suhrkamp taschenbuch Wissenschaft 341
Benjamin über Kafka Texte, Briefzeugnisse, Aufzeichnungen
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suhrkamp taschenbuch Wissenschaft 341
Benjamin über Kafka Texte, Briefzeugnisse, Aufzeichnungen
PT 2-Czi
Herausgegeben von Hermann Schweppenhäuser
»Eine Deutung des Dichters aus der Milte seiner Bilderwelt«, seiner »Sprache« und seiner »Gebärden« ist die Methode und das Ziel-von Benjamins Kafka-Studien. Komplement dieses von jahrzehntelanger germanistischer »Forschung« weder eingeholten noch gar überholten Vorgehens ist die Zurückweisung des Versuchs, ein »religionsphilosophisches Schema den Büchern Kafkas unterzuschieben«. Dabei gehört zur Dialektik von Benjamins Vorgehen, daß die als lnhalts-Schematisierungen zurückgewiesenen Desiderate der Theologie und Metaphysik in der »Deutung der Bildcrwelt« auf subtilste Weise wiederkehren. Denn in der Komposition der Sätze, Bilder und Gebärden Kafkas sieht Benjamin den geschieh dich bedingten Auflösungsprozeß von Metaphysik und Theologie sich selbst reflektieren. Als metaphysischer Abschied von der Metaphysik, der zugleich die geschichtsphilosophische Rettung ihrer Anliegen gegen ihre (Schein-)Lösungen ist, stellt Kafkas Werk die »Struktur« einer »die Frage aufhebenden Antwort«. Mit der Beschreibung dieser »Struktur« weist Benjamins Kafka-Deutung noch der neuesten strukturalistischen Kafka-Rezeption unbegangene Wege. Der vorliegende Band vereinigt die vier abgeschlossenen Texte Benjamins über Kafka, Ansätze zu einer geplanten Revision des großen Kafka-Essays und die umfangreiche Korrespondenz über Kafka, in der sich die Mehrschichtigkeit von Benjamins Studien durch die Einstellung auf die jeweiligen Adressaten und Mitunterredner (Scholem, Adorno, Kraft, Brecht) prismatisch in ihre Elemente zerlegt.
m W \ T Y OF COlOftA.no CtëRARÏES BOULDER, COLORADO
Suhrkamp
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Inhalt Texte Franz, Kafka, Zur zehnten Wiederkehr seines Todestages . Franz Kafka: Beim Bau der Chinesischen Mauer Kavaliersmoral Max Brod: Franz Kafka. Eine Biographie. Prag 1937 Nachweise .., Briefzeugnisse Aus der Korrespondenz mit Gershom Scholem Aus der Korrespondenz mit Werner Kraft Aus der Korrespondenz mit Theodor W. Adorno.
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Aufzeichnungen
suhrkamp taschenbuch Wissenschaft 34% Erste Auflage 1981 © Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 1981 Suhrkamp Taschenbuch Verlag Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags, der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen sowie der Übersetzung, auch einzelner Teile Satz: Philipp Hümmer» Waldbüttelbrunn Druck: Georg Wagner, Nördlingen Printed in Germany Umschlag nach Entwürfen von Willy Fleckhaus und Rolf Staudt CiP-Kurztitekufnahme der Deutschen Bibliothek
Benjamin, Walter; [Sammlung] Benjamin über Kafka; Texte, Briefzeugftisse, Aufzeichnungen / hrsg. yon Hermann Schweppenhausen l- Aufl. - Frankfurt am Main: Suhrkamp, icj&i. (Suhrkamp-Taschenbücher Wissenschaft; 341) ISBN 3-518-07941-7
1. Aufzeichnungen (bis 1928) a. Notizen zu Kafka »Der Prozeß« b. Idee eines Mysteriums . 2. Aufzeichnungen (bis 1931) a. Aufzeichnungen zu einem ungeschriebenen Essay und zum Vortrag von 1931 b. Aufzeichnungen im Tagebuch Mai-Juni 1931 3. Aufzeichnungen (bis Juni 1934) a. Motive und Disposition zum Essay von 1934 b. Diverse Aufzeichnungen zum Essay 4. Aufzeichnungen (bis August 1934) a.. Gespräche mit Brecht • b. Notizenzu dem Briefvomii. 8.1934 an Scholem .. 5. Aufzeichnungen (ab September 1934) a. Dossier von fremden Einreden und eigenen Reflexionen b. Entwürfe, Einschöbe, Notizen zu einer Umarbeitung des Essays . Editorische Notiz
¡FRANZ К АРКА
Zur zehnten Wiederkehr seines Todestages Potemkin Es wird erzählt: Potemkin litt an schweren mehr oder weniger regelmäßig wiederkehrenden Depressionen, während deren sich niemand ihm nähern durfte und der Zugang zu seinem Zimmer aufs strengste verboten war. Am Hofe wurde dieses Leiden nicht erwähnt, insbesondere wußte man, daß jede Anspielung darauf die Ungnade der Kaiserin Katharina nach sich zog. Eine dieser Depressionen des Kanzlers dauerte außergewöhnlich lange. Ernste Mißstände waren die Folgen; in den Registraturen häuften sich Akten, deren Erledigung, die ohne Unterschrift Potemkins unmöglich war, von der Zarin gefordert wurde, Die hohen Beamten wußten sich keinen Rat. In dieser Zeit geriet durch einen Zufall der unbedeutende kleine Kanzlist Schuwalkin in die Vorzimmer des Kanzlerpalais, wo die Staatsräte wie gewöhnlich jammernd und klagend beisammen standen, »Was gibt es, Excellenzen? Womit kann ich Excellenzen dienen?« bemerkte der eilfertige Schuwalkin. Man erklärte ihm den Fall und bedauerte, von seinen Diensten keinen Gebrauch machen zu können. »Wenn es weiter nichts ist, meine Herren,« antwortete Schuwalkin, »überlassen Sie mir die Akten. Ich bitte darum.« Die Staatsräte, die nichts zu verlieren hatten, ließen sich dazu bewegen, und Schuwalkin schlug, das Aktenbiindel unterm Arm, durch Galerien und Korridore den Weg zum Schlafzimmer Potemkins ein. O h n e anzuklopfen, ja ohne haltzumachen, drückte er die Türklinke nieder. Das Zimmer war nicht verschlossen. Im Halbdunkel saß Potemkin auf seinem Bett, nägelkauend, in einem verschlissenen Schlafrock. Schuwalkin trat zum Schreibtisch, tauchte die Feder ein und, ohne ein Wort zu verlieren, schob er sie Potemkin in die Hand,' den erstbesten Akt auf seine Knie. Nach einem abwesenden Blick auf den Eindringling, wie im Schlaf vollzog Potemkin die Unterschrift, dann eine zweite; weiter die sämtlichen. Als die letzte geborgen war, verließ Schuwalkin ohne Umstände, wie er gekommen war, sein Dossier unterm Arm, das Gemach. Triumphierend die Akten schwenkend trat er in das Vorzimmer. Ihm 9
entgegen stürzten die Staatsräte, rissen die Papiere aus seinen Händen. Atemlos beugten sie sich darüber. Niemand sagte ein Wort; die Gruppe erstarrte. Wieder trat Schuwalkin näher, wieder erkundigte er sich eilfertig nach dem Grund der Bestürzung der Herren. Da fiel auch sein Blick auf die Unterschrift, Ein Akt wie der andere war unterfertigt: Schuwalkin, Schuwalkin, Schuwalkin.., Diese Geschichte ist wie ein Herold, der dem Werke Kafkas zweihundert Jahre vorausstürmt. Die Rätselfrage, die sich in ihr wölkt, ist Kafkas. Die Welt der Kanzleien und Registraturen, der muffigen verwohnten dunklen Zimmer ist Kafkas Welt. Der eilfertige Schuwalkin, der alles so leicht nimmt und zuletzt mit leeren Händen da steht, ist Kafkas K. Potemkin aber, der halb schlafend und verwahrlost, in einem abgelegenen Raum, zu dem der Zugang untersagt ist, dahindämmert, ist ein Ahn jener Gewalthaber, die bei Kafka als Richter in den Dachböden, als Sekretäre im Schloß hausen, und die, so hoch sie stehen mögen, immer Gesunkene oder vielmehr Versinkende sind, dafür aber noch in den Untersten und in den Verkommensten den Türhütern und den altersschwachen Beamten - auf einmal unvermittelt in ihrer ganzen Machtfülle auftauchen können. Worüber dämmern sie dahin? Vielleicht sind sie Nachkommen der Atlanten, die die Weltkugel in ihrem Nacken tragen? Vielleicht halten sie darum den Kopf »so tief auf die Brust gesenkt, daß man kaum etwas von den Augen« sieht, wie der Schloßkastellan auf seinem Porträt oder Klamm, wenn er mit sich allein ist? Die Weltkugel aber ist es nicht, die sie tragen; nur daß schon das Alltäglichste ihr Gewicht hat: »Sein Ermatten ist das des Gladiators nach dem Kampf, seine Arbeit war das Wcißtünchen eines Winkels in einer Beamtenstube.« - Georg Lukács hat einmal gesagt: um heute einen anständigen Tisch zu bauen, muß einer das architektonische Genie von Michelangelo haben. Wie Lukács in Zeitaltem so denkt Kafka in Weltaltern. Weltalter hat der Mann beim Tünchen zu bewegen. Und so noch in der unscheinbarsten Geste. Vielfach und oft aus sonderbarem Anlaß klatschen Kafkas Figuren in die Hände. Einmal jedoch wird beiläufig gesagt, daß diese Hände »eigentlich Dampfhämmer« sind. In ständiger und langsamer Bewegung - versinkend oder stei10
gend - lernen wir diese Machthaber kennen. Furchtbarer aber sind sie nirgends, als wo sie aus der tiefsten Verkommenheit sich heben: aus den Vätern. Den stumpfen altersschwachen Vater, den er soeben sanft gebettet hat, beruhigt der Sohn: »>Sei nur ruhig, du bist gut zugedeckt.< - >Nein!< rief der Vater, daß die Antwort an die Frage stieß, warf die Decke zurück mit einer Kraft, daß sie einen Augenblick im Fluge sich ganz entfaltete, und stand aufrecht im Bett. N u r eine Hand hielt er leicht an den Plafond. >Du wolltest mich zudecken, das weiß ich, mein Früchtchen, aber zugedeckt bin ich noch nicht. Und ist es auch die letzte Kraft, genug für dich, zuviel für d i c h ! . , . Den Vater muß glücklicherweise niemand lehren, den Sohn zu durchschauen.« . . . - Und er stand vollkommen frei und warf die Beine. Er strahlte vor Einsicht. - . . . »Jetzt weißt du also, was es noch außer dir gab, bisher wußtest du nur von dir! Ein unschuldiges Kind warst du ja eigentlich, aber noch eigentlicher warst du ein teuflischer Mensch !<« Der Vater, der die Last des Dcckbetts abwirft, wirft eine Weltlast mit ihr ab. Weltalter muß er in Bewegung setzen, um das uralte Vatcr-Sohn-Verhältnis lebendig, folgenreich zu machen. Doch reich an welchen Folgen! Er verurteilt den Sohn zum Tode des Ertrinkens. Der Vater ist der Strafende. Ihn zieht die Schuld wie die Gerichtsbeamten an. Viel deutet darauf hin, daß die Beamten weit und die Welt der Väter für Kafka die gleiche ist. Die Ähnlichkeit ist nicht zu ihrer Ehre. Stumpfheit, Verkommenheit, Schmutz macht sie aus. Die Uniform des Vaters ist über und über fleckig; seine Unterwäsche ist unsauber. Schmutz ist das Lebenselement der Beamten. »Es war ihr unverständlich, wozu es überhaupt Parteienverkehr gab. >Um vorn die Haustreppe schmutzig zu machen<, hatte ihr einmal ein Beamter auf ihre Frage, wahrscheinlich im Ärger, gesagt, ihr aber war das sehr einleuchtend gewesen«. In dem Grade ist Unsauberkeit das Attribut der Beamten, daß man sie geradezu als riesenhafte Parasiten ansehen könnte. Das betrifft natürlich nicht die wirtschaftlichen Zusammenhänge, sondern die Kräfte der Vernunft und der Menschlichkeit, von denen diese Sippe ihr Leben fristet. So fristet aber auch der Vater in den sonderbaren Familien Kafkas von dem Sohn sein Leben, liegt wie ein ungeheurer Parasit auf ihm. Er zehrt nicht nur an seiner Kraft, er zehrt an seinem Rechte dazuU
sein. Der Vater, der der Strafende ist, ist zugleich auch der Ankläger. Die Sünde, deren er den Sohn bezichtigt, scheint eine Art von Erbsünde zu sein. Denn wen trifft die Bestimmung, welche Kafka von ihr gegeben hat, mehr als den Sohn: »Die Erbsünde, das alte Unrecht, das der Mensch begangen hat, besteht in dem Vorwurf, den der Mensch macht und von dem er nicht abläßt, daß ihm ein Unrecht geschehen ist, daß an ihm die Erbsünde begangen wurde.« Wer aber wird dieser Erbsünde der Sünde einen Erben gemacht zu haben - bezichtigt wenn nicht der Vater durch den Sohn? Somit wäre der Sündige der Sohn. Nicht aber darf man aus dem Satze Kafkas schließen, daß die Bezichtigung sündig sei, weil falsch. Nirgends steht bei Kafka, daß sie zu Unrecht erfolgt. Es ist ein immerwährender Prozeß, der hier anhängig ist, und es kann auf keine Sache ein schlechteres Licht fallen als auf die, für die der Vater die Solidarität dieser Beamten, dieser Gerichtskanzleien in Anspruch nimmL. Ал ihnen ist eine grenzenlose Korrumpierbarkeit nicht das Schlechteste. Denn ihr Kern ist von solcher Beschaffenheit, daß ihre Bestechlichkeit die einzige Hoffnung ist, die die Menschlichkeit in ihrem Angesicht hegen kann. Zwar verfügen die Gerichte über Gesetzbücher. Man darf sie aber nicht sehen. » > . . . es gehört zu der Art dieses Gerichtswesens, daß man nicht nur unschuldig, sondern auch unwissend verurteilt wird««, mutmaßt K. Gesetze und umschriebene Normen bleiben in der Vorwelt ungeschriebene Gesetze. Der Mensch kann sie ahnungslos überschreiten und so der Sühne verfallen. Aber so unglücklich sie den Ahnungslosen treffen mag, ihr Eintritt ist im Sinne des Rechts nicht Zufall sondern Schicksal, das sich hier in seiner Zweideutigkeit darstellt. Schon Hermann Cohen hat es in einer flüchtigen Betrachtung der alten Schicksalsvorstellung eine »Einsicht, die unausweichlich wird,« genannt, daß es seine »Ordnungen selbst sind, welche dieses Heraustreten, diesen Abfall zu veranlassen und herbeizuführen scheinen.« So steht es auch mit der Gerichtsbarkeit, deren Verfahren sich gegen K. richtet. Es führt weit hinter die Zeit der Zwölf-Tafel-Gesetzgebung in eine Vorwelt zurück, über die einer der ersten Siege geschriebenes Recht war. Hier steht zwar das geschriebene Recht in Gesetzbüchern, jedoch geheim, und auf sie gestützt, übt die Vorwelt ihre Herrschaft nur schrankenloser. 12
Die Zustände in Amt und Familie berühren sich bei Kafka mannigfaltig. Im Dorf am Schloßberg kennt mar eine Wendung, die darein leuchtet. »>Es ist hier die Redensart, vielleicht kennst du sie: Amtliche Entscheidungen sind scheu wie junge Mädchen.< >Das ist eine gute Beobachtung«, sagte K . , . . . >eine gute Beobachtung, die Entscheidungen mögen noch andere Eigenschaften mit Mädchen gemeinsam haben.<« Deren bemerkenswerteste ist wohl, zu allem sich zu leihen, wie die scheuen Mädchen, die K. im »Schloß« und im »Prozeß« begegnen, und die der Unzucht im Familienschoß sich wie in einem Bette anheimgeben. Er findet sie auf seinem Weg auf Schritt und Tritt; das weitere macht so wenig Umstände wie die Eroberung des Ausschankmädchens. »Sie umfaßten einander, der kleine Körper brannte in K.s Händen, sie rollten in einer Besinnungslosigkeit, aus der sich K. fortwährend, aber vergeblich zu retten suchte, paar Schritte weit, schlugen dumpf an Klamms Tür und lagen dann in den kleinen Pfützen Biers und dem sonstigen Unrat, von dem der Boden bedeckt war. Dort vergingen S t u n d e n , . . . in denen K. immerfort das Gefühl hatte, er verirre sich oder er sei so weit in der Fremde, wie vor ihm noch kein Mensch, eine Fremde, in der selbst die Luft keinen Bestandteil der Heimatluft habe, in der man vor Fremdheit ersticken müsse und in deren unsinnigen Verlockungen man doch nichts tun könne als weiter gehen, weiter sich verirren.« Von dieser Fremde werden wir noch hören. Bemerkenswert ist aber, daß diese hurenhaften Frauen nie schön erscheinen. Vielmehr taucht Schönheit in der Welt von Kafka nur an den verstecktesten Stellen auf: bei den Angeklagten zum Beispiel. » >Das allerdings ist eine merkwürdige, gewissermaßen naturwissenschafdiche Erscheinung... Es kann nicht die Schuld sein, die sie schön m a c h t . . . es kann auch nicht die richtige Strafe sein, die sie jetzt schon schön m a c h t . . . es kann also nur an dem gegen sie erhobenen Verfahren liegen, das ihnen irgendwie anhaftet.«« Aus dem »Prozeß« läßt sich entnehmen, daß dieses Verfahren hoffnungslos für die Angeklagten zu sein pflegt - selbst dann hoffnungslos, wenn ihnen die Hoffnung auf Freispruch bleibt. Diese Hoffnungslosigkeit mag es sein, die an ihnen als den einzigen Kafkaschen Kreaturen Schönheit zum Vorschein bringt. Zumindest würde das sehr gut mit einem Gesprächsfragment 13
übereinstimmen., das durch Max Brod überliefert wurde. »Ich entsinne mich«, schreibt er, »eines Gesprächs mit Kafka, das vom heutigen Europa und dem Verfall der Menschheit ausging. »Wir sind«, so sagte er, »nihilistische Gedanken, Selbstmordgedanken, die in Gottes Kopf aufsteigen.« Mich erinnerte das zuerst an das Weltbild der Gnosis: Gott als böser Demiurg, die Welt sein Sündenfall. >Oh nein«, meinte er, »unsere Welt ist nur eine schlechte Laune Gottes, ein schlechter Tag.< - >So gäbe es außerhalb dieser Erscheinungsform Welt, die wir kennen, Hoffnung?« - Er lächelte: »Oh, Hoffnung genug, unendlich viel Hoffnung - nur nicht für uns.«« Diese Worte schlagen eine Brücke zu jenen sonderbarsten Gestalten Kafkas, die als einzige dem Schöße der Familie entronnen sind und für die es vielleicht H o f f n u n g gibt. Das sind nicht die Tiere, nicht einmal jene Kreuzungen oder Gespinstwesen, wie das Katzenlamm oder Odradek. Alle diese vielmehr leben noch im Bann der Familie. Nicht umsonst erwacht Gregor Samsa gerade in der elterlichen Wohnung als Ungeziefer, nicht umsonst ist das eigentümliche Tier, halb Kätzchen, halb Lamm, ein Erbstück aus des Vaters Besitz, nicht umsonst Odradek die Sorge des Hausvaters. Die »Gehilfen« aber fallen in der Tat aus diesem Ringe heraus. Diese Gehilfen gehören einem Gestaltenkreis an, der das ganze Werk Kafkas durchzieht. Von ihrer Sippe ist so gut der Bauernfänger, der in der »Betrachtung« entlarvt wird, wie der Student, der nachts auf dem Balkon als Nachbar Karl Roßmanns zum Vorschein kommt, wie auch die Narren, die in jener Stadt im Süden wohnen und nicht müde werden. Das Zwielicht über ihrem Dasein erinnert an die schwankende Beleuchtung, in der die kleinen Stücke Robert Walsers - Verfasser des Romans »Der Gehülfe«, den Kafka sehr geliebt hat - ihre Figuren erscheinen lassen. Indische Sagen kennen die Gandharwe, unfertige Geschöpfe, Wesen im Nebelstadium. Von ihrer Art sind die Gehilfen Kafkas; keinem der anderen Gestaltenkreise zugehörig, keinem fremd: die Boten, die zwischen ihnen geschäftig sind. Sie sehen, wie Kafka sagt, dem Barnabas ähnlich, und der ist ein Bote. Noch sind sie aus dem Mutterschoße der Natur nicht voll entlassen und haben darum »sich in einer Ecke auf dem Boden auf zwei alten Frauenröcken eingerichtet. Es w a r . . . ihr E h r g e i z , . . . möglichst wenig Raum zu brauchen, sie machten in 4
dieser Hinsicht, immer freilich unter Lispeln und Kichern, verschiedene Versuche, verschränkten Arme und Beine, kauerten sich gemeinsam zusammen, in der Dämmerung sah man in ihrer. Ecke nur ein großes Knäuel.« Für sie und ihresgleichen, die Unfertigen und Ungeschickten, ist die Hoffnung da. Was zart unverbindlicher am Walten dieser Boten erkennbar wird, das ist auf lastende und düstere Art Gesetz für diese ganze Welt von Kreaturen. Keine hat ihre feste Stelle, ihren festen, nicht eintauschbaren Umriß: keine die nicht im Steigen oder Fallen begriffen ist; keine die nicht mit ihrem Feinde oder Nachbarn tauscht; keine welche nicht ihre Zeit vollbracht und dennoch unreif, keine welche nicht tief erschöpft und dennoch erst am Anfang einer langen Dauer wäre. Von Ordnungen und Hierarchien zu sprechen, ist hier nicht möglich. Die Welt des Mythos, die das nahelegt, ist unvergleichlich jünger als Kafkas Welt, der schon der Mythos die Erlösung versprochen hat. Wissen wir aber eins, so ist es dies: daß Kafka seiner Lockimg nicht gefolgt ist. Ein anderer Odysseus, ließ er sie »an seinen in die Ferne gerichteten Blicken« abgleiten, »die Sirenen verschwanden förmlich vor seiner Entschlossenheit, und gerade als er ihnen am nächsten war, wußte er nichts mehr von ihnen.« Unter den Ahnen, die Kafka in der Antike hat, den jüdischen und den chinesischen, auf die wir noch stoßen werden, ist dieser griechische nicht zu vergessen. Odysseus steht ja an der Schwelle, die Mythos und Märchen trennt. Vernunft und List hat Finten in den Mythos eingelegt; seine Gewalten hören auf, unbezwinglich zu sein. Das Märchen ist die Uberlieferung vom Siege über sie. Und Märchen für Dialektiker schrieb Kafka, wenn er sich Sagen vornahm. Er setzte kleine Tricks in sie hinein; dann las er aus ihnen den Beweis davon, »daß auch unzulängliche, ja kindische Mittel zur Rettung dienen können«. Mit diesen Worten leitet er seine Erzählung von dem »Schweigen der Sirenen« ein. Die Sirenen schweigen nämlich bei ihm; sie haben »eine noch schrecklichere Waffe als den G e s a n g , . . . ihr Schweigen«. Dieses brachten sie bei Odysseus zur Anwendung. Er aber, überlieferte Kafka, »war so listenreich, war ein solcher Fuchs, daß selbst die Schicksalsgöttin nicht in sein Innerstes dringen konnte. Vielleicht hat er, obwohl das mit Menschenverstand nicht mehr zu begreifen ist, wirklich gemerkt, daß die Sirenen schwiegen, und 15
hat ihnen und den Göttern den« überlieferten »Scheinvorgang nur gewissermaßen als Schild entgegengehalten.« Bei Kafka schweigen die Sirenen. Vielleicht auch darum, weil die Musik und der Gesang bei ihm ein Ausdruck oder wenigstens ein Pfand des Entrinnens sind. Ein Pfand der Hoffnung, das wir aus jener kleinen, zugleich unfertigen und alltäglichen, zugleich tröstlichen und albernen Mittelwclt haben, in welcher die Gehilfen zu Hause sind. Kafka ist wie der Bursche, der auszog, das Fürchten zu lernen. Er ist in Potemkins Palast geraten, zuletzt aber, in dessen Kellerlöchern, auf Josefine, jene singende Maus gestoßen, deren Weise er so beschreibt: »Etwas von der armen kurzen Kindheit ist darin, etwas von verlorenem, nie wieder aufzufindendem Glück, aber auch etwas vom tätigen heutigen Leben ist darin, von seiner kleinen, unbegreiflichen und dennoch bestehenden und nicht zu ertötenden Munterkeit.« Ein Kinderbild Es gibt ein Kinderbild von Kafka, selten ist die »arme kurze Kindheit« ergreifender Bild geworden. Es stammt wohl aus einem jener Ateliers des neunzehnten Jahrhunderts, die mit ihren Draperien und Palmen, Gobelins und Staffeleien so zweideutig zwischen Folterkammer und Thronsaal standen. Da stellt sich in einem engen, gleichsam demütigenden, mit Posamenten überladenen Kinderanzug der ungefähr sechsjährige Knabe in einer Art von Wintergartenlandschaft dar. Palmenwedel starren im Hintergrund. Und als gelte es, diese gepolsterten Tropen noch stickiger und schwüler zu machen, trägt das Modell in der Linken einen übermäßig großen H u t mit breiter Krempe, wie ihn Spanier haben. Unermeßlich traurige Augen beherrschen die ihnen vorbestimmte Landschaft, in die die Muschel eines großen Ohrs hineinhorcht. Der inbrünstige »Wunsch, Indianer zu werden« mag einmal diese große Trauer verzehrt haben: »Wenn man doch ein Indianer wäre, gleich bereit, und auf dem rennenden Pferde, schief in der Luft, immer wieder kurz erzitterte über dem zitternden Boden, bis man die Sporen Heß, denn es gab keine Sporen, bis man die Zügel wegwarf, denn es gab keine Zügel, und kaum das 16
Land vor sich als glatt gemähte Heide sah, schon ohne Pferdehals und Pferdekopf.« Vieles ist in diesem Wunsche enthalten. Die Erfüllung gibt sein Geheimnis preis. Er findet sie in Amerika. Daß es mit »Amerika« eine besondere Bewandtnis hat, geht aus dem Namen des Helden hervor. Während in den früheren Romanen der Autor sich nie anders als mit dem gemurmelten Initial ansprach, erlebt er hier mit vollem Namen auf dem neuen Erdteil seine ¡Neugeburt. Er erlebt sie auf dem Naturtheater von Oklahoma. »Karl sah an einer Straßenecke ein Plakat mit folgender Aufschrift: Auf dem Rennplatz in Clayton wird heute von sechs U h r früh bis Mitternacht Personal f ü r das Theater in Oklahoma aufgenommen! Das große Theater von Oklahoma ruft euch! Es ruft nur heute, nur einmal! Wer jetzt die Gelegenheit versäumt, versäumt sie für immer! Wer an seine Zukunft denkt, gehört zu uns ! Jeder ist willkommen! Wer Künstler werden will, melde sich! Wir sind das Theater, das jeden brauchen kann, jeden an seinem O r t ! Wer sich für uns entschieden hat, den beglückwünschen wir gleich hier! Aber beeilt euch, damit ihr bis Mitternacht vorgelassen werdet! Um zwölf U h r wird alles geschlossen und nicht mehr geöffnet! Verflucht sei, wer uns nicht glaubt! Auf nach Clayton!« Der Leser dieser Ankündigung ist Karl Roßmann, die dritte und glücklichcre Inkarnation des K., der der Held von Kafkas Romanen ist. Das Glück erwartet ihn auf dem Naturtheater von Oklahoma, das eine wirkliche Rennbahn ist, wie das »Unglücklichsein« ihn einst auf dem schmalen Teppich seines Zimmers befallen hatte, auf dem er »wie in einer Rennbahn« einherlief. Seitdem Kafka seine Betrachtungen »zum Nachdenken für Herrenreiter« geschrieben hatte, den »neuen Advokaten« »hoch die Schenkel hebend, mit auf dem Marmor aufklingendem Schritt« die Gerichtstreppen hatte hinaufsteigen und seine »Kinder auf der Landstraße« in großen Sätzen mit verschränkten Armen ins Land hatte traben lassen, ist ihm diese Figur vertraut gewesen und in der Tat kann es auch Karl Roßmann geschehen, »zerstreut infolge seiner Verschlafenheit, oft zu hohe zeitraubende und nutzlose Sprünge« zu machen. Darum also kann es nur eine Rennbahn sein, auf der er ans Ziel seiner Wünsche gelangt. Diese Rennbahn ist zugleich ein Theater, und das gibt ein Rätsel auf. Der rätselhafte Ort und die ganz rätsellose durch17
sichtige und lautere Figur des Karl Roßmann gehören aber zu sammen. Durchsichtig, lauter, geradezu charakterlos ist Karl Roßmann in dem Sinne nämlich, in dem Franz Rosenzweig in seinem »Stern der Erlösung« sagt, in China sei der innere Mensch »geradezu charakterlos; der Begriff des Weisen, wie ihn klassisch . . . Kongfutse verkörpert, wischt über alle mögliche Besonderheit des Charakters hinweg; er ist der wahrhaft charakterlose, nämlich der Durchschnittsmensch. . . Etwas ganz andres als Charakter ist es, was den chinesischen Menschen auszeichnet: eine ganz elementare Reinheit des Gefühls.« Wie immer man es gedanklich vermitteln mag - vielleicht ist diese Reinheit des Gefühls eine ganz besonders feine Waagschale des gestischen Verhaltens - in jedem Fall weist das Naturtheater von Oklahoma auf das chinesische Theater zurück, welches ein gestisches ist. Eine der bedeutsamsten Funktionen dieses Naturtheaters ist die Auflösung des Geschehens in das Gestische. Ja man darf weitergehen und sagen, eine ganze Anzahl der kleineren Studien und Geschichten Kafkas treten erst in ibr volles Licht, indem man sie gleichsam als Akte auf das Naturtheater von Oklahoma versetzt. Dann erst wird man mit Sicherheit erkennen, daß Kafkas ganzes Werk einen Kodex von Gesten darstellt, die keineswegs von Hause aus für den Verfasser eine sichere symbolische Bedeutung haben, vielmehr in immer wieder anderen Zusammenhängen und Versuchsanordnungen um eine solche angegangen werden. Das Theater ist der gegebene Ort solcher Versuchsanordnungen. In einem unveröffentlichten Kommentar zum »Brudermord« hat Werner Kraft scharfblickend das Geschehen dieser kleinen Gcschichte als ein szenisches durchschaut. »Das Spiel kann beginnen, und es wird wirklich durch ein Glockenzeichen angekündigt. Dieses entsteht auf die natürlichste Weise, indem Wese das Haus verläßt, in welchem sein Büro liegt. Aber diese Türglocke, heißt es ausdrücklich, ist >zu laut für eine Türglocke<, sie tönt »über die Stadt hin zum Himmel auf<.« Wie diese Glocke, für eine Türglocke zu laut, zum Himmel auftönt, so sind die Gesten Kafkascher Figuren zu durchschlagend f ü r die gewohnte Umwelt und brechen in eine geräumigere ein. Je weiter Kafkas Meisterschaft gedieh, desto öfter verzichtete er darauf, diese Gebärden üblichen Situationen anzupassen, sie zu erklären. » >Es ist auch eine sonderbare Art,«* 18
heißt es in der »Verwandlung«, »»sich auf das Pult zu setzen und von der H ö h e herab mit dem Angestellten zu reden, der überdies wegen der Schwerhörigkeit des Chefs ganz nahe herantreten muß.<« Solche Begründungen hat schon der »Prozeß« weit hinter sich gelassen. »Bei den ersten Bänken« macht K., im vorletzten Kapitel, »halt, aber dem Geistlichen schien die Entfernung noch zu groß, er streckte die Hand aus und zeigte mit dem scharf gesenkten Zeigefinger auf eine Stelle knapp vor der Kanzel. K. folgte auch darin, er mußte auf diesem Platz den Kopf schon weit zurückbeugen, um den Geistlichen noch zu sehn.« Wenn Max Brod sagt: »Unabsehbar war die Welt der für ihn wichtigen Tatsachen«, so war für Kafka sicher am unabsehbarsten der Gestus. Jeder ist ein Vorgang, ja man könnte sagen ein Drama, für sich. Die Bühne, auf der dieses Drama sich abspielt, ist das Welttheater, dessen Prospekt der Himmel darstellt. Andererseits ist dieser Himmel nur Hintergrund; nach seinem eigenen Gesetz ihn zu durchforschen, hieße den gemalten Hintergrund der Bühne gerahmt in eine Bildergalerie hängen. Kafka reißt hinter jeder Gebärde - wie Greco - den Himmel auf; aber wie bei Greco - der der Schutzpatron der Expressionisten war - bleibt das Entscheidende, die Mitte des Geschehens die Gebärde, Gebückt vor Schrecken gehen die Leute, die den Schlag ans H o f t o r vernommen haben. So würde ein chinesischer Schauspieler den Schreck darstellen, aber niemand zusammenfahren. An anderer Stelle spielt K. selbst Theater. Halb ohne es zu wissen, nahm er »langsam . . . mit vorsichtig aufwärts gedrehten Augen . . . vom Schreibtisch ohne hinzusehn eines der Papiere, legte es auf die flache Hand und hob es allmählich, während er selbst aufstand, zu den Herren hinauf. Er dachte hiebei an nichts Bestimmtes, sondern handelte nur in dem Gefühl, daß er sich so verhalten müßte, wenn er einmal die große Eingabe fertiggestellt hätte, die ihn gänzlich entlasten sollte.« Die größte Rätselhaftigkeit mit größter Schlichtheit verbindet dieser Gestus als tierischer. Man kann die Tiergeschichten Kafkas auf eine gute Strecke lesen, ohne überhaupt wahrzunehmen, daß es sich gar nicht um Menschen handelt. Stößt man dann auf den Namen des Geschöpfs — der Affen, des Hundes oder des Maulwurfs — so blickt man erschrocken auf und sieht, daß man vom Kontiig
tient des Menschen schon weit entfernt ist. Doch Kafka ist das immer; der Gebärde des Menschen nimmt er die überkommenen Stützen und hat an ihr dann einen Gegenstand zu Überlegungen, die kein Ende nehmen. Sie nehmen aber sonderbarerweise auch dann kein Ende, wenn sie von Kafkas Sinngeschichten ausgehen. Man denke an die Parabel »Vor dem Gesetz«. Der Leser, der ihr im »Landarzt« begegnete, stieß vielleicht auf die wolkige Stelle in ihrem Innern. Aber hätte er die nichtendenwoUende Reihe von Erwägungen angestellt, die diesem Gleichnis dort entspringen, wo Kafka seine Auslegung unternimmt? Das geschieht durch den Geistlichen im »Prozeß« - und zwar an einer so ausgezeichneten Stelle, daß man vermuten könnte, der Roman sei nichts als die entfaltete Parabel. Das Wort »entfaltet« ist aber doppelsinnig. Entfaltet sich die Knospe zur Blüte, so entfaltet sich das aus Papier gekniffte Boot, das man Kindern zu machen beibringt, zum glatten Blatt. Und diese zweite Art »Entfaltung« ist der Parabel eigentlich angemessen, des Lesers Vergnügen, sie zu glätten, so daß ihre Bedeutung auf der flachen Hand liegt. Kafkas Parabeln entfalten sich aber im ersten Sinne; nämlich wie die Knospe zur Blüte wird. Darum ist ihr Produkt der Dichtung ähnlich. Das hindert nicht, daß seine Stücke nicht gänzlich in die Prosaformen des Abendlandes eingehen und zur Lehre ähnlich wie die Haggadah zur Halacha stehen. Sie sind nicht Gleichnisse und wollen doch auch nicht für sich genommen sein; sie sind derart beschaffen, daß man sie zitieren, zur Erläuterung erzählen kann. Besitzen wir die Lehre aber, die von Kafkas Gleichnissen begleitet und in den Gesten K.'s und den Gebärden seiner Tiere erläutert wird? Sie ist nicht da; wir können höchstens sagen, daß dies und jenes auf sie anspielt. Kafka hätte vielleicht gesagt: als ihr Relikt sie überliefert; wir aber können ebensowohl sagen: sie als ihr Vorläufer vorbereitet. In jedem Falle handelt es sich dabei um die Frage der Organisation des Lebens und der Arbeit in der menschlichen Gemeinschaft. Diese hat К afka um so stetiger beschäftigt, als sie ihm undurchschaubar geworden ist. Wenn im berühmten Erfurter Gespräch mit Goethe Napoleon an die Stelle des Fatums die Politik gesetzt hat, so hätte Kafka - dieses Wort variierend - die Organisation als Schicksal definieren können. Und nicht nur in den ausgebreiteten Bcamten20
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hierarchien des »Prozesses« und des »Schlosses« steht sie ihm vor Augen, sondern greifbarer noch in den schwierigen und unübersehbaren Bauvorhaben, deren ehrwürdiges Modell er im »Bau der Chinesischen Mauer« behandelt hat. »Die Mauer sollte zum Schutz für die Jahrhunderte werden; sorgfältigster Bau, Benutzung der Bauweisheit aller bekannten Zeiten und Völker, dauerndes Gefühl der persönlichen Verantwortung der Bauenden waren deshalb unumgängliche Voraussetzung für die Arbeit. Zu den niederen Arbeiten konnten zwar unwissende Taglöhner aus dem Volke, Männer, Frauen, Kinder, wer sich für gutes Geld anbot, verwendet werden; aber schon zur Leitung von vier Taglöhnern war ein verständiger, im Baufach gebildeter Mann nötig . . . . Wir - ich rede hier wohl im Namen vieler - haben eigentlich erst im Nachbuchstabieren der Anordnungen der obersten Führerschaft uns selbst kennengelernt und gefunden, daß ohne die Führerschaft weder unsere Schulweisheit noch unser Menschenverstand für das kleine Amt, das wir innerhalb des großen Ganzen hatten, ausgereicht hätte.« Diese Organisation ähnelt dem Fatum. Metschnikoff, der in seinem berühmten Buch »Die Zivilisation und die großen historisehen Flüsse« ihr Schema gezeichnet hat, tut dies mit Wendungen, die von Kafka sein könnten, »Die Kanäle des Jangtse-Kiang und die Dämme des Hoang-ho«, schreibt er, »sind aller Wahrscheinlichkeit nach ein Resultat kunstvoll organisierter gemeinsamer Arbeit von . . . Generationen . , . Die kleinste Unachtsamkeit beim Stechen dieses oder jenes Grabens oder beim Stützen irgendeines Dammes, die geringste Nachlässigkeit, ein egoistisches Auftreten seitens eines Menschen oder einer Gruppe von Menschen in der Sache der Erhaltung des gemeinsamen Wasserreichtums, wird unter so ungewöhnlichen Verhältnissen die Quelle sozialer Übel und weitreichenden gesellschaftlichen Unglücks. Demnach fordert ein Fluß-Ernährer mit Todesdrohen eine enge und dauernde Solidarität zwischen jenen Massen der Bevölkerung, welche oft einander fremd, ja feindlich sind; er verurteilt Jedermann zu solchen Arbeiten, deren gemeinsame Nützlichkeit sich erst mit der Zeit offenbart, und deren Plan sehr oft einem gewöhnlichen Menschen ganz unverständlich bleibt.« Kafka wollte sich zu den gewöhnlichen Menschen gerechnet 2.1
wissen. Die Grenze des Verstehens hat sich ihm auf Schritt und Tritt aufgedrängt. Und gern drängt er sie andern auf. Er scheint manchmal nicht weit entfernt, mit Dostojewskis Großinquisitor zu sagen: »So haben wir denn ein Mysterium vor uns, das wir nicht begreifen können. Und eben weil es ein Rätsel ist, so hatten wir das Recht, es zu predigen, den Menschen zu lehren, daß das, woran gelegen ist, weder die Freiheit, noch die Liebe, sondern das Rätsel, das Geheimnis, das Mysterium ist, dem sie sich unterwerfen müssen - ohne Nachdenken und auch gegen ihr Gewissen.« Den Versuchungen des Mystizismus ist Kafka nicht immer aus dem Wege gegangen. Von seiner Begegnung mit Rudolf Steiner haben wir eine Tagebuchnotiz, die mindestens in der Gestalt, in der sie publiziert ist, die Stellungnahme Kafkas nicht enthält. Hat er sich ihr entzogen? Sein Verfahren den eigenen Texten gegenüber läßt das keinesfalls als unmöglich erscheinen. Kafka verfügte über eine seltene Kraft, sich Gleichnisse zu schaffen. Trotzdem erschöpft er sich in dem, was deutbar ist, niemals, hat vielmehr alle erdenklichen Vorkehrungen gegen die Auslegung seiner Texte getroffen. Mit Umsicht, mit Behutsamkeit, mit Mißtrauen muß man in ihrem Innern sich vorwärtstasten. Man muß sich Kafkas Eigenart zu lesen vor Augen halten, wie er sie in der Auslegung der genannten Parabel handhabt- Man darf auch an sein Testament erinnern. Die Vorschrift, mit der er die Vernichtung einer Hinterlassenschaft anbefahl, ist den näheren Umständen nach ebenso schwer ergründlich, ebenso sorgfältig abzuwägen, wie die Antworten des Türhüters vor dem Gesetz. Vielleicht wollte Kafka, den jeder Tag seines Lebens vor unenträtselbare Verhaltungsweisen und undeutliche Verlautbarungen gestellt hat, im Tode wenigstens seiner Mitwelt mit gleicher Münze heimzahlen. Kafkas Welt ist ein Welttheater. Ihm steht der Mensch von Haus aus auf der Bühne. U n d die Probe auf des Exempel ist: Jeder wird auf dem Naturtheater von Oklahoma eingestellt. Nach wclchen Maßstäben die Aufnahme erfolgt, ist nicht zu enträtseln. Die schauspielerische Eignung, an die man zuerst denken sollte, spielt scheinbar gar keine Rolle. Man kann das aber auch so ausdrücken: den Bewerbern wird überhaupt nichts anderes zugetraut, als sich zu spielen. Daß sie im Ernstfall sein könnten, was sie angeben, schaltet aus dem Bereich der Möglich22
keit aus. Mit ihren Rollen suchen die Personen ein Unterkommen im Naturtheater wie die sechs Pirandelloschen einen Autor. Beiden ist dieser O r t die letzte Zuflucht; und das schließt nicht aus, daß er die Erlösung ist. Die Erlösung ist keine Prämie auf das Dasein, sondern die letzte Ausflucht eines Menschen, dem, wie Kafka sagt, »sein eigener Stirnknochen . . , den Weg« verlegt. U n d das Gesetz dieses Theaters ist in dem versteckten Satz enthalten, den der »Bericht für eine Akademie« enthält: » . . . ich ahmte nach, weil ich einen Ausweg suchte, aus keinem anderen Grund.« K. scheint vor dem Ende seines Prozesses eine Ahnung von diesen Dingen aufzugehen. Er wendet sich plötzlich den beiden Herren im Zylinder zu, welche ihn abholen und fragt: »>An welchem Theater spielen Sie.< >Theater?< fragte der eine Herr mit zuckenden Mundwinkeln den andern um Rat. Der andere gebärdete sich wie ein Stummer, der mit dem widerspenstigen Organismus kämpft.« Sie beantworten die Frage nicht, aber manches deutet darauf hin, daß sie von ihr betroffen werden. An einer langen Bank, die man mit einem weißen Tuch bedeckt hat, werden alle, welche von nun ab am Naturtheater sind, bewirtet. »Alle waren fröhlich und aufgeregt«. Engel werden zur Feier von den Statisten gestellt. Sie stehen auf hohen Postamenten, die von wallenden Gewändern überdeckt in ihrem Innern eine Treppe haben. Die Zurüstungen einer ländlichen Kirmes, vielleicht auch eines Kinderfests, bei dem der eingeschnürte, aufgeputzte Knabe, von dem wir sprachen, die Traurigkeit seines Blicks verloren hätte. - Hätten sie nicht die umgebundenen Flügel, so wären diese Engel vielleicht echte. Sie haben ihre Vorläufer bei Kafka. Der Impresario gehört zu ihnen, der zu dem vom »ersten Leid« befallenen Trapezkünstler ins Gepäcknetz steigt, ihn streichelt und sein Gesicht an das eigene drückt, »so daß er auch von desTrapezkünstlers Tränen überflössen wurde.« Ein anderer, ein Schutz-Engel oder Schutz-Mann nimmt sich nach dem »Brudermorde« des Mörders Schmar an, der »den Mund an die Schulter des Schutzmannes gedrückt« leichtfüßig von ihm davongeführt wird. - In die ländlichen Zeremonien von Oklahoma klingt der letzte Roman Kafkas aus. »Bei Kafka - hat Soma Morgenstern gesagt - herrscht Dorfluft wie bei allen großen Religionsstiftern.« Hier darf man um so mehr an die 23
Darstellung der Frömmigkeit durch Laotse erinnern, als Kafka in dem »nächsten Dorfe« ihr die vollkommenste Umschreibung gewidmet hat: »Nachbarländer mögen in Sehweite liegen, I Daß man den Ruf der Hähne und Hunde gegenseitig hören kann: I U n d doch sollten die Leute im höchsten Alter sterben, 1 Ohne hin und her gereist zu sein.« Soweit Laotse. Kafka war auch ein Paraboliker, aber ein Religionsstifter war er nicht. Betrachten wir das Dorf, das am Fuße des Schloßbergs liegt, von dem aus K.s vorgebliche Berufung als Landvermesscr so rätselhaft und unerwartet bestätigt wird. Brod hat, im Nachwort zu diesem Roman, erwähnt, daß Kafka bei diesem Dorf am Fuße des Schloßbergs eine bestimmte Siedlung, Ziirau im Erzgebirge, vorgeschwebt habe. Wir dürfen aber noch ein anderes Dorf in ihm erkennen. Es ist das einer talmudischen Legende, die der Rabbi als Antwort auf die Frage erzählt, warum der Jude am Freitagabend ein Festmahl rüstet. Sie berichtet von einer Prinzessin, die in der Verbannung, von ihren Landsleutcn fern, und in einem Dorf, dessen Sprache sie nicht verstehe, schmachte. Zu dieser Prinzessin kommt eines Tages ein Brief, ihr Verlobter habe sie nicht vergessen, habe sich aufgemacht und sei unterwegs zu ihr. - Der Verlobte, sagt der Rabbi, ist der M essias, die Prinzessin die Seele, das Dorf aber, in das sie verbannt ist, der Körper. Und weil sie dem Dorf, das ihre Sprache nicht kennt, anders von ihrer Freude nichts mitteilen kann, rüstet sie ihm ein Mahl. - Mit diesem Dorf des Talmud sind wir mitten in Kafkas Welt. Denn so wie K. im Dorf am Schloßberg lebt der heutige Mensch in seinem Körper; er entgleitet ihm, ist ihm feindlich. Es kann geschehen, daß der Mensch eines Morgens erwacht, und er ist in ein Ungeziefer verwandelt. Die Fremde seine Fremde - ist seiner Herr geworden. Die Luft von diesem Dorf weht bei Kafka, und darum ist er nicht in Versuchung gekommen, Religionsstifter zu werden. Zu diesem Dorf gehört auch der Schweinestall, aus dem die Pferde für den Landarzt hervorkommen, das stickige Hinterzimmer, in welchem Klamm, die Virginia im Munde, vor einem Glas Bier sitzt, und das Hoftor, an das zu schlagen den Untergang mit sich bringt. Die Luft in diesem Dorf ist nicht rein voll all dem Ungewordenen und Uberreifen, das so verderbt sich ineinandermischt. Kafka hat sie sein Lebtag atmen müssen. Er war kein Man24
tiker und auch kein Religionsstifter. Wie hat er es in ihr ausgehalten? Das bucklicht Männlein
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Knut Hamsun, so erfuhr man vor längerer Zeit, habe die Gepflogenheit, hin und wieder den Briefkasten des Lokalblatts der kleinen Stadt, in deren Nähe er wohnt, mit seinen Ansichten zu beschicken. Es fand vor Jahren in dieser Stadt ein Schwurgerichtsprozeß gegen eine Magd statt, die ihr neugeborenes Kind umgebracht hatte. Sie wurde zu einer Gefängnisstrafe verurteilt. Bald darauf erschien im Lokalblatt eine Meinungsäußerung von Hamsun. Er sagt an, er werde einer Stadt den Rücken kehren, welche für eme Mutter, die ihr Neugeborenes töte, eine andere Strafe kenne als die schwerste; wenn schon nicht den Galgen, dann das lebenslängliche Zuchthaus. Es vergingen einige Jahre. »Segen der Erde« erschien und darinnen die Geschichte einer Dienstmagd, die das gleiche Verbrechen begeht, die gleiche Strafe erleidet und, wie der Leser deutlich erkennt, gewiß keine schwerere verdient hatte. Die nachgelassenen Reflexionen Kafkas, die im »Bau der Chinesischen Mauer« enthalten sind, geben Anlaß, sich dieses Hergangs zu erinnern. Denn kaum war dieser Nachlaßband erschienen, als sich, gestützt auf seine Reflexionen, eine Deutung Kafkas hervortat, die sich in deren Auslegung gefiel, um mit seinen eigentlichen Werken desto weniger Umstände zu machen. Zwei Wege gibt es, Kafkas Schriften grundsätzlich zu verfehlen. Die natürliche Auslegung ist der eine, die übernatürliche ist der andere; am Wesentlichen gehen beide - die psychoanalytische wie die theologische - in gleicher Weise vorbei. Die erste ist vertreten von Hellmuth Kaiser; die zweite von nun schon zahlreichen Autoren, wie H. J. Schoeps, Bernhard Rang, Groethuysen. Zu ihnen ist auch Willy Haas zu rechnen, der freilich in ferneren Zusammenhängen, auf die wir noch stoßen werden, Aufschlußreiches über Kafka bemerkt hat. Das hat ihn nicht davor bewahren können, das Gesamtwerk im Sinne einer theologischen Schablone auszudeuten. »Die obere Macht,« so schreibt er über Kafka, »den Bereich der Gnade, hat er dargesteht in seinem großen Roman >Das Schloß«, die untere, den Bereich des 25
Gerichts und der Verdammnis, in seinem ebenso großen Roman >Der Prozeß«. Die Erde zwischen b e i d e n , . . . das irdische Schicksal und seine schwierigen Forderungen hat er in strenger Stilisierung zu geben versucht in einem dritten Roman »Amerika«.« Das erste Drittel dieser Interpretation kann man, seit Brod, wohl als Gemeingut der Kafka-Interpretation betrachten, In diesem Sinne schreibt z.B. Bernhard Rang: »Sofern man das Schloß als den Sitz der Gnade ansehen darf, so bedeutet, theologisch gesprochen, eben dieses vergebliche Bemühen und Versuchen, daß sich die Gnade Gottes nicht willkürlich und willentlich vom Menschen herbeiführen und erzwingen läßt. Die Unruhe und Ungeduld verhindert und verwirrt nur die erhabene Stille des Göttlichen.« Bequem ist diese Deutung; daß sie unhaltbar ist, erscheint, je weiter sie sich vorwagt, desto klarer. Am klarsten daher vielleicht bei Willy Haas, wenn er erklärt: »Kafka k o m m t . . . von Kierkegaard wie von Pascal, man kann ihn wohl den einzigen legitimen Enkel Kierkegaards und Pascals nennen. Alle drei haben das harte, blutig harte religiöse Grundmotiv: daß der Mensch immer im Unrecht ist vor Gott.« Kafkas »Oberwelt, sein sogenanntes »Schloß« mit seinem unabsehbaren, kleinlichen verzwickten und recht lüsternen Beamtenstab, sein merkwürdiger Himmel treibt ein fürchterliches Spiel mit den Menschen. .. ; und doch ist der Mensch ganz tief im Unrecht sogar vor diesem Gott.« Diese Theologie fällt weit hinter die Rechtfertigungslehre Anselms von Canterbury in barbarische Spekulationen zurück, die im übrigen nicht einmal mit dem Wortlaut des Kafkaschen Textes vereinbar erscheinen. » »Kann denn« «, heißt es gerade im »Schloß«, » »ein einzelner Beamterverzeihen? Das könnte doch höchstens Sache der Gesamtbchörde sein, aber selbst diese kann wahrscheinlich nicht verzeihen, sondern nur richten.« « Der Weg, der so beschritten worden ist, hat sich schnell totgelaufen. »Das alles«, sagt Denis de Rougemont, »ist nicht der elende Stand des Menschen, der ohne Gott ist, sondern der Elendsstand des Menschen, der einem Gott verhaftet ist, den er nicht kennt, weil er Christum nicht kennt.« Es ist leichter, aus der nachgelassen Notizensammlung Kafkas spekulative Schlüsse zu ziehen, als auch nur eines der Motive zu ergründen, die in seinen Geschichten und Romanen auftreten. Aber nur sie geben einigen Aufschluß über die vorweltlichcn 26
