HANS FALLADA Über den doch vorhandenen Widerstand der Deutschen gegen den Hitlerterror
Ein dünner Band Akten liegt vor ...
20 downloads
686 Views
180KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
HANS FALLADA Über den doch vorhandenen Widerstand der Deutschen gegen den Hitlerterror
Ein dünner Band Akten liegt vor mir, etwa 90 Seiten stark, begonnen und zum Hauptteil ausgeschrieben von der Gestapo in Berlin, beendet von dem Volksgerichtshof ebenfalls in Berlin. In diesem Band Akten erfüllt sich das Schicksal zweier Menschen; nun, in meine Hände gekommen, soll er den Rohstoff für einen Roman abgeben. Prüfen wir einmal, was dieser Akt an Material enthält, ohne Zu- oder Abneigung, rein sachlich, wie etwa ein Tischlermeister seine Bretterstapel auf ihre Verwendbarkeit durchgeht. Im Norden der Stadt Berlin lebten in den Jahren 1940 bis 1942 zwei Eheleute, beide um die Vierzig herum, nicht mehr jung, noch nicht alt, ohne Kinder, mit wenig Verwandtschaft, die sie auch kaum sahen. Er war Einrichter in einer Metallwarenfabrik mit einem Wocheneinkommen von 40 RM, was, nach einer Bemerkung im Urteil des erkennenden Volksgerichtshofes zu schließen, als ein geradezu fürstliches Einkommen anzusehen ist (der urteilende Herr Präsident des Volksgerichtshofes dürfte nicht unwesentlich mehr verdient haben). Betrachtet man dieses Mannes – nennen wir ihn Otto Quangel – Photo bei den Akten, aufgenommen während der Untersuchungshaft, en face, von rechts und von links, so hat man zuerst den Ein1
druck von einem kleinen Unterbeamten, ein Dutzendgesicht, kaum gesehen, schon vergessen. Bei näherem Zusehen freilich fällt sofort der sehr lange, aber fast lippenlose Mund auf, wie mit einem Rasiermesser geschnitten. Dann die hohe, doch stark zurückfliehende Stirn. Etwas Erbarmungsloses, Fanatisches liegt in diesem Mund, freilich läßt die flüchtige Stirn auf nicht erhebliche geistige Fähigkeiten schließen. Dieser Otto Quangel hat an die zwanzig Jahre in dem gleichen Betrieb, in demselben Werkraum mit etwa 80 Männern gearbeitet, er hat sich in diesen zwei Jahrzehnten dort nicht einen einzigen Freund erworben, er hatte nie ein persönliches Wort bei der Arbeit gesprochen, das über das Einfachste, Alltäglichste hinausging, wie er auch, ich bemerkte es schon, mit seinen wenigen Verwandten kaum Umgang hatte. Ein Einzelmensch also, entschlossen, seine Isoliertheit aufrechtzuerhalten, die nur eine teilte, seine Frau. Diese Frau nun, Anna Quangel, war seine zweite Frau, die erste war ihm gestorben. Als sie sich verheirateten, waren beide schon Mitte der Dreißig. Anna Quangel stammte vom Lande, aus einer der ärmsten Gegenden der Mark. Viele Jahre war sie in Berlin Dienstmädchen gewesen. Wie sich die beiden kennenlernten, warum sie einander heirateten, ob aus Furcht vor einem einsamen Alter, ob aus Zuneigung, darüber sagen die Akten nichts. Es liegt auch kein Bild von ihr vor, bezeichnend genug: der Mann wird wenigstens noch eines Photos gewürdigt, die Frau aber, die mit ihm durch das Henkerbeil sterben mußte, genießt nicht einmal solche Ehre. Der nationalsozialistische Staat hat eben nie die Frau für voll genommen, sie durfte gebären, auch wählen, sonst war sie absolut gleichgültig, selbst, wie dieses Beispiel lehrt, als Verbrecherin. Was diese beiden Menschen aber auch zusammengeführt haben mag, sie haben jedenfalls eine rechte Ehe miteinan2
der geführt, wenn man unter Ehe die völlige Übereinstimmung von Gefühl und Gesinnung, das bedingungslose Eintreten füreinander versteht. In der Untersuchungshaft, getrennt voneinander, beide unter der tödlichen Drohung des Hoch- und Landesverrates, sucht jedes eifrig, den Hauptteil der Schuld von dem anderen abzuwälzen und auf die eigenen Schultern zu nehmen. Nur an einer Stelle, nämlich im Urteil des Volksgerichtshofes, wird etwas anderes behauptet, nämlich, daß jedes das andere anzuschwärzen versucht habe. In diesem Urteil stehen aber so viele erweisliche Lügen, daß ich es vorziehe, dem während siebenmonatiger Untersuchungshaft stets gleichlautenden Protokoll Glauben zu schenken: nicht der andere, ich trage die Hauptschuld! Diese beiden Eheleute Quangel, zwei bedeutungslose Einzelwesen im Norden Berlins, fast arm, ohne Hilfsmittel, ohne besondere Fähigkeiten, ohne Anhang, nehmen eines Tages im Jahre 1940 den Kampf auf gegen die ungeheure Maschinerie des Nazistaates, und das Groteske geschieht: der Elefant fühlt sich von der Maus bedroht! Die ganze Macht, alle List und Gewalt werden gegen die Maus in Bewegung gesetzt, ein beispielloser Apparat beginnt zu arbeiten, um diese beiden Menschlein zu fangen. Der Elefant zittert, er kann kaum noch schlafen, da sind diese Feinde im Dunkeln, sie müssen gefangen, sie müssen erlegt werden! Wie kamen nun die beiden Quangels, die bis zu der Mitte ihrer Jahre mit nichts vom allgemeinen Schritt und Tritt abgewichen waren, dazu, plötzlich aus Reih und Glied zu treten und Hitler, dem Führer, den Kampf anzusagen, einen Kampf, der angesichts der erdrückenden Übermacht doch nur schlimm für die beiden Vereinzelten ausgehen konnte? Drei Gründe geben sie in ihren Aussagen direkt oder indirekt an, die sie zu einem so folgenschweren Schritt be3
