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Totenstille herrschte an Bord der Galeere „Conchita“. Nur das Glucksen des Wassers an de...
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Seewölfe 243 1
John Curtis 1.
Totenstille herrschte an Bord der Galeere „Conchita“. Nur das Glucksen des Wassers an den Bordwänden war zu vernehmen, und manchmal drang von weit weg grölendes Gelächter an die Ohren der Seewölfe, die angekettet auf ihren Ruderbänken hockten. Die ganze Crew, alle, ohne jede Ausnahme. Sie befanden sich im Vorschiff der Galeere, während .weiter hinten, im letzten Drittel, noch acht abgezehrte Gestalten auf den Ruderbänken hockten, angekettet wie sie. Gefangene Kapitäne, deren Schiffe Don Bosco versenkt und deren Besatzungen der Tortuga-Pirat entweder als Sklaven verkauft oder in wilden Orgien getötet hatte. Der restliche Teil der Besatzung der Galeere, üble Schnapphähne Don Boscos, die immer dann auf die Ruderbänke mußten, wenn nicht genügend Gefangene zur Verfügung standen, die aber selbstverständlich nicht angekettet wurden, feierte mit dem Herrscher von Tortuga in dieser Nacht eine wilde Orgie in einer der vielen Höhlen, die diese kleine Insel zu einem idealen Piratenversteck machten. Der Seewolf starrte vor sich hin. Er war nicht der Mann, der so ohne weiteres den Mut sinken ließ. Aber diesmal befand er sich in einer nahezu ausweglosen Lage. Es war noch nicht einmal zehn Minuten her, daß Don Bosco und dieser dreimal verfluchte Nuno, der Schlagmann der Galeere, der ihnen allen das Leben zur Hölle machte, gegangen waren. Zurückgelassen hatte Don Bosco die Drohung, daß er am nächsten Morgen, falls der Seewolf nicht das Geheimnis der Schlangeninsel preisgeben und Don Bosco die Schätze dieser Insel ausliefern würde, jede Stunde einen Mann der „Isabella“Crew töten lassen werde. Und den Anfang werde er mit, den beiden Schiffsjungen seiner Besatzung machen, hatte er dem Seewolf gesagt, ohne zu ahnen, daß diese beiden Jungen die Söhne des Seewolfs waren.
Überfall auf die Schlangeninsel
Der Seewolf knirschte mit den Zähnen. Himmel, was sollte er tun? Seine Söhne, seine Männer opfern? Seine Freunde auf der Schlangeninsel verraten — wobei immer noch zweifelhaft blieb, ob damit überhaupt etwas gewonnen war? Der Seewolf kannte Schnapphähne wie diesen Don Bosco. Sie waren völlig unberechenbar. Der Seewolf und seine Männer hatten sich schon in manch einer üblen Lage befunden, aber so ausweglos wie diese war noch nie eine gewesen. Dieser Don Bosco war einer der gefährlichsten Männer, deren Kurs der Seewolf mit seiner „Isabella“ je gekreuzt hatte. Schon die Art und Weise, wie er die „Isabella“ und ihre ganze Besatzung in seine Gewalt gebracht hatte, war geradezu teuflisch gewesen. Er hatte den „ Seewölfen Pablo, diesen verdammten Giftmischer, untergejubelt. Einen Schurken, der so vertrauenerweckend und ehrlich wirkte, daß sie alle auf diesen Kerl hereingefallen waren und ihn an Bord der „Isabella“ genommen