Gewalten, von denen Kafkas Schaffen beansprucht wurde; Gewalten, die man freilich mit gleichem Recht auch als weltliche unserer Tage betrachten kann. Und wer will sagen, unter welchem Namen sie Kafka selbst erschienen sind. Fest steht nur dies: er hat in ihnen sich nicht zurechtgefunden. Er hat sie nicht gekannt. Er hat nur in dem Spiegel, den die Vorwclt ihm in Gestalt der Schuld entgegenhielt, die Zukunft in Gestalt des Gerichtes erscheinen sehen. Wie man sich dieses aber zu denken hat - ist es nicht das Jüngste? macht es nicht aus dem Richter den Angeklagten? ist nicht das Verfahren die Strafe? - darauf hat Kafka keine Antwort gegeben. Versprach er sich etwas von ihr? Oder war es ihm nicht vielmehr darum zu tun, sie hintanzuhalten? In den Geschichten, die wir von ihm haben, gewinnt die Epik die Bedeutung wieder, die sie im Mund Schehcrazades hat: das Kommende hinauszuschieben. Aufschub ist im »Prozeß« die Hoffnung des Angeklagten - ginge nur das Verfahren nicht allmählich ins Urteil über. Dem Erzvater selbst soll Aufschub zugute kommen, und müßte er seinen Platz in der Tradition dafür hergeben. »Ich könnte mir einen andern Abraham denken, der - freilich würde er es nicht bis zum Erzvater bringen, nicht einmal bis zum Altkleiderhändler - der die Forderung des Opfers sofort, bereitwillig wie ein Kellner zu erfüllen bereit wäre, der das Opfer aber doch nicht zustandebrächte, weil er von zuhause nicht fort kann, er ist unentbehrlich, die Wirtschaft benötigt ihn, immerfort ist noch etwas anzuordnen, das Haus ist nicht fertig, aber ohne daß sein Haus fertig ist, ohne diesen Rückhalt kann er nicht fort, das sieht auch die Bibel ein, denn sie sagt: »er bestellte sein Haus<«. »Bereitwillig wie ein Kellner« erscheint dieser Abraham. Etwas war immer nur im Gestus für Kafka faßbar. Und dieser Gestus, den er nicht verstand, bildet die wolkige Stelle der Parabeln. Aus ihm geht Kafkas Dichtung hervor. Es ist bekannt, wie er mit ihr zurückhielt. Sein Testament befiehlt sie der Vernichtung an. Dies Testament, das keine Befassung mit Kafka umgehen kann, sagt, daß sie ihren Autor nicht zufrieden stellte; daß er seine Bemühungen als verfehlt ansah; daß er sich selbst zu denen rechnete, die scheitern mußten. Gescheitert ist sein großartiger Versuch, die Dichtung in die I.ehre zu überführen und als Para-
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die im Angesicht der Vernunft ihm als die einzig geziemende erschienen ist. Kein Dichter hat das »Du sollst Dir kein Bildnis machen« so genau befolgt. »F.s war, als sollte die Scham ihn überleben« - das sind die Worte, die den »Prozeß« beschließen. Die Scham, die seiner »elementaren Reinheit des Gefühls« entspricht, ist die stärkste Gebärde Kafkas. Sie hat aber ein doppeltes Gesicht. Die Scham, die eine intime Reaktion des Menschen ist, ist zugleich eine gesellschaftlich anspruchsvolle. Scham ist nicht nur Scham vor den andern, sondern kann auch Scham für sie sein. So ist Kafkas Scham nicht persönlicher, als das Leben und Denken, das sie regiert und von dem er gesagt hat: »Er lebt nicht wegen seines persönlichen Lebens, er denkt nicht wegen seines persönlichen Denkens. Ihm ist, als lebe und denke er unter der Nötigung einer Familie . . . Wegen dieser unbekannten F a m i l i e . . . kann er nicht entlassen werden.« Wir wissen nicht, wie diese unbekannte Familie - aus Menschen und aus Tieren - sich zusammensetzt. N u r soviel ist klar, daß sie es ist, die Kafka zwingt, Weltalter im Schreiben zu bewegen. Dem Geheiß dieser Familie folgend, wälzt er den Block des geschichtlichen Geschehens wie Sisyphos den Stein. Dabei geschieht es, daß dessen untere Seite ans Licht gerät. Sie ist nicht angenehm zu sehen. Doch Kafka ist imstande, ihren Anblick zu ertragen. »An Fortschritt glauben heißt nicht glauben, daß ein Fortschritt schon geschehen ist. Das wäre kein Glauben.« Das Zeitalter, in dem Kafka lebt, bedeutet ihm keinen Fortschritt über die Uranfänge. Seine Romane spielen in einer Sumpfwelt, Die Kreatur erscheint bei ihm auf der Stufe, die Bachofen als die hctärische bezeichnet. Daß diese Stufe vergessen ist, besagt nicht, daß sie in die Gegenwart nicht hineinragt. Vielmehr: gegenwärtig ist sie durch diese Vergessenheit. Eine Erfahrung, die tiefer geht als die des Durchschnittsbürgers, trifft auf sie auf. »Ich habe Erfahrung,« lautet eine der frühesten Aufzeichnungen Kafkas, »und es ist nicht scherzend gemeint, wenn ich sage, daß es eine Seekrankheit auf festem Lande ist.« Nicht umsonst erfolgt die erste »Betrachtung« von einer Schaukel aus. Und unerschöpflich ergeht sich Kafka über die schwankende Natur der Erfahrungen. Jede gibt nach, jede vermischt sich mit der entgegengesetzten. »Es war im Sommer,« so beginnt der »Schlag ans Hoftor«, »einheißerTag. Ich kam auf 28
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dem Nachhauseweg mit meiner Schwester an einem H o f t o r vorüber. Ich weiß nicht, schlug sie aus Mutwillen ans Tor oder aus Zerstreutheit oder drohte sie nur mit der Faust und schlug gar nicht.« Die bloße Möglichkeit des an der dritten Stelle erwähnten Vorgangs laßt die vorangehenden, die zunächst harmlos erschienen, in ein anderes Licht treten. Es ist der Moorboden solcher Erfahrungen, aus denen die Kafkaschen Frauengestalten aufsteigen. Sie sind Sumpfgeschöpfe wie Leni, die »den Mittelund Ringfinger ihrer rechten Hand« auseinanderspannt, »zwischen denen das Verbindungshäutchen fast bis zum obersten Gelenk der kurzen Finger« reicht, — »»Schöne Zeiten,<« erinnert die zweideutige Frieda sich ihres Vorlebens, »>du hast mich niemals nach meiner Vergangenheit gefragt.«« Diese führt eben in den finsteren Schoß der Tiefe zurück, wo sich jene Paarung vollzieht, »deren regellose Üppigkeit«, um mit Bachofcn zu reden, »den reinen Mächten des himmlischen Lichts verhaßt ist und die Bezeichnung luteae voluptates, deren sich Arnobius bedient, rechtfertigt.« Von hier aus erst läßt sich die Technik, die Kafka als Erzähler hat, begreifen. Wenn andere Romanfiguren dem K. etwas zu sagen haben, so tun sie das ~ mag es das Wichtigste, mag es das Überraschendste sein - beiläufig und auf eine Weise, als müßte er es im Grunde längst gewußt haben. Es ist als wäre da nichts Neues, als ergehe nur unauffällig an den Helden die Aufforderung, sich doch einfallen zu lassen, was er vergessen habe. In diesem Sinne hat Willy Haas mit Recht den Hergang des »Prozesses« verstehen wollen u n d ausgesprochen, »daß der Gegenstand dieses Prozesses, ja der eigentliche Held dieses unglaublichen Buches, das Vergessen i s t , . . . d e s s e n . . . Haupteigenschaft ja ist, daß er sich selbst v e r g i ß t . . . Es ist hier selbst geradezu stumme Gestalt geworden in dieser Figur des Angeklagten, und zwar Gestalt von großartigster Intensität.« Daß »dieses geheimnisvolle Zentrum . . . der jüdischen Religion« entstammt, ist wohl nicht von der H a n d zu weisen. »Hier spielt das Gedächtnis als Frömmigkeit eine ganz geheimnisvolle Rolle. Es i s t . . . nicht eine, sondern die tiefste Eigenschaft sogar Jehovas, daß er gedenkt, daß er ein untrügliches Gedächtnis »bis ins dritte und vierte Geschlecht*, ja bis ins »hundertste* bewahrt; der heiligste . . . Akt des . . . Ritus ist die Auslöschung der Sünden aus dem Buch des Gedächtnisses.« 29
Das Vergessene - mit dieser Erkenntnis stehen wir vor einer weiteren Schwelle von Kafkas Werk - ist niemals ein nur individuelles. Jedes Vergessene mischt sich mit dem Vergessenen der Vorwelt, geht mit ihm zahllose, ungewisse, wechselnde Verbindungen zu immer wieder neuen Ausgeburten ein. Vergessenheit ist das Behältnis, aus dem die unerschöpfliche Zwischenwclt in Kafkas Geschichten ans Licht drängt. »Ihm gilt grade die f ü l l e der Welt als das allein Wirkliche. Aller Geist muß dinglich, besondert sein, um hier Platz und Daseinsrecht zu bekommen . . . Das Geistige, insofern es noch eine Rolle spielt, wird zu Geistern. Die Geister werden zu ganz individuellen Individuen, selber benannt und dem Namen des Verehrers aufs besonderste verbunden.. . Unbedenklich wird mit ihrer Fülle die Fülle der Welt noch ü b e r f ü l l t . . . Unbekümmert mehrt sich hier das Gedränge der G e i s t e r ; . . . immer neue zu den alten, alle eigennamentlich von einander geschieden.« Es ist nun freilich nicht Kafka, von dem hier die Rede ist - es ist China. So beschreibt Franz Rosenzweig im »Stern der Erlösung« den chinesischen Ahnenkult. Unabsehbar wie die Welt der für ihn wichtigen Tatsachen aber war für Kafka auch die seiner Ahnen und gewiß ist, daß sie, wie die Totembäume der Primitiven, zu den Tieren hinunterführte. Übrigens sind die Tiere nicht allein bei Kafka Behältnisse des Vergessenen. Im tiefsinnigen »Blonden Eckbert« Tiecks steht der vergessene Name eines Hündchens - Strohmianals Chiffre einer rätselhaften Schuld. So kann man verstehen, daß Kafka nicht müde wurde, den Tieren das Vergessene abzulauschen. Sie sind wohl nicht das Ziel; aber ohne sie geht es nicht. Man denke an den »Hungerkiinstler«, der »genau genommen, nur ein Hindernis auf dem Weg zu den Ställen war.« Sieht man das Tier im »Bau« oder den »Riesenmaulwurf« nicht grübeln, wie man sie wühlen sieht? Und doch ist auf der anderen Seite dieses Denken wiederum etwas sehr Zerfahrenes. Unschlüssig schaukelt es von einer Sorge zur anderen, es nippt an allen Ängsten und hat die Flatterhaftigkeit der Verzweiflung. So gibt es denn bei Kafka auch Schmetterlinge; aus dem schuldbeladenen »Jäger Gracchus«, der von seiner Schuld nichts wissen will, » >ist ein Schmetterling geworden< «. » >Lachen Sie nichts sagt der Jäger Gracchus.« — Soviel ist sicher: unter allen Geschöpfen Kafkas kommen am meisten die Tiere zum Nachden-
ken. Was die Korruption im Recht ist, das ist in ihrem Denken die Angst. Sie vcrpfuscht den Vorgang und ist doch das einzig Hoffnungsvolle in ihm. Weil aber die vergessenste Fremde unser Körper - der eigene Körper - ist, versteht man, wie Kafka den Husten, der aus seinem Innern brach, »das Tier« genannt hat. Er war der vorgeschobenste Posten der großen Herde. Der sonderbarste Bastard, den die Vorwelt bei Kafka mit der Schuld gezeugt hat, ist Odradek. »Es sieht zunächst aus wie eine flache sternartige Zwirnspule, und tatsächlich scheint es auch mit Zwirn bezogen; allerdings dürften es nur abgerissene, alte, aneinander geknotete, aber auch ineinander verfitzte Zwirnstücke von verschiedenster Art und Farbe sein. Es ist aber nicht nur eine Spule, sondern aus der Mitte des Sternes kommt ein kleines Querstäbchen hervor und an dieses Stäbchen fügt sich dann im rechten Winkel noch eines. Mit Hilfe dieses letzteren Stäbchens auf der einen Seite, und einer der Ausstrahlungen des Sternes auf der anderen Seite, kann das Ganze wie auf zwei Beinen aufrecht stehen.« Odradek »hält sich abwechselnd auf dem Dachboden, im Teppenhaus, auf den Gängen, im Flur auf«. Es bevorzugt also die gleichen Orte wie das Gericht, welches der Schuld nachgeht. Die Böden sind der O r t der ausrangierten, vergessenen Effekten. Vielleicht ruft der Zwang, vor dem Gericht sich einzufinden, ein ähnliches Gefühl hervor wie der, an jahrelang verschlossene Truhen auf dem Boden heranzugehen. Gern würde man das Unternehmen bis ans Ende der Tage aufschieben so wie K. seine Verteidigungsschrift geeignet findet, »einmal nach der Pensionierung den kindisch gewordenen Geist zu beschäftigen«. Odradek ist die Form, die die Dinge in der Vergessenheit annehmen. Sie sind entstellt. Entstellt ist die »Sorge des Hausvaters«, vor der niemand weiß, was sie ist, entstellt das Ungeziefer, von dem wir nur allzu gut wissen, daß es den Gregor Samsa darstellt, entstellt das große Tier, halb Lamm halb Kätzchen, für das vielleicht »das Messer des Fleischcrs eine Erlösung« wäre. Diese Figuren Kafkas aber sind durch eine lange Reihe von Gestalten verbunden mit dem Urbilde der Entstellung, dem Buckligen. Unter den Gebärden Kafkascher Erzählungen begegnet keine häufiger als die des Mannes, der den Kopf tief auf die Brust herunterbeugt. Das ist die Müdigkeit bei den Gerichts31
herren, der Lärm bei den Portiers in dem Hotel, die niedere Decke bei den Galeriebesuchcrn. In der »Strafkolonie« aber bedienen sich die Gewalthaber einer altertümlichen Maschinerie, die verschnörkelte Lettern in den Rücken der Schuldigen eingraviert, die Stiche mehrt, die Ornamente häuft solange, bis der Rücken der Schuldigen hellsehend wird, selber die Schrift entziffern kann, aus deren Lettern er den Namen seiner unbekannten Schuld entnehmen muß. Es ist also der Rücken, dem es aufliegt. U n d ihm liegt es bei Kafka seit jeher auf. So in der frühen Tagebuchnotiz: »Um möglichst schwer zu sein, was ich für das Einschlafen f ü r gut halte, hatte ich die Arme gekreuzt und die Hände auf die Schulter gelegt, so daß ich dalag wie ein bepackter Soldat.« Handgreiflich geht hier das Beladensein mit dem Vergessen - des Schlafenden - zusammen. Im »Bucklichen Männlein« hat das Volkslied das GIciche versinnbildlicht. Dies Männlein ist der Insasse des entstellten Lebens; es wird verschwinden, wenn der Messias kommt, von dem ein großer Rabbi gesagt hat, daß er nicht mit Gewalt die Welt verändern wolle, sondern nur um ein Geringes sie zurechtstellen werde. »Geh ich in mein Kämmerlein, I Will mein Bettlein machen; I Steht ein bucklicht Männlcin da, I Fängt als an zu lachen.« Das ist das Lachen Odradeks, von dem es heißt: »Es klingt etwa so, wie das Rascheln in gefallenen Blättern.« »Wenn ich an mein Bänklein knie, I Will ein bißlein beten; I Steht ein bucklicht Männlein da, I Fängt als an zu reden. I Liebes Kindlein, ach ich bitt, I Bet' für's bucklicht Männlein mit!« So endet das Volkslied. In seiner Tiefe berührt Kafka den Grund, den weder das »mythische Ahnungswissen« noch die »existentielle Theologie« ihm gibt. Es ist der Grund des deutschen Volkstums so gut wie des jüdischen. Wenn Kafka nicht gebetet hat - was wir nicht wissen - so war ihm doch aufs höchste eigen, was Malebranche »das natürliche Gebet der Seele« nennt - die Aufmerksamkeit. Und in sie hat er, wie die Heiligen in ihre Gebete, alle Kreatur eingeschlossen.
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Sancho Pansa In einem chassidischen Dorf, so erzählt man, saßen eines Abends zu Sabbath-Ausgang in einer ärmlichen Wirtschaft die Juden. Ansässige waren es, bis auf einen, den keiner kannte, einen ganz ärmlichen, zerlumpten, der im Hintergrund im Dunkeln einer Ecke kauerte. H i n und her waren die Gespräche gegangen. Da brachte einer auf, was sich wohl jeder zu wünschen dächte, wenn er einen Wunsch frei hätte. Der eine wollte Geld, der andere einen Schwiegersohn, der dritte eine neue Hobelbank, u n d so ging es die Runde herum. Als jeder zu Worte gekommen war, blieb noch der Bettler in der dunklen Ecke. Widerwillig und zögernd gab er den Fragern nach: »Ich wollte, ich wäre ein großmächtiger König und herrschte in einem weiten Lande und läge nachts und schliefe in meinem Palast und von der Grenze bräche der Feind herein und ehe es dämmerte wären die Berittenen bis vor mein Schloß gedrungen u n d keinen Widerstand gäbe es und aus dem Schlaf geschreckt, nicht Zeit mich auch nur zu bekleiden, und im Hemd, hätte ich meine Flucht antreten müssen und sei durch Berg u n d Tal und über Wald und Hügel und ohne Ruhe Tag und Nacht gejagt, bis ich hier auf der Bank in eurer Ecke gerettet angekommen wäre. Das wünsche ich mir.« Verständnislos sahen die andern einander an. - »Und was hättest du von diesem Wunsch?« fragte einer. »Ein Hemd« war die Antwort. Diese Geschichte führt tief in den Haushalt von Kafkas Welt. Niemand sagt ja, die Entstellungen, die der Messias zurechtzurücken einst erscheinen werde, seien nur solche unseres Raums. Sie sind gewiß auch solche unserer Zeit. Bestimmt hat das Kafka gedacht. U n d aus solcher Gewißheit seinen Großvater sagen lassen: »>Das Leben ist erstaunlich kurz. Jetzt in der Erinnerung drängt es sich mir so zusammen, daß ich zum Beispiel kaum begreife, wie ein junger Mensch sich entschließen kann ins nächste Dorf zu reiten, ohne zu fürchten, daß - von unglücklichen Zufällen ganz abgesehen - schon die Zeit des gewöhnlichen, glücklich ablaufenden Lebens für einen solchen Ritt bei weitem nicht hinreicht.«« Ein Bruder dieses Alten ist der Bettler, der in seinem »gewöhnlichen, glücklich ablaufenden« Leben nicht einmal Zeit zu einem Wunsche findet, dem ungewöhnlichen, un33
glücklichen der Flucht aber, in die er sich mit seiner Geschichte hineinbegibt, dieses Wunsches überhoben ist und ihn für die Erfüllung eintauscht. Es gibt nun unter den Geschöpfen Kafkas eine Sippe, die auf eigentümliche Weise mit der Kürze des Lebens rechnet. Sie stammt aus der »Stadt im Süden . . v o n der es . . . hieß: >Dorc sind Leute! Denkt Euch, die schlafen nicht!< - >Und warum denn nicht?< - >Weil sie nicht müde werden.< - >Und warum denn nicht?« - >Weil sie Narren sind.< - »Werden denn Narren nicht müde?< - »Wie könnten Narren müde werden!*« Man sieht, die Narren sind mit den nimmermüden Gehilfen verwandt. Es geht aber mit dieser Sippe noch höher hinaus. Beiläufig hörte man von den Gesichtern der Gehilfen, sie ließen »>auf Erwachsene, ja fast auf Studenten schließen««. U n d in der Tat sind die Studenten, die bei Kafka an den sonderbarsten Stellen zum Vorschein kommen, die Wortführer und Regenten dieses Geschlechts. »>Abcr wann schlafen Sie?< fragte Karl und sah den Studenten verwundert an. - >Ja, schlafen!« sagte der Student. »Schlafen werde ich, wenn ich mit meinem Studium fertig bin.«« Man muß an die Kinder denken: wie ungern gehen sie zu Bett! während sie schlafen, könnte doch etwas vorkommen, was sie beansprucht. »Vergiß das Beste nicht!« lautet eine Bemerkung, »die uns aus einer unklaren Fülle alter Erzählungen geläufig ist, trotzdem sie vielleicht in keiner vorkommt.« Aber das Vergessen betrifft immer das Beste, denn es betrifft die Möglichkeit der Erlösung. »>Der Gedanke, mir helfen zu wollen,«« sagt ironisch der ruhelos irrende Geist des Jägers Gracchus, »»ist eine Krankheit und muß im Bett geheilt werden,«« - Bei ihren Studien wachen die Studenten, und vielleicht ist es die beste Tugend der Studien, sie wachzuhalten. Der Hungerkünstler fastet, der Türhüter schweigt und die Studenten wachen. So versteckt wirken bei Kafka die großen Regeln der Askese. Das Studium ist ihre Krone. Mit Andacht bringt Kafka sie aus den versunkenen Knabenjahren an den Tag. »Nicht viel anders — jetzt war es schon lange her — war Karl zu Hause am Tisch der Eltern gesessen und hatte seine Aufgaben geschrieben, während der Vater die Zeitung las oder Bucheintragungen und Korrespondenzen für einen Verein erledigte und die Mutter mit einer Näharbeit beschäftigt war und hoch den Faden aus dem 34
Stoffe zog. Um den Vater nicht zu belästigen, hatte Karl nur das Heft und das Schreibzeug auf den Tisch gelegt, während er die nötigen Bücher rechts und links von sich auf Sesseln angeordnet hatte. Wie still war es dort gewesen! Wie selten waren fremde Leute in jenes Zimmer gekommen!« Vielleicht sind diese Studien ein Nichts gewesen. Sie stehen aber jenem Nichts sehr nahe, das das Etwas erst brauchbar macht - dem Tao nämlich. Ihm ging Kafka mit seinem Wunsch nach, »einen Tisch mit peinlich ordentlicher Handwerksmäßigkeit zusammenzuhämmern und dabei gleichzeitig nichts zu tun und zwar nicht so, daß man sagen könnte: >Ihm ist das Hämmern ein Nichts«, sondern >Ihm ist das Hämmern ein wirkliches Hämmern und gleichzeitig auch ein Nichts«, wodurch ja das Hämmern noch kühner, noch entschlossener, noch wirklicher und, wenn du willst, noch irrsinniger geworden wäre.« U n d eine so entschlossene, so fanatische Gebärde haben die Studierenden beim Studium. Sie kann nicht sonderbarer gedacht werden. Die Schreiber, die Studenten sind außer Atem. Sie jagen nur so dahin. »>Oft diktiert der Beamte so leise, daß der Schreiber es sitzend gar nicht hören kann, dann muß er immer aufspringen, das Diktierte auffangen, schnell sich setzen und es aufschreiben, dann wieder aufspringen und so weiter. Wie merkwürdig das ist! Es ist fast unverständlich .<« Vielleicht versteht man es aber besser, wenn man an die Schauspieler des Naturtheaters zurückdenkt. Schauspieler müssen blitzschnell auf ihr Stichwort aufpassen. Und sie ähneln diesen Beflissenen auch sonst. Für sie ist in der Tat »»das Hämmern ein wirkliches Hämmern und gleichzeitig auch ein Nichts«« - wenn es nämlich in ihrer Rolle steht. Diese Rolle studieren sie; der wäre ein schlechter Schauspieler, der ein Wort oder einen Gestus aus ihr vergäße. Für die Glieder der Truppe von Oklahoma aber ist sie ihr früheres Leben. Daher die »Natur« dieses Naturtheaters. Seine Schauspieler sind erlöst. Der Student aber ist es noch nicht, dem Karl nachts auf dem Balkon stumm zusieht, wie er in seinem Buche liest, »die Blätter wendete, hie und da in einem andern Buche, das er immer mit Blitzesschnelle ergriff, irgend etwas nachschlug und öfters Notizen in ein Heft eintrug, wobei er immer überraschend tief das Gesicht zu dem Hefte senkte.« Den Gestus derart zu vergegenwärtigen ist Kafka unermüd35
lich. Aber das geschieht nie anders als mit Staunen. Man hat K. mit Recht dem Schweyk verglichen; den einen wundert alles, den andern nichts. Im Zeitalter der aufs Höchste gesteigerten Entfremdung der Menschen voneinander, der unabsehbar vermittelten Beziehungen, die ihre einzigen wurden, sind Film und Grammophon erfunden worden. Im Film erkennt der Mensch den eigenen Gang nicht, im Grammophon nicht die eigene Stimme. Experimente beweisen das. Die Lage der Versuchsperson in diesen Experimenten ist Kafkas Lage. Sie ist es, die ihn auf das Studium anweist. Vielleicht stößt er dabei auf Fragmente des eigenen Daseins, welche noch im Zusammenhang der Rolle stehen. Er würde den verlorenen Gestus zu fassen bekommen wie Peter Schlemihl seinen verkauften Schatten. Er würde sich verstehen, aber wie riesenhaft wäre die Anstrengung! Denn es ist ja ein Sturm, der aus dem Vergessen herweht. U n d das Studium ein Ritt, der dagegen angeht. So reitet auf der Ofenbank der Bettler seiner Vergangenheit entgegen, um in der Gestalt des fliehenden Königs seiner selbst habhaft zu werden. Dem Leben, das für einen Ritt zu kurz ist, entspricht dieser Ritt, der lang genug für das Leben ist, » . . . bis man die Sporen ließ, denn es gab keine Sporen, bis man die Zügel wegwarf, denn es gab keine Zügel, und kaum das Land vor sich als glatt gemähte Heide sah, schon ohne Pferdehals und Pferdekopf.« So geht die Phantasie vom seligen Reiter in Erfüllung, der der Vergangenheit auf leerer, fröhlicher Reise entgegenbraust und seinem Renner keine Last mehr ist. Unselig aber der Reiter, der an seine Mähre gekettet ist, weil er das Zukunftsziel sich vorgesetzt hat - und sei es auch das nächste: der Kohlenkeller. Unselig auch sein Tier, unselig beide: der Kübel und der Reiter. »Als Kübelreiter, die Hand oben am Griff, dem einfachsten Zaumzeug, drehe ich mich beschwerlich die Treppe hinab; unten aber steigt mein Kübel auf, prächtig, prächtig; Kamele, niedrig am Boden hingelagert, steigen, sich schüttelnd unter dem Stock des Führers, nicht schöner auf.« Hoffnungsloser öffnet sich keine Gegend als »die Regionen der Eisgebirge«, in denen der Kübelreiter sich auf Nimmerwiedersehen verliert. Aus »den untersten Regionen des Todes« bläst der Wind, der ihm günstig ist - derselbe, der bei Kafka so oft aus der Vorwelt weht, und von dem auch der Kahn des Jägers Gracchus sich treiben läßt. »Uberall«, sagt
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Plutarch, »wird bei Mysterien und Opfern, sowohl unter Griechen als unter Barbaren, gelehrt, . . . daß es zwei besondere Grundwesen und einander entgegengesetzte Kräfte geben müsse, von denen das eine rechter H a n d und geradeaus führt, das andere aber umlenkt und wieder zurücktreibt.« Umkehr ist die Richtung des Studiums, die das Dasein in Schrift verwandelt. Ihr Lehrmeister ist jener Bucephalus, der »neue Advokat«, der ohne den gewaltigen Alexander - und das heißt: des vorwärtsstürmenden Eroberers ledig - den Weg zurück nimmt. »Frei, unbedrückt die Seiten von den Lenden des Reiters, bei stiller Lampe, fern dem Getöse der Alexanderschlacht, liest und wendet er die Blätter unserer alten Bücher.« - Diese Geschichte ist vor einiger Zeit durch Werner Kraft zum Gegenstand der Deutung gemacht worden. Nachdem der Interpret mit Sorgfalt jeder Einzelheit des Textes sich gewidmet hat, bemerkt er: »Nirgendwo in der Literatur gibt es eine so gewaltige, so durchschlagende Kritik des Mythos in seinem ganzen Umfang, wie hier.« Das Wort »Gerechtigkeit« - so meint der A u s l e g e r b r a u c h t Kafka nicht; trotzdem sei es die Gerechtigkeit, von der aus die Kritik am Mythos statt hat. - Sind wir aber so weit einmal gegangen, so geraten wir in Gefahr, Kafka zu verfehlen, indem wir hier haltmachen. Ist es denn wirklich das Recht, das so, im Namen der Gerechtigkeit, gegen den Mythos aufgeboten werden könnte? Nein, als Rechtsgelehrter bleibt der Bucephalus seinem Ursprung treu. N u r scheint er - darin dürfte im Sinne Kafkas das Neue für den Bucephalus und f ü r die Advokatur liegen - nicht zu praktizieren. Das Recht, das nicht mehr praktiziert und nur studiert wird, das ist die Pforte der Gerechtigkeit. Die Pforte der Gerechtigkeit ist das Studium. U n d doch wagt Kafka nicht, an dieses Studium die Verheißungen zu knüpfen, welche die Überlieferung an das der Thora geschlossen hat. Seine Gehilfen sind Gemeindediener, denen das Bethaus, seine Studenten Schüler, denen die Schrift abhanden kam. N u n hält sie nichts mehr auf der »leeren fröhlichen Fahrt«. Kafka aber hat das Gesetz der seinen gefunden; ein einziges Mal zumindest, als es ihm glückte, ihre atemraubende Schnelligkeit einem epischen Paßschritt anzugleichen, wie er ihn wohl sein Lebtag gesucht hat. Er hat es einer Niederschrift anvertraut, die nicht nur darum seine vollendetste wurde, weil sie eine Auslegung ist. 37
»Sancho Pansa, der sich übrigens dessen nie gerühmt hat, gelang es im Laufe der Jahre, durch BeistelJung einer Menge Ritterund Räuberromane in den Abend- und Nachtstunden seinen Teufel, dem er später den Namen Don Quixote gab, derart von sich abzulenken, daß dieser dann haltlos die verrücktesten Taten aufführte, die aber mangels eines vorbestimmten Gegenstandes, der eben Sancho Pansa hätte sein sollen, niemandem schadeten. Sancho Pansa, ein freier Mann, folgte gleichmütig, vielleicht aus einem gewissen Verantwortlichkeitsgefühl dem D o n Quixote auf seinen Zügen und hatte davon eine große und nützliche Unterhaltung bis an sein Ende.« Gesetzter Narr und unbeholfener Gehilfe, hat Sancho Pansa seinen Reiter vorangeschickt. Bucephalus hat den seinigen überlebt. Ob Mensch, ob Pferd ist nicht mehr so wichtig, wenn nur die Last vom Rücken genommen ist.
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FRANZ KAFKA: BEIM BAU DER CHINESISCHEN MAUER
Ich stelle an den Anfang eine kleine Erzählung, die dem im Titel genannten Werk entnommen ist und die Ihnen zweierlei zeigen wird: die Größe dieses Schriftstellers und die Schwierigkeit, von ihr Zeugnis zu geben. Kafka erzählte angeblich eine chinesische Sage wieder: »Der Kaiser, so heißt es, hat Dir, dem Einzelnen, dem jämmerlichen Untertanen, dem winzig vor der kaiserlichen Sonne in die fernste Ferne geflüchteten Schatten, gerade Dir hat der Kaiser von seinem Sterbebett aus eine Botschaft gesendet. Den Boten hat er beim Bett niederknien lassen und ihm die Botschaft zugeflüstert; so sehr war ihm an ihr gelegen, daß er sich sie noch ins O h r wiedersagen ließ. Durch Kopfnicken hat er die Richtigkeit des Gesagten bestätigt. U n d vor der ganzen Zuschauerschaft seines Todes - alle hindernden Wände werden niedergebrochen und auf den weit und hoch sich schwingenden Freitreppen stehen im Ring die Großen des Reiches - vor allen diesen hat er den Boten abgefertigt. Der Bote hat sich gleich auf den Weg gemacht; ein kräftiger, ein unermüdlicher Mann; einmal diesen, einmal den andern Arm vorstreckend, schafft er sich Bahn durch die Menge; findet er Widerstand, zeigt er auf die Brust, wo das Zeichen der Sonne ist; er kommt auch leicht vorwärts wie kein anderer. Aber die Menge ist so groß; ihre Wohnstätten nehmen kein Ende, ö f f n e t e sich freies Feld, wie würde er fliegen und bald wohl hörtest Du das herrliche Schlagen seiner Fäuste an Deiner Tür. Aber statt dessen, wie nutzlos müht er sich ab; immer zwängt er sich noch durch die Gemächer des innersten Palastes; niemals wird er sie überwinden; und gelänge ihm dies, nichts wäre gewonnen; die Treppen hinab müßte er sich kämpfen; und gelänge ihm dies, nichts wäre gewonnen; die H ö f e wären zu durchmessen; und nach den Höfen der zweite umschließende Palast; u n d wieder Treppen und Höfe; und wieder ein Palast; und so weiter durch Jahrtausende; und stürzte er endlich aus dem äußersten Tor - aber niemals, niemals kann es geschehen -, liegt erst die Residenzstadt vor ihm, die Mitte der Welt, hochgeschüttet voll ihres Bodensatzes. Niemand dringt hier durch und gar mit der Botschaft eines Toten. - Du aber
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sitzt an Deinem Fenster und erträumst sie Dir, wenn der Abend kommt.« Diese Gcschichtc werde ich Ihnen nicht deuten. Denn um zu erfahren, daß der Angeredete vor allem einmal Kafka selber ist, dazu brauchen Sie meinen Hinweis nicht. Wer aber war nun Kafka? Er hat alles getan, um der Antwort auf diese Frage den Weg zu verlegen. Unverkennbar, daß im Mittelpunkt semer Romane er selber steht, was ihm aber da zustößt ist von der Art, den unscheinbar zu machen, der es erlebt, ihn zu entrücken, indem es ihn im H e r / e n der Banalität verbirgt. U n d die Chiffre K., mit der die Hauptfigur seines Buches »Das Schloß« gezeichnet ist, sagt denn auch gerade so viel, wie man auf einem Taschentuch oder dem Innern eines Hutrandes finden kann, ohne daß man darum den Verschwundenen zu rekognoszieren wüßte. Allenfalls könnte man von diesem Kafka eme Legende bilden: Er habe sein Leben darüber nachgegrübelt, wie er aussähe, ohne je davon zu erfahren, daß es Spiegel gibt. Um aber auf die Geschichte vom Anfang zurückzukommen, möchte ich jedenfalls andeuten, wie man Kafka nicht auslegen soll, weil das leider fast die einzige Art ist, an das, was bisher über ihn gesagt ist, anzuknüpfen. Ein religionsphilosophisches Schema den Büchern Kafkas unterzuschieben, wie man es getan hat, lag freilich nahe genug. Auch ist sehr möglich, daß sogar ein vertrauter Umgang mit dem Dichter wie Max Brod, der verdienstvolle Herausgeber seiner Schriften, ihn hatte, solchen Gedanken erwecken oder bestätigen konnte. Dennoch bedeutet er eine ganz eigentümliche Umgehung, beinahe möchte ich sagen Abfertigung der Welt von Kafka. Gewiß widerlegen läßt sich die Behauptung wohl nicht, Kafka habe in seinem Roman »Das Schloß« die obere Macht und den Bereich der Gnade, in dem »Prozeß« die untere, das Gericht, und in dem letzten großen Werke »Amerika« das irdische Leben - dies alles im theologischen Sinn verstanden - darstellen wollen. N u r daß solche Methode sehr viel weniger ergibt als die gewiß viel schwierigere einer Deutung des Dichters aus der Mitte seiner Bildwelt. Ein Beispiel: Der Prozeß gegen Josef K. wird mitten im Alltag in Hinterhöfen, Warteräumen usw. an immer anderen, nie zu gewärtigenden Orten verhandelt, in die der Angeklagte sich oft mehr verirrt als begibt. So befindet er sich denn eines Tages
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auf einem Dachboden. Die Emporen sind voll von Leuten, die dicht gedrängt der Verhandlung folgen; sie haben sich auf eine lange Sitzung vorbereitet; aber da oben ist es nicht leicht auszuhalten; die Dccke - die bei Kafka beinah immer niedrig ist — drückt und lastet; so haben sie denn Kissen mitgenommen, um den Kopf dagegen zu stemmen. - Das ist nun aber das genaue Bild dessen, was wir als Kapital - als fratzengeschmückten Aufsatz - an den Säulen so vieler mittelalterlicher Kirchen kennen. Natürlich ist keine Rede davon, daß Kafka das nachbilden wollte. Wenn wir sein Werk aber als eine spiegelnde Scheibe nehmen, so kann ein solches längst vergangenes Kapital sehr wohl als eigentlicher unbewußter Gegenstand solcher Schilderung erscheinen, und die Deutung hätte nun seine Spiegelung im Gegensinne genauso weit vom Spiegel abgerückt wie das gespiegelte Modell zu suchen. Mit anderen Worten, in der Zukunft. Kafkas Werk ist ein prophetisches. Die überaus präzisen Seltsamkeiten, von denen das Leben, mit dem es zu tun hat, so voll ist, sind für den Leser nur als kleine Zeichen, Anzeichen und Symptome von Verschiebungen zu verstehen, die der Dichter in allen Verhältnissen sich anbahnen fühlt, ohne den neuen Ordnungen sich selber einfügen zu können. So bleibt ihm nichts als mit einem Staunen, in das sich freilich panisches Entsetzen mischt, auf die fast unverständlichen Entstellungen des Daseins zu antworten, die das Heraufkommen dieser Gesetze verraten. Kafka ist davon so erfüllt, daß überhaupt kein Vorgang denkbar ist, der unter seiner Beschreibung - d.h. hier aber nichts anderes als Untersuchung - sich nicht entstellt. Mit anderen Worten, alles, was er beschreibt, macht Aussagen über etwas anderes als sich selbst. Die Fixierung Kafkas an diesen seinen einen und einzigen Gegenstand, die Entstellung des Daseins, kann beim Leser den Eindruck der Verstocktheit hervorrufen. Im Grunde aber ist dieser Eindruck, ebenso wie der untröstliche Ernst, die Verzweiflung im Blick des Schriftstellers selbst nur ein Anzeichen,Ç daß Kafka mit einer rein dichterischen Prosa gebrochen hat. Vielleicht beweist seine Prosa nichts; auf jeden Fall ist sie so beschaffen, daß sie in beweisende Zusammenhänge jederzeit eingestellt werden könnte. Man hat hier an die Form der Haggadah zu erinnern: so heißen bei den Juden Geschieh41
ten und Anekdoten des rabbinischen Schrifttums, die der Erklärung und Bestätigung der Lehre - der Halacha - dienen. Wie die haggadischen Teile des Talmud so sind auch diese Bücher Erzählungen, eine Haggadah, die immerfort innehält, in den ausführlichsten Beschreibungen sich verweilt, immer in der Hoffnung und Angst zugleich, die halachische Order und Formel, die Lehre könnte ihr unterwegs zustoßen. Ja, die Verzögerung ist der eigentliche Sinn jener merkwürdigen, oft so frappanten Ausführlichkeit, von der Max Brod gesagt hat, daß sie in dem Wesen von Kafkas Vollkommenheit und seinem Suchen nach dem rechten Wege läge. »Von allen ernsthaft aufgefaßten Lebensdingen«, meint Brod, gelte, was von den rätselhaften Briefen der Behörde ein Mädchen im »Schloß« behauptet: »>Die Überlegungen, zu denen sie Anlaß geben, sind endlos.<« Was sich aber bei Kafka in dieser Endlosigkeit gefällt, ist eben doch die Angst vor dem Ende. Mithin hat seine Ausführlichkeit einen ganz anderen Sinn als etwa den der Episode im Roman. Romane sind sich selbst genug. Kafkas Bücher sind sich das nie, sie sind Erzählungen, die mit einer — - M o r a l schwanger gehen, ohne sie je zur Welt zu bringen. So hat der Dichter denn auch gelernt - wenn man schon davon reden will - nicht von den großen Romanciers sondern von sehr viel bescheideneren Autoren, von den Erzählern. Der Moralist Hebel und der schwer ergründliche Schweizer Robert Walser sind unter seinen Lieblingsautoren gewesen. - Wir haben vorhin von der bedenklichen religionsphilosophischen Konstruktion gesprochen, die man dem Werk von Kafka untergelegt und in der man den Schloßbcrg zum Sitz der Gnade gemacht hat. Nun, daß sie unvollendet geblieben sind - das ist das eigendiche Walten der Gnade in diesen Büchern. Daß das Gesetz als solches bei Kafka sich nirgends ausspricht, das und nichts anderes ist die gnädige Fügung des Fragments. Wer Zweifel in diese Wahrheit setzt, der mag sie sich von dem bestätigen lassen, was Brod aus freundschaftlichen Unterhaltungen mit dem Dichter über den geplanten Schluß des Schlosses berichtet. Nach einem langen ruhelosen rechtlosen Leben in jenem Dorf, entkräftet, entkräftet von einem Kampfe, liegt der K. auf dem Sterbebett. Da endlich, endlich erscheint der Bote aus dem Schloß, der die entscheidende Nachricht bringt: dieser 42
Mensch habe zwar keinen Rechtsanspruch, im Dorfe zu wohnen, man wolle ihm aber mit Rücksicht auf gewisse Nebenumstände erlauben, hier zu leben und zu arbeiten. Da stirbt dieser Mensch aber auch schon. - Sie fühlen wie diese Erzählung derselben Ordnung wie die Sage angehört, mit der ich begann. Max Brod hat übrigens mitgeteilt, daß Kafka bei diesem Dorf am Fuß des Schloßberges eine bestimmte Siedelung, Zürau im Erzgebirge vorgeschwebt habe. Ich meinerseits glaube darin das Dorf einer talmudischen Legende wiederzuerkennen. Es ist eine Legende, die ein Rabbi auf die Frage zum Besten gibt, warum am Freitagabend der Jude ein Festmahl rüstet. Da erzählt er denn die Geschichte von einer Prinzessin, die in der Verbannung, ferne von ihren Landsleuten und unter einem Volk, dessen Sprache sie nicht verstehe, schmachte. Zu dieser Prinzessin nun komme eines Tages ein Brief mit der Nachricht, ihr Verlobter habe sie nicht vergessen, habe sich aufgemacht und sei unterwegs zu ihr. Der Verlobte, sagt der Rabbi, ist der Messias, die Prinzessin die Seele, das Dorf aber, in dem sie verbannt ist, der Körper, und weil sie denen, die ihre Sprache nicht kennen, anders keine Botschaft von ihrer Freude geben kann, rüstet die Seele ein Mahl für den Körper. Eine kleine Akzentverschiebung in dieser Talmudgeschichte, und wir sind mitten in Kafkas Welt. So wie der K. im Dorf am Schloßberg lebt der heutige Mensch in seinem Körper: ein Fremder, Ausgestoßener, der nichts von den Gesetzen weiß, die diesen Leib mit höheren weiteren Ordnungen verbinden. Es kann gerade über diese Seite der Sache viel Aufschluß geben, daß Kafka in den Mittelpunkt seiner Erzählungen so oft Tiere stellt. Solchen Tiergeschichten kann man dann eine gute Weile folgen ohne überhaupt wahrzunehmen, daß es sich hier gar nicht um Menschen handelt. Stößt man dann erstmals auf den Namen des Tieres - die Maus oder den Maulwurf - so erwacht man mit einem Chock und merkt mit einem Mal, daß man vom Kontinent des Menschen schon weit entfernt ist. Übrigens ist die Wahl der Tiere, in deren Gedanken Kafka die seinigen einhüllt, beziehungsvoll. Es sind immer solche, die im Erdinnern, oder wenigstens wie der Käfer in der »Verwandlung« Tiere, die auf dem Boden verkrochen in seinen Spalten und Ritzen leben. Solche Verkrochenhcit scheint dem Schriftsteller für die 43
isolierten gesetzunkundigen Angehörigen seiner Generation und Umwelt allein angemessen. Diese Gesetzlosigkeit aber ist eine gewordene; Kafka wird nicht müde, die Welten, von denen er spricht, auf alle Weise als alt, verrottet, überlebt, verstaubt zu bezeichnen. Die Gelasse, in denen der Prozeß sich abspielt, sind es genau so wie die Verordnungen, nach denen in der Strafkolonie verfahren wird, oder wie die geschlechtlichen Gepflogenheiten der Frauen, welchc K. zur Seite stehen. Aber nicht nur in den Fraüengestalten, die alle einer schrankenlosen Promiskuität leben, ist die Verkommenheit dieser Welt mit Pfänden zu greifen; genau so schamlos proklamiert in ihrem Tun und Treiben sie die obere Macht, von der man sehr richtig erkannt hat, daß sie genau so grausam, katzenhaft mit ihren Opfern spielt wie die untere. »Beide Welten sind ein halbdunkles, staubiges, engbrüstiges, schlecht gelüftetes Labyrinth von Kanzeleien, Büros, Wartezimmern mit einer unabsehbaren Hierarchie von kleinen upd großen und'säur großen und ganz unnahbaren Kanzleibeamten und Unterbeamten, Bürodienern und Advokaten und Hilfskräften und Laufjungen, die äußerlich geradezu wie eine Parodie auf eine lächerliche und sinnlose Bcamtenwirtschaft wirken.« Man sieht, auch diese Oberen sind so gesetzlos, daß sie auf einer Stufe mit den Untersten erscheinen, und ohne Scheidewände wimmeln die Geschöpfe aller Ordnungen durcheinander, heimlich nur solidarisch in dem einen einzigen Gefühl der Angst. Eine Angst, die nicht Reaktion sondern Organ ist. Es läßt sich auch sehr wohl bestimmen, wofür sie jederzeit die scharfe und untrügliche Witterung hat. Aber ehe ihr Gegenstand erkennbar wird, gibt die merkwürdige Zweisjtändigkeit dieses Organs uns zu denken. Diese Angst - und das mag an das Spiegelgleichnis vom Anfang erinnern - ist gleichzeitig und zu gleichen Teilen Angst vorm Uralten, Unvordenklichen und Angst vorm Nächsten, dringend Bevorstehenden. Sie ist, um es mit einem Wort zu sagen, Angst vor der unbekannten Schuld und vor der Sühne, an welcher nur der eine Segen waltet, daß sie die Schuld bekannt macht. Denn die präziseste Entstellung, die so bezeichnend für Kafkas Welt ist, rührt eben daher, daß sich das große Neue und Befreiende hier unter der Figur der Sühne darstellt, solange das Gewesene sich nicht durchschaut, bekannt und gänzlich abgetan 44
hat. Daher hat Willy Haas mit vollkommenem Recht die unbekannte Schuld, die den Prozeß gegen den Josef K. heraufbeschwört, als das Vergessen enträtselt. Von Konfigurationen des Vergessens - stummen Bitten, es uns doch endlich nunmehr einfallen zu lassen - ist Kafkas Dichtung gänzlich erfüllt, mag man an die »Sorge des Hausvaters«, die seltsame redende Spule Odradek denken, von der niemand weiß, was es ist, oder den Mistkäfer, den Helden in der »Verwandlung«, von dem wir nur allzu gut wissen, was er war, nämlich Mensch, oder an die »Kreuzung«, das Tier, das halb Kätzchen, halb Lamm ist und für das vielleicht das Messer des Schlächters eine Erlösung wäre. Will ich in mein Gärtlein gehn, Will mein Blümlein gießen; Steht ein bucklicht Männlein da, Fängt als an zu niesen heißt es in einem unergründlichen Volkslied. Das ist auch so ein Vergessenes, das bucklige Männlein, das wir einmal gewußt haben, und da hatte es seinen Frieden, nun aber vertritt es uns den Weg in die Zukunft. Es ist ganz ungemein bezeichnend, daß Kafka die Figur des religiösesten Menschen, des Mannes, der da im Rechten ist, nicht selbst geschaffen wohl aber erkannt hat und in wem? Nämlich in niemand anderem als Sancho Pansa, der sich aus der Promiskuität mit dem Dämon erlöst hat, indem es ihm gelang, ihm einen anderen Gegenstand als sich selber zu geben, so daß er ein ruhiges Leben führte, in dem er nichts zu vergessen brauchte. »Sancho Pansa«, lautet die ebenso kurze wie großartige Auslegung, »gelang es im Laufe der Jahre, durch Beistellung einer Menge Ritter- und Räuberromane in den Abend- und Nachtstunden seinen Teufel, dem er später den Namen Don Quixote gab, derart von sich abzulenken, daß dieser dann haltlos die verrücktesten Taten aufführte, die aber mangels eines vorbestimmten Gegenstandes, der eben Sancho Pansa hätte sein sollen, niemandem schadeten, Sancho Pansa, ein freier Mann, folgte gleichmütig, vielleicht aus einem gewissen Verantwortlichkeitsgefühl dem Don Quixote auf seinen Zügen und hatte davon eine große und nützliche Unterhaltung bis an sein Ende.« 45
Wenn die umfassenden Romane des Dichters die wohlbestellten Felder sind, die er hinterließ, so ist der neue Geschichtenband, aus dem auch diese Deutung entnommen ist, die Tasche des Sämanns mit Körnern, die die Kraft der natürlichen haben, von denen wir wissen, daß sie noch nach Jahrtausenden, aus Gräbern zutage befördert, Frucht treiben.
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K A Y ALIliRSMOllAL
Je sicherer die Routine den Menschen erlaubt, aalglatt in allem ihrem Tun und Lassen dem harten Zugriff der Wahrheit zu entschlüpfen, desto feinsinniger werden sie sich mit konstruierten »Gewissensfragen«, »inneren Konflikten«, »ethischen Maximen« befassen. Das ist selbstverständlich, enthebt einen aber nicht der Aufgabe, diesen widerwärtigen Tatbestand aufzuzeigen, wo er sich breit macht. Und das ist kürzlich wieder sehr ungeniert in einer Kontroverse geschehen, die Ehm Welk über den Kafkaschen Nachlaß mit dessen Flerausgeber, Max Brod, eröffnet hat. Brod hat im Nachwort zum »Prozeß« und zum »Schloß« mitgeteilt, daß Kafka ihm diese Werke zum eigenen Studium und unter der ausdrücklichen Bedingung übergeben habe, sie niemals drucken zu lassen, vielmehr später sie zu vernichten. Diesen Mitteilungen hat er dann die Darstellung der Motive folgen lassen, die ihn veranlaßten, sich über Kafkas Willen hinwegzusetzen. N u n waren es freilich nicht nur diese Motive, die es niemandem vor Ehm Welk erlaubten, die bequeme, äußerst naheliegende Anklage auf verletzte Freundespflicht zu erheben, mit deren energischer Zurückweisung wir es hier zu tun haben. Denn da stand ja nun einmal dieses erschütternde Kafkasche Werk, öffnete seine großen Augen, in die man blickte, war mit dem Augenblick seines Erscheinens ein Tatbestand, der die Lage so gründlich veränderte wie die Geburt eines Kindes noch den illegitimsten Beischlaf. Daher die Achtung, der Respekt, die mit dem Werk, auf das sie sich bezogen, auch dem Verhalten dessen gegolten haben und gelten, durch welchen wir es erst leibhaft besitzen. Daß die absurde Beschuldigung gegen Brod von keinem, dem das Werk von Kafka irgend nahesteht, erhoben werden konnte (und wie kann denn er selber heut uns nahestehen als durch sein Werk?), das ist ebenso sicher wie dies: daß nun, da sie einmal erhoben, sie sich in ihrer ganzen kümmerlichen Arroganz enthüllt, sowie man sie mit diesem Werke konfrontiert, Kafkas Werk, in dem es um die dunkelsten Anliegen des menschlichen Lebens geht (Anliegen, deren je und je sich Theologen und selten so wie Kafka es getan hat, Dichter angenommen haben), hat seihe dichterische Größe eben daher, daß es dieses theologische Geheimnis ganz in sich selbst trägt, nach außen aber unscheinbar und schlicht und nüchtern auftritt. 47
So nüchtern ist das ganze Dasein Kafkas und ist auch seine Freundschaft mit Max Brod gewesen. Nichts weniger als ein Orden und Geheimbund, sondern eine innige und vertraute, doch ganz und gar im Licht des beiderseitigen Schaffens und seiner öffentlichen Geltung stehende Dichterfreundschaft. Die Scheu des Autors vor der Publizierung seines Werks entsprang der Uberzeugung, es sei unvollendet und nicht der Absicht, es geheim zu halten. Daß er von dieser seiner Uberzeugung sich in der eigenen Praxis leiten ließ ist genau so verständlich, wie daß sie für den andern, seinen Freund, nicht galt. Dieser Tatbestand war ohneZweifel für Kafka in den beiden Gliedern deutlich. Er hat nicht nur gewußt: ich habe selbst zugunsten des in mir noch Ungewordenen das was geworden ist, zurückzustellen, er wußte auch: der andere wird es retten und mich von der Gewissenslast befreien, dem Werk das Imprimatur selber geben oder es vernichten zu müssen. Hier wird nun Welks Entrüstung keine Grenzen kennen.'Um Brod zu dekken, Kafka Jesuitentricks, Kafka eine reservatio mentalis zuzumuten! Ihm diese tiefste Absicht beizulegen, daß dieses Werk erscheine und zugleich des Dichters Einspruch gegen dies Erscheinen! Jawohl, nichts anderes sprechen wir hier aus und fügen zu: die echte Treue gegen Kafka war, daß dies geschah. Daß Brod die Werke publizierte und zugleich des Dichters nachgelassenes Geheiß, es nicht zu tun. (Ein Geheiß, das Brod durch Hinweise auf Kafkas wechselnde Willensmeinung nicht abzuschwächen brauchte.) Ehm Welk wird hier nicht mehr mitgehen. Wir hoffen, er hat es schon längst aufgegeben. Sein Angriff ist ein Zeugnis für die Ahnungslosigkeit, mit der er allem gegenübersteht, was Kafka angeht. Diesem zweifach stummen Mann gegenüber hat seine Kavaliersmoral nichts zu suchen. Er soll nur machen, daß er vom hohen Pferde herunterkommt.