stimmt hatten, die eine solch völlige Abwendung von der Vergangenheit verursachten. Denn sie waren bis 1940 Nazis, getreue Anhänger des Führers, bereit, jeden seiner Befehle durchzuführen. Sie haben sogar Ämter gehabt, er, Otto Quangel, einen kleinen Posten in der Arbeitsfront, sie, Anna Quangel, einen schon wichtigeren in der Frauenschaft. Sie geben nun gleichlautend zu Protokoll, daß die vielen Ungerechtigkeiten, die sie gerade bei der Ausübung ihrer Ämter erlebt hätten, ihrem Sinn für Gerechtigkeit zuwider gewesen wären. Der Unterschied, der zwischen „Parteigenossen“ und „Volksgenossen“ gemacht worden sei, habe sie empört. Man merke wohl auf, so geben sie es zu Protokoll, und der vernehmende Beamte schreibt es ohne Randbemerkung nieder: der Unterschied zwischen „Parteigenossen“ und „Volksgenossen“. Es gilt also als ausgemacht, nicht nur bei den empörten Quangels, sondern auch bei dem protokollierenden Gestapomann, daß es nach der Terminologie des Nationalsozialismus Volksgenossen und Parteigenossen gab, wobei die Parteigenossen natürlich das weitaus Höherstehende waren. Über der sogenannten Volksgemeinschaft lebte erhaben die Partei. Der eine Grund zur Empörung ist also der verletzte Gerechtigkeitssinn der beiden, der andere, der dann wohl die Entscheidung herbeigeführt hat, ist der Tod des Bruders der Frau in Frankreich. Sie bekommen die Nachricht, daß der junge Mensch gefallen ist. Diesen Beweggrund glaube ich der Frau wohl, dem Manne weniger. Ihm, der sich kaum um die eigenen Verwandten, um die Eltern kümmerte, wird der Tod des Schwagers nicht sehr nahegegangen sein. Erst auf dem Umweg über die wirklich trauernde Frau hat er dann mitgetrauert, hat das so nutzlos dahingeopferte junge Leben bedacht, und aus stillem, langem Zweifel ist Empörung und Feindschaft geworden. 4
Wie viele einsam lebende Menschen, auch wie viele einfach empfindende Menschen haben die beiden (dazu gänzlich ohne Phantasie) geglaubt, sie erlebten Einmaliges, was ihnen widerfahren, sei noch niemandem geschehen. Sie sahen es ja mit ihren eigenen Augen: die Welt um sie ging unverändert den gleichen Gang, so sehr sie sich auch verändert hatten. Immer weiter berichteten die Zeitungen von Siegen, der ihnen jetzt so verhaßte Nationalsozialismus sollte und wollte über die Welt triumphieren, der Feind, der Hitler, gewann die Oberhand und durfte es doch nicht! Da regte es sich in ihnen, das, was sie erfahren, auch den anderen mitzuteilen, Gesinnungsgenossen zu gewinnen, dem Feinde Schwierigkeiten zu machen. Bei wem zuerst der Gedanke entstanden ist, sie wußten es später selbst nicht mehr, genug, eines Sonntags setzt er sich hin und malt mühsam in Blockschrift, in einer Kunstschrift, die nichts von der eigentlichen Handschrift des Schreibers verrät, seine erste Karte, etwa des Inhalts: „Glaubt dem Hitler seine Lügen nicht mehr! Er will euch nur ins Verderben stürzen. Arbeitet langsam, noch langsamer! Gebt vor allem nichts dem Winterhilfswerk …“ Die Frau sitzt dabei, sie wirft ab und zu ein Wort ein, macht einen Vorschlag. Mühsam genug ist die Arbeit, schreibt er den ganzen Sonntag, so werden nicht mehr als zwei, höchstens drei Karten fertig, unorthographisch, unbeholfen im Ausdruck. Später, als der Überfall auf Rußland ihrer Empörung neuen Nährstoff gibt, schreibt er auch dann und wann längere Briefe. Die kosten mehrere Sonntage Arbeit: „Was haben uns denn die Russen getan? Karten gespielt haben die russischen Soldaten, als Hitlers Mordbanden sie überfielen“ usw. Aber in jedem dieser Briefe, auf jeder Karte wiederholt sich eine Mahnung: „Gebt nichts dem Winterhilfswerk!“ 5
Hier haben wir den dritten Beweggrund zum Kampf gegen Hitler: man denke an diesen dünnlippigen, schmalen Mund, die zurückweichende Stirn – dieser Mann muß sparsam, vielleicht sogar geizig gewesen sein. Ihm blutete das Herz über den Lohnabzug für das WHW, über die Bettler des Kanzlers, die an jedem Eintopfsonntag auftauchten. Es tat ihm förmlich weh, daß er dem Feinde auch noch Geld geben mußte, neue Waffen zu schmieden. Nein, keinen Pfennig für das WHW! Die Karten sind geschrieben, nun müssen sie verbreitet werden. Meist tut das der Mann allein, in seltenen Fällen die Frau, öfter noch gehen sie gemeinsam, wobei die Frau auf der Straße Schmiere steht, was aber eigentlich gar nicht nötig ist, denn es gibt da kaum Gefahr. Auch dies ist von ihnen genau vorher bedacht: sie wählen nur