenteurer, der den Poeten von der Peinlichkeit befreit, schon nach der Anfangszeile nicht mehr weiterzuwissen. »The Lady in the red shoes« wiederholt er mit dem Dichter zunächst im Duett, um dann allein fortzusetzen: »... is singing the blues.« Mit seiner quicken Phantasie hat Alf dem Gast nicht nur geholfen, sondern ihn auch animiert. »And she ist sitting in the pub«, sprudelt es nun aus ihm heraus. »And drinking a bottle of ›Seven up‹«, vollendet Alf den Reim. Es ist wahrlich nicht die hohe Schule der Lyrik, die sich im Duett der dichtenden Männer offenbart. Die Qualität dieses Zusammenspiels liegt in der Solidarität, die den geistesgegenwärtigen Reiseunternehmer bewog, für den ihm völlig fremden Gast einzuspringen, ihm mit seinen, wenn auch ungelenken Reimen, aus der Patsche zu helfen. Auch die Lady, mit Abstand der distinguierteste Gast in dieser verräucherten Kneipe, wertet die ihr zugedachten Verse nicht pikiert als Anzüglichkeit, sondern sie weiß, wie sie uns anschließend versichert, das Rührende an diesem Vortrag zu schätzen. Einer der Gäste hat die Musicbox gedrückt. Sie spielt ein Lied von Pat Boon, einem Star aus den fünfziger Jahren:
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»Only you can make the change in me ...« Erinnerungen werden wach: Erinnerungen an das Blaupunkt-Radio mit dem magischen Auge, das bei uns zu Hause in der Wohnstube auf einer Konsole stand, Erinnerungen an die Hitparade des britischen Besatzungssenders British Forces Network. »And now the hitparade from the BFN ... Number one: ›Just walking in the rain‹ ... Number two: ›Hang down your head Tom Dooley‹ ... Nummer three: ›Only you can make the change in me‹.« Man konnte diese Hitparade damals nur heimlich hören, weil man bei uns zu Hause der Meinung war, es schicke sich nicht, der Musik eines Landes zu lauschen, das eine Mitschuld trug an der deutschen Kriegsniederlage. Stellte man BFN so leise, daß der Ton nur zu vernehmen war, wenn man das Ohr ganz dicht an den Empfänger preßte, die Klänge also nicht bis zum Kreis der Erwachsenen dringen konnten, dann wurde dieser Sender zumindest zu besonderen Ereignissen, Geburtstagen etwa, geduldet. Keine Ausnahme aber gab es für AFN, den amerikanischen Soldatensender, der, wenn die Witterungsbedingungen günstig waren, bis in unser niedersächsisches Mittelgebirge, den Harz, reichte. Erstens galten die Amerikaner als Hauptschuldige für die Schmach des verlorenen Krieges, zweitens spielte AFN, mehr noch als sein britisches Pendant, »Negermusik«, von Louis Armstrong zum Beispiel. »Only you ...« klingt aus. Ein anderes Stück folgt: »Rock around the clock«. Musikalisch ist die Zeit wirklich stehengeblieben in diesem Pub. Auch der Wirt sieht aus wie eine Figur aus den fünfziger Jahren, nein eher wie aus den Vierzigern. Er hat ein asketisches Gesicht mit einer
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ausgeprägten Nase. Seine rotblonden Haare, die ein penibler Scheitel durchzieht, enden zwei bis drei Zentimeter über den Ohren und sind auf der Stirn zu einer Welle geschwungen, die so steif gelegt ist, daß sie die Frisur nicht auflockert, sondern deren Akkuratesse betont. Der Nacken ist ausrasiert. Das gibt den Blick frei auf die an dieser Stelle besonders häßlichen Poren. An Männer vom Arbeitsdienst, die, den Spaten geschultert, auf den Führer warten, erinnert der Kopf dieses etwa fünfzigjährigen Wirtes. Aber bevor der Impuls, der von diesem Vergleich ausgeht, in Schauder münden kann, mildert der Wirt diesen Eindruck, indem er jetzt versonnen an seiner Pfeife zieht und dicken Rauch in die Luft bläst, der den Kopf wie ein Weichzeichner in weiße Schwaden hüllt. Schon malt sich die Phantasie einen anderen Typus aus: den des irischen Rugbyspielers, der, die Pille am Körper, mit hemdsärmeligem Elan die Außenlinie entlangsprintet. »Graham« heiße er, sagt der Wirt, der unsere Neugier, kaum daß er sich vorgestellt hat, mit markanten Daten seiner für diesen Berufsstand typischen Vita bedient: in der Jugend als Schafscherer auf dem Kontinent umhergezogen, 1975 von den Ersparnissen seinem alkoholkranken Vorgänger den Pub abgekauft, nebenbei jahrelang Jockeys und ihre Pferde trainiert. Insgesamt 40 Rennen hätten seine Schützlinge gewonnen. Die Stute »Express«, deren Foto gerahmt hinter der Theke hängt, sei sein erfolgreichstes Pferd gewesen. Auch die anderen Fotos an den Wänden sind für die kleine Welt von White Cliffs von historischer Bedeutung. Das älteste stammt aus dem Jahre 1893 und zeigt ein Ehe-
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paar, dem man, obwohl das Papier schon ziemlich vergilbt ist, die Anstrengung eines entbehrungsreichen Lebens ansieht. Um »David und Clara Dyers« handelt es sich, die, wie es in der Bildunterschrift heißt, »zu den ersten fliegenden Händlern von White Cliffs gehörten«. Noch gestochen scharf ist ein Foto, auf dem sich ein bärtiger älterer Herr mit einer Lupe über ein Häufchen Edelsteine beugt. Es ist, so die Unterschrift, »Eugen Guggenheimer, ein deutscher Opalkäufer, der für einige Jahre in White Cliffs einen Juwelierladen betrieb, aber 1903 von einer Grippe dahingerafft wurde«. Was nicht auf Bildern dokumentiert ist, hat Graham, der Wirt und der Historiker von White Cliffs, im Gedächtnis: die fünf großen Dürren und die drei gewaltigen Fluten, deren schlimmste den Ort für acht Wochen von der Außenwelt abschloß. Insgesamt war White Cliffs seit seiner Gründung 76mal nur mit Flugzeugen und Hubschraubern zu erreichen, konnten die Bürger lediglich aus der Luft mit Lebensmitteln versorgt werden. Einer dieser Bürger, ein lockenköpfiger und bierbäuchiger Gast, der zumindest in Ansätzen den proletarischen Charme des walisischen Barden Tom Jones ausstrahlt, besteht darauf, daß wir ihn am nächsten Tag in seiner Wohnhöhle besuchen. Eine echte Touristenattraktion sei das, die man auf keinen Fall verpassen dürfe. Wir brauchten nur nach »Jack’s Place« zu fragen; jeder im Ort wisse Bescheid. Die Gattin des Rechtsanwalts, das schweigsame Paar und ihr Begleiter Alf brechen am frühen Morgen zu ihrer Safari auf. Wir fragen uns durch zu »Jack’s Place«, den in White Cliffs wirklich jeder kennt.
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»Das Leben ist unfair« Jack wartet bereits am Eingang seiner Höhle und konfrontiert uns, während er uns durch ein Labyrinth von Gängen führt, ziemlich unvermittelt mit der zentralen Erkenntnis seiner Philosophie: »Das Leben ist unfair.« »Warum ist das Leben unfair?« »Warum? Ich habe mir die größten Maschinen angeschafft, den größten Bulldozer, den größten Bagger ... Ich habe Zehntausende von Dollars investiert und jahrelang gegraben, jeden Tag und oft auch nachts. Und was hab’ ich gefunden? Nichts. Nicht einen einzigen Opal.« Schwang in Jacks Stimme bis dahin Sarkasmus, sogar ein wenig Selbstironie mit, so verfällt sie nun in einen leidvollen Ton: »Und dann kommt da irgendein Besoffener aus irgendeinem Kaff daher, schlägt einmal mit dem Pickel gegen die Wand – und was findet er? Eine Ader funkelnder Opale.« Jack führt uns in eine Wohnküche, und bevor wir uns in diesem Areal umblicken und auf seine Einrichtung konzentrieren können, wiederholt er, um den ersten Akt unserer Begegnung abzuschließen, den Kernsatz seiner Erfahrung: »Das Leben ist unfair.« So ungerecht das Leben auch sein mag: Aufgegeben hat Jack jedenfalls nicht. Der ehemalige Schafscherer, der vor 30 Jahren mit der Hoffnung auf das große Glück nach White Cliffs kam, konzentriert seine unternehmerische Energie nun ganz auf den Tourismus. Die Küche ist das Herz des Geschäftes. Seine Gäste plaziert Jack an einen Tisch, zu dem er eine alte Nähmaschine umfunktioniert hat. Die gewölbten
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Wände sind dekoriert mit den Hörnern eines Schafsbockes, einer präparierten Kobra und einer Kamelglocke, die aus den Zeiten stammt, als noch Afghanen die Karawanen durch die Wüste führten. Eine Art Museum also soll diese Küche sein. Und wenn Jack die wichtigsten Daten in der Geschichte White Cliffs aufzählt und deutet, bemüht er sich, obwohl nur mit Jeans und einem verwaschenen T-Shirt bekleidet, um die steife, Kompetenz ausstrahlende Pose eines Historikers. Wenn dann aber, während er mit knappen Gesten über eine Cholera-Epidemie in White Cliffs doziert, Schweißperlen auf seine Stirn treten, fällt er zurück in eher ordinäre Bekenntnisse: »Ich saufe zuviel.« Für den Rundgang durch sein unterirdisches Reich benutzt Jack eine Taschenlampe, die er so geschickt handhabt, daß ihr Schein dem Gerumpel, das sich in den Nischen aufhäuft, etwas Magisches verleiht. Auf einem Karussellpferd, das bei den Besuchern Kindheitsträume wachruft, läßt er den Schein länger stehen als auf einem Taxameter oder einer Brotschneidemaschine, eher praktischen Gegenständen also, die durch die Willkür der Anordnung zwar absurd wirken, aber keinerlei romantische Gefühle auslösen. Manchmal verführt ihn sein Talent für die Dramaturgie, mit der Taschenlampe wie mit einer Filmkamera über ein Arrangement zu schwenken. Kaum war ein alter Puppenwagen sichtbar, kommt ein bunter Regenschirm ins Bild; einem Vogelkäfig folgt in Sekundenschnelle eine Karbidlampe. Wo unter einer Wölbung ein Spinnengewebe einen Gruseleffekt erzeugt, läßt er den Schein wieder länger verweilen.
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Höhepunkt der Führung, so sieht es jedenfalls Jack, ist eine Sammlung von mehreren hundert Bierdosen aus aller Welt, die sich, ohne daß irgendein Zusammenhang mit den anderen Exponaten zu erkennen wäre, auf die Simse und Sockel einer der Höhlen verteilen. In einer Schüssel am Ausgang des Areals sammelt der Besitzer von seinen Gästen den Obolus ein. Die Höhe kann man selbst bestimmen. Wir sind großzügig gegenüber dem Mann, der das Glück einst mit dem Bulldozer erzwingen wollte und sich das Geld, das er braucht für die Abende im Pub, nun durch seine ungeordnete Phantasie und seinen siebten Sinn für den Effekt verdient. Und weil der Herr von »Jack’s Place« auf keinen Fall als Schnorrer dastehen möchte, gibt er uns für unseren Aufenthalt noch einen Tip: Die Galerie »Outback Treasures« an der Höhle Nummer 142 sollten wir aufsuchen. Das lohne sich bestimmt. Steinig und staubig ist die Piste, die zur Höhle 142 führt. In dieser rauhen Landschaft beglückt der Eingang zur Galerie durch seine heitere Eleganz: Eine weiße Hand aus Holz symbolisiert den Willkommensgruß. Weiß gestrichen ist auch das Mauerwerk, das das Grundstück umgrenzt. Vor der blauen Eingangstür spreizt ein Pfau sein Gefieder. Im Garten blühen Glockenblumen. Auf ein Klingelzeichen erscheint ein ungleiches Paar: ein skeptisch und zugleich gütig dreinblickender Mann von einer schon etwas schrulligen Gestalt, wie man sie aus den Abenteuergeschichten von Huckleberry Finn kennt, und eine ebenso sportlich wie gepflegt wirkende Frau, die auf der Fitneß-Seite eines Lifestyle-Magazins ebenso ihren Platz hätte wie im Teil für Wohnkultur. Zu dem Mann fällt einem als Beruf sofort ein: Handwerker, zu der Frau: Künstlerin.
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BARBARA GASCH, 54, GOLDSCHMIEDIN
E
igentlich ist es komisch, daß ich ausgerechnet in White Cliffs gelandet bin. Mein Herz hat nämlich immer an den alten Kulturvölkern gehangen, in Ägypten zum Beispiel war ich unheimlich glücklich. Und White Cliffs – Kultur ist so ziemlich das letzte, was man hier findet. Wenn man’s negativ ausdrücken wollte, könnte man sogar sagen: Dieser Ort ist einer der kulturlosesten der Welt. Setzt man aber kulturfrei an die Stelle von kulturlos, dann gewinnt die Sache auch positive Aspekte. Denn frei von Kultur, das heißt ja auch: Man ist nicht mehr abhängig von gewachsenen Traditionen, von überlieferten Vorstellungen. Du bist wirklich frei, kannst tun, was du willst, nichts hindert dich, du mußt dich niemandem fügen. Das ist schön, aber gleichzeitig ist es auch schwer, weil du dein ganzes Wertesystem in Frage stellen mußt. An einem Ort wie White Cliffs, da fällst du erst mal total raus aus allem, was dir bisher Geborgenheit gegeben hat. Manchmal denke ich: Bin ich jetzt eigentlich schon total verschroben, daß ich mich dem allem
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hier aussetze, dieser Weite, dieser Leere, diesem Nichts ...? Und dann wieder, wenn ich in Europa bin, will ich nichts wie weg, so schnell wie möglich zurück in meine Höhle – und in die Sonne. Die Sonne scheint hier fast 365 Tage im Jahr, das ist schon toll. Letzten November war ich in Deutschland, und 14 Tage lang hab’ ich nur grauen Himmel gesehen. Als ich kam, hab’ ich gestrahlt, mein Körper war noch voller Sonne. Aber nach zwei Wochen, da steckte mir eine Grippe in den Knochen, ich fühlte mich total elend und hab’ gedacht: Wenn ich doch bloß endlich wieder in der Sonne wäre. Klar, die Hitze im Sommer ist gnadenlos, und der letzte Sandsturm, der hier durchgerast ist, der war ziemlich grauslig. Die Früchte fielen von den Bäumen. Der Staub drang in alle Ritzen, und ich hab’ die ganze Zeit um unser Dach gezittert. Trotzdem: Es ist schon unglaublich toll, die Natur wieder so direkt zu spüren. Ich finde, in Deutschland vergißt man die Natur. Man vergißt, daß man selber ein Stück Natur ist. Ich bin in Blaubeuren aufgewachsen, auf der Schwäbischen Alb. Ich war so ein richtiges Wald- und Höhlenkind, immer draußen, immer unterwegs. Mit zunehmendem Alter ist das natürlich immer weniger geworden, und irgendwann hatte ich das Gefühl: Ich kann den Himmel nicht mehr sehen. Ich denke, auch aus diesem Grund wollte ich weg aus Deutschland. 1990 hab’ ich mich in White Cliffs angesiedelt, entdeckt hatte ich den Ort aber schon ein Jahr vorher, während einer Weltreise mit meiner Freundin. Für sie war’s nur ein Abenteuer, aber für mich standfest, daß ich mein Leben ändern wollte. Auf der Reise wollte ich den Platz finden, an dem ich ganz neu anfangen konnte. Ich war damals Ende 40 und lebte in Darmstadt, in durchaus geordneten Verhältnissen. Aber ich wußte: Irgendwie ist das
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nicht der Ort, an dem du dein Leben beenden willst. Ich war innerlich bereit für einen Wechsel, womöglich kamen da meh’ rere Faktoren zusammen. Meine Kinder waren erwachsen, und das Handwerkshaus, das ich gegründet hatte, war etabliert. Wir hatten uns vor fünf Jahren in einer alten Fabrik angesiedelt, außer meiner Werkstatt gab’s da zum Beispiel Schuhmacher, Glasbläser, Lederverarbeitungen, eine Galerie und ein Café. Ich bin immer so was wie die Mutti vom Ganzen gewesen, aber ich wußte: Die schaffen das jetzt auch allein. Dazu kam, daß es mir in meiner Werkstatt zu eng geworden war. Ich hatte das Gefühl: Ich krieg keine Luft mehr, ich muß da raus. Damals hab’ ich sehr viel persönlichen Schmuck gemacht, Medaillons zum Beispiel, meist zur Trennungsbewältigung, und das war natürlich immer mit intensiven und intimen Gesprächen verbunden. Als ich White Cliffs sah, dachte ich: Das ist es. Hier bist du ganz weit weg, hier kann nicht jeder permanent reinkommen, hier kannst du dich konzentrieren, dein Leben neu ordnen und dich in Ruhe aufs Alter vorbereiten. Den Ort haben meine Freundin und ich per Zufall gefunden, niemand hatte uns davon erzählt, wir hatten überhaupt keine Ahnung, was uns erwartete. Seit einem Monat waren wir unterwegs in Australien, als wir auf der Karte lasen: White Cliffs, Opale. Meine Freundin ist auch Goldschmiedin von Beruf, und beide haben wir sofort gesagt: Mensch, Opale, da müssen wir hin ... Wir hatten ein Busticket, mit dem wir durch ganz Australien fahren konnten, aber in Broken Hill stellten wir fest: Jetzt ist Schluß, nach White Cliffs fahren keine Busse, der Ort liegt total abseits, nicht mal eine geteerte Straße gibt es. Okay, wir sind also getrampt, und das war irre schwierig. Wir sind kaum vorwärts gekommen, weil ja auch kaum Verkehr war. Einmal haben wir unser Zelt sogar direkt an der Piste auf-