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MAX BROD: FRANZ KAFKA.
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Eine Biographie. Prag 1937
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Das Buch ist durch den fundamentalen Widerspruch gekennzeichnet, der zwischen der These des Verfassers einerseits, seiner Haltung andererseits obwaltet. Dabei ist die letztere danach angetan, die erstere einigermaßen zu diskreditieren, zu Schweigen von den Bedenken, die sich gegen diese sonst erheben. Die These ist, daß Kafka sich auf dem Wege zur Heiligkeit befunden habe (S. 65). Die Haltung des Biographen ihrerseits ist die vollendeter bonhommie. Der Mangel an Distanz ist ihre markanteste Eigentümlichkeit. Daß sich diese Haltung zu dieser Ansicht des Gegenstandes finden konnte, beraubt das Buch von vornherein seiner Autoritat. Wie sie es tat, das illustriert z.B. die Redewendung, mit der (S. 127) »unser Franz« dem Leser auf einem Photo vor Augen geführt wird. Intimität mit den Heiligen hat ihre bestimmte religionsgeschichtliche Signatur; nämlich den Pietismus, Brods Haltung als Biograph ist die pietistische einer ostentativen Intimität; mit anderen Worten die pietätloseste, die sich denken läßt. Dieser Unreinlichkeit in der Ökonomie des Werkes kommen Gepflogenheiten zugute, die der Verfasser sich in seiner Berufstätigkeit hat erwerben mögen. Jedenfalls ist es kaum möglich, die Spuren journalistischen Schlendrians bis hinein in die Formulierung seiner These zu übersehen: »Die Kategorie der Heiligkeit . . . ist überhaupt die einzig richtige, unter der Kafkas Leben und Schaffen betrachtet werden kann.« (S. 65) Ist es nötig, anzumerken, daß Heiligkeit eine dem Leben vorbehaltene Ordnung ist, der das Schaffen unter gar keinen Umständen zugehört? und bedarf es des Hinweises darauf, daß das Prädikat der Heiligkeit außerhalb einer traditionell begründeten Religionsverfassung einfach eine belletristische Floskel ist? Es fehlt Brod jedes Gefühl für die pragmatische Strenge, die von einer ersten Lebensgeschichte Kafkas zu fordern ist. »Von Luxushotels wußten wir nichts und waren dennoch unbeschwert lustig.« (S. 128) Infolge eines auffallenden Mangels an Takt, an Sinn für Schwellen und Distanzen fließen Feuilletonschablonen in einen Text ein, der durch seinen Gegenstand zu einiger Hai49
tung verpflichtet wäre. Das ist minder der Grund als ein Zeugnis dafür, wie sehr jede originäre Anschauung von Kafkas Leben Brod versagt geblieben ist. Besondres anstößig wird dieses Unvermögen, der Sache selbst gerecht zu werden, wo Brod (S. 242) auf die berühmte testamentarische Verfügung zu sprechen kommt, in der Kafka ihm die Vernichtung seines Nachlasses auferlegt. Hier wenn irgendwo wäre der Ort gewesen, grundsätzliche Aspekte von Kafkas Existenz aufzurollen. (Er war offenbar nicht gewillt, vor der Nachwelt die Verantwortung für ein Werk zu tragen, um dessen Größe er doch wußte.) Die Frage ist seit Kafkas Tod vielfach erörtert worden; es lag nahe, hier einmal innezuhalten-. Allerdings hätte sie für den Biographen die Einkehr bei sich selbst mit sich geführt. Kafka mußte den Nachlaß wohl dem vertrauen, der ihm den letzten Willen nicht würde tun wollen. Und weder der Testator noch auch sein Biograph würden bei solcher Betrachtung der Dinge zu Schaden kommen. Aber sie verlangt die Fähigkeit, die Spannungen zu ermessen, von denen Kafkas Leben durchzogen war. Daß diese Fähigkeit Brod abgeht, erweisen die Stellen, an denen er unternimmt, Kafkas Werk oder Schreibweise zu erläutern. Es bleibt da bei dilettantischen Ansätzen, Die Sonderbarkeit in Kafkas Wesen und Schreiben ist gewiß nicht, wie Brod meint, eine »scheinbare« und ebenso wenig kommt man den Darstellungen Kafkas mit der Erkenntnis bei, daß sie »nichts als wahr« (S. 68) sind. Derartige Exkurse über Kafkas Werk sind danach angetan, Brods Auslegung seiner Weltanschauung von vorneherein problematisch zu machen. Wenn Brod von Kafka aussagt, daß dieser etwa auf der Linie von Buber gestanden habe (S. 241), so heißt das, den Schmetterling in dem Netz zu suchen, über das er im Hin- und Herflattern seinen Schatten wirft. Die »gleichsam realistisch-jüdische Deutung« (S. 229) des »Schlosses« unterschlägt die abstoßenden und die grauenhaften Züge, mit denen die obere Welt bei Kafka ausgestattet ist, zugunsten einer erbaulichen Auslegung, die gerade dem Zionisten suspekt sein müßte. Gelegentlich denunziert sich diese Bequemlichkeit, die ihrem Gegenstande so wenig ansteht, selbst einem Leser, der es nicht 50
genau nimmt. Es ist Brod vorbehalten geblieben, die vielschichtige Problematik von Symbol und Allegorie, die ihm f ü r die Auslegung Kafkas erheblich scheint, am Beispiel des »standhaften Zinnsoldaten« zu illustrieren, der ein vollgültiges Symbol darum vorstelle, weil er nicht nur » v i e l . . . in die Unendlichkeit Verlaufendes ausdrückt«, sondern »uns auch mit seinem persönlich detaillierten Schicksal als Zinnsoldat« (S. 237) nahekommt. Man möchte wohl wissen, wie sich das Davidsschild im Lichte einer solchen Symboltheorie ausnimmt. Ein Gefühl für die Schwäche seiner eigenen Kafka-Interpretation macht Brod gegen die von andern empfindlich. Daß er das nicht so törichte Interesse der Surrealisten an Kafka wie die teilweise bedeutenden Auslegungen der kleinen Prosa durch Werner Kraft mit einer Handbewegung beiseiteschiebt, wirkt nicht angenehm. Darüber hinaus sieht man ihn bemüht, auch die künftige Kafka-Literatur zu entwerten. »So könnte man erklären und erklären (man wird es auch noch tun), doch notwendigerweise ohne Ende.« (S. 69) Der Akzent, der auf der Klammer liegt, fällt ins Ohr. Daß die »vielen privaten akzidentellen Mängel und Leiden Kafkas« zum Verständnis seines Werkes mehr beitragen als »theologische Konstruktionen« (S. 213), hört man von dem jedenfalls nicht gern, der Entschlossenheit genug besitzt, seine eigene Darstellung Kafkas unter dem Begriff der Heiligkeit vorzunehmen. Die gleiche wegwerfende Gebärde gilt allem, was Brod bei seinem Zusammensein mit Kafka störend vorkommt — der Psychoanalyse ebenso wie der dialektischen Theologie, Sie erlaubt es ihm, Kafkas Schreibweise der »erlogene[n] Exaktheit« Balzacs (S. 69) zu konfrontieren (wobei er nichts anderes als jene durchsichtigen Rodomontaden im Sinn hat, die von Balzacs Werk und seiner Größe gar nicht zu trennen sind). Das alles stammt nicht aus Kafkas Sinn. Brod verfehlt allzu oft die Fassung, die Gelassenheit, die diesem eigen war. Es gibt keinen Menschen, sagt Joseph de Maistre, den man nicht mit einer maßvollen Meinung für sich gewinnen kann. Brods Buch wirkt nicht gewinnend. Es überschreitet das Maß sowohl in der Art, in welcher er Kafka huldigt, als in der Vertrautheit, mit der dieser von ihm behandelt wird. Beides hat wohLin dem Roman sein Vorspiel, dem seine Freundschaft zu Kafka als Vor51
Nachweise
w i i r f d i e n t e , I h m Z i t a t e e n t n o m m e n z u h a b e n , stellt u n t e r d e n M i ß g r i f f e n dieser L e b e n s b e s c h r e i b u n g k e i n e s w e g s d e n g e r i n g s t e n dar. D a ß in diesem R o m a n - »Zauberreich d e r Liebe« - Fernerstehende eine Verletzung der Pietät gegen d e n Verstorbenen sehen konnten, w u n d e r t den Verfasser, wie er gesteht. »Wie alles m i ß v e r s t a n d e n w i r d , s o a u c h d i e s . . . M a n e n t s a n n s i c h n i c h t , d a ß P i a t o n s i c h auf ä h n l i c h e , a l l e r d i n g s w e i t u m f a s s e n d e r e A r t sein g a n z e s L e b e n l a n g s e i n e n L e h r e r u n d F r e u n d S o k r a t e s als l e b e n d i g w e i t e r w i r k e n d , als m i t l e b e n d e n , m i t d e n k e n d e n Wegbegleiter d e m T o d e abgetrotzt hatte, indem er ihn z u m H e l d e n f a s t aller D i a l o g e m a c h t e , d i e e r n a c h d e s S o k r a t e s T o d s c h r i e b . « (S. 8 2 ) E s ist w e n i g A u s s i c h t , d a ß B r o d s » K a f k a « e i n m a l u n t e r d e n g r o ß e n g r ü n d e n d e n Dichterbiographien, in der R e i h e des Schwabs c h e n H ö l d e r l i n , des F r a n z o s ' s c h e n B ü c h n e r , des Bächtoldschen K e l l e r , w i r d g e n a n n t w e r d e n k ö n n e n . D e s t o d e n k w ü r d i g e r ist sie als Z e u g n i s e i n e r F r e u n d s c h a f t , d i e n i c h t z u d e n k l e i n s t e n Rätseln in Kafkas Leben gehören dürfte.
Zur
zehnten
9 - 3 8 Franz Wiederkehr
Kafka. seines
Todestages
D e r im Mai und Juni 1934 entstandene, in den darauffolgenden Monaten bearbeitete Essay erschien erstmals als Teilabdruck zweier der vier Abschnitte unter dem Titel Franz Kafka. Eine Würdigung in: Jüdische Rundschau, 21.12.1934 (Jg. 39, N r . 102/103), S. 8 (Potemkin) u n d 2 8 . 1 2 . 1934 (Jg> 39, N r . 104), S. 6 (Das buckliebt Männlein). D e r erste vollständige A b d r u c k erfolgte in: Walter Benjamin, Schriften, hg. von T h . W. A d o r n o und Gretei A d o r n o , Band II, F r a n k f u r t am Main 1955, S. 196-228. Druckvorlage: Walter Benjamin, Gesammelte Schriften, Band II, hg. von Rolf Tiedemann u n d H e r m a n n Schweppenhausen F r a n k f u r t am Main 1977, S. 409-438 Z i t a t n a c h w e i s e : 1 1 0 , j Schuwalkin . . . ] Benjamins Nacherzählung einer Puschkinschen Anekdote; s. Alexander Puschkin, A n e k d o t e n u n d Tischgespräche, hg., übertragen u n d mit dem V o r w o r t versehen von J o hannes Guenther. Mit Illustrationen von Nicolai Saretzkij, M ü n c h e n 1924, 42 ([Nr.] 24: »Potjomkin litt häufig [ . . . ] « ) ; bei Puschkin »Petuschkow« statt Schuwalkin. — Die Nacherzählung w u r d e v o n Benjamin in ähnlicher F o r m unter dem Titel Die Unterschrift (s. Gesammelte Schriften, Bd. 4, 758 f.) 1934 dreimal veröffentlicht (davon einmal in dänischer Übersetzung; s. а. а. O., 1081); zum Blochschen Gegenstück »Potemkins Unterschrift« s. а. а. O., 1082 »Nachweise« - 1 0 , 2 5 Augen«] F r a n z Kafka, Das Schloß. R o m a n , M ü n c h e n 1926,11 - 1 0 , 3 0 Beamtenstube.Kafka, Beim Bau der Chinesischen Mauer. Ungedruckte Erzählungen u n d Prosa aus d e m Nachlaß, hg. v o n Max Brod und H a n s Joachim Schoeps, Berlin 1931,231 (»Betrachtungen ü b e r Sünde, Leid, H o f f nung und den wahren Weg«, Aph. 34) - 1 0 , 3 3 haben] s. Georg Lukács, zit. in: E r n s t B l o c h , Geist der Utopie, München, L e i p z i g l 9 i 8 , 2 2 - 1 0 , 3 8 Dampfhämmer«] Kafka, Ein Landarzt. Kleine Erzählungen, München, Leizigigig, 35 (»Auf der Galerie«)-11,17 Mensch h*] Kafka, D a s Urteil. Eine Geschichte (Bücherei »Der jüngste Tag«, Bd. 34), Leipzig 1916,22, 2 3 , 2 4 , 2 8 - 1 1 , 2 1 Ertrinkens] s. а. а. O., 28-1.1,27unsauber] s. а. а. O., 20 -iL,^gewesen«] Kafka, Das Schloß, a. a. O . , 4 6 2 - 1 2 , 8 Kafka, Beim Bau der Chinesischen Mauer, а. а. O., 218 (»Er«) - 1 2 , 2 3 ivirdt«] Kafka, D e r Prozeß. R o m a n , Berlin 1925, 85 (Drittes Kapi1 Die Ziffer vor dem Komma bezeichnet die Seitenzahl, die dahinter dît: ZeiJenzaM der betreffenden Seite im vorliegenden Band
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tel ; im folgenden in römischen Ziffern) -12,33 scheinen. * ] Hermann Cohen, Ethik des reinen Willens, 2. rev. Aufl., Berlin 1907, 362 - 1 3 , 7 haben.«!] Kafka, Das Schloß, а. а. O., 332-13,24verirren.*] a. a. O., 79L - 13,33 anhaftet.<*] Kafka, Der Prozeß, a . a . O . , 322f. (VIII) - 14,11 uns.«] Max Brod, Der Dichter Franz Kafka, in: Die Neue Rundschau 1921 (Jg. 11), 1213: »Gesprächs«, »vomheurigen«, »Gnosis: Gott«, »Oh, Hoffnung [ . . . ] uns« gesperrt - 14,18 Ungeziefer] s. Kafka, Die Verwandlung (Bücherei »Der jüngste Tag«, Bd. 22/23), Leipzig 1915, 3 14,19 Besitz] 5. Kafka, Beim Bau der Chinesischen Mauer, a . a . O . , 54 (»Eine Kreuzung«) - 1 4 , 2 0 Hausvaters] s. Kafka, Ein Landarzt, a. a . O . , 95 (»Die Sorge des Hausvaters«) - 1 4 , 2 4 w i r d ] s. Kafka, Betrachtung, 2. Ausg., Leipzig o. J. [1915], 17-26 (»Entlarvung eines Bauernfängers«) 14.26 kommt] s. Kafka, Amerika. Roman, München 1927, 343 (VII) 14.27 werden] s. Kafka, Betrachtung, a . a . O . , 15f. (»Kinder auf der Landstraße«) - 1 4 , 3 0 Gehülfet] s. Robert Walser, Der Gehülfe, Berlin 1908-14,36Bote] s. Kafka, Das Schloß, a. a. 0 . , 4 i , ĄKnauel.«] а. а. О., 84 -15,21 ihnen.t) Kafka, Beim Bau der Chinesischen Mauer, а. а, O., 40 (»Das Schweigcn der Sirenen«) - 15,31 können* ] a. a. O - , 3 9 15,34Schweigen*] а. а. О.-i6,^entgegengehalten.«] а. а. О., 41-16,15 f. Munterkeit, t] Kafka, Ein Hungerkünstler. Vier Geschichten, Berlin 1924,73 (»Josefine, die Sängerin oder Das Volk der Mäuse«) - i 6 , l 8 - 3 i £ s bis hineinhorcht.] s. den ähnlich lautenden Passus in: Ges. Sehr., Bd. 2, 375,25-38 - 17,2 Pferdekopf.«] Kafka, Betrachtung, a . a . O . , 77f. (»Wunsch, Indianer zu werden«) - 17,21 Clayton!«] Kafka, Amerika, a.a. O . , 357 (VIII) -17,27Rennbahn«] Kafka, Betrachtung, а. а. O., 80 (»Unglücklichsein«) - 17,28 Herrenreiter*] s. a . a . O . , 70-74 (»Zum Nachdenken für Herrenreiter«) - 17,30 Schritt*] Kafka, Ein Landarzt, а.а. O., 2 (»Der neue Advokat«) - 1 7 , 3 3 lassen] s. Kafka, Betrachtung, a . a . O . , 12f. (»Kinder auf der Landstraße«) - 17,36 Sprünge«] Kafka, Amerika, а. а. O., 287 (VII) -18,10 Gefühls.*] Franz Rosenzweig, Der Stern der Erlösung, Frankfurt a. M. 1921, 96 (Teil l, Buch 3) - 18,34 auf.*] Werner Kraft, Franz Kafka. Durchdringung und Geheimnis, Frankfurt a. M. 1968,24 (»Der Mensch ohne Schuld. Ein Brudermord«; Neufassung gegenüber der von Benjamin zitierten mit den Varianten »als« statt indem, »in dem« statt in welchem, »sich befindet« statt liegt und der Streichung von heißt es ausdrücklich)-, Zitat im Zitat: Kafka, Ein Landarzt, a . a . O . , 128 (»Ein Brudermord«) - 1 9 , 4 muß.f»] Kafka, Die Verwandlung, а. а. О., 5 -19,11 sehn. *] Kafka, Der Prozeß, а. а, О 3 6 9 (JX)-19,24 haben] s. Kafka, Beim Bau der Chinesischen Mauer, а. а. O., 51 (»Der Schlag ans Hoftor«) - 19,33 sollte.«] Kafka, Der Prozeß, a . a . O . , 226f. (VII) - 20,7 Gesetz«] s. Kafka, Ein Landarzt, a . a . O . , 49-56 und Der Prozeß, a.a. O . , 375-378 (IX)-20,12 Prozeß«] s. Kafka, Der Prozess, а. а. О., 378-388 (IX) - 20,37 hat] s. Gespräch mit F. v.
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Müller, 2.10.1808; zit. in: Goethes Gespräche, Gesamtausgabe, neu hg. von Flodoard Frhr. von Biedermann. Bd. 1, Leipzig 1909,539 (Nr. 1098) -21,18 hätte.*] Kafka, Beim Bau der Chinesischen Mauer, a. a. O - , lof., 16 (»Beim Bau der Chinesischen Mauer«) - 21,38 bleibt.*] Léon Metchnikoff, La civilisation et les grands fleuves historiques. Avec une préface de M. Elisée Reclus, Paris 1889,189 (VII, Territoire des civilisations fleuviales)- 22,10 Gewissen.«] F. M. Dostojewski, Die Brüder Karamasoff, Roman, übertragen von E . K . Rasìn, München о. J., 470 (Buch 5, Kapitel 5) — 22,12 Tagebuchnotiz] s. Kafka, Tagebücher. 1910-1923, N e w York, Frankfurt a. M, 1951, 54-58 (26. 3. i g i i ) - 2 2 , 2 5 anbefahl] s. [Max Brod,] Nachwort, in: Der Prozeß, а. а. О., 403 f. und 404 f. -23,6 Weg*] Kafka, Beim Bau der Chinesischen Mauer, а. а. O., 213 (»Er«) - 23,10 Grund.«] Kafka, Ein Landarzt, а. а. O., 182 (»Ein Bericht für eine Akademie«) - 23,16 kämpft.«] Kafka, Der Prozeß, а. а. O., 393 (X) - 23,21 aufgeregt«] Kafka, Amerika, a . a . O . , 382 (VIII) - 23,24 haben] s. a.a. O . , 359f., 362 (VIII)-23,26sprachen] s. Text, 1 6 - 2 3 , 3 2 wurde.«] Kafka, Ein Hungerkünstler, a . a . O . , 13 (»Erstes Leid«) - 23,35 gedrückt«] Kafka, Ein Landarzt, а. а. O., 134 (»Ein Brudermord«) —23,39 Rehgionsstiftern.«] Gespräch mit Benjamin; s. Benjamin-Archiv, Ms 334 : Soma Morgenstern bat — im Gespräch mit mir — die schöne Bemerkung gemacht, in Kafkas Büchern weht Dorfluft wie bei allen Religionsstiftern. - 24,2Dorfe«] s. Kafka, Ein Landarzt, а. а. O., 88 f. (»Das nächste Dorf«)-24,6s'e¡n. » I Laotse,Taoteking. Das Buch des Alten vom Sinn und Lehen, aus dem Chinesischen verdeutscht und erläutert von Richard Wilhelm, Jena 1911, 85 (»80. Selbständigkeit«, v. 16—19); möglicherweise hat Benjamin hier aus dem Gedächtnis zitiert. Da die Modifikationen des Zitats f ü r den Textzusammenhang nicht unerheblich sein dürften, werden sie hier genannt: Benjamin schrieb in der Ferne für »gegenseitig«, sollen für »sollten«, Menschen für »Leute« und weit f ü r »hin und her«. Die Verstrennungszeichen setzte der Herausgeber. - 24,13 habe] Brods Erwähnung findet sich nicht im Nachwort zum »Schloß«, sondern mitgeteilt bei Willy Haas, Gestalten der Zeit, Berlin 1930,183 f. (Drei Dichter. Franz Kafka) — 24,25 Mahl] Das Symbol der Braut, die f ü r die Seele, die Kirche oder die Unerlosten steht, ist in den Midraschim der späteren Haggadah und den Legenden der jüdischen Folklore verbreitet. Aus dieser dürfte das Gleichnis Soma Morgenstern geläufig gewesen und, durch die Gespräche mit ihm, Benjamin, der es hier nacherzählt, bekannt geworden sein. -24,34hervorkommen] s. Kafka, Ein Landarzt, a. a. O - , 8, 10 (»Ein Landarzt«) - 24,35 sitzt] s. Kafka, Das Schloß, a . a . O . , 69 24,36 bringt] s. Kafka, Beim Bau der Chinesischen Mauer, а. а. O., 51 (»Der Schlag ans Hoftor«) - 25,20 sind] s, »Er« und Betrachtungen über Sünde, Leid, Hoffnung und den wahren Weg, in: а. а. O., 212-224 und 225—249 — 25,29Kaiser] s. Hellmuth Kaiser, Franz Kafkas Inferno. Psy-
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chologische Deutung seiner Strafphantasie, Wien 1931 - 25,30 Schoeps] s. [Hans Joachim Schoeps,] Nachwort, in: Beim Bau der Chinesischen Mauer, a. a . O . , 250-2Ć6 (zus. mit Max Brod); ders., Unveröffentlichtes aus Franz Kafkas Nachlaß, in: D e r Morgen. Berlin, 2 . 5 . 1 9 3 4 (Jg. 10) 25,30 Rang] s. Bernhard Rang, Franz Kafka, in: Die Schildgenossen. Augsburg 1934 (Jg. 12, H e f t 2/3) - 25,3of. Groethuysen] s. Bernard Groethuysen, A propos de Kafka, in: La Nouvelle Revue Française. 1933 (Neue Serie 40, H e f t 4) - 26,4 Amerika'.*} Willy Haas, Gestalten der Zeit, Berlin 1930,175 (Drei Dichter. Franz Kafka) - 26,13 Göttlichen. « ] Bernhard Rang, Franz Kafka, a. a. O, - 26,19 Goa.»] Willy Haas, Gestalten der Zeit, a.a. O . , 176-26,24 Gott.»:] a . a . O . —26,25 Canterbury] s. Anselm von Canterbury, Cur deus homo ?, in : Opera. Patrologia« cursus, vol. CLV - 26,31 richten.«:] Kafka, Das Schloß, a. a. O . , 414 - 26,35 kennt, t]Denis de Rougemont, Le Procès, par Franz Kafka [ - - • ] , in: La NouvelleRevueFrançaise.Maii934(Jg.22),869:»[.. . , ] t o u t c e l a [ , .]« - 27,28 Haus<«] Kafka, Briefe. 1902-1924, N e w York, Frankfurt a.M. 1958,333 (Juni 1921, an Robert K l o p s t o c k ) - 2 7 , 3 7 m u ß t e n ] s. Nachweis zu 22,25 - 28,3 machen«] Die Bibel, 2 Mose 20. 4. - 28,4 überleben«] Kafka, Der Prozeß, a . a . O . , 401 (X) - 28,6 Gefühls«] s. Nachweis zu 18,10 - 28,16 werden. «] Kafka, Beim Bau der Chinesischen Mauer, а. а. О., 217E (»Er«) - 28,25 Glauben.*] а. а. О., 234 (»Betrachtungen [ . . . ] « , Aph. 48)-28,35ist.«] Kafka, in: Hyperion. 1909 (Jg. 2, H e f t i ) — 28,36 aus] s. Kafka, Betrachtung, 2 (»Kinder auf der Landstraße«) - 29,4 nicht.«] Kafka, Beim Bau der Chinesischen Mauer, a . a . O . , 51 (»Der Schlag ans Hoftor«) - 29,11 Finger*] Kafka, Der Prozeß, a . a . O . , 190f. (VI)-29,13 gefragt ] Kafka, Das Schloß, a . a . O . , 479 - 29,17 rechtfertigt. « ] Johann Jakob Bachofen, Urreligion und antike Symbole. Systematisch angeordnete Auswahl aus seinen Werken in drei Bänden, hg. von Carl Albrecht Bernoulli, Bd. 1, Leipzig 1926, 386 (»Versuch über die Gräbersymbolik der Alten«) - 29,31 Intensität. « ] Willy Haas, Gestalten derZeit, a . a . O . , ig6f. -29,32Religion*] a.a.О., 195-29,39 Gedächtnisses.*] а.а.О. - 30,16geschieden.«] Franz Rosenzweig, Der Stern der Erlösung, а. а. O., 76f. (1,2)-30,29war."] Kafka, EinHungerkiinsder, a. a. O-, 47 (»Ein Hungerkünstler«) - 30,30 Bau*] Kafka, Beim Bau der Chinesischen Mauer, 77-130 (»Der Bau«) - 30,30 Riesenmaulwurf*] a. a. O . , 131-153 (»Der Riesenmaulwurf«)-30,37geworden«:.] a . a . O . , 47 (»Der Jäger Gracchus«) — 30,38 Gracchus.*] a . a . O . — 31,5 Tier*] s. a. a. O . , 121 f. (»Der Bau«); dazu s. Nachwort, 261, Anm. 17 - 31,18 stehen.*] Kafka, Ein Landarzt, 96 f. (»Die Sorge des Hausvaters«) - 31,20 auf«] а. а. O., 99 - 31,28 beschäftigen*] Kafka, Der Prozeß, а. а. O., 222 (VII) - 31,34 Erlösung*] Kafka, Beim Bau der Chinesischen Mauer, 56 (»Eine Kreuzung«) - 31,39-32,1 Gerichtsherren] s. Kafka, Der Prozeß, a . a . O . , etwa208, 2 8 8 - 3 2 , 1 Hotel] s. Kafka, Amerika, a . a . O . , 193-196
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(V) —32,2 Galeriebesuchern] s. Kafka, Der Prozeß, а. а. O., 65 (II)-32,8 muß] s. Kafka, In der Strafkolonie, Leipzig 1919, 28f. - 3 2 , 1 3 Soldat.«] Kafka, Tagebücher. 1910-1923, a . a . O . , 76 (3. 10. 191t) - 32,18 Rabbi] dazu s. Walter Benjamin/Gershom Scholem, Briefwechsel 1933-1940, Frankfurt am Main 1980,154 (Nr. 57) und 156 (Anm. 2)-уг,23.1асЬеп.*] Des Knaben Wunderhorn. Alte deutsche Lieder gesammelt von L[udwig] A[chim] v. Arnim und Clemens Brentano, Bd. 3, Heidelberg 1808 (= Neudruck der Heidelberger Originalausgabe, hg. von Oskar Weitzmann, Meersburg 1928), 297 (»Das buckliche Männlein«, Kinderlieder, 29. Stück, v. 25-28) - 32,24 Blättern. « ] Kafka, Ein Landarzt, a. a. O . , 100 (»Die Sorge des Hausvaters«) —32,27mit!*] Des Knaben Wunderhorn, а. а. O, (v. 29-34} - 3 , 9 Ahnungswissen«] [Hans Joachim Schoeps und Max Brod,] Nachwort, in: Beim Bau der Chinesischen Mauer, a. a . O . , 255-y>,,2ĄAntwort] Die Geschichte war als jüdischer Witz geläufig; s. in jüdischen Witzbüchern um 1900. Benjamin könnte sie von Ernst Bloch gehört haben, vielleicht auch dieser von jenem; beide haben ihre Version veröffentlicht, Bloch eine >metaphysizierte< (s. Ges. Sehr., Bd. 4, 1082 »Nachweise«), Benjamin eine mit der des Essays fast gleichlautende unter dem TitelDer "Wunsch (s. a. a. 0,,y^t)f.).-^,jbhinrekht.<«] Kafka, Ein Landarzt, a . a . O . , 88f. (»Das nächste Dorf«) - 34,10 werden!**] Kafka, Betrachtung, а. а. О., 15 f. (»Kinder auf der Landstraße«) - 34,14 schließen«r] Kafka, Das Schloß, а. а. О., 270—34,20bin.<*] Kafka, Amerika, а. а. O., 350 (VII) - 34,24 vorkommt.*] Kafka, Beim Bau der Chinesischen Mauer, а. а. О , 248 (»Betrachtungen [ , . , ] « , Aph. 108)—34,28 werden.'«] а. а. O., 50 (»Der Jäger Gracchus«)-35,5gekommen!*] Kafka, Amerika, a . a . О , 345 (VII) - 35,15 wäre.«] Kafka, Beim Bau der Chinesischen Mauer, a . a . O . , 216 (»Er«) - 35,22f, unverständlich.'«] Kafka, Das Schloß, а. а. O., 342 — 35,27Nichts<«] s. Nachweis zu35,15 — 35,38senkte.*] Kafka, Amerika, а. а. O., 344 (VII) -36,23 Pferdekopf.«] s. Nachweis zu 17,2 - 36,34 auf.«] Kafka, Beim Bau der Chinesischen Mauer, a.a. 0 . , 6 з (»DerKübelreiter«)-36,35Eisgebirge*] a. a. 0 . , 6 5 36,37 Todes*] а. а. О., 50 (»Der Jäger Gracchus«) —37,5 zurücktreibt «] Plutarch, De Is. et Os., zit. in: Johann Jakob Bachofen, Urreligion und antike Symbole, a.a. p . , Bd. 1, а. а. O., 253-37,12 Kafka, Ein Landarzt, a.a.O., 4!. (»Der neue Advokat«) - 37,20 hat] s. Werner Kraft, Franz Kafka. Durchdringung und Geheimnis, a . a . O . , 13ff. (»Mythos und Gerechtigkeit. Der neue Advokat« ; völlig veränderte Fassung gegenüber der von Benjamin zitierten)—37,34 Fahrt«] Kafka, Beim Bau der Chinesischen Mauer, a. а. О., 233 (»Betrachtungen [ . . . ] « , Aph. 45) — 38,11 Ende.«] a. a . O . , 38 (»Die Wahrheit über Sancho Pansa«) a
2
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Ti.
39~4^ Franz Kafka: Beim Bau der Chinesischen
Mauer
Die etwa Juni 1931 niedergeschriebene Anzeige des Kafkaseben Nachlaßbandes hielt Benjamin als Rundfunkvortrag am 3.7.1931. Die Erstveröffentlichung des Textes erfolgte in: Walter Benjamin, Über Literatur, Frankfurt am Main 19Ć9, S. 186-193. Druckvorlage: Walter Benjamin, Gesammelte Schriften, Band II, hg. von Rolf Tiedetnann und Hermann Schweppenhausen Frankfurt am Main 1977, S. 676-^83 Zitatnachweise: 39,1 Mauer] s. Franz Kafka, Beim Bau der Chinesischen Mauer. Ungedruckte Erzählungen und Prosa aus dem Nachlaß, hg. von Max Brod und Hans Joachim Schoeps, Berlin 1931 - 40,2 kommt."] a. a. O., 22 f. (»Beim Bau der Chinesischen Mauer«) ; s. auch Eine kaiserliche Botschaft, in: Kafka, Ein Landarz t. Kleine Erzählungen, München, Leipzigi9ï9,90-94 - 40,15-1 "/Allenfalls bis gibt. ] s.u., die Aufzeichnung Ms 213, 5. Stück, S. 121 - 40,21-35 Ein bis Bildwelt.] s.o., den Passus 32,14-35 - 40,33 wollen] s.o.,Nachweis zu 26,4 - 4 1 , 6 stemmen] s. Kafka, Der Prozeß. Roman, Berlin 1925, 67 (II) und u., die Aufzeichnung Ms 213, vorletztes Stück, S. 1 2 2 - p r o p h e t i s c h e s ] s.u., die Aufzeichnung »Tagebuch« Mai—Juni 1931, S. 130; im folgenden wird auf die daraus in den Vortrag übernommenen Passagen nicht mehr im einzelnen verwiesen. Sie finden sich dort verzeichnet; s.S. I3if. - 42,15 endlos,«-[ Max Brod, Nachwort, in: Kafka, Das Schloß. Roman, München 192Ć, 503 - 42,19 Erzählungen] s.u., die Aufzeichnung Ms 213, 6. Stück, S. 121 - 42,24 t, und bis gewesen] s.o., den Passus 14,28-31 - 42,30 Büchern] s.u., die Aufzeichnung Ms 213,13. Stück, S. 122 - 43,3 arbeiten] s. Brod, Nachwort а. а. O., 493 - 43,8 habe] s.o., Nachweis zu 24,13 - 43,8-26 Ich bisverbinden.] s.o., den Passus 24,13-30 -43,21 Körper] s.o., Nachweis zu 24,25 - 43,29-34 Solchen bis ist.] s.o., den Passus 19,35-20,1 43Î37 »Verwandlung*] s.o., Nachweis zu 14,18 - 44,21 -wirken.*] Willy Haas, Gestalten der Zeit, Berlin 1930,176 - 44,25-29 Eine bis denken. ] s.u., die Aufzeichnung Ms 213,1. Stück, S. 120 - 45,3 enträtselt] s. o., Nachweis zu 29,31 -45,6Hausvaters«] s.o., Nachweis zu 14,20-45,66, »Sorge biswt.J s.o., den Passus31,29-35 -45,11 Erlösung] s.o., Nachweis zu 31,34 - 45,12-21 Will bis hat -] s.o., den Passus 32,14-35 - 45,15 niesen] Des Knaben Wunderhorn, s.o., Nachweis zu32,22 (v. 1-4); »Zwiebeln« und »nießen« statt Blümlein und niesen - 45,19-38 Es bis Ende. « ] s.o., den Passus 37,29-38,11 - 45,38 Ende.*] s.o., Nachweis zu 38,11
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47-48 Kavaliersmoral Die - wohl 1929 entstandene - Polemik gegen Ehm Wel k, der Max Brod wegen Nichtbeachtung gewisser Kafka'scher Testamentsvorscbnften angegriffen hatte, erschien erstmals in: Die literarische Welt, 25. 10, 1929 (Jg- 5> N r . 43), S. 1. Druckvorlage: Walter Benjamin, Gesammelte Schriften, Band IV, hg. von Tillman Rexroth, Frankfurt am Main 1972, S. 466-468 Zitatnachweise: 47,11 »Prozeß«] s. Franz Kafka, Der Prozeß, Roman, Berlin 1925 (Nachwort) - 47,11 »Schloß*] ders., Das Schloß. Roman, München 1926 (Nachwort)
4 9 - 5 2 Max Brod: Franz Kafka.
Eine Biographie.
Prag 1937
Die auf Bitte Gershom Scholems etwa Anfang Juni 1938 verfaßte Kritik des Brodschen Buches, einer-dubiosen - Biographie von Kafka (Scholem wollte sie dem Verleger Salman Schocken zugänglich machen, um von diesem für Benjamin den Auftrag zu einem Kafka-Buch zu erwirken, den Schocken aber nicht erteilte) wurde erstmals veröffentlicht in: Walter Benjamin, Briefe, hg. und mit Anmerkungen versehen von Gershom Scholem und Theodor W. Adorno, Band 2, Frankfurt am Main 19Ć6, S. 756-7Й0 (Nr. 299,12. 6,1938). Ein gleichzeitiges Angebot Benjamins an Ferdinand Lion zur Veröffentlichung der Kritik in der Zeitschrift »Maß und Wert« war ohne Erfolg geblieben. Druckvorlage: Walter Benjamin, Gesammelte Schriften, Band III, hg. von Hella Tiedemann-Barteis, Frankfurt am Main 1972, S. 526-529 Zitatnachweise: 49,1 Prag 1937] vollständiger Titel: Max Brod, Franz Kafka. Eine Biographie. Erinnerungen und Dokumente, Prag 1937 51,14 Werner Kraft] Werner Krafts Arbeiten über Kafka, die seit den dreißiger Jahren in Zeitschriften und Zeitungen erschienen, wurden zusammengefaßt in: Werner Kraft, Franz Kafka. Durchdringung und Geheimnis, Frankfurt am Main 1968 - 52,3 »7,¿¡überreich der Liebe*] s.Max Brod, Zauberreich der Liebe. Roman, Berlin 1928
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Briefzeugnisse
Aus der Korrespondenz mit Gershom Scholem
i. Benjamin an Scholem. Berlin, 21. 7, 1925 fi. Briefe, 3971) Einige nachgelassne Sachen von Kafka ließ ich mir zur Rezension geben. Seine kurze Geschichte »Vor dem Gesetz« [in: Ein Landarzt. Kleine Erzählungen, München, Leipzig 1919] gilt mir heute wie vor zehn [sie] Jahren für eine der besten, die es im Deutschen gibt.
2. Benjamin an Scholem. [Berlin,] November (s. Freundschaft, 1812)
1927
Als Krankenengel habe ich an meinem Lager Kafka. Ich lese den »Prozeß«.
3. Benjamin an Scholem. Berlin, 20. 6. 1931 (s. Briefe, 535) Zur Zeit versuche ich mich an einer Anzeige des Kafkaschen Nachlaßbandes die ungemein schwierig ist. Ich habe fast sein ganzes Werk letzthin - teils zum zweiten, teils zum ersten Male gelesen. Da beneide ich Dich um Deine jerusalemitischen Zauberer; das wäre ein Punkt über den sie zu befragen mir lohnend
X Briefzeugnisse, die durch die Sigle Briefe nachgewiesen werden, finden sich in: Walter Benjamin, Briefe i (und ±)t hg. und mit Anmerkungen versehen von Gershom Scholem und Theodor W. Adorno, Prankfurt am Main 1978 2 Briefzeugnisse, die durch die Sigle Freundschaft nachgewiesen werden, finden sich in: Gershom Schòlem, Walter Benjamin - die Geschichte einer Freundschaft, Frankfurt am Main 1975
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scheint. Vielleicht winkst Du mir mit einer Andeutung herüber. Auch wirst Du Dir ja schon gelegentlich Separatgedanken über Kafka gemacht haben.
4. Scholem an Benjamin. [Jerusalem,] 1. 8. 1931 (s. Freundschaft, 212f.) Ich nehme an, du wirst den ersten Band deiner gesammelten kritischen Betrachtungen [er kam nicht zustande] dem Andenken von Gundolf widmen. Jedenfalls aber solltest du deine Anzeige über Kafka, welche du vorhast, so abfassen daß sie in dem Buch Platz findet, denn es ist eigentlich moralisch undenkbar, daß du ein Buch kritischen Inhalts herausgibst, das Kafka nicht in seinen Umkreis schließt. Da du von mir eine »Andeutung« zur Sache verlangst, kann ich nur sagen, daß ich den Nachlaßband noch nicht besitze, und nur zwei Stücke von höchster Vollkommenheit daraus kenne. Aber »Separatgedanken« über Kafka habe ich mir selbstverständlich auch schon gemacht, die aber freilich nicht Kafkas Stellung in dem Kontinuum des deutschen (in dem er keinerlei Stellung hat, worüber er selbst sich übrigens nicht im mindesten zweifelhaft war; er war wie du wohl weißt Zionist), sondern des jüdischen Schrifttums betreffen. Ich würde auch dir raten, jede Untersuchung über Kafka vom Buche H i o b aus zu beginnen oder zum mindesten von einer Erörterung über die Möglichkeit des Gottesurteils, welches ich als den einzigen Gegenstand der Kafkaschen Produktion ansehe, in einer Dichtung zu behandeln[!]. Dies nämlich sind meiner Meinung nach auch die Punkte, von denen aus die Sprachwelt Kafkas beschrieben werden kann, die ja wohl in ihrer Affinität an die Sprache des jüngsten Gerichtes das Prosaische in seiner kanonischsten Form darstellt. Die Gedanken, die ich vor vielen Jahren in meinen Thesen über Gerechtigkeit die du kennst ausgesprochen habe, würden sich in ihrer Beziehung zur Sprache mir als der Leitfaden meiner Betrachtungen über Kafka ergeben. Wie du als Kritiker es anstellen wolltest, ohne die Lehre, bei Kafka Gesetz genannt, ins Zentrum zu stellen, etwas über die Welt dieses Mannes zu sagen, wäre mir ein Rätsel. So muß ja wohl, wenn sie möglich war e (das freilich ist die Hypothesis der Vermessenheit.1!), die moralische 64
Reflexion eines Halachisten aussehen, der die sprachliche Paraphrase eines Gottesurteils versuchen wollte. Hier ist einmal die Welt zur Sprache gebracht, in der Erlösung nicht vorweggenommen werden kann - geh hin und mache das den Gojim klar! Ich glaube, an diesem Punkt wird deine Kritik ebenso esoterisch werden wie ihr Gegenstand: so gnadenlos wie hier brannte noch nie das Licht der Offenbarung. Das ist das theologische Geheimnis der vollkommenen Prosa. Jener überwältigende Satz, daß es sich beim jüngsten Gericht eher um ein Standrecht handle, stammt ja, wenn ich nicht irre, von Kafka selbst.
5. Benjamin an Scholem. o.D. [3. 10. 1931] (s. Briefe, 539) Es geht mir ein, was Du von Kafka schreibst. Eng mit Deinen korrespondierende Gedanken sind mir in den Wochen, in denen ich der Sache nähertrat, ebenfalls gekommen. Eine provisorische Zusammenfassung habe ich ihnen in einer kurzen Notiz zu geben gesucht, dann aber die Sache, weil ihr meine Kräfte im Augenblick nicht entsprechen, beiseite gelegt [möglicherweise handelt es sich um die Aufzeichnung Ms 212; s.u., S. 116f.]. Inzwischen bin ich mir klar darüber geworden, daß ich den entscheidenden Anstoß vermutlich von dem ersten und schlechten Buch über Kafka, das ein gewisser Johannes [Joachim] Schoeps aus dem Kreise Brods vorbereiten soll [es ist nicht erschienen], erhalten werde. Ein Buch würde mir gewiß meine Klarstellungen erleichtern; je schlechter es ist, desto besser. Überrascht hat mich in einigen Gesprächen, die in besagte Wochen fallen, Brechts überaus positive Stellung zu Kafkas Werk. Er schien den Nachlaßband sogar zu verschlingen, während Einzelnes aus ihm mir bis heute Widerstand geleistet hat, so groß war mir die physische Qual beim Lesen.
6. Benjamin an Scholem. Berlin, [28. 2.1933] (s. Briefe, 563 f f . ) O h n e die Arbeit von Schoeps zu kennen, glaube ich doch den Horizont deiner Betrachtungen etwa absehen zu können und kann aus tiefster Uberzeugung bestätigen, daß nichts notwendiger ist, als den gräßlichen Schrittmachern protestantischer Theologumena innerhalb des Judentums den Garaus zu machen. Aber das heißt noch wenig verglichen mit den Bestimmungen der O f fenbarung, die da bei dir gegeben und bei mir in hohen Ehren werden gehalten werden. »Ist doch das Absolut-Konkrete das Unvollziehbare schlechthin« - diese Worte sagen (von der theologischen Perspektive abgesehen) über Kafka natürlich mehr aus als dieser Schoeps bis an das Ende seiner Tage zu verstehen im Stande sein wird. Genau so wenig kann das Max Brod verstehen und ich habe hier einen der Sätze gefunden, die am frühesten und tiefsten in deinen Überlegungen angelegt gewesen sein mögen, [""i Also mein Kafkaaufsatz [seil, der Essay von 1934] ist noch ungeschrieben und zwar aus zwei Gründen. Erstens lag - und liegt mir durchaus daran, ehe ich an diese Arbeit gehe, den angekündigten Versuch von Schoeps zu lesen. Ich verspreche mir von ihm eine Kodifikation aller Irrmeinungen, die aus der eigentlich prager Interpretation von Kafka zu entnehmen sind, und du weißt, daß solche Bücher von jeher inspirierend auf mich gewirkt haben. Aber auch aus dem zweiten Grunde ist das Erscheinen dieses Buches mir nicht unwichtig. Denn es versteht sich von selbst, daß ich die Arbeit an einem solchen Essay nur auf Grund eines Auftrages würde unternehmen können. U n d woher sollte der aus heiterem Himmel kommen. Es sei denn, du verschaffst mir einen palästinensischen. In Deutschland wird sich so etwas noch am ehesten in der Gestalt einer Rezension von Schoeps vorbringen lassen. N u r weiß ich nicht, ob [mit] dem Erscheinen des Buches zu rechnen ist.
7. Scholeman Benjamin. Jerusalem, [ca. 20. 3.1933] (s. Briefwechsel, 46 ) г
In Punkto К afka möchte ich bemerken, daß Du nach meinem Dafürhalten nicht damit rechnen kannst das von Dir erwartete Buch des Herrn Schoeps zu erleben. Der junge Mann [. . . ] ist vielzusehr damit beschäftigt, auf allen Wegen den Anschluß an den deutschen Faschismus zu gewinnen und zwar sans phrase als daß er wohl in absehbarer Zeit zu einer andern Beschäftigung Zeit finden könnte. Zur Zeit liegt ein unvorstellbares Buch vor [seil. »Streit um Israel«], dessen Lektüre nicht uneben ist, ein Briefwechsel zwischen besagtem Schoepsen und dem altbekannten [Hans] Blüher, in dem jener sich als preußischer Konservativer jüdischen Glaubens gegen die Ideologie des gebildeteren Antijudaismus zu behaupten sucht; es ist ein verächtliches Schauspiel [ . . . ] . Dies Schauspiel hätte man sich, offen gestanden, von dem Nachlaßherausgeber Kafkas nicht versehen, auch wenn es ein Bursche von 23 Jahren ist, den der Tote sich keineswegs ausgesucht hat.
8. Benjamin an Scholem. San Antonio, Ibiza, 19. 4. 1933 (s. Briefwechsel, 57J Uberaus wertvoll war mir [ . . . ] deine Mitteilung über Schoeps und Blüher. N u n erwarte ich dessen Buch über Kafka unter diesen Umständen mit verdoppelter Ungeduld. Denn was sähe dem F.ngel, der den vernichteten Teil von Kafkas Werken betreut, ähnlicher, als ihren Schlüssel unter einem Misthaufen zu verstekken? Ob man sich ähnliche Aufklärungen von dem neuesten Essay über Kafka [» A propos de Kafka«] versprechen darf, weiß ich nicht. Er steht im Aprilheft der Nouvelle Revue Française und stammt von Bernhard Groethuysen.
1 Briefzeugnisse, die durch die Sigle Briefwechsel nachgewiesen werden, finden sich in: Walter Benjamin/Gershom Scholem, Briefwechsel 1933-1940, Frankfurt am Main 1980
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£). Benjamin an Scholem. Paris, 18.1.1934 (s. Briefe, $97f) Du weißt, mit welchem außerordentlichen Anteil ich alles lese, was mir von [Samuel Joseph] Agnon zugänglich ist. [ . . . ] Schöneres habe ich nicht [ . . . ] gefunden als »die große Synagoge«, die ich als ein gewaltiges Musterstück ansehe. [ . . . ] Musterhaft ist Agnon in jedem Stück und wenn ich »ein Lehrer in Israel« geworden wäre - aber ebenso leicht hätte ich wohl ein Ameisenlöwe werden können - so hätte ich mir eine Rede über Agnon und Kafka nicht nehmen lassen. [ . . . ] Kafkas Name veranlaßt mich, Dir zu schreiben, daß ich hier einen Umgang mit Werner Kraft aufgenommen habe. [. . .] Ich war überrascht, von ihm einige Arbeiten zu lesen, denen ich weder Zustimmung noch Respekt versagen kann. Zwei von ihnen sind Kommentar-Versuche zu kurzen Kafkaschen Stücken, zurückhaltende und keineswegs einsichtslose [dazu s.o., S. 18 und 37]. Kein Zweifel, daß er sehr viel mehr als Max Brod von der Sache verstanden hat.
10. Scholem an Benjamin. [Jerusalem,J19. 4. 1934 (i. Briefwechsel, 134) Ich beeile mich Dir [ . . . ] Mitteilung von verschiedenen Schritten zu machen, die ich unternommen habe. Erstens habe ich Dr. Robert Weltsch, den mir gesinnungsmäßig einigermaßen nahestehenden Chefredakteur der [Berliner] »Jüdischen Rundschau«, der in den letzten Wochen in Jerusalem war, intensiv auf Dich hingewiesen [ . . . ] . Die einzige konkrete Anregung, die ich ihm für Dich geben konnte, war: von Dir und niemand anderem einen Artikel zum zehnten Todestag von Franz Kafka zu fordern [ . . . ] , Er (W.) versicherte mir, er würde Dir nach seiner Rückkehr nach Berlin schreiben. [ . . . ] Er sagte, er würde Dich drucken, wenn er nicht direkt ein Verbot vorgelegt bekäme, woran er aber, Deines esoterischen Stils halber, nicht glaubt, solange Du nicht etwa ausdrücklich als Mitarbeiter an politischen Emigrantenzeitschriften und Zeitungen abgestempelt bist. [ . . . ] Viel größer ist, im Ernstfall, die Schwierig68
keit des Themas, da die »Rundschau« [von der Zensur] an jüdische Themen gebunden ist. Ich möchte glauben, daß Dir ein wirklich schönes Essay über Kafka dort sehr nützen könnte. Du wirst dabei aber einer auch expliziten und formulierten Beziehung aufs Judentum Dich nicht gut entziehen können.
и. Benjamin an Scholem. Paris, 6. 5. 1934 (s. Briefwechsel, 140f.) Du zwingst mich, es auszusprechen, daß [. ..] Alternativen, die offenkundig deiner Besorgnis zu Grunde hegen [Alternativen zwischen metaphysischem Denken und kommunistischer Politik; dazu s. die Briefe 48, 49,50, Briefwechsel, S. 133-142, in ihrem Zusammenhang, insbes. auch Anm. 7, S. 137], für mich nicht einen Schatten von Lebenskraft besitzen. Diese Alternativen mögen im Schwange gehen - ich leugne nicht das Recht einer Partei, sie kund[zu]geben - es kann mich aber nichts bewegen, sie anzuerkennen. Wenn vielmehr etwas die Bedeutung kennzeichnet die das Werk von Brecht - auf das du anspielst, zu dem du aber, soviel ich weiß, dich zu mir nie geäußert hast - für mich besitzt, so ist es eben dies: daß es nicht eine jener Alternativen aufstellt, die mich nicht kümmern. Und wenn die nicht geringere Bedeutung des Werkes von Kafka f ü r mich feststeht, so ist es nicht zum wenigsten, weil nicht eine der Positionen, die der Kommunismus mit Recht bekämpft, von ihm eingenommen wird. [ . . . ] Und hier liegt nun der U bergang zu j enen Anregungen deines Briefes nahe, f ü r die ich dir vielen Dank sage. Wie viel mir an einem Auftrag, Kafka zu behandeln, gelegen wäre, brauche ich nicht zu sagen. Müßte ich seine Position im Judentum explizit behandeln, so wären mir dafür Fingerzeige von anderer Seite freilich unentbehrlich. Ich kann meine Unwissenheit da nicht zu Improvisationen ermutigen.