Häuser, in denen Ärzte oder Anwälte wohnen, in denen also reger Publikumsverkehr herrscht. Der Mann steigt die Treppen hoch, er legt die Karten auf den Sims des Fensters oder auch einfach auf eine Treppenstufe, er steigt die Treppe wieder hinunter, er ist auf der Straße: so, es ist geschehen, die Gefahr ist vorbei. Bei den ersten Malen hat vielleicht noch das Herz geklopft, später geschieht das alles mit fast nachtwandelnder Sicherheit, gewohnheitsmäßig, ohne Gedanken an Gefahr. Dann sitzen sie abends beisammen und sprechen von der Wirkung, die diese Aufrufe tun werden. Sie sehen die Karten wandern von Hand zu Hand, es ist ihnen, als müßte die Wirkung auf die Umwelt sichtbar werden, sehr bald schon, vielleicht schon morgen! Nicht umsonst hat er ja fast immer darauf geschrieben: „Gebt diese Karte weiter, laßt auch andere sie lesen!“ So weltfremd sind sie nicht, sie rechnen damit, daß ein Teil der Karten bei der Polizei oder der Partei abgegeben wird, aber sie erwarten mit Bestimmtheit, daß der Hauptteil weitergegeben seine 6
Wirkung tun wird. Darauf warten die beiden Eheleute Quangel. Die Karten liegen nun in den Treppenhäusern, sie werden gefunden und sie werden – wohl fast alle – sofort abgegeben! Über 220 solcher Karten und Briefe sammeln sich schließlich bei der Gestapo. Wenn man die langsame Arbeitsweise des Mannes Quangel bedenkt, so kann er in der fraglichen Zeit kaum mehr Karten geschrieben haben. Im höchsten Falle können fünf bis zehn Aufrufe nicht abgegeben worden sein, und auch diese sind wohl eilig und furchtsam gelesen und sofort vernichtet, weggespült worden. Welch kläglicher Erfolg solch hartnäckiger Bemühungen! Welch unbegreifliches Volk, das nicht einmal schonend schweigen kann, das den Andersdenkenden sofort denunzieren muß! Welche Verängstigung aller, aber auch aller, die sich in der übereiligen Abgabe dieser Karten kundgibt! Ein Volk von Verrätern, großgezogen von einem Staats-Verführer, in dem die Denunzianten Ehre und Beförderung erfahren, in dem der Vater nicht vor der Anzeige des Sohnes, die Schwester nicht vor der Anzeige des Bruders sicher ist! Auf der Gestapo sammeln sich unterdes die Karten in einem bestimmten von Hunderten und aber Hunderten von Geschäftszimmern. Ein bestimmter von Hunderten und aber Hunderten von Gestapobeamten wird mit der Ermittlung des oder der Täter beauftragt, er führt den Titel Kriminalobersekretär und heißt Rusch. Kriminalobersekretär Rusch sieht sich einer fast unlösbar erscheinenden Aufgabe gegenüber: da ist in der Millionenstadt Berlin ein Mann, und diesen Mann soll er fangen. Er besitzt keinerlei Anhaltspunkte: nie hat jemand diesen Mann, der so hartnäkkig seine Karten schreibt und in belebten Treppenhäusern niederlegt, mit Augen gesehen. Auch mit Fingerabdrücken ist hier nichts anzufangen. Ganz abgesehen davon, daß 7
man die Fingerabdrücke dieses Mannes, der mit größter Wahrscheinlichkeit kein Berufsverbrecher ist, nicht in der Sammlung am Alexanderplatz hat, sind diese Karten bei Finder, Polizei, Partei durch viel zuviel Hände gegangen, um irgendeinen, sicheren Anhaltspunkt zu geben. So muß er sich damit begnügen, vorläufig auf einer großen Karte von Berlin jede Fundstelle rot anzukreuzen und Tag und Zeit des Fundes sowie den Finder genau zu notieren. Er hat vielleicht manchmal schwer geseufzt, wenn ihn die immer dringlicher werdenden Anfragen seiner Vorgesetzten mahnten, bedrohten, ängstigten, aber was konnte er tun –? Gegen diesen Mann im Dunkeln war der ganze ungeheure Apparat der Hitlerischen Staatsmaschinerie machtlos. Aus Erfahrung wußte der Kriminalobersekretär, daß er nur Geduld haben mußte: irgendwann begeht auch der gerissenste Verbrecher einmal einen Fehler. Ein erstes Licht in das Dunkel dieses Falles scheint endlich die Anzeige einer Sprechstundenhilfe bei einem Arzt im Norden zu bringen. Ihr ist in der Sprechstunde ein Arbeiter Heidecke aufgefallen, der ihr durch ständiges Hinundherlaufen aus dem Wartezimmer auf die Toilette, in den Vorflur mißfallen hat. Trotz all ihrer Ermahnungen hat der Mann nicht von seinem unruhigen Wesen ablassen wollen, und plötzlich haben im Treppenhaus von der Türe der Arztwohnung zwei solcher Karten gelegen. Die Sprechstundenhilfe, die ständig die Türe öffnet und schließt, möchte es fast beschwören, daß in der Minute vorher die Karten noch nicht vor der Türe gelegen haben, daß der Arbeiter Heidecke zwischendurch auf dem Vorflur war und daß die Karten so lagen, daß sie sehr wohl von ihm durch den Briefeinwurfschlitz nach außen geworfen sein konnten. Nebenbei bemerkt, welch wirklich dramatischer Moment: eine gehetzte, übernervöse Sprechstundenhilfe, die 8