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geschlagen. Als wir dann endlich da waren, konnte ich es kaum glauben: Das Opalfeld., die Höhlenwohnungen, die Weite, dieser Horizont – ich war begeistert. 14 Tage sind wir geblieben, haben uns umgeschaut, ein bißchen geschürft, ein paar nette Leute kennengelernt. Und irgendwann sah ich dann den Zettel am Post-Office: Dugout zu verkaufen. Ich hab’ gefragt: Wie ist das als Tourist, könnte ich auch? Und die Leute haben gesagt: Klar, niemand hält einen davon ab. Der Preis war akzeptabel. 6000 Dollar, das war genau, was ich mir leisten konnte. Zusammen mit einem der Typen, die wir kennengelernt hatten, hab’ ich mir die Höhle schließlich angeschaut. Der Typ hat gesagt: Das ist nichts, das ist total vergammelt, da regnet’s rein. Aber während er rumlamentierte, hab’ ich schon gespürt: Das ist meins. Ich hab’ mich sofort wohl gefühlt und fand’s auch gut, daß der Dugout etwas außerhalb des Ortes lag, am Berg, mit einem tollen Blick. Nachdem ich den Kaufvertrag unterschrieben hatte, sind wir noch eine Weile gereist. Zu Hause hab’ ich dann alles aufgelöst, ein paar Kisten gepackt und bin zurück nach White Cliffs. In Broken Hill bin ich am Samstagfrüh ins Postflugzeug gestiegen, ich war der einzige Passagier. Der Pilot hat mich abgesetzt, und da stand ich, mutterseelenallein. Wie vom Himmel gefallen, und so hab’ ich mich auch gefühlt. Meinen Koffer hab’ ich erst mal stehenlassen und bin sofort zum Dugout gelaufen, besser: Ich bin gerannt. Als ich oben ankam, ziemlich außer Atem, stand da ein Mann und starrte mich aus großen Augen an. Wie sich herausstellte, war das mein Nachbar, und so unglaublich es auch klingen mag: Wir haben uns spontan ineinander verliebt. Eigentlich war’s das letzte, was wir beide im Sinn hatten. Nach einer gescheiterten Ehe hatte der Doug die Schnauze voll, und ich war nach White Cliffs gekommen, um endlich frei zu
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sein. Frei auch von diesen schrecklichen Halbbeziehungen, die ich in letzter Zeit gehabt hatte. Beziehungen, wo niemand richtig ja sagt, wo keiner den anderen wirklich braucht. Naja, es passierte halt, und für uns beide ist klar: Diesen Weggehen wir jetzt gemeinsam zu Ende. Das heißt, wir bleiben zusammen bis zum Tod. Wir wollen keine Beziehung mehr, in der man sagen kann: Wenns dir nicht paßt, dann geh doch. Das ist einerseits schön, aber es ist auch einschränkend. Ich meine, wir sind beide verknorkste Alte, wir haben eine Menge Leben auf dem Buckel. Aber obwohl wir sehr unterschiedlich sind, ergänzen wir uns total. Wir haben uns von Anfang an gesagt: Wenn wir zusammenbleiben, dann wollen wir den anderen nicht mehr verändern. Wir wollen ihn so lassen, wie er ist, und daran erinnern wir uns auch ständig. Von Vorteil ist, daß wir zwei Dugouts und darüber hinaus ein Abkommen haben: Ich hab’ das Sagen auf meiner, er hat’s auf seiner Seite. Da gibt’s auch gar keine Diskussionen. Die meisten Probleme entstehen nämlich, wenn wir unsere Dugouts ausoder umbauen, weil wir da ganz unterschiedlich rangehen. Der Doug ist gelernter Klempner und Heizungsbauer und macht natürlich alles nach Plan. Ich bin genau das Gegenteil, arbeite völlig emotional, schmeiße permanent um, und das macht ihn total verrückt. Wenn wir nicht dieses Abkommen hätten, ich glaube, wir hätten uns schon gegenseitig umgebracht. Wir bauen ununterbrochen, seit sechs Jahren werkeln wir an unseren Dugouts. Aber ich denke, im Outback ist es wichtig, daß man sich ständig neue Herausforderungen schafft, sonst verfällt man schnell in Lethargie. Es wird einem hier unheimlich leichtgemacht, zufrieden zu sein. Du brauchst nicht die Schönste, die Beste, die Tollste zu sein, es werden überhaupt keine Anforderungen an dich gestellt. Die Australier sind wirklich
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anders als Deutsche. Die sind unheimlich locker, packen einen nicht so schnell in Kategorien. Man kann sein, wie man will. Um akzeptiert zu werden, muß man nicht jung oder hübsch sein. In Australien kann es dir passieren, daß sich ein blutjunger Kerl neben dich auf eine Bank hockt und mit dir schwätzt. Anfangs war ich dann immer richtiggehend gerührt. Der nimmt dich tatsächlich ernst, hab’ ich gedacht, und das in deinem Alter. Inzwischen weiß ich, daß das hierzulande völlig normal ist. Es ist wurscht, wie alt du bist. Du mußt offen sein, für jeden Spaß zu haben – das ist es, was zählt. Ich hatte mir früher meine Haare immer knallrot gefärbt, aber in Australien hab’ ich mir gedacht: Okay, jetzt lass’ ich’s mal rauswachsen. Als ich dann feststellte, daß meine Haare ganz weiß sind, war ich zuerst ziemlich irritiert. Irgendwie konnte ich das gar nicht glauben, aber inzwischen finde ich es toll. Und ich erlebe es auch unheimlich positiv, in den Wechseljahren zu sein. Ich will keine Hormone nehmen; wenn ich mich mickrig fühle, zieh’ ich mich in meine Höhle zurück. Das ist es, was ich mir immer gewünscht habe: keinen Druck mehr, keine Konkurrenz- Häßlich sein zu dürfen, ohne mich dafür entschuldigen zu müssen. »Die Menschen hier sind Einzelgänger« Schaut euch mal diesen blauen Himmel an, ist das nicht wahnsinnig? Überhaupt keine Umweltverschmutzung! Und dann die Sterne im Outback, die sind wirklich einmalig. Als wir frisch verliebt waren, hatten Doug und ich ein tolles Erlebnis. Wir haben einen Spaziergang zum Damm gemacht, es war schon dunkel, und plötzlich lag ein ungeheures Funkeln und Leuchten über der Gegend. Wir wußten erst gar nicht, was los
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war. Es war fast ein bißchen unheimlich, bis wir merkten, daß sich da die Sterne im Wasser spiegelten. Es war, als habe jemand Hunderte von Kerzen aufs Wasser gestellt, wirklich unglaublich. Die Natur ist hier einfach intensiver als anderswo, in jeder Beziehung. Es regnet nicht oft, aber wenn’s passiert, dann fällt gleich eine ganze Wolke vom Himmel. Meist gibt es riesige Überschwemmungen, weil der Boden so trocken ist, daß er nichts aufsaugen kann. Wir sind in solchen Fällen sofort mit unseren Schaufeln unterwegs und ziehen überall kleine Gräben, damit die Sturzbäche von Wasser ablaufen können. Unten sammelt es sich dann, und der Ort versinkt im Schlamm. Bei starkem Regen ist White Cliffs von der Außenwelt total abgeschnitten. Wenn die Straße unter Wasser steht, und das geschieht sehr schnell, kommt niemand mehr raus oder rein. Mir gefällt das irgendwie, und im Herzen freue ich mich auch, wenn die neue Straße dabei kaputtgeht. Klar, um überleben zu können, braucht der Ort Touristen, ich weiß das. Aber ich habe Angst, daß er seinen Zauber dabei einbüßt. Es war schließlich vor allem das Unzugängliche, das mich gereizt hat. Als ich hierherkam, gab’s nichts. Keine Elektrizität, kein fließendes Wasser, keine anständige Straße. Aber inzwischen hat mich die Zivilisation eingeholt. Zuerst wurden wir ans Hochspannungsnetz angeschlossen, dann kam der Dammbau und damit das Wasser, und vor kurzem haben sie mit dem Ausbau der Straße begonnen. Bisher ist allerdings nur ein Teil der 90-Kilometer-Piste, die vom Barrier Highway nach White Cliffs führt, geteert. Zugegeben, der Fortschritt bringt auch Vorteile. Seit wir den Damm haben, bekommt jeder Haushalt 600 Liter Wasser pro Tag, und da wir das eh zahlen müssen, verbrauchen wir es halt. Wir haben einen großen Garten angelegt, mit vielen Büschen
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und Bäumen. Wir ernten Aprikosen, Tangerinen, Pflaumen, Tomaten, Erbsen und sogar Artischocken. Den Boden mußten wir aufbereiten, da war nichts. Aber wir hatten von Anfang an eine Ziege und Hühner und deshalb natürlich auch immer Dung. Jeden Tag haben wir gedüngt, und das hat den Boden enorm verbessert. Mein ganzes Leben lang hatte ich mir vorgenommen, gesund zu leben, so mit allen Konsequenzen. Geschafft hab’ ich das aber erst, seitdem ich in White Cliffs bin. Das Bio-Getreide, das uns in Säcken ins Haus geliefert wird, mahle ich zum Beispiel selber und backe damit unser Brot. Gemüse kommt aus dem Garten, und wenn wir Fleisch essen wollen, müssen wir eines unserer Tiere schlachten. Das überlegt man sich natürlich hundertmal. Die Tiere werden älter und älter, und irgendwie essen wir weniger und weniger Fleisch. Doug und ich, wir rauchen und trinken beide nicht. Deshalb haben wir auch nicht viele gesellschaftliche Kontakte, denn das läuft in White Cliffs meist über den Pub ab. Aber die Menschen hier sind ohnehin Einzelgänger; Loner, wie wir sagen. Wer sich in dieser Einöde angesiedelt hat, ist aus irgendeinem sozialen Verband ausgestiegen, ganz bewußt, aus welchem Grund auch immer. Mir ist es ja genauso ergangen, und am Anfang war es schon knallhart, obwohl der Doug bei mir war. Erst in White Cliffs hab’ ich gemerkt, wie unheimlich behütet ich gewesen bin, mein ganzes Leben lang. Egal, was für spinnige Sachen ich gemacht hab’ – ich bin immer aufgefangen worden. Die geraden Wege bin ich nie gegangen, das hat schon früh begonnen. Nach dem Abitur habe ich mir erlaubt, nicht zu studieren, damals absolut unmöglich. Eine Lehre als Goldschmiedin – für meine Familie war’s ein sozialer Abstieg. Später, als ich längst die Meisterprüfung hatte und auch selbständig wer,
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hab’ ich alles hingeschmissen und doch noch ein Studium angefangen. Ich wollte keinen Schmuck mehr machen, das war mir viel zu bürgerlich. Wenn überhaupt, habe ich Antischmuck entworfen, zum Beispiel Ketten aus Stacheldraht, also etwas, das weh tut. Heute klingt das vielleicht komisch, aber wir waren doch geprägt von der 68er Ideologie und auch vom Vietnamkrieg. Nach dem Studium hat man mir eine Stelle als Sozialpädagogin angeboten. Ich habe mit Arbeitslosen gearbeitet, drei Jahre lang. Danach habe ich gekündigt und mich wieder selbständig gemacht. Ich denke, das zieht sich wie ein Muster durch mein Leben. Nachdem ich mir etwas aufgebaut hatte und etabliert war, hab’ ich es wieder kaputtgemacht und was Neues probiert. Das war nicht immer leicht, aber vermutlich hat es mir das Selbstvertrauen gegeben, das ich für die erste Phase in White Cliffs dringend brauchte. Es ist schon ein Schock, wenn du plötzlich niemanden mehr um dich hast, der dir vertraut ist. Keinen, mit dem du schwätzen kannst, keine Freunde, keine Eltern, keine Kinder, keine Geschwister. Ich hatte ein paar Sachen mitgebracht, von denen ich mich nicht trennen wollte, meine Schätze waren das. Kisten voller Bücher, viele Klamotten, auch eine Puppensammlung, alle mit echten Haaren. Da meine Höhle am Anfang ziemlich feucht war, ist das Zeug einfach vergammelt. Den Rest haben die Motten besorgt, die wunderschönen Puppenhaare haben sie total weggefressen. Irgendwann habe ich gedacht: Okay, es ist gut so. Das Zeug gehört nicht hierher, im Outback braucht man das alles nicht, hier sind ganz andere Sachen wichtig. Ich hab’ viel gelernt in White Cliffs, auch mein Wertesystem mußte ich neu ordnen. Ich hab’ begriffen, daß man die Menschen im Outback nicht an ihrem alltäglichen Verhalten messen darf. Wichtig ist: Wenns dir dreckig geht, dann sind sie alle da.
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Wir haben diese Hilfsbereitschaft erfahren, als uns Freunde aus der ehemaligen DDR besuchten. Das war ihre erste Weltreise, mühselig zusammengespart. In Australien hatten sie sich einen VW-Bus gekauft, und als sie nach ihrem Besuch bei uns vom Hof fahren wollten, ging das Auto in Flammen auf und brannte völlig aus. Alles war weg, auch die Rucksäcke, die sie schon in den Bus gepackt hatten. Es war furchtbar, wir konnten es gar nicht fassen. Aber dann hat jeder aus dem Ort etwas gebracht für die beiden. Eine Tasche, etwas zum Anziehen. Worüber ich immer wieder nachdenke: Ich bin unheimlich glücklich hier, aber so richtig kreativ bin ich eigentlich nicht. Als ich in Ägypten gelebt hab’, da bin ich förmlich übergelaufen vor Ideen. Ich hatte eine Ausstellung in Kairo, ich hab’ dort wirklich sehr schönen Schmuck gemacht. White Cliffs inspiriert mich nicht so, wie ich es mir anfangs vorgestellt habe. Manchmal denke ich: Vielleicht füllt mich das Leben hier so aus, daß einfach kein Platz mehr ist für Schmuck. Ich bin nicht untätig, das nicht. Aber die Sachen, die ich jetzt mache, sind längst nicht so anspruchsvoll wie meine früheren. Okay, Schmuck für Touristen muß natürlich auch relativ billig sein, niemand will Unsummen für ein kleines Souvenir ausgeben. Ich habe hier eine neue Technik entwickelt, und damit forme ich Dinge, hinter denen ich stehen kann. Sie sind eigenständig, haben Niveau und sind trotzdem erschwinglich. Das hier ist zum Beispiel eine Spinne, ummantelt mit Silber, das ist ein Tausendfüßler, und das sind die Eier von unserem Pfau. Elektroforming nennt man dieses Verfahren. Ich hab’ lange damit rumexperimentiert, aber jetzt bin ich soweit, daß ich die Sachen in unserem kleinen Laden anbieten kann. Das Silber bekommen wir aus Broken Hill, dort gibt es die größte Silbermine der Welt. Manchmal holen wir es selber, aber
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meist bringt es ein Truck. Broken Hill ist die größte Stadt in unserer Nähe, aber es ist grauslig weit weg. Mal eben ein paar hundert Kilometer zum Einkaufen fahren – das überlegt man sich. Um heiraten zu können, mußten wir zum Standesbeamten nach Broklen Hill. Ich weiß noch: Es war ein stinkheißer Tag, der Schweiß ist mir nur so runtergelaufen in mein feines Kostüm. Und weil der Doug und ich nicht mehr taufrisch waren, hat der Typ zuerst gedacht, wir kämen zur Scheidung. Das Ganze war irre, so richtig Outback. Meine Familie konnte sich zuerst gar nicht vorstellen, wie ich hier lebe, alle waren sehr skeptisch. Aber inzwischen waren sie hier, meine Eltern, mein Sohn, meine Tochter und sogar mein Ex-Mann. Jetzt sind sie beruhigt, weil sie wissen, daß ich gut aufgehoben bin. Doch, wir haben einen Claim, das gehört hier irgendwie dazu, jeder hat einen. Aber wir schürfen selten, wir kommen einfach nicht dazu, wir sind ständig anderweitig beschäftigt. Es irritiert mich überhaupt nicht, daß ich bisher noch keinen einzigen Opal gefunden habe. Wir schürfen ja nicht, um reich zu werden. Für mich sind Opale nur wichtig, weil man Schmuck daraus machen kann. Klar, schön wär’s schon, wenn man mal einen Stein bearbeiten könnte, den man selber gefunden hat. Aber für mich hat zur Zeit etwas anderes Priorität: Ich möchte im nächsten Jahr Goldschmiedekurse für Touristen anbieten. Wir haben schon ein Programm ausgearbeitet und Broschüren drucken lassen. Ich weiß noch nicht, ob ich das überhaupt kann: lehren. Aber ich find’s toll, wenn Leute hierherkommen, sich dieser wahnsinnigen Umgebung aussetzen, sich in die Schülerposition begeben. Ich freue mich auf diese neue Herausforderung.
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„DER
VERDAMMTE UND DEN
BRUNNEN REST
GAB
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K
ann einem das Herz, wie es im Volksmund heißt, vor Freude im Leibe hüpfen? Es kann. Jedenfalls reicht sein glückseliges Pochen bis in die Magengrube, als wir White Cliffs in Richtung Bourke verlassen, einen Ort, der in Australien als Inbegriff des Wilden Westens gilt. Zum einen ist heute Sonntag, und schon das löst, obwohl doch keine Kirchenglocken oder festlich gekleidete Menschen darauf hindeuten, ein Wohlbehagen aus. Zum anderen liegen 386 Kilometer einer Piste vor uns, die mitten durch unberührtes Outback führt und die, wie sich schon nach wenigen Windungen herausstellt, im Grunde ein langer, langer Feldweg ist. Auf seinem Belag, einer Mischung aus Kalk und Kiesel, mahlen die Räder mit einer Monotonie, die einlädt zu sommerlicher Träumerei. Und ob es die schwarzen Skelette abgebrannter Bäume sind, das Grün des Buschwerks, das Blau des Himmels: Das Weiß unseres Weges bildet zu jedweder Farbe einen lieblichen und doch klaren Kontrast. Die wenigen Rillen von Reifen haben keinerlei Frische mehr. Seit Stunden also, vielleicht seit Tagen sind hier keine Autos gefahren. Kaum ein Lüftchen weht an diesem friedlichen Vormittag. Wenn plötzlich Staub aufwirbelt zwischen den Bü-
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scheln der Gräser, dann rennt, aufgeschreckt vom Geräusch des Motors, ein Tier davon: ein Känguruh, ein Hase oder ein Emu. Nur der Fuchs, der unter einem Eukalyptusbaum auf Opfer lauert, verharrt auf seinem schattigen Plätzchen. Halb irritiert, halb neugierig blickt er unserem Geländewagen nach, um sein Augenmerk dann wieder ganz auf die beuteträchtige Landschaft zu richten. Je weiter wir uns von White Cliffs und seinen letzten zivilisatorischen Spuren entfernen, desto atemraubender wird die Fauna. Emus, die ungelenken Riesenvögel, die man in anderen Gegenden nur selten beobachten kann, kreuzen nun zu Dutzenden die Piste. Auch die rostbraunen Känguruhs hoppeln in Herden am Wegesrand. Da ihnen die Gruppe offenbar Sicherheit gibt, springen sie erst davon, wenn ihnen unser Auto ganz nahe kommt. Eine magische Anziehungskraft übt auf die Tiere ein Wall von Bäumen aus, der den Darling River säumt, einen Fluß, dessen lindgrünes Wasser hin und wieder durch das Laubwerk schimmert. Wenn dann auch noch Scharen von Raubvögeln über den zum Ufer strebenden Emus und Känguruhs kreisen, hat man den Eindruck, dort unten warte eine Arche, die all diese prächtigen Geschöpfe in ein Paradies bringen wird, in dem die eine Kreatur nicht mehr der Feind der anderen ist. Das einzige Hindernis auf dem Weg zum Fluß ist ein Zaun mit weit auseinanderliegenden Drähten, der das Terrain der riesigen Farmen in dieser Region begrenzt. Instinktiv springen die Känguruhs über den Zaun hinweg, oder sie ducken sich so geschickt, daß sie genau in den Spielraum zwischen dem Boden und der ersten Strebe passen.