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12. Benjamin an Scholem. Paris, 15.5.1934 (s. Briefwechsel, 143) [H]eute in Eile nur wenige Zeilen. Und zwar, um Dir zu sagen, daß die erwartete Aufforderung von Weltsch gekommen ist. Ich habe ihm meine große Bereitwilligkeit erklärt, die Arbeit über Kafka zu übernehmen. Aber ich schrieb ihm [s.u., N r . 12.a], daß ich es für loyal und zweckmäßig halte, ihm zu sagen, daß meine Interpretation Kafkas von derjenigen Brods abweicht. Ich tat das, weil ich es für richtig hielt, in diesem Punkt Klarheit zu schaffen, um zu vermeiden daß eine Arbeit, an die ich in jedem Falle meine ganze Kraft zu wenden habe, etwa aus Gründen, die in meiner Sache liegen, abgewiesen wird. [ . . . ] deine besonderen, aus den jüdischen Einsichten hervorgehenden Anschauungen über Kafka [wären] mir bei diesem Unternchmen von größter Bedeutung - um nicht zu sagen nahezu unentbehrlich. Kannst du mir von ihnen einen Begriff geben?
12.a Benjamin an Weltsch• Paris, 9. 5. 3934 (s. Briefe, 607f.) Für Ihre Aufforderung bin ich Ihnen sehr dankbar, insbesondere aber verpflichtet für die Anregung, mich über Kafka zu äußern. Ich kann mir ein erwünschteres Thema nicht vorstellen; allerdings verkenne ich auch nicht die besonderen Schwierigkeiten, die in diesem Falle zu berücksichtigen sind. Ich halte es für loyal und zweckmäßig, auf diese kurz hinzuweisen. Die erste und gewichtigste ist sachlicher Natur. Als Max Brod vor Jahren von Ehm Welk wegen Nichtbeachtung gewisser Kafka'scher Testamentsvorschriften angegriffen wurde, habe ich Max Brod in der »Literarischen Welt« verteidigt [s.o., »Kavaliersmoral«, S. 47Í.]. Das hindert mich aber nicht, zu der Frage der Interpretation Kafkas ganz anders zu stehen als Max Brod. Insbesondere vermag ich methodisch mir in keiner Weise die gradlinige theologische Auslegung Kafkas (die, wie ich wohl weiß, nahe genug liegt) mir zueigen zu machen. Gewiß denke ich nicht im entferntesten daran, den von Ihnen vorgeschlagenen Artikel mit polemischen Ausfuhrungen zu belasten. Auf der ande70
ren Seite aber glaube ich, Sie darauf hinweisen zu müssen, daß mein Versuch, mich Kafka zu nähern - ein Versuch, der nicht von heute und gestern ist - mich Wege geführt hat, die von seiner gewissermaßen »offiziellen« Reception verschieden sind. [-•-] Mitglied der Reichsschrifttumskammer bin ich nicht. Ebensowenig bin ich aus den betreffenden Listen gestrichen worden: Ich bin nämlich überhaupt niemals Mitglied irgendeiner Schriftstellervereinigung gewesen.
13. Scholem an Benjamin. Jerusalem,] 20. 6. 1934 (s. Briefwechsel, 146) í 1
Daß Du die Arbeit über Kafka übernommen hast, freut mich sehr, aber mich selbst zur Sache zu äußern, sehe ich in diesen Wochen keine Möglichkeit. Du wirst Deine Linie ja zweifellos am besten ohne die mystischen Vorurteile, welche allein ich auszustreuen imstande bin, verfolgen, und kannst noch dazu auf große Resonanz bei dem Publikum der »Rundschau« rechnen.
14. Benjamin an Scholem. [Skovhostrandper Svendborg,] 9. 7. 1934 (s. Briefwechsel, 151) [ich scheue mich nicht], dir die Bitte, Einiges über deine Reflexionen zu Kafka mir mitzuteilen, trotz deiner letzten Abweisung zu wiederholen. Sie ist um so fundierter, als meine eignen Uberlegungen zu diesem Gegenstande dir ja nun vorliegen [seil. in Gestalt der ersten Fassung des Essays]. Wenn sie in ihren Hauptzügen auch dargelegt sind, so haben sie, seit meiner Ankunft in Dänemark, mich weiter beschäftigt und wenn ich mich nicht irre wird die Arbeit an ihnen noch für eine Weile aktuell bleiben. Mittelbar ist diese Arbeit durch dich veranlaßt; ich sehe keinen Gegenstand, in dem unsere Kommunikation näher liegend wäre. Und mir scheint, daß du meine Bitte nicht abschlagen kannst.
Ti
15. Scholem an Benjamin. [Jerusalem, сл. 10.-12. 7.1934] ('s. Briefwechsel, 154 j 1
[ . . . ] mir sehr problematisch, problematisch in jenen letzten Punkten, die hier mit entscheidend sind. Zu 98%, möchte ich sagen, leuchtet sie ein, aber das Sigel fehlt, und Du hast es gespürt, denn Du hast mit der Interpretation der Scham (und da hast Du ins Schwärzeste des Schwarzen getroffen) und des Gesetzes (da bist Du ins Gedränge geraten!) jene Ebene verlassen. Die Existenz des geheimen Gesetzes macht Deine Interpretation kaputt: es dürfte in einer vormythischen Welt chimärischer Vermischung nicht dasein, ganz zu schweigen von der so besonderen Art, in der es seine Existenz noch gar ankündigt. Da bist Du mit der Ausschaltung der Theologie viel zu weit gegangen, das Kind mit dem Bade auszuschütten. Aber das müßte noch erörtert werden. Heute nur dies in Eile und um Dir meinen innigen Dank zu sagen. Und eine Frage: von wem stammen nun eigentlich diese vielen Erzählungen: hat Ernst Bloch sie von Dir oder Du von ihm? Der auch bei Bloch [s. Briefwechsel, S. 156, Anm. 2] erscheinende große Rabbi mit dem tiefen Diktum über das messi anische Reich bin ich selber; so kommt man noch zu Ehren ! ! Es war eine meiner ersten Ideen über die Kabbala.
15. a Beilage zum Brieffragment
15 (s. Briefwechsel, 1 5 4 f f . )
Mit einem Exemplar von Kafkas »Prozeß« Sind wir ganz von dir geschieden? Ist uns, Gott, in solcher Nacht nicht ein Hauch von deinem Frieden, deiner Botschaft zugedacht? 1 Dazu s. Anm. l, S. 156: »Es ist besonders bedauerlich, daß gerade das erste Blatt [ . . . ] dieses Briefes verlorengegangen oder bisher im Benjamin-Archiv der Ostberliner Akademie der Künste noch nicht wieder aufgefunden ist. [ . . . ] er [enthielt] die Bestätigung [des Erhalts] des Manuskripts über Kafka sowie meine erste Stellungnahme dazu.«
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Kann dein Wort denn so verklungen in der Leere Zions sein oder gar nicht eingedrungen in dies Zauberreich aus Schein? Schier vollendet bis zum Dache ist der große Weltbetrug. Gib denn, Gott, daß der erwache, den dein Nichts durchschlug. So allein strahlt Offenbarung in die Zeit, die dich verwarf. N u r dein Nichts ist die Erfahrung, die sie von dir haben darf. So allein tritt ins Gedächtnis Lehre, die den Schein durchbricht: das gewisseste Vermächtnis vom verborgenen Gericht, Haargenau auf Hiobs Waage ward gemessen unser Stand, trostlos wie am jüngsten Tage sind wir durch und durch erkannt. In unendlichen Instanzen reflektiert sich, was wir sind. Niemand kennt den Weg im ganzen, jedes Stück schon macht uns blind. Keinem kann Erlösung frommen, dieser Stern steht viel zu hoch, wärst du auch dort angekommen, stündet du selbst im Weg dir noch. Preisgegeben an Gewalten, die Beschwörung nicht mehr zwingt, kann kein Leben sich entfalten, das nicht in sich selbst versinkt. 73
Aus dem Zentrum der Vernichtung bricht zu Zeiten wohl ein Strahl, aber keiner weist die Richtung, die uns das Gesetz befahl. Seit dies trauervolle Wissen unantastbar vor uns steht, ist ein Schleier jäh zerrissen, Gott, vor deiner Majestät. Dein Prozeß begann auf Erden; endet er vor deinem Thron? Du kannst nicht verteidigt werden, hier gilt keine Illusion. Wer ist hier der Angeklagte? Du oder die Kreatur? Wenn dich einer drum befragte, du versänkst in Schweigen nur. Kann solch Frage sich erheben? Ist die Anwort unbestimmt? Ach, wir müssen dennoch leben, bis uns dein Gericht vernimmt.
16. Scholem an Benjamin. {Jerusalem,] 17. 7. 1934 (s. Briefwechsel, 157/J Als ich aus Tel Aviv zurückkehrte, fand ich Deinen Brief, der sich mit dem meinen in Sachen Kafka gekreuzt hat. Du wirst inzwischen schon gesehen haben, daß Dein Vorschlag, bevor er mir noch zu Ohren kam, von mir aufgegriffen war, und ich kann heute die Linie, die ich in jenen ersten Bemerkungen hielt, nur bekräftigen. Die Welt Kafkas ist die Welt der Offenbarung, freilich in jener Perspektive, in der sie auf ihr Nichts zurückgeführt wird. Deiner Leugnung dieses Aspektes - wenn ich es wirklich als eine Leugnung ansehen soll und es nicht nur ein Mißverständnis ist, welches durch Deine Polemik gegen Schoepsen und Bro74
der hervorgerufen wird - kann ich mich keineswegs anschließen. Die Unvollziehbarkeit des Geoffenbarten ist der Punkt, an dem aufs Allergenaueste eine richtig verstandene Theologie (wie ich sie mir, in meine Kabbala versunken, denke und Du ihren Ausdruck ja gerade in jenem offenen Brief gegen Schoeps fs. Briefwechsel, S. 27, Anm. 2], den Du kennst, einigermaßen verantwortlich gegeben finden kannst) und das was den Schlüssel zu Kafkas Welt gibt, ineinanderfallen. Nicht, lieber Walter, ihre Abwesenheit in einer präanimistischen Welt, ihre Unvollziehbarkeit ist ihr Problem. Hierüber werden wir uns zu verständigen haben. Nicht so sehr Schüler, denen die Schrift abbanden gekommen ist — obwohl auch das schon keine sehr Bachofensche Welt ist, in der das passieren kann! - als Schüler, die sie nicht enträtseln können, sind jene Studenten, von denen Du am Ende sprichst [s.o., S. 37]. U n d daß eine Welt, in der die Dinge so unheimlich konkret und jeder Schritt so unvollziehbar wird, einen verworfenen Anblick und keineswegs einen idyllischen bieten wird (was Du unverständlicherweise für einen Einwand gegen die »theologische« Deutung zu halten scheinst, da Du erstaunt fragst, seit wann ein Gericht der höhern »Ordnung« je so sich präsentiert habe wie das auf den Dachböden tagende), das freilich scheint mir überaus zwingend. Andererseits hast Du natürlich in sehr weitem Maß recht in Deiner Analyse der Gestalten, die in solcher Weise sich allein behaupten können; ich bin durchaus nicht bereit, das zu bestreiten, es ist etwas von der »hetärischen« Schicht darin und Du hast das ganz unglaublich meisterhaft herausgeholt. Einiges habe ich nicht verstanden - was Du von К raft zitierst, schon gar nicht, Aber ich hoffe vielleicht auf einzelnes in dem Essay, wenn Du mir das Manuskript läßt, noch einzugehen, speziell auch was das »Jüdische« hier angeht, das Du mit Haas in Ecken suchst, wo es doch in dem Hauptpunkt so sichtbar und ohne Umschweife sich erhebt, daß man Dein Schweigen darüber als rätselhaft empfindet: in der Terminologie des Gesetzes, die Du so hartnäckig nur von ihrer profansten Seite aus zu betrachten Dich versteifst. Und dazu war kein Haas nötig! Die moralische Welt der Halacha und deren Abgründe und Dialektik lagen Dir dort doch unmittelbar vor Augen [seil, in Kafkas »Prozeß«], Ich schließe heute, weil dies abgehen soll.
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i7. Benjamin an Scholem. SkovbostrandperSvendborg, 20. 7. 1934 (s. Briefwechsel, 159ff) [G]estem каш nun die lange erwartete Bestätigung meines »Kafka« von dir. Sie war mir vor allem durch das sie begleitende Gedicht höchst wertvoll. Seit Jahren habe ich die Grenzen, die uns zurZeit durch die aufs Schriftliche beschränkte Kommunikation auferlegt sind, nicht mit so großem Ungenügen empfunden wie hier. Ich bin sichcr, daß du dieses Ungenügen verstehst und nicht annimmst, ich könnte dir unter Verzicht auf die mannichfachen Experimente der Formulierung, die nur das Gespräch ermöglicht, etwas Entscheidendes über das Gedicht sagen. Verhältnismäßig einfach liegt nur die Frage nach der »theologischen Interpretation«. Ich erkenne nicht nur an diesem Gedicht die theologische Möglichkeit als solche unumwunden an sondern behaupte, daß auch meine Arbeit ihre breite - freilich beschattete - theologische Seite hat. Gewandt habe ich mich gegen den unerträglichen Gestus des theologischen professional, der - wie du nicht bestreiten wirst - die bisherige Kafka-Interpretation auf der ganzen Linie beherrscht und uns seine süffisantesten Manifestationen noch zugedacht hat. Um meine Stellung zu deinem Gedicht - das sprachlich dem von mir so hoch gestellten auf den Angelus Novus [s. Briefe, S. 269] nichts nachgibt - wenigstens noch etwas eingehender anzudeuten, will ich dir nur die Strophen nennen, die ich mir ohne Vorbehalt zu eigen mache. Das sind 7 bis 13. Vorher einige. Die letzte wirft das Problem auf, wie man im Sinne Kafkas die Projektion des jüngsten Gerichts in den Weltlauf sich zu denken habe. Macht diese Projektion aus dem Richter den Angeklagten? aus dem Verfahren die Strafe? Ist es der Hebung oder dem Verscharren des Gesetzes gewidmet? Auf diese Fragen hat Kafka, so meine ich, keine Antwort gehabt. Die Form aber, in der sie sich ihm stellten und die ich durch meine Ausführungen über die Rolle des Szenischen und Gestischen in seinen Büchern zu bestimmen suchte, enthält Hinweise auf einen Weltzustand, in dem diese Fragen keine Stelle mehr haben, weil ihre Antworten, weit entfernt, Bescheid auf sie zu geben, sie wegheben. Die Struktur dieser, die Frage weghebenden Antwort ist es, die Kafka gesucht und manchmal wie im Fluge oder im Traum erhascht hat. Jeden76
falls kann man nicht sagen, er hat sie gefunden. U n d darum scheint mir die Einsicht in seine Produktion unter anderem an die schlichte Erkenntnis gebunden, daß er gescheitert ist. »Niemand kennt den Weg im Ganzen / jedes Stück schon macht uns blind.« Wenn du aber schreibst: »Nur dein Nichts ist die Erfahrung, die sie von dir haben darf«, so darf ich meinen Interpretationsversuch gerade an dieser Stelle mit den Worten anschließen : ich habe versucht zu zeigen, wie Kafka auf der Kehrseite dieses »Nichts«, in seinem Futter, wenn ich so sagen darf, die Erlösung zu ertasten gesucht hat. Dazu gehört, daß jede Art von Uberwindung dieses Nichts wie die theologischen Ausleger um Brod sie verstehen, ihm ein Gräuel [sie] gewesen wäre. Ich glaube, dir geschrieben zu haben, daß diese Arbeit noch eine Weile mir aktuell zu bleiben verspricht [ . . D a s in deinen Händen befindliche [Manuskript] ist schon jetzt an wichtigen Stellen überholt [ . . . ] [D]ie Herkunft der Geschichte aus dem »Kafka« [s.o., Nachweis zu S. 10,7] bleibt mein Geheimnis, das zu lüften dir nur bei persönlicher Anwesenheit gelingen würde, wo ich dir dann allerdings noch eine ganze Anzahl gleich schöner versprechen könnte.
18. Benjamin an Scholem. o.D. [и. 8. 1934] (s. Briefwechsel, 166ff. ; dazu s.u., die Aufzeichnungen Ms 249 und 252, S. i54f.) [D] en Augenblick, da ich die - nun wohl endgültig letzte - Hand an den »Kafka« [seil, der zweiten Fassung; Benjamin setzte die Revisionsarbeit noch auf längere Zeit fort] lege, benutze ich, um explizit auf einige deiner Einwendungen zurückzukommen, auch Fragen, deinen Standort betreffend, anzuschließen. Ich sage »explizit« - denn implizit geschieht dies in einigen Hinsichten durch die neue Fassung. Ihre Veränderungen sind erheblich [dazu s. das Lesartenverzeichnis in: Gesammelte Schriften, Bd. 2, S. 1266-1271]. [ . . . ] Nun die paar Hauptpunkte: 1) Das Verhältnis meiner Arbeit zu deinem Gedicht möchte ich versuchsweise so fassen: du gehst vom »Nichts der Offenba77
rung« aus (vgl. unten 7), von der heilsgeschichtlichen Perspektive des anberaumten Prozeßverfahrens. Ich gehe von der kleinen widersinnigen Hoffnung, sowie den Kreaturen denen einerseits diese Hoffnung gilt, in welchen andererseits dieser Widersinn sich spiegelt, aus. 2) Wenn ich als stärkste Reaktion Kafkas die Scham bezeichne, so widerspricht das meiner sonstigen Interpretation in keiner Weise. Vielmehr ist die Vorwelt - Kafkas geheime Gegenwart - der geschichtsphilosophische Index, der diese Reaktion aus dem Bereich der Privatverfassung heraushebt. Das Werk der Thora nämlich ist - wenn wir uns an Kafkas Darstellung halten - vereitelt worden. 3) Hiermit hängt die Frage der Schrift zusammen. Ob sie den Schülern abhanden gekommen ist oder ob sie sie nicht enträtseln können, kommt darum auf das gleiche hinaus, weil die Schrift ohne den zu ihr gehörigen Schlüssel eben nicht Schrift ist sondern I.ebcn. Leben wie es im Dorf am Schloßberg geführt wird. In dem Versuch der Verwandlung des Lebens in Schrift sehe ich den Sinn der »Umkehr«, auf welche zahlreiche Gleichnisse Kafkas von denen ich »das nächste Dorf« und den »Kübelrciter« herausgegriffen habe, hindrängen, Sancho Pansas Dasein ist musterhaft, weil es eigentlich im Nachlesen des eignen wenn auch närrischen und donquichotesken besteht. 4) Daß die Schüler - »denen die Schrift abhanden gekommen ist« - nicht der hetärischen Welt angehören, ist von mir anfangs betont worden, indem ich sie gleich den Gehilfen zu denjenigen Kreaturen stellte, für die, nach Kafkas Wort, »unendlich viel Hoffnung« vorhanden ist. 5) Daß ich den Aspekt der Offenbarung für Kafkas Werk nicht leugne geht schon daraus hervor, daß ich - indem ich sie für »entstellt« erkläre - den messianischen für sie anerkenne. Kafkas messianische Kategorie ist die »Umkehr« oder das »Studium«. Richtig vermutest du, daß ich der theologischen Interpretation an sich nicht den Weg verlegen will - praktiziere ich sie doch selbst - sondern nur der frechen und leichtfertigen aus Prag. Die auf das Benehmen der Richter gestützte Argumentation habe ich als unhaltbar zurückgezogen (sogar noch ehe deine Vorstellungen eintrafen) [dazu s. Briefwechsel, 168, Anm. 1]. 6) Kafkas stetes Drängen auf das Gesetz halte ich für den toten 78
Punkt seines Werkes, womit ich nur sagen will, daß es gerade von ihm aus interpretativ mir nicht zu bewegen scheint. Mit diesem Begriff will ich mich in der Tat explizit nicht einlassen. 7) Ich bitte dich um Erläuterung deiner Umschreibung, Kafka stelle »die Welt der Offenbarung in jener Perspektive dar, in der sie auf ihr Nichts zurückgeführt wird«, Soviel für heute.
ig. Scholem an Benjamin. [Jerusalem,] 14. 8. 1934 (s. Briefwechsel, 168f.) Ich möchte fast vermuten, daß [Robert Weltsch] abwarten will, ob er nicht Deinen Essay als Beitrag nach dem Erscheinen der neuen Kafka-Ausgabe des Schocken Verlages bringen kann [diese begann 1935 zu erscheinen, worauf im redaktionellen Vorwort zum Benjaminschen Text - s. Jüdische Rundschau, 21. 12.1934 (Jg. 39, N r . 102/103), S. 8 - h i n g e w i e s e n wurde]. Ob er es ungekürzt bringen kann, scheint auch mir sehr unsicher. Jedenfalls habe ich ihm dazu geraten. Freilich müßtest Du dann wohl an einigen Stellen Dich deutlicher explizieren, ich glaube, im zweiten Kapitel besonders, aber auch z . T . im dritten, ist der Vortrag so summarisch, daß er m.E. zu Mißverständnis oder Unverständnis fast herausfordert, Das erste Kapitel ist, dem Vortrag nach, unbedingt das beste und geradezu durchschlagend, später ist z.T. zu viel Zitat, z.T. auch zu wenig Interpretation. Uberragend ist das Stück über das Naturtheater [s.o., S. 17-23]. Völlig unverständlich dagegen für alle, die Deine Produktion auch in ihren verborgeneren Teilen nicht kennen, die Andeutungen über das Gestische. Das mußt Du mir glauben, so viel Abbreviatur ist aufreizend. Zu erwägen wäre, den Essay zu etwa doppeltem Umfang auszuarbeiten. Die Auseinandersetzungen mit andern Auffassungen und die Zitate noch etwas deutlicher zu gestalten, und das Ganze etwa als besondere kleine Schrift dem Verlag Schocken anzubieten. Freilich dürfte da ein Kapitel über die halachische und talmudische Reflexion wie sie in dem »Thürhüter vor dem Gesetz« so zwingend hervortritt, nicht fehlen. Die Berufungen auf Kraft sind übrigens leider ganz unverständlich, und nicht förderlich, 79
sie wären cs vielleicht, wenn Du näher auf sie eingehen würdest. Übrigens berichten alle, die Kafka persönlich gekannt haben, daß in der Tat sein Vater eine Figur war wie die im »Urteil«. Er soll ein besonders grausiger und auf seiner Familie unsagbar lastender Mensch gewesen sein. Vielleicht interessiert dich das.
20. Benjamin an Scholem. [Skovbostrand per Svendborg,] 15. 9. 1934 (s. Briefwechsel, ryif.) Wenn ich dir [ . , . ] mitteile, daß Weltsch geglaubt hat, mir für den fragmentarischen - und um die Hälfte zu kürzenden - Abdruck des Kafka ein Honorar von 60 Mk aussetzen zu sollen, so wirst du verstehen, daß die eingehende Beschäftigung mit Gegenständen der reinen Literatur für mich in Gestalt der KafkaArbeit zunächst ihren Abschluß gefunden haben dürfte. Damit soll nicht gesagt sein, daß ihn der Kafka selber gefunden hat. Vielmehr gedenke ich ihn weiter aus einer Reihe von Betrachtungen zu speisen, die ich inzwischen fortgesponnen habe und in denen mir eine bemerkenswerte Formulierung in deinem [Offenen] Brief an Schoeps weiteres Licht zu geben verspricht. Sie heißt: » n i c h t s . . . ist, auf historische Zeit bezogen, mehr einer Konkretisation bedürftig a l s . . . d i e . . . >absolute Konkretheit* des Offenbarungswortes. Ist doch das absolut Konkrete das Unvollziehbare schlechthin.« Damit ist gewiß eine Kafka unbedingt betreffende Wahrheit ausgesprochen, gerade damit auch wohl eine Perspektive eröffnet, in der der geschichtliche Aspekt seines Scheiterns am ersten sinnfällig wird. Bis aber diese und anschließende Überlegungen eine Gestalt finden, die sie definitiv tnitteilbar macht, wird wohl noch einige Zeit hingehen. Und dir wird das um so verständlicher sein, als die wiederholte Lektüre meiner Arbeit wir auch meine brieflichen Glossen zu ihr, dir greifbar gemacht haben werden, daß gerade dieser Gegenstand alle Eignung hat, sich als Kreuzweg der Wege meines Denkens herauszustellen. Bei seiner gründlicheren Markierung werde ich übrigens auf den Aufsatz von [Chajim Nachmanj Bialik [»Hagadah und Halacha« in: Der Jude, IV (1919), S. 61-77] bestimmt nicht verzichten können. [. ..] 80
Um noch einen Augenblick bei äußeren Fragen zu verweilen [ . . . ] so habe ich nichts anderes tun können als Weltsch - selbst auf dieser Honorarbasis ! - den Abdruck zuzugestehen. Ich habe ihn aber, in der höflichsten Form, gebeten, seinen Honorarentscheid zu revidieren.
21. Scholem an Benjamin. Jerusalem, ] 20. 9. 1934 (s. Briefwechsel, 174f) Inzwischen habe ich [ . . . ] das umgearbeitete Manuskript Deines »Kafka« [bekommen] [ . . . ] Ich selbst habe seit Monaten nichts von Weltsch gehört, und weiß nicht, wie die Angelegenheit Deiner Arbeit nun steht. [ . . . ] (Man sagt mir [ . . . ] , daß die J ü d i sche] R[undschau] sich in politisch außerordentlich heikler Lage gegenüber dem Regime befindet und unter den größten Schwierigkeiten manövriert, aber ich weiß nicht, ob das der Grund für Weltschs Schreibunlust ist.) Die Umarbeitung hat mich sehr beschäftigt, ich wünschte in der Tat, sie läge nun der öffentlichen Diskussion vor [der Teilabdruck erfolgte erst im Dezemberi934; s.o., S. 53 (Nachweise)]. Ich habe in diesen Wochen den Aufsatz von Rang junior über Kafka [s.o., S. 56, Nachweis zu 25,30] gelesen, den Kraft mir geliehen hat, und fand mich bei der Lektüre derart entrüstet und empört, daß ich es gar nicht schildern kann. Solcher Art der Interpretation, die für mich genau so viel Interesse hat wie eine jesuitische Untersuchung darüber hätte wie Laotse sich zur Welt des Dogmas der Kirche verhält, und solchem stumpfen Geschwätz gegenüber ist freilich schon die Ehre der Erwähnung des Guten zu viel. Ich hatte bei der Lektüre ein Gefühl des Neides auf die verachtete Zeit des verständlichen Feuilletons, das jetzt durch so hochtrabende Nichtigkeiten abgelöst ist. Deine Interpretation wird zum Eckstein einer vernünftigen Diskussion werden, wenn solche überhaupt möglich ist. Ich f i n i mich in vielem wirklich davon erhellt und belehrt, in der Unmöglichkeit freilich, mit ihr den jüdischen Zentralnerv dieses Werkes so wesentlich abschwächen zu können, mich bestärkt. Du kommst nicht ohne flagrante Gewaltsamkeiten durch, Du mußt andauernd gegen Kafkas Zeugnisse interpretieren, nicht nur in der Sache des Gesetzes, worüber ich Dir schon schrieb, 81
sondern auch etwa in der der Frauen, deren Funktion Du so großartig, aber völlig einseitig und gegen die offenbarsten Zeugnisse, aus dem Bachofenschen Aspekt allein bestimmst, während sie doch noch andere Sigel an sich tragen, mit denen Du Dich zu wenig aufhältst. Das Schloß oder die Behörde, mit der sie in so grauenhaft undefinierbarer aber doch genauer Verbindung stehen, ist eben nicht nur (wenn überhaupt) Deine Vorwelt-welch Rätsel hätte denn dann um jene Beziehung der Frauen zu ihr zu sein brauchen, es wäre ja alles klar, während es doch gerade das Gegenteil ist und ihr Verhältnis zu einer Behörde höchst aufregend, die (durch den Mund des Kaplans etwa) ja noch dazu vor ihnen warnt! - sondern etwas, worauf die »Vorwelt« erst bezogen werden muß. Du fragst, was ich unter dem »Nichts der Offenbarung« verstände? Ich verstehe darunter einen Stand, in dem sie bedeutungsleer erscheint, in dem sie zwar noch sich behauptet, in dem si e gilt, aber nicht bedeutet. Wo der Reichtum der Bedeutung wegfällt und das Erscheinende, wie auf einen Nullpunkt eigenen Gehalts reduziert, dennoch nicht verschwindet (und die Offenbarung ist etwas Erscheinendes), da tritt sein Nichts hervor. Es versteht sich, daß im Sinn der Religion dies ein Grenzfall ist, von dem sehr fraglich bleibt, ob er realiter vollziehbar ist. Deine Meinung, daß es eines sei, ob die »Schrift« den Schülern abhanden gekommen ist oder ob sie sie nicht enträtseln können, kann ich gar nicht teilen, und sehe darin mit den größten Irrtum, der Dir begegnen konnte. Eben die Differenz dieser beiden Stände ist es, die ich mit meiner Äußerung vom Nichts der Offenbarung treffen will.
22. Benjamin an Scholem. Skovbostrand per Svendborg, 17. 10. 1934 (s. Briefwechsel, 177) [M]it Kafka geht es immer weiter, und ich bin dir darum dankbar für deine neuen Bemerkungen. Ob ich den Bogen jemals so werde spannen können, daß der Pfeil abschnellt, ist natürlich dahingestellt. Während aber meine sonstigen Arbeiten recht bald den Terminus gefunden hatten, an dem ich von ihnen schied, werde ich es mit dieser länger zu tun haben. Warum, deutet das Bild vom Bogen an: hier habe ich es mit zwei Enden zugleich zu 82
tun, nämlich dem politischen und dem mystischen. Das soll übrigens nicht heißen, daß ich mich in den letzten Wochen mit der Sache befaßt hätte. Vielmehr wird die in deinem Besitz befindliche Fassung für eine Weile unverändert ihre Geltung behalten. Ich habe mich darauf beschränkt, zur späteren Reflexion einiges bereitzustellen. Von Weltsch habe ich weiterhin nichts gehört; ihm zu schreiben scheint mir bei der gegenwärtigen Lage seines Unternehmens nicht ersprießlich.
23. Benjamin an Scholem. San Remo, 26. 12. 1934 (s. Briefwechsel, 184) In diesen Tagen ist, wie Du gewiß gesehen hast, der erste Teil des »Kafka« [seil. »Potemkin«] erschienen und was lange gewährt hat, ist nun leidlich geworden. Mir wird diese Publikation ein Anstoß sein, demnächst das Dossier von fremden Einreden und eigenen Reflexionen zu öffnen, das ich mir - ein in meiner Praxis durchaus neuer Fall - zu dieser Arbeit angelegt habe [s.u., »Dossier . . . « , S. 156-165].
24. Benjamin an Scholem. Paris, 14. 4. 1938 (s. Briefwechsel, 261 f.) Wirklich hat [der Verleger Heinrich] Mercy auf meine Bitte Brods Kafka-Biographie [Prag 1937] und dazu den Band geschickt, der mit der »Beschreibung eines Kampfes« beginnt [seil. Band 5 der Gesammelten Schriften, Prag 1936]. [ . . . ] Ich komme [ . . . ] auf Kafka an dieser Stelle, weil besagte Biographie in ihrer Verwebung Kafkaschen Nichtwissens mit Brod'schen Weisheiten einen Distrikt der Geisterwelt zu eröffnen scheint, wo weiße Magie und fauler Zauber aufs erbaulichste ineinander spielen. Ich habe übrigens noch nicht sehr viel darin lesen können, mir aber alsbald die Kafkasche Formulierung des kategorischen Imperativs »handle so, daß die Engel zu tun bekommen« [der Satz stammt von Kierkegaard] daraus zugeeignet. 83
25 • Scholem an Benjamin. New York, 6. 5.1938 (s. Briefwechsel, 264) Ich möchte Dich an unser Gespräch über Kafka [in Paris, Februar 1938] erinnern und daran, daß Du mir einen eventuell präsentablen Brief gelegentlich der Brodschen Biographie schreiben wolltest. Lege das nicht zu sehr aufs Eis, es ist möglich, daß ich in Europa mit Schocken zusammenkomme und es brauchen kann. Wenn Du kannst, schreibe drei bis vier Seiten, die eine Art Programm umschreiben und nicht zu harmlos klingen.
26. Benjamin an Scholem. Paris, 12. 6. 1938 (1. Teil; s. Briefwechsel, 266-273) [A]uf deine Bitte schreibe ich dir ziemlich ausführlich, was ich von Brods »Kafka« halte; einige eigene Reflexionen über Kafka findest du anschließend. [Absatz! Du mußt von vornherein wissen, daß dieser Brief ganz allein diesem uns beiden gleich sehr am Herzen liegenden Gegenstande vorbehalten sein wird[.] [Es folgt die Brod-Kritik; s.o., S. 49-52.] Du siehst aus dem Vorstehenden, [ . . . J warum Brods Biographie mir ungeeignet scheint, mein Bild von Kafka - wäre es auch nur auf polemische Weise - in der Befassung mit ihr durchblicken zu lassen. Ob es den folgenden Notizen gelingt, dieses Bild zu skizzieren, lasse ich natürlich dahingestellt. Auf jeden Fall werden sie dir einen neuen, von meinen früheren Reflektionen mehr oder minder unabhängigen Aspekt darauf nahelegen. Kafkas Werk ist eine Ellipse, deren weit aneinanderliegende Brennpunkte von der mystischen Erfahrung (die vor allem die Erfahrung von der Tradition [i.S. von »Kabbala«] ist) einerseits, von der Erfahrung des modernen Großstadtmcnschen andererseits, bestimmt sind. Wenn ich von der Erfahrung des modernen Großstadtmenschen rede, so begreife ich in sie verschiedenes ein. Ich spreche einerseits vom modernen Staatsbürger, der sich einer unübersehbaren Beamtenapparatur ausgeliefert weiß, deren Funktion von Instanzen gesteuert wird, die den ausführenden Organen selber, geschweige dem von ihnen behandelten ungenau bleiben. (Es ist bekannt, daß eine Bedeutungsschicht der 84
Romane, insbesondere des »Prozesses«, hierin beschlossen liegt.) Unter den modernen Großstadtmenschen spreche ich andererseits ebensowohl den Zeitgenossen der heutigen Physiker an. Liest man die folgende Stelle aus [A. S.] Eddingtons »Weltbild der Physik« [Braunschweig 1931, S. 334 f.], so glaubt man Kafka zu hören. »Ich stehe auf der Türschwelle, im Begriffe, mein Zimmer zu betreten. Das ist ein kompliziertes Unternehmen. Erstens muß ich gegen die Atmosphäre ankämpfen, die mit einer Kraft von x Kilogramm auf jedes Quadratzentimeter meines Körpers drückt. Ferner muß ich auf einem Brett zu landen versuchen, das mit einer Geschwindigkeit von 30 Kilometer in der Sekunde um die Sonne fliegt; nur den Bruchteil einer Sekunde Verspätung, und das Brett ist bereits meilenweit entfernt. U n d dieses Kunststück muß fertiggcbracht werden, während ich an einem kugelförmigen Planeten hänge, mit dem Kopf nach außen in den Raum hinein, und ein Ätherwind von Gott weiß welcher Geschwindigkeit durch alle Poren meines Körpers bläst. Auch hat das Brett keine feste Substanz. Darauftreten heißt auf einen Fliegenschwarm treten. Werde ich nicht hindurchfallen? Nein, denn wenn ich es wage und darauf trete, so trifft mich eine der Fliegen und gibt mir einen Stoß nach oben; ich falle wieder und werde von einer anderen Fliege nach oben geworfen, und so geht es fort. Ich darf also hoffen, das Gesamtresultat werde sein, daß ich dauernd ungefähr auf gleicher H ö h e bleibe. Sollte ich aber unglücklicherweise trotzdem durch den Fußboden hindurchfallen oder so heftig emporgestoßen werden, daß ich bis zur Decke fliege, so würde dieser Unfall keine Verletzung der Naturgesetze sondern nur ein außerordentlich unwahrscheinliches Zusammentreffen von Zufällen sein . . . W ahrlich, es ist leichter, daß ein Kamel durch ein Nadelöhr gehe denn daß ein Physiker eine Türschwelle überschreite. Handle es sich um ein Scheunentor oder einen Kirchturm, vielleicht wäre es weiser, er fände sich damit ab, nur ein gewöhnlicher Mensch zu sein, und ginge einfach hindurch, anstatt zu warten, bis alle Schwierigkeiten sich gelöst haben, die mit einem wissenschaftlich einwandfreien Eintritt verbunden sind.« Ich kenne in der Literatur keine Stelle, die im gleichen Grade den Kafkaschcn Gestus aufweist. Man könnte ohne Mühe fast jede 85
Stelle dieser physikalischen Aporie mit Sätzen aus Kafkas Prosastücken begleiten, und es spricht nicht wenig dafür, daß dabei viele von den »unverständlichsten« unterkämen. Sagt man also, wie ich das eben getan habe, daß die entsprechenden Erfahrungen Kafkas in einer gewaltigen Spannung zu seinen mystischen standen, so sagt man nur eine halbe Wahrheit, Es ist das eigentlich und im präzisen Sinne Tolle an Kafka, daß diese aller] iingste Erfahrungswelt ihm gerade durch die mystische Tradition zugetragen wurde. Das ist natürlich nicht ohne verheerende Vorgänge (auf die ich sogleich komme), innerhalb dieser Tradition möglich gewesen. Das Kurze und Lange von der Sache ist, daß offenbar an nichts Geringeres als an die Kräfte dieser Tradition appelliert werden mußte, sollte ein Einzelner (der Franz Kafka hieß) mit der Wirklichkeit konfrontiert werden, die sich als die unsrige theoretisch z.B. in der modernen Physik, praktisch in der Kriegstechnik projiziert. Ich will sagen, daß diese Wirklichkeit für den Einzelnen kaum m ehr erfahrbar, und daß Kafkas vielfach so heitere und von Engeln durchwirkte Welt das genaue Komplement seiner Epoche ist, die sich anschickt, die Bewohner dieses Planeten in erheblichen Massen abzuschaffen. Die Erfahrung, die der des Privatmanns Kafka entspricht, dürfte von großen Massen wohl erst gelegentlich dieser ihrer Abschaffung zu erwarten sein. Kafka lebt in einer komplementären Welt. (Darin ist er genau mit Klee verwandt, dessen Werk in der Malerei ebenso wesenhaft vereinzelt dasteht wie das von Kafka in der Literatur.) Kafka gewahrte das Komplement, ohne das zu gewahren, was ihn umgab. Sagt man, er gewahrte das Kommende, ohne das zu gewahren, was heute ist, so gewahrt er es doch wesentlich als der Einzelne von ihm betroffene. Seinen Gebärden des Schreckens kommt der herrliche Spielraum zu gute, den die Katastrophe nicht kennen wird. Seiner Erfahrung lag aber die Überlieferung, an die sich Kafka hingab, allein zugrunde; keinerlei Weitblick, auch keine »Sehergabe«. Kafka lauschte der Tradition, und wer angestrengt lauscht, der sieht nicht. Angestrengt ist dieses Lauschen vor allem darum, weil nur Undeutlichstes zum Lauscher dringt. Da ist keine Lehre, die man lernen, und kein Wissen, das man bewahren könnte. Was im Fluge erhascht sein will, das sind Dinge, die für kein Ohr be86
stimmt sind. Dies beinhaltet einen Tatbestand, welcher Kafkas Werk nach der negativen Seite streng kennzeichnet. (Seine negative Charakteristik wird wohl durchweg chancenreicher sein als die positive.) Kafkas Werk stellt eine Erkrankung der Tradition dar. Man hat die Weisheit gelegentlich als die epische Seite der Wahrheit definieren wollen [Selbstzitat Benjamins; s. Ges. Sehr., Bd. 2, S. 442 (Der Erzähler, IV)]. Damit ist die Weisheit als ein Traditionsgut gekennzeichnet; sie ist die Wahrheit in ihrer hagadischen Konsistenz. Diese Konsistenz der Wahrheit ist es, die verloren gegangen ist. Kafka war weit entfernt, der erste zu sein, der sich dieser Tatsache gegenüber sah. Viele hatten sich mit ihr eingerichtet, festhaltend an der Wahrheit oder an dem, was sie jeweils dafür gehalten haben; schweren oder auch leichteren Herzens verzichtleistend auf ihre Tradierbarkeit. Das eigentlich Geniale an Kafka war, daß er etwas ganz neues ausprobiert hat; er gab die Wahrheit preis, um an der Tradierbarkeit, an dem hagadischen Element festzuhalten. Kafkas Dichtungen sind von Hause aus Gleichnisse. Aber das ist ihr Elend und ihre Schönheit, daß sie mehr als Gleichnisse werden mußten. Sie legen sich der Lehre nicht schlicht zu Füßen wie sich die Hagada der Halacha zu Füßen legt. Wenn sie sich gekuscht haben, heben sie unversehens eine gewichtige Pranke gegen sie. Darum ist bei Kafka von Weisheit nicht mehr die Rede. Es bleiben nur ihre Zerfallsprodukte. Deren sind zwei: einmal das Gerücht von den wahren Dingen (eine Art von theologischer Flüsterzeitung, in der es um Verrufenes und Obsoletes geht); das andere Produkt dieser Diathese ist die Torheit, welche zwar den Gehalt, der der Weisheit zueigen ist, restlos vertan hat, aber dafür das Gefällige und Gelassene wahrt, das dem Gerücht allerwegs abgeht. Die Torheit ist das Wesen der Kafkaschen Lieblinge; vom D o n Quijote über die Gehilfen bis zu den Tieren. (Tiersein hieß ihm wohl nur, aus einer Art von Scham auf die Menschengestalt und -Weisheit verzichtet haben. So wie ein vornehmer Herr, der in eine niedere Kneipe gerät, aus Scham darauf verzichtet, sein Glas auszuwischen.) Soviel stand ohne Frage für Kafka fest: erstens, daß einer, um zu helfen, ein Tor sein muß; zweitens; eines Toren Hilfe allein ist wirklich eine. Unsicher ist nur: verfängt sie am Menschen noch? Sie hilft vielleicht eher den 87
Engeln (vergi, die Stelle VII, S, 209 [seil, der Brodschen Kafkabiographie] über die Engel, die etwas zu tun bekommen) für die es auch anders ginge. So ist denn, wie Kafka sagt, unendlich viel H o f f n u n g vorhanden, nur nicht für uns. Dieser Sat7. enthält wirklich Kafkas Hoffnung. Er ist die Quelle seiner strahlenden Heiterkeit. Ich überliefere dir dieses auf gefährliche Weise perspektivisch verkürzte Bild umso ruhiger, als du es durch die Ansichten verdeutlichen magst, die von andern Aspekten her meine Kafkaarbeit in der »Jüdischen Rundschau« entwickelt hat. Was mich heute gegen diese am meisten einnimmt, ist der apologetische Grundzug, welcher ihr innewohnte. Um Kafkas Figur in ihrer Reinheit und in ihrer eigentümlichen Schönheit gerecht zu werden, darf man das Eine nie aus dem Auge lassen: es ist die von einem Gescheiterten. Die Umstände dieses Schciterns sind mannigfache. Man möchte sagen: war er des endlichen Mißlingens erst einmal sicher, so gelang ihm unterwegs alles wie im Traum. Nichts denkwürdiger als die Inbrunst, mit der Kafka sein Scheitern unterstrichen hat. Seine Freundschaft mit Brod ist für mich vor allem ein Fragezeichen, das er an den Rand seiner Tage hat malen wollen. Damit wäre für heute der Kreis geschlossen, und ich setze die herzlichsten Grüße an Dich in seinen Mittelpunkt.
26.a Benjamin an Scholem. Paris, 12. 6. 1938 (2. Teil; s. Briefwechsel, 274.) [U]m das beiliegende Schreiben [seil, den 1. Teil des Briefes; s.o., N r . 26] präsentabel zu machen, hielt ich es für geraten, es von Persönlichem zu entlasten. [Absatz] Das schließt nicht aus, daß es, als Dank für deine Anregung, zunächst dir persönlichst zugedacht ist. Im übrigen kann ich nicht beurteilen, ob du es für zweckmäßig hältst, es tel quel Schocken zu lesen zu geben. Immerhin glaube ich, mich darin so tief mit dem Komplex Kafka eingelassen zü haben, als es mir im Augenblick überhaupt möglich ist.
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27. Benjamin an Scholem. Skovbostrandper Svendborg, 30. 9. 193S (s. Briefwechsel, 280) [I]ch finde es erstaunlich, daß du von dir nichts vernehmen läßt. [ . . . ] Mein ungemein ausführlicher Brief über Brod und Kafka, mit dem ich unter Zurückstellung anderer Arbeiten deiner dringlichen Bitte entgegenkam, ließ und läßt mich noch eine andere Antwort erwarten als eine kurze, noch so hoch ihn anerkennende Anmerkung.
28. Scholem an Benjamin. Jemsalem, 6.18. 11. 1938 (s. Briefwechsel, 281-286) Du hast völlig Recht, wenn Du [ . . . ] wütend bist, daß Du nichts von mir gehört hast. [ . . . ] Da ich Schocken nicht, wie ich gehofft hatte, in der Schweiz (und damit in Ruhe) sprechen konnte - die Weltgeschichte trat unvermittelt dazwischen - habe ich Deinen Brief über Brod und Kafka bisher seiner diplomatischen Bestimmung noch nicht zugeführt. Aber sonst brauchst Du nicht über die Aufnahme bei mir Klage zu führen. Mir scheint, daß der Weg der Betrachtung, den Du eingeschlagen hast, überaus wertvoll und aussichtsreich ist. Was Du dabei unter dem von Dir virtuell in den Mittelpunkt Deiner neuen Betrachtungen gestellten fundamentalen Scheitern Kafkas verstehst, möchte ich gern verstehen. Du scheinst doch etwas Unerwartetes und Verblüffendes unter diesem Scheitern zu verstehen, da doch die einfache Wahrheit [ist], daß das Scheitern der Gegenstand von Bemühungen war, die doch, wenn erfolgreich, natürlich scheitern. Nicht das kannst Du doch gemeint haben. Hat er das, was er sagen wollte, ausgedrückt? Doch gewiß. Die Antinomie des Haggadischen, die Du erwähnst, ist keine der Kafkaschen Haggada allein eigene, sie gründet eher in der N a t u r des Haggadischen selber. Stellt dies Werk wirklich eine »Erkrankung der Tradition« in Deinem Sinn dar? Solche Erkrankung, würde ich sagen, liegt in der Natur der mystischen Tradition selbst angelegt: daß Tradierbarkeit der Tradition allein noch als ihr Lebendiges erhalten bleibt, ist im Verfall der Tradition, in ihren Wellenbergen [gemeint: Wellentälern], nur natür89
lich. Ich glaube, Dir Ähnliches in Verbindung mit Kafka-Diskussionen schon einmal geschrieben zu haben. Ich muß vor ich weiß nicht wie viel Jahren über solche Fragen der bloßen Tradierbar&eite« im Zusammenhang meiner Studien Aufzeichnungen gemacht haben, die ich gern wieder vorsuchen möchte: im Problemzusammenhang der Frage nach dem »Wesen« des Gerechten scheint sie mir aufzutreten, des »Heiligen«typus der verfallenden jüdischen Mystik, - Daß Weisheit ein Traditionsgut sei, ist natürlich völlig wahr: sie hat ja die wesentliche IJnkonstruierbarkeit aller Traditionsgüter. Es ist ja die Weisheit, die, wo sie reflektiert, nicht erkennt, sondern kommentiert. Wenn es Dir gelingen würde, den Grcnzfall von Weisheit, den Kafka nun in der Tat darstellt, als die Krise der bloßen Tradierbarkeit der Wahrheit darzustellen, so hättest Du etwas höchst Großartiges vollbracht. Dieser Kommentator hat zwar heilige Schriften, aber sie sind ihm verloren gegangen. Fragt sich also: was kann er kommentieren? Ich nehme an, daß Du imstande wärst, diese Fragen unter den von Dir dargelegten Perspektiven zu beantworten. Warum aber »Scheitern« - wo er doch wirklich kommentiert hat, und sei es das Nichts der Wahrheit oder was immer sich da herausstellen würde. Soweit von Kafka - als dessen treuen Schüler ich zu meinem Erstaunen Deinen Freund Brecht entdeckte, im Schlußkapitel des »Dreigroschenromans«, den ich in der Schweiz gelesen habe. Uber Brod: Da kommt Dir beinahe der Kranz für polemische Leistung zu. Das ist so schön und richtig, daß ich nichts zufügen kann. Ich habe Dir ja auch nichts anderes in Aussicht gestellt, nur trifft Deine gewählte Spracht in diesem Fall die Schweinerei so viel besser ins Herz.
29. Benjamin an Scholem. Paris, 4.. 2. 1939 fi. Briefwechsel, 293 f.) Von [Lew] Schestow ist der Weg zu Kafka für den, der sich entschlossen hätte, vom Wesentlichen abzusehen, nicht weit. Als dieses Wesentliche erscheint mir bei Kafka mehr und mehr der H u m o r . Er war natürlich kein Humorist. Er war vielmehr ein Mann, dessen Los war, überall auf Leute zu stoßen, die aus dem 90
H u m o r eine Profession machten: auf Klowns. Besonders »Amerika« ist eine große Klownerie. Und was die Freundschaft mit Brod betrifft, so habe ich das Gefühl, der Wahrheit auf der Spur zu sein, wenn ich sage: Kafka als Laurel fühlte die lästige Verpflichtung, sich seinen Hardy zu suchen - und der war Brod. Wie dem nun immer sei - ich denke mir, dem würde der Schlüssel zu Kafka in die Hände fallen, der der jüdischen Theologie ihre komischen Seiten abgewönne. Hat es so einen Mann gegeben? oder wärst du Manns genug, dieser Mann zu sein? [. . .] Was meint dein den Schluß des Dreigroschen romans betreffender Hinweis auf Kafka?
30. Benjamin an Scholem. Pańs, 20. 2. 1939 (s. Briefwechsel, 295) Entre temps habe ich mich wieder einmal der Reflexion über Kafka zugewandt. Ich blätterte auch in altern Papieren und fragte mich, warum du denn meine Kritik des Brodschen Buches Schocken bisher nicht hast zukommen lassen. Oder ist das inzwischen vor sich gegangen?
31. Scholem an Benjamin. Jerusalem, 2 . 3 . 1939 (s. Briefwechsel, 2 9 7 f f . ) Dein Kafka-Brief: ich war keineswegs faul, habe vielmehr alles getan, um innerhalb gebotener taktischer Rücksichten die Rede auf die Angelegenheit zu bringen. O h n e Erfolg - der Mann [seil. Schocken] hat nämlich, wie sich herausstellt, zu meinem Ärger den Brod selber nicht gelesen, von vornherein nicht, und zeigte sich an der Nachricht von dessen Abschlachtung betont uninteressiert [dazu s. auch Scholem, Walter Benjamin — die Geschichte einer Freundschaft, a.a.O., S. 270]. [ . . . ] Hast Du was dagegen, daß ich den Brief mal Kraft vorlese? [ . . . ] Wir (meine Frau und ich) finden, daß der Schluß des Dreigroschenromans [seil. »Das Pfund der Armen. Traum des Soldaten Fewkoombey«] eine materialistische Imitation von dem Kapitel »Im Dom« im Prozess ist. Ist das nicht sehr naheliegend? 91
32. Benjamin an Scholem. Paris, 14. 3. 1939 fi. Briefwechsel, 299ff.) [W]ährend noch mancherlei Gedankenfracht aus meinem letzten Brief ungelöscht bei dir vor Anker liegt, läuft dieser neue Kahn an, der weit über die Ladelinie hinaus mit viel schwererem Gut befrachtet ist - meinem schweren Herzen. Kannst du irgend etwas bei Schocken bewirken, so darf damit nicht gezögert werden. Die Belege, die du brauchst, um den Kafka-Plan zur Sprache zu bringen, sind ja in deiner Hand. Ich müßte natürlich auch jeden andern Auftrag entgegennehmen, den er im Bereich meiner Arbeitsmöglichkeiten etwa zu vergeben hätte. Zeit zu verlieren ist nicht. [ . . .] PS: Gerade hatte ich meine Unterschrift hierhergesetzt, als dein Brief vom 2. März kam. In dem minimalen Inventar meiner Chancen hatte ich die Schockensche noch für eine der beträchtlicheren angesehen.