vierzig, fünfzig Patienten im Wartezimmer sitzen und die sich über einen Mann geärgert hat, der ebenso gehetzt und übernervös nicht die Ruhe besitzt, seine drei oder vier Stunden geduldig durchzuwarten, bis der Arzt ihn krank schreibt (denn krank geschrieben will Heidecke unter allen Umständen werden), und unterdes steigt der wirkliche Täter, der Mann im Dunkeln, geruhigt die Treppe hinauf, legt die Karten gerade vor den Briefschlitz dieser Arzttüre nieder, steigt die Treppe wieder hinunter und ist im Augenblick darauf unauffindbar, im Millionengewirr untergetaucht. Dieses nicht von einem Romanbastler, sondern vom bunten Leben selbst gefügte zufällige Zusammentreffen bringt den Kriminalobersekretär Rusch auf eine völlig falsche Spur, die ihn über ein Jahr lang in Atem halten und immer weiter von der Ermittlung des wahren Täters entfernen wird. Diese Spur nun, mit tiefem Aufatmen von einem Manne begrüßt, der unter der schweren Drohung seiner vorgesetzten Dienststelle steht, führt ihn in eine seltsame, abseitige Welt kleiner, auch staatsfeindlicher Gestalten, in die Welt der Arbeitsscheuen und der Wetter. Der Mann Heidecke ist ein Arbeitsscheuer, er ist von der Wehrmacht entlassen, um in einem Rüstungsbetrieb zu arbeiten, aber er liebt die Arbeit nicht, er zieht es vor, krank zu spielen. Jedoch hat er eine Frau und zwei Kinder, die mit ihm im äußersten Elend irgendeinen Keller im Norden Berlins bewohnen, fast ohne Sachen, ganz ohne Möbel, im Geborgten. So muß wenigstens das Krankengeld dasein, erstens für den Vater, in zweiter Linie für Frau und Kinder. Die Krankenkasse zahlt aber nur eine gewisse Anzahl Wochen, so muß er dazwischen immer ein paar Tage gesund spielen, arbeiten. Er ist auf diesen Schleichwegen ein erfahrener Mann, er wechselt häufig die Ärzte, er täuscht auch den Vertrauensarzt des Betriebes, er hat schwer feststellbare Leiden, meistens Magenbluten oder Gallenkoliken. 9
Ein oder zwei Jahre lang treibt er so schon sein Spiel, sein Betrieb geht mit dem Gedanken um, diesen Nichtarbeiter Heidecke wieder der Wehrmacht zur Verfügung zu stellen, da er dem Betrieb als Arbeitskraft angerechnet wird und doch nichts arbeitet. Aber das kümmert den Mann Heidecke nicht, ihn kümmert auch nicht der Weltenbrand draußen, die Hitlerischen Parolen, nicht einmal der Hunger von Frau und Kindern kümmern ihn. Was kümmert diesen Mann Heidecke? Morgens um zehn oder elf steht er auf und verschwindet, um erst wieder in der Nacht heimzukehren. Er geht bevorzugt in zwei kleine düstere Kneipen im Norden, wo er von Gesinnungsgenossen als „Enno“ begrüßt wird. Alles kennt sich in diesen beiden Kneipen, aber meist nur beim Vornamen, außerhalb der Kneipen wissen sie nichts voneinander. Was eint diese Tag für Tag wiederkehrenden Gestalten, werden Saufereien veranstaltet, geht diesen Weg das den Kindern und der Frau so nötige Geld? Nein, Enno Heidecke kann viele Stunden vor einer Molle sitzen, er spielt auch einmal einen Skat, aber das alles ist es nicht, was ihn und die anderen hierherzieht, sondern, während ein Weltenbrand tobt, sind diese Leute nur besessen von dem Gedanken an Pferderennen, sie setzen ihr bißchen Geld, hier eine, hier zwei, vielleicht sogar fünf Mark, auf den Sieg eines Pferdes. Stundenlang unterhalten sie sich über Form und Chancen der Rennpferde, sie wissen Geschichten von jedem Jockey, sie erzählen flüsternd von todsicheren Geheimtips, die sie erfahren haben wollen. Sie alle, die in diesen beiden Stampen beeinanderhocken, Arbeitsscheue, kleine Gewerbetreibende, noch kleinere Pensionäre, haben fast nie in ihrem Leben ein wirkliches Pferderennen gesehen, dafür hatten sie nie genug Geld. Der Arbeitsscheue Enno Heidecke war nachgewiesenermaßen ein einziges Mal in Ruhleben auf dem grünen Rasen. Aber 10
sie brauchen die Pferde und ihre Reiter auch nicht, sie sind Spieler, Besessene, Süchtige – Rennwetten sind ihre Leidenschaft, die ganze andere Welt ist tot für sie. Es gehört die sture Dummheit eines Gestapobeamten dazu, diese Besessenheit nicht nach ein paar Tagen erkannt und daraufhin die Verfolgung sofort eingestellt zu haben. Man kann nicht von zwei fixen Ideen zugleich besessen sein, denn auch der Kartenschreiber mit seiner unermüdlichen Tätigkeit muß ein Besessener sein. Aber es ist dem Kriminalobersekretär Rusch zugute zu halten, daß er glauben wollte, seine Vorgesetzten verlangten es immer dringender und drohender, daß da eine Spur vorhanden war – nun, jetzt hatte er eine, und unermüdlich verfolgte er sie. Unermüdlich, jawohl aber auch mit einem fast unglaubhaften Ungeschick und Mangel an Einfällen. Dafür tritt die Eitelkeit dieses armen Hirns um so deutlicher hervor. In seinem Protokoll bezeichnet er seine Nachforschungen nie anders als „Observationen“, mit betonter Wichtigkeit spricht er von dem Observierten, der sehr schlau und gerissen sei, und der nie eine Ahnung davon hatte, daß er „observiert“ wurde. In einem fast kindlichen Gegensatz dazu steht der Mißerfolg der Observationen, den er ganz offen bekennt. Beispielsweise will er den Verdächtigen von seinem Haus auf seinen Wegen durch die Stadt verfolgen. Regelmäßig schließt solch ein Bericht mit den Worten: „Hier mußten die Observationen abgebrochen werden, weil der Observierte zu schnell lief.“ Oder: „Weil das Gedränge in der U-Bahn zu groß war.“ (Heidecke besuchte manchmal seinen Vater oder andere Verwandte, meist, um sie anzupumpen.) Oder gar: „Weil das Gelände zu übersichtlich war“ (da hätte der Observierte merken können, daß er verfolgt wurde). Nicht in einem einzigen Fall ist es dem Kriminalobersekretär gelungen, seinen Verdächtigen bis an sein Ziel zu verfolgen. 11