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Wieder nähert sich eines der Tiere dem Zaun. Es hält kurz inne, kann sich nicht entscheiden, rennt und springt gegen den Draht an, verheddert sich, strampelt, bäumt sich auf, strauchelt, gerät in Panik, als eine der Streben seinen Hals stranguliert. Soll man halten und dem Känguruh helfen? Aber würde man seine Lage dadurch nicht noch verschlimmern? Hat dieses Tier denn überhaupt eine Chance? Also weiterfahren ... Noch 15, 20 Sekunden ist im Rückspiegel, dessen Rahmen die Szene ins Kinohafte verfremdet, ein zappelndes Wesen zu erkennen. Wie schön hat dieser Sonntag begonnen – und nun dieses Bild der Hilflosigkeit. Und dann nähert sich plötzlich, buchstäblich wie aus heiterem Himmel, eine grüne Wolke, die sich, als sie auf uns zukommt, als ein Schwarm von Wellensittichen erweist. Welch ein Flattern und Zwitschern, Kurven und Kreisen. Mal dreht der Schwarm übermütig zur Seite ab, mal zerfasert er in kleine Gruppen, um sich, wie von einer Strippe gezogen, blitzschnell wieder zu einem quinquilierenden Bündel zu formieren. Ließ eben noch der verzweifelte Kampf des Känguruhs unser sonntägliches Glücksgefühl umkippen in Traurigkeit, so löst dieser himmlische Spuk eine Kette von Erinnerungen aus, die, wie schon vor einigen Wochen auf dem Stuart Highway, zurückreichen bis in die Jugendzeit, die dieses Mal aber nicht im Dumpfen siedeln, sondern im Schönen. Die paradiesische Landschaft des Ätna mit dem von Schnee umkränzten Krater und ihren Orangenhainen tritt vor das Auge, eine Regenbogenforelle in einem kristallklaren Bach, eine Wiese mit einem Teppich von Butterblumen, der Mailänder Dom im Morgenlicht, ein bläulich schimmernder Eisberg vor der Küste Alaskas, ein feurig
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blühender Wall von Bougainvilleas vor einem Haus in Bourke ... Bougainvilleas? Bourke? Es ist, psychologisch und dramaturgisch, etwas Einzigartiges passiert: Die Reihe der Erinnerungen endet in einer Gegend, die wir gerade durchfahren und die wir schon vor einigen Jahren, als wir noch Korrespondenten mit Sitz in Singapur waren, besucht haben. Erinnerungen und Gegenwart überschneiden sich an diesem geographischen Punkt. Unsere Besuche in Bourke: Das ist ein Kapitel für sich. Ende 1994 waren wir zum erstenmal in diesem Ort, der im Herzen einer wichtigen Schafzuchtregion liegt und der den Australiern als Metapher für die Wildnis, für die Abgeschiedenheit dient: »Back o’ Bourke« könnte man übersetzen mit »Am Ende der Welt« oder, einen Deut ordinärer, mit »Arsch der Welt«. Anlaß unserer Reise war damals eine dramatische Dürre, die nahezu alle Farmer der Gegend zu ruinieren drohte und über die wir einen Bericht für den »Weltspiegel«, das Auslandsmagazin des ARD-Fernsehens, drehen wollten. Der Seitenweg da drüben, führt der nicht zur Station der Bartons, der Familie, die wir uns damals als Musterbeispiel für die tragischen Konsequenzen der Dürre ausgesucht hatten? Was wir seinerzeit an Stoff zutage förderten, reichte weit über die Möglichkeiten eines Magazinbeitrags hinaus, und so kehrten wir Anfang 1995 nach Bourke zurück, um eine 45-Minuten-Dokumentation über die Bartons und ihre von der Hitze ausgedörrte Heimat zu produzieren. Wir drehten, damals im Januar, gerade auf dem Friedhof von Bourke die Gräber von Pionieren, als ein australischer Mitarbeiter uns aufgeregt ein Fax überreichte, das die für
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uns zuständige NDR-Zentrale in Hamburg an unser Motel geschickt hatte: Schweres Erdbeben in Kobe. Schon 5000 Tote. Bitte sofort nach Japan fliegen und dort die Kollegen unterstützen. Wir packten die Koffer, fuhren zehn Stunden mit unserem Geländewagen zum nächsten internationalen Flughafen nach Sydney, deckten uns unterwegs schnell mit Wintersachen ein, flogen acht Stunden von Sydney nach Singapur, stiegen in Singapur um nach Osaka, flogen noch mal sieben Stunden, fuhren von Osaka mit dem Bus nach Kobe, das total in Trümmern lag, filmten und schnitten vier Tage und vier Nächte inmitten von Ruinen, flogen von Osaka zurück nach Singapur und von Singapur nach Sydney, fuhren zehn Stunden von Sydney ins Outback – und waren, um unsere Dreharbeiten fortzusetzen, zum drittenmal auf Besuch in Bourke. Dann ist das jetzt also unsere vierte Visite in dieser Stadt. Wie geht es den Bartons? Hat sich die Gegend wieder aufgerappelt nach der Dürre? Was ist aus den Aborigines geworden? Ob wohl »Chocolate« noch lebt, der greise Hütehund aus dem kleinen Motel am Darling River, in das wir uns damals einquartiert hatten? Das sind die Fragen, die wir uns, da die weißen Getreidespeicher von Bourke in Sicht kommen, mit einer gleichsam heimeligen wie bangen Neugier stellen. Bei Phil und Robin im »Riversite Motel« Das Kriegerdenkmal, das Gerichtsgebäude im britischen Kolonialstil, der Bowling Club, die Schwärme der grauroten Galahs: Ja, das ist Bourke, unser Bourke. Mein Gott:
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Der Eingang der »Commonwealth Bank« ist, knapp zwei Jahre nach unserem letzten Besuch, noch immer verrammelt, und am Schaufenster des Cafés im Herzen der Stadt hängt noch immer das Schild mit der traurigen Aufschrift »For sale«. Wer hat wohl bei »Carol’s country goods« die Scheibe eingeschlagen? Waren es die halbwüchsigen Aborigines, die, wie eh und je, an der Oxley Street unter der morschen Arkade eines Baugerüstes herumlungern, das irgend jemand mal errichtet hat und niemand wieder abbaut? Der Kleinbus, der da vor dem Supermarkt parkt, gehört der nicht den barmherzigen Schwestern vom Orden der Mutter Teresa, die sich in Bourke so selbstlos um die Alkoholiker kümmern? Sie blühen wieder, die Bougainvilleas vor dem »Riversite Motel«, der Herberge am Darling River, unserer Herberge, unserem Fluß. Auch »Chocolate«, die fette braune Hündin, die die Kekse, die sie vergräbt, nie wiederfindet, döst in einer schattigen Kuhle vor sich hin. Der Klinkerbau mit dem weißen Dach, das gleichförmige Geräusch des Rasensprengers, die gußeiserne Laterne, das Wagenrad, der Erpel inmitten seiner schnatternden Entenschar, und dann, hinterm Deich, der tiefgrüne Fluß, der, übersät mit den silbrigen Blättern der Eukalyptusbäume, so müde fließt, daß man kaum seine Strömung wahrnimmt: Heimat... »Das hätte ich nicht gedacht, daß ihr wirklich noch mal nach Bourke kommt«, sagt Phil, der Wirt, und sein kräftiger, beinahe schon schmerzhafter Handschlag drückt wohl auch den Stolz darüber aus, daß Bourke, das Kaff, in dem er seit 1970 das Leben eines geachteten Bürgers führt, so interessant ist für ein europäisches Publikum.
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Wegen seiner Verdienste um das Gemeinwohl von Bourke war Phil sogar schon mal »Bürger des Jahres« – und genauso sieht er auch aus. Er hat ein bulliges Gesicht, das trotz seines zunächst aufdringlichen Volumens keinen Moment den Verdacht aufkommen läßt, es könne, aus welchem Grunde auch immer, einen aggressiven Ausdruck annehmen. Im Gegenteil: Es lädt ein, diesen Mann von Mitte Fünfzig jederzeit um einen Rat zu bitten, und erkundigte sich bei ihm jemand nach einem Weg, er würde den Fragesteller, so signalisieren seine Züge, bis zum Ziel begleiten. Außer dem Motel betreibt Phil noch eine kleine Klempnerei, und so verpackt er seinen massigen Körper in die immer gleichen Arbeitsklamotten: ein großkariertes Baumwollhemd, verwaschene Shorts und Gummistiefel, die, je nach Wetterlage, mit Staub belegt oder mit Matsch bespritzt sind. Aus den Seitentaschen der Hose ragen selbst am Sonntag, also auch heute, der Schraubenschlüssel, das Maßband und die Zange heraus, die Werkzeuge seines Gewerbes, die gleichzeitig die für jedermann sichtbaren Insignien seiner Hilfsbereitschaft sind. Denn meldet zum Beispiel eine der barmherzigen Schwestern einen Wasserrohrbruch im Trinkerheim, dann eilt Phil selbstverständlich hin und behebt den Schaden kostenlos. Doch bei all solcher Fürsorglichkeit ist Phil keineswegs der Typ des guten Onkels, der mit seinem Altruismus mangelndes Selbstbewußtsein kaschiert und mit dem die Kinder, das leicht Debile solcher Charaktere ausbeutend, schon mal ihren Schabernack treiben. Nein: Dieser vierschrötige Mann ist, was zum Beispiel seine Mitarbeit im Bürgerrat von Bourke betrifft, durchaus in der Lage, analy-
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tisch und perspektivisch zu denken, seine sozialen Postulate in politische Praxis umzusetzen. Er ist der für das australische Outback nicht untypische Repräsentant des Voluntarismus, einer auch in Amerika und Europa gerade vieldiskutierten Denkungsart, die die negativen Konsequenzen des Kapitalismus nicht so sehr durch staatliche Fürsorge abfedern will, sondern durch einen Bund mündiger, dem Gemeinwohl verpflichteter Bürger: durch freiwillige Leistungen in Krankenhäusern, beim Umweltschutz oder im Straßenbau. Wie oft haben wir bei unseren früheren Besuchen mit Phil des Abends unter dem Laubengang seines Motels über dieses Konzept diskutiert: Es von einer linken Position als erzkonservativ, als systemerhaltend kritisiert. Überzogene staatliche Hilfe, argumentiert unser Wirt auch heute, da wir wieder, kaum, daß wir unsere Koffer abgestellt haben, mit ihm zusammensitzen, führe zum Phlegma und Phlegma zum Ruin. Das beste Beispiel sei auch in Bourke das Schicksal der Aborigines, denen der Staat genügend Geld und Hilfe anbiete und von denen jeder zweite Alkoholiker sei. Phil untermauert seine These durch zwei Beispiele. Fall eins: Auf Beschluß des Bürgerrates schenkt die Kommune einer Gruppe von Aborigines einen Bus, mit dem die Eltern abends ihre streunenden Kinder von der Straße aufsammeln sollen. Die Erwachsenen mißbrauchen den Bus, für den sie keine Gegenleistung erbringen mußten, für ihre privaten Zwecke und fahren ihn am Ende zu Schrott. Fall zwei: Ebenfalls auf Anregung des Bürgerrates beschließt die Kommune, am Ufer des Darling River einen kleinen Hafen für Raddampfer anzulegen, auf denen später
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Touristen den Fluß hinunterschippern sollen. Eine andere Gruppe von Aborigines wird davon überzeugt, daß es gut für sie und die Gemeinde sei, wenn sie sich als Gegenleistung für die staatlichen Gelder an den Arbeiten beteilige. »Natürlich«, sagt Phil, »gibt es auch in diesem Kreis nach wie vor Probleme, aber in weitaus geringerem Maße als früher. Eindeutig ist hier durch den Dienst an der Gemeinde das Selbstbewußtsein gestärkt worden.« Robin, Phils Frau, begrüßt uns mit großer Herzlichkeit und setzt sich zu uns an den Tisch. Sie lauscht unserem Gespräch, und ihr Blick enthält milden Tadel: Nun seid ihr gerade angekommen in Bourke, und schon kreist wieder alles um die Politik. Sie zeigt auf den Sternenhimmel, als wolle sie sagen: Welche Bedeutung haben die Probleme von Bourke schon gegen die Wunder des Kosmos? Einerseits hast du recht, Robin, andererseits nicht: Was mit den Aborigines passiert, ist eine Tragödie, das Schicksal der Farmerfamilie Barton womöglich auch. Und ist die Lage der ganzen Stadt nicht dramatisch zu nennen? Wir müssen nur Ordnung in unseren Stoff bringen, die gleiche Ordnung, der die Sterne folgen, obwohl dieses funkelnde Meer, wenn man es von der Erde betrachtet, wie ein einziges Chaos wirkt. Eine Woche haben wir vorgesehen für Bourke – und so verabreden wir mit Phil einen thematischen Fahrplan, der anknüpfen soll an die Erfahrungen unserer vergangenen Besuche und den unser Gastgeber penibel auf einer Serviette notiert: »1. Auffrischung der Geschichtskenntnisse«, weil, wie auch der Individualist Phil zugesteht, Einzelschicksale ohne den historischen Hintergrund kaum zu begreifen sind; »2. Kontakt mit der Familie Barton«, weil,
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wie auch wir als Phils politische Antipoden erkennen, die ökonomische Analyse amorph bleibt ohne das sinnliche Beispiel aus der Praxis. Schließlich »3. Besuch eines Gottesdienstes und des Trinkerheims.« Wann immer wir Wünsche oder Probleme hätten, sagt Phil, könnten wir uns an ihn wenden. So verabreden wir uns schon für den nächsten Morgen zu einem Privatissimum in Geschichte. Treffpunkt ist wieder der Holztisch, der im Schatten des Laubengangs steht und der auf uns, die wir nach 7000 strapaziösen Kilometern nun doch Sehnsucht nach ein wenig Ruhe haben, die gleiche Vertraulichkeit ausstrahlt wie die Blüten der Bougainvilleas oder der Erpel, der seine Enten gerade mit diktatorischem Gehabe zum Ufer des Darling River treibt. Ein »Dichter desWestens« Phil hat auf dem Tisch Dutzende von Büchern, Broschüren und Fotos ausgebreitet, und um der Lektion gleich am Anfang die richtige Dimension zu geben, beginnt er seine Ausführungen mit einem Satz des berühmten Heimatdichters Henry Lawson: »Wer Bourke kennt, der kennt Australien.« Schon die ersten historischen Eckdaten führen uns vor Augen, wie eng in Bourke und seiner Umgebung der Glanz und das Elend miteinander verknüpft sind, wie häufig die brutalen Gewalten der Natur oder die mitleidlosen Mechanismen des Marktes den Ort von heute auf morgen bis ganz kurz vor den Abgrund getrieben haben. Die Geschichte Bourkes, wo derzeit 3600 Menschen leben, beginnt im Februar 1829, als ein Pionier namens
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Charles Sturt jenen Fluß entdeckt, der träge an unserem Motel vorbeifließt. Er benennt ihn nach Sir Ralph Darling, seinerzeit Gouverneur des australischen Bundesstaates New South Wales, in dem auch Bourke liegt. Mit dieser Information nimmt uns Phil, unser Wirt und Geschichtslehrer, die Illusion, das Gewässer verdanke seinen Namen dem romantischen englischen Begriff »darling«. Die Entdeckung zieht die ersten Abenteurer an, denen 1835 ein Treck von Siedlern folgt, die sich in dieser Gegend vor allem als Schafzüchter versuchen. »Viele der neuen Landbesitzer«, heißt es in einer historischen Analyse, »fielen einer Dürre oder den Wirtschaftskrisen zum Opfer.« Getroffen habe dies »Spekulanten ebenso wie gutgläubige und ehrenwerte Investoren«. Im Jahre 1859, einem der wichtigsten in der Geschichte der Stadt, legt in Bourke der Raddampfer »Gemini« an, der den Darling River für den Transport von Schafwolle erschließt. Nicht mehr angewiesen auf die Pferdewagen, die bis in die knapp 800 Kilometer entfernte Hafenstadt Sydney viele Monate brauchten, avanciert Bourke zum wichtigsten Umschlagplatz für dieses Produkt in Australien. Drei Jahre nach dem Start der Schiffslinie, die erst 1931 von der noch schnelleren Bahn abgelöst wird, erhält Bourke die Stadtrechte. »Es war ein Ort«, so notiert später ein lokaler Historiker, »in dem schwer getrunken und in dem ein Mangel an Lesestoff und Schreibpapier nicht als Bedrohung empfunden wurde.« Nachdem 1863 in Bourke die ersten Hotels eröffnet haben, um den aus dem ganzen Land anreisenden Händlern und Maklern ihre Dienste anzubieten, erlebt die
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Region prompt einen schweren Rückschlag. Eine Räude breitet sich auf den Farmen aus. Wenn ein einziges Schaf daran erkrankt, muß die gesamte Herde getötet werden. Besonders dramatisch verläuft die Phase zwischen dem Ende der achtziger und dem Beginn der neunziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts. Einer verheerenden Kaninchenplage folgt, aufgrund einer günstigen Lage auf dem Weltmarkt, ein beispielloser Boom, der in kürzester Zeit in eine ökonomische Krise umkippt, weil eine plötzliche Rezession mit einer Dürre zusammentrifft. Die Schaferden reduzieren sich um zwei Drittel. Die Farmen sehen sich gezwungen, massenhaft Personal zu entlassen. Streiks und Aufstände sind die Folge. Wie schon so häufig, erholt sich die Region von der Krise, und im Jahre 1902 heißt es im Report einer Regierungskommission, in und um Bourke herrschten »aristokratische Lebensverhältnisse«. Es ist die Zeit, in der die Nachfahren armseliger Siedler zu Bürgern, häufig auch zu Großbürgern avancieren. Es ist auch die Ära der rauschenden Bälle, der riskanten Geschäfte und des Dünkels. Verlangt eine solche Phase, in der das gemeinsame Dach des Pioniergeistes brüchig und die Spaltung der Schichten manifest wird, nicht nach einem Barden, der, halb Romantiker, halb Revolutionär zugunsten der Unterprivilegierten, die ein solcher Prozeß ja auch hinterläßt, auf die Barrikaden geht – wenn schon nicht mit der Waffe, so doch wenigstens mit seinen Liedern? Es gibt einen solchen Mann in Bourke, Francis Humphris Brown heißt er. Ein Buch mit seinen Versen liegt auf unserem Tisch unterm Laubengang. Phil, unser Wirt, empfiehlt es uns dringend
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zur Lektüre, als er uns verlassen muß, um irgendwo in der Stadt eine gebrochene Leitung zu reparieren. Der Band mit dem Titel »Lieder der Prärie« beginnt mit Nachrufen auf den im Januar 1933 gestorbenen Dichter. Sie beschreiben einen Helden, dessen Fragtlität in krassem Gegensatz zu den vor Lebensmut nur so strotzenden Pionieren steht, denen wir bisher in den australischen Geschichtsbüchern begegnet sind. Geboren wird Francis Brown im Mai 1884 »als Sohn armer Eltern« in Euchuca im Bundesstaat Victoria. Er besucht die Oberschule, treibt begeistert Sport, interessiert sich, was ungewöhnlich ist für einen Knaben vom Lande, für Griechisch und Latein und schreibt seine ersten Gedichte. Politisch steht er schon als junger Mann »links von der Mitte«. Mit dieser Haltung erregt er in seiner konservativen Heimat zum erstenmal Aufsehen, als er sich standhaft weigert, an den Hurra-Veranstaltungen nach dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs teilzunehmen, in dem Australien an der Seite Großbritanniens kämpft. Aus dem Verweigerer wird ein Aktivist, als 1917 in Australien die Transportarbeiter streiken. Brown, selbst Angestellter bei der Eisenbahn, agitiert seine Kollegen mit kämpferischen Gedichten. Der »radikale Sohn einer konservativen Familie« bezahlt sein Engagement mit Arbeitslosigkeit, und der Gemütszustand dieses »introvertierten und nachdenklichen Menschen« gleicht nun der depressiven Verfassung der gesamten Gesellschaft. Als ihn dann auch noch seine Geliebte verläßt, erleidet der Poet seinen ersten Nervenzusammenbruch. Der depressive Revoluzzer flieht in die Romantik. Er schippert mit einem Dampfer den Darling River hinauf
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und wählt Bourke, das Herz des Outback, als seinen neuen Wohnsitz. Dort schreibt er Balladen, die in angesehenen australischen Zeitungen gedruckt werden und die er am Lagerfeuer den durchziehenden Schafscherern vorsingt. Es muß, wie einer der Nachrufe vermuten läßt, eine der glücklicheren Phasen im Leben des Francis Humphris Brown gewesen sein: »Er liebte die Wildnis, die Hütehunde, die Frauen und – ganz besonders – die Kinder.« Einem dieser Kinder, einem Mädchen namens Mary, hat Brown ein paar Verse gewidmet. Wenn Mary lacht Wenn Mary lacht fallen die Spinnen bestürzt von den Wänden und die Babys kriechen beglückt aus den Wiegen wenn Mary lacht. Wenn Mary lacht sind die Ziegen außerstande ihre Milch zu geben und selbst der finsterste Gesell’ macht ein fröhliches Gesicht wenn Marys wunderbares Lachen durch die Gassen tönt. Ach, und sollte Mary eines Tages sterben und als Engel
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hinauffahren zum Paradies dann werden die Heiligen an der Himmelspforte in die Saiten ihrer Harfen greifen und dreimal »Hoch« rufen ... wenn Mary lacht. Im Jahre 1931 wird Australien erneut von einer wirtschaftlichen Depression heimgesucht. Auch in der Region von Bourke sind bis zu 30 Prozent der Menschen arbeitslos. In einem vergifteten Klima spaltet sich die Gesellschaft in zwei politische Lager: in eine Linke und eine Rechte. Francis Brown steht auf der Seite der Sozialisten. Das Jahr endet in Bourke mit militanten Auseinandersetzungen, bei denen Arbeiter gegen Arbeiter kämpfen. Über diese ordinäre Gewalt zutiefst erschüttert, flieht der Dichter in die Isolation: Er widmet sich seiner Sammlung von Schmetterlingen, der Fachleute noch heute Hochachtung zollen. Am 20. Januar 1933, als in Europa gerade das Ungeheuer des Faschismus zum Sprung ansetzt, begeht Francis Humphris Brown Selbstmord. Er ist da knapp 49 Jahre alt. »Könnte es sein«, so fragt, an die brutalen politischen Kämpfe erinnernd, der Autor eines Nachrufs, »daß er den Glauben an die Menschheit verloren hat?« Es spricht für die Bewohner des Outback, diese erzkonservativen und wenig zimperlichen Typen, daß sie ihrem hochsensiblen, an den Realitäten verzweifelten und gescheiterten Mitbürger mitten im Busch ein Denkmal gesetzt haben. Dem »Dichter des Westens« ist die Inschrift gewidmet – und: »Unserem lieben Bruder«.