Aus der Korrespondenz mit Werner Kraft
I. Benjamin an Kraft. Svendborg, \Ende Juli 1934?] (s. Briefe, 613f.) Es wird Sie nicht überraschen zu hören, daß ich - unbeschadet einer anderen Hauptbeschäftigung - noch immer mit Kafka befaßt bin. Den äußeren Anlaß dazu bietet die Korrespondenz mit Scholem,. der begonnen hat, sich mit mir über diese Arbeit auseinanderzusetzen. Diese Überlegungen sind allerdings noch zu sehr im Fluß, um ein abschließendes Urteil zu ermöglichen. Immerhin wird es Sie interessieren, daß er seine Ansicht der Sache in einer Art von theologischem Lehrgedicht niedergelegt hat [s.o., S. 72ff.], das ich Ihnen bestimmt mitteilen werde, falls wir uns in Paris wiedersehen. Auf eine - wie Sie sich denken können - sehr unterschiedene Weise habe ich über den gleichen Gegenstand mich mit Brecht beraten können [s.u., »Gespräche mit Brecht«, S. 149-154], und auch von diesen Besprechungen weist mein Text Niederschläge auf.
2. Benjamin an Kraft. Svendborg, (s. Briefe, 623)
27. 9. 1934
Sehr dankbar wäre ich Ihnen für Bemerkungen zu meinem Kafka [seil, dem Essay] wie auch für sonstige sprachliche Glossen an meine Adresse, welche Sie mir in Aussicht stellten.
3. Kraft an Benjamin. Jerusalem, 16. 9. 1934 (s. Walter Benjamin, Gesammelte Schriften, Bd. 2, S. 1167-1170) [I]ch habe jetzt Ihren Kafka-Aufsatz dreimal mit Aufmerksamkeit gelesen und möchte Ihnen dazu Folgendes sagen: Mein Gesamteindruck ist bedeutend. Dies ist sicherlich ein in sich geschlossener Versuch der Erklärung, der nicht widerlegt wird 93
durch den Nachweis, daß Einzelnes »falsch« sei oder anders gesehen werden müsse. Wie immer das damit bestellt sei, das Ganze gegen solche Angriffe intakt zu halten, muß Ihre vornehmste Aufgabe sein, fast möchte ich sagen, daß die leitenden Ideen n o c h klarer entwickelt werden müßten - die Sumpf-Welt, der Gestus, das Vergessen, das Bucklige -, damit der Leser sofort weiß, w a s er hier zu erwarten hat und was nicht. In diesem Sinne habe ich unabhängig von m e i n e n Einwänden gewisse Bedenken gegen die Form des Aufsatzes. [Marginalie von Benjamins Hand: 1) Darstellungsform] Sie ist mystisch, fast esoterisch. Gerade Brecht, in dessen Nachbarschaft Sic doch im Augenblick nicht nur zufällig wohnen, müßte Ihnen, wenn anders Sic nicht selber nach ihr strebten, was ich keineswegs leugne, die V e r s t ä n d l i c h k e i t in einem neuen Licht zeigen. Mir wenigstens würde es als sehr reizvoll erscheinen, den Aufsatz noch einmal als nüchternen Lehrvortrag aller jener Ideen zu schreiben, die wesentlich in ihm enthalten sind und dann auch unter Weglassung sämtlicher Gleichnisse wie Potemkin usw. Können und wollen Sie dies nicht, so habe ich auch dafür Verständnis und werde Ihnen nicht mein eigenes Stilideal, das ich ja keineswegs realisiere, aufzudrängen versuchen. - Darüber habe ich allerdings keinen Zweifel, daß für Sie das Kafka*sehe Werk identisch ist mit einer gleichsam phänomenalen Oberschicht und daß Sie nur indenSÊ sich's streng versagen, eine tiefere Sinnschicht anzuerkennen, Ihren eigenen Standpunkt zu halten vermögen. [Marginalie von Benjamins H a n d : 2) tiefere Schicht] Dies ist folgerichtig. Wenn ich aber Ihrem Standpunkt so weit wie nur möglich entgegenzukommen suche, so würde ich sagen müssen, Ihr Standpunkt sei a u с h in dem Werk enthalten, aber nur durch einen künstliche[n] Abstraktionsvorgang sichtbar zu machen, wie dies z.B. in der Phänomenologie vielfach geschieht. Konkret sieht das für mich nun so aus: Alles was Sie über Gestus, Theater usw. sagen, taste ich am wenigsten an. Es wird in Ihrem Verfahren überzeugend deutlich. Wenn Sie aber gleich im ersten Kapitel den Zusammenhang zwischen Beamten- und Vatertum im Schmutz erhärten wollen [Marginalie von Benjamins Hand: Vaterproblem] und dafür das Beispiel des Vaters in der Verwandlung« [lies >Das Urteil<] und seine schmutzige Uniform usw. [s.o., S. 11] heranziehen, so stimmt das eben n u r phänomenal, 94
nicht aber konkret, und wenn man den psychoanalytischen >Sinn< der Deutung abzieht, so zeigt z.B. [Hellmuth] Kaiser [in: Franz Kafkas Inferno; s.o., Nachweis zu 25,29] sehr überzeugend, wie in dem Maße des Falls des Sohnes der Schmutz des Vaters sich in Sauberkeit verwandelt!! Uberhaupt ist das VaterProblem dasjenige, wo selbst Sie sehen müßten, daß Ihrem Blickpunkt G r e n z e n gesetzt sind. Selbst wenn ich mich mit Ihrer Auffassung des Vaters in >UrteiI< und >Verwandlung< identifizierte (am ehesten könnte ich es vielleicht mit der in »Odradek« [s.o., S. 31]), so könnte ich schwer glauben, daß S i eden Vater in »Elf Söhne« mit den sonstigen Vätern identifizieren. [Marginalie von Benjamins Hand: Elf Söhne] Dies aber weiter zu verfolgen, würde zu lang sein. Wie dem aber sei, mein Eindruck, daß die Potemkin-Geschichte irgendwie im Sinne der Beweiskraft falsch erzählt sei [s.o., S. gf.], hat sich mir bestätigt. Gerade Potemkins Autorität kommt durch die falschc Unterschrift nicht heraus. Man möchte etwa Potemkins richtige Unterschrift sehen und eine Bemerkung, Schuwalkin sei wegen seiner Frechheit zu entlassen, oder ähnlich. - Dann etwas anderes. Die Stelle, wo Sie gegen Rang usw. polemisieren [s.o., S. 25], ist l o g i s c h nicht ganz haltbar. [Marginalie von Benjamins H a n d : 3) Aphorismen] Sie sagen etwa, diese Auffassung knüpfe an den Nachlaß-Band [seil. Beim Bau der Chinesischen Mauer; s.o., Nachweis zu 10,30] an und überhebe sich so der Notwendigkeit, auf die Werke selbst ein zugehen [s.o., S. 25,21-24 und 26,36-38]. Dieser Nachlaßband steht aber der Sache nach auf der gleichen Stufe der Illegitimität wie die sämtlichen illegitimen Romane. - Dann sprechen Sie von den zwei Möglichkeiten, Kafkas Sinn zu verfehlen und bezeichnen sie als die >natürliche< und die »übernatürliche« [s.o., S. 25,24-27]. Diese ist klar, aber jene setzen Sie gleich mit der psychoanalytischen. [Marginalie von Benjamins Hand: 4.) *natürlich« und »übernatürlich«•] Das erscheint mir unmöglich. Ich möchte glauben, daß Sie hier dem antithetischen Reiz dieser Worte erlegen sind. (Ich füge hinzu, daß die n a t ü r l i c h e Deutung diejenige zu sein scheint, wenigstens mir, die der Wahrheit am nächsten kommt. Darin spüre ich z.B. Brechts große Chance, so sehr freilich auch bei ihm »natürlich« und »übernatürlich« verknüpft sind und durch eine vorgefaßte »Idee«, die zu eliminieren freilich keinem Sterblichen gegeben ist !) - Was 95
Sie über Kafkas »Scheitern« sagen im Zusammenhang mit dem Fehlen der erstrebten >Lchre< [s.o., S. 27,36-38], so ist das der Herzpunkt des Ganzen. [Marginalie von Benjamins Hand: 5) Scheitern] Gewiß, man kann es so sehen! Fast möchte ich aber hier sagen, daß Nein und Ja identisch sind. Wer mit solchem Einsatz geistiger Anstrengung >keine Lehre< erreicht, der hat eben, was ein Einzelner überhaupt erreichen kann: die Ahnung, daß es >Lehre< gibt und daß sie über ihn hinausgeht. - Was Sie über [Robert] Walsers Roman >Dcr Gehülfe< in diesem Zusammenhang sagen [s.o., S. 14], hat mich fasciniert und mein Interesse für den merkwürdigen Mann erneuert. Ich möchte gern seinen Roman wiederlesen. Die Verbindung zwischen Waiserund Kafka bildet wohl Ludwig Hardt? - Die Bedeutung, die Sie dem >Tier< bei Kafka geben, erscheint mir problematisch. [Marginalie von Benjamins Hand: 6) Tierund Volk] Mir bilden seine Tiergeschichten in den meisten Fällen nur ein technisches Mittel, das Unübersehbare der empirisch-metaphysischen Verhältnisse darzustellen, z.B. in >Josefme< [, die Sängerin oder Das Volk der Mäuse; s.o., Nachweis zu 16,15 f.] oder in den Aufzeichnungen des Hundes [s. Forschungen eines Flundes], In beiden Fällen wird >Volk< dargestellt. Im »RiesenmaulwurL [s.o., Nachweis zu 30,30] kommt das Tier gar nicht vor. Hier geht es ausschließlich um menschliche, um ethische Verhältnisse. Anders ist es im >Bau< [s.o., Nachweis zu 30,30] und in der »Verwandlung« [s.o., Nachweis zu 14,18], wo Ihre Auffassung stichhaltiger ist. Doch müßte hier vielleicht feiner definiert werden. - Noch eines! Ihre Auffassung der Frau! Sie sind für Sie die typischen Vertreter der Sumpf-Welt [s.o., S. 28 f.]. Aber jede dieser Frauen hat eine B e z i e h u n g z u m S c h l o ß , die Sie ignorieren, und wenn z.B. Frieda K. vorwirft, er frage sie nie nach ihrer Vergangenheit, so meint sie nicht >Sumpf< [s.o., S. 29,11-17] sondern ihr (früheres) Zusammenleben mit Klamm, Dies führt wieder in den zentralen Gegensatz möglicher Erklärungsweisen. Ich will mich nicht wiederholen. - Ich möchte noch einmal sagen, wie sehr mich Ihr Aufsatz bereichert hat. Nach Lage der Dinge ist eine absolute Klärung des in sich Unklaren wohl kaum zu erwarten. Aber ein Versuch - mit einer reinlichen Methode - ist gemacht, und er muß seine Frucht zeigen, wann immer. - In dem neuen Schokken-Almanach sollen Tagebücher Kafkas stehen. Übrigens soll, 96
nach Scholem, Schoeps jetzt ausgeschifft sein. Hoffentlich kommt man nicht vom Regen in die Traufe.
4. Benjamin an Kraft. San Remo, 12. 11. 1934 (s. Briefe, 627-630) Ihre letzten Briefe habe ich bei denjenigen Papieren aufbewahrt, die ich im Augenblick, da ich wieder an meinen Kafka gehen werde, wieder vornehme. Ich weiß nicht, ob ich Ihnen schrieb, daß eine eingehende neue Befassung mit dieser Arbeit eigentlich schon im Moment ihres »letzten« Abschlusses bei mir feststand. Es kamen in solcher Überzeugung mehrere Umstände zusammen. An erster Stelle die Erfahrung, daß diese Studie mich an einen carrefour meiner Gedanken und Überlegungen gebracht hat und gerade die ihr gewidmeten weiteren Betrachtungen für mich den Wert zu haben versprechen, den auf weglosem Gelände eine Ausrichtung im Kompaß hat. Im übrigen - falls die Meinung einer Bestätigung bedurft hätte, so wäre sie mir in den lebhaften und verschiedenartigen Reaktionen geworden, die diese Arbeit bei Freunden hervorgerufen hat. Die Anschauungen, die Scholem über sie hegt, sind Ihnen bekannt; bemerkenswert war mir, wie treffsicher Sie die Opposition erraten haben, die von Brechts Seite gegen diese Studie zu erwarten war, wenn Sie auch von deren zeitweiliger Heftigkeit kaum eine Vorstellung haben. Die wichtigsten Auseinandersetzungen über diesen Gegenstand, die der Sommer gebracht hat, habe ich seinerzeit schriftlich festgehalten, und Sie werden ihrem Niederschlag wohl früher oder später im Text selbst begegnen. Im übrigen haben Sie sich ja diese Einwände bis zu einem gewissen Grade zu eigen gemacht. In der Tat kann man die Form meiner Arbeit als problematisch empfinden. Aber eine andere gab es für mich in dem Falle nicht; denn ich wollte mir freie Hand lassen; ich wollte nicht abschließen. Es dürfte auch, geschichtlich gesprochen, noch nicht an der Zeit sein, abzuschließen - am wenigsten dann, wenn man, wie Brecht, Kafka als einen prophetischen Schriftsteller ansieht. Wie Sie wissen, habe ich das Wort nicht gebraucht [dagegen s.o., S, 41], aber es läßt sich viel dafür sagen, und das wird von meiner Seite vielleicht 97
noch geschehen. Je mehr freilich meine Arbeit sich dem lehrenden Vortrag nähern würde - ich glaube übrigens, daß das auch in der spätem Fassung nur in bescheidenen Grenzen der Fall sein könnte [- d]esto deutlicher werden in ihr Motive zutage treten, mit denen Sie sich wahrscheinlich weit schwerer befreunden werden als mit ihrer derzeitigen Form. Ich denke vor allem an das Motiv des Gescheitertseins von Kafka. Dieses hängt aufs engste mit meiner entschlossen pragmatischen Interpretation Kafkas zusammen. (Besser gesagt: es war diese Betrachtungsweise ein vorwiegend instinktiver Versuch, die falsche Tiefe des unkritischen Kommentars zu vermeiden, Beginn einer Deutung, die bei Kafka das Geschichtliche mit dem Ungeschichtlichen verbindet. Ersteres kommt in meiner Fassung noch zu kurz.) In der Tat glaube ich, daß jede Interpretation, die - im Gegensatz zu Kafkas eigenem, in diesem Falle unbestechlichen und lauteren, Gefühl - von der Annahme eines durch ihn realisierten mystischen Schrifttums ausginge statt von eben jenem Gefühl des Autors selbst, seiner Richtigkeit und den Gründen des notwendigen Scheiterns - den geschichtlichen Knotenpunkt des ganzen Werkes verfehlen würde. Erst an diesem Punkte ist eine Betrachtung möglich, die der legitimen mystischen Auslegung - die nicht als Auslegung seiner Weisheit sondern seiner Torheit zu denken ist - ihr Recht gibt. Das habe ich ihr in der Tat nicht gegeben; aber nicht, weil ich Kafka zu wenig, sondern weil ich ihm zu weit entgegengekommen bin. Immerhin hat Scholem die Grenzen, über die schon die gegenwärtige Niederschrift sich nicht zu bewegen gewillt ist, sehr deutlich empfunden, wenn er mir zum Vorwurf macht, an Kafkas Begriff der »Gesetze« vorüberzugehen. Ich werde - in einem späteren Zeitpunkt - den Versuch machen, aufzuzeigen, wieso — im Gegensatz zum Begriff der »Lehre« — der Begriff der »Gesetze« bei Kafka einen überwiegend scheinhaften Charakter hat und eigendich eine Attrappe ist. Für den Augenblick mag das genügen. Leid tut mir, daß ich Ihnen ein Exemplar der gegenwärtigen Fassung nicht zur Verfügung stellen kann und dies um so mehr als ja wohl nicht die geringste Aussicht besteht, die Arbeit in dieser oder sonst einer Form gedruckt zu sehen. Sie steht auch in äußerer Hinsicht somit an einem extremen Ort und ist wohl geeignet, mich hin und wie98
der zur Betrachtungsweise des »Essays« zurückzuführen, die ich im übrigen mit ihr abgeschlossen haben möchte. Dank für den Hinweis auf den Aufsatz von Margarete Susman [Das HiobProblem bei Franz Kafka, in: Der Morgen, Jg. 5 (1929), Heft 1]. Noch mehr Dank würde ich Ihnen schulden, wenn Sie mir Ihren Kommentar zum »Alten Blatt« [in: Ein Landarzt. Kleine Erzählungen, München, Leipzig 1919] senden.
5. Benjamin an Kraft. San Remo, 9.1.1935 (5. Briefe, 643f.) [Wenig berechtigt] ist die Mutmaßung Ihrer letzten Karte, Ihre brieflichen Bedenken gegen den »Kafka« könnten meine Empfindlichkeitverletzt haben. Darf ich Sie, ohne das Entsprechende nun Ihnen gegenüber zu riskieren, versichern, daß neben anderen Einwendungen, die erhoben worden sind, die Ihren wie gefiederte Pfeile unter Granatenwagen erscheinen (womit ich keineswegs insinuieren will, daß sie giftig seien). Eben die Kontroversen aber, die über diese Arbeit sich, wie über keine andere erhoben haben, bestätigten nur, daß auf ihrem Gelände eine Anzahl der strategischen Punkte heutigen Denkens liegen und meine Mühe, es weiter zu befestigen, keine unnütze ist.
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Aus der Korrespondenz mit Theodor W. Adorno
1. Adorno an Benjamin. Oxford, 5. 12. 1934 (s. Walter Benjamin, Gesammelte Schriften, Bd. 2, S. 1173) Sehr gern, brennend gern würde ich die neuen Stücke der [Berliner] Kindheit und vor allem den Kafka lesen: sind wir doch alle bisher Kafka das lösende Wort schuldig geblieben, Kracauer am meisten - und wie dringend wäre nicht das Anliegen, ihn aus einer existentialistischen Theologie zu lösen und für die andere zuzurichten. Da wir immerhin bis zu unserem Wiedersehen mit nicht ganz unerheblichen Zeiträumen rcchnen müssen - wäre es nicht doch möglich, diese Arbeit jetzt einzusehen?
2. Adorno an Benjamin. Berlin, 16. 12. 1934 (s. a.a. O.) Ich verdanke [Egon] Wissing die Einsicht in Ihren Kafka [seil, in ein Exemplar der revidierten Fassung des Essays] und möchte Ihnen heute nur sagen, daß ich den Motiven dieser Arbeit einen ganz außerordentlichen Eindruck verdanke - den größten, der mir von Ihnen kam, seit der Vollendung des Kraus [seil, des Essays »KarlKraus«; s. Ges. Sehr., Bd. 2 , S. 3 3 4 - 3 6 7 ] . Ich hoffe, in diesen Tagen zur ausführlicheren Äußerung die Zeit zu finden und nur ein Abschlag darauf soll sein, wenn ich die ungeheure Definition der Aufmerksamkeit als historischer Figur von Gebet, am Ende des dritten Kapitels [s.o., S. 32] hervorhebe. Im übrigen ist mir unsere Ubereinstimmung im philosophischen Zentrum nie deutlicher geworden als an dieser Arbeit!
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3. Adorno an Benjamin. Berlin, i j . 12.2934 (s. Theodor W. Adorno, Uber Walter Benjamin, hg. und mit Anmerkungen versehen von Rolf Tiedemann, Frankfurt am Main 1970, S. 103-110 und 177-179) [L]assen Sie mich in fliegender Hast - denn Felizitas [von Benjamin gebrauchte Anrede für Gretei Adorno] ist im Begriff mir das Exemplar Ihres Kafka abzunehmen, das ich nur zweimal durchlesen konnte - mein Versprechen einlösen und wenige Worte dazu sagen, mehr um der spontanen ja überwältigenden Dankbarkeit Ausdruck zu geben, die mich davor ergriffen hat, als weil ich mir etwa einbildete, den ungeheuren Torso ganz erraten oder gar »beurteilen« zu können. Nehmen Sie es nicht als unbescheiden, wenn ich damit beginne, daß mir unsere Übereinstimmung m den philosophischen Zentren noch nie so vollkommen zum Bewußtsein kam wie hier. Führe ich Ihnen meinen ältesten, neun Jahre zurückliegenden [höchstwahrscheinlich ungedruckten und verschollenen] Deutungsversuch zu Kafka an: er sei eine Photographie des irdischen Lebens aus der Perspektive des erlösten, von dem nichts darauf vorkommt als ein Zipfel des schwarzen Tuches, während die grauenvoll verschobene Optik des Bildes keine andere ist als die der schräg gestellten Kamera selber — so bedarf es keiner anderen Worte zur Ubereinstimmung, wie weit auch Ihre Analysen über diese Konzeption hinausdeuten. Das betrifft aber zugleich auch und in einem sehr prinzipiellen Sinn die Stellung zu »Theologie«. Da ich auf eine solche, vorm Eingang zu Ihren Passagen, drängte, so scheint es mir doppelt wichtig, daß das Bild von Theologie, in dem ich gerne unsere Gedanken verschwinden sähe, kein anderes ist als das, aus dem hier Ihre Gedanken gespeist werden - es mag wohl »inverse« Theologie heißen. Der Standort gegen naturale und supranaturale Interpretation zugleich, der darin erstmals in aller Schärfe formuliert ist, dünkt mir aufs genaueste mein eigener - ja meinem Kierkegaard [seil. »Kierkegaard. Konstruktion des Ästhetischen«, Tübingen 1933] war es um nichts anderes zu tun als darum und wenn Sie über die Verknüpfung Kafkas mit Pascal und Kierkegaard höhnen [s.o., S. 26], so darf ich Sie wohl daran erinnern, daß im Kierkegaard von mir derselbe Hohn gegen die Verknüpfung Kierkegaards mit Pascal und Augustin exponiert ist. Wenn ich
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freilich dagegen doch an einer Relation von Kierkegaard und Kafka festhalte, so ist es am letzten die der dialektischen Theologie, deren Anwalt vor Kafka Schoeps heißt. Sie liegt vielmehr genau bei der Stelle der »Schrift«, von der Sie so entscheidend sagen, was Kafka etwa als ihr Relikt [s.o., S. 37] vermeint habe, könne besser, nämlich gesellschaftlich, als deren Prolegomenon verstanden werden. U n d dies ist in der Tat das Chiffernwesen unserer Theologie, kein anderes — aber freilich auch um kein Zoll weniger. Daß sie aber hier mit so ungeheurer Gewalt durchbricht, ist mir die schönste Bürgschaft Ihres philosophischen Gelingens, seit ich die ersten Bruchstücke der Passagen kennenlernte. — Zu unserer Übereinstimmung möchte ich zählen zumal noch die Sätze über Musik und die über Grammophon und Photographie [s.o., S. 16 und 3 6 ] - e i n e etwa ein Jahr alte Arbeit von mir zur Form der Schallplatte [s. Hektor Rottweiler (Pseudonym), Die Form der Schallplatte, in: 23. Eine Wiener Musikzeitschrift, N r . 17-19 (1934)], die von einer bestimmten Stelle des Barockbuches ausgeht und gleichzeitig die Kategorie der dinglichen Entfremdung und Rückseitigkeit fast in genau dem gleichen Sinne gebraucht, wie ich sie im Kafka nun auch von Ihnen konstruiert finde, wird Ihnen, wie ich hoffe, in wenigen Wochen zugehen; und vor allem die über Schönheit und Hoffnungslosigkeit [s.o., S. 13f.]. Fast möchte ich es bedauern, daß die Nichtigkeit der offiziell theologischen Kafkadeutungen zwar ausgesprochen, aber nicht voll expliziert ist wie etwa die Gundolfs in den Wahlverwandtschaften [s. Benjamin, Ges. Sehr., Bd. 1, S. 157-167] (beiläufig gesagt, die Plattitüden des psychoanalytischen Kaiser [s.o., Nachweis zu 25,29] verstellen weniger von der Wahrheit als jener bürgerliche Tiefsinn). Bei Freud gehören Uniform und Vaterimago zusammen. Wenn Sie selbst die Arbeit als »unfertig« bezeichnen, so wäre es freilich ganz konventionell und töricht, wenn ich Ihnen widersprechen wollte. Zu genau wissen Sie, wie sehr hier das Bedeutende dem Fragmentarischen verschwistert ist. Das schließt aber nicht aus, daß die Stelle der Unfertigkeit sich bezeichnen läßt eben weil diese Arbeit j a vor den Passagen liegt. Denn dies ist ihre Unfertigkeit. Das Verhältnis von Urgeschichte und Moderne ist noch nicht zum Begriff erhoben und das Gelingen einer Kafkainterpretation muß in letzter Instanz davon abhängen. Eine erste 102
Leerstelle ist da im Beginn bei dem Lukácszitat und der Antithese von Zeitalter und Weltalter [s.o., S. 10]. Diese Antithese könnte nicht als bloßer Kontrast sondern selber bloß dialektisch fruchtbar werden. Ich würde sagen: daß für uns der Begriff des Zeitalters schlechterdings unexistent ist (so wenig wie wir Dekadenz oder Fortschritt im offenen Sinn kennen, den Sie hier ja selber destruieren), sondern bloß das Weltalter als Extrapolation der versteinten Gegenwart. Und ich weiß, daß keiner in der Theorie mir lieber das zugäbe als Sie. Im Kafka aber ist der Begriff des Weltalters abstrakt im Hegeischen Sinne geblieben (beiläufig gesagt, es ist erstaunlich und wahrscheinlich Ihnen nicht bewußt, welch dichte Beziehungen diese Arbeit zu Hegel hat. Ich führe an nur: daß die Stelle über Nichts und Etwas [s.o., S. 35] aufs schärfste der ersten Hegeischen Bewegung des Begriffs: Sein - Nichts Werden, eingepaßt ist und daß das Cohenmotiv vom Umschlag mythischen Rechts in Schuld [s.o., S. 12] von diesem, wenn auch aus der jüdischen Tradition, gewiß ebenso aus der Hegeischen Rechtsphilosophie übernommen ist). Das sagt aber nichts anderes als daß die Anamnesis - oder das »Vergessen« - der Urgeschichte bei Kafka in Ihrer Arbeit wesentlich im archaischen und nicht durchdialektisierten Sinne gedeutet ist: womit die Arbeit eben an den Eingang der Passagen rückt. Ich habe hier am letzten zu richten, da ich nur zu gut weiß, daß der gleiche Rückfall, die gleiche unzulängliche Artikulation des Begriffs des Mythos mir im Kierkegaard ebenso zuzurechnen ist, wo er zwar als logische Konstruktion, nicht aber konkret aufgehoben wurde. Eben darum darf ich aber diesen Punkt bezeichnen. Es ist kein Zufall, daß von den ausgelegten Anekdoten eine: nämlich Kafkas Kinderbild, ohne Auslegung bleibt [s.o., S. 16]. Dessen Auslegung wäre aber einer Neutralisierung des Weltalters im Blitzlicht äquivalent. Das meint nun alle möglichen Unstimmigkeiten in concreto - Symptome der archaischen Befangenheit, der Unausgeführtheit der mythischen Dialektik noch hier. Die wichtigste scheint mir die des Odradek. Denn archaisch allein ist es, ihn aus »Vorwelt und Schuld« [s.o., S. 31] entspringen zu lassen und nicht als eben jenes Prolegomenon wiederzulesen, das Sie vorm Problem der Schrift so eindringlich fixieren. Hat er seinen O r t beim Hausvater-ist er denn nicht eben dessenSorge und Gefahr, ist mit ihm nicht eben die Aufhebung des kreatürlichen Schuld103
Verhältnisses vorbedeutet - ist nicht die Sorge - wahrhaft ein auf die Füße gestellter Heidegger - die Chiffer, ja das gewisseste Versprechen der Hoffnung, eben in der Aufhebung des Hauses? Gewiß ist Odradek als Rückseite der Dingwelt Zeichen der Entstelltheit - als solches aber eben ein Motiv des Transzendierens, nämlich der Grenzwegnahme und Versöhnung des Organischen und Unorganischen oder der Aufhebung des Todes: Odradek »überlebt«. Anders gesagt, bloß dem dinghaft verkehrten Leben ist das Entrinnen aus dem Naturzusammenhang versprochen*. Hier ist mehr als » Wolke« [s .o., S. 20], nämlich Dialektik und die Wolkengestalt gewiß nicht »aufzuklären« aber durchzudialektisieren - gewissermaßen die P^abcl regnen zu lassen - das bleibt das innerste Anliegen einer Kafkainterpretation; dasselbe wie die theoretische Durcharlikulation des »dialektischen Bildes«. Nein, so dialektisch ist Odradek, daß von ihm wirklich auch gesagt werden kann, »so gut wie nichts hat alles gut gemacht« [Theodor W. Adomo, Der Schatz des Indianer-Joe. Singspiel nach Mark Twain, hg. und mit einem Nachwort versehen von Rolf Tiedemann, Frankfurt am Maini979, S. 95]. - Z u m gleichen Komplex gehört die Stelle von Mythos und Märchen [s.o., S. 15], an der zunächst pragmatisch zu beanstanden wäre, daß das Märchen als Überlistung des Mythos auftritt oder dessen Brechung als ob die attischen Tragiker Märchendichter wären, was sie doch am letzten sind, und als ob nicht die Schlüsselfigur des Märchcns die pormythische, nein die sündelose Welt wäre, wie sie uns dinglich chiffriert erscheint. Es ist höchst seltsam, daß die sachlichen »Fehler«, die etwa der Arbeit sich vorwerfen ließen, genau hier ansetzen. Denn die Delinquenten der Strafkolonie werden, wenn mich nicht meine Erinnerung aufs grausamste betrügt, nicht bloß auf dem Rücken sondern auf dem ganzen Leib von der Maschine beschrieben [s.o., S. 32], ja es wird sogar von dem Vorgang gesprochen, wo die Maschine sie umwendet (Umwendung ist das Herz dieser Erzählung, wie sie auch im Augenblick des Verstehcns gegeben ist; übrigens dürfte gerade bei dieser Erzählung, die in ihrem Hauptteil eine gewisse idealistische Abstraktheit hat wie die von Ihnen mit Recht zurückgewiesenen Aphorismen [s.o., S. 25 f.], der disparate Schluß nicht vergessen * Hier ist der innerste Grund auch meines Widerstrebens gegen die unmittelbare Beziehung auf »Gebrauchswert« in anderen Zusammenhängen,
werden mit dem Grab des alten Gouverneurs unter dem Caféhaustisch). Archaisch scheint mir auch die Deutung des Naturtheaters im Ausdruck »ländliche Kirmes oder Kinderfest« [s.o., S. 23] - das Bild eines großstädtischen Sängerfestes der achtziger Jahre wäre gewiß wahrer, und Morgensterns »Dorfluft« [s. a. a'. O . ] war mir schon immer verdächtig. Ist Kafka kein Religionsstifter [s.o., S. 24] - und wie Recht haben Sie! wie wenig ist er es ! - so ist er gewiß auch und in keinem Sinn, nicht ein Dichter jüdischer Heimat. Hier empfinde ich die Sätze über die Verschränkung des Deutschen und Jüdischen [s.o., S. 32] als ganz entscheidend. Die umgebundenen Flügel der Engel sind kein Manko [s.o., S. 23] sondern ihr »Zug« — sie, der obsolete Schein, sind die H o f f n u n g selber urid keine andere gibt es als diese. Von hier aus, von der Dialektik des Scheins als vorzeitlicher Moderne scheint mir die Funktion von Theater und Geste ganz aufzugehen, die Sie erstmals so in die Mitte gestellt haben [s.o., S. 18 ff.] wie es geziemt. Die Tenore des Prozesses sind ganz von der Art. Wollte man nach dem Grund der Geste suchen, so wäre er vielleicht weniger im chinesischen Theater zu suchen, scheint mir, als in »Moderne«, nämlich dem Absterben der Sprache. In den Kafkaschen Gesten entbindet sich die Kreatur, der die Worte von den Dingen genommen worden sind. So erschließt sie sich gewiß, wie Sie es sagen, der tiefen Besinnung oder dem Studium als Gebet - als »Versuchsanordnung« [s.o., S. 18] scheint sie mir nicht zu verstehen und das einzige, was mir an der Arbeit materialfremd dünkt ist die Hereinnahme von Kategorien des epischen Theaters. Denn dies Welttheater, da es ja nur Gott vorgespielt wird, duldet keinen Standpunkt außerhalb, für den es als Bühne sich zusammenschließen würde; so wenig, wie Sie sagen, der Himmel darin im Bildrahmen an die Wand sich hängen ließe [s.o., S. 19], so wenig gibt es einen Bühnenrahmen für die Szene selbst (es sei denn gerade den Himmel über der Rennbahn) und daher gehört zur Konzeption der Welt als des »Theaters« der Erlösung, in der sprachlosen Übernahme des Wortes, konstitutiv hinzu, daß Kafkas Kunstform (und freilich von der Kunstform wird sich, nach der Ablehnung der unvermittelten Lehrgestalt, nicht absehen lassen) zur theatralischen in der äußersten Antithese steht und Roman ist. So scheint mir hier Brod mit der banalen Erinnerung an den Film etwas weit genaueres getroffen zu
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haben als er ahnen konnte. Kafkas Romane sind nicht Regiebücher fürs Experimentiertheater, weil ihnen der Zuschauer prinzipiell abgeht, der ins Experiment eingreifen könnte. Sondern sie sind die letzten, verschwindenden Verbindungstexte zum stummen Film (der nicht umsonst fast genau gleichzeitig mit Kafkas Tod verschwand); die Zweideutigkeit der Geste ist die zwischen dem Versinken in Stummheit (mit der Destruktion der Sprache) und dem Sicherheben aus ihr in Musik - so ist wohf das wichtigste Stück zur Konstellation Geste - Tier - Musik die Darstellung der stumm musizierenden Hundegruppe aus den Aufzeichnungen eines Hundes [seil. »Forschungen eines Hundes«, in: Gesammelte Schriften, Bd. V, Prag 1936], die ich nicht zögern möchte dem Sancho Pansa [s.o., S. 38] an die Seite zu stellen. Vielleicht könnte deren Hereinnahme hier vieles klären. Lassen Sie mich zum Fragmentcharakter nur noch das sagen, daß das Verhältnis von Vergessen und Erinnern [s.o., S. 29ff.], gewiß zentral, mir noch nicht offenbar geworden ist und vielleicht eindeutiger und härter artikuliert werden könnte; lassen Sie mich der Kuriosität halber sagen, zur Stelle über »Charakterlosigkeit« [s.o., S. 18], daß ich im vorigen Jahr ein kleines Stück »Gleichmacherei« geschrieben habe, in dem ich die Auslöschung des individuellen Charakters in der gleichen Weise positiv genommen habe; und lassen Sie als weitere Kuriosität mich Ihnen sagen, daß ich im Frühjahr in London ein Stück über die zahllosen bunten Fahrscheinmodelle der Londoner Autobusse schrieb, das sich aufs seltsamste mit Ihrem Farbenstück aus der Berliner Kindheit [s. Ges. Sehr., Bd. 4, S. 263] berührt, das Felizitas mir zeigte. Vor allem aber lassen Sie mich nochmals unterstreichen die Bedeutung der Stelle von der Aufmerksamkeit als Gebet [s.o., S. 32]. Ich wüßte nichts wichtigeres von Ihnen - nichts auch, was über Ihre innersten Motive genaueren Aufschluß geben könnte. Fast will es mir scheinen, als wäre durch Ihren Kafka der Frevel unseres Freundes Ernst [Bloch?] gesühnt.
4. Benjamin an Adorno. San Remo, 7.1.1935 (s. Briefe, 638ff.) [I]ch vermute Sie zurück und gehe daran, Ihren großen Brief vom i7ten Dezember zu beantworten. Nicht ohne Zögern - er ist so gewichtig und greift derart in die Mitte der Sache ein, daß ich keine Aussicht habe, ihm auf brieflichem Wege gerccht zu werden. Um so wichtiger ist, daß ich Sie vor allem andern noch einmal der großen Freude versichere, die Ihr lebendiger Anteil in mir erweckt hat. Ich habe Ihren Brief nicht nur gelesen sondern studiert; er verlangt es, Satz für Satz überdacht zu werden. Da Sie meine Intentionen aufs genaueste erfaßt haben, so sind Ihre Fehlanzeigen von größtem Belang. Das gilt in erster Linie von den Bemerkungen, die Sie über die mangelnde Bewältigung des Archaischen machen; es gilt also in ausgezeichneter Weise von Ihren Bedenken zur Frage der Weltalter und des Vergessens. Im übrigen räume ich ohne weiteres Ihren Einwendungen gegen den Terminus »Versuchsanordnung« das Feld und werde mit den sehr bedeutsamen Bemerkungen zu Rate gehen, die Sie über den stummen Film machen. Einen Fingerzeig gab mir der Umstand, daß Sie so besonders nachdrücklich auf die »Aufzeichnungen eines Hundes« hinweisen. Gerade dieses Stück ist mir - wohl als das einzige - noch im Verlauf meiner Arbeit am »Kafka« fortdauernd fremd geblieben und ich wußte - habe es auch wohl Felizitas gegenüber ausgesprochen - daß es mir sein eigentliches Wort noch zu sagen hätte. Ihre Bemerkungen lösen diese Erwartung ein. Nachdem nun zwei T e i l e - d e r erste und dritte-erschienen sind, ist der Weg f ü r die Neufassung frei; ob er freilich auf ein Publikationsziel hinauslaufen und Schocken die erweiterte Fassung in Buchform herausbringen wird, ist noch fraglich. Die Umarbeitung wird, soviel ich jetzt sehe, besonders den vierten Teil [seil. »Sancho Pansa«, s.o., S. 33-38] zu betreffen haben, der trotz des großen - oder vielleicht wegen des allzugroßen - Akzents der auf ihm liegt, selbst Leser wie Sie und Scholem nicht zur Stellungnahme vermocht hat. Im übrigen fehlt unter den Stimmen, die bisher laut geworden sind, auch Brechts nicht; und so hat sich alles in allem eine Klangfigur um ihn gebildet, der ich noch manches abzulauschen habe. Vorläufig habe ich eine Sammlung von 107
Reflexionen angelegt, um deren Projektion auf den Urtext ich mich noch nicht kümmere. Sic gruppieren sich um das Vcrhältnis »Gleichnis = Symbol«, in dem ich die Kafkas Werke bestimmende Antinomie denkgerechter gefaßt zu haben glaube als mit dem Gegensatz »Parabel = Roman«. Die nähere Bestimmung der Romanform bei Kafka, über deren Notwendigkeit ich mit Ihnen einig bin und die bisher fehlt, kann nur auf einem Umweg erreicht werden. Ich w iirde wünschen - und es ist gar nicht so unwahrscheinlich daß manche dieser Fragen noch offen stehen, wenn wir uns das nächstemal sehen werden.
5. Adorno an Benjamin. Hornberg, 2. 8. 1935 (s. Bńefe, 6y$ f. ; dazu s. Benjamin an Adorno, Briefe, S. 662—666) Die Ware als dialektisches Bild verstehen, heißt eben auch sie als Motiv ihres Unterganges und ihrer »Aufhebung« anstatt der bloßen Regression aufs Ältere zu verstehen. Ware ist einerseits das Entfremdete, an dem der Gebrauchswert abstirbt, andererseits aber das Überlebende, das fremd geworden die Unmittelbarkeit übersteht. An den Waren und nicht für die Menschen haben wir das Versprechen der Unsterblichkeit und der Fetisch i s t - u m die von Ihnen mit Recht statuierte Beziehung zum Barockbuch weiterzutreiben — fürs neunzehnte Jahrhundert ein treulos letztes Bild wie nur der Totenkopf. An dieser Stelle scheint mir der entscheidende Erkenntnischarakter Kafkas, insbesondere des Odradek als der nutzlos überlebenden Ware zu liegen: in diesem Märchen mag der Surrealismus sein Ende haben wie das Trauerspiel im Hamlet. Innergesellschaftlich sagt das aber, daß der bloße Begriff des Gebrauchswertes keinesfalls genügt, den Warencharakter zu kritisieren, sondern nur aufs vorarbeitsteilige Stadium zurücklenkt. Das war stets mein eigentlicher Vorbehalt gegen Berta [Deckname für Brecht] und ihr »Kollektiv« sowohl wie ihr unmittelbarer Funktionsbegriff sind mir darum stets suspekt gewesen, nämlich selber als »Regression«.
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6. Benjamin an Adomo. Paris, 19. 6.1938 (s. Waller Benjamin, Gesammelte Schuften, Bd. 2, S. 1183) Uber meine literarischen Beschäftigungen der letzten Zeit zwei Worte. Einiges habt Ihr [seil. Theodor und Gretei Adorno] wohl inzwischen von Scholem [der zu dieser Zeit in N e w York war] darüber erfahren, insbesondere meine Befassung mit Brods Kafka-Biographie. Ich habe die Gelegenheit wahrgenommen, selbst einige Notizen über Kafka zu machen, die von einem anderen Standort ausgehen als mein Essay [s.o., Benjamin an Scholem, N r . 26]. Dabei habe ich wieder mit großem Interesse Teddies [Adornos] Kafkabrief vom 17. Dezember 1934 studiert. Sosehr der stichhält, so fadenscheinig erweist sich der [ungedruckte] Kafka-Aufsatz von [Peter von] Haselberg, den ich ebenfalls bei meinen Papieren fand.
7. Benjamin an Adorno. Paris, 23. 2. 1939 (s. Briefe, 807) Sie sehen, daß ich Ihnen für Ihre Anregungen über den Typus [dazu s. Adornos Brief vom L 2. 1939 in: Benjamin, Ges. Sehr., Bd. 1, S. 1107-1113] Dank weiß. Wo ich über sie hinausgegangen bin, geschah es im ursprünglichsten Sinn der »Passagen« selbst. Dabei hebt sich mir Balzac sozusagen weg. Er ist hier nur von anekdotischer Wichtigkeit, indem er weder die komische noch die grauenvolle Seite des Typus zur Geltung bringt. (Beides zusammen hat, glaube ich, im Roman erst Kafka eingelöst; bei ihm haben sich die Balzacschen Typen solide im Schein einlogiert: sie sind zu »den Gehilfen«, »den Beamten«, »den Dorfbewohnern«, »den Advokaten« geworden, denen K. als der einzige Mensch, mithin als ein in all seiner Durchschnittlichkeit atypisches Wesen gegenübergestellt ist.)
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8. Benjamin an Adorno.Paris, 7.5.1940 (s. Briefe, 851f.) Es bleibt eine Seite an Hofmannsthal unberührt [seil, im Essay über George und Hofmannsthal; s. Adorno, Ges. Sehr., Bd. 10, hg. von Rolf Tiedemann, Frankfurt am Main 1977, S. 195-237], die mir am Herzen hegt. [ . . . ] Julian, der Mann [im »Turm«], dem nichts als ein winziges Aussetzen des Willens, als ein einziger Moment der Hingabe fehlt, um des Höchsten teilhaft zu werden, ist ein Selbstporträt Hofmannsthals. Julian verrät den Prinzen: Hofmannsthal hat sich von der Aufgabe abgekehrt, die im Chandosbriefe auftaucht. Seine »Sprachlosigkeit« war eine Art von Strafe. Die Sprache, die Hofmannsthal sich entzogen hat, dürfte eben die sein, die um die gleiche Zeit Kafka gegeben wurde. Denn Kafka hat sich der Aufgabe angenommen, an der Hofmannsthal moralisch versagte und darum auch dichterisch.
Aufzeichnungen
i. Aufzeichnungen (bis 1928) a. Notizen zu Kafka »Der Prozeß« Die Arbeit ist Gerhard Scholem zu widmen Auf den Bodenräumen, wo das Büro ist, wird Wäsche getrocknet. Versuch den Waschtisch von Fri Bürstner in die Mitte des Zimmers zu rücken. Leute die Kissen zwischen sich und die Decke schieben Die Sinnschicht die höchste: Theologie. Die Erlebnisschicht die tiefste: Traum Kopfhaltung: im Dom, bei der Hinrichtung und sonst Funktion der Geschichte vom Türhüter. Exkurs über den Kommentar. Ähnlichkeit dieser Geschichte mit Hebels »Entscheidung« : Hinrichtung als ein Stadium des Prozesses. Die S t i m m e zieht das Resümee Bedeutung der Huren Uber die Luft in den Gerichtsräumen; Hitze bei Toten Die Wendung der traumhaften Schicht in die theologische Schicht entwickelt an der Kommunikation von Wohnräumen und Gerichtsräumen Das »Gewissen« als Verfallsprodukt und als Vorherwissen des Unheils Die Deutung der proletarischen Viertel und der proletarischen Behausungen als Gerichtsquartiere Vergleich mit der »Verwandlung«; zu bemerken, daß im »Prozeß« keine Tiere vorkommen Vergleich mit den Märchenkomödien von Robert Walser Das irrtümliche zu-laut-werden im Dom Das Gericht als inquisitorisches und physiologisches Marterinstitut. Vergleich mit dem Inquisitionsgericht Entzauberung des »okkulten« Begriffs des »Türhüters« im Kommentar zur eingelegten Geschichte Unnennbarkeit dieser Geschichte: titellos. Sie lebt als solche in der Dimension arabischer oder hebräischer Traktattitel 1x3
Vergleich mit Agnon Alle Räume in diesem Roman sind untergeschoben und alle lassen sich ihm unterschieben: Dom, Gerichtssaal, Kontor, Bordell, Treppenflur, Atelier, möbliertes Zimmer, Korridor Sehr -wichtige Frage: warum ist kaum ein Wort auf die Darstellung der »Qualen« des Angeklagten verwendet? Auswechselbare Personen? Der Direktor-Stellvertreter, Fräulein Biirstner, der Neffe der Wirtin: flüchtig hingemachte Männer Die theologische Kategorie des Wartens aus diesem Roman zu konstruieren. So auch die theologische Kategorie des »Aufschubs«. »Aufschub« in der Gerichtsordnung, deren wichtigstes Moment ist: das Verfahren geht allmählich ins Urteil über. Warten: dazu ist zunächst zu verfolgen, wann, wo, wie oft die Hauptperson »wartend« dargestellt wird. Straf- und HöllenSonntag als Wartetag Die ganze Gerichtsverfassung zusammenstellen Bedeutung der Porträts der Richter. Über den Türrahmen hängend als Fallbeil, vergi. Calderon: Eifersucht das größte Scheusal Wie ist der Kontrepost von Fräulein Bürstner zu allen andern Personen des Romans zu erklären? [Hier fehlen zwei Zeilen am beschädigten unteren Rand der Seite; erhalten lediglich - am Ende der ersten Zeile - : ] Strindberg: Nach Damaskus »récompense ou . . . châtiment, deux formes de l'éternité« Baudelaire: Les paradis artificiels Paris 1917 p 11 Ekel und Scham. Verhältnis dieser beiden Affekte und ihre Bedeutung bei Kafka Ms 673, S. 77Í. 1
1 Druckvorkge nahezu aller hier abgedruckten Aufzeichnungen ist der Abschnitt »Paralipomenazu Kafka« des Anmerkungs-Apparats in: Benjamin, Ges. Sehr., Bd. 2, S. 1190-1264; die wenigen Ausnahmen werden gesondert nachgewiesen. Die Signatur »Ms« mit folgender Ziffer bezeichnet die Nummer des jeweiligen Nachlaßmanuskript-Blattes (gelegentlich -Heftes oder -Blocks; in diesem Fall folgt die Seitenangabe), unter der es im »Benjamin-Archiv« Frankfurt am Main archiviert ist.
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b. Idee eines Mysteriums Die Geschichte darzustellen als einen Prozeß, in welchem der Mensch zugleich als Sachwalter der siummen Natur Klage führt über die Schöpfung und das Ausbleiben des verheißnen Messias. Der Gerichtshof aber beschließt Zeugen für das Zukünftige zu hören. Es erscheint der Dichter der es fühlt, der Bildner der es sieht [,] der Musiker der es hört und der Philosoph der es weiß. Ihre Zeugnisse stimmen daher nicht überein, wiewohl sie alle für sein Kommen zeugen. Der Gerichtshof wagt seine Unschlüssigkeit nicht einzugestehen. Daher nehmen die neuen Klagen kein Ende, ebensowenig die neuen Zeugen. Es gibt die Folter und das Martyrium. Die Geschwornenbänke sind besetzt von den Lebenden, die den Mensch-Ankläger wie die Zeugen mit gleichem Mißtrauen hören. Die Geschwornenplätze erben sich bei ihren Söhnen fort. Endlich erwacht eine Angst in ihnen, sie könnten von ihren Bänken vertrieben werden. Zuletzt flüchten alle Geschwornen, nur der Kläger und die Zeugen bleiben. Ms 780 1
I Diese Aufzeichnung-erstmals von Scholem veröffentlicht-stellt nach dessen Urteil »das e m e Zeugnis der Wirkung von Kafkas .Prozeß« auf Benjamin« dar; s. Scholem, Walter Benjamin - die Geschichtc einer Freundschaft, Frankfurt am Main 1975, S. 180 f.
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2. A u f z e i c h n u n g e n (bis 1931) a. Aufzeichnungen zu einem ungeschriebenen Essay und zum Vortrag von 19311 Versuch eines Schemas zu Kafka Kafka nimmt die gesamte Menschheit in eine rückwärtige Stellung. Er räumt Jahrtausende der Kulturentwicklung, von der Gegenwart gar nicht zu reden. Die Welt befindet sich, nach ihrer Naturseite, bei ihm in dem Stadium, das Bachofen das hetärische genannt hat. Kafkas Romane spielen in einer Sumpfwelt. Diese Welt ist es, und nicht die unsrige, die Kafka in seinen Büchern mit der gesetzlichen des Judentums konfrontiert. Es ist als wenn Kafka experimentell die sehr viel größere Angemessenheit der Thora an eine, obzwar in ihr verschollene, prähistorische Stufe der Menschheit erweisen wollte. Aber ganz verschollen ist diese Stufe auch in der Thora nicht. Die Reinigungs- und Speisegesetze beziehen sich auf eine Vor weit, von der nichts mehr erhalten ist als diese Abwehrmaßnahmen gegen sie. Mit andern Worten: nur die Halacha enthält noch Spuren dieser fernsten Daseinsart der Menschheit. Kafkas Bücher enthalten die fehlende Hagada zu dieser Halacha. Aufs innigste verschränkt aber mit diesem hagadischen Text enthalten seine Bücher einen prophetischen. Dem hetärischen Natursein der Menschheit hält das Judentum die Strafe entgegen. Der Prophet sieht die Zukunft unter dem Aspekt der Strafe. Das Kommende ist ihm nicht als Wirkung einer jüngstvergang1 Kursiv gesetzte Zwischen- und Untertitel, hier und im folgenden, sind vom Herausgeber, normal gesetzte stets von Benjamin formuliert.