Und noch etwas anderes erhellt aus diesen Protokollen: die gedankenlose, selbstverständliche Grausamkeit, mit der Kriminalobersekretär Rusch sich bemühte, sein Opfer dem Henker auszuliefern. Der Obersekretär mußte es ja wissen, daß dem Heidecke, war er der Briefschreiber, der Tod durch Henkershand gewiß war. Und doch finden wir in all diesen Niederschriften nicht ein menschliches Wort über diesen elenden Verfolgten, über dieses arme Menschlein. Nur zur Entfaltung der eigenen Eitelkeit und Wichtigkeit werden diese Protokolle benutzt, im übrigen tut Rusch seinen Zutreiberdienst für den Scharfrichter mit derselben Selbstverständlichkeit, wie ein anderer Beamter Briefmarken am Postschalter verkauft. Morden und den Mördern Zutreiberdienste leisten war 1940 schon etwas ganz Selbstverständliches in Hitlerdeutschland geworden, und leider, wie wir bereits gelesen haben, nicht nur für einen Beamten der Gestapo. Leichter waren natürlich die Ermittlungen für Rusch bei dem Wehrbetrieb, in dem Heidecke wohl beschäftigt war, aber nicht arbeitete. Es wäre einfacher gewesen – so klar lag der Fall –, diesen Mann wegen Arbeitssabotage vor den Richter zu bringen. Und die Firma war eigentlich dazu entschlossen. Aber ängstlich wehrte Rusch ab. Arbeitssabotage hätte dem nicht vorbestraften Heidecke nur ein paar Monate Gefängnis und dann Rückkehr zur Truppe eingetragen; hier ging es um Wichtigeres: ein Kopf sollte rollen! So schleppte sich die Untersuchung noch ein Jahr weiter hin, bis schließlich der bedrängte Rusch die Nerven verliert und den arbeitsscheuen Heidecke einfach festnimmt. Schon nach ganz kurzer Zeit ist klar, daß dieser Mann als Schreiber der Postkarten keinesfalls in Frage kommt: einmal werden sie unverändert weiterverbreitet, zum anderen kann dieser Trottel kaum schreiben und weiß von Politik weniger als ein Kind. Damit bricht die Beschuldigung in 12
sich zusammen, und der Mann Heidecke verschwindet aus den Akten; was ihm seine Arbeitssabotage eingetragen hat, vielleicht gar den „Heldentod“ in einem „Strafbataillon“, kann ich nicht sagen. Der Kriminalobersekretär Rusch aber ist genau so weit wie vor reichlich zwei Jahren: nicht eine einzige Spur, nur die vielen, vielen roten Kreuze auf dem Stadtplan von Berlin. Dieser Plan wird nun irgendeinem „helleren“ Kopf der Gestapo ausgehändigt, der sich vor ihn hinsetzt und genau wie ein tüchtiger Sherlok Holmes seine Schlüsse daraus zieht, völlig zwingende Schlüsse, doch leider ganz und gar falsch. Z. B. kann dieser Mann keine Mitwisser haben und auch nicht verheiratet sein, sonst wäre längst etwas ausgeschwatzt in diesem langen Zeitraum. Er muß also ledig oder Witwer (bzw. geschieden) sein. Er kann keine feste Tätigkeit haben, denn diese Karten werden zu allen Tagesund Nachtzeiten auf den Treppen gefunden. Der Täter muß aber etwas mit der Straßenbahn zu tun haben – auf diesen Schluß ist der „helle“ Kopf der Gestapo ersichtlich besonders stolz –, denn sieben von den acht Hauptgruppen von Fundstellen liegen in der Nähe von Straßenbahndepots. Es kann sich aber nicht um einen uniformierten Straßenbahnangestellten handeln, denn mittlerweile ist der Täter zweimal beim Ablegen seiner Karten gesehen worden, und stets trug er Zivil. Schlußergebnis: ein nichtuniformierter, unverheirateter Mann, Zivilist, der irgend etwas mit der Straßenbahn zu tun hat, und der mit großer Wahrscheinlichkeit in oder direkt bei der und der Straße im Berliner Norden wohnt, denn nach zwei Jahren Beobachtens haben sich die roten Kreuze in diesem Bezirk am meisten gehäuft. Damit hat der „helle“ Kopf seine Pflicht und Schuldigkeit getan, und die Akten wandern wieder zu dem Krimi13