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Phil ist zurückgekehrt. Das Lächeln, das nur ganz selten aus seinem Gesicht weicht, strahlt nun eine Mischung aus Selbstzufriedenheit und Wohlwollen aus. Und obwohl unser Wirt kein einziges Wort sagt, glaubt man, den Satz zu vernehmen: Na, der hat euch bestimmt gut gefallen, der Dichter Francis Brown ... Als wir laut darüber nachdenken, daß die wechselvolle Vita dieses Poeten hervorragenden Stoff hergäbe für einen Film oder ein Buch, einen Roman, bietet unser Wirt sofort seine Hilfe an. Aber erst einmal wollen wir uns auf das nicht minder spannende Schicksal von Bourke konzentrieren, das durch eine Mechanik eine positive Wende nimmt, die den Dichter Francis Brown erneut in seinem tiefen Pessimismus bestätigt und zur Verzweiflung getrieben hätte: Es ist der Zweite Weltkrieg, der den Bedarf an Schafwolle stimuliert und damit den Farmern endlich wieder einen Boom beschert. Die nächste Katastrophe erleben die Bürger von Bourke in der ersten Hälfte unserer neunziger Jahre, als wieder einmal zwei unglückliche Faktoren zusammentreffen: eine Dürre, die das Weideland in eine Wüste verwandelt, und ein konjunktureller Einbruch auf dem Weltmarkt, der auf ein Überangebot an Wolle zurückzuführen ist. 1995 haben in der Gegend, in der die berühmte australische Familiensaga »Dornenvögel« spielt, die Hälfte der Farmer kein Einkommen mehr. Die Familien fristen ihre Existenz notdürftig von ihren Ersparnissen oder von Krediten. Die Selbstmordrate steigt dramatisch an. Man muß in dieser bedrohlichen Zeit kein verzweifelter Dichter sein, um die Nerven zu verlieren.
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»Spendet für die darbenden Farmer« Zu den Zahlen, mit denen Phil seine historische Lektion beendet, fallen uns konkrete, höchst dramatische Bilder ein. Denn die große Dürre war ja der Grund gewesen für unsere drei Drehreisen nach Bourke. Was wir damals, auf den insgesamt drei Etappen, erlebten, war so eindrucksvoll, daß es uns, unterm schattigen Laubengang vom »Riversite Motel«, in allen Details vor Augen tritt. Wir haben, Ende 1994, einen australischen Mitarbeiter gebeten, uns in der Umgebung von Bourke eine typische Familie auszusuchen, an der man die Katastrophe festmachen kann. Er hat uns bei den Bartons angemeldet, deren 45 000 Hektar großes Areal, die »Salt-Lake«-Farm, fast genau 1000 Kilometer von Sydney, unserem Ausgangspunkt, entfernt liegt. Schon auf halber Strecke, in der Stadt Dubbo, kommen wir zum erstenmal mit der Katastrophe in Berührung. Bei einer Rast entdecken wir in einer Ladenpassage einen riesigen Korb, in dem sich Naturalien wie Corned beef, Dauerwurst oder Kekse, aber auch gebrauchte Kleidungsstücke stapeln. Über dem Korb hängt ein Zettel mit einem bedrückenden Inhalt: »Spendet für unsere darbenden Farmer, ihnen verdankt Australien seinen Wohlstand. In der Stunde der Not müssen die Australier an ihrer Seite stehen.« Der Hilferuf wirkt wie ein Schlag ins Gesicht. Der Begriff Farmer galt für uns immer auch als ein Synonym für Wohlstand, und unser journalistisches Thema war für uns noch viel zu abstrakt, als daß es uns die Vorfreude auf die Reise ins Outback hätte nehmen können. Nun aber ist uns
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die Not zum erstenmal sinnlich bewußt geworden; das ist vergleichbar mit dem Schock, den man empfindet, wenn man auf der beschwingten Autofahrt in den Urlaub unvermittelt mit einem schweren Verkehrsunfall konfrontiert wird. Kurz hinter Dubbo beginnt ein Dürregürtel, der ungefähr so groß ist wie Deutschland. Seit fünf Jahren hat es hier nicht mehr geregnet, und dies hat die Region auf brutale Weise gezeichnet: Auf der ausgedörrten und knochenharten Erde zu beiden Seiten unserer Piste liegen die Kadaver verdursteter Schafe und Rinder verstreut. Kaum einer der Eukalyptusbäume trägt noch Blätter. Immer wieder kreuzen Herden von Känguruhs den Weg. Mit schleppenden Bewegungen irren sie, auf der Suche nach Wasser und Nahrung, durch die Landschaft. Es ist überhaupt kein Problem für uns, sie für unsere Reportage zu filmen. Diese scheuen Tiere, die, wenn sie im vollen Besitz ihrer Kräfte sind, Haken schlagen und Luftsprünge machen, sind viel zu kraftlos, um vor der Kamera fliehen zu können. Hilfloser noch als die Känguruhs wirken die Emus, die in langen Reihen der Straße zustreben, als sei sie in dieser geschundenen Gegend das letzte Band der Hoffnung. Wie oft haben wir auf unseren Reisen durch Australien über die tolpatschigen Hüpfer und die kecken Zickzackkurven dieser Riesenvögel gelacht; nun müssen wir mit ansehen, wie sie bei jedem Versuch, das Tempo zu beschleunigen, ins Torkeln geraten. Sich Millimeter für Millimeter vorwärts kämpfend, kriecht eine Echse über die Böschung unserer Straße. Wir stoppen, und auch das bräunliche Reptil, das als men-
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schenscheu gilt, hält inne. In aller Ruhe können wir das Stativ aufbauen und das vor Erschöpfung japsende Tier drehen. Unser australischer Mitarbeiter, ein exzellenter Kenner des Outback, unterstellt der Echse eine instinktive Überlebensstrategie: Eine Flucht würde nämlich die letzten Energien aufbrauchen und damit das mögliche Ende bedeuten. Wo ein Baum oder ein Busch nur andeutungsweise Schatten spendet, drängen sich Grüppchen ausgemergelter Schafe. Ihr Instinkt ist an diesem Nachmittag, an dem die Temperatur sich bei 40 Grad Celsius einpendelt, auf ein einziges Ziel gerichtet: sich zu schützen vor einer Sonne, die in dieser Gegend längst nicht mehr als Quell des Lebens gilt, sondern als Symbol des Todes. Eine rotbraune Wand, viele Kilometer breit und Hunderte von Metern hoch, rollt vom Horizont über die Landschaft. Je näher sie kommt, desto ohnmächtiger fühlen wir uns. Ein gewaltiger Luftzug, ein ins Mark gehendes Pfeifen, ein Sog, ein Sturm – und dann, zwei bis drei Minuten, Sand, Sand, Sand, feinkörniger Sand, der sich auf die Zunge legt und in die Poren dringt. Wir halten die Hände zum Schutz vor die Augen und stemmen uns, immer wieder ins Straucheln geratend, gegen das grollende Ungetüm an. Fetzen des Himmels werden sichtbar. Die Lawine dünnt an den Rändern aus, schimmert, wo die Sonne den Staub durchdringt, in einem bleiernen Blau. Als wir, endlich befreit aus dieser hilflosen Lage, die Klinke unserer Autotür berühren, bekommen wir einen elektrischen Schlag. Die aus Millionen Partikeln bestehende Wand erfaßte uns mit einer solchen Urgewalt, daß sie uns aufgeladen hat.
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Morgens um fünf sind wir, gleich nach unserer Ankunft mit dem Flugzeug, in Sydney gestartet. Am frühen Abend erreichen wir die »Salt-Lake«-Station. Die Neugier siegt über die Müdigkeit, denn wer hat schon die Chance, eine Familie zu besuchen, die inmitten des Nichts lebt und deren nächste Einkaufsmöglichkeit – in diesem Falle ist es Bourke – 200 Kilometer entfernt liegt. Joana und Brian Barton empfangen uns an der hölzernen Eingangspforte, und unser erster Eindruck erfaßt außer einem freundlichen Ehepaar ein Windrad, einen Brunnen, ein großes einstöckiges Wohnhaus mit einer ausladenden Veranda, einen Eukalyptusbaum und einen Schwarm von Kakadus, die sich, nachdem sie das Grundstück ein paarmal umkreist haben, wie zu unserer Begrüßung auf den ausgedörrten Ästen niederlassen. Sind wir, der Dürre zum Trotz, in einem »Dornenvögel«-Idyll gelandet? Da wir vor Einbruch der Dunkelheit die Motive für unsere Außenaufnahmen festlegen wollen, bitten wir unsere Gastgeber um einen Rundgang, bei dem, auf den zweiten Blick, das Bild der Harmonie seine ersten Risse bekommt: Einer der Stricke, die eine Schaukel halten, ist zerfasert, das Brett gesplittert, die Stange verrostet. Einem Schafbock, der über das Areal trottet, fehlt eines der Hörner. Damit ist diesem Tier, das zu den prächtigsten Spezies der Wildnis gehört, der Stolz gekappt. Das Netz auf dem Tennisplatz hinter dem Haus hängt schlaff zwischen den Pfosten. Auch am Pool, dessen spärliches Wasser vor sich hin modert, deutet nichts darauf hin, daß hier jemals die aufgekratzte, von schwüler Erotik geprägte Stimmung herrscht, die so typisch ist für die Wochenenden im australischen Outback.
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Man muß nicht von deutscher Pedanterie beseelt sein, um auf diesem Grundstück sehr schnell auf einen schleichenden Verfall zu stoßen, der oft ein Symptom ist für Hoffnungslosigkeit. Brian Barton schweigt während des Rundgangs. Joana, seine Frau, beschleunigt, als wolle sie vor der Realität fliehen, ihre Schritte, wenn wir eine der verwahrlosten Stellen passieren. Doch da sie offenbar seismographisch registriert, daß wir, die Dokumentaristen, gerade an diesen, den Niedergang symbolisierenden Motiven interessiert sind, beschwichtigt sie immer wieder im Flüsterton: »Wird demnächst alles repariert.« Endlich versöhnt die Dämmerung die heile Welt mit dem Ruin. Wir quartieren uns bei den Bartons ein und verabreden mit dem Hausherrn, am nächsten Morgen hinauszufahren in den Busch, um dort nach Herden von Rindern und Schafen zu suchen. Auch als wir in aller Herrgottsfrühe neben Brian Barton im Pick-up sitzen, dem robusten Gefährt des Outback, beschränken sich seine Wort auf ein paar Befehle an seine beiden Hütehunde, die es vor Freude auf den Ausflug kaum auf ihren Plätzen hält, und auf lakonische Kommentare zu den allenthalben sichtbaren Folgen der Dürre. »Verdurstet«, sagt er, als am Wegesrand die Kadaver von etwa einem Dutzend Schafe liegen. »Ausgetrocknet«, bemerkt er zu einer Senke, in der sich zu normalen Zeiten offenbar Wasser sammelt, das Elixier, ohne das, wie wir gerade auf schmerzliche Weise erfahren, Weideland sich in Wüste verwandelt. Eine Gruppe halbhoher Bäume veranlaßt Brian Barton, auf die Bremse zu treten und uns zu bitten, diesen Ort näher zu betrachten. Die Stämme sind an vielen Stellen gespal-
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ten, als habe hier jemand, in einem Akt unkontrollierter Gewalt, mit der Axt gewütet. »Bullen«, sagt Brian Barton. »Wenn eine Rinderherde in dieser Gegend auf solche Bäume stößt, rammen die Bullen ihre Hörner in das Holz, weil es irgend etwas Verwertbares enthalten könnte. Oft bricht durch die Wucht die Spitze der Bäume ab, wo sich manchmal noch ein paar Blätter befinden. Da bleibt nicht ein einziges Blatt liegen.« Der Gedanke an seine von Durst und Hunger geplagten Tiere hat die Zunge des Farmers ein wenig gelöst. »Die Wunden an den Bäumen sind noch ziemlich frisch«, sagt er, »vielleicht ist die Herde ja in der Nähe.« Doch so wild wir mit unserem Geländewagen auch Slalom fahren: Vieh entdecken wir nicht. Doch plötzlich werden die beiden Hütehunde nervös, die auf Schafe getrimmt sind und deren drahtige, terrierhafte Körper vor Arbeitswut vibrieren, als wir uns einer Staubwolke nähern, aus der bisweilen ein paar weiße Hinterteile aufscheinen. Ein Pfiff ihres Meisters – und schon rasen die Hunde, in ihrem Übereifer fast Kobolz schlagend, der Herde nach. Sie sind die einzigen Wesen, die Lebenslust versprühen in dieser Tristesse, doch so richtig austoben können sie sich nicht: Die völlig erschöpften Schafe fügen sich dem Diktat ihrer Peiniger mit dumpfem Gehorsam, und so ist all das Gerenne, Gezwacke, Gebell kaum mehr als die im Grunde überflüssige Demonstration eines lange unterdrückten Triebes. Brian Barton greift sich aus den abgemagerten Tieren ein Exemplar heraus und hebt es an den Vorderpfoten in die Höhe, so daß es sich aufgerichtet vor uns präsentiert. Der Farmer teilt mit den Händen die Wolle unter dem Kopf des
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Tieres und kommentiert den Befund: »Kein Glanz, keine Festigkeit, nichts ... Damit brauchen Sie auf dem Weltmarkt gar nicht erst anzutreten.« Seit etwa drei Jahren, berichtet Brian Barton, habe er keine Einkünfte mehr. Die Ersparnisse seien aufgebraucht, seine Familie sei nun auf Kredite angewiesen, für die die Banken, die Notlage rigoros ausnutzend, Wucherzinsen verlangten. Er sei jetzt Anfang 50 und habe schon viel erlebt als Farmer, aber an eine so schlechte Zeit könne er sich nicht erinnern. »Wie viele Schafe besitzen Sie?« »Ungefähr 6000. Es waren mal 10 000.« »Was ist mit den anderen 4000 passiert?« »Verdurstet, verhungert, erschossen ...« »Erschossen?« »Ja: Ungefähr 2000 Schafe habe ich eigenhändig erschossen. Die waren zu schwach, um überleben zu können. Und da sie den überlebensfähigen Tieren nicht das Futter wegfressen sollten, habe ich sie abgeknallt.« Abgeknallt... Brian Barton sagt das so distanziert wie ein Buchhalter, der auf einer Liste ein paar Posten abhakt. Ist er wirklich so cool, oder ist das eine aufgesetzte Beherrschung, hinter der sich die Emotionen verbergen? Nachdem er uns vormittags die Folgen der Dürre vor Augen geführt hat, interessiert uns nun auch dieser Mann, von dessen Habitus und Gestalt eine eigentümliche Anziehung ausgeht. Im Gegensatz zu den meisten Typen im Outback, ist Brian Barton ein schlanker Mensch. Sein kariertes Baumwollhemd quillt nicht, wie bei so vielen Farmern, über dem Gürtel der Jeans hervor, sondern es vermittelt, da es leger getragen wird, eine erotisierende Lässigkeit.