hatten. Alle? Der Seewolf korrigierte sich. Nein, nicht alle. Batuti und Old O’Flynn hatten Hasard gewarnt. Sie hatten diesen Pablo nicht gemocht, sie hatten ihn abgelehnt, und der alte O’Flynn hatte sogar behauptet, dieser Mann brächte den Tod an Bord der „Isabella“. Und wie meistens hatte Hasard das für eine Spinnerei des Alten gehalten. Gift, das sie alle lähmte, paralysierte, hatte dieser Pablo ihnen „ins Trinkwasser gemischt und sich dann selber an Deck im scheinbaren Schmerz und in Todesangst gekrümmt. Zum Schluß waren nur noch Dan und der alte O’Flynn aktionsfähig gewesen, und sie hatten Don Bosco einen Kampf geliefert, ehe er die „Isabella“ zu entern vermochte, der Don Bosco seine Karacke kostete und seine Wut zur Weißglut anfachte. Nein, von diesem Mann war kein Pardon zu erwarten, nicht die geringste Milde. Das alles ging dem Seewolf in dem lastenden Schweigen durch den Sinn, als er endlich den Kopf hob und im Schein der
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blakenden Schiffslaternen zu seinen beiden Söhnen hinüberblickte, die neben dem riesigen Carberry auf der Ruderbank angekettet worden waren. Die beiden erwiderten den Blick des Seewolfs, aber sie sagten nichts. Sie wirkten blaß, ließen sich ihre Angst aber nicht anmerken. Denn auch sie hatten begriffen, daß sie sterben würden, falls ihr Vater am nächsten Morgen. Don Bosco nicht alles sagte, was der Tortuga-Pirat von ihm wissen wollte. Carberry richtete sich auf. Sein narbiges Gesicht wirkte düster, auch er war ohne den geringsten Hoffnungsschimmer, daß sich das Blatt diesmal wieder zugunsten der Seewölfe wenden würde. „Wir stecken bis über die Ohren in der Scheiße, Sir“, sagte er grollend. „Ich hätte diesem verfluchten Pablo den Hals umdrehen sollen, aber ich war genauso dämlich wie die meisten von uns allen, dich eingeschlossen, Sir. Und jetzt werden wir die Suppe, die wir uns eingebrockt haben, wieder auslöffeln müssen. Aber das sage ich dir, Sir: Ehe der alte Carberry zur Hölle fährt, wird dieser verfluchte Don Bosco noch an den Profos der ‚Isabella’ denken! Das verspreche ich dir bei allem, was mir heilig ist.“ Die anderen sahen Carberry an. Ferris Tucker, der rothaarige Schiffszimmermann der „Isabella“, ein wahrer Hüne von Gestalt, nickte. „Klar, Ed, auch ich werde mich nicht einfach abschlachten lassen. Die werden sich noch wundern. Und außerdem, wenn ihr es wissen wollt, ich glaube noch lange nicht daran, daß dieser Don Bosco und seine Dreckskerle uns wirklich zur Hölle schicken und sich mit den Schätzen der Schlangeninsel dann ein herrliches Leben machen werden. Da dürften noch ein paar andere ein Wörtchen mitzureden haben. Der Wikinger zum Beispiel und Siri-Tong. Dieser Happen ist zu groß für Don Bosco, aber wie sehr er sich verschluckt hat, das wird er erst merken, wenn der alte Thorfin ganz Tortuga in Schutt und Asche legt, wenn Siri-Tong auf dieser verdammten Insel eine Orgie mit ihm feiert, bei der Gevatter Tod zum Tanz aufspielen wird.