nalobersekretär Rusch zurück: hiernach, mein Lieber, richte jetzt gefälligst deine Observationen!! Man kann es sich wohl leicht ausmalen, wie verzweifelt Rusch wieder vor seiner durch Jahre getreuen Akte gesessen hat. Es war ja alles vages Zeug, was der helle Kopf geschrieben hatte! In der fraglichen Straße und ihren nächsten Nebenstraßen wohnten Tausende und aber Tausende von Arbeitern: mit den Straßenbahnhinweisen ist nichts anzufangen, und die Beschreibungen der beiden Frauen, die den Täter gesehen haben wollen, sind ganz unbestimmt und widersprechen einander sogar. Nicht einmal über Größe, Alter und Haarfarbe sind sich die Angaben einig. Otto und Anna Quangel hätten bis zum Zusammenbruch des Dritten Reiches ihre Karten weiter schreiben und vertreiben können, wenn sie nicht zu sicher geworden wären. Sie erfahren aus dieser Sicherheit heraus innerhalb weniger Monate zwei Mißgeschicke, und das zweite, verstärkt durch das erste, führte sie ihrem Ende zu. Quangel besucht mit seiner Frau einen Schwager, der im Süden Berlins wohnt. Dieser Schwager wohnt erst seit ein paar Monaten dort, bis dahin hat auch er im Norden gewohnt. Es ist der zweite Besuch, den Quangels dem Schwager in der neuen Wohnung machen. Als sie wieder heimgehen, sagt der Mann zur Frau: „Geh’ immer schon voraus, Anna, ich will hier noch schnell eine Karte ablegen.“ Langsam geht Frau Quangel zur Straßenbahnhaltestelle; so sicher sind sie, daß sie nicht einmal Schmiere steht. Freilich, vor dem, was nun geschieht, hätte auch Schmierestehen nicht retten können; ihr Mann ist kaum wieder bei ihr an der Haltestelle, da stürzt ein Herr auf ihn zu: „He, Sie, Sie haben da eben diese Karte bei uns ins Treppenhaus gelegt …“ Und er fuchtelt wild mit der Karte. 14
Kaltblütig, böse leugnet Quangel: Er ist nie in diesem Hause gewesen, er verbittet sich solche Belästigungen. Und Anna Quangel unterstützt ihn: ihr Mann ist nicht von ihrer Seite gekommen. Einen Augenblick stutzt der Ankläger, als er zwei statt einen gegen sich sieht. Aber er ist seiner Sache zu sicher, er hat Quangel beim Ablegen der Karte beobachtet und ihn keinen Augenblick aus dem Auge gelassen. Wildes Hin und Her, Menschenauflauf, ein eingreifender Polizist, der Weg zur Wache. Der Ankläger bringt seine Sache mit solcher Bestimmtheit vor, daß man eine körperliche Untersuchung der beiden Quangels für nötig hält, aber es wird nichts Belastendes bei ihnen gefunden. Und Quangels machen ihre Aussagen mit solcher Bestimmtheit, sie nennen den Namen und die Wohnung des soeben besuchten Schwagers – schließlich läßt man sie gehen. Nach den Papieren ist es ein alter Arbeiter, gegen den nie etwas vorgelegen hat, der Ankläger wird den eigentlichen Ableger der Karte auf der Straße aus den Augen verloren haben. Dasselbe denkt auch Kriminaloberseketär Rusch, bei dem schließlich die Karte mit einer kurzen polizeilichen Notiz landet. Man sieht es förmlich, mit welcher Hoffnungslosigkeit er ein paar Nachforschungen nach der Person dieses Quangels anstellt. Gegen diesen Mann liegt nichts vor, auf seiner Arbeitsstätte weiß man nicht das geringste Verdächtige von ihm zu berichten – mit einem tiefen Seufzer stellt Rusch die Ermittlungen nach diesem Quangel ein. Das einzige, was bleibt, ist ein neues rotes Kreuz auf der Karte. Immerhin ein ungewöhnlicher Fundort, die zweite Karte erst, die dort im Süden, so fern von allen anderen Fundstellen, abgelegt worden ist. Nebenbei bemerkt: wäre Rusch ein bißchen hoffnungsvoller, wäre die Sache nur ein wenig frischer gewesen, so hätte er durch den aus dem Norden nach dem Süden umge15
zogenen Schwager den Quangel doch überführen können. Aber Rusch begnügte sich mit der Feststellung, daß der Schwager dort wirklich wohnte, fragte nicht, wie lange. Der Umzug in Verbindung mit den beiden zeitlich zusammenfallenden Fundstellen im Süden hätte schon ein starkes Verdachtsmoment gegen Quangel ergeben. Und wieder vergehen einige Monate. Otto Quangel schreibt weiter seine Karten, diesen kleinen Zwischenfall im Süden hat er schon fast wieder vergessen. Da trifft ihn ein zweites Mißgeschick. Wir schreiben das Jahr 1942, seine Aktentasche, in der er sein Frühstück und seine Thermosflasche mit in den Betrieb nimmt, ist längst defekt, aber in diesem Kriegsjahr nicht zu ersetzen. Eines Morgens wird in dem Fabrikraum, in dem er mit achtzig Arbeitern zusammen wirkt, eine seiner Karten gefunden. Sie ist durch eine zerrissene Naht aus der Aktentasche gefallen. Die Gestapo wird gerufen, noch immer wäre der fast zwanzig Jahre im gleichen Betrieb wirkende Einrichter nicht verdächtiger als jeder andere dieser achtzig, aber da ist einmal diese Polizeinotiz mit dem Namen Quangel über einen Kartenfund im Süden Berlins, und da ist zweitens die Tatsache, daß Quangel genau in jener Straße wohnt, wo die Karten am dichtesten verteilt sind. Diesmal besinnt sich Kriminalobersekretär Rusch nicht lange. Er macht sofort eine Haussuchung bei Quangels, und hier findet er – drittes Mißgeschick – eine angefangene Karte mit der bekannten Blockschrift, die Quangel irgendwann unvollendet liegenlassen und längst vergessen hat. Die beiden Eheleute werden verhaftet, und nach kurzem anfänglichem Leugnen gestehen sie ihre Täterschaft. Rusch hat endlich einen Fang getan, es hat sich gelohnt, geduldig gewesen zu sein. Nicht länger werden ihm die drohenden Ermahnungen seiner Vorgesetzten über den noch immer nicht ermittelten Täter den Appetit auf seine 16