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Das gilt auch für den dunkelbraunen Cowboyhut, den nicht irgendwelche Vogelfedern oder bunte Bänder folkloristisch verkitschen, sondern der in seiner Schmucklosig’ keit einzig dem Zwecke dient, ein filigranes und gleichsam markantes Gesicht vor der Sonne zu schützen. Auf der Stirn, direkt über der Schatten spendenden Krempe, haben sich tiefe Furchen eingegraben. Das Sorgenvolle, das von ihnen ausgeht, wird aufgehoben durch die kurzen Falten, die sich um die blauen, matten Augen fächern und in denen sich der optimistische Zug dieses Charakters manifestiert. Die kräftigen Brauen sorgen für einen patriarchalischen Ausdruck. Die Lippen sind schmal und das Kinn und die Nase so ausgewogen geformt, daß sie die Balance dieses Gesichtes weder durch eine zu weiche noch durch eine kantige Note stören. Die prägnantesten Linien aber sind die Falten, die steil von den Backenknochen herabfallen und die jene graphische Neutralität erzeugen, die auch für die Landschaft im Outback charakteristisch ist. Daß Brian Barton mit der Männlichkeit, die er ausstrahlt, in keiner Weise kokettiert, sondern daß seine Gesten und Worte eher von Schüchternheit geprägt sind, mag an der dämpfenden Wirkung der Dürre liegen. Auf jeden Fall gäbe er mit dieser melancholischen Zurückgenommenheit den idealen Westernhelden ab, natürlich nicht den Rächer, sondern den Familienvater, der, auf der Suche nach Weideland und Heimat, den Wagen stoisch durch die Prärie lenkt. An Henry Fonda in seinen besten Tagen erinnert dieser Typ von der »Salt-Lake«-Farm, den man nun endlich auch nach seinen Emotionen fragen sollte. »Als Sie Ihre Schafe erschießen mußten, was haben Sie da empfunden?«
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»Empfunden ... ?« »Ist Ihnen das unter die Haut gegangen ...?« »Wie meinen Sie das: unter die Haut ... ?« »Welches Gefühl haben Sie dabei gehabt?« »Gefühl ...?« Brian Barton wirkt verlegen. Empfindungen zu artikulieren, überfordert ihn offenbar. Immer wieder nachzuhaken, würde ihn quälen. Also stellen wir eine Frage, auf die man auch ganz sachlich antworten kann: »Was ist zur Zeit Ihr größtes Problem?« »Die Zinsen für die Bank zu bezahlen.« »Hätten Sie eine berufliche Alternative zur Schafzucht?« »Wir sind mit den Schafen groß geworden. Wir haben doch nichts anderes gelernt. Büro oder so was? Nein: Das ist nichts für uns Männer im Outback.« Der Tag, an dem Jack im Busch verschwand Joana Barton, die Frau des Farmers, hängt gerade Wäsche auf, als wir am frühen Abend auf das Grundstück zurückkehren. Wir unterbrechen sie bei dieser Arbeit und stellen ihr ähnliche Fragen wie zuvor ihrem Mann. »Welche Auswirkungen hat das, was sie gerade erleben, auf Ihre Psyche?« »Morgens, wenn man aufwacht, denkt man zunächst: Wie überstehen wir diesen Tag ? So geht das seit Jahren j eden Morgen. Es ist doch klar, daß man allmählich sein Selbstwertgefühl verliert, daß man allmählich verzweifelt.« »Wer wird hier im Outback mit dieser Situation besser fertig: die Frauen oder die Männer?«
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»Schwer haben es natürlich alle. Wir Frauen haben wenigstens unsere Kinder, um die wir uns kümmern können; wir sind auch in der Lage, mit anderen über unsere Probleme zu sprechen. Aber die Männer hier draußen, das sind Einzelgänger. Diese einsamen Typen sind mit ihrer Herde auf du, mit ihren Hunden, mit der Landschaft... Aber mit anderen über ihre Probleme zu sprechen, über ihre Gefühle ... nein, das schafft auch Brian nicht.« »Hat diese Dürre Ihre Lebensphilosophie verändert?« »Ja: Wenn es uns eines Tages wieder besser gehen sollte, werde ich jeden Tag genießen, jede Stunde, jede Minute.« Joana Barton ist eine zierliche Frau, die ihrem Mann nicht einmal bis zur Schulter reicht. Wenn sie ihn dennoch an Präsenz überragt, dann liegt das daran, daß von ihrer Person eine größere Spannung ausgeht. Ihre Bewegungen schwanken ständig zwischen Dynamik und Gebrechlichkeit, der Blick ihrer blauen Augen wechselt zwischen Lebensfreude und Frustration. Der Schnitt ihres dunkelblonden Haares ist schlicht und hat dennoch Pfiff. Das Rouge auf den Lippen ist so geschickt aufgetragen, daß es den beabsichtigten Reiz ausübt, ohne die Grenze zur Aufdringlichkeit zu verletzen. Irgendwie hat man den Eindruck, diese grazile Frau von 41 Jahren wolle mit ihrer Erscheinung und ihren Gesten auch eine Botschaft vermitteln: Ich gehöre hier nicht her. Ich halte es hier nicht mehr aus. Ich will hier weg. Vielleicht auch: Ich bin etwas Besseres. Daß sie, wenn sie fahrig zum Weinglas greift, ihre Solidarität gegenüber der Farm und der Familie bekundet, ist kein Beweis für das Gegenteil, sondern belegt eher ihre Irritation über den inneren Zwiespalt, über das Hinundhergerissensein zwi-
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schen dem Fluchtgedanken und der Pflicht. In diesen Momenten, so scheint es, flackert in Joana Bartons Blick auch etwas Neurotisches auf. Und man fragt sich, ob die Melancholie ihres Mannes nicht auch von dem Druck herrührt, den eine permanent fordernde, in ihrer Nervenkraft geschwächte Frau ausüben kann. Geheiratet haben die beiden 1979, also vor 17 Jahren. Den Grundstein für die Farm legten Brians Großeltern, Einwanderer aus England, die 1860 mit dem Züchten von Schafen begannen. Auch Joana Bartons Eltern kamen im vergangenen Jahrhundert aus Großbritannien nach Australien. In der Nähe von Dubbo, etwa 700 Kilometer von der »Salt-Lake«-Station entfernt, gründeten sie eine Baumwollfarm, die, wie Joana immer wieder in die Unterhaltung einfließen läßt, »heute noch Gewinn abwirft«. Das Wort »Baumwolle« spricht Joana mit einer Betonung aus, die darauf schließen läßt, daß dieser Begriff nicht nur ein landwirtschaftliches Produkt bezeichnet, sondern auch eine besondere gesellschaftliche Stellung. Fühlen sich die Baumwollfarmer den Schafzüchtern überlegen, weil sie einen vergleichsweise sauberen Job haben, nicht der Pferch und die staubige Steppe ihre Arbeitsstätten sind, sondern das Labor und das wohlgeordnete Feld? Sicherlich nahm Joana Klavierunterricht, als Brian im Rodeo seinen ersten Bullen ritt. Es ist Joana, die antwortet, als wir die beiden vorsichtig nach ihrer Ehe fragen. »Wie haben Sie sich eigentlich kennengelernt?« »Das hat sich so ergeben. Meine Brüder kannten Brians Familie. Und so sind wir uns irgendwann mal begegnet.« »Wie war das in den ersten Monaten auf der ›Salt-Lake‹Station?«
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»Zu Hause bei Dubbo hatten wir allen Komfort: Tag und Nacht Elektrizität, einen Kühlschrank ... Ja, und hier draußen hieß es dann: nicht mehr als drei Stunden Strom am Tag. Den Kühlschrank haben wir mit Kerosin betrieben. Bis zu einer Hitze von 45 Grad hat das funktioniert. Leider ist es hier oft heißer als 45 Grad.« »Was war Ihr schlimmstes Erlebnis in den ersten Jahren?« »Das war der Tag, an dem Jack, unser Sohn, im Busch verlorenging. Wie oft habe ich später von diesem Tag geträumt ... Jack, sieben war er damals, verließ unser Grundstück gegen acht Uhr morgens, um ganz in der Nähe zu spielen. Gegen Mittag sollte er wieder zu Hause sein. Als er am frühen Nachmittag noch nicht zurück war, haben wir uns gesagt: Okay, zwei bis drei Stunden geben wir ihm noch. Um fünf Uhr nachmittags haben wir dann bei der Polizei in Bourke Alarm geschlagen. Gegen acht Uhr abends hat man Jack 25 Kilometer von unserem Haus entfernt gefunden. Er war völlig erschöpft. Seine Fußsohlen waren übersät mit Blasen. Gegen den Durst hatte er literweise schmutziges Wasser getrunken. Das hat ihm das Leben gerettet.« »25 Kilometer vom Haus entfernt ... Wie konnte das passieren?« »Ganz einfach: Jack wollte den Weg abkürzen, hat die Piste deswegen verlassen. Das ist in dieser Gegend das Schlimmste, was man machen kann. Der Busch ist ein Irrgarten.« »Hat man denn auf den Alarm sofort reagiert?« »Das war unglaublich: Innerhalb kürzester Zeit waren zwei Hubschrauber und zwei Flugzeuge zur Stelle. Wenig
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später rückte man mit Motorrädern an. 60 Freiwillige durchkämmten die Gegend zu Fuß. Man wußte ja: Wenn wir Jack nicht bis zum Einbruch der Dunkelheit finden, ist alles zu spät. Ich habe mich über das Radio für diesen phantastischen Einsatz bedankt, und Brian ist zum nächsten Pub gefahren und hat für die Helfer kistenweise Bier besorgt.« »Wie weit liegt der nächste Pub entfernt?« »100 Kilometer.« Haben wir Joana Barton nicht unrecht getan, als wir ihr, bevor sie mit ihrer Schilderung begann, einen Dünkel unterstellten? Ist es nicht verständlich, daß sich diese Frau angesichts der dramatischen Lebensumstände, denen sie hier draußen immer wieder ausgesetzt ist, manchmal zurücksehnt nach einer beschützten Existenz im Schatten einer Baumwollfarm? Ist es nicht, umgekehrt, von uns anmaßend, eindringen zu wollen in die Geheimnisse einer Familie, die wir gerade mal seit 24 Stunden kennen? Wir beruhigen unser Gewissen mit einer freundlichen Frage: »Was waren denn hier draußen Ihre schönsten Erlebnisse?« »Die schönsten Erlebnisse ...« Joana Barton hat gerade mit der Antwort begonnen, als sie von ihrem Mann, der dem Dialog bis dahin schweigend gefolgt ist, unterbrochen wird. Aus der Whiskyflasche, die wir ihm, auf Anraten unseres australischen Mitarbeiters, als Geschenk mitgebracht haben, fehlt bereits etwa ein Drittel des Inhalts. Sein Schwips verleiht ihm den Mut, sich einzubringen in den Dialog und seiner Frau und seinen Gästen zu signalisieren, daß er, der Herr von »Salt Lake«, sich im eigenen Haus nicht mit der Rolle des Zaungastes zufriedengeben wolle.
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»Zu den schönsten Erlebnissen«, sagt Brian Barton, »gehören die Partys, die wir hier draußen Anfang der achtziger Jahre gefeiert haben. 70, 80 Gäste kamen da, auch so mancher feine Pinkel aus der Stadt. Einmal war unter den Gästen eine junge Lady aus Sydney; die war mal mit Lady Di zusammen auf dem College. Plötzlich schrie die Dame laut auf: Auf einem ihrer Schuhe kringelte sich eine Schlange. Vor Schreck sprang die Lady in voller Kleidung in den Pool. Später soll sie zu ihren Freunden in Sydney gesagt haben: ›Das war die schönste Party meines Lebens.‹« Brian Barton kippt einen Whisky nach. Ein sentimentaler Glanz tritt in seine Augen. »Die Nachfrage nach Wolle riesengroß«, sagt er, »die Preise hoch wie nie zuvor: waren noch Zeiten, die achtziger Jahre.« In die Stimme des Farmers, der am Anfang unseres Besuches keinen Ton hervorgebracht hat, steigt plötzlich Euphorie. Doch da diese Begeisterung rückwärts gewandt ist und nicht auf einer hoffnungsfrohen Perspektive beruht, wirkt sie eher deprimierend als erleichternd. Ein Unbehagen nistet sich ein in unserer Runde, und die Beklemmung verstärkt sich, als zwischen den Bartons ein Konkurrenzkampf entbrennt, der die Höhepunkte eines gemeinsamen Lebens auf den Besitzanspruch reduziert. Joana Barton, deren Weinflasche inzwischen auch zur Hälfte geleert ist, holt eine Buddhafigur aus der Vitrine. Und während ihr Mann von weißen Stränden schwärmt, wiegt und betrachtet sie die Figur mit einer pathetischen Versonnenheit, die uns, den Besuchern, wohl signalisieren soll: Für mich war die Kultur das wichtigste bei unserem Urlaub in Thailand.
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Joana bleibt desinteressiert sitzen, als Brian uns auf die Veranda führt, wo er stolz auf eine Galerie von Pferdefotos zeigt. Jedes der schlanken Tiere trägt einen Siegeskranz um den Hals. Unter den Bildern ist der Name des Besitzers angegeben: Brian Barton. »War ’ne schöne Zeit«, sagt er. Brian Barton ist längst mit seinem Pick-up und seinen Hunden unterwegs in der Wildnis, als wir unsere Kamera im Kinderzimmer aufbauen. Wir wollen die beiden Söhne und die Tochter der Bartons bei einer in der Welt wohl einmaligen Art des Unterrichts drehen: der »School of the Air«. Dabei sind die Kinder, die auf den einsamen Farmen leben, per Mikrophon mit ihren Lehrern verbunden, die in Hunderten, oft Tausenden Kilometer Entfernung im Schulzentrum einer größeren Stadt sitzen. »Heute«, verkündet eine auf Märchenonkel getrimmte Stimme über den Lautsprecher, »heute erzähle ich euch die Geschichte von den Schafen und dem Schäferhund ...« Als wir die Szene einfangen wollen, wenden sich die Kinder ab, verbergen ihren Kopf in ihren zur Höhle geformten Händen. Die Depression, die die Dürre mit sich bringt, hat die ganze Familie erfaßt. Wir brechen die Dreharbeiten ab. Bevor wir abreisen, nimmt uns Joana Barton, die Mutter, noch einmal zur Seite. »Ich habe mich in Bourke«, sagt sie, »für einen Krankenschwesterkurs angemeldet. Ich muß etwas unternehmen. Ich muß Geld verdienen. Sonst halte ich es nicht mehr aus.« Es ist erstaunlich, wieviel wir in wenigen Tagen über eine Familie erfahren haben, zu der wir bisher keinerlei Kontakt hatten. Vielleicht hat ja unsere journalistische Neugier, die auf die Substanz unter der Oberfläche zielt, eine therapeutische Wirkung auf Menschen, die, gäbe es
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solche Besuche nicht, völlig auf sich allein gestellt wären. Sollte man gar, da man offenbar Vertrauen bei den Bartons genießt, die Rolle des Vermittlers übernehmen in diesem problematischen Haushalt? Nein, das wäre vermessen. Wir sind Beobachter, mehr nicht. Endlich Regen über Bourke Als Beobachter kehren wir gut zwei Wochen später zurück nach Bourke; diesmal für eine 45-Minuten-Dokumentation, die den Zusammenhang zwischen den Dramen der Natur und dem Schicksal der Menschen intensiver und differenzierter darstellen kann als ein kurzes Magazinstück. Der Veitstanz der Windhosen auf der ausgedörrten Erde, die mit Fliegen übersäten Kadaver von Schafen und Rindern in den Gräben am Straßenrand, die unbarmherzige Sonne: Nichts hat sich verändert in der Gegend während unserer kurzen Abwesenheit. Aber schwebt nicht dort hinten ein graues Wölkchen am Himmel? Und könnte die Farbe Grau, die wir in dieser Region bislang nur von den Skeletten der Bäume kannten, nicht Regen bedeuten? »Was meint ihr«, sagt Phil, der Besitzer unseres Motels am Darling River, »wieviel graue Wolken schon über Bourke hinweggezogen sind. Entladen haben sie sich meist ein paar hundert Kilometer weiter. Bourke, das könnt’ ihr mir glauben, liegt in einer Trockenzone. Das ist unser Schicksal.« »Und wenn es nun doch regnet?« »Das muß auch noch nicht viel bedeuten. Die paar Tropfen, die ein Schauer bringt, verdunsten doch sofort auf dem
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heißen Boden. Das haben wir früher auch schon alles erlebt.« Hat die Dürre die Menschen hier zu Defätisten gemacht, die sich eingerichtet haben in ihrem Pessimismus und sich deswegen auch gegen den Hoffnungsschimmer wehren? Oder ist es ein bodenständiger, auf Erfahrung beruhender Realitätssinn, der aus den Worten unseres Wirtes spricht? Aus dem grauen Wölkchen wird eine Wolkenwand, aus dem Wind ein Sturm. Die Kronen der Eukalyptusbäume am Darling River biegen, wiegen und schütteln sich wie in Ekstase. Der Himmel wird dunkler und dunkler. Die Blüten der Bougainvilleas entflammen vor diesem Hintergrund zu einer Pracht, die berauscht wie eine gefährliche Droge. Ein gelbes Flackern. Ein silbriges Zickzack. Ein Grummeln. Ein Krachen. Ein Grollen: Blitz und Donner über Bourke. Ein Rauschen. Ein Prasseln. Ein Plätschern: Regen ... »Es regnet«, sagt Phil, der Wirt. Es regnet: Einfacher kann man einen Zustand nicht beschreiben. Und doch – oder gerade deswegen – geht von diesen beiden Worten eine sakrale Wirkung aus, als habe eine der barmherzigen Schwestern des Städtchens verkündet, ihr sei soeben die Jungfrau Maria erschienen. »Richtiger Regen – oder wieder nur ein Tropfen auf den heißen Stein?« »Richtiger Regen«, antwortet Phil, der, um den Segen so sinnlich wie möglich zu spüren, immer wieder eine Hand in die Kaskade hält, die sich von der Dachrinne in den vor Feuchtigkeit dampfenden Garten ergießt. »Zwei bis drei Wochen Regen. Das könnte der Durchbruch sein.«
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»Zwei bis drei Wochen? Warum so lange?« »Weil der Boden nicht nur erhitzt ist, sondern auch knochenhart. Das Wasser sickert nicht ein in der ersten Phase, sondern es läuft lediglich ab. Ich bin gespannt, wie hoch morgen der Pegel des Darling River ist.« Als die Sonne aufgeht, reicht der Fluß, der am Tag zuvor höchstens ein Viertel seines Bettes füllte, bis zur Oberkante der Böschung. Ein paar Kilometer weiter hat er, wie wir beim Frühstück dem lokalen Radiosender entnehmen, bereits das Umland überschwemmt. Der Nachrichtensprecher pendelt ständig zwischen Euphorie, Irritation und Betroffenheit. Eben noch rollt er das »r« des magischen Wortes »rain«, als wolle er den ganzen Ort in den Sog der Glückseligkeit ziehen: »Rrrrain over Bourke; yes: It’s rrraining over Bourke.« Kaum ist der von seiner Stimme bis zum äußersten strapazierte Konsonant im Äther verrauscht, da muß er die dramatischen Konsequenzen des großen Regens verkünden: daß viele Pisten gesperrt und etliche Farmen von der Außenwelt abgeschnitten seien und daß man eine Familie nördlich von Bourke per Hubschrauber mit Medikamenten versorge. Unglaublich: Eine Gegend, die gestern noch unter der sengenden Sonne darbte, wird heute von einer Flut bedroht. So unwirklich erscheint uns noch immer die Szene, daß wir uns in manchen Momenten wie im Kino wähnen. Aber sind wir nicht hier, um selbst einen Film zu drehen? Jedenfalls nehmen wir dankend das Angebot unseres Wirtes an, mit der »River Queen«, seinem Motorboot, den bedrohlich anschwellenden Fluß zu erkunden. Das Wrack des Raddampfers, der einst bei Bourke sank und heute am Ufer als Museumsstück an die Zeiten der Pio-
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niere erinnert: Wo ist es geblieben? Gehören die Bäume, die zur Hälfte verschwunden sind im Wasser, nicht zu dem Park, in dem wir, bei unserem ersten Besuch in Bourke, zwischen den Domen der Termiten unser Picknick hatten? Das kleine Känguruh, das, als wir bei Corned beef und Bier unseren Drehplan diskutierten, nervös durch die ausgebleichten Gräser hoppelte: Hat es die Flut überlebt? Der Regen prasselt auf den Fluß. Die fetten Tropfen traktieren die gestern noch so träge Oberfläche wie tausend Peitschenhiebe. Winzige Schaumkronen bilden sich, fallen zusammen, zerrinnen. Das lindgrüne Wasser vermengt sich mehr und mehr mit dem rostigen Braun der Zuflüsse aus dem Outback. Wo sich die stählernen Bögen einer Brücke über den Darling River spannen, wartet eine Schar nackter Kinder auf unser Boot. Kurz bevor wir die Pfeiler erreicht haben, springen die Jungen und Mädchen, allesamt Aborigines, unter markerschütterndem Gejohle ins Wasser. Direkt neben unserem Boot tauchen sie, winkend und lachend, wieder auf. Werden sie die Hand aufhalten? Nein: Sie hampeln und strampeln, kraulen und kichern aus reiner Lebenslust. Die Straße über den Fluß führt in Richtung „Salt-Lake“Station, wo die Bartons leben. Wir wollen diese Familie, die wir schon für unsere »Weltspiegel«-Story gedreht haben, auch in unsere Dokumentation einbeziehen, und der dramatische Wechsel des Wetters erscheint uns als der ideale Zeitpunkt: Welche Folgen hat diese Zäsur für die Schafzucht? Wie wirkt sie sich auf das Zusammenleben aus? Ist der Regen die Rettung? Vom Boot wechseln wir in unseren Geländewagen. Wo die Betonpiste in einen Sandweg mündet, wird die Fahrt