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nen Ursache sondern als Strafe einer, unter Umständen längstvergangnen, Schuld zugeordnet. Die Schuld nun, welcher sich nach Kafka unsere nächste Zukunft als Strafe zuordnet, ist das hetärische Dasein der Menschheit. Diese Prophétie auf eine allernächste Zukunft ist für Kafka weit wichtiger als die jüdischen Theologumena, die man allein in seinem Werk hat finden wollen. Die Strafe ist wichtiger als der Strafende. Die Prophetie ist wichtiger als Gott. Die Gegenwart, unsere gewohnteste Umwelt, scheidet also für Kafka vollkommen aus. Sein ganzes Interesse gilt in Wirklichkeit dem Neuen, der Strafe, in deren Lichte freilich die Schuld schon zur ersten Stufe der Erlösung wird. Ms 212
Aufzeichnungen
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Die Fabel vom Bucephalus, dem Streitroß Alexanders, das Advokat geworden sei, ist keine Allegorie. Es scheint bei Kafka überhaupt keinen Raum als das Gericht für die großen Figuren, besser: Mächte der Geschichte mehr zu geben. Das Rechtswesen scheint sie sich alle pflichtig gemacht zu haben. Wie die Menschen nach dem Volksglauben sich nach dem Sterben verwandeln - in Geister oder Gespenster- so scheinen bei Kafka die Menschen nach dem Schuldigwerden sich in Gerichtspersonen zu verwandeln. Die Zahlenfiguren bei Kafka zu deuten: zwei Gehilfen, zwei Henker, drei Zimmerherren, drei junge Leute. »Ein Besuch im Bergwerk« - da geben der sechste und siebente eine Vorstellung davon, was später die Gehilfen sein werden. Die Livree oder der goldne Knopf am Rock als Emblem des Zusammenhanges mit Höherem: der Vater in der »Verwandlung«, der Diener im »Besuch im Bergwerk«, die Gerichtsdiener im »Prozeß«. Bei Kafka lösen die Lebensbilder, die vielleicht weniger auf Grund der ratio als alter Mythologeme sich gebildet haben, sich auf und es entstehen, transitorisch, neue. Aber gerade dieses Flüchtige im Sich-Bilden der Mythologeme, die in ihnen schon angelegte Auflösung ist hier entscheidend. Es ist gut
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und gern das Gegenteil vom »neuen Mythos«, von dem hier die Rede ist. Das »Weben ohne aufzublicken«, das Bachofen an den tres anus textrices kennt, kann man auch an den Hauptpersonen des »Prozesses« und des »Schlosses« erkennen. Demgegenüber die Zerstreutheit der Gehilfen. Das Werk von Kafka: die Erkrankung des gesunden Menschenverstandes. Auch des Sprichworts. Ms 209 Aufzeichnungen
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»Er hat zwei Gegner: der erste bedrängt ihn von rückwärts, vom Ursprung her. Der zweite verwehrt ihm den Weg nach vorn. Er kämpft mit beiden.« Beim Bau der chinesischen Mauer P 224 Sehr wichtig ist die Notiz: »Er war früher Teil einer monumentalen Gruppe« (Beim Bau p 217) Denn erstens gehört sie dem Komplex von Bildern der Plastik an, der bestimmt nicht bedeutungslos ist (vgl. die Engel von Oklahoma) Zweitens ist in dieser Notiz bemerkt, er sei aus der Gruppe herausgetreten. Das ist wahrscheinlich ein Gegenstück zu dem Eingehen ins Bild, das die chinesischen Märchen haben. Die von Massen bemerkten Worte, Geberden, Geschehnisse sind anders als die von einzelnen bemerkten. In der Ruhe von großen Massen aber ändert sich auch für den einzelnen schon das Merkfeld. Ein Typus wie Schweyk kapituliert zum Beispiel aufs glücklichste vor dem Massendenken. Bei Kafka kommt es vielleicht zu Konflikten, Vgl. »Er lebt nicht wegen seines persönlichen Lebens, er denkt nicht wegen seines persönlichen Denkens. Ihm ist als lebe und denke er unter der Nötigung einer Familie.« (Beim Bau p 2 1 7 / 1 8 ) »Alles ist ihm erlaubt, nur das Sichvergessen nicht«. (Beim Bau 220) Dem Dunkel des gelebten Augenblicks entrinnt zwar der, der ins Bild eingeht, Kafka entflieht ihm aber nicht sondern durchdringt es. Dazu muß er die Malarialuft des Daseins tief einatmen. Revolutionäre Energie und Schwäche sind bei Kafka zwei Seiten ein und desselben Zustands. Seine Schwäche, sein Dilettantis118
mus, sein Unvorbereitetsein sind revolutionär. (Beim Bau p212/13)
Kafka sagt, daß er das Nichts schon immer »als sein Element fühlte«. Was meint er damit? Schöpferische Indifferenz? Nirwana? (Beim Bau p 216) »Selbst eine Mauerassel braucht eine verhältnismäßig große Ritze, um unterzukommen«, für seine Untersuchungen, Betrachtungen, »Arbeiten aber ist überhaupt kein Platz nötig, selbst da, wo nicht die geringste Ritze ist, können sie, einander durchdringend, noch zu Tausenden und Abertausenden leben.« (Beim Bau P 2T 5) Anklopfen der Bretterwand mit dem Schädel durch den Affen (Landarzt p 159); »sein eigner Stirnknochen verlegt ihm den Weg« (Beim Bau der chinesischen Mauer p 213); mit der Stirn gegen die Erde anrennen (Beim Bau p 82) Für das Motiv der Verwandlung ist es wichtig, daß sie bei Kafka von beiden Seiten her vollzogen wird: der Affe wird Mensch; Gregor Samsa wird Tier. Bericht an eine Akademie: hier erscheint Menschsein als Ausweg, Gründlicher kann es wohl nicht in Frage gestellt werden. »In der Geschlossenheit ihres Symbolgehalts Märchen und Mythen vergleichbar« sagt [Hellmuth] Kaiser [Franz Kafkas Inferno, Wien 1931] (p 3) von Kafkas Schriften mit Recht. Wenn bei Julien Green das eigentliche, alle Figuren beherrschende Laster die Ungeduld ist, so ist es bei Kafka die Faulheit. Die Menschen bewegen sich wie in feuchter von schwülem Brodem erfüllter Luft. Nichts liegt ihnen ferner als Geistesgegenwart. Besonders ist es in den Frauengestalten deutlich, daß ein Zusammenhang zwischen ihrer Bereitschaft zum Geschlechtsverkehr und ihrer Faulheit besteht. Ms 2 1 0 Im Folgenden eine Reihe wichtiger Korrespondenzen der »Betrachtung« zu späteren Werken von Kafka. »Die andern mit Tierblick anschaun« p 34 das erscheint hier als Ausdruck für »die letzte grabmäßige Ruhe« {Kleider, die »Staub bekommen, der, dick in der Verzierung, nicht mehr zu entfernen ist« p 64 Schließlich auch das Gesicht 119
»verstaubt, von allen schon gesehn und kaum mehr tragbar.« PÔ5} 1 Der Kaufmann erklärt, er »gehe wie auf Wellen, klappere mit den Fingern beider Hände und mir entgegenkommenden Kindern fahre ich über das Haar. « p 46 Kinderengel : »Flieget weg« p 48 Auch sonst hier Spuren von »Amerika«. »Gänzlich aus deiner Familie ausgetreten« p 30 Unmittelbar danach klingt es, als vollziehe sich die Verwandlung des Redenden in ein Pferd. {»Unglücklichsein«: der Schreibende läuft über den schmalen Teppich seines Zimmers »Wie in einer Rennbahn« p 80} Dann erscheint als die Hauptfigur dieser Betrachtung das gespenstische Kind. - Der Mann, der den Kopf »unter einer Wölbung des Treppenhauses vorbeugen« muß. p 98 In der »Abweisung« ist die Frau altmodisch angezogen, p 68 Altmodische Autobewegung p 67 Die Pferde reißen mit ihrem Lärm dem müden Mami den Kopf abwärts, p 76 »Zum Nachdenken für Herrenreiter« betont wieder die Rennbahn, scheint aber sie und die Pferde gegen diese ganze Art des Betriebes in Schutz nehmen zu wollen. »Versteht sich, daß alle im Frack sind« p 37 - die Niemande nämlich. So auch die »Scharfrichter« im »Prozeß«. { »Ich bin mit Recht verantwortlich für alle Schläge gegen Türen« P 54} {»Entlarvung eines Bauernfängers« — Vorstudie zu den Gehilfen,} {Nachbarländer mögen in Sehweite liegen.} [s.o., Nachweis zu 24,6] [ . . . ] Ms 211 Aufzeichnungen
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{Doppelgesichtigkeit der Kafkaschen Angst: wie [Willy] Haas sie interpretiert und wie es durch uns geschieht. Die Angst ist nicht - wie die Furcht - eine Reaktion sondern ein Organ.} 1 Geschweifte Klammern bezeichnen, hier unti im folgenden, Stellen und Passagen in den Manuskripten Benjamins, die vor ihm - in der Regel zum Zeichen ihrer Berücksichtigung in abgeschlossenen Texten oder in fortgeschritteneren Textentwürfen - gestrichen wurden.
{»Unabsehbar war die Welt der für ihn wichtigen Tatsachen.«} Die Namen bei Kafka als Verdichtungen seiner Gedächtnisinhalte. Gegenteil der assoziativen Schreibweise. Namen in volkstümlicher Literatur - die Bedeutung des Josef K. Kafkas »Faustdichtung«. Der Unterschied in der Zielsetzung; der Unterschied in dem Erlösenden. U n d so bleibt denn schließlich vom Fausthaften nicht viel übrig. Auch diese Dichtung ist vielmehr die eines Mißlingens wie alle Kafkaschen. »Wie mans macht, ist es falsch.« Aber in diesem Mißlingen bereitet sich freilich ganz im Bodensatze und in der untersten Schicht der Kreatur, bei den Ratten, Mistkäfern und Maulwürfen die neue Verfassung der Menschheit, das neue Ohr für die neuen Gesetze und der neue Blick für die neuen Verhältnisse vor. {Vor einigen Wochen ist von Franz Kafka der Band »Beim Bau der chinesischen Mauer« erschienen. Ich glaube nicht, daß damit die Reihe der Werke erschöpft ist, in denen das Schaffen dieses Mannes - fast durchaus in der Gestalt des Nachlasses unter die Lebenden tritt. Noch haben wir zumindest die Fülle der Varianten und Studien zu den halb vollendeten großen Werken, vor allem zum Schloß zu erwarten. Wer Kafka war, das hat weder er selbst deutlich sagen wollen - man könnte von ihm die Legende bilden, er sei ein Mensch gewesen, der ununterbrochen mit seiner Selbsterforschung beschäftigt gewesen sei aber nicht einmal in einen Spiegel geblickt habe - weder er selbst hat es sagen wollen, weder er selbst hat sich anders als halblaut, scheu und flüchtig mit dem gemurmelten K. seines Namens, das in den großen Romanen der des Helden ist, angesprochen noch wissen wir selbst es. Sie werden es also auch hier von mir nicht erfahren.} [s.o., S. 40,3-17] {Wäre es der Augenblick, bei den Formfragen zu verweilen, so hätten wir mancherlei Aufschluß von dem Beweise des Satzes zu erwarten, daß seine großen Werke nicht Romane sondern Erzählungen sind.} {Ich glaube übrigens in diesem Dorf, das zu Füßen des Schloßbergs liegt, das Dorf einer talmudischen Legende wiederzuerkennen.} [s.o., S. 43,8f.] {Der Nachruhm und wie er zum sekreten Charakter der Kafkaschen Schriften steht.} 121
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{Die Deutung der »Schuld« im »Prozeß«: das Vergessen.} {Auf der andern Seite schcint es aber bisweilen auch die trostlose Aufgabe oberer Mächte zu sein, dem Menschen seine Schuld zu beweisen. Und dann ist deren Lage für sie, trotzdem sie zum äußersten entschlossen sind (Schloß p 498) ebenso hoffnungslos wie die des Menschen in der Defensive.} {Die drei Romane der Einsamkeit: wenn man will. Diese Einsamkeit ist aber nicht von Romantischer Art. Es ist die von außen aufgezwungne, nicht die innere, seclische Einsamkeit, die seine Helden kennzeichnet.} Wie tief die Oberen gesunken sind, daß sie nun ganz auf einer Stufe mit den Untersten stehen, die Menschen mitten unter ihnen. Es herrscht eine heimliche Solidarität der Angst hier zwischen den Wesen aller Stufenordnungen der Kafkaschen Hierarchie. Und mit welcher Erlösung Kafka Sancho Pansa begrüßt, der den menschlichen Ausweg aus dieser Promiskuität sich gebahnt hat. (Vgl, dazu die Flaubert-Anekdote »ils sont dans le vrai« [zit. bei Max Brod, Nachwort, in: Das Schloß, München 1926, 485]). {Das Unvollendetscin der Fragmente ist das eigentliche Walten der Gnade in diesen Büchern.} {»Eine alltägliche Verwirrung« - das ist wahrscheinlich ein Stück auf dem Naturtheater von Oklahoma. Im übrigen ist diese Erzählung ein Beispiel für die Entstellungen der Zeit genau wie »Das nächste Dorf«.} In vielen Räumen zwingt die niedrige Decke die Leute in eine gcbückte Haltung. Es ist als wenn sie eine Last trügen und die ist sicher ihre Schuld. Andererseits verfügen sie gelegentlich über Kissen, die sie zwischen sich und die Decke legen, Das heißt sie wissen sichs mit ihrer Schuld behaglich einzurichten, [s.o., S. 40,39-41,6] Wenn sie an Gerichtsstelle erscheinen so haben sie es sehr warm ; etwas zu warm gewiß, aber vor allem brauchen sie nicht zu frieren und genießen doch auch hier eben eine Art von Behaglichkeit. Daß damit alle Behaglichkeit überhaupt in eine recht zweideutige Beleuchtung tritt, ist im Sinne von Kafka. Vgl. Verwandlung: das Ungeziefer kann den Kopf unterm Kanapee nicht heben. Die Ritze in den Brettern des Affenkäfigs und in der Brettertür TitoreUis
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Ms 213
Aufzeichnungen
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t . . . obere Ecke abgerissen] Kafka [ . . . w.o.] nützlich sein, vor der Abfassung Blätter von Hieronymus Bosch zu studieren, dessen Monstren [ . . . w.o.Jicht mit denen Kafkas Verwandtschaft haben. [ . . . w.o.] von Georg Scherer »Betrachtung« {Wie die Werke von Kafka gewachsen sind. Der »Prozeß« aus dem »Urteil« (oder aus dem »Gesetz« - auch der »Schlag ans Hoftor« gehört hierher) »Amerika« aus dem »Heizer«.} {Die Namen der Leute mit [ein Wort nicht mehr zu entziffern] Nüchternheit besiegeln den Anspruch dessen, was er geschrieben hat, buchstäblich genommen zu werden.} Einen wirklichen Schlüssel zur Deutung Kafkas hält Chaplin in Händen. Wie Chaplin Situationen gibt, in denen sich auf einmalige Art das Ausgestoßen- und Enterbtsein, ewiges Menschenweh, mit den besondersten Umständen heutigen Daseins, dem Geldwesen, der Großstadt, der Polizei u.s.w. verbindet, ist auch bei Kafka jede Begebenheit janushaft, ganz unvordenklich, geschichtslos und dann auch wieder von letzter, journalistischer Aktualität. Von theologischen Zusammenhängen zu reden hätte allenfalls der ein Recht, der dieser Doppelheit nachginge; gewiß nicht, wer nur ans erste dieser beiden Elemente anschließt. Im übrigen setzt sich diese Zwcistöckigkeit genau so in seiner schriftstellerischen Haltung durch, die im Stile des Volkskalenders mit einer ans Kunstlose grenzenden Schlichtheit epische Figuren verfolgt wie nur der Expressionismus sie finden konnte. {Die beiden grundsätzlichen Irrtümer im Versuch, der Welt Kafkas nahezukommen sind die unmittelbar natürliche und die unmittelbar historische Deutung: die eine vertreten durch die Psychoanalyse, die andere durch Brod,} {Diese Umschreibung des Tao als »das, was dadurch, daß es >nicbts< ist, das Etwas'brauchbar« macht«, trifft den Ton vieler Aussagen und Worte bei Kafka. (Sancho Pansa als Taoist)} [s.o., S. 35,6f,j {»Ihm gilt gerade die Fülle der Welt als das allein Wirkliche. Aller Geist muß dinglich, besondert sein, um hier Platz und Da123
seinsrecht zu b e k o m m e n . . . Das Geistige, insofern es noch eine Rolle spielt, wird zu Geistern. Die Geister werden zu ganz individuellen Individuen, selber benannt und dem N a men des Verehrers aufs besonderste verbunden: die Geister seiner Ahnen. . . . Unbedenklich wird mit ihrer Fülle die Fülle der Welt noch überfüllt. . . . Unbekümmert mehrt sich hier das Gedränge der Geister; jeder unsterblich für sich, immer neue zu den alten, alle eigennamlich von einander geschieden . « Es ist nicht etwa К afka, von dem hier die Rede ist - es ist China. So beschreibt Rosenzweig den chinesischen Ahnenkult (Stern der Erlösung Frankfurt a/M 1921 p 76/77) und die überraschende Ähnlichkeit, die Kafkas Welt in solchem Lichte mit der des chinesischen Kults erhält, legt es nahe, hinter der Vatersvorstellung vielmehr die der Ahnen in Kafkas Werken zu suchen: wie auch freilich ihr Gegenbild: die der Abkömmlinge.} {Oskar Baum spricht in einem Aufsatz in der »Literarischen Welt« vom Konflikt irgend welchcr Pflichten, die der Mensch Kafkas in sich austrage. So schablonenhaft diese Vorstellung ist, so schlagend ist was Baum im unmittelbaren Anschluß an diese Darlegung meint: »Die Tragik der Unvereinbarkeit dieser Pflichten ist mit einer fast lächelnden Grausamkeit immer als Schuld des Helden empfunden, eine Schuld, die aber doch wieder etwas sehr Begreifliches, fast Selbstverständliches hat.« Es gibt in der Tat weniges so Bezeichnende für Kafka wie der scheele Blick, der immer von ihm aufs Schlechte, Störende, Verworfene wie auf etwas lästig- aber altgewohntes geworfen wird.} Es ist an Kafkas Helden überdeutlich eine Erscheinung wahrzunehmen, die man als den Verfall der Muße bezeichnen kann.Muße und Einsamkeit gehören zusammen. N u n aber ist die Einsamkeit in Gärung übergegangen. Man muß ihr aus dem Weg gehen. Ms 214 Aufzeichnungen
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{»Um möglichst schwer zu sein, was ich für das Einschlafen für gut halte, hatte ich die Arme gekreuzt und die Hände auf die 124
Schultern gelegt, so daß ich dalag wie ein bepackter Soldat.« Kafka, Tagebuch vom 3. Oktober 1911} »Zeit zu befehlen« oder vielmehr »nicht Zeit zu befehlen« haben - eine sehr aufschlußreiche Wendung aus dem Tagebuch. Eine höchste moralische Aufgabe des Menschen: die Zeit auf seine Seite zu bringen. Das könnnte ein gracianscher Begriff sein. Dahin kommen, daß die Zeit für einen arbeitet, wie das die Probe auf die Richtigkeit jeder Situation ist indem sie ebensoviel von der Dauer wie bei einem plötzlichen Wechsel zu gewinnen hat. Eine ausgezeichnete Vorstellung, daß der Befehlende gewissermaßen in der Zeit ausholen muß, um den Zweck seines Befehls zu erreichen. {In China ist der innere Mensch »geradezu charakterlos; der Begriff des Weisen, wie ihn klassisch . . . Kongfutse verkörpert, wischt über alle mögliche Besonderheit des Charakters hinweg; er ist der wahrhaft charakterlose, nämlich der Durchschnittsmensch. . . . Etwas ganz anderes als Charakter ist es, was den chinesischen Menschen auszeichnet: eine ganz elementare Reinheit des Gefühls. . . . Keine Lyrik irgend eines Volks ist so reiner Spiegel der sichtbaren Welt u n d des unpersönlichen, aus dem Ich des Dichters entlassenen, ja geradezu aus ihm abgetropften Gefühls.« Franz Rosenzweig: Stern der Erlösung p 96} {Schein und Wesen - es charakterisiert die Dichter am tiefsten, welche Beziehung diese beiden zu einander haben. Bei Kafka ist das sehr merkwürdig; der Schein deckt hier das Wesen nicht sondern er kompromittiert es, indem gerade das Wesen bei Kafka zum Scheinenden wird. So die Statisten von Oklahoma, die gewiß Engel sind, indem sie aber sich als solche anziehen ihr Wesen, das der Engel, kompromittieren.} {Ähnlich die Gerechtigkeit: unerforschlich sind ihre Ratschlüsse. Eben das bringt das Prozeßverfahren bei Kafka zum Ausdruck. Aber in der Gestalt der Korruption.} {Daß der Begriff der Entstellung in der Darstellung Kafkas eine doppelte Funktion hat, und welche zeigt jene jüdische Überlieferung, nach der die Welt durch die Ankunft des Messias nicht etwa durch und durch verändert sondern nur in allem »ein klein wenig« anders werden soll als sie war. Wir verhalten uns, als lebten wir im 1000jährigen Reich.} 125
{Zum »Prozeß«: wie hier das Recht und das Gericht alle Fugen des sozialen Daseins durchdringt, das ist die Kehrseite der Gesetzlosigkeit in unsern gesellschaftlichen Verhältnissen.} Entstellung - »dérangement de l'axc« sagt Bertaus. Über das Gesetz und seinen Wächter: »Le gardien c'est la société humaine. Elle ne comprend pas, elle ne connaît pas la Loi que néanmoins elle garde. La connaissance qu'elle feint d'en avoir est réservée au gage supérieur, inaccessible.« Félix Bertaux: Panorama de la littérature allemande contemporaine Paris 1928 p 235 Die ganze maßlose Verschlagenheit hat Kafka schon in der Erzählung »Auf der Galerie« dargestellt. Die Gesetzlosigkeit kommt sie daher, daß die Unerbittlichkeit des Gesetzes selbst seinen Hüter blendet? Es ist das Verhältnis dreier Dinge: Gesetz - Erinnerung - Tradition zu klären. Wahrscheinlich baut sich Kafkas Werk auf diesen dreien auf. Aufzeichnungen
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»Der neue Advokat« [s.o., Nachweis zu 17,30]: Text zu einem Picassobilde. {»Unabsehbar war die Welt der für ihn wichtigen Tatsachen« nicht etwa weil er ein universalistisch gerichteter Geist sondern weil er ein Monoman war.} Im Bodensatze der Kreatur, bei den Ratten, Mistkäfern, Maulwürfen bereitet sich die neue Verfassung der Menschen, das neue O h r f ü r die neuen Gesetze, der neue Blick f ü r die neuen Verhältnisse vor. {Die Entstellung wird sich selber aufheben, indem sie sich bis in die Erlösung hinein durchsetzt. Diese Asenverschiebung in der Erlösung manifestiert sich darin, daß sie Spiel wird (»Naturtheater von Oklahoma«), Das findet auf einer Rennbahn statt, weil auch diesem antiken Spiel eine sakrale Bedeutung einwohnt.} Ein Beispiel für kurzfristiges Vergessenwordensein: der Kanzleidirektor im Krankenzimmer von Huld. Man kann aus dem Hinweis auf die »Hände, die er wie kurze Flügel bewegte« an126
nehmen, daß hier der Verwandlungsprozeß bereits begonnen hat. (Prozeß p 180) Die Leute fallen wie Ermüdete in Schlaf so jeden Augenblick in ihre Einsamkeit zurück; der Onkel, der die Kerze auf seinem Schenkel balanziert. (Prozeß p 182) {Die Welt der Monstra: Leni und ihre Schwimmhaut (Prozeß p 190/191) Vielleicht eine Andeutung auf ihren Sumpf- oder Wasser-Ursprung.} Zur Verkommenheit dieser Welt: »alle, die vor diesem Gericht als Advokaten auftreten, sind in Wirklichkeit nur Winkeladvokaten.« (Prozeß p 199) Es ist hier auf ein Motiv meiner Arbeit über Green [s. Ges. Sehr., Bd. 2, S. 328-334] zu verweisen: der älteste und der jüngste Abschaum decken sich. In dieser Phase des Kapitalismus werden gewisse Elementarverhältnisse aus Bachofens Sumpfzeit wieder aktuell. {Die Kafkasche Logik als Sumpflogik. Auf weite Strecken hin erstrecken sich die Darlegungen seiner Figuren wie ein Asphalt übers Moor.} Ms 215 Aufzeichnungen
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Zum Naturtheater von Oklahoma: im neuen Advokaten betrachtet ein ganz einfältiger »Gerichtsdiener mit dem Fachblick des kleinen Stammgastes der Wettrennen den Advokaten.« Die niedrige Decke - die auch das Advokatenzimmer hat drückt die Bewohner möglichst an die Erde. {Bei Kafka ist die Neigung sehr bemerkenswert, den Vorfällen gewissermaßen den Sinn abzuzapfen. Siehe den Gerichtsbeamten, der eine Stunde lang die Advokaten die Treppe hinunterwirft. Es bleibt hier nichts weiter als der Gestus übrig, der aus allen affektiven Zusammenhängen herausgelöst ist.} {Erinnern als Aufgabe, die Schwierigkeit der Eingabe »weil in Unkenntnis der vorhandnen Anklage und gar ihrer möglichen Erweiterungen das ganze Leben in den kleinsten Handlungen und Ereignissen in die Erinnerung zurückgebracht, dargestellt und von allen Seiten überprüft werden mußte. U n d wie traurig war eine solche Arbeit überdies. Sie war vielleicht geeignet, 127
einmal nach der Pensionierung den kindisch gewordnen Geist zu beschäftigen.« (Prozeß p 222)} {K. nimmt das Papier auf die flache Hand und hebt es allmählich, während er selbst aufsteht, zu den Herren hinauf (Prozeß p 226)} Vergleich zwischen Kafka und Pirandello. Das expressionistische Element bei beiden. Jede Situation geht von Ewigkeit her zu Ewigkeit hin. {»Unabsehbar war die Welt der für ihn wichtigen Tatsachen« schreibt Max Brod. Und man wird annehmen dürfen, daß viele, wenn nicht die meisten von ihnen in ganz schlichten oder mińdestens knappen Geberden bestanden haben, deren Hintergrund oder Existenzraum er in seinen Romanen zeigt.} Kafkas Konditionalsätze sind Treppenstufen, die immer tiefer und tiefer führen, bis das Denken zuletzt in die Schicht gesunken ist, in der seine Figuren leben. {Die Gerichte sind auf den Dachböden. Vielleicht nähert man sich ihrem Verständnis, erinnert man sich, daß Böden der Ort der gänzlich ausrangierten, vergessnen Effekten sind. Vielleicht ruft die Notwendigkeit, diesen Gerichten sich stellen zu müssen, ähnliche Gefühle hervor, wie der Zwang an jahrelang verschlossene Truhen oder Koffer mit Effekten auf dem Dachboden heran zu gehen.} {Für das Verhältnis von Schein und Wesen in dieser Welt sind die Porträts der Richter von Wichtigkeit und vor allem ist da der Satz des Titorelli bezeichnend: »Wenn ich hier alle Richter nebeneinander auf eine Leinwand male und Sie werden sich vor dieser Leinwand verteidigen, so werden Sie mehr Erfolg haben als vor dem wirklichen Gericht.« Vgl. den Begriff der »scheinbaren Freisprechung«.} »Es gehört ja alles zum Gericht«. (Prozeß p 262) {»Es gibt bei Gericht kein Vergessen.« (Prozeß p 277)} {Während der »Prozeß« mehr die Defensive des Angeklagten zeigt, gewinnt es im »Schloß« bisweilen den Anschein, als sei es die trostlose Aufgabe oberer Mächte, dem Menschen seine Schuld zu beweisen. Und dann ist deren Lage, trotzdem sie zum äußersten entschlossen sind (Schloß p 498) ebenso hoffnungslos wie die des Menschen in der Verteidigung,} {»Zwei Möglichkeiten: sich unendlich klein machen öderes sein. 128
Das zweite ist Vollendung, also Untätigkeit, das erste Beginn, also Tat.« China hält es mit dem zweiten, Kafka mit dem ersten. (Beim Bau p 244)} Bei Kafka erscheint die Welt in einer Krisis; bei währendem Schnee und Regen wird sie von einem Zustand in den andern übergeführt. Uber das Verhältnis dieser beiden Zustände gibt es Andeutungen: »Nur hier ist Leiden Leiden, Nicht so, als ob die, welche hier leiden, anderswo wegen dieses Leidens erhöht werden sollen, sondern so, daß das, was in dieser Welt Leiden heißt, in einer andern Weh, unverändert und nur befreit von seinem Gegensatz, Seligkeit ist.« (Beim Bau p 245) Dialektische Gegensätze der Situationen: Vergleich eines Menschen mit einem Billard, das erst zerstört, dann verwüstet wird (Beim Bau p 248) oder: »Was tätig zerstört werden soll, muß vorher ganz fest gehalten worden sein.« (Beim Bau p 244) Eines der wichtigen Bilder das von den vielen Kindern, die im »Jäger Gracchus« und bei dem Maler Titorelli vorkommen. Versuch, die Episode mit den Heidebildern zu deuten: in derZeit der Hölle ist das Neue (Pendant) immer das ewig selbe. »Das Gericht will nichts von dir. Es nimmt dich auf, wenn du kommst und entläßt dich, wenn du gehst.« (Prozeß p 391) Mit diesen letzten Worten, die K. erfährt, ist eigentlich ausgesprochen, daß sich das Gericht von jeder beliebigen Situation garnicht unterscheide. Denn das gilt von jeder Situation, allerdings unter der einen Voraussetzung, daß man sie nicht durch K. sich entwickelnd] sondern [als] ihm äußerlich und gleichsam auf ihn wartend auffasse. Und gerade das geschieht mit besonderm Nachdruck im neunten Kapitel, von dem die zitierten die Schlußworte sind. So sind woht auch im Traum die Situationen, in die wir geratenf,] wie Hohlformen, aus denen unser Wesen gegossen wird in den Stoff der Angst, der Schuld oder wie man es netmen mag. {Schönheit ist bei Kafka nie auf Seiten jener hurenhaften Frauen, dafür an sehr unvermutbaren Stellen wie bei den Angeklagten.} Ms 216
Aufzeichnungen
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Kafka räumt ganze ungeheure Areale, die von der Menschheit besetzt waren, nimmt sozusagen einen strategischen Rückzug vor; er nimmt die Menschheit auf die Linie des Sumpfes zurück. Es kommt ihm darauf an, die Gegenwart durchaus zu eliminieren. Er kennt nur Vergangenheit und Zukunft, die Vergangenheit als das Sumpfdasein der Menschheit in gänzlicher Promiskuität mit allen Wesen, als Schuld, die Zukunft als Strafe, Sühne, vielmehr: von der Schuld her stellt sich die Zukunft als Strafe dar, von der Erlösung her stellt sich die Vergangenheit als die Lehre, die Weisheit dar. Der Prophet sieht die Zukunft unter dem Aspekt der Strafe. Kafka revidiert die Geschichte: Das Wissen fordert die Strafe heraus und die Schuld die Erlösung[.] Es geht ein Sprung durch die Namen seiner Personen: teils gehören sie der verschuldeten Welt und teils der erlösten an. Diese Spannung ist auch wohl Grund derübermäßigen Bestimmtheit in seinen Angaben. Ts 249 (Rückseite) 1
b. Aufzeichnung im Tagebuch Mai-Juni 19312 6. Juni. Brecht sieht in Kafka einen prophetischen Schriftsteller [s.o., S. 41,17]. Er erklärt von ihm, er verstehe ihn wie seine eigne Tasche. Wie er das aber meint, ist nicht so lcicht zu ermitteln. Fest steht jedenfalls, daß Kafka nur ein einziges Thema hat, daß der Reichtum des Schriftstellers Kafka genau der Variantenreichtum von seinem Thema sei. Dies Thema ist, im Sinne Brechts, aufs allgemeinste als das Staunen zu bezeichnen. Das 1 Die Signatur »Ts« mit folgender Ziffer bezeichnet die Nummer des jeweiligen Nachlaßtyposkript-Blattes, unter der es im »Benjamin-Archiv* Frankfurt am Main archiviert ist. 2 Druckvorlage der folgenden Aufzeichnung ist das Buch : Walter Benjamin, Versuche über Brecht, hg. und mit einem Nachwort versehen von Rolf Tiedemann. Neu durchgesehene und erweiterte Ausgabe, Frankfurt a.M. 1978, S. 145 f. (Gespräche mit Brecht, Tagebuchauf Zeichnungen. Le Levandou 1931)
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Staunen von einem Menschen, der ungeheure Verschiebungen in allen Verhältnissen sich anbahnen fühlt ohne den neuen Ordnungen sich selber einfügen zu können. Denn diese neuen Ordnungen - so glaube ich Brecht richtig verstanden zu haben - sind durch die dialektischen Gesetze bestimmt, die das Dasein der Massen sich selber und dem einzelnen diktiert. Der Einzelne aber, als solcher, muß mit einem Staunen, in das sich freilich panisches Entsetzen mischt, auf die fast unverständlichen Entstellungen des Daseins antworten, die das Heraufkommen dieser Gesetze verrät. - Kafka, scheint mir, ist davon so beherrscht, daß er überhaupt keinen Vorgang in unserm Sinn tinentstellt darstellen kann. Mit andern Worten, alles, was er beschreibt, macht Aussagen über etwas anderes als sich selber. Der dauernden visionären Gegenwart der entstellten Dinge erwidert der untröstliche Ernst, die Verzweiflung im Blick des Schriftstellers selbst [s.o., S. 41,20-34]. Dieser Haltung wegen will Brecht ihn als den einzig echten bolschewistischen Schriftsteller gelten lassen. Die Fixierung Kafkas an sein eines und einziges Thema kann beim Leser den Eindruck der Verstocktheit hervorrufen. Im Grunde ist dieser Eindruck aber nur ein Anzeichen davon, daß Kafka mit einer rein erzählenden Prosa gebrochen hat. Vielleicht beweist seine Prosa nichts; auf jeden Fall ist sie so beschaffen, daß sie in beweisende Zusammenhänge jederzeit eingestellt werden kann. Man könnte an die Form der Hagada erinnern: so nennen die Juden Geschichten und Anekdoten des Talmud, die der Erklärung und Bestätigung der Lehre - der Halacha, dienen [s.o., S. 41,35-42,2]. [Sigle] Die Lehre als solche ist freilich bei Kafka nirgends ausgesprochen. Man kann nur versuchen, sie aus dem erstaunlichen, aus Furcht gebornen oder furchterweckenden Verhalten der Leute abzulesen. Es könnte über Kafka einigen Aufschluß geben, daß er die ihn am meisten interessierenden Verhaltungsweisen oft Tieren beilegt. Solche Tiergeschichten kann man dann eine gute Weile lesen ohne überhaupt wahrzunehmen, daß es sich hier gar nicht um Menschen handelt. Stößt man dann erstmals auf den Namen des Tiers - die Maus oder den Maulwurf - so wacht man, wie mit einem Chock mit einmal auf und sieht: daß man vom Kontinent des Menschen schon weit entfernt ist. So weit, wie eine künftige Gesellschaft von ihm entfernt sein wird. Übrigens ist die Welt 131
der Tiere, in deren Gedanken Kafka die seinigen einhüllt, bezichungsvoll. Es sind immer solche die im Erdinnern, wie Ratten und Maulwürfe, oder wenigstens, wie der Käfer in der »Verwandlung« Tiere, die auf dem Boden, verkrochen in seine Spalten und Ritzen leben. Solche Verkrochenheit scheint dem Schriftsteller für die isolierten, gesetzunkundigen Angehörigen seiner Generation und seiner Umwelt allein angemessen [s.o., S- 43,29-44,2]. [Sigle] Brecht stellt den Kafka - die Figur des K. - dem Schweyk gegenüber: der, welchen alles und der, den nichts wundert [s.o., S. 36,1-3]. Schweyk macht die Probe auf die Ungeheuerlichkeit des Daseins, in welches er gestellt ist, indem ihm garnichts unmöglich scheint. Er hat die Zustände als derart gesetzlos kennen gelernt, daß er ihnen längst nirgends mehr mit der Erwartung von Gesetzen entgegentritt. Kafka dagegen stößt schon allenthalben auf das Gesetz; ja man kann sagen, daß er sich die Stirn an ihm blutig stößt (s. den Maulwurf vgl. auch [Beim Bau der Chinesischen Mauer,] p 213) aber es ist nirgends mehr das Gesetz der Dingwelt, in der er lebt, und überhaupt keiner Dingwelt. Es ist das Gesetz einer neuen Ordnung, zu der alle Dinge, in denen es sich ausprägt, windschief stehen, das alle Dinge, alle Menschen entstellt, an denen es in Erscheinung tritt. Besitz Stefan Brecht, N e w York
3. Aufzeichnungen (bis Juni 1934) a. Motive und Disposition zum Essay von 1934 Zentren {Dorfluft} - »Das nächste Dorf« - Stubenluft bei dem alten Ehepaar, bei Klamm, der im Wirtshaus sitzt - neunzehntes Jahrhundert - {Spruch des Laotse} {Das Kinderbild - »Wunsch, Indianer zu werden« - elementare Reinheit des Gefühls) - Amerika als Befreiung Die Potemkin-Geschichte - das Verhältnis von uns zu den Oberen und das Umgekehrte - {»Ein altes Blatt« - Wesen der Feindschaft} {Die Monstra - das bucklicht Männlein - Gestalt der Dinge in der Vergessenheit - der bepackte Soldat -} Lesebuchsiii — Primat des Gestus - Seine Unverständlichkeit Das Testament: eine (unlösbare) Aufgabe - Gestus der Tiere Vorsicht des Schreibenden - das Stadtwappen - Geschmack [Geschenk?] des A p f e l s - [ a m Rand:] {Romancier und Erzähler-} {Das Talmuddorf - Der Körper des Tieres in uns - Die Vorwelt des Sumpfes — Müdigkeit -} {Das Tao - China - Das Geisteraufgebot} - D o n Qui chote, ein unruhiger Geist Das Ungeheure als Gewährleistung des Alltäglichen - Die dienenden Titanen - Die Tiere aus dem Erdinnern - Unendlich viel Hoffnung da (für diese) Ms 224 Motive »Der Schlag ans Hoftor« (Bau) 1) »Ich bin mit Recht verantwortlich für alle Schläge gegen Türen« (Betrachtung) Der Schreibende läuft über den schmalen Teppich seines Zimmers »wie in einer Rennbahn«. (Betrachtung) 133
Die Rennbahn in dem Roman »Amerika« 2) Zum Nachdenken für Herrenreiter (Betrachtung) Ein gespentisches Kind in »Unglücklichsein« (Betrachtung) 3) Die Kinder bei Titorelli (Prozeß) bei Gracchus (Bau) »Die andern mit Tierblick anschauen« - ein Ausdruck für »letzte grabmäßige Ruhe«. (Betrachtung) 4) Die Ritzen in den Brettern des Affenkäfigs [Bericht f. eine Ak.] 5) Die Ritze in der Tür Titorellis (Prozeß) Das Ungeziefer kann den Kopf unter dem Kanapee nicht heben (Verwandlung) 6) Die Galericbesucher stoßen mit dem Kopf an die Decke (Prozeß) Die Kreuzung aus Lamm und Kätzchen (Bau) 7) Die Spule Odradek (Landarzt) Leni mit ihrer Schwimmhaut (Prozeß) Der Kaufmann erklärt, er »gehe wie auf Wellen, klappere mit den Fingern beider Hände«. (Betrachtung) 8) Beim kranken Huld verweist der Autor auf die »Hände, die er wie kurze Flügel bewegte.« (Prozeß) Die beiden Gehilfen, die zum Fenster hereinsehen (Schloß) 9) Die beiden Pferde, die es tun (Landarzt) Die Krähen, die gegen den Himmel angehen (Bau) 10) Die Krähen, welche ums Schloß fliegen (Schloß) Ms 225 Motive
Leitmotive
Naturtheater von Oklahoma Bucklicht Männlein Sumpfwelt Zeitverschränkung Dorfluft Studium Kinderbild Vergessen Kierkegaard und Pascal Potcmkin Schlemihl
Pferdsein Das Jüdische
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Kinderbild Naturtheater Spaßhafte Raubmörder
h Spaßhafte Raubmörder
Dorfluft Kierkegaard und Pascal Sumpfwelt Vergessen Entstellung Ms 231
Reserve Motive Die vielen Kinder Bestandteil eines Monuments Nahrung, Fasten, Wachen Erbsünde Der Bau Taoismus und Hämmern Der Schlemihl Die Musik {Folie d'interpretati on} Lesebuchstil {Das Testament} Das Schweigen Der Schein Ms 230 Letzte und vollständigste Disposition zum Essay Kafkas Gestaltenreich und Welttheater Potemkingeschichte
Herold
Die Ermüdeten / Die Väter / Die Strafenden Die Parasiten Unrecht und Erbsunde / Der immerwährende Prozeß Die Entscheidungen und die jungen Mädchen / K. und Schubalkin Monstra im Schöße der Familie: Das Ungeziefer / Odradek / Das Lämmchen Tiere / Hunde / Pferde / Maulwürfe / Mäuse Die unfertigen Wesen / Bauernfänger / Kinder / Gehilfen / Zwischen Leben und Nichts Promiskuität im Reich dieser Gestalten / Die Botengeister / Musik / die einschläfert Unendlich viel Hoffnung / nur nicht für uns
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[Kinderphotographie] Die arme kurze Kindheit Trostlosigkeit / Das Kinderbild Wunsch / Indianer zu werden Amerika / Die Rennbahn Roßmann charakterlos Der Weise Chinas Das gestische Theater / Ein altes Blatt / Erfahrung der Pogrome Die Gesten / Ihr Inventar / Ihre Unabsehbarkeit / Ihre Interpretierbarkeit Entwicklung der Geste / Verzicht auf ihre Rationalisierung / Das Testament Schauspieler / die sich selbst spielen / Pirandello Parallelen Die Erlösten / Die Engel / Bankett der Seligen Dorfluft / Laotse Das Talmuddorf / Das Körperdorf Kafkas Ernährungsweise / Der Husten Finsternis des Dorfes Ms 262 Hamsungeschichte Theologische Auslegung Kafkas Kierkegaard und Pascal / Trilogie des Werks Haas / Rang / Rougemont / Groethuysen / Schoeps / »NichtSein« Gottes Nachgelassene Notizen / Die Motive Kafkas Preis Der Sieg über das Paradox / Schamlosigkeit der Theologie / Die Scham (Kein Gott / keine Juden / keine Liebe} Der Zweifel / Dasein auf einer Schaukel / Moorboden der Erfahrung Historische Entsprechung / Regression auf die Sumpfwelt / Leni / Brunelda / Olga Abgesunkene Natur / Verstaubte Menschenwelt / Die Vorwelt und das Neue Das Vergessen als Schuld
Vergessen und Tiere / Der blonde Eckbert Das Denken der Tiere / Ihre Angst Vergessen als Behältnis der Gcisterwelt Form der Dinge in der Vergessenheit / O d r a d e k / Entstellung Das gesenkte H a u p t / D a s b u c k l i c h t M ä n n l e i n / A u f m e r k samkeit das natürliche Gebet Je n'ai rien négligé В cttler geschichte Entstellung in der Zeit / Ritt ins n ä c h s t e D o r f / Legende vom Messias Das kurze Leben / Die Kinder / Die Nimmermüden / Die Stadt im Süden Studenten und Gehilfen / Fasten / Nichtschlafen / Schweigen Studium im Elternhaus Das Tao Magie im Studium / Schnelligkeit / Der Ritt Leere fröhliche Fahrt / Karl Roßmann / Seliger Reiter Der neue Advokat und sein Studium / Auslegung Die W a h r h e i t ü b e r Sancho Pan sa M s 261
b. Diverse Aufzeichnungen zum Essay Wollte man, was Kafka hin und wieder im Verlaufe seiner Erzählungen unvermerkt und wie etwas Selbstverständliches einstreut, auf wenigen Seiten zusammenstellen, so ergäbe sich die unerhörte und befremdliche Ansicht einer Welt, {in der die Menschen vor Schrecken gcbückt gehen (Hoftor)} Bettler Kaffeesatz als Almosen zu trinken bekommen (Kübelreiter) {Bittsteller auf der flachen Hand ihr Papier zur Behörde heraufheben, während sie langsam von ihrem Sitze aufstehn (Prozeß)} г
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{die Menschen die Arme auf der Brust gekreuzt} oder die Finger gespreizt im Haar [tragen] {in der es der höchste Ausdruck der Liebe ist, wenn ein Beamter über die Deichsei springt} Ms 219 Der Bereich der Theologie gilt Kafka als unanständig (Potcmkin) Kafkas Werk: das Kräftefeld zwischen Thora und Tao Einer von den sechsunddreißig Gerechten war der Schlemihl Die Gehilfen sind unfertige Wesen, die, eben darum, dem Muttcrschoß der Natur besonders nahe stehen Die Männer Kafkas: Narren oder Greise - Unfertige oder Überreife Die Tiere (Monstra) sind im Familienschoß ausgebrütet Dem Schlemihl (wie dem Gehilfen) fehlt etwas, um fertig zu sein - und sei es auch nur ein Schatten Das moralische Zwielicht über ihrem Dasein erinnert an das, was Robert Walser - Verfasser des Romans »Der Gehülfe«, ein Lieblingsautor von Kafka - in seinen kleinen Stücken - man denke an »Schneewittchen« - zu verbreiten pflegte Die Gehilfen sind dem weiblichen Schoß noch nicht ganz entwachsen; sie haben sich »in einer Ecke auf dem Boden auf zwei alten Frauenröcken eingerichtet.« (Schloß p 84) [Rückseite:] Stammbaum der Kafkaschen Figuren Die Väter; Klamm; Zeitung lesend, Virginia rauchend, in Uniform, hinfällig, fast verblödet, Die Gehilfen; der Bauernfänger; Barnabas; Die Monstra; der Mistkäfer; Odradek; die Kreuzung; die Tiere Die Frauen; Bruneida; Frieda; Olga; Antonia; Fräulein Bürstner; Ms 332 Herkunft des »Er« aus der Allegorie. Bau p 217 [s. den Aphorismus »Er war früher Teil einer monumentalen G r u p p e . . . « ] Versuchen: dies auf den Schriftsteller zu beziehen 138
Bezüglich der dämonischen Natur des Rechts, die Kafka ständig vor sich hat, und die wohl der Grund seiner Behutsamkeit ist, ist die »Kritik der Gewalt« zu vergleichen [s. Benjamin, Ges. Sehr., Bd. 2, S. 179-203] Zu vergleichen: Haas • Gestalten der Zeit Beziehung des Denkens zum Traum Bau p 214 Das Schriftstellerische bei Kafka im Gegensatz zum »Dichterischen« »Er denkt nicht wegen seines persönlichen Denkens« Bau p 217 Trost fürs bucklicht Männlein »Kaum mehr zu wissen, für wen man Trost sucht« Bau p 219 »Der Frieder und das Katherlieschen« »Merkwürdiger aber auch tröstlicher Weise war er darauf am wenigsten vorbereitet« Bau 212 - Tröstlich, weil das Elend kein Gegenstand der Angst ist. »Die Gitterstangen standen ja meterweit auseinander« Bau p 213 Kafka gibt sich in eine Welt hinein, um sie zu sehen, wie sie sich selbst sehen müßte. »unfähig historisch zu werden« Bau p 212 Die Masse, der Namenlose »»Damit du freundlich zu mir bleibst, nehme ich Schaden an meiner Seele.«« Bau p 220 Über den Toten: »Es wird sichtbar, ob die Zeitgenossen ihm oder er den Zeitgenossen mehr geschadet hat, im letzten Fall war er ein großer Mann.« Bau p 221 »Als kleines Gespenst fuhr ein Kind aus dem ganz dunklen Korridor, m dem die Lampe noch nicht brannte, und blieb auf den Fußspitzen stehn, auf einem unmerklich schaukelnden Fußbodenbalken.« Betrachtung p 82 Ms 232 Widerlegung der Interpretation des »Schlosses« [s.o., S. 26] Den ersten Teil dieser Konstruktion kann man als Gemeingut der Kafka-Interpretation ansprechen. - Brod Jedes seiner Werke ein Sieg der Scham über die theologische Fragestellung Schamlosigkeit der Sumpfwelt. Ihre Macht liegt in ihrer Vergessenheit Die Weltalter bewegende Erinnerung. Der von ihr umfaßte Erfahrungskreis. Die Sumpflogik 5
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Das Vergessen und die Technik des Erzählers Das Eingedenken bei den Juden Die Tiere und ihr Denken. Warum soviel von der Deutung ihres Gestus abhängt Der blonde Eckbert Odradek und die Form der Dinge in der Vergessenheit Die schwerc Last. Das bucklicht Männlein. Ms 217 [ . . . beide oberen Ecken abgerissen]: Mythologische Gestalten und Tiere, Allegorien und Fabelwesen { [ . . . ] eine Deutung Kafkas zu gehen, ehe man langen Umgang mit jedem [ . . . ] Motive gepflogen hat.} { [ . . . ] das Tier, die Rennbahn, der gebücktc Kopf, der Schlag gegen die Tür, der Frack, Gehilfen [ . . . ] Diener} [ . . . ] Auseinandersetzung mit Kafkas Werk ist noch fast nichts geschehen. Es hieße einen unstatthaften Kalen[der]glauben verraten, anzunehmen, daß die zehnte Wiederkehr seines Todestages diesen Sachverhalt mit einem Schlag ändern könnte. {Auf die Verbindung seiner gestischen Interessen mit der Darstellung von Tieren ist hinzuweisen.} In Kafkas Schriften kommt das Wort » Gott« nicht vor. Sie ungebrochen theologisch auszulegen, ist nicht viel statthafter als eine Kleistsche Novelle, um sie den Lesern näherzubringen, in Reime zu übertragen. Ms 233 Studie zu Odradek Das Vergessene—wird uns »überleben« ; es ist nicht auf uns angewiesen; sein Wohnsitz ist »unbestimmt«. Es ist ein Haufe von welken Blättern — wenn es in ihnen raschelt, so tönt ein Sichverstecken und Gesuchtwerden zugleich heraus. Beides zusammen ergibt dieses »Lachen«. Das Vergessen ist »außerordentlich beweglich und nicht zu fangen«. Ms 964
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{Übrigens hat diese Vorwelt Stimmen. Unter den Sätzen Kafkas ist vielleicht keiner ergreifender als der sie beschreibende. Odradek lacht. »Es ist aber nur ein Lachen, wie man es ohne Lungen hervorbringen kann. Es klingt etwa so, wie das Rascheln in gefallenen Blättern.«} »Die Sorge des Hausvaters« ist das Mütterliche, das ihn überleben wird. Odradek hält sich auf dem Dachboden auf. Die Pferde des Landarztes Vorläufer der Gehilfen. Die Falten auf der Stirn Sortinis, die strähnenartig sich zur Nasenwurzel hinziehen. Wenn man nun aber fragt, wie die Überraschungen in diesen Geschichten auftreten, so wird man finden, daß wie sie uns oder auch den Helden überraschen nicht eigentlich den Überraschungen ähnlich sieht, die das Leben mit seinen Ereignissen sondern die Erinnerung mit ihren Einfällen zuwege bringt, deren tiefste ja meist an unscheinbaren, wenn nicht unpassenden Stellen zum Vorschein kommen. Auch die Müdigkeit ist ein Hinweis auf das Verbrauchte der Welt. Aber auch auf ihre Versumpftheit. »Wie liebte ich sie immer, wenn sie so müde war«, sagt Olga von Amalie. Die Beamten tun viel »in Gedanken«; so hat wohl auch Sortini den anstößigen Brief an Amalie geschrieben. »Unglückliche Beamtenliebe gibt es nicht.« Ms 220 {Keine Aussage, die wir über die »obere Welt« bei Kafka besitzen, ist als ein Schlüssel zu der unsrigen anzusehen. Denn diese obere kommt überhaupt nicht zu sich. Sie ist an die untere gebunden, wie ein Mann, der sein Dasein damit verbrächte, durchs Schlüsselloch ins Zimmer seines Nachbarn zu starren, von dem er nichts weiß und den er nicht versteht. Dieses Zimmer ist unsere Welt.} {Das Recht hat in dem Werke К afkas den Charakter eines mythischen Gebildes. Aber dieser gnadenlosen Gewalt des Rechts gibt er ein Korrektiv bei. Jene Welt des Rechts ist korrupt im Innersten. Und vielleicht ist die Korruption das Sinnbild der Gnade.} {»Es ist unendlich viel Hoffnung da, nur nicht für uns.« Für wen 141