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Das ist meine Meinung, und ich mache euch nichts vor. Unsere Lage ist beschissen, aber das war sie schon oft. Du mußt diesen Kerl hinhalten, Sir. Irgendetwas muß uns einfallen, und zwar bis morgen früh, Sir ...“ Carberry drehte sich um und starrte Ferris Tucker an. „Du hast recht, Ferris“, sagte er, und seine Stimme dröhnte durch die Galeere, daß die Männer im achteren Drittel erschrocken zusammenfuhren. „Und ich glaube, mir ist eben schon etwas eingefallen“, fügte er drohend hinzu. Dann sah er die Zwillinge an, die neben ihm auf der Ruderbank hockten, angekettet wie er. „Ihr beide verhaltet euch morgen, wenn man euch losschließen will, ganz still, klar? Den Rest überlaßt mir.“ Der Seewolf zuckte zusammen. „Was hast du vor, Ed?“ fragte er leise. Aber Carberry machte nur eine Kopfbewegung nach hinten. „Überlaß mir das, Sir. Es geht morgen früh um das Leben deiner beiden Söhne, und ich will doch gleich meinen eigenen Affenarsch in Streifen geschnitten an die Großrah hängen, wenn ich zulasse, daß einer dieser Kerle auch nur Hand an sie legt. Aber mehr sage ich nicht.“ Die Seewölfe starrten ihren Profos an, dann steckten sie, soweit das möglich war, die Köpfe zusammen. Eine dröhnende Stimme aus dem achteren Drittel der Galeere ließ sie zusammenfahren. „Du klopfst ziemlich rauhe Sprüche, Mann“, sagte ein großer Kerl, dessen Gesicht von einem wilden, pechschwarzen Bart umrahmt wurde und der fast so groß war wie Carberry selber und dessen tiefen Narben im Gesicht man es ansah, daß er wahrscheinlich keiner Rauferei und keinem Kampf aus dem Wege ging. Carberry wandte sich um und musterte den Kerl. „Hör zu, du verlauster Stint“, röhrte er, „ich habe dich nicht um deine Meinung gebeten. Wäre ich nicht angekettet, würde ich dir dein vorlautes Maul stopfen, du kalfaterter Decksaffe!“
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Der Kerl reagierte ganz anders, als der Profos vermutet hatte. Er wurde nicht wütend, sondern grinste nur, dabei zeigte er zwei Reihen prächtiger weißer Zähne. „Du bist ein Kerl nach meinem Geschmack, Profos“, erwiderte er. „Wenn ich die Hände frei hätte, wär’s mir recht, wenn wir beide es mal miteinander versuchten. Aber so, wie die Dinge im Moment liegen, sollten wir eher daran denken, aus diesem Dreckskahn wieder herauszukommen. Aber was ich eigentlich sagen wollte: Du hast morgen früh etwas vor. Gut. Hätte ich auch an deiner Stelle, wenn dieser verfluchte Don Bosco seine Finger nach den beiden Kerlchen da ausstreckt. Aber sei auf der Hut, mein Freund. Don Bosco ist nicht allein, dieser Nuno ist bestimmt dabei, und der schlägt dich eiskalt tot, wenn du ihm den geringsten Anlaß dazu gibst. Ich weiß, was bei Diego oben passiert ist, und ich wundere mich, daß du überhaupt noch lebst.“ Carberry nickte. Das wunderte ihn allerdings auch. Denn dieser Nuno, ein Kerl wie ein Baum, hatte die Prügel, die der Profos ihm bei Diego verabreicht hatte, bestimmt nicht vergessen. Auch wenn es das mußte Carberry sich eingestehen verdammt knapp hergegangen war, denn dieser Nuno besaß Kräfte und Muskeln wie kaum ein Mann, den er bis dahin kennengelernt hatte. Nur mit dem Hirn haperte es bei diesem Muskelpaket erheblich, zum Glück. Trotzdem, Carberry machte ich keine Illusionen: Sobald sie ausgelaufen waren, und das würde am nächsten Morgen geschehen, würde Nuno, der Schlagmann der Galeere, der zugleich auch oft die Funktion eines Aufsehers übernahm, sein Mütchen an ihm kühlen. Mit der Neunschwänzigen. „Was also schlägst du vor, Mister Unbekannt?“ fragte Carberry grollend zurück, und gleichzeitig spürte er, wie ihm diese ganze lausige Situation an die Nerven zu gehen begann. Ihm wie allen anderen Seewölfen. „Man nennt mich Barbe“, erwiderte der Schwarzbart aus dem achteren Teil der