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zur Strapaze. Die Räder bewegen sich wie auf Schmierseife. Immer wieder bricht das Auto aus zu den Rändern, schlittert und dreht sich, bleibt im Schlamm stecken, befreit sich, röhrend wie ein Road train, mit der letzten Kraft seiner 90 Pferdestärken. Wo sich Dellen befinden auf der Strecke hinaus zu den Bartons, staut sich das Wasser zu kleinen Seen. Wie tief ist das Wasser? Ein paar Meter? Ein paar Zentimeter? Augen zu, den ersten Gang rein – und durch. Auch wenn man die Augen wieder öffnet, sieht man zunächst nichts als den Schlamm, den die schlitternden und mahlenden Reifen gegen die Scheiben geschleudert haben. In dem Sektor, den der Scheibenwischer freigekämpft hat, erkennt man einen riesigen Sattelschlepper, der mit der Hinterachse abgerutscht ist in den Graben. Es hat aufgehört zu regnen, und so ist es dem Fahrer gelungen, am Rande der Piste ein Feuer zu entzünden. Dem Wärmen der Hände dürfte es nicht dienen; das Thermometer ist an diesem tropischen Tag auf knapp 40 Grad geklettert. Wir halten an und fragen den Fahrer. »Warum ich hier ein Feuer angezündet habe? Ganz einfach: Ich will mir ein Steak braten.« »Rechnen Sie damit, daß sie hier vorläufig nicht wegkommen?« »So ist es.« »Seit wann sitzen Sie hier fest?« »Seit gestern abend.« »Und wie lange, glauben Sie, werden Sie noch festsitzen?« »Ein paar Tage bestimmt. Es kann aber auch länger dauern. Neulich in Queensland hat es mehr als zwei Wochen
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gedauert, bis mein Sattelschlepper wieder frei war. Hängt alles vom Wetter ab ...« Vom Horizont schieben sich schwarze Wolkenbänke in unsere Richtung. Im Autoradio wird davor gewarnt, den Weg in Richtung »Salt Lake« zu benutzen: Überschwemmungsgefahr. Wäre es nicht vernünftiger, den Besuch bei den Bartons aufzuschieben und zurückzukehren nach Bourke, wo man, wenn der Himmel sich wieder ausschüttet, in die Behaglichkeit eines Motels fliehen kann? Wie weit ist es noch bis zur Farm unserer Familie? 120 Kilometer? Die werden wir schon schaffen. Also weiter. Die düstere Wand zieht vorbei: Seit einigen Stunden hat es nicht mehr geregnet, doch die Umgebung unserer Piste gleicht noch immer einem riesigen See. Phil hatte recht: Der Boden ist viel zu hart, als daß er das Wasser aufsaugen könnte. Wo während unserer ersten Tour die Emus kraftlos durch die ausgedörrte Wildnis torkelten und die Echse nach Luft japste, kreisen nun Reiher in der Hoffnung, daß sich wenigstens die Welt der Reptilien wieder belebt. Nach weiteren zehn, zwölf Kilometern werden wir Zeugen einer archaischen Prozedur. Einem klapprigen Pick-up ist durch die Flut offenbar der Motor abgesoffen. Das Auto hängt am Seil eines Geländewagens, der sich Meter für Meter durch den tiefen Schlamm und das brackige Wasser kämpft. Wenn das Seil reißt oder die Fahrzeuge steckenbleiben, löst das bei der Korona junger Leute, denen die Autos gehören, ein urschreiartiges Gejohle aus. Wenn es erforderlich ist, durch den Morast unter die Stoßstange zu robben, tut sich die einzige Frau in diesem Kreis, eine Blondine mit der kessen Präsenz eines Groupies, besonders hervor. Dicker Schlamm sprenkelt ihre Jeans, das querge-
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streifte T-Shirt und auch ihr Gesicht. Jeder erfolgreichen Aktion folgt ein kräftiger Schluck aus der Bierdose, die, wenn sie geleert ist, in hohem Bogen in die Landschaft fliegt, wo sie, zusammen mit anderem Müll, auf den zarten Wellen des Hochwassers schippert. Schafscherer seien sie, sagen die jungen Leute, die der Alkohol allesamt in jene euphorische Stimmung versetzt hat, in der man auch eine Panne als Abwechslung begreift. Ernsthaftigkeit kehrt in ihre Mienen erst zurück, als wir ihnen erzählen, daß wir auf dem Weg nach »Salt Lake« seien, der Farm der Bartons. »Unmöglich«, heißt es im Chor. »Alles überflutet«, begründet die Frau mit den Dreckspratzern das Urteil. Und so fahren wir als Kolonne zurück nach Bourke: vorneweg die übermütige Seilschaft der Schafscherer, am Ende unser Geländewagen, der auch aussieht, als habe er sich im Schlamm gesuhlt. Als wir Phil, dem Wirt, von unserem vergeblichen Ausflug berichten, erfahren wir, daß wir auf der Station ohnehin nur einen der Ehepartner angetroffen hätten: Brian Barton, den Patron. Joana, seine Frau, halte sich in Bourke auf, belege einen Kurs im Hospital und habe sich für diese Zeit eine kleine Wohnung gemietet. Der Beginn einer Trennung? »Nein«, sagt Joana Barton, als wir uns in einem Café treffen, »keine Trennung, aber ein kleiner Schritt vorwärts. Ich spüre, wie ich durch die neue Aufgabe mein Selbstwertgefühl zurückgewinne. Und wir brauchen, wie ich schon neulich sagte, ein Einkommen.« »Wie oft sind Sie draußen auf der Farm?« »Wenn es das Wetter zuläßt, an den Wochenenden.« »Wo leben Ihre Kinder?«
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»Bei mir in Bourke.« »Gehen die Kinder in Bourke zur Schule?« »Ja.« »Und wie kommt Brian mit der Situation klar?« »Es geht so.« Joana Barton hat also die Kinder mitgenommen und umschulen lassen. Ist das nicht mehr als ein »kleiner Schritt«? Wie mag es Brian da draußen wirklich gehen? Hat seine Frau bei dem Begriff »Trennung« nicht mit dem Anflug eines Nickens reagiert, um diese Bewegung, als ihr deren Dimension bewußt wurde, geistesgegenwärtig in ein Kopfschütteln münden zu lassen? Hat sich der Gedanke an eine Flucht aus der Tristesse von »Salt Lake« also nicht zumindest im Unterbewußtsein etabliert? So sehr wir uns auch bemühen, uns auf die Position von neutralen Beobachtern zu beschränken: Wir geraten, je länger wir uns aufhalten in Bourke und je mehr wir über unsere Protagonisten erfahren, unweigerlich in den Sog einer auch auf das Privatleben gerichteten Neugier, wobei die Erkenntnis, daß das Schicksal unserer Helden stark beeinflußt wird durch objektive Tatbestände wie eine verheerende Dürre, uns die ideale Rechtfertigung für unseren Voyeurismus liefert. Kein Zweifel: Wir sollten Brian Barton, wenn der Weg nach »Salt Lake« wieder frei ist, unbedingt auf seiner Farm besuchen und ihn nicht nur nach den Auswirkungen des Regens fragen, sondern auch nach seinem Gemütszustand. Zunächst aber müssen wir uns, auf Wunsch unserer Zentrale in Deutschland, für einige Tage mit dem Drama von Kobe beschäftigen, jener japanischen Stadt, die ein Erdbeben in Schutt und Asche legte.
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Whisky, Steaks und Erinnerungen Als wir von diesem gespenstischen Trip zurückkehren in den Wilden Westen Australiens, wölbt sich über Bourke wieder ein wolkenloser Himmel. Der Pegel des Darling River ist deutlich gesunken, die Piste zur Farm der Bartons befreit vom Schlamm. Von dem Sattelschlepper, der sich auf dieser Strecke festgefahren hatte, sind nur die breiten Spuren der Räder geblieben. Die Hitze malträtiert wieder die rostrote Erde, die vor zwei Wochen eine Seenplatte überzog. Dürre, Flut, Dürre: ein teuflischer, ein australischer Kreislauf. Eine elektrisierende Stille umgibt das Haus der Bartons. Die Tür zur Veranda steht offen, knarrt in ihren Scharnieren, wenn der Wind sie bewegt. Aus der Küche dringt dunkles Gemurmel, wie man es von Trauerfeiern kennt, bei denen die Gäste Erinnerungen an den Verstorbenen austauschen und auch die euphorischen Passagen pietätvoll dämpfen. Man sieht der Küche an, daß auf der »Salt-Lake«-Station die ordnende Hand der Hausfrau fehlt, die, nach den Prinzipien einer hier geltenden konservativen Arbeitsteilung, zuständig ist für Heim und Herd. Auf dem Fensterbrett breitet sich eine Batterie von Gläsern aus, an denen getrockneter Bierschaum klebt. Über einem der Stühle hängen Kleidungsstücke. In der Spüle türmt sich schmutziges Geschirr. Auf dem Tisch steht eine Whiskyflasche, aus der Brian Barton, als wir eintreten, seinem Gesprächspartner nachschenkt, den er als »Bruce« vorstellt. Bruce hat ein breites, freundliches Gesicht und gehört der Minderheit der Abori-
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gines an. »Bruce hat früher bei mir gearbeitet«, sagt der Farmer. »Auch für meine Rennpferde war er zuständig. Bruce war der beste Pferdepfleger in ganz Australien.« Die drei, vier Whisky, die, urteilt man nach dem Inhalt der Flasche, auch Brian schon gekippt hat, haben seinen Blick ein wenig getrübt und die Zunge schwerer gemacht. Der Eindruck der Hilflosigkeit, der von dem schleichenden Verlust der Kontrolle ausgeht, wird verstärkt durch die Bartstoppeln im Gesicht und sein schütteres, ungeordnetes Haar. Ach, hätte er doch nur seinen Cowboyhut auf, jenes Symbol des Wilden Westens, dessen schützende Wucht auch Unzulänglichkeiten ins Verwegene kehrt. So aber liegt die einzige Möglichkeit, die offenkundigen Schwächen zu kompensieren, in der Erinnerung an die Triumphe auf den Rennbahnen des Kontinents. Was die Fotos und Urkunden auf der Veranda dokumentieren, lebt auf im Dialog der beiden Männer, die, jeder auf seine Weise, in die Rolle von Außenseitern geraten sind und die dieses Schicksal wieder zusammengeführt hat. Wenn sie mit einem melancholischen Unterton über ihre Siege reden, dann liegt dies wohl an der Erkenntnis, daß diese großen Zeiten unwiederbringlich sind. Als die ruhmreiche Ära in allen Facetten besprochen ist und sich die Heldentaten zu wiederholen beginnen, holt Brian zwei riesige Steaks aus dem fast leeren Kühlschrank und läßt sie, ohne jede verfeinernde Zutat, in der Pfanne brutzeln. In einem Haus, das, als man für Wolle noch Spitzenpreise erzielte, die Hautevolee von Bourke zu Brunch und Dinner lud, reduziert sich die Mahlzeit auf ihre primitivste Form. Was würde Joana, die Tochter aus besserem Haus, zu diesem Verfall der Sitten sagen? Würde sie erken-
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nen, daß dieser seltsame Männerbund auch eine Solidargemeinschaft ist? Haben sich die beiden, als sie noch in Erinnerungen schwelgten, kaum um uns gekümmert, so signalisiert Brian, indem er uns einen Whisky anbietet, nun seine Bereitschaft, auch mit uns zu sprechen. Weil wir wissen, daß von der Antwort das Schicksal der Farm und wohl auch der Familie abhängt, stellen wir als erstes die Frage, die uns schon seit Tagen bewegt: »Was hat der Regen gebracht?« »Als die ersten dicken Tropfen fielen«, berichtet Brian Barton, »haben die Kinder vor Freude getanzt. Die hatten so etwas ja noch nie erlebt. Aber als das Tief dann nach ein paar Tagen in Richtung Küste zog, da habe ich mir gesagt: Das war noch nicht der Durchbruch.« »Was wäre denn der Durchbruch gewesen?« »Drei Wochen. Dann wäre der Boden weich geworden.« »Hat denn der Regen überhaupt nichts gebracht?« »Nun gut: Ich werde die Herde um ein paar hundert Schafe aufstocken. Aber wenn das die Banken mitbekommen, fordern sie sofort ihre Kredite zurück.« »Und Joana?« »Joana ist in Bourke.« Wir spüren, daß Brian diese Frage unangenehm berührt. Für ein paar Minuten erstarrt unsere Runde in Schweigen. Die Dämmerung taucht die Küche in jenes diffuse Licht, das auf den anheimelnd wirkt, der frohen Tagen entgegensieht, und denjenigen traurig stimmt, den das Glück verlassen hat. »Einen können wir noch«, sagt Brian und schenkt aus der Whiskyflasche nach. Die Kette der Erinnerungen an unsere erste, zweite und dritte Reise in die Gegend von Bourke endet mit dem
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unvergeßlichen Bild von Brian Barton, der, nun wieder den schützenden Cowboyhut auf dem Kopf, am Eingang seines Hauses steht und uns mit einer Ausdauer nachwinkt, als wollte er sagen: Kommt bald wieder, vielleicht auch: Grüßt mir Joana. Die Herberge zur letzten Hoffnung Immer wieder sind die Gedanken während unseres vierten Besuches in Bourke abgeschweift in die Vergangenheit. Nun aber, da die Rückbesinnung mit dem Eindruck vom einsamen Farmer gewissermaßen ein dramaturgisch perfektes Ende gefunden hat, gewinnt die Gegenwart wieder klare Konturen. Das Zentrum unseres Aufenthaltes ist, wie schon damals vor knapp zwei Jahren, der Tisch im Laubengang unseres Motels, wo wir wieder mal mit Phil, dem Wirt, zusammensitzen und ihn ausfragen nach der wirtschaftlichen Lage im Outback. »Hat sich die Situation in den vergangenen Jahren denn verbessert?« »Im Gegenteil: Seit ihr zuletzt hier wart, sind zahlreiche Stationen kaputtgegangen. Es hat zwar hin und wieder geregnet, aber gebracht hat es so gut wie nichts. Im Grunde befinden wir uns noch immer in einer Dürre. Auch auf den Weltmärkten sieht es nach wie vor schlecht aus. Viele Farmer haben Selbstmord begangen.« »Und Brian Barton?« »Der kommt gerade so über die Runden. Aber wer weiß, wie lange noch.« »Welche Perspektiven hat Bourke?«
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»Vereinzelt kaufen bereits Multis aus Asien marode Farmen auf, legen die Stationen zusammen, rationalisieren auf Teufel komm raus und schaffen sich Monopole für bessere Zeiten. Die können sich eine solche Durststrecke leisten, weil sie eine größere Kapitaldecke haben als unsere Farmer.« »Eine Perspektive haben also zunächst die Konzerne ...« »Ja, auch amerikanische Firmen gehören dazu. Die haben in der Nähe von Bourke große Baumwollfelder angelegt, mit einem Wasserreservoir, das sich aus dem Darling River speist.« »Und welche Zukunft haben die Einheimischen?« »Einige arbeiten bereits auf den Feldern, die sie vorher besessen haben. Auch die Baumwollindustrie schafft Arbeitsplätze. Außerdem wollen wir den Tourismus ankurbeln.« Vom Großgrundbesitz zur Lohnarbeit: Das Drama eines Strukturwandels verbirgt sich hinter Phils mit buchhalterischer Nüchternheit vorgetragenen Bestandsaufnahme. Auch wenn es der Himmel endlich gut meint mit dieser Gegend und sich die eine oder andere Farm durch einen Dauerregen wieder aufrappelt: Bourke steht vor einem Bruch. Ist das persönliche Schicksal der Bartons ein Symbol für diese gesellschaftliche Entwicklung? »Wie geht es Joana?« »Joana hat ihren Kursus am Krankenhaus abgeschlossen und arbeitet als Schwester.« »Lebt sie noch mit Brian zusammen?« »Sie wohnt noch immer in Bourke.« Man spürt, daß Phil, der geachtete Lokalpolitiker, sich scheut, weitere Details über das Privatleben dieser beiden
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Bürger zu verbreiten. Da diesem hilfsbereiten Mann aber auch unser Wohl am Herzen liegt, blättert er in seinem Adreßbuch und gibt uns Joanas Telefonnummer in Bourke. Es ist Sonntagmorgen, als wir sie anrufen. Sie lädt uns für den Abend in ihre Wohnung ein. Unnachgiebig jedoch, wie ein strenger Vater, besteht Phil darauf, daß wir, bevor wir Joana besuchen, den Terminplan für unseren letzten Tag in Bourke einhalten. Und darauf heißt es: »Vormittags Gottesdienst. Nachmittags Trinkerheim.« Ja, es ist wieder ein Sonntag angebrochen auf unserer Reise. Die Wärme, die allein von diesem Begriff ausgeht, wird heute angereichert durch die überaus sinnlichen Symbole und Rituale eines Gottesdienstes: das fordernde und dennoch anheimelnde Läuten der Glocken, das Aufbrausen der Orgel, die den Fährnissen der Existenz gänzlich entrückten Stimmen des Chores, das Gemurmel der Betenden. Der Pfarrer, ein hagerer Mann, der auf dem Weg zum Altar ein Gefäß mit Weihrauch schwenkte, bittet den Herrn in seiner Predigt um Regen. Seinen weißen Umhang zieren, was ungewöhnlich scheint für einen katholischen Geistlichen, die aufgestickten Konturen einer Schlange und eines Känguruhs. Das Gewand ist, wie uns Phil am Morgen verraten hat, ein Geschenk der Aborigines von Bourke, die bei diesem Gottesdienst die Mehrheit bilden und die, sei es als Messjunge oder Kalfaktor, auch eingebunden sind in die Liturgie. Man hat den Eindruck, daß die von der Sonne durchflutete Kirche eine Schutzburg ist für diese Menschen, für die der Alltag, wenn sie nicht gerade von einem einsamen Farmer zum Plausch über gemeinsame
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Triumphe auf der Rennbahn eingeladen sind, doch nur Verachtung und Langeweile übrig hat. Für die barmherzigen Schwestern der Mutter Teresa, die in Bourke das Heim für Trinker unterhalten, ist eine ganze Bankreihe reserviert. Die Frauen, auch das haben wir von Phil erfahren, stammen aus Sri Lanka und Europa. Sie haben den Kopf in ein blauweißes Tuch gehüllt. Das Weiß ihrer Gewänder steigert bei den Europäerinnen die marienhafte Blässe ins Anämische, das aber nichts Krankhaftes hat, sondern der Güte den letzten Rest von Pathos nimmt. Auch der Gesang der Schwestern ist frei von kitschigen Schwingungen. In seiner Reinheit spiegelt sich die Stärke jener Gläubigen wider, die die Schwelle des Zweifels überschritten haben. Als wir vor Wochen draußen in der Wildnis im »Heartbreak Hotel« zechten und die besoffenen Weiber im Swimmingpool kreischten, erlebten wir die Krönung einer ordinären Ausgelassenheit. Auch die männliche Melancholie, die der Schafzüchter Brian Barton repräsentiert, hat klassische Züge. An diesem Sonntagvormittag ist es die Unschuld, die uns in ihrer ganzen Größe gefangennimmt. Einige der Aborigines steigen, nachdem der Gottesdienst beendet ist, in einen der Busse, die vor der Kirche parken und den eine Schwester behutsam durch die Gasse steuert, die die nach Hause strebende Gemeinde ihr freimacht. Wir folgen dem Bus, denn nachdem wir lange gegen ihre Bescheidenheit ankämpfen mußten, haben uns die Frauen einen Besuchstermin eingeräumt. Die Herberge zur letzten Hoffnung liegt in einer Straße am Rande von Bourke und ist ein Flachbau, den man wohl
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Baracke nennen muß. Die Oberin, die aus dem früheren Jugoslawien stammt und über Kalkutta nach Bourke kam, führt uns zunächst in eine Küche, in der zwei Schwestern das Mittagessen zubereiten. Interviewen dürfen wir die Frauen nicht. Das verböten die Regeln des Ordens. Wir verlassen uns auf Bilder und Töne. Das Herzstück des Heimes ist ein Saal mit zehn bis zwölf Betten, der, da die Vorhänge nur zu einem Spalt geöffnet sind, auch an diesem grellen Sonntag in einem Halbdunkel verharrt, das uns Besuchern mit einem Schlag die sonntägliche Fröhlichkeit raubt, dem Kranken aber hilft, über seine malade Realität hinwegzudämmem. Den Schwestern haftet in diesem Zwielicht, wenn sie mit ihren langen, weißen Gewändern über die Flure huschen, etwas Gespensterhaftes an. Die kühle Geschmeidigkeit ihrer Bewegungen wirkt wie choreographisch einstudiert. Unseren Hang, solche Szenarien zunächst ästhetisch zu deuten, empfinden wir als zynische Manie, als wir an einem der Betten innehalten. Der Patient, um die 50 wird er sein, hat seinen Kopf mit einem nassen Tuch bedeckt und stöhnt in regelmäßigen Abständen auf. »Schädelprellung«, sagt die Oberin. An der Wand hängt ein unscheinbares Christuskreuz. Auf dem Nachttisch steht ein Marienbild. Daneben liegt das Häufchen der Habseligkeiten, die man dem Betrunkenen, nachdem der Notarzt ihn gestern Nacht eingeliefert hat, aus der Tasche zog: eine zerfranste Rolle Toilettenpapier, ein Korkenzieher, an die zwanzig verbogene Nippel von Bierdosen. Von seinem Bettnachbarn gibt die Decke nur ein paar schwarze Locken frei, ein Kofferradio dudelt einen Country-Song.