dann? Für das Geschlecht der Türhüter und der Gehilfen, der Hunde und Maulwürfe, der Titorelli und Odradek, der Kübelreiter und Gerichtsschreiber.} {Es gibt eine kleine Anekdote von Potemkin, die wie ein um Jahrhunderte verfrühter {Bote} Herold des Kafkaschen Werkes ist.} [s.o., Nachweis zu 10,7] {Unter allen Geschöpfen Kafkas kommen zum Nachdenken eigentlich nur die Tiere. Was die Korruption im Recht ist, das ist im Denken die Angst. Sie verpfuscht den Vorgang tmd doch ist sie das einzig Hoffnungsvolle und Erhebliche daran.} {Flaubert und Kafka: Kellerluft und Dorfluft.} {»Worüber ich einen jeden treffe, darüber will ich ihn richten.« »Das jüngste Gericht ist ein Standrecht.« Von diesem gnostischen Einschlag bei Kafka seine Stellung zur Geschichte bestimmen.} Die Haltung Kafkas: Haltung des Mannes, der das Hoffnungslose zu sagen hat. Dies ist die besondere Lage, in die das Erzählen durch ihn gerät. Ms 221 {Otto Stoessl hat Kafka mit Pirandello verglichen. (Zeitwende H.7) Klassifizierung der Elemente, aus denen sich die Erzählungen des letzten Bandes aufbauen: Tiere, allegorische Gegenstände (die chinesische Mauer, das Stadtwappen, die Gesetze), mythologische Figuren. Ausführlich zu berücksichtigen das Resümee von Kraft über die »Chinesische Mauer«. Kafkas Schriftwerk war Umkehr. Er fühlte wieder das große Ansinnen, das der Hörer an den Erzähler stellt: Rat zu wissen. Aber er wußte den Rat nicht, [s. Benjamin, Ges. Sehr., Bd. 2, S. 442,11] Höchstens, wie etwa heutzutage ein Rat aussieht, wußte er. U n d daß man, um ihn zu erteilen, sich abzuwenden hat von der Kunst, der Entwicklung, der Psychologie. »Ein altes Blatt«, Nicht ein einziges Mal ist hier von den »Feinden« die Rede, »obwohl es sich doch um nichts anderes handelt . . . nicht unsere Soldaten« heißen sie, aber die »Nomaden«. Eher brächte er es fertig, sie »die Dohlen« zu nennen als Feinde. U n d auch Feindseligkeiten schreibt er ihnen nicht zu. 142
Die Gefahr, von ihren »Peitschen verfolgt zu werden«, ist ihm nicht bekannt. Er sagt aber nicht, daß sie nach uns zielen. U n d noch viel weniger sagt er ihnen Gewalttaten nach. »Was sie brauchen, nehmen sie. Man kann nicht sagen, daß sie Gewalt anwenden. Vor ihrem Zugriff tritt man beiseite und überläßt ihnen alles.« Sein Bericht ist ein Spiegel, der die Untat auffängt. Rechts und links sind [in] ihrem Bilde vertauscht. Man könnte es für das der Friedfertigkeit selbst halten. Auch brandschatzen die Nomaden nicht: die Unterworfenen sind es, die die Angst des Flcischcrs verstehen und Geld zusammenschießen, um ihn zu »unterstützen«. Und welcher Umstand ist an dem allen Schuld? Nicht die Raublust der N o m a den. Etwas ganz anderes; nicht einmal ein Umstand. Ein Gegenstand: »Der kaiserliche Palast hat die Nomaden angelockt, versteht es aber nicht, sie wieder zu vertreiben.«} Ms 222 »Die Wahrheit über Sancho Pansa« [s.o., Nachweis zu 38,11] Verwandtschaft dieser Geschichte mit der chassidischen von dem Bettler. Das Ungeheure als Gewährleistung des Alltäglichen. Es ist eine Weltalisicht, der das Gemeinschaftsleben der Ratten leichter verständlich ist als das der Menschen, Sehen rätselhafter als Hellsehen und ein Menschenalter unübersehbarer als ein Weltalter. Daß es aber das Ungeheuere ist, welches das Alltägliche gewährleistet, das ist die eigentliche Einsicht des Humors, der zuhause in jener unteren Titanenwelt der unscheinbaren und der abgeschmackten Vorgänge und Geschöpfe ist, die wir erst spät - vielleicht erst in der Todesstunde - entdecken wie Karl den Heizer, als er schon im Begriffe steht, in Amerika auszusteigen. {Das chassidische Bettlermärchen [s.o., S. 33] aber führt nicht nur in den moralischen Haushalt von Kafkas Werk ein sondern ebenso in seinen zeitlichen, der so innig mit jenem zusammenhängt. Dem Großvater des »Landarztes«, deres kaum begreifen kann, »wie ein junger Mensch sich entschließen kann, ins nächstc Dorf zu reiten, ohne zu fürchten, daß . . . schon die Zeit des gewöhnlichen, glücklich ablaufenden Lebens für einen solchen Ritt bei weitem nicht hinreicht« - diesem Großvater gleicht der Bettler, der im gewöhnlichen, 14З
glücklich ablaufenden Leben nicht einmal die Stelle für einen Wunsch findet - für den Wunsch nach einem H e m d - in dem unseligen, ungewöhnlichen der Flucht aber, auf die er sich in seiner Geschichte hineinbegibt, diesen Wunsch wirklich spart - gegen die Erfüllung ihn eintauscht. Nichts ist Franz Kafka inniger angelegen als die Umgehungsstrategie dieses chassidischen Bettlers. Er bringt seine Wünsche an das wirkliche Dasein nicht vor; damit aber deren winzigster in Erfüllung gehe, bietet er die Titanenwclt des Gedichteten auf - wie Sancho Pansa - nur um Ruhe zu haben - die Heldentaten des D o n Quichote.} Ms 223 »Im übrigen glaube ich, daß Kafkas Wert [Werk?] überhaupt verschlossen ist und daß jede Erklärung seine, Kafkas, Intentionen verfehlen muß. Den Schlüssel hat er mit sich genommen, ja vielleicht nicht einmal das, wir wissen es nicht.« Kraft Die »Wahrheit über Sancho Pansa« kommt auf das »Bleiben im Üblichen« hinaus, dessen Natur Kafka doppelt bestimmt: einmal, indem man nicht einmal im Irdischen nach dem Guten strebt; zum andern, indem man das Böse, in diesem Fall, wenigstens dem Anschein nach, nicht betrügt. [Bau p 235f.] (Kraft stellt einige Stücke zusammen, die Kafkas Auseinandersetzung mit dem Zeitverlauf kennzeichnen: Kleine Fabel, Der Ritt ins nächste Dorf, Jüngstes Gericht als Standrecht.} Kafka: »Ein altes Blatt« zu vergleichen mit Goethes »Groß ist die Diana der Epheser«. {»Ich habe Erfahrung und es ist nicht scherzend gemeint, wenn ich sage, daß es eine Seekrankheit auf festem Lande ist. « Kafka 1909 Hyperion II 1} {»Ich entsinne mich eines Gesprächs mit Kafka, das vom heutigen Europa und dem Verfall der Menschheit ausging. >Wir sind<, so sagte er, nihilistische Gedanken, Selbstmordgedanken, die in Gottes Kopf aufsteigen.« Mich erinnerte das zuerst an das Weltbild der Gnosis. - Gott als böser Demiurg, die Welt sein Sündenfall. >0 nein«, meinte er, >unscre Welt ist nur eine schlechte Laune Gottes, ein schlechter Tag.< - >So gäbe es außerhalb dieser Erscheinungsform Welt, die wir kennen, 144
Hoffnung?« - Er lächelte: >Oh, Hoffnung genug, unendlich viel Hoffnung - nur nicht für uns.«« Max Brod: Der Dichter Franz Kafka (Neue Rundschau 1921)} Nüchtern wie Kafkas Sprache muß der Apfel vom Baum der Erkenntnis geschmeckt haben. Ms 227 Erwartung des zweiten Nachlaßbandes [= Franz Kafka, Vor dem Gesetz, Berlin 1934] {Redewendungen aus dem Nachwort zum »Bau« [= Beim Bau der Chinesischen Mauer, Ungedruckte Erzählungen und Prosa aus dem Nachlaß, hg. mit einem Nachwort von Max Brod und Hans Joachim Schoeps]: die unleidliche Behauptung, »daß dieser Typus, dessen Dascinsintention kraft seiner Erschütterungsfähigkeit durch Grenzerlebnisse eine tragische ist, je nach der geschichtlichen Situation, in der er sich vorfindet, eine stärkere oder schwächere Ahnung davon hat, daß es auch für die tragische Grundkonstellation seines Daseins noch eme Heilsmöglichkeit gibt.« [p 254 f.] - »Im übrigen hat Kafka auch in der für ihn charakteristischen Form des mythischen Ahnungswissens um die Schicksalhaftigkeit der geschichtlichen Zusammenhänge gewußt.« [РЯ55] Manchmal kommt die Sprache der Herausgeber in bedenkliche Nähe zu der der Existentialphilosophie .} Zu der »Dorfluft« bei Kafka - zu der Überlieferung, welche ihm zunächst liegt - zu Sancho Pansa: »>Dann aber kehrte er zu seiner Arbeit zurück, so wie wenn nichts gesehen wäre.« Das ist eine Bemerkung, die uns aus einer unklaren Fülle alter Erzählungen geläufig ist, trotzdem sie vielleicht in keiner vorkommt.« [Bau p 248] {Die Stube des alten Ehepaars, in der die Totenerweckung vor sich geht, der Keller des Kohlenhändlers, die Wirtsstube, in welcher Klamm sitzt - Dorfluft draußen, dicke, stickige Luft im Innern: beides vereinigt sich zur dörflichen Lokalfarbe.} {»Wunsch, Indianer zu werden« - im Abschnitt über das Kinderbild zu zitieren,} {Dialektik des Vergessens. Sind wir's, die vergessen haben? Oder sind wir nicht vielmehr vergessen worden? Kafka entscheidet darüber nie. Die Oberen sind vielleicht nur darum so 145
verkommen, weil wir uns um sie nicht gekümmert haben? Aber vielleicht sind sie auch nur verkommen, weil sie noch nie auf uns gekommen sind.} {Sancho Pansa hat seinen Reiter vorangeschickt, Bucephalus den seinigen überlebt; und nun sind sie beide gut dran. Ob Mensch ob Pferd ist nicht mehr so wichtig, wenn nur der Reiter beseitigt ist.} Ms 228 {Es wurde darauf hingewiesen, daß im ganzen Werke Kafkas der Name »Gott« nicht vorkommt. U n d nichts ist müßiger als in seiner Erläuterung ihn einzuführen. Wer nicht versteht, was Kafka den Gebrauch dieses Namens verbietet, versteht von ihm keine Zeile.} Werner Kraft zitiert zu »Die Wahrheit über Sancho Pansa« Gide »Suivant Montaigne« N R F Juni 1929. »Montaigne mourut (1592) avant d'avoir pu lire D o n Quichotte (1605), quel dommage! Le livre était écrit pour lui . . . C'est le propre de ce grand livre . . . de se jouer en chacun de nous; en aucun plus éloquemment qu'en Montaigne. C'est au dépens de D o n Q u i chotte que, peu à peu, grandit en lui Sancho Pansa.« Kraft sieht nicht unrichtig, daß Kafka von Brod in seinem Testament mit Bewußtsein das Unmögliche gefordert hat. {Keine menschliche Kunst erscheint bei Kafka so tief kompromittiert wie die Baukunst. Keine ist lebenswichtiger und vor keiner macht die Ratlosigkeit sich vernehmbarer. (Beim Bau der Chinesischen Mauer, Das Stadtwappen, Der Bau)} Kraft hat in seiner Auslegung des »Kübelreiters« ein Bild gefunden, das nachdrücklich den O r t des Göttlichen in Kafkas Welt festlegt. »Die Auffahrt«, sagt er von der Fahrt des Kübelreiters, ist »ein Gehobenwerden, wie das der einen Wagschale, wenn das volle Gewicht auf der andern liegt.« Das volle Gewicht der Gerechtigkeit ist es, das alles Göttliche so erniedrigt. {Zahllose Beispiele bietet Kafka für diesen Vorgang: einer will nun endlich, aller Anfechtung sich erwehrend, in einer Uberzeugung, einer Situation sich zurechtsetzen. Da geht sie ihm aus den Fugen. Eines für diese zahllosen: »Es war im Sommer, ein heißer Tag. Ich kam auf dem Nachhauseweg mit meiner Schwester an einem H o f t o r vorüber. Ich weiß nicht, schlug sie 146
aus Mutwillen ans Tor oder aus Zerstreutheit oder drohte sie nur mit der Faust und schlug gar nicht.«} Ms 229 Kafka und Brod - Laurel der seinen Hardy, Pat der seinen Patachon suchte. Daß er dem lieben Gott dieses Divertissement gab, machte Kafka für sein Werk frei, um das sich nun Gott nicht mehr zu kümmern hatte. Kafka gab aber in dieser Freundschaft wahrscheinlich gerade seinem Teufel den Spielraum frei. Er hat vielleicht zu Brod und dessen tiefen jüdischen Philosophemen so gestanden wie Sancho Pansa zu D o n Quichote und dessen tiefsinniger Chimäre vom Rittertum. Kafka hatte ziemlich stattliche Teufeleien im eignen Leibe wohnen und er konnte froh sein, sie in Gestalt von Unziemlichkeiten, faux pas und unappetitlichen Situationen vor sich tummeln zu sehen. Er hat sich wahrscheinlich für Brod mindestens ebenso verantwortlich gefühlt wie für sich selbst - ja mehr. Ob alle Komik dem Grauen d[.]i[.] dem Mythos abgewonnen ist - und ob die griechische Komödie den ersten Gegenstand des Gelächters am Grauen gefunden hat? - Daß alles Grauen eine komische Seite haben kann, n i c h t n o t w e n d i g auch alle Komik eine grauenhafte. Die erste zu entdecken, entwertet das Grauen, nicht so die zweite zu entdecken die Komik; deren Primat. Höchste Disponibilität: beide Seiten erfassen zu können. In der Geschichte nicht leben wie in der Wohnfung], Ms 963 Indem Kafkas Sprachc in den Romanen sich der Sprache der volkstümlichen Erzählung zum Verwechseln ähnlich macht, erscheint die Kluft, die den Roman von der Erzählung trennt, nur umso unüberbrückbarer. Das »Individuum, das selber unberaten ist und keinen Rat geben kann«, hat bei Kafka, so wie noch nie vorher, die Farblosigkcit, die Banalität und die glasige Transparenz des Durchschnittsmenschen. Bis auf Kafka hatte man glauben mögen, die Ratlosigkeit des Romanhclden sei eine Ausgeburt seiner besondern innern Beschaffenheit, seiner Subtilität oder seiner komplexen Beschaffenheit. Erst Kafka macht zum Mittelpunkt des Romans eben den Menschen, an den sich die H7
Weisheit der Völker richtet, den schlichtgearteten, gutgesinnten, den Mann, den das Sprichwort mit seinem Rat versieht und den der Zuspruch der alten Leute mit Trost versieht. Wenn es nun dieser wohlbeschaffene Mann ist, der aus einer Verlegenheit in die andre fällt, so kann nicht seine Natur daran schuldig sein. Es muß wohl an der Welt liegen, in die er geschickt wurde, daß er sich so ungeschickt in ihr anstellt. Ms 250 Proust und Kafka Es gibt etwas, das Kafka mit Proust gemeinsam ist, und wer weiß, ob dieses etwas sich irgendwo sonst findet. Es handelt sich um ihren Gebrauch des »Ich«. Wenn Proust in seiner recherche du temps perdu, Kafka in seinen Tagebüchern Ich sagt, so ist das bei beiden ein gleich transparentes, ein gläsernes. Seine Kammern haben keine Lokalfarbe; jeder Leser kann sie heute bewohnen und morgen ausziehen. Ausschau von ihnen halten und sich in ihnen auskennen ohne im mindesten an ihnen hängen zu müssen. In diesen Schriftstellern nimmt das Subjekt die Schutzfärbung des Planeten an, der in den kommenden Katastrophen ergrauen wird. Ms 251
4. Aufzeichnungen (bis August 1934) a. Gespräche mit Brecht1 6. Juli. Brecht, im Lauf des gestrigen Gesprächs: »Ich denke oft an ein Tribunal, vor dem ich vernommen werden würde. >Wie ist das? Ist es Ihnen eigentlich ernst?« Ich müßte dann anerkennen: Ganz ernst ist es mir nicht. Ich denke ja auch zu viel an Artistisches, an das, was dem Theater zugute kommt, als daß es mir ganz ernst sein könnte. Aber wenn ich diese wichtige Frage verneint habe, so werde ich eine noch wichtigere Behauptung anschließen: daß mein Verhalten nämlich erlaubt ist.« Freilich ist das schon eine spätere Formulierung im Gesprächsgang. Begonnen hatte Brecht nicht mit dem Zweifel an der Statthaftigkeit, wohl aber an der Durchschlagskraft seines Verfahrens. Mit dem Satze, der von einigen Bemerkungen ausging, die ich über Gerhart Hauptmann gemacht hatte: »Manchmal frage ich mich, ob das nicht eben doch die einzigen Dichter sind, die es wirklich zu etwas bringen: dit Substanz-Dichter, meine ich.« Darunter versteht Brecht Dichter, denen es ganz ernst ist. Und zur Erläuterung dieser Vorstellung geht er von der Fiktion aus, Konfuzius habe eine Tragödie oder Lenin habe einen Roman geschrieben. Man würde das als unstatthaft empfinden, so erklärt er, und als ein ihrer nicht würdiges Verhalten, [»]Nehmen wir an, Sie lesen einen ausgezeichneten politischen Roman und erfahren nachher, daß er von Lenin ist, Sie würden Ihre Meinung über beide ändern, und zuungunsten beider, Konfuzius dürfte auch kein Stück von Euripides schreiben, man hätte das als unwürdig angesehen. Nicht aber sind das seine Gleichnisse.« Kurz, all dies läuft auf die Unterscheidung zweier literarischer Typen hinaus: des Visionäre, welchem es ernst ist, auf der einen und des Besonnenen, dem es nicht ganz ernst ist, auf der andern Seite. Hier werfe ich nun die Frage nach Kafka auf. Welcher von beiden Gruppen ge1 Druckvorlage der folgenden drei Aufzeichnungen ist das Buch: Walter Benjamin, Versuche über Brecht, a.a.O., S. 154 f. und 156-160 (Gespräche mit Brecht, Tagebuchaufzeichnungen. Svendborg 1934 I)
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hört er an? Ich weiß: die Frage läßt sich nicht entscheiden. U n d eben ihre Unentscheidbarkeit ist für Brecht das Anzeichen, daß Kafka, den er für einen großen Schriftsteller hält, wie Kleist, wie Grabbe oder Büchner, ein Gescheiterter ist. Sein Ausgangspunkt ist wirklich die Parabel, das Gleichnis, das sich vor der Vernunft verantwortet und dem es deshalb, was seinen Wortlaut angeht, nicht ganz ernst sein kann. Aber diese Parabel unterliegt dann doch der Gestaltung. Sie wächst sich zu einem Roman aus. Und einen Keim zu ihm trug sie, genau betrachtet, von Haus aus in sich. Sie war niemals ganz transparent. Übrigens ist Brecht davon überzeugt, daß Kafka seine eigene Form nicht ohne den Großinquisitor von Dostojewski und jene andere parabolische Stelle in den »Brüdern Karamasoff« gefunden hätte, wo der Leichnam des heiligen Staretz zu stinken anfängt. Bei Kafka also liegt das Parabolische mit dem Visionären im Streit. Als Visionär aber hat Kafka, wie Brecht sagt, das Kommende gesehen, ohne das zu sehen was ist. Er betont, wie schon früher in Le Lavandou [s.o., S. 130] lind mir deutlicher, die prophetische Seite an seinem Werk. Kafka habe ein, nur ein einziges Problem gehabt, und das sei das der Organisation, Was ihn gepackt habe, das sei die Angst vor dem Ameisenstaat gewesen: wie sich die Menschen durch die Formen ihres Zusammenlebens sich selbst entfremden. U n d gewisse Formen dieser Entfremdung habe er vorhergesehen, wie z.B. das Verfahren der GPU. Eine Lösung aber habe er nicht gefunden und sei aus seinem Angsttraum nicht aufgewacht. Von der Genauigkeit Kafkas sagt Brecht, sie sei die eines Ungenauen, Träumenden. 5. August. Vor drei Wochen hatte ich B. meinen Aufsatz über Kafka [seil, den Essay von 1934] gegeben. Er hatte ihn wohl gelesen, war aber von sich aus nie darauf zu sprechen gekommen und hatte die beiden Male, da ich die Sprache darauf gebracht hatte, ausweichend geantwortet. Ich hatte das Manuscript schließlich stillschweigend wieder an mich genommen. Gestern abend kam er plötzlich auf diesen Aufsatz zurück. Den, etwas unvermittelten und halsbrecherischen Übergang bildete eine Bemerkung, auch ich sei nicht ganz freizusprechen vom Vorwurf einer tagebuchartigen Schriftstellerei im Stil Nietzsches. Mein Kafkaaufsatz zum Beispiel - er beschäftigte sich mit Kafka lediglich von der phänomenalen Seite - nehme das Werk als etwas für sich Ge150
wachsenes - den Mann auch - löse es aus allen Zusammenhängen - ja sogar aus dem mit dem Verfasser. Es sei eben immer wieder die Frage nach dem Wesen, auf die es bei mir herauskomme. Wie dagegen so eine Sache wohl anzufassen wäre: An Kafka müsse man mit der Frage herantreten: was tut er? wie verhält er sich? Und da vor allem zunächst mehr auf das Allgemeine sehen als das Besondere. Dann stellt sich heraus: er hat in Prag in einem schlechten Milieu von Journalisten, von wichtigtuerischen Literaten gelebt, in dieser Welt war die Literatur die Hauptrealität, wenn nicht die einzige; mit dieser Auffassungs weise hängen Kafkas Stärken und Schwächen zusammen; sein artistischer Wert, aber auch seine vielfache Nichtsnutzigkeit, Er ist ein Judenjunge - wie man auch den Begriff eines Arierjungen prägen könnte - ein dürftiges, unerfreuliches Geschöpf, eine Blase zunächst auf dem schillernden Sumpf der Kultur von Prag, sonst nichts. Aber dann gäbe es doch eben bestimmte, sehr interessante Seiten. Man könnte sie zum Vorschein bringen; man müsse sich ein Gespräch von Laotse mit dem Schüler Kafka vorstellen.Laotse sagt: »Also, Schüler Kafka, dir sind die Organisationen, Rechts- und Wirtschaftsformen, in denen du lebst, unheimlich geworden? - Ja. Du findest dich in ihnen nicht mehr zurecht. - N e i n . - Eine Aktie ist dir unheimlich? - Ja. - Und nun verlangst du nach einem Führer, an den du dich halten kannst, Schüler Kafka.« Das ist natürlich verwerflich, sagt Brecht. Ich lehne ja Kafka ab. U n d er kommt auf das Gleichnis eines chinesischen Philosophen über »die Leiden der Brauchbarkeit«. [»]Im Walde gibt es verschiedenartige Stämme, Aus den dicksten werden Schiffsbalken geschnitten; aus den weniger soliden aber immer noch ansehnlichen Stämmen macht man Kistendeckel und Sargwände; die ganz dünnen verwendet man zu Ruten; aus den verkrüppelten aber wird nichts - die entgehen den Leiden der Brauchbarkeit. In dem, was Kafka geschrieben hat, muß man sich umsehen wie in solchem Wald. Man wird dann eine Anzahl sehr brauchbarer Sachen finden. Die Bilder sind ja gut. Der Rest ist eben Geheimniskrämerei. Der ist Unfug. Man muß ihn beiseite lassen. Mit der Tiefe kommt man nicht vorwärts. Die Tiefe ist eine Dimension für sich, eben Tiefe - worin dann gar nichts zum Vorschein kommt.« Ich erkläre B. abschließend, in die Tiefe zu dringen, sei meine Art und Weise, mich zu den Antipoden zu begeben. In 151
meiner Arbeit über Kraus [s. Ges. Sehr., Bd. 2, S. 334-367] sei ich in der Tat dort herausgekommen. Ich wisse, daß die über Kafka nicht im gleichen Grad geglückt sei: den Vorwurf, so zu einer tagebuchartigcn Aufzeichnung gekommen zu sein, könnte ich nicht abwehren. In der Tat sei die Auseinandersetzung in dem Grenzraum, den Kraus und den auf andere Weise Kafka bezeichne, mir angelegen. Abschließend habe ich diesen Raum, im Falle Kafka, noch nicht erkundet. Daß da viel Schutt und Abfall stecke, viel wirkliche Geheimniskrämerei - das sei mir klar. Aber entscheidend sei doch wohl anderes und einiges davon habe meine Arbeit berührt. B.s Fragestellung müsse sich doch an der Interpretation des Einzelnen bewähren. Ich schlage »Das nächste Dorf« [in: Ein Landarzt. Kleine Erzählungen, München, Leipzig, 1919, S. 88 f.] auf. Sogleich konnte ich den Konflikt beobachten, in den B. durch diesen Vorschlag versetzt wurde. [Hanns] Eislers Feststellung, diese Geschichte sei »wertlos«, lehnte er mit Entschiedenheit ab. Auf der andern Seite aber wollte ihm ebensowenig glücken, ihren Wert kenndich zu machen. »Man müßte sie genau studieren« meinte er. Dann brach das Gespräch ab; es war zehn Uhr geworden und die Radionachrichten aus Wien kamen. 31. August. Vorgestern eine lange und erregte Debatte über meinen Kafka. Ihr Fundament: die Anschuldigung, daß er dem jüdischen Faszismus Vorschub leiste. Er vermehre und breite das Dunkel um diese Figur aus statt es zu zerteilen. Demgegenüber komme alles darauf an, Kafka zu lichten, das heißt, die praktikabeln Vorschläge zu formulieren, welche sich seinen Geschichten entnehmen ließen. Daß Vorschläge ihnen entnehmbar seien, das wäre zu vermuten und sei es nur der überlegenen Ruhe wegen, die die Haltung dieser Erzählungen ausmacht. Diese Vorschläge müsse man jedoch in der Richtung der großen allgemeinen Übelstände suchen, die der heutigen Menschheit zusetzten. Deren Abdruck in Kafkas Werk sucht Brecht aufzuweisen. Er hält sich vorwiegend an den »Prozeß«. Vor allem steckt da, wie er meint, die Angst vor dem nicht enden wollenden und unaufhaltsamen Wachstum der großen Städte. Aus eigenster Erfahrung will er den Albdruck kennen, den diese Vorstellung dem Menschen aufwälzt. Die unübersehbaren Vermittelungen, Abhängigkei152
ten, Verschachtelungen, in die die Menschen durch ihre heutigen Daseinsformen hineingeraten, finden in diesen Städten ihren Ausdruck. Sie finde[n] auf der andern Seite ihren Ausdruck in dem Verlangen nach dem »Führer« - der nämlich für den Kleinbürger den darstellt, den er - in einer Welt wo einer auf den andern verweisen kann und jeder sich ihm entzieht - haftbar für all sein Mißgeschick machen kann. Brecht nennt den »Prozeß« ein prophetisches Buch. »Was aus der Tscheka werden kann, sieht man an der Gestapo.« - K a f k a s Perspektive: die des Mannes, der unter die Räder gekommen ist. Dafür ist bezeichnend Odradek: die Sorge des Hausvaters deutet Brecht als den Hausbesorger. Dem Kleinbürger muß es schief gehen. Seine Situation ist die Kafkas. Während nun aber der heutige geläufige Typ des Kleinbürgers - der Faszist also - beschließt, angesichts dieser Lage seinen eisernen, unbezwinglichen Willen einzusetzen, widersetzt sich Kafka ihr kaum; er ist weise. Wo der Faszist mit Heroismus einsetzt, setzt er mit Fragen ein. Er fragt nach Garantien für seine Lage. Diese aber ist so beschaffen, daß die Garantien über jedes vernünftige Maß hinausgehen müssen. Es ist eine Kafkasche Ironie, daß der Mann Versicherungsbeamter war, der von nichts überzeugter erscheint als von der Hinfälligkeit sämtlicher Garantien. Übrigens ist sein uneingeschränkter Pessimismus frei von jedem tragischen Schicksalsgefühl. Denn nicht nur ist ihm die Erwartung des Mißgeschicks nicht anders als empirisch untermauert - da allerdings vollendet - sondern das Kriterium des Enderfolges legt er in unbelehrbarer Naivität an die belanglosesten und alltäglichsten Unternehmungen: den Besuch eines Geschäftsreisenden oder eine Anfrage bei der Behörde. - Das Gespräch konzentrierte sich streckenweise auf die Geschichte »Das nächste Dorf«. Brecht erklärt: sie ist ein Gegenstück zu der Geschichte von Achill und der Schildkröte, Zum nächsten Dorf kommt einer nie, wenn er den Ritt aus seinen kleinsten Teilen die Zwischenfälle nicht gerechnet - zusammensetzt. Dann ist das Leben für diesen Ritt zu kurz. Aber der Fehler steckt hier im »einer« . Denn wie der Ritt zerlegt wird, so auch der Reitende. Und wie nun die Einheit des Lebens dahin ist, so ist es auch seine Kürze. Mag es so kurz sein, wie es will. Das macht nichts, weil ein anderer als der, der ausritt, im Dorfe ankommt. - Ich für mein Teil gebe folgende Auslegung: das wahre Maß des Lebens ist die 153
Erinnerung. Sie durchläuft, rückschauend, das Leben blitzartig. So schnell wie man ein paar Seiten zurückblättert, ist sie v o m nächsten D o r f e an die Stelle gelangt, an der der Reiter den Entschluß z u m Aufbruch faßte. Wem sich das Leben in Schrift verwandelt hat, wie die Alten, die mögen diese Schrift nur rückwärts lesen. N u r so begegnen sie sich selbst, u n d nur so - auf der Flucht vor der Gegenwart - können sie es verstehen.
b. Notizen г и dem Brief vom 11. 8. 1934 an Scholem (s.o. » Brief Zeugnisse«, Nr. 18) 1} Was ist »die Welt der Offenbarung in jener Perspektive, in der sie auf ihr Nichts zurückgeführt wird« ? 2) Ich leugne den Aspekt der Offenbarung für Kafkas Welt nicht, erkenne ihn vielmehr an, indem ich sie f ü r »entstellt« erkläre. 3) Ich halte Kafkas stetes Drängen auf das Gesetz, von welchem nie etwas verlautbart, f ü r den toten Punkt seines Werkes, f ü r die Schublade des Geheimniskrämers. Gerade mit diesem Begriff will ich mich nicht einlassen. Sollte e r i n Kafkas Werk dennoch eine Funktion haben - was ich dahingestellt sein lasse - so wird auch eine Interpretation die von Bildern ausgeht - wie die meinige - auf sie führen. 4) Bitte um den offenen Brief an Schoeps, dem der Begriff einer richtig verstandenen Theologie zu entnehmen. 5) Daß eben die Schüler - »denen die Schrift abhanden gekommen ist« [s.o., S. 37,33] - nicht der hetärischen Welt angehören, ist von Beginn an von mir betont worden, indem ich gerade sie an die Spitze derjenigen Kreaturen stellte, f ü r die, nach Kafkas W o r t , »unendlich viel H o f f n u n g « vorhanden ist. 6) Ob die Schrift den Schülern abhanden gekommen ist, oder ob sie sie n u r nicht enträtseln können, k o m m t darum auf das Gleiche heraus, weil die Schrift ohne den zu ihr gehörigen Schlüssel eben nicht Schrift ist, sondern Leben. In dem Versuch einer unmittelbaren Verwandlung des Lebens in Schrift sehe ich den Sinn der »Umkehr«, auf welche Kafkas Gleichnisse, wie ich am »nächsten Dorf« und am »Kübelreitcr« ge154
zeigt habe [s.o., S. 33L u n d 3 6 f . ] , hindrängen. Sancho Pansas Dasein ist musterhaft, weil es eigentlich im Nachlesen des D o n Quichotisehen besteht. Dabei »liest« manchmal das Pferd besser als der Mensch. 7) Die auf das Benehmen der Richter gestützte Argumentation habe ich fallen lassen. Im übrigen w a r auch sie nicht gegen die Möglichkeit einer theologischen Interpretation überhaupt, sondern nur gegen deren freche H a n d h a b u n g durch die Prager gerichtet. 8) {Bitte um Bialiks Aufsatz »Hagadah und Halacha«.} 9) Das Verhältnis meiner Arbeit zu Deinem Gedicht [seil. »Mit einem Exemplar von Kafkas >Prozeß<«; s.o., »Briefzcugnisse«, N r . 15.a] möchte ich versuchsweise so fassen: Du gehst vom Nichts der Offenbarung aus, von der heilsgeschichtlichen Perspektive des anberaumten Prozeßverfahrens. Ich gehe von der kleinen widersinnigen H o f f n u n g und von der ihrem Widersinn entsprechenden Gestaltenfülle-sowie auch den ihren Widersinn anklagenden Gestalten - in Kafkas Werk aus. 10) Wenn ich als stärkste Reaktion von Kafka die Scham bezeichne [s.o., S. 28], so widerspricht das meiner Interpretation in keiner Weise, Vielmehr ist die Vorwelt - Kafkas geheime Gegenwart - eben der geschichtsphilosophische Index, der diese Reaktion aus dem Bereich der Privatverfassung heraushebt. Das Werk der Thora nämlich ist - wenn wir uns an Kafkas Darstellungen halten-vereitelt worden. U n d alles, was einst von Moses geleistet wurde, wäre in unserm Weltzeitalter nachzuholen. Ms 249 Zur kontemplativen Existenz »Betrachten Sie mich als Ihren Traum« Don Quichote - der von Sancho Pansa Geträumte Auch Kafka ein Geträumter; die ihn träumen sind die Massen Kafkas Aufzeichnungen stehen zur geschichtlichen Erfahrung wie die nichteuklidische Geometrie zur empirischen. Z u m Kafkabrief an Scholem Ms 252 *55
5- Aufzeichnungen (ab September 1934) a. Dossier von fremden Einreden und eigenen Reflexionen Zur »Kafka«-Revision [Blatt] 1 1) Die Analyse der Vatervorstellung im ersten Teil hat die »Elf Söhne« zu berücksichtigen. Dazu sind heranzuziehen das Stück selbst, Krafts Kommentar dazu und die Schrift von Kaiser, [s. Krafts Brief, »Briefzeugnisse«, Nr. 2] 2) Krafts Einwand gegen die Stelle zurückzuweisen, an der ich die Bezugnahme auf die nachgelassenen Aphorismen als illegitim darstelle [s.o., S. 25,19-26,38]. Kraft: »Dieser Nachlaßband steht . . . der Sache nach auf der gleichen Stufe der Illegitimität wie die sämtlichen illegitimen Romane.« Allerdings, was seine Publikation, nicht aber seine Substanz betrifft. Diese hat Kafka in Berichten und Gleichnissen geben wollen, zu denen die Reflexionen nur Parerga und Paralipomena - und zwar solche eigentümlichster Art - darstellen. 3) Kraft verwahrt sich dagegen, die psychoanalytische Auslegung Kafkas als »natürliche« bezeichnet zu sehen. Er will diesen Namen einer anderen vorbehalten wissen, die der Darstellung von der gesellschaftlichen Bedingtheit von Kafkas Werk nahe steht - das will überlegt sein. 4) Wichtige Notiz zu den Tiergeschichten, von Kraft: »Mir bilden seine Tiergeschichten in den meisten Fällen nur ein technisches Mittel, das Unübersehbare der empirisch-metaphysischen Verhältnisse darzustellen, z.B. in >Josefine< oder in den Aufzeichnungen des Hundes. In beiden Fällen wird >Volk< dargestellt.« Das ist richtig; zu zeigen ist, wie es mit meiner Deutung der Tierwelt bei Kafka zusammenhängt. Für die »Forschungen eines Hundes« ist vielmehr Brechts »Traum des Soldaten Fewkoombey« [s. Drei Groschen Roman, Amsterdam 1934 (Epilog)] heranzuziehen, der unter Hunden das letzte halbe Jahr seines Lebens verbracht hat. 156
5) Kraft: »Jede dieser Frauen hat eine Beziehung zum Schloß, die Sie ignorieren, und wenn z.B. Frieda K. vorwirft, er frage sie nie nach ihrer Vergangenheit, so meint sie nicht >Sumpf< sondern ihr früheres Zusammenleben mit Klamm.« 6) Krafts Kommentar zu »Ein altes Blatt« einfordern. 7) Der Vergleich mit dem Schweyk [s.o., S. 36,1-3] ist vielleicht wirklich, wie Kraft behauptet, nicht akzeptabel - nämlich in dieser Kürze. Sollte man ihn nicht in eine Darlegung von Kafkas Herkunft aus Prag einsetzen? Ms 234 [Blatt] 2 8) Kraft meint, Kafkas Verhältnis zur Theosophie - wie die Tagebuchnotiz über Steiner [s.o., S. 22,11-14] es erkennen lasse - s e i eine Instanz gegen meine Auffassung. Ich kann nur finden, daß ihr Kontest einen Einblick in die Gründe gibt, aus denen Kafka scheitern mußte. 9) [Margarete] Susmans »Das Hiob-Problem bei Franz Kafka« [in: Der Morgen, Jg. 5, Berlin 1929, Heft l, p 31-49] heranzuziehen. Darin der Satz: »Kafka hat - nach einem eigenen Wort — zum erstenmal die bisher immer wenigstens zu ahnende Musik der Welt bis in alle Tiefen hinunter abgebrochen.« 10) Aus Krafts Kommentar zum »Brudermord«, das »dünne blaue Kleid« betreffend: »Blau ist sowohl die Farbe des malerischen wie des dichterischen Expressionismus. Es genügt, für die Malerei auf Franz Marc und für die Dichtung auf Georg Trakl hinzuweisen.« 11) Den Funken zwischen Prag und dem Kosmos uberspringen lassen; so das Zitat aus [A. S.] Eddington einsetzen [Das Weltbild der Physik und ein Versuch seiner philosophischen Deutung, Braunschweig 1931, p 334/35; s.o., »Briefzeugnisse«, Nr. 26] 12) »Ganz nahe dieser symbolischen . . . Diesseitigkeit steht die stille, große Erscheinung Kafkas; hier fand eine versunkene Welt oder bisher jenseitige am Leben in dieser die unheimliche Wiederkehr: sie reflektiert alte Verbote, Gesetze und Ordnungsdämonen im Grundwasser präisraelitischer Sünden und Träume, wie es im Zerfall wieder vordringt.« Ernst 157
Bloch: Erbschaft dieser Zeit Zürich 1935 p 182 13) Zu ermitteln, was ich brieflich, Kraft gegenüber, über Weisheit und Torheil bei Kafka bemerkt habe, [s.o., »Briefzeugnisse«, N r . 4] 14) Die Stellen, an denen Kafka sich »Zur Frage der Gesetze« äußert, sind zu vergleichen. Auch ist dabei zu ermitteln, ob es angängig ist, einen Unterschied /wischen »dem« Gesetz und den Gesetzen zu machen, wie Kraft das behauptet. Ob die Gesetze den toten Punkt bei Kafka darstellen? 15) Das Kapitel »Kafka als prophetischer Schriftsteller« ist vorzunehmen. [s.o., S. i3off.] 16) Zwei Briefe von Kafka an Brod in der Festschrift zu Brods 50stcm Geburtstag (Prag). 17) Näheres über Kafkas Scheitern in der Begründung eines parabolischen Schrifttums. An welchen Umständen ist er gescheitert? 18) Literatur: Festschrift zu Brods 50stem Geburtstag / [Edmond] Jaloux: Über den »Prozeß« in den Nouvelles Littéraires [1934] / [Werner] Kraft: Ein altes Blatt / Zweifel und Glauben / Aufsatz gegen Brod / [Chajim Nachman] Bialik: Hagadah und Halacha (Der Jude [IV (1919) p 61-77]) Ms 235 [Blatt] 3 19) Alter Deutungsversuch Wiesengrunds: Kafka »eine Photographie des irdischen Lebens aus der Perspektive des erlösten, von dem nichts darauf vorkommt als ein Zipfel des schwarzen Tuches, während die grauenvoll verschobene Optik des Bildes keine andere ist als die der schräg gestellten Kamera.« [Adornos] Brief [vom 17, 12. 1934; s.o., »Briefzeugnisse«, Nr. 3]) 20) »Das Verhältnis von Urgeschichte und Moderne ist noch nicht zum Begriff erhoben . . . Eine erste Leerstelle ist da . . . bei dem Lukácszitat und der Antithese von Zeitalter und Weltalter. Diese Antithese könnte nicht als bloßer Kontrast sondern selber bloß dialektisch fruchtbar werden. Ich würde sagen: daß für u n s der Begriff des Zeitalters schlechterdings unexistent ist . . . sondern bloß das Weltalter als Extrapolation der versteinten Gegenwart . . . Im Kafka . . . ist der Be158
griff des Weltalters abstrakt im Hegeischen Sinne geblieben . . . Das sagt aber nichts anderes als daß die Anamnesis - oder das »Vergessen« - der Urgeschichte bei Kafka in Ihrer Arbeit wesentlich im archaischen und nicht durchdialektisierten Sinne gedeutet ist . . . Es ist kein Zufall, daß von den . . . Anekdoten eine: nämlich Kafkas Kinderbild, o h n e Auslegung bleibt. Dessen Auslegung wäre aber einer Neutralisierung des Weltalters im Blitzlicht äquivalent. Das meint nun alle möglichen Unstimmigkeiten . . . Symptome der archaischen Befangenheit . . . Die wichtigste scheint mir die des Odradek. Denn archaisch allein ist es, ihn aus >Vorwell und Schuld« entspringen zu lassen . . . ist mit ihm nicht eben die Aufhebung des kreatürlichen Schuldverhältnisses vorbedeut e t - i s t nicht die Sorge , . . die Chiffre, ja das gewisseste Versprechen der Hoffnung, eben in der Aufhebung des Hauses? . . . so dialektisch ist Odradek, daß von ihm wirklich auch gesagt werden kann, >so gut wie nichts hat alles gut gemacht*. / Zum gleichen Komplex gehört die Stelle von Mythos und Märchen, an der . . . zu beanstanden wäre, daß das Märchen als Überlistung des Mythos auftritt oder dessen B r e c h u n g als ob die attischen Tragiker Märchendichter wären . . . und als ob nicht die Schlüsselfigur des Märchens die v o r mythische, nein die sündelose Welt wäre . . . Ì Archaisch scheint mir auch die Deutung des Naturtheaters im Ausdruck >ländliche Kirmes oder Kinderfest« - das Bild eines großstädtischen Sängerfestes der achtziger Jahre wäre gewiß wahrer, und Morgensterns >Dorfluft< war mir schon immer verdächtig. Ist Kafka kein Religionsstifter . . . so ist er gewiß auch, und in keinem Sinn, nicht ein Dichter jüdischer Heimat. Hier empfinde ich die Sätze über die Verschränkung des Deutschen und Jüdischen als ganz entscheidend.« (Brief von Wiesengrund [s. a.a.O.]) 21) »Die Delinquenten der Strafkolonie werden . . . nicht bloß auf dem Rücken sondern auf dem ganzen Leib von der Maschine beschrieben, ja es wird sogar von dem Vorgang gesprochen, wo die Maschine sie umwendet (Umwendung ist das Herz dieser Erz ählung . . . ; übrigens dürfte gerade bei dieser Erzählung, die . . . eine gewisse idealistische Abstraktheit hat . . . , der disparate Schluß nicht vergessen wer159
den mit dem Grab des alten Gouverneurs unter dem Caféhaustisch),« Brief von Wiesengrund [s. a.a.O.]) Ms 236 [Blatt] 4 22) »Die umgebundenen Flügel der Engel sind kein Manko sondern ihr >Zug< - sie, der obsolete Schein, sind die Hoffnung selber . . . Von hier aus, von der Dialektik des Scheins als vorzeitlicher Moderne scheint mir die Funktion von Theater und Geste ganz aufzugehen . . . Wollte man nach dem Grund der Geste suchen, so wäre er . . . zu suchen . . . in >Moderne<, nämlich dem Absterben der Sprache . . . So erschließt sie sich gewiß . . . dem Studium als G e b e t - als >Versuchsanordnung< scheint sie mir nicht zu verstehen und das einzige, was mir an der Arbeit materialfremd dünkt, ist die Hereinnähme von Kategorien des epischen Theaters . . . Kafkas Romane sind nicht Regiebücher fürs Experimentiertheater . . . Sondern sie sind die letzten, verschwindenden Verbindungstexte zum stummen Film (der nicht umsonst fast genau gleichzeitig mit Kafkas Tod verschwand); die Zweideutigkeit der Geste ist die zwischen dem Versinken in Stummheit . . . und dem Sicherheben aus ihr in Musik - so ist wohl das wichtigste Stück zur Konstellation Geste - Tier - Musik die Darstellung der stumm musizierenden Hundegruppe . . . , die ich nicht zögern möchte, dem Sancho Pansa an die Seite zu stellen.« (Brief von Wiesengrund [s. a.a.O.]) 23) »Daher gehört zur Konzeption der Welt als des >Theaters< der Erlösung, in der sprachlosen Übernahme des Wortes, konstitutiv hinzu, daß Kafkas Kunstform . . . zur theatralischen in der äußersten Antithese steht und Roman ist.« (Brief von Wiesengrund [s. a.a.O.]) 24) Im »Prozeß« steckt vor allem, wie Brecht meint, die Angst vor dem nicbtendenwollenden und unaufhaltsamen Wachstum der großen Städte. Aus eigenster Erfahrung will er den Albdruck kennen, den diese Vorstellung dem Menschen aufwälzt. Die unübersehbaren Vermittelungen, Abhängigkeiten, Verschachtlungen, in die die Menschen hineingeraten sind, finden in diesen Städten ihren Ausdruck. So findet aber auch die Reaktion auf sie den Ausdruck - in dem Verlangen
nach dem »Führer« nämlich, der für den Kleinbürger den darstellt, den er in einer Welt, wo jeder auf den andern verweisen und der Verantwortung sich entziehen kann, haftbar für ail sem Mißgeschick macht. Kafka, sagt Brecht, habe ein, und nur ein, Problem gehabt: das sei das der Organisation gewesen. Was ihn gepackt habe, das sei die Angst vor dem Ameisenstaat: wie sich die Menschen durch die Formen ihres Zusammenlebens sich selbst entfremden. Gewisse Formen dieser Entfremdung habe er vorhergesehen, wie z.B. das Verfahren der G P U . Daher sei der »Prozeß« ein prophetisches Buch, [s.o., »Gespräche mit Brecht« 6. Juli und 31. August)] 25) »Das nächste Dorf«. Brecht: Diese Geschichte ist ein Gegenstück zu der von Achill und der Schildkröte. Zum nächsten Dorf kommt einer nie, wenn er den Ritt aus seinen kleinsten Teilen - die Zwischenfälle nicht gerechnet - zusammensetzt. Dann ist das Leben für diesen Ritt zu kurz. Aber der Fehler steckt im »einer«, Denn wie der Ritt zerlegt wird, so auch der Reitende. Und wie nun die Einheit des Lebens dahin ist, so ist es auch seine Kürze. Mag es so kurz sein, wie es will, das macht nichts, weil ein anderer als der, der ausritt, im Dorfe ankommt, [s. a.a.O. (31. August)] Ms 237 [Blatt] 5 26) Brecht geht von der Fiktion aus, Konfizius habe eine Tragödie oder Lenin habe einen Roman geschrieben. Man würde das als unstatthaft empfinden, erklärt er, und als ein ihrer nicht würdiges Verhalten. »Nehmen Sie an, Sie lesen einen ausgezeichneten politischen Roman und erfahren nachher, daß er von Lenin ist; Sie werden Ihre Meinung über beide ändern, und zu ungunsten beider. Konfuzius hätte auch kein Stück von Euripides schreiben dürfen - man hätte das als unwürdig angesehen. Nicht aber sind das seine Gleichnisse.« Kurz, dies läuft auf eine Unterscheidung zweier literarischer Typen hinaus: des {Visionare} [darüber: Begeisterten], welchem es ernst ist [darüber: dem die Würde (?)], auf der einen und des Besonnenen, dem es nicht ganz ernst ist, auf der anderen Seite. Welchem von beiden Typen gehört Kafka zu? 161
Die Frage läßt sich nicht entscheiden. U n d ihre Unentscheidbarkeit ist das Anzeichen, daß Kafka wie Kleist, wie Grabbe oder Büchner, ein Gescheiterter ist. Sein Ausgangspunkt ist die Parabel, das Gleichnis, das sich vor der Vernunft verantwortet und dem es deshalb, was seine Geschichte angeht, nicht ganz ernst sein kann. Aber diese Parabel unterliegt dann doch der Gestaltung. Sie wächst sich zu einem Roman aus. Und einen Keim dazu trug sie, genau besehen, von Haus aus in sich. Sie war niemals ganz transparent. Übrigens ist Brecht überzeugt, daß Kafka seine eigene Form nicht ohne den »Großinquisitor« und jene andere parabolische Stelle in den »Brüdern Karamasoff« gefunden hätte, wo der Leichnam des Staretz zu stinken anfängt. Bei Kafka also liegt das Parabolische mit dem Visionären in Streit. Als Visionär aber hat Kafka, wie Brecht sagt, das Kommende gesehen, ohne das zu sehen, was ist. [s. a.a.O. (6. Juli)] 27) Brecht: An Kafka müsse man mit der Frage herantreten: was tut er? wie verhält er sich? U n d da vor allem zunächst mehr auf das Allgemeine sehen als das Besondere, dann stellt sich heraus : er hat in Prag in einem schlechten Milieu von J ournaIisten, von wichtigtuerischen Literaten gelebt; in dieser Welt war die Literatur die Hauptrealität, wenn nicht die einzige. Damit hängen Kafkas Stärken und Schwächen zusammen: sein artistischer Wert, aber auch seine vielfache Nichtsnutzigkeit. Er ist ein Judenjunge - man könnte auch den Begriff eines Arierjungen prägen — ein dürftiges unerfreuliches Geschöpf, eine Blase - zunächst - auf dem schillernden Sumpf der Kultur von Prag. Aber dann gäbe es doch bestimmte, sehr interessante Seiten. Alles komme darauf an, Kafka zu lichten, das heißt, die praktikablen Vorschläge zu formulieren, welche sich seinen Geschichten entnehmen lassen. Daß Vorschläge ihnen zu entnehmen seien, sei zu vermuten, und sei es nur der überlegnen Ruhe wegen, die die Haltung dieser Erzählungen ausmacht. Diese Vorschläge müsse man in der Richtung der großen, allgemeinen Ubelstände suchen, die der heutigen Menschheit zusetzten, [s. a.a.O. (5. August)] Ms 238
[Blatt] 6 28) Brecht: Man müsse sich ein Gcspräch von Laotse mit dem Schüler Kafka vorstellen. Laotse: Also, Schüler Kafka, dir sind die großen Organisations- und Wirtschaftsformen, in denen du lebst, unheimlich geworden? - Kafka: Ja. - Laotse: Du findest dich in ihnen nicht mehr zurecht? - Kafka: Nein. - Laotse: Eine Aktie ist dir unheimlich? - Kafka: Ja. - Laotse: Und nun verlangst du nach einem Führer, an den du dich halten kannst, Schüler Kafka. - Brecht, fortfahrend: »Das ist natürlich verwerflich. Ich lehne ja Kafka ab. Die Bilder sind gut. Der Rest ist aber Geheimniskrämerei. Der ist Unfug. Man muß ihn beiseite lassen.« [s. a.a.O.] 29) »Das nächste Dorf« Meine Auslegung: Das wahre Maß des Lebens ist die Erinnerung. Sie durchläuft, rückschauend, das Leben blitzartig. So schnell wie man ein paar Seiten zurückblättert, ist sie vom nächsten Dorf an die Stelle gelangt, von der der Reiter den Entschluß zum Aufbruch faßte. Wem sich das Leben in Schrift verwandelt hat, wie den Alten, die mögen diese Schrift nur rückwärts lesen. N u r so begegnen sie sich selbst und nur so - auf der Flucht vor der Gegenwart können sie es verstehen, [s. a.a.O. (31. August)] 30) An welcher Stelle handelt Freud von dem Zusammenhang zwischen Reiten und Vaterimago? 3t) Brecht: Kafkas Genauigkeit sei die eines Ungenauen, Träumenden. [s. a.a.O. (6, Juli)] 32) »Die Sorge des Hausvaters«, Odradek, deutet Brecht als den Hausbesorger, [s. a.a.O. (31. August)] 33) Die Lage Kafkas ist die hoffnungslose des Kleinbürgers. Während aber der geläufige Typ des Kleinbürgers - der Faschist - beschließt, angesichts dieser Lage seinen eisernen, unbezwinglichen Willen einzusetzen, widersetzt sich Kafka ihr nicht. Er ist weise. Wo der Faschist den Heroismus einsetzt, setzt Kafka mit Fragen ein. Er fragt nach den Garantien für seine Existenz. Diese aber ist so beschaffen, daß deren Garantien über jedes erdenkliche Maß hinausgehen müßten. Es ist eine Kafkasche Ironie, daß d e r Mann Versicherungsbeamter war, der von nichts überzeugter erscheint als von der Hinfälligkeit sämtlicher Garantien. - Die Hinfälligkeit der eigenen Lage bedingt für Kafka die seiner sämtlichen At163