Frühstücksstullen verderben. Die Täter sind gefaßt, sie sind restlos geständig, der Untersuchungsrichter beim Volksgerichtshof verhängt die Untersuchungshaft – drohend reckt sich im Hintergrund die Gestalt des Henkers auf. Es ist bezeichnend für die völlige Weltfremdheit der Eheleute Quangel, daß sie – in die Hände ihrer Mörder geraten – am spätesten diesen drohenden Henkerschatten sehen. Sie, die jahrelang für die Parteimaschinerie tätig waren, haben noch immer keine Ahnung von ihrer Erbarmungslosigkeit. Er weist auf sein fleckenloses Leben hin, er bittet um ein mildes Urteil, er verspricht, Getanes zu sühnen, er bereut aufrichtig. Und ich bin entschlossen, Quangel diese aufrichtige Reue zu glauben. Er war in diese Gegnerschaft geraten, warum, verstand er heute selbst nicht mehr. Nun, da er umgeben ist von lauter Männern, die gebildeter sind als er, die es doch eigentlich besser wissen als er, stehen seine Taten gegen ihn auf. Es ist ein Bruch in seinem Leben, er war immer mit der großen Herde gelaufen, nun, unter dem Druck der Staatsmaschinerie, weiß er nicht mehr, wie er jahrelang so allein hat gehen können, in Feindschaft auch gegen alles, was er selbst gewesen war. Wie ihm dann zumute gewesen ist, als der Oberreichsanwalt gegen ihn und seine Frau die Todesstrafe – Tod durch des Henkers Hand – dann ausgesprochen wurde, davon sagen die Akten nichts, mit dem Todesurteil enden sie. Was aber Frau Quangel anbelangt, so sieht man aus dem Vernehmungsprotokoll, wie aus der Anklageschrift, wie aus dem Urteil, daß sie nie für voll genommen wurde. Ihre Protokolle sind kurz und dürftig, der nationalsozialistische Staat verurteilte diese Frau zwar, mit ihrem Mann hingerichtet zu werden, aber er hält sie, wie alle Frauen für etwas Minderwertiges, ein gleichgültiger Faktor in diesem Männerstaate. 17
Mit dem Todesurteil endet, wie gesagt, die Akte Quangel, kein Wort mehr über oder von diesen beiden Menschen. Im Herbst des vierten Kriegsjahres wird der Scharfrichter sein Werk an ihnen getan haben, sie wurden ausgetilgt von dieser Erde als Verräter ihres Volkes – von den Verrätern dieses Volkes. Über dem Todesurteil steht vorgedruckt in großen schwarzen Buchstaben: „Im Namen des Deutschen Volkes“ doch daneben kleiner, aber mit roter Farbe leuchtend: „Streng geheim!“ Hier haben wir, wie in der Nuß, den Widersinn dieses ganzen Hitlerstaates, der behauptete, im Namen des deutschen Volkes zu handeln, und der alles streng geheim tat, von seinen wirklichen Taten durfte das deutsche Volk nichts wissen! Im allgemeinen enden derartige Akten nicht mit dem Todesurteil, es folgt ein, meist freilich dünnes Heft: der Gnadenakt, der ohne alle Gnade und Erbarmen ist. Zur Vervollständigung des Bildes, das wir von dem Walten dieser Mordmaschinerie gaben, nehmen wir ein solches Gnadenheft in anderer Sache zur Hand. Da bittet z. B. eine Mutter für das Leben ihres Sohnes, auch für Quangel hätte eine Mutter bitten können, hat es vielleicht auch getan, und das Heft ist nur verlorengegangen. Diese Mutter ist Nationalsozialistin, sie glaubt an den Führer, ihr Herz wird hin und her gerissen, von diesem Glauben und der Liebe zum Sohn. Das klingt dann – nicht ohne Erschütterung liest man es – etwa so: „Mein inniggeliebter Führer! Eine verzweifelte Mutter bittet auf den Knien um das Leben ihres Sohnes. Er hat sich schwer an dir vergangen, aber du bist so groß, du wirst Gnade üben, ihm verzeihen …“ Hitler der zum Gott geworden ist in einem törichten Frauenherzen. Die ganze Welt ist voll von Beweisen seines schändlichen Handelns, aber diese Frau glaubt an ihn, selbst, da er ihren Sohn dem Henker überantwortet, glaubt sie noch – Abrahams Opfer an Isaak, aber dieser neue Gott kennt keine Gnade. 18
Immer tiefer hinein in die Verwirrungen der deutschen Herzen! Da sind zwei Hitlerjungen, vierzehn und fünfzehn Jahre alt, die um das Leben ihres Vaters bitten: „Mein Führer! Wir versprechen dir, mit unserem ganzen Leben das Verbrechen zu sühnen, das unser Vater an dir begangen hat. Wir werden die Schmach unseres Vaters austilgen …“ Die Söhne, unreife Bengel, die hohlen Phrasen ihrer HJFührer in den Ohren, werden zu Richtern und Schmähern des eigenen Vaters. Die Verkehrung aller Begriffe, Anstand, Recht, Ehre: alles eingestürzt, in den jüngsten wie in den ältesten Herzen zerstört. Was tut der göttliche Führer angesichts solcher Bittschriften, wie lohnt er den Glauben seiner Anhängerschaft? Er lehnt es ab, diese Bittschriften auch nur anzusehen, alle werden sie auf dem gleichen kalten, sachlichen, schurkenhaften Instanzenweg erledigt. Dutzende von Männern haben an einem solchen Akt mitgearbeitet, und überall der gleiche Ton, die gleiche Haltung: was hier geschieht, muß so geschehen. Alle sind sich einig auch das erbärmlichste Opfer zu schlachten. Das klingt dann so: „Die Führung (nämlich während der Haft) war der Hausordnung entsprechend. Ein Gnadenakt wird nicht befürwortet.