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Am Tisch in einer Ecke des Raumes versucht ein alter Mann, eine Packung mit Käse zu öffnen. Immer wieder bewegen sich Daumen und Zeigefinger zitternd auf den roten Streifen zu, den man wegziehen muß. Immer wieder verfehlen sie ihr Ziel. Das Gesicht dieses Mannes, der offenbar unter Entzugserscheinungen leidet, ist gezeichnet von Narben und Furchen. Auf seinem kahlen Schädel haben mehrere Brüche ihre Spuren hinterlassen. Mit der Entschlossenheit eines Stierkämpfers, der zum tödlichen Stich ansetzt, läßt der Alte ein letztes Mal seine Finger in Richtung Öffnung schnellen – vergebens. Er reißt mit den Zähnen an der Packung, reibt sie an der Kante des Tisches. Es nutzt nichts. Eine der Schwestern nimmt sich des Patienten an. Mit ihrer Hand führt sie seinen gewaltigen Daumen und seinen Zeigefinger zur Öffnung, ruckt an dem roten Streifen und zieht ihn hinunter. Die Gesichtszüge des Alten hellen sich auf, denn er glaubt, daß ihm selbst der Kraftakt gelungen sei. Wie ein artiges Kind läßt er sich von der Frau füttern. Als sie die letzte Käsescheibe mit Ketchup garniert, dankt er: »Thank you, love.« Er werde sich heute eine Krawatte umbinden. Schließlich sei heute Sonntag. »Ja«, sagt Joana Barton, als wir sie am Abend besuchen, »ohne die Schwestern wären wir verloren in Bourke.« Zwar sei das städtische Krankenhaus, an dem sie arbeite, bei schweren Fällen von Alkoholismus für die medizinische Betreuung der Aborigines zuständig, doch ohne die Nachsorge, vor allem aber die psychologische Betreuung im Trinkerheim hätte dies überhaupt keinen Wert. Besonders imponiere ihr, daß die Frauen für diesen harten Job keinerlei Geld kassierten.
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Der Exkurs über die barmherzigen Schwestern ist vorzüglich geeignet, sich Joana, die wir ja vor fast zwei Jahren zum letztenmal gesehen haben, auf unaufdringliche Weise wieder anzunähern. Nein, verändert hat sie sich äußerlich kaum, diese Frau von nunmehr 43 Jahren. Ihre Züge sind trotz aller Sorgen klar geblieben, und wenn ihre Bewegungen etwas fahrig sind, dann liegt das wohl daran, daß sie darauf bedacht ist, ihren Kindern und ihren Gästen die gleiche Aufmerksamkeit zu schenken. Ein massiver Eßtisch, ein Schrank, ein paar Regale: Der Kern der Wohnung, die Joana in Bourke gemietet hat, entspricht dem kargen Standard in Australien, wo sich die Menschen stark nach außen orientieren, lieber im Garten grillen als in der Stube vor der Mattscheibe sitzen. Auf einem der Regale steht ein Rahmen mit einem Foto von jenem Mann, der 200 Kilometer entfernt womöglich gerade von den guten alten Zeiten träumt, als die Wollpreise ganz oben waren, die Pferde von »Salt Lake« die Nase vorn hatten und am Pool die Korken knallten. Brian trägt auf dem Bild den Cowboyhut und blickt voller Optimismus in die Zukunft. Vor dem Rahmen liegt als Schmuck ein Gänseblümchen. Es ist, obwohl auf dem Rasen vor dem Haus Tausende von Gänseblümchen wachsen, aus Kunststoff. »Die barmherzigen Schwestern«, so schließen wir den Dialog über das Trinkerheim ab, »bekommen zwar für ihre Arbeit keinen Lohn, aber sie sind glücklich in ihrer Selbstlosigkeit. Und wie, Joana, geht es Ihnen?« »Auch ich habe im Krankenhaus einen der härtesten Jobs: Ich pflege Krebskranke, die sich im letzten Stadium befinden. Selbstverständlich bekomme und nehme ich
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Geld dafür. Als ich mein erstes Gehalt bekam, war das nach all den Jahren, in denen wir keinerlei Einkünfte hatten, sogar einer der glücklichsten Momente in meinem Leben.« »Und Brian? Wie oft sehen Sie Brian?« »Wir telefonieren häufig.« »Wie häufig?« »Jeden zweiten Tag.« Einer der Söhne, die Joana in Bourke eingeschult hat, meldet sich zu Wort. »Du rufst nie an«, sagt er zu seiner Mutter, »es ist immer nur Daddy, der anruft.« Wir haben das Bedürfnis, mit Brian Barton ein paar Worte zu wechseln und bitten Joana, uns die Nummer der Farm zu geben. Es klingelt zwei-, dreimal – und schon ist Brian am Apparat. Ist das Zufall? Oder sitzt Brian so nahe am Telefon, weil er sich nach einem Anruf sehnt? »Hallo, Brian, wir sind wieder in Bourke.« »Herzlich willkommen ... aber ihr müßt verrückt ...« »Wieso verrückt?« »Nach Bourke kommt man einmal und nie wieder.« »Wie geht’s draußen in ›Salt Lake‹?« »Geht so.« »Was heißt: Geht so?« »Ach, die Banken ...« »Habt ihr immer noch Dürre da draußen?« »Immer noch Dürre.« Man spürt, daß die Einsilbigkeit dieser Antworten nicht auf einer persönlichen Scheu uns gegenüber beruht. Die hat Brian damals bei unseren Besuchen in »Salt Lake« zweifellos überwunden. Vielmehr ist zu vermuten, daß die Hemmung, die sich hinter der lakonischen Reaktion ver-
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birgt, in der Angst gründet, es könnte eine ganz bestimmte Frau Zeugin unserer Unterhaltung sein, und wir hätten, schon durch die Wahl des Ortes, unsere Sympathie einseitig vergeben. Es entsteht eine jener beklemmenden Pausen, in denen jeder die Gedanken des anderen errät, aber keiner sich traut, sie zu äußern. Dann endlich, bricht Brian das Schweigen. »Von wo ruft ihr an?« »Von Joana.« »Von Joana?« »Ja. Sie läßt schön grüßen.« »Kommt ihr auch bei mir vorbei?« »Das schaffen wir nicht. Heute ist unser letzter Tag in Bourke.« Es geht auf Mitternacht zu. Es ist Zeit, sich von Joana Barton zu verabschieden, für die am frühen Morgen der Dienst im Krankenhaus beginnt. »Vielleicht«, sagt sie, als sie uns durch den Garten begleitet, »bin ich für das Leben auf einer Farm nicht geeignet.« Und als wolle sie uns zum Abschied schnell noch ein Geschenk machen, gibt sie uns einen Tip. »Bevor ihr Bourke morgen verlaßt, solltet ihr bei Marie Stephenson vorbeischauen. Sie wäre gern auf ihrer Farm geblieben. Aber das Schicksal wollte es nicht.« Marie Stephensons kleines Geschäft liegt in der Hauptstraße von Bourke. »Woolly Wombat« heißt der Laden. Der Wombat ist ein wuscheliges Nagetier, das es nur in Australien gibt und das bekannt ist für seine Überlebenskraft. Marie Stephenson sitzt, als wir ihren Laden betreten, hinter einem Spinnrad. Auch als sie uns aus ihrem dramatischen Leben berichtet, ordnet sie immer wieder die Fäden.
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MARIE STEPHENSON, LADENBESITZERIN, 48
I
ch träume oft von »Maritha«. Ich träume, daß ich abends auf der Veranda sitze, in der Hand ein eiskaltes Bier. Oder ich träume, daß ich auf meinem Motorrad durch den roten Sand schlittere. Ich höre das Blöken der Schafe, und ich hab’ den Geruch von Eukalyptus in der Nase. Wenn ich dann aufwache, könnte ich weinen. Der Traum ist vorbei, und die Wirklichkeit ist: Ich liege in meinem Bett in Bourke, »Maritha« ist verloren. Vor vier ]ahren mußten wir die Farm verkaufen, aber verwunden haben wir’s bis heute nicht. Wenn ich morgen im Lotto gewönne, wäre ich übermorgen wieder draußen im Busch. Keine Sekunde würde ich zögern, das weiß ich genau. Ich würde uns eine neue Farm kaufen, und dann nichts wie raus aus der Stadt. Klar, das Leben auf einer Station ist hart, manchmal knochenhart. Aber wenn du es erst mal erfahren hast, dann steckt es dir im Blut. Bei mir ist das jedenfalls so. Ich bin süchtig danach. Und obwohl ich in Bourke aufgewachsen bin: Ich mag’s hier nicht mehr, mir ist hier alles viel zu eng. Natürlich weiß
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ich, daß Bourke nach herkömmlichen Maßstäben kaum als Stadt bezeichnet werden kann. Verglichen mit Sydney oder Melbourne ist es sogar ausgesprochen ländlich. Aber wenn du gewöhnt bist, daß dein nächster Nachbar eine Autostunde ent’ femt ist, dann bedrängt dich sogar das verschlafene Bourke. Wenn ich früher nach Bourke zum Einkaufen kam, dann haben mich die Leute oft gefragt: Wie hältst du das bloß aus da draußen, was machst du den ganzen Tag, ist es nicht furchtbar langweilig und einsam ... Wer es nicht selber ausprobiert hat, der kann sich kaum vorstellen, wie abwechslungsreich so ein Leben auf einer Farm ist. Es ist immer etwas zu tun, der Tag hat nie genug Stunden. Du hast deinen Haushalt, du mußt die Kinder unterrichten, und dann kommt dein Mann und sagt: Ich schaffs nicht allein, du mußt mir auf den Weiden helfen. Ganz ehrlich, ich kann mich an keinen einzigen öden Moment erinnern, und es waren immerhin 25 Jahre, die John und ich zusammen im Busch verbracht haben. Neun Jahre lang haben wir »Ningawolla« bewirtschaftet, auf »Maritha« waren wir 16 Jahre. Unsere Kinder sind draußen aufgewachsen, und beide sind das, was wir hier »real bushys« nennen. Vor allem unser Sohn, Nathan. Für ihn war immer klar gewesen, daß er »Maritha« eines Tages übernehmen würde. Er hat sich überhaupt kein anderes Leben vorstellen können. Deshalb war er auch so enttäuscht, als wir verkauft haben. Aber wir mußten verkaufen, es blieb uns keine andere Wahl. Die Banken haben uns unter Druck gesetzt. Man hat uns damals gesagt: Wenn ihr jetzt verkauft, dann bleibt euch, nachdem ihr eure Schulden bezahlt habt, wenigstens noch ein kleiner Gewinn. Wenn ihr bei den derzeitigen Wollpreisen aber noch ein Jahr weiterwirtschaftet, dann seid ihr restlos pleite. Dann geht ihr als Bettler von der Scholle.
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Wir haben eine Weile nachgedacht, und schließlich haben wir »Maritha« zum Verkauf angeboten. Natürlich hätten wir bleiben können, aber dann hätten wir uns zu Tode gearbeitet. Oder einer von uns hätte Selbstmord begangen, es gab und gibt immer noch viele solcher Fälle auf dem Land. Wir haben die Farm in einem Superzustand übergeben. Es war eine tolle Saison, das Gras war unheimlich grün, und die Schafe hatten fast alle Zwillinge bekommen. Wenn ich daran zurückdenke, tut mir jetzt noch das Herz weh. Nach dem Verkauf der Farm wurde die Familie zunächst auseinandergerissen. Ich bin bei meiner Mutter in Bourke untergekrochen, hab’ mir meinen kleinen Woll-Laden eingerichtet. Die Kinder sind aufs College gegangen, und John hat Arbeit als Viehtreiber angenommen, 300 Meilen von hier, in der Nähe von White Cliffs. Sehen konnten wir uns damals nur alle zwei bis drei Monate. Wir haben uns meist in Ford’s Bridge getroffen, in einem Pub gut 50 Meilen nordwestlich von Bourke. Diese Kneipe ist der gesellschaftliche Mittelpunkt für die Farmer aus der näheren und weiteren Umgebung. Hier hatten wir schon früher immer unsere Freunde getroffen, und das wollten wir auch beibehalten. Übernachtet haben wir an diesen Wochenenden im Freien. Wir hatten unsere Schlafsäcke dabei und haben unter dem Sternenhimmel campiert. Unsere Freunde sagten immer: Na, habt ihr wieder im Starlight-Motel gebucht? Für uns war das keine Notlösung, im Gegenteil. Wir haben diese Nächte genossen. Die Sterne, die klare Luft, die vertrauten Geräusche des Outback. Manchmal machen wir das heute noch, obwohl John seit einigen Monaten Arbeit auf den Baumwollfeldern bei Bourke gefunden hat und wir wieder zusammenleben können. Kennen-
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gelernt hab’ ich John, als ich 16 war. Es war bei einem CricketMatch. Er war ein sehr guter Fänger, und das hat mir imponiert. Ich hab’ den Freund meiner Schwester gefragt: Wer ist der Typ da, kennst du den? Und der Freund meiner Schwester hat gesagt: Kein Problem, warte einen Moment, ich hol’ ihn dir. Später sind wir dann alle zusammen ins Kino gegangen. Ins Freiluftkino, das kostete nichts. Man saß draußen im Gras im Garten des Bowling-Clubs, und auf der Leinwand fand die Liebe statt. Nach diesem ersten Treffen stellte John sich bei Mum und Dad vor. Das machte man damals so, etwas anderes wäre undenkbar gewesen. Ich durfte nicht mit jedem ausgehen, mußte auch immer zu einer bestimmten Zeit zu Hause sein. Wir waren fünf Kinder und wurden ziemlich streng gehalten. Wenn du dein Zimmer nicht aufgeräumt hattest, durftest du nicht ins Kino gehen – na ja, wie das eben so war in der guten alten Zeit. Ich sehe das heute nicht negativ, im Gegenteil. Mein Dad hat mir beigebracht, immer proper zu sein, einen guten Job zu machen. Wir wurden auch angehalten, sparsam zu sein, und das hat sich später ausgezahlt, als John und ich draußen im Busch waren. Gleich nachdem wir geheiratet hatten, bin ich zu John nach »Ningawolla« gezogen, das damals noch seinen Eltern gehörte. Johns Vater hat mir alles beigebracht, was man wissen und können muß auf dem Land. Ich habe nicht nur gelernt, Zäune zu flicken, ich war auch von Anfang an bei der Arbeit mit den Schafen dabei. Wir hatten immer so an die 16 000 bis 18 000 Schafe, und da wird natürlich jede Hand gebraucht. Ich hab’ den Schafen die Ohrmarken gesetzt und auch beim Crutching geholfen. Crutching heißt: Ehe die Schafe Lämmer bekommen, muß die Wolle um den Schwanz herum beseitigt werden, damit sich dort keine Fliegen einnisten.