tribute, einschließlich des Menschsems. Wie ist dem Kanzlisten zu helfen? Das ist der Ausgangspunkt von Kafkas Frage. Die Antwort aber lautet nach einem Umweg über die Fragwürdigkeit des Daseins überhaupt: dem Kanzlisten ist nicht zu helfen, weil er ein Mensch ist. [s. a.a.O.] 34) Während der Lehrgehalt von Kafkas Stücken in der Form der Parabel zum Vorschein kommt, bekundet ihr symbolischer Gehalt sich im Gestus. Die eigentliche Antinomie von Kafkas Werk liegt im Verhältnis von Gleichnis und Symbol beschlossen. 35) Das Verhältnis von Vergessen und Erinnern ist in der Tat wie Wiesengrund sagt [s. Adornos Brief, »Briefzeugnisse«, N r . 3] - zentral und bedarf der Behandlung. Sie ist in besonderer Rücksicht auf »Jenseits des Lustprinzips«, vielleicht auch auf [Bergsons] »Matière et mémoire« durchzuführen. Die dialektische Aufklärung Kafkas müßte an ihr einen, besonderen Stützpunkt haben. (Die Erwähnung von Haas ließe sich so vermeiden [?]) Ms 239 [Blau] 7 36) Es sind drei grundlegende Schemata einzuführen: Archaik und Moderne - Symbol und Gleichnis - Erinnern und Vergessen. 37) In einer Tagebuchnotiz denkt Hebbel sich einen Mann, der das Geschick hat, sich nichtsahnend und immer wieder als Zeuge auf dem Schauplatze von Katastrophen einzufinden. Er wird ihrer aber nicht unmittelbar gewahr sondern trifft nur auf ihre Folgen: eine gestörte Tischgesellschaft, ungemachte Betten, Zugluft im Treppenhause u.s.w. U n d immer nimmt er ernsten Anstoß an diesen Zwischenfällen ohne ihre Ursachen im entferntesten zu ahnen. Kafka gliche nun einem Mann, für welchen diese Zwischenfälle selbst die Katastrophen wären. Eine Niedergeschlagenheit, die es mit der des Predigers Salomo aufnehmen könnte, kommt bei ihm auf der Basis der Pedanterie zustande. 38) Der Tonfilm als Grenze für die Welt Kafkas und Chaplins. 39) Was Kafka als »Relikt« der Schrift angesehen haben würde, 164
bezeichne ich (p 15 [seil, der zweiten Essay-Fassung; s.o., S. 20,13f.]) als ihren »Vorläufer«; was Kafka als »vorweltliche Gewalten« betrachtet haben mag, bezeichne ich (p 23 [seil. a.a.O.; s.o., S. 26,39-27,3]) ab »weltliche unserer Tage«. 40) Kafkas Romanform als Zerfallsprodukt von Erzählung. 41) Der »Prozeß« ist selbstverständlich ein mißglücktes Werk. Er stellt die ungeheuerliche Mischung zwischen einem mystischen und einem satirischen Buch dar. So tief nun die Entsprechungen dieser beiden Elemente sein können - der mächtige Strom von Blasphemie, der durch das Mittelalter geht, beweist es - so dürften sie sich noch nie in einem Werke vereinigt haben, das den Stempel seines Mißlingens nicht auf der Stirn trägt. 42) Schematisch gesprochen stellt Kafkas Werk eines der sehr wenigen Verbindungsglieder zwischen Expressionismus und Surrealismus dar, 43) Im »Odradek« das Haus als Gefängnis. 44) Für die Parabel ist der Stoff nur Ballast, den sie abwirft, um in die Höhe der Betrachtung zu steigen. Ms 240
b. Entwürfe, Einschübe, Notizen zu einer Umarbeitung des Essays Probedispositionen zur Umarbeitung {Anschließend an das Zitat aus dem Großinquisitor [s.o., S. 22,10] der letzte Absatz des zweiten Kapitels [s.o., S. 24,8-25,2]} {Den zweiten Teil der Darstellung des Naturtheaters von Oklahoma [s.o., S. 22,31-23,28] unmittelbar an den ersten an-
schließen [s.o., S, 17,9-39]} Anschließend an die Hypothese vom »Prozeß« als einer »entfalteten Parabel« [s.o., S. 20,14]: »Nun hat der >Prozeß< in der Tat eine Seite, die sich an das Parabolische anschließt, nämlich seine satirische.« Anschließend an die Stelle über »die Motive der klassischen Satire auf die Justiz« [s.u., Ms 243]: »Es treten nun freilich zu 165
diesen Motiven bei Kafka andere - Motive, bei denen, wie m an mit vielem Recht sagen kann - der Scherz, und sei es der bitterste - für ihn aufhört.« Das ist der Alb der großen Städte, das Preisgegebensein des Individuums in der heutigen Gesellschaft - kurz »die Organisation des Lebens und der Arbeit in der menschlichen Gemeinschaft.« [s.o., S. 20,33f.] {Anschließend an das Metschnikoffzitat »deren Plan sehr oft einem gewöhnlichen Menschen unverständlich bleibt« [s.o., S. 21,38]: »Er war es bestimmt für Kafka und dieser Unverständlichkeit hat er auf ungeheuer nachdrückliche Weise in seinem Werk Ausdruck gegeben. Es gibt eine ganze große Provinz seines Werkes, deren Vorhandensein nur so zu erklären, wenn auch damit allein noch nicht hinreichend zu deuten ist. Diese Provinz ist der Gestus.« »Kafkas ganzes Werk stellt nämlich einen Kodex von Gesten dar.«} [am Rand:] er hat das Rätselhafte und Unverständliche forciert und scheint manchmal nicht fern, mit dem Großinquisitor zu sagen: [s.o., S. 22,2-10] MS241 Der stumme Film war eine ganz kurze Atempause in diesem Prozeß. Indem er die menschliche Sprache auf ihre geläufigste Dimension zu verzichten zwang, konnte er mit ihr in der des Ausdrucks eine ungeheure Verdichtung vornehmen. Von dieser Möglichkeit hat niemand mehr als Chaplin Gebrauch gemacht; auch konnte es ihm niemand nachtun, der nicht die Selbstentfremdung des Menschen in diesem Zeitalter so tief empfand, daß ihm der stumme Film, zu dem man sich den Verbindungstext noch selber ausdenken darf, als eine Gnadenfrist erschienen wäre. Diese Gnadenfrist hat auch Kafka benutzt, der zu gleicher Zeit wie der stumme Film von der Szene abtrat und dessen Prosa man in der Tat die letzten Verbindungstexte zum stummen Film nennen kann, [s.o., » D o s s i e r . . N r . 22) und 38)] Parabel Märchen für Dialektiker Parabel Befreiungsmotiv im Odradek • Märchen und Erlösung Die Erlösung und die Weltalter Märchen Satire Das schwebende Märchen und die Erlösung Ms 242 166
In die Nachbarschaft dieses |P]arabolischcn gehört das, was man als das satirische Element bei Kafka bezeichnen könnte. Denn es ist ein Satiriker an Kafka verloren gegangen. U n d es wäre auch schwer vorstellbar, daß ein Autor so sehr wie Kafka sich mit der Bürokratie befaßt hätte, ohne auf die Seiten seines Gegenstandes zu geraten, die die Satire herausfordern. In » Amerika« stößt man auf ganz andere Motive, die einer satirischen Behandlung, obwohl sie sie weniger nahelegen, nicht fern stehen. Man denke an die groteske Darstellung der Hörigkeit, in der sich . , . [Delamarche] von Bruneida befindet. So gewiß es nun ein ungeheuerliches Mißverständnis wäre Kafka als einen Satiriker darzustellen [ . . . ] , so unangebracht ist es, aus einer metaphysischen Affektation an den satirischen Motiven vorüberzugehen, wo sie [sich] so häufen wie im »Prozeß«. In diesem Buchc ist eine Satire gleichsam erstickt worden. Der schleppende Gang dieser Rechtspflege, die Bestechlichkeit ihrer Diener, die weltfremde Art ihrer Fragestellung, die Unverständlichkeit ihrer Urteile, die Unsicherheit der Exekutive - das sind Motive im »Prozeß«, es sind aber auch die Motive der klassischen Satire auf die Justiz von . . . bis Dikkens. {Bei Kafka kommt diese Satire nicht zum Durchbruch, denn so wie in der Parabel - die vom Türhüter zeigt es klar - die wolkige Stelle steckt, die dem Gleichnis seinen Gleichnischaraktcr nimmt, um es zum Symbol zu erheben, so steckt in der Satirc die Mystik. Der Prozeß ist in der Tat ein Zwitter aus Satire und Mystik. So tief nun die Entsprechungen dieser beiden Elemente sein können - so haben sie wohl nur eine vollkommene Form der Vereinigung und das ist die Blasphemie. Das letzte Kapitel des Buches hat auch wirklich etwas von ihrem Geruch. Aber weder konnte noch sollte sie die Grundlage dieses Romans abgeben, dem sein Mißlingen an der Stirn geschrieben stand.} Dies ist vielleicht die blasphem[isch]e Pointe des Prozesses: Gott selbst, der am Menschen durch das Leben, das er ihm zuweist, seine Vergeßlichkeit straft, hindert ihn durch diesen Strafprozeß, sich zu erinnern. Das denkwürdigste Aber eben damit Zeugnis dieses Mißimgens war dieses Buch an ist der Prozeß: ein Zwitter seine Grenze gelangt, aus Satire und Mystik. ohne seinen Abschluß gefunden zu haben. 167
[Rückseite:] Die Anstrengung des Träumenden, der seinen kleinen Finger bewegen will und der wirklich, wenn ihm dies gelänge, erwachen würde. Ms 243 Geplante Einschübe
[Rückseite: Variante zum vorletzten Einschub; s.o.] {Aber er war nicht nur das. / Man nehme an, Laotse habe einen Roman oder Konfuzius eine Tragödie geschrieben. Man würde das als unstatthaft empfinden und als ein ihrer nicht ganz würdiges Verhalten. Cäsar hätte auch keinen Roman schreiben dürfen}
[im Text des Hssays anzuschließen an Paraboliker, s.o., S. 24,7:] Aber er war nicht nur das. / Man nehme an, I,aotse habe eine Tragödie geschrieben. Man würde das als unstatthaft empfinden und als ein seiner nicht ganz würdiges Verhalten. Der Prediger Salomo hätte auch keinen Roman schreiben d ü r f e n - m a n hätte das als unziemlich angesehen. Dies läuft auf die Unterscheidung zweier literarischer Typen heraus: des Begeisterten, dem es mit seinen Gesichten ernst ist, und des Besonnenen, dem es mit seinen Gleichnissen nicht ganz ernst ist. Welchem von beiden Typen gehört Kafka an? Die Frage läßt sich nicht klar entscheiden. Und ihre Unentscheidbarkeit deutet an, daß Kafka, wie Kleist, wie Grabbe oder Büchner, ein Unvollendeter bleiben mußte. Sein Ausgangspunkt ist die Parabel gewesen, das Gleichnis, das sich vor der Vernunft verantwortet, und das deshalb, was seine Fabel betrifft, nicht ganz ernst sein kann. Aber was geht mit dieser Parabel vor? [s.o., Ms 238,26)] Man denke an die berühmte »Vor dem Gesetz«. Der Leser, der ihr im »Landarzt« . . . [fortzusetzen im Essay S. 20,7]
Ms 244
[im Essay anzuschließen a n « / . « , s.o., S. 31,20:] Man hat den Hausbesorger in ihm sehen wollen. Das trifft so schlecht, aber doch auch so gut wie der Hinweis auf die satirischen Momente aus dem »Prozeß«. Vielleicht erscheint jener dem Mieter wirklich »sinnlos, aber in seiner Art abgeschlossen«. Vielleicht hat der letztere auch wirklich, wenn er »aus der Tür tritt und er lehnt gerade unten am Treppengeländer, . . . Lust, ihn anzusprechen«. Aber dann will doch auch bedacht sein, daß Odradek die gleichen Orte bevorzugt, wie das Gericht, das doch bekanntlich in den Bodenkammern die Sitzungen abhält, in denen es sich mit der Schuld befaßt. Die Böden sind der Ort der ausrangierten... [fortzusetzen S. 31,22] 168
[im Essay anzuschließen anist., s.o., S. 28,2:] Das denkwürdigste Zeugnis dieses Mißlingens ist der »Prozeß«, ein Zwitter aus Satire und Mystik, So tief nun die Entsprechungen dieser beiden Elemente sein können, so haben sie wohl nur eine vollkommene Form der Vereinigung, und das ist die Blasphemie. Das letzte Kapitel des Buches steht in der Tat in ihrem Geruch. Aber eben damit war es an seine Grenze gelangt, ohne seinen Abschluß gefunden zu haben. / »Es war als sollte die Scham . . . [fortzusetzen S. 28,4] [im Essay anzuschließen an werden., s.o., S. 23,18:] betroffen werden. / Eine entfaltete Parabel nannten wir den »Prozeß«. Das Wort »entfaltet« . . . [fortzusetzen S. 20,14 bis S. 2 0 , 2 2 ] . . . Dichtung ähnlich. Sie sind Gleichnisse und sie sind doch mehr. Sie legen sich der Lehre nicht schlicht zu Füßen, wie die Hagadah sich der Halacha zu Füßen legt. Sie bäumen sich und heben unversehens eine gewichtige Tatze gegen sie. Kafka scheint manchmal nicht weit entfernt, mit D o stojewskis . , . [fortzusetzen S. 22,3 bis S. 22,10] . . . ihr Gewissen.« So steht Kafkas gesamtes Werk im Zeichen des Gegensatzes zwischen dem Mystiker und dem Paraboliker, der Geberdensprache und der Sprache der Unterweisung, dem Visionär und dem Weisen. Eines Gegensatzes, der eine Verschränkung ist. Kafka hat sie empfunden und in einem seiner merkwürdigsten, aber auch schwierigsten Stücke zu vertreten gesucht. Es heißt »Von den Gleichnissen« und beginnt mit einem Vorwurf gegen »die Worte der Weisen«, die »immer wieder nur Gleichnisse seien, aber unverwendbar im täglichen Leben«. »Wenn der Weise sagt: >Gehe hinüber«, so meint er nicht, daß man auf die andere Seite hinübergehen solle, was man immerhin noch leisten könnte, . . . sondern er meint ir16g
gendein sagenhaftes Drüben, etwas, das wir nicht kennen, das auch von ihm nicht näher zu bezeichnen ist und das uns also hier gar nichts helfen kann.« Ein anderer aber nimmt sich der Sache der Weisen an und fragt: »Warum wehrt ihr euch? Würdet ihr den Gleichnissen folgen, dann wäret ihr selbst Gleichnisse geworden und damit schon der täglichen Mühe frei.« Damit ist die kleine Untersuchung im Grunde beendet, und die anschließende Kontroverse hält den Leser zunächst nur ab, in den zitierten Hauptsatz sich zu vertiefen, ohne den er sie nicht verstehen kann. Dieser Hauptsatz mag am zutreffendsten aus der Anschauungswelt der Chinesen erläutert werden. Sie erzählen neben manchen andern Geschichten zur Magic der Malerei auch die folgende, von einem großen Maler: Er bat seine Freunde in die Kammer, an deren Wand das letzte Bild seiner Hand, die Vollendung langen Bemühens und der Malerei überhaupt hing. Die Freunde, die das Bild bewunderten, wandten sich, um ihn zu beglückwünschen, nach dem Meister um. Den fanden sie nicht, wie sie sich aber nochmals dem Bilde zuwandten, da winkte ihnen daraus der Meister zurück, der eben im Begriffe stand, in der Tür eines gemalten Pavillons zu verschwinden. Er war, um mit Kafka zu reden, selbst Gleichnis geworden. Eben damit aber hatte sein Bild magischen Charakter erlangt und war keins mehr. Sein Schicksal teilt Kafkas Welt. / Betrachten wir das Dorf, das am Fuße . . . [fortzusetzen S. 24,8] Ms 245 [im Essay anzuschließen an sehn.*, s.o., S. 19,11:] Es gibt im Traum eine bestimmte Zone, in der der Alb beginnt. An der Schwelle dieser Zone führt der Träumende alle seine körperlichen Innervationen in den Kampf, um dem Alb zu entgehen. Es entscheidet sich aber erst im Kampfe, ob diese Innervationen zu seiner Befreiung ausschlagen oder im Gegenteil den Alb noch drückender machen. Im letzten Fall sind sie dann nicht Reflex der Befreiung sondern der Unterwerfung. Es gibt keine Geberde bei Kafka, die nicht von dieser Zweideutigkeit vor der Entscheidung betroffen würde. / Wenn Max Brod sagt . . . [fortzusetzen S. 19,12] 170
[im Essay anzuschließen an nehmen,, s.o., S. 20,4:] Solche Gesten stellen einen Versuch dar, durch Nachahmung die Unvcrständlichkeit des Weltlaufs gegenstandslos oder seine Gegenstandslosigkeit verständlich zu machen. Die Tiere waren für Kafka da vorbildlich. Man kann seine Geschichten von ihnen auf eine gute Strecke lesen, ohne überhaupt wahrzunehmen, daß es sich gar nicht um Menschen handelt. Vielleicht hieß ihm Tiersein nur, aus einer Art von Scham auf das Menschsein verzichtet haben - so wie ein vornehmer Herr, der in eine Kneipe gerät, aus Scham darauf verzichtet, sein Glas auszuwischen. / »Ich ahmte nach,« sagt in seinem »Bericht für eine Akademie« der Affe, »weil ich einen Ausweg suchte, aus keinem andern Grund.« Dieser Satz enthält aber auch den Schlüssel für den Stand der Schauspieler auf dem Naturtheater. »Gleich hier« sind sie zu beglückwünschen, denn sie dürfen sich spielen, sie sind befreit von der Nachahmung. Wenn es bei Kafka etwas wie einen Gegensatz zwischen Verdammnis und Seligkeit gibt, so hat man ihn nicht in einer Entsprechung verschiedner Werke zu suchen - wie man es hinsichtlich des »Prozesses« und des »Schlosses« getan hat - sondern allein in dem Gegensatz zwischen Welt- und Naturtheater. K. scheint vor dem Ende seines Prozesses eine Ahnung . . . [fortzusetzen S. 23,10] [im Essay anzuschließen an Kafka, s.o., S. 24,31:] Die Luft von diesem Dorf weht bei Kafka; in ihr haben seine Menschen geatmet; ihre Geberden sprechen den versunkenen Dialekt dieser Gegend, der bei Kafka genau zu der gleichen Zeit zum Vorschein gekommen ist wie die ihr so überaus ähnlichen bayrischen Glasbilder, die die Expressionisten damals im Erzgebirge und rundum entdeckt haben. Zu diesem Dorf gehört . . . [fortzusetzen S. 24,32] Ms 246 [im Essay anzuschließen an Gefühls.«, s.o., S. 18,10:] An diese Reinheit des Gefühls appelliert Oklahoma. Der Name »Naturtheater« versteckt nämlich einen Doppclsinn. Sein geheimer besagt: auf diesem Theater treten die Leute ihrer Natur nach auf. Die schauspielerische Eignung, an die man 171
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zuerst denken sollte, spielt nämlich gar keine Rolle. Man kann das aber auch so . . . [fortzusetzen S. 22,37 bis S. 22,39^] . . . Möglichkeit aus. Und hier erinnern wir uns jener verspieltesten Figuren Kafkas, die in der bürgerlichen Gesellschaft gar nichts Seriöses vorstellen wollen und für die unendlich viel Hoffnung vorhanden ist. Das sind die Gehilfen. Solche, nicht mehr als sie, sind wir alle auf dem Naturtheater: Gehilfen eines Spiels, welches freilich auf eine merkwürdige und von Kafka nur ganz unbestimmt behandelte Art an den Vorgang einer Entscheidung gebunden ist. Findet er doch auf einer Rennbahn statt. Vieles scheint darauf hinzudeuten, daß es sich bei diesem Spiel um die Erlösung handelt. / An einer langen . . . [fortzusetzen S. 23,19] [im Essay anzuschließen an Fatum., s.o., S. 21,19:] Sie ist die wolkige Stelle in seinem Weltbild; die Stelle, wo es aufhört, durchsichtig zu sein. Mctschnikoff, der . . . [fortzusetzen S. 21,19]
[Rückseite:] Man kann förmlich erklären: das Verfahren der Odyssee ist das Urbild der Mythenbehandlung Kafkas. In der Gestalt des vielbewanderten und verschlagnen, nie um Rat verlegnen Odysseus meldet, im Angesicht des Mythos, die naive schuldund sündlose Kreatur ihr Recht auf die Wirklichkeit wieder an. Ein Anrecht, das im Märchen verbrieft und ursprünglicher ist als die mythische »Rechtsordnung«, mögen auch seine literarischen Zeugnisse jünger sein. Was die Rolle der Griechen im Abendland unvergleichlich macht, das ist die Auseinandersetzung mit dem Mythos, die sie auf sich genommen haben. Diese aber vollzog sich zwiefach. Während den Heroen der Tragiker am Ende ihrer Passion die Erlösung aufging, ist doch gerade der göttliche Dulder der Epik - Odysseus - mehr noch als im Erleiden ein Muster in dem Vereiteln des Tragischen. Und er ist ein Lehrmeister Kafkas gerade in dieser letzten Rolle gewesen, wie die Geschichte von den Sirenen zeigt. Ms 247
[im Essay anzuschließen an auf., s.o., S. 22,2:] Er hat sie auf ungeheuer nachdrückliche Weise in seinem Werk zu ihrem Recht kommen lassen. Er hat das Rätselhafte und Unverständliche darin forciert und scheint manchmal nicht weit entfernt, mit Dostojewskis Großinquisitor zu sagen: »So haben wir . . . [fortzusetzen S. 22,4 bis S. 22,10] . .. Gewissen.« Eine gewisse, sehr wichtige Perspektive von Kafkas Werk tut sich überhaupt nur von diesem Gesichtspunkt aus auf, wenn er auch keineswegs ausreicht, sie zu ergründen. Es ist die Perspektive des Gestus. Eine große Anzahl der Geschichten und Romanepisoden erhalten erst in ihr das gebührende Licht. Freilich hat es mit diesem Gestus seine ganz besondere Bewandtnis. Er entstammt nämlich Träumen. Es gibt im Traum . . . (1 [s.o., Einschub Ms 246, 1. Stück]) . . . die nicht von dieser Zweideutigkeit vor der Entscheidung betroffen würde. Sie erhält dadurch etwas ungeheuer Dramatisches. In einem unveröffentlichten Kommentar zum »Brudermord« hat Werner Kraft diesen dramatischen Charakter zu klarem Ausdruck gebracht. »Das Spiel . . . [fortzusetzen S. 18,29]
172
[im Essay anzuschließen an darstellt, s.o., S. 18,21:] von Gesten darstellt, die immer wieder neu vom Verfasser inszeniert und beschriftet werden, ohne ihren symbolischen Gehalt einer bestimmten Stelle auszuliefern, (ań den Begriff der Beschriftung ist später bei Bezugnahme auf den stummen Film anzuschließen) [im Essay anzuschließen an Gefühls.«-, s.o., S, 18,10:] vielleicht ist diese Reinheit des Gefühls am unverwechselbarsten in Geberden [im Essay anzuschließen an solcher, s.o., S. 18,25:] solcher Veranstaltungen [dazu s.o., Brief von Adorno vom 17. 12. 1934, S. 105] [im Essay anzuschließen an echte., s.o., S. 23,28:] vielleicht echtc. Man möchte sagen: es ist Kafka eben, mit diesem Kunstgriff, noch geglückt, das zu verhüten. Echte Engel auf seinem Bild der Erlösung hätten es zu einem falschen gc173
m a c h t , (vgl. W i e s e n g r u n d : » D i e u m g e b u n d e n e n F l ü g e l d e r E n g e l s i n d kein M a n k o s o n d e r n i h r >Zug< - sie, d e r o b s o l e t e Schein, sind d i e H o f f n u n g selber u n d k e i n e a n d e r e gibt e s als diese.« [ s . o . , Brief v o n A d o r n o , a . a . O . ] ) M s 248 Z u r A n a l y s e d e r e i g e n t ü m l i c h e n H u m a n i t ä t K a f k a s ist d e r V e r gleich z w i s c h e n L a u t r é a m o n t u n d K a f k a h e r a n z u z i e h e n , d e n G a s t o n B a c h e l a r d : L a u t r é a m o n t Paris 1939 p 14/22 d u r c h f ü h r t . »Le m i e u x est d e c o m p a r e r L a u t r é a m o n t à u n a u t e u r c o m m e K a f k a , q u i vit d a n s u n t e m p s q u i m e u r t . C h e z l ' a u t e u r a l l e m a n d i l s e m b l e q u e l a m é t a m o r p h o s e soit t o u j o u r s u n m a l h e u r . . u n e n l a i d i s s e m e n t . . . . A n o t r e avis K a f k a s o u f f r e d ' u n c o m p l e x e d e L a u t r é a m o n t négatif, n o c t u r n e , n o i r . E t c e q u i p r o u v e p e u t - ê t r e l ' i n t é r ê t d e n o s r e c h e r c h e s s u r l a vitesse p o é t i q u e . . . c ' e s t q u e l a m é t a m o r p h o s e d e K a f k a a p p a r a î t n e t t e m e n t c o m m e u n étrange r a l e n t i s s e m e n t de la vie et de l ' a c t i o n . « p 15/16 D i e g e s a m t e A u s f ü h r u n g ist z u b e r ü c k s i c h t i g e n . M s 254
Editorische Notiz
Dieser Band dokumentiert die über ein Jahrzehnt sich erstreckende Befassung Benjamins mit Kafka in ihren Facetten. Er versammelt die abgeschlossenen Texte, die brieflichen Äußerungen und einen erheblichen Teil aus Hunderten von Aufzeichnungen, in denen solche Befassung Gestalt annahm. Der Rang dieser Zeugnisse - Ausdruck subtiler, die säkulare Bedeutung des Dichters erspürender Auslegung - ist, heute wie ehedem, unbestreitbar. Das allei ri rechtfertigt die Zusammenfassung der p u blikatorisch verstreuten Manifestationen Benjaimnscher Kafka-Interpretation, die Winfried Menninghaus initiierte und deren Anordnung er mitentwarf. Der Band stellt - e r s t e n s - die abgeschlossenen Texte nach Gewicht und Anlaß zusammen: voran den großen Essay von 1934 und den Vortrag von 1931, dahinter die Kafka mittelbar betreffenden Arbeiten zu Brod, die kleine Polemik von 1929 und die Kritik von 1938, Die abgedruckten Texte sind die von Hella Tiedemann-Bartels, Tülman Rexroth und vom Herausgeber für die Gesammelten Schriften seinerzeit kritisch revidierten; die Einzelnachweise finden sich im Anhang zum Textteil (s.o., S. 53 ff.), wo ferner knappe Hinweise auf Entstchungszeiten und Erstveröffentlichungen erfolgen sowie die Fundstellen der Benjaminschen Zitate verzeichnet werden. Die Prinzipien der Textherstellung und -revision sind dargelegt im »Editorischen Bericht« der Ausgabe Walter Benjamin, Gesammelte Schriften. Unter Mitwirkung von Theodor W. Adorno und Gershom Scholem herausgegeben von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser (s. Band I, Frankfurt a.M. 1974, S. 749ft ). Die hier zugrundegelegten textkritischen Apparate, Daten zur Entstehungsgeschichte und - wo vorhanden - Paralipomena zu den einzelnen Arbeiten finden sich in den Bänden II (zu Franz Kafka. Zttr zehnten Wiederkehr seines Todestages : S. 1153 ff. ; zu Franz Kafka: Beim Bau der Chinesischen Matter : S. i458ff.), IV (zu Kavaliersmoral-. S. 1032) und III (zu Max Brod: Eine Biographie. Prag 1937: S. 686ff.) dieser Ausgabe. Es folgt - z w e i t e n s - d i e Zusammenstellung der brieflichen Äußerungen Benjamins über Kafka in der derzeit erreichbaren Vollständigkeit und nach ausschließlich oder überwiegend inhaltlichen Gesichtspunkten; Briefe mit Stellen allein entstehungs- und publikationsgeschichtlichen Interesses wurden nicht zitiert, diese Stellen jedoch dann nicht unterdrückt, wenn sie mit inhaltlichen Äußerungen in aufschlußreichen Zusam menhängen stehen. Soweit die Quellenlage es zuläßt, sind die korrespondierenden Äußerungen aus Briefen Benjaminscher Briefpartner den jeweiligen Stellen zugeordnet. Erhalten - und inzwischen publiziert 175
— ist die nahezu vollständige Korrespondenz Benjamins mit Scholem aus den dreißiger Jahren; sie bildet die Hauptvorlage f ü r den ersten Abschnitt der Briefzeugnisse. Vorlage für den zweiten und dritten Abschnitt ist die - wahrscheinlich vollständige, möglicherweise um das eine oder andere noch sich findende Stück zu ergänzende — Korrespondenz Benjamins mit Werner Kraft und Theodor W. Adorno. In allen drei Abschnitten sind die Briefstücke chronologisch angeordnet. Dabei ist im Auge zu behalten, daß der Transport der Briefe, die in der Regel über weite geographische Strecken liefen, hin und wieder sich verzögerte, eine Antwort also noch unterwegs sein konnte, als ein neuer Brief schon abgesandt war. Die Quellen, nach denen der Abdruck erfolgte, sind jeweils an O r t und Stelle verzeichnet. Hinzufügungen oder Weglassungen des Herausgebers sind durchweg in eckige Klammern gesetzt; bei den Hinzufiigungen sind Anmerkungen derrespektiven Briefeditoren stillschweigend genutzt. Den Beschluß bildet — d r i t t e n s — der Abdruck Benjaminscher Aufzeichnungen, Entwürfe und Notizen zu Kafka. Hier handelt es sich um ein überaus vielfältiges und reiches (Nachlaß-)Materiai, das den über lange Jahre währenden Umgang Benjamins mit den Schriften des Dichters eindrucksvoll bezeugt. Es setzt sich zusammen aus: ersten Aufzeichnungen zum »Prozeß«-Roman; extensiven Notizen und Überlegungen zu einem — nicht zustandegekommenen — Essay über den »Prozeß« und zu dem Vortrag von 1931; Aufzeichnungen, Dispositionen und Exzerpten zum Essay von 1934 samt einer ersten Montage-Fassung des Essays; schließlich Überlegungen, Neu- und Umformulierungen zum Zwecke einer durchgreifenden Umarbeitung des Essays zusamt einem minutiö-
sen Dossier von fremden Einreden und eigenen Reflexionen - überwiegend kommentierten Brief- und Gesprächsexzerpten aus der Diskussion mit Scholem, Kraft, Adorno und Brecht, die eine Art Leitfaden der Revisionsarbeit abgaben und weiterhin hatten abgeben sollen. Das Buch über Kafka, das einen Fluchtpunkt dieser Revisionsarbeit bildete, haben politische und persönliche Umstände Benjamin zu schreiben drastisch verhindert. Das allein verleiht den hinterlassenen Paralipomena ihr Gewicht. Sie wurden seinerzeit im Anmerkungsteil des Bandes II der Gesammelten Schriften, nach streckenweise mühseliger Entzifferung und Rekonstruktion, vollständig publiziert (s. dort, S. 1188ff.). Im vorliegenden Band werden davon etwa zwei Drittel abgedruckt; ausgeschieden wurden - vorab wegen des hier vorwaltenden Interesses an den unausgeführten Arbeiten Benjamins zu Kafka - die Montage-Fassung des Essays (s. a.a.O., S. J-222ÍÍ.), biographische Materialien u.a., hinzugefügt die Notizen über die Gespräche mit Brecht sowie das frühe Stück/¿¿с emes Mysteriums. Die Übersicht über die abgedruckten Paralipomena ist dem detaillierten Inhaltsverzeichnis am Anfang des Bandes zu entnehmen. 176
Dort - wie im Text - sind die kursiv gesetzten Untertitel vom Herausgeber, die übrigen von Benjamin selbst formuliert; die Zwischentitel strukturieren das Aufzeichnungsmaterial, soweit eruierbar, chronologisch. Die Quellen sind wiederum an O r t und Stelle nachgewiesen. Zusätze des Herausgebers - hier in der Regel Rückverweise auf die abgeschlossenen Texte, Verweise auf andere Aufzeichnungen, Briefe und Literatur - stehen in eckigen Klammern; der Gebrauch geschweifter Klammern ist anläßlich des ersten Vorkommens im Text erläutert. An dieser Stelle gedenkt der Herausgeber, zusammen mit Roif Tiedemann, Tillman Rexroths, eines der Mitherausgeber der Gesammelten Schriften, der im Dezember 1979 seinem Leben ein Ende setzte. März 1980 Der Herausgeber
Walter Benjamin im Suhrkamp Verlag
Gesammelte Scbrißen Unter Mitwirkung von Theodor W. Adorno und Gershom Scholem Herausgegeben von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser In Zusammenarbeit mit Tillman Rexroth und Hella Tiedemann-Bartels Band I: Abhandlungen. 3 Teilbände. Herausgegeben von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. 1974. 1275 Seiten Band Iis Aufsätze. Essays. Vorträge. 3 Teilbände. Mit beigegebenem 7oseitigem vorläufigen Inhaltsverzeichnis der Bände I-IV. Herausgegeben von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. 1977. 1528 Seiten Band III: Kritiken und Rezensionen. Herausgegeben von Hella Tiedemann-Bartels. 1972. 727 Seiten Band IV: Kleine Prosa. Baudelaire-Übertragungen, 2 Teilbände. 1972. Herausgegeben von Tillman Rexroth. 1148 Seiten edition suhrkamp Briefe. 2 Bände Herausgegeben und mit Anmerkungen versehen von Theodor W. Adorno und Gershom Scholem es 930. 1978. 884 Seiten Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit es 28. 1963. 158 Seiten Uber Kinder, Jugend, Erziehung Mit Abbildungen von Kinderbüchern und Spielzeug aus der Sammlung Benjamin es 391. 1969. 128 Seiten Versuche über Brecht Herausgegeben und Nachwort von Rolf Tiedemann es 172. 1966. 168 Seiten Zur Kritik der Gewalt und andere Aufsätze Mit einem Nachwort versehen von Herbert Marcuse es 103. 1965. 109 Seiten
Bibliothek Suhrkamp Berliner Chronik Nachwort von Gershom Scholem BS 2 j i . 1970. 136 Seiten Berliner Kindheit um 1900 BS 2. 1950. 184 Seiten Denkbilder BS 407. 1974. 144 Seiten Deutsche Menschen Eine Folge von Briefen. Auswahl u n d Einleitung von Walter Benjamin. Mit einem Nachwort von Theodor W. A d o r n o BS 547. 1977. 134 Seiten Einbahnstraße. Aphorismen BS 27. 1955. 130 Seiten Uber Literatur BS 232. 1969. 208 Seiten
suhrkamp taschenbücber Der Stratege im Literaturkampf Zur Literaturwissenschaft st 176. 1974. 146 Seiten Illuminationen. Ausgewählte Schriften Herausgegeben v o n Siegfried Unseld st 345. 1977. 414 Seiten Uber Haschisch Novellistisches, Berichte, Materialien. Herausgegeben v o n Tillman Rexroth. Einleitung von H e r m a n n Schweppenhäuser st 21. 1972. 160 Seiten suhrkamp taschenbücber Wissenschaft Charles Baudelaire. Ein Lyriker im Zeitalter des Hochkapitalismus. Zwei Fragmente Herausgegeben u n d mit einem N a c h w o r t u n d Rolf Tiedemann stw 47. 1974. 196 Seiten Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen R o m a n t i k Herausgegeben von H e r m a n n Schweppenhäuser stw 4. 1973. 120 Seiten Ursprung des deutschen Trauerspiels Herausgegeben von Rolf Tiedemann stw 22 5. 1977. 240 Seiten
Ernst Tugendhat Vorlesungen zur Einführung in die sprachanalytische Philosophie stw 4j. JJ4 Seiten Gegenüber der Vorstellung, die analytische Philosophie habe die Perspektiven der zentralen Themen der traditionellen Philosophie verloren, möchte Tugendhat zeigen, d a ß eine »erste Philosophie« - in der Antike die Ontologie, in der Neuzeit die Transzendentalphilosophie - sich nur auf einer sprachanalytischen Basis erneuern läßt. Es sind die t r a d i tionellen Leitbegriffe selbst - die Begriffe des Apriori, des Seins, des Gegenstandes, der Wahrheit, der Vernunft -, die in diese Richtung weisen, sobald man versucht, sie scharfer zu klären, als es mit den traditionellen Mitteln möglich war. Auf diesem Weg, der von den traditionellen G r u n d positionen zur analytischen Philosophie f ü h r t , soll zugleich die analytische Philosophie ihrerseits in einen Reflexionsprozeß über ihre G r u n d f r a g e n u n d Methoden gebracht w e r den.
Ernst Tugendhat Selbstbewußtsein und Selbstbestimmung Sprachanalytische Interpretationen stw 221. 364 Seiten Tugendhat will die philosophische Relevanz der Selbstbeziehung reaktualisieren, h ä l t aber die strukturellen Modelle, an denen sich die traditionelle Selbstbewußtseinstheorie orientiert, f ü r i n a d ä q u a t . Im Mittelpunkt seiner sprachanalytischen Interpretationen stehen deswegen drei Philosophen, die diese Modelle in Frage stellen und sich dabei gegenseitig ergänzen: Wittgenstein, der der Vorstellung von einem Ich die Verwendung des Wortes »ich« entgegenhält; Heidegger, der den Selbstbezug statt als Reflexion als ein Verhalten zur Existenz versteht; und G. H. Mead, dem zufolge m a n sich zu sich nur verhalten kann, indem man mit sich redet, und dies nur, indem man mit anderen redet. Die Auffassung des Zusammenhangs von Selbstbeziehung, Freiheit und Vernunft, die sich herausstellt, f ü h r t am Ende des Buchs zu einer schroffen K o n frontation mit Hegel.
Alphabetisches Verzeichnis der suhrkamp taschenbücher Wissenschaft Adorno, Äscher Luche Theorie 2 - Drei Studien zu Hegel iso - Einleitung in die Musiksoziologie 14z - Kierkegaard 7 - Negative Dialektik 113 - Philosophie der D Das Mntterredit< 136 Barth, Wahrheit und Ideologie 68 Becker, Grundlagen, der Mathematik 114 Benjamin, Charles Baudelaire 47 - Der Begriff der Kunstkritik 4 - Trauerspiel 2.2 j Materialien zu Benjamins Thesen >Über den Begriff der Geschichte« tu Bernfeld, Sisyphos 37 Bili, Studien über Angst und Schmerz 44 - Wie frei ist der Mensch? 17 Bloch, Das Prinzip Hoffnung 3 - Geist der Utopie 3 j - Naturredit 250 - Philosophie d. Renaissance 152 - Subjekt/Objekt iyi - Tübinger Einleitung ijj Materialien zu Blochs >Fricizip Hoffnung' rn Blumenberg, Aspekte der Epexhenschwelle: Cusaner und Nolan er 174 - Der Prozeß der theoretischen Neugierde 24 - Säkularisierung und Selbstbehauptung 79 - Sdiiffbruch mit Zuschauer 285 Böckenförde, Staat, Gesellschaft, Freiheit 163 Böhme/van deu Daele/Krohn, Experimentelle Philosophie zoj; Böhme/y, Engelhardt (Hrsg.), Entfremdete Wissenschaft ¿78 Bourdieu, Entwurf einer Theorie der Prasis 231 - Zur Soziologie der symbolischen Formen 107 Broué/T¿mime, Revolution und Krieg in Spanien.
Danto, Analytische Geschithtsphilosophie 328 Deborin/Budiarin, Kontroversen 64 Dileuze/Guattari, Anti-Ödipus 114 Denninger (Hrsg.). Freiheitliche demokratische Grundordnung. л Bde. ijo Denninger/Lviderssen, Póliza und Strafprozeß »28 Derrida, Die Schrift und die Differenz 177 Dreeben, Was wir in der Sdiule lernen 294 Dubiel, Wissenschaftsorganisation 258 Durkheim, Soziologie und Philosophie 176 Ecks ta e dt/K Iii wer (Hrsg.), Zeit allein heilt keine Wunden 308 Eco, Das offene Kunstwerk 222 Eder, Die Entstehung Staad. organisierter Gesellschaften 332 Ehlieh (Hrsg.), Erzählen im Alltag 323 Einführung in deal Strukturalismus 10 Eliade. Schamanhmus 12Í Elias, Ober den Prozeß der Zivilisation, BcL t 158 - Ober den Prozeß der Zivilisation, Bd, z r у 9 Materialien zu Elias' ZivjlisationStheorie 133 Erikson, Der junge Mann Luther 117 - Dimensionen einer neuen Identität ioo - Gandhis Wahrheit ítíj - Identität unti Lebenszyklus ií Erlich, Russischer Formalismus IX Ethnomethodologie (hrsg. v. Weingarten/Sach/ Schenhein) 71 Euch ner, Naturrecht und Politik hei John Locke zSo Fetschei, Rousseaus politische Philosophie 143 Ficht«, Politische Schriften (hrsg. v. Batsdia/Saage) 101
Fleck, Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache 311 Foucault (Hrsg.), Der Fall Rivière 128 - Die Ordnung def Dinge - Überwachen und Strafen 184 - Wahnsinn und Gesellschaft 39 Frank, Das Sagbare und das Unsagbare 317 Friedensutopien, Kant/Fich*-e/S Kritische Darstellung der Metaphysik 3TS Furth* Intelligenz und Erkennen 160 Goffman, Rahmen-Analyse 32g - Stigma 40 Gombrich, Meditationen über ein Steckenpferd 237 Goudsblom, Soziologie auf der Waagschale 223 Grewendorf (Hrsg.)» Sprechakttheorie und Semantik 276 2 Bd«- "8 Griewank, Der neuzeitliche Revolutions!«griff fz Butharin/Deborinv Kontroversen 64 Groethuysen, Die Entstehung van den Daele, Krohn, Weingart (Hrsg-)» Geplante Materialien zu Hegels Rechtsphilosophie Bd. 188 Forschung *251 Materialien zu Hegels Rechtsphilosophie Bd, г 89
Helfer/K empe, Das geschlagene Kind 247 Heller, u. a., Die Seele und das Leben 83 Henie, Sprache, Denken, Kultur 120 Höffe, Ethik und Politik 266 Höristh (Hcsg.), leb möchte ein soldier weiden wie... 283 Hönnann, Meinen und Verstehen 230 Holbach, System der Natur 2J9 Holcniteirt, Roman Jakobsons phänomenologischer Strukturalismus n£ - Von der Hintergehbarkcit der Sprache Jitf Hymes, Soïiolinguïstik 299 Jäger (Hrsg.), Kriminologie im Strafprozeß 309 Jseggi, Theoretische Praxis 149 Jaeggi/Honneth (Hrsg.), Theorien des Historischen
- Mythologies TI, Vom Honig zur Asche 163 - Mythologica III, Der Ursprung der Tischsitteö 1Í9 - Mythologica IV, Der nackte Mensch, a Bde. 170 - Strukturale Anthropologie 1 226 - Traurige Tropen 240 Lindner/Lüdke (Hrsg.), Materialien zur ästhetischen Theorie Th. W. Adornos. Konstruktion der Moderne 122 Locke, Zwei Abhandlungen 213 Loreiizen, Konstruktive Wissenschaftstheorie 93 - Methodisches Denken 73 Lorenzer, Die Wahrheit der psychoanalytischen Erkenntnis 173 - Spradupiel und Interaktionsformen 81 Materialismus jij. - Spnuhzerstörung und Rekonstruktion 31 Jacobson, E. Das Selbst und die Welt der Objekte 24zLüderssen (Hrsg.) Seminar: Abweichendes VerhalJakobson,, R„ Hölderlin, Klee, Brecht ïiSi ten IV 87 - Poetik 2Ê2 Lüderssen/Sadc (Hrsg.), Vom Nutzen tind Nachteil Kant, Die Metaphysik der Sitten 190 der Sozialwissensdhaften für das Strafrecht 327 - Kritik der praktischen Vernunft 56 Lüderssen/Seibert (Hrsg.), Autor und Täter 2.61 - Kritik der reinen Vernunft 55 Ługowski, Die Form der Individualitat im Roman - Kririk der Urteilskraft 57 1ST - Sdiriften zur Anthropologie r 192 Luhmann, Theorie, Technik und Moral 206 - Schriften zur Anthropologie 1 Í93 - Zweckbegriff und Systemrationalität 12 - Schriften zur Metaphysik und Logik 1 iSB Lukács, DeT junge Hegel 33 - Schriften zur Metaphysik und Logik 2 189 Macpherson, Politische Theorie des Bcsitzindividua- Schriften zur Naturphilosophie 191 lismus 41 - Vorkritische Schriften bis 1768 1 18 6 Malinowski, Eine wis sens diafclidie Theorie der Kul- Yorkritische Schriften bis 1768 г 187 tur 104 Kant zu ehren 61 Mandeville, Die Bienenfabel 300 Materialien zu Kants >Kritik der praktischen VerMarkis, Protophilosophie 318 nunft í9 deMause. (Hrsg.), Hört ihr die Kinder weinen 339 Materialien zu Kants »Kritik der reinen Vernunft« j8 Marten« (Hrsg.), Kindliche Kommunikation 471 Materialien zu Kanes »Kritik der Urteilskräfte 60 Marxismus und Ethik 7$ Materialien zu Kants »Rechtsphilosophie« 171 Mead, Geist, Identität und Gesellschaft 28 Kenny, Wittgenstein 69 Mehrteas/Richter (Hrsg.), Naturwissenschaft, Keupp/Zaumseil (Hrsg.), Gesellschaftliche OrganiTechnik und NS-Ideologie 303 sierung psychischen Leidens 246 Menne, Psychoanalyse und Unterschicht 3Ć1 Kierkegaard, Philosophische Brocken 147 Menningsr, Selbstzerstörung 24? - Über den Begriff der Ironie 127 Merleau-Ponty, Die Abenteuer der Dialektik ioj Koch (Hrsg.)» Die juristische Methode im Staatsrecht Miliband, Der Staat in der kapitalistischen Gesell198 schaft uz Körner, Erfahrung und Theorie 197 Minder, Glaube, Skepsis und Rationalismus 43 Kohut, Die Zukunft der Psychoanalyse 115 Mittelstraß, Die Möglichkeit von Wissenschaft Äa - Introspektion, Empathie und Psychoanalyse 107 - (Hrsg.), Methodenprobleme der Wissenschaften - Narzißmus. if7 vom gesellschaftlichen Handeln 270 Kojèye, Hegel. Kommentar zur »Phänomenologie Mommsen, Max Weber jj da Geisten 57 Moore, Soziale Ursprünge топ Diktatur und DemoК Melleck, Kritik und Krise y6 kratie $4 Kûyrf, Von der geschlossenen Welt Zum unendlichen Mortis, Pragmatische Semiotik und HandlungsUniversum 320 theoric 179 Kracsuer, Der Detektiv-Roman г.97 Needhaxns Wissenschaftlicher Universalismuá ¿64. - Geschichte ~ Vor den letzten Dingen 11 Neurath, Wissenschaftliche Weltauffassung, Kuhn, Die Entstehung des Neuen 236 Sozialismus und Logischer Empirismus - Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen 1J Nowotny, Kernenergie! Gefahr oder NotwendigLacan, Schriften j 137 keit Ì9C1 Lange, Geschichte des Materialismus 70 O'Connor, Die Finanzkrise des Staates 83 Laplanche/Poncalis, Das Vokabular der Oehnüller, Unbefriedigte Aufklärung 2Í3 Psychoanalyse 7 Oppitz, Notwendige Beziehungen 101 Leach, Kultur und.Kommunikation zìi Parin/Morgen thaler, Fürchte deinen Nächsten 135 Leclaire, Der psychoanalytische Prozeß ГТ9 Parsons, Gesellschaften iaS Leaneberg, Biologische Grundlagen der Sprach« 217 Parsons/Schütz, Briefwechsel 20z Leiski, Macbt und Privileg 183 Peukerr, Wissensdiaftstheorie 231 Lepenies, Das Ende d. Naturgeschichte 227 Piaget, Das moralische Urteil beim Kinde 27 Leiminger, Reflexionen über die Universal- Die Bildung de« Zeitbegriffs beim Kinde 77 grammatik 282 - Einführung in die genetische Erkenntnistheorie 6 Uvi-Strauss, Das wilde Denken 14 Plessner, Die verspätete Nation 66 " Mythologie! I, Das Rohe und das Gekochte Polanyi, Ökonomie und Gesellschaft 295 167 - Transformation 260
Pon talis, Nach Freud lot - Politische Ökonomie (hrsg. v. Vogt) 11 Pontalis/Laplandie, Das Vokabular der Psycho- Regelhegrlff in der praktischen Semantik analyse 7 (htag. v. Heringer) 94 Propp, Morphologie des Märchens Z31 - Religion und gesellschaftliche Entwicklung Quine, Grundzüge der Logik 6 j (hrsg. v. Seyfarth/Sprondel) 38 Rawls, Eine Tbeorie der Gerechtigkeit 271 - Spradie und Ethik (hrsg. v. Grewendorf/Meggle) Redl i eh/ Fr eedm an, Theorie und Praxis der Psychia- 91 trie, 2 Bde. 148 - Theorien der küns der Ì5 dien Produktivität lliceeur, Dit Interpretation 76 (hrsg. v. Curtius) 166 Ritter, Metaphysik und Politik 199 Simitis u. ł., Kindeswohl 292 v. Savigny, Die Philosophie der normalen Spradie Skirbekk (Hrsg.), Wahrheitstheorien 110 Solla Price, Little Science — Big Science. 48 Schadewal dt, Anfange der Philosophie it8 Spinner, Pluralismus als Erkenntnismodell ja Schelling, Philosophie der Offenbarung 181 Sprachanalyse und Soziologie (hrsg. v. Wiggernhaus) - Uber das Wesen der menschlichen Freiheit 138 "3 Materialien łu Schçllingg philosophischen Anfängen Sprache, Denken, Kultur (hrsg. v. Henie) 120 139 Strauss, Anselm, Spiegel und Masken 109 Strauss, Leo, Naturredit und Geschidite ±16 Schleiermacher, Hermeneutik und Kritik 211 Szondi, Das lyrische Drama des Fin de siècle 90 Schilde, Allgemeine Erkenntnialehrs 269 Schiudi ter, Rationalismus der W eltb eh er rsthung 322 - Einführung in die literarische Hermeneutik 114 Poetik und Geschichtsphilosophie I 40 - (Hrsg.), "Verhalten, Handeln und System 310 - Poetik und Geschiditsphilosophie II 72 Scholem, Die jüdische Mystik 330 Schriften i 219 - Von der mystischen Gestalt der Gottheit 209 - Schriften 2 220 - Zur Kabbala. und ihrer Symbolik 13 - Theorie des bürgerlichen Trauerspiels 1 s Schütz, Der sinnhafte Aufbau deT sozialen. "Welt 92 - /Lu çkmann, Strukturen der Lebern weit Bd. Ï Témime/Broué, Revolution und Krieg in Spanien. 2 Bde. ii в 284 Theorietechnik und Moral 206 Schamann, Handel mit Gerechtigkeit 214 Theunissen, Sein und Schein 314 Schwemmer, Philosophie der Praxis 331 Theunissen/Greve (Hrsg.), Materialien zur PhiloSeminarr Abweichendes Verhalten I sophie Kierkegaards 241 (hrsg, т. Lii der ss e n/Sack) 84 Touraine, Was nützt die Soziologie? 133 - Abweichendes Verhalten II Troicwch/Wohlauf (Hrsg.), Technik-Geschichte 319 (hrsg. v. Lüderssen/Sack) Tugendhat, Selbstbewußtsein und Selbst- Abweichendes Verhalten III bestimmung m (hrsg. v. Lüder ss e n/Sack) 86 - Vorlesungen zur Einführung in die spradh- Abweichendes Verhalten IV analytische Philosophie 45 (hrsg. v. Liiderssen/Sack) 87 UerküU, Theoretische Biologie 20 - Angewandte Sozialforschung Ullrich, Technik und Herrschaft xyj (hrsg. v. Badura) 153 - Dialektik 1 (1mg. v. Hotstmann) 234 Umweltforsdmng - die gesteuerte Wissenschaft 21 j - Entstehung der antiken K lassengesellschaft WaîirheitstheoTÏen 210 (hrsg. v. Kippenberg) 130 Waldcnfels, Der Spielraum dei Verhaltens 311 - Entstehung von Klassengesellschaften Waldenfelâ/BToekman/Païanin (Hrsg.), Phäno(hrsg. v. Eder) 30 menologie und Marxismus I 19$ - Familie und Familienredit I - Phänomenologie und Marxismus II 196 (hrsg, v. Simili s/Z e nz) idz - Phänomenologie und Marxismus III 232 - Familie und Familier.redit II - Phänomenologie und Marxismus IV 273 (brag. v. Simitis/Zenz) 103 Watt, Der bürgerliche Roman 78 - Familie und Gesellschafcsstruktur Weimann, Literaturgeschichte und Mythologie (hrsg. v. Rosenbaum) 144 204 - Freies Handeln und Determinismus Weingart, Wissensproduktion und soziale Struktur T (hrsg. v. Pothast) 257 5J - Geschichte und Theorie Weingarten и. a. (Hrsg.), Ethnomethodologie 71 (hrsg. v. Baumgartner/Rüsen) 98 Weìzenbaitm, Macht der Computer 274 - Gesellschaft und Homosexualität Weizsäcker, Der Gestaltkreis 1$ (hrsg. v. Lautmanu) 200 Wesel, Der Mythos vom Matriardiar 333 - Hermeneutik und die 'Wissenschaften Wînch, Die Idee der Sozialwissenschaft und ihr Ver* (hrsg. v. Gadamer/Boehm) 238 hälenis zur Philosophie 9J - Kommunikation, Interaktion, Identität Wittgenstein, Das Blaue Büdt. Eine philosophische {hrsg. v. Auwärter/Kirsdi/Sdiröter) xj6 Betrachtung (Das Braune Bu^i) 313 - Literatur- und Kunstsoziologie - Philosophische Grammatik J (hrsg, у, Bürger) ¿4J - Philosophische Untersuchungen 203 - Medizin, Gesellschaft, Geschidite Wunderlich, Studien zur Sprechakttheorie 172 (hrsg. v. Deppe/Regus) 67 Zilsel, Die sozialen Ursprünge der neuzeitlichen - Philosophisch e Hermeneutik Wissenschaft ij2 (hrsg. v. Gadamer/Boehm) Г44 Zimmer, Philosophie und Religion Indiens 26
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