“ Oder die Kanzlei des Führers: „Dem Herrn Reichsjustizminister zur Erledigung. Rückgabe nur dann, wenn der Verurteilte Parteimitglied ist, was aus dem Gnadengesuch nicht ersichtlich.“ Zehn, zwanzig solcher Gesuche: alle in den Papieren und Akten hängenbleibend, stoßen sie nie auf ein menschliches Herz. Stets heißt es am Ende: die Gerechtigkeit nehme ihren Lauf! Das heißt, es wird gehenkt oder geköpft. Außer dem Gnadenheft fehlt der Quangelschen Akte noch das Kostenheft. Auch dies ist nicht ohne Interesse: was kostet es im Dritten Reich einen Menschen köpfen zu lassen? Wir haben solch ein Heft in Händen, es handelt 19
sich hier um keinen Berliner Fall, aber die Methode ist überall die gleiche, in Salzburg wie in Berlin. Ein Salzburger Bahnschaffner ist in München hingerichtet, das Kostenheft beginnt mit der Feststellung, daß die Münchener Anatomie wegen Überfüllung die Leiche nicht verwerten kann. Die Innsbrucker und Würzburger Anatomien aber, die an sich interessiert sind, können wegen Benzinmangels die Leiche nicht holen lassen. Da auch Bahnversandkisten nicht vorhanden sind, so muß der Hingerichtete bestattet werden. Eidesstattliche Erklärung, daß er Arier war, er darf also auf einem anständigen (christlichen oder arischen) Friedhof bestattet werden. Anweisung an ein Bestattungsinstitut, die Beerdigung vorzunehmen. Folgt die Rechnung dieses Instituts mit dem Werbeaufdruck: „Ihr erster Gang in Sterbefällen zu Müller und Meyer, die für Erd- und Feuerbestattung alle Besorgungen erledigen!“ Freut euch, ihr Hingerichteten, Müller und Meyer gehen sorglich mit euch um. Laut den Richtlinien des Volksgerichtshofes erhaltet ihr zwar kein Hemd, nackt, wie ihr geboren, werdet ihr in einen Leihsarg gelegt, der mit zehn Reichsmark berechnet wird, dafür aber wird euch ein Kopfpolster im Rechnungsbetrage von 40 Reichspfennigen bewilligt. Mit Überführung und Überstunden beläuft sich eine solche Bestattung auf 94,40 Reichsmark – sollte noch ein solcher Todesfall in eurer Familie eintreten, wer könnte euch billiger bedienen als Meyer und Müller –? Das Todesurteil freilich und die Untersuchungshaftkosten belaufen sich auf 1164,30 RM, während der Verteidiger nur 81,60 RM bekommt, etwas wenig, wenn man aus einer anderen Rechnung sieht, daß die Zureisekosten der verurteilenden Richter sich allein auf 2592,25 RM belaufen. Dabei fällt auf, daß der Landgerichtsdirektor Dr. Pfeiffenberg „nur“ 294 RM Spesen liquidiert, während der Ju20
stizassistent Becker 434,20 RM Reisekosten gehabt haben will – er bekommt sie auch ausgezahlt. Die Kosten sind entstanden – nun handelt es sich darum: wer trägt sie? Der Justizfiskus oder besser noch die Angehörigen des Verurteilten? Immerhin, die Kleidungsstücke, die der Mann bei seiner Verhaftung auf dem Leibe trug, dürfen seiner Frau ausgehändigt werden, aber die 29,42 RM „Eigengeld“ in der Tasche des Hingerichteten zieht der Staat ein. Die Jagd nach jemanden, der wenigstens einen Teil der Kosten übernehmen kann, wird sehr gründlich betrieben. Es erweist sich, daß im Staate Hitlers nicht nur die Ehefrau, nein, auch Mutter, Brüder und Schwestern eines Verurteilten zur Kostentragung herangezogen werden können. Angehörige, die von dem „Verbrechen“ des Gerichteten nicht das geringste wissen, müssen doch für ihn zahlen. Bis sich schließlich die ganze Jagd erfolglos auflöst: alle Angehörigen sind mittellos. „1. Die Kostenbeitreibung ist aussichtslos. 2. Kosten außer Ansatz.“ Worauf, gewissermaßen nachhallend, auf einem letzten halben Blatt die Reichsanwaltschaft beim Volksgerichtshof Berlin, Kostenstelle, bei dem Oberstaatsanwalt München, Kostenstelle, anfragt, welche Gebühren an den Scharfrichter und seinen Gehilfen gezahlt wurden. 120 RM hat der Scharfrichter Reichhart von München (von München, nicht in München!) für Vollstreckung erhalten, ergibt sich. Ende. Fristvermerke sind zu löschen, die Akten werden abgelegt. Diese beiden, Otto und Anna Quangel, haben einmal gelebt. Ihr Protest ist ungehört verhallt, anscheinend umsonst opferten sie ihr Leben einem aussichtslosen Kampf. Aber vielleicht doch nicht ganz aussichtslos? Vielleicht doch nicht ganz umsonst? 21
Ich, der Autor eines noch zu schreibenden Romans, hoffe es, daß ihr Kampf, ihr Leiden, ihr Tod nicht ganz umsonst waren. Aus: Aufbau. Kulturpolitische Monatsschrift. Herausgegeben vom Kulturbund zur demokratischen Erneuerung Deutschlands. Heft 3, November 1945 (Aufbau-Verlag GmbH Berlin)
22