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Ich hab’ mich vom ersten Augenblick an zu Hause gefühlt auf der Farm. Ich dachte: Ja, das ist dein Leben; das ist das, was du immer wolltest. Motorradfahren zu lernen, das ist mir allerdings schwergefallen am Anfang. Ich bin permanent aus dem Sattel gekippt, weil das Gebiet so sandig war. Daran muß man sich erst gewöhnen. Aber wenn du auf einer Farm von Nutzen sein willst, mußt du Motorradfahren können. Die Farmen, die wir bewirtschaftet haben, waren beide jeweils an die 23 000 Quadratkilometer groß, und mit dem Bike kommst du am besten und schnellsten durch den Busch. Auch unsere Kinder hatten ihre eigenen Maschinen. Tanja war sechs, als sie ihr eigenes Motorrad bekam, Nathan gerade drei. Ich weiß noch, daß John Nathan eines Tages fragte: Willst du mir helfen, Schafe nach »Four Corners« zu bringen? Klar wollte der Junge, und die beiden fuhren zusammen los mit ihren Bikes. Nach einer halben Stunde war Nathan wieder zu Hause, völlig verzweifelt. Er sagte: O Mum, ich konnte Dad plötzlich nicht mehr sehen. Ich konnte überhaupt nichts mehr sehen, das Gras war so hoch. Noch während Nathan erzählte, fragte John übers Radio an, ob ich wisse, wo der Junge sei, er habe ihn aus den Augen verloren. Später hat Nathan dann viele Rennen mit seinem Motorrad gewonnen. Ganz ungefährlich war’s nicht, mit dem Motorrad durch den Busch zu preschen. Tanja hatte einen schlimmen Unfall, als sie acht Jahre alt war. Sie war gestürzt, und ihr linkes Bein sah schrecklich aus; es war total zerfetzt. Ich hab’ das Kind ins Auto gepackt und bin ins nächste Krankenhaus gerast, nach Bourke, anderthalb Stunden hat’s gedauert. Ich hab’ Eis in ein Tuch geknotet und es dem Kind in die Hand gedrückt. Ich hab’ ihr gesagt, sie soll das Eis auf die Wunde pressen, damit es aufhört
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zu bluten. Die ganze Fahrt über hat sie gejammert: Mama, es tut so weh, es tut so weh. Die Wunde ist dann mit 60 Stichen genäht worden, und bis heute hat Tanja eine riesige Narbe am Bein. Was ich am meisten vermisse, wenn ich an unser Leben im Busch denke: Wir waren ein Team, wir waren aufeinander angewiesen. John hat mich gebraucht, und das hat mir ein gutes Gefühl gegeben. Obwohl es nicht immer einfach war, manchmal sogar verdammt hart. Als John mit einem Nervenzusammenbruch im Krankenhaus lag, mußte ich das Crutching allein bewerkstelligen. Wie ich es geschafft habe – ganz ehrlich, ich weiß es heute nicht mehr. Ich weiß nur: Es regnete und regnete, ich stand bis zu den Knien im Wasser, und die Schafe drängten sich auf der Koppel. Ich nahm sie ran, eins nach dem anderen, aber es wollte und wollte kein Ende nehmen. Ich dachte nur: Du mußt durchhalten, und das habe ich dann auch getan. Wir hatten keine Verluste. Ein paar Jahre später haben wir bei einem Kälteeinbruch 2000 Schafe verloren. Sie waren gerade geschoren worden, als sich das Wetter über Nacht änderte. Es regnete, wurde kalt. Die Tiere bekamen Lungenentzündung, es war furchtbar. John ging raus auf die Weiden, und da sah er sie, wie sie versuchten, sich zu wärmen. Sie drängten sich gegen Baumstämme, suchten Schutz unter Büschen. Wir mußten viele erschießen, es war zum Verzweifeln. Ich kann schießen, klar. Mein Dad hat es mir beigebracht, als ich noch ein kleines Mädchen war. Ich durfte auf Kaninchen schießen, zuweilen auch auf Känguruhs, das war unser Hundefutter. Auf der Farm habe ich manchmal Lämmer erschießen müssen, wenn die Krähen ihnen die Augen ausgepickt hatten. Ein schrecklicher Anblick, ich hasse Krähen.
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Geschoren haben wir meist im März und unsere Wolle dann vor oder unmittelbar nach Ostern verkauft. Das Scheren war immer eine große Sache, der Höhepunkt des Jahres. Fünf Scherer kamen raus auf die Farm, außerdem Wollklassifizierer und -bearbeiter. Sie blieben 14 Tage, und für die Kinder war das natürlich eine tolle Zeit. Gleich nach dem Aufstehen rannten sie zu den Ställen und blieben bis zum Schlafengehen. Es wäre sinnlos gewesen, sie im Klassenzimmer halten zu wollen, sie hätten sich ohnehin nicht konzentrieren können. Wir haben den Stoff dann eben später nachgeholt. Ich habe beide Kinder bis zur sechsten Klasse unterrichtet, nach einem System, das wir »Correspondence« nennen. Es bedeutet: Lehrer aus Sydney schicken dir die Aufgaben, du arbeitest sie mit den Kindern durch und schickst alles zur Kontrolle zurück nach Sydney. Wir hätten uns auch an die »School of the Air« anschließen lassen können, das machen viele Outback-Familien. Dabei sitzen die Kinder zu Hause vor einem speziellen Radioempfänger und unterhalten sich mit den Lehrern. Mir hat die andere Methode aber mehr behagt, vielleicht auch deshalb, weil sie einem mehr Freiheit garantierte . Alle drei Monate haben die Lehrer uns besucht und einen Tag mit ihren Schülern verbracht. Sie haben dann zum Beispiel Sport mit ihnen getrieben. Die Kinder wußten ja gar nichts über Sport, nicht mal, wie man einen Ball richtig wirft. Oder wie man Wettläufe und Spiele organisiert. Es ist tatsächlich ein ganz anderes Leben da draußen. Ich habe in letzter Zeit oft gedacht: Eigentlich sind unsere Kinder von Anfang an wie Erwachsene behandelt worden. Ich mache mir manchmal Vorwürfe und denke: Vielleicht wäre es besser gewesen, sie hätten mehr Kontakt zu Gleichaltrigen gehabt. Erst
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im nachhinein ist mir auch klargeworden, daß ich eigentlich eher Lehrerin als Mutter für sie war. Wenn sie nach dem Unterricht kamen und drängten: Mum, los jetzt, spiel mit uns, dann mußte ich meistens sagen: Geht nicht, Daddy braucht mich ... Beschwert haben sich die beiden nie, im Gegenteil. Sie mochten das Leben auf der Farm, und als wir Nathan nach der fünften Klasse ins Internat schicken mußten, ist er vor Heimweh regelrecht krank geworden. Der Direktor war hilflos; es hat Monate gedauert, bis der Junge sich eingewöhnt hatte. Damals besuchten sowohl Tanja als auch Nathan eine Boardingschool, und das war nicht ganz billig. Aber damals ging es uns finanziell noch ganz gut. Das Elend begann, als unsere Schurhütten abbrannten. Das sind die Unterkünfte, in denen man die Jungs beherbergt, die ein- oder zweimal im Jahr zum Scheren auf die Farm kommen. Wir haben die Hütten so schnell wie möglich wieder aufgebaut, und das hat uns 120 000 Dollar gekostet. Die nächste große Summe wurde fällig, als wir »Ningawolla« verkaufen und nach »Maritha« ziehen wollten. John hatte »Maritha« von einem Onkel geerbt, und nach dem Tod seiner Eltern haben wir eine Zeitlang versucht, beide Farmen zu managen. Aber das war unmöglich, auf die Dauer wäre man dabei vor die Hunde gegangen. Um »Ningawolla« verkaufen und auf »Maritha« einigermaßen zeitgemäß leben zu können, mußten wir beide Stationen mit Elektrizität ausrüsten lassen. Jahrelang hatten wir im Busch mit 26 Volt existiert, erst ganz zum Schluß noch in einen 240-Volt-Motor investiert, mit dem wir auf »Ningawolla« unsere Waschmaschine und das Bügeleisen betrieben. Für die Stromversorgung mußten wir jeweils 36 000 Dollar zahlen, und natürlich sind wir davon ausgegangen, daß die Schurhütten mit angeschlossen werden. Das war
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aber nicht der Fall, man hat uns gesagt, dafür müßten wir noch mal 40 000 Dollar einkalkulieren. John hat dann in der Stadt erst mal einen Generator gekauft. Während der Schurzeit ist er jeden Abend rausgefahren zu den Hütten und hat Benzin nachgekippt, um das Ding am Laufen zu halten. Das Schlimme aber war, daß wir auch neue Schermaschinen kaufen mußten, weil die alten auf eine andere Stromstärke eingerichtet waren. Es war wie verhext: Wenn wir uns gerade von einem Schlag erholt hatten, kam bestimmt der nächste. Immer neue Katastrophen, immer neue Kosten. Mal fegte der Sturm eines unserer Windräder zu Boden, mal brauchten beide Kinder plötzlich Zahnspangen. Nichts Besonderes in der Stadt, klar, aber für uns bedeutete das: zum Zahnarzt nach Dubbo fahren, fünf Stunden hin, fünf zurück. Also Benzinkosten, Übernachtungen im Motel. So etwas kann man natürlich verkraften, wenn’s einem gutgeht. Wenn man aber ohnehin knapsen muß, schlägt auch die Beschaffung von Zahnspangen zu Buche. Endgültig den Rest hat uns aber dieser verdammte Brunnen gegeben. Carabee Bore heißt er und ist eigentlich sogar berühmt, das Zweitälteste Bohrloch in New South Wales. Ich glaube, 1890 ist man dort fündig geworden. Wir mußten sieben Koppeln mit dem Wasser vom Carabee versorgen, und das ist nicht wenig. Unser Wasser haben wir jeden Tag kontrolliert, ein absolutes Muß im Outback, denn ohne Wasser geht das Vieh zugrunde. An jenem Tag also, an den ich mich noch genau erinnere, denke ich beim Check-up: sieht ein bißchen modrig aus, was da aus dem Carabee sprudelt. Eigentlich wollte ich erst mal abwarten, um John nicht zu beunruhigen. Aber als er abends heimkam, sagte er: Das Wasser vom Carabee macht keinen guten Eindruck, ich glaube, wir sollten noch mal rausfahren. Das haben wir dann getan, acht Meilen sind’s von unserem
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Haus bis zum Carabee. Schon von weiten sahen wir die Katastrophe. Der Brunnen spuckte Schlamm, er hustete ihn förmlich hoch. Ich spüre ihn noch heute, den Schrecken, der uns damals in die Glieder fuhr. Gleich am nächsten Morgen ist John nach Dubbo gefahren. Zurück kam er mit einem Expertenteam. Die Männer haben eine Kamera in den Brunnen hinuntergelassen, und als die Aufnahmen entwickelt waren, haben sie uns gesagt: Da unten bricht alles zusammen, wenn ihr nichts dagegen tut, muß ein neuer Brunnen gebohrt werden. Wir haben gesagt: Bitte, bitte, versucht es, versucht es, ihn irgendwie zu reparieren. Wochen haben sie daran gearbeitet, für uns Wochen voller Unsicherheit. Ich weiß heute nicht mehr, wie wir’s durchgestanden haben. Gott sei Dank hatte es geregnet, unsere Tanks waren voll, so daß für die Tiere zumindest keine unmittelbare Gefahr bestand. Wäre uns das ganze während einer Dürreperiode passiert – nicht auszudenken. Die Tiere wären verdurstet. Irgendwann konfrontierten uns die Männer dann mit der Nachricht: Es hat keinen Zweck, wir schaffen es nicht. Eine Nacht geben wir ihm noch, wenn sich dann nichts tut, wissen wir auch nicht weiter. Am nächsten Morgen kam tatsächlich Wasser. Ein kleines Rinnsal nur statt Tausender von Gallonen, aber immerhin. Mit der Zeit funktionierte er besser und besser, auch wenn das Wasser nie wieder so üppig floß wie früher. Wir hatten also noch mal Glück gehabt, genutzt hat es uns trotzdem nicht viel. Die Reparaturen kosteten 40 000 Dollar, die Wollpreise fielen, die Banken rückten uns auf den Pelz. Natürlich haben wir in den letzten Jahren manchmal gedacht: Hätten wir noch warten sollen mit dem Verkauf, weiterkämpfen, weiterschuften, das Risiko eines totalen Bankrotts eingehen ...? Ich glaube, wir hätten es nicht geschafft. Wir hatten
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einfach keine Kraft mehr. John hatte bereits einen Nervenzusammenbruch hinter sich, und als die Sache mit dem Brunnen passierte, stand er kurz vor seinem zweiten. Heute hat John einen Job bei einer großen Gesellschaft, bekommt ein gutes Gehalt, hat pünktlich Feierabend. Trotzdem sehnt er sich zurück in den Busch, das weiß ich. Draußen geht’s ums Überleben, aber du bist dein eigener Herr. Was du tust – es ist für dich selber. John vermißt vor allem die Arbeit mit den Tieren, das war sein Leben. Die Hütehunde, die haben wir im übrigen alle noch, immerhin fünf. Nicht gerade ideal in einer Stadtwohnung. Die Nachbarn sind auch nicht sonderlich begeistert, aber um nichts auf der Welt könnten wir uns von diesen Hunden trennen. Hütehunde sind wirklich etwas ganz Besonderes, sie sind unheimlich klug und gewitzt, diese Hunde. Mein Collie saß immer vor mir auf dem Motorrad, wenn ich über die Paddocks geprescht bin. Als er ausgewachsen war, bin ich völlig verschwunden hinter ihm, es sah aus, als würde er das Motorrad steuern. Ich hab’ noch viele Fotos, die schau ich mir hin und wieder an. Wir und die Hunde, die Hunde und wir, bei den Schafen, vor dem Haus. Unser Sohn Nathan kann sich die Fotos kaum ansehen, er bekommt sofort Heimweh und wird furchtbar traurig. Er hat gerade das Landwirtschafts-College absolviert und träumt natürlich davon, irgendwann mal seine eigene Farm zu bewirtschaften. Einerseits kann ich mir nicht vorstellen, daß er es schafft. Andererseits: Man weiß doch nie, was das Leben für einen bereithält.
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„MEIN GOTT, 8000 KILOMETER ...“ Endstation: Sydney
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ie größte und älteste Stadt Australiens, Sydney, von wo wir zurückfliegen nach Europa, greift auf der Straßenkarte wie ein Krake nach Landschaft. Kein Zweifel: Die letzte Etappe unserer Reise endet in einer Metropole aus Beton, die zwar, wie wir von früheren Besuchen wissen, eine große urbane Faszination ausübt, die aber eben nichts mehr gemein hat mit den magischen Farben und den betörenden Düften des Outback. Wie Drogenabhängige, die ihren Joint durch allerlei Tricks strecken, suchen wir uns aus dem Netz der Wege, die zu unserem letzten Ziel führen, jene Routen aus, die uns so lange wie irgend möglich eine ländliche Szenerie garantieren. Aber irgendwann werden die Eukalyptusbäume mickriger, die Vögel flatterhafter, die Häuser gediegener, die Lastwagen kürzer. Und als in den »Blauen Bergen«, Sydneys lieblichem Vorgebirge, die Piste in einen vierspurigen Highway mündet, geraten wir endgültig in den Sog der dröhnenden City. Leitplanken, Autohäuser, Fabrikhallen, Polizeisirenen, Glaspaläste, Hupkonzerte: Die optischen und akustischen Reize wirken wie ein Schock auf uns, die wir vorgestern noch, im Garten von Phil, unserem Wirt in Bourke, auf
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den lindgrünen Darling-Fluß blickten, über dem eine Schar kreischender Kakadus im Zickzack kurvte. »8000 Kilometer«, murmelte der junge Mann fassungslos, der auf einem Hinterhof in der Nähe des Flughafens von Sydney unseren Landcruiser entgegennimmt und die Papiere kontrolliert. »8000 Kilometer«, wiederholt er und blickt uns so mitleidsvoll an, als hätten wir eine Tortur hinter uns. Daß es eine tolle Reise gewesen sei, sagen wir und zählen die Stationen auf: Darwin ... Kings Creek ... Cooper Pedy ... White Cliffy ... Bourke ... »Bourke?« »Ja: Bourke.« »Mein Gott, Bourke!« In drei, vier Jahren, das haben wir uns fest vorgenommen, wollen wir unsere Tour durch das australische Outback wiederholen. Ist aus dem »Heartbreak Hotel« nun doch ein Puff geworden? Hat Daly Waters endlich eine Krankenstation? Fängt Ian Conway noch wilde Kamele mit dem Lasso ein? Säuft der deutsche Baron in Coober Pedy noch immer soviel? Und schließlich: Wie geht es Brian Barton da draußen auf seiner Farm? Das muß man doch wissen – oder?
Auf der »Piste der Pioniere« führen Helga und Jürgen Bertram in eine Szenerie, die – mit all ihren Fährnissen und Schroffheiten – einzigartig ist in der Welt. Die Helden dieses Buches sind die vierschrötigen, oft schrulligen Charaktere der Wildnis: Farmer, die mit ihren Frauen und Kindern gegen eine jahrelange Dürre kämpfen; Opalschürfer, die im Dunkel der Schächte ihr Glück suchen; Schafscherer, die, hart arbeitend und hart trinkend, von einer Station zur anderen ziehen; Kamelfänger im »roten Zentrum« (nur in Australien gibt es noch wilde Kamele); Truck driver und Rinderzüchter; die couragierten Ladys im Outback; die Aborigines, die Ureinwohner des Kontinents. Die Hauptrolle aber spielt das große »Lucky Country« selbst.