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Galeere. „Und wir sind Kollegen, ich war Profos wie du. Bis dieser Don Bosco über uns herfiel, mit sechs Schiffen auf einmal. Da war nichts zu machen. Freund, die fielen über uns her. als hätte die Hölle alle ihre Teufel auf einmal losgelassen. Im übrigen schlage ich gar nichts vor, weil ich auch nicht weiß, wie wir aus dieser beschissenen Situation wieder herauskommen sollen. Ich bin schon über drei Monate auf dieser Galeere, daher weiß ich Bescheid. Ich kenne diesen Nuno, ebenfalls den Pablo, der es euch besorgt hat, und Don Bosco auch. Seid auf der Hut, besonders vor Don Bosco. Er sieht nicht so aus, aber ist brutaler, hinterhältiger und schlauer als irgendeiner, dem ich je begegnet bin. Ein Menschenleben gilt ihm nichts, das seiner eigenen Leute sowenig wie das seiner Gefangenen. Wenn ihr überhaupt einen Rat wollt, besonders du. Seewolf, dann solltest du Zeit gewinnen. Und also mußt du reden, und wenn es Lügen sind, die du dem Don erzählst. Ich habe gehört, daß ihr noch Freunde in der Gegend habt, und von diesem verrückten Wikinger weiß ich so manches. Aber nicht nur, daß er immer mit seinem verdammten Helm herumrennt, sondern auch, daß die Piraten ihn und seinen schwarzen Segler fürchten wie sonst kaum etwas in der Karibik. Auch von jener Roten Korsarin hörte ich, die Spanier hassen sie wie die Pest. Das gleiche gilt auch für diesen Franzosen, aber er hatte Pech, ihm schossen sie sein Schiff kürzlich total zusammen.“ Ben Brighton, der Stellvertreter des Seewolfs, musterte Barba. Eine ungewöhnliche Erregung hatte sich seiner bemächtigt, denn Ben Brighton war ansonsten die Ruhe selbst und brauchte immer einige Zeit, um wirklich auf Touren zu kommen. „Und, Mann? Was ist mit dem Franzosen? Hat’s ihn erwischt?“ Barba schüttelte den Kopf. „Die Schnapphähne von Don Bosco unterhielten sich darüber. Er ist ihnen entwischt, ich weiß nicht, wie. Ich glaube, die Rote Korsarin hatte ihre Finger drin,
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die muß auf der Bildfläche erschienen sein, ehe sie dem Franzosen vollends den Garaus machen konnten.“ Der Seewolf hatte sich aufgerichtet. soweit ihm das seine Ketten erlaubten. Er warf Barba einen scharfen Blick aus seinen eisgrauen Augen zu. „Du weißt wirklich eine ganze Menge, Barba“, sagte er dann langsam, jedes Wort betonend. „Ich habe einen schweren Fehler begangen, indem ich diesen Pablo gegen die Einwände zweier meiner Männer an Bord unserer ‚Isabella’ nahm. Einen solchen Fehler werde ich nicht so well wiederholen, falls ich dazu noch Gelegenheit kriegen sollte. Und danach sieht es im Moment verdammt¬ nicht aus. Aber zu dir. Wer sagt mir, daß du nicht ein Spitzel dieses Don Bosco bist, einer, der uns aushorchen soll und uns deswegen Märchen erzählt?“ Barba fuhr herum, zwei scharfe Falten gruben sich über der Nasenwurzel in seine Stirn. Nur mühsam hielt er an sich. „Ich verstehe, daß du mißtrauisch bist, Seewolf“, sagte er dann. „Ich habe viel von dir und deinen Männern gehört. Ich bin auf einem Schiff gefahren, das zu einem Verband gehörte, der dich jagen sollte. Es ist schon lange her — aber erinnerst du dich an die Mocha-Insel? Dort habt ihr den Araukanern geholfen, die Dons waren wie wild. Aber ihr seid entwischt. Seither habe ich mich für dich und deine Freunde interessiert. Ich bin mal auf diesem, mal auf jenem Schiff gefahren. Ich bin kein Spanier, sondern Venezianer. Don Bosco erwischte mich auf einer portugiesischen Galeone, sie sollte nach Lissabon segeln und war mit Silberbarren beladen. Aber ich war nie ein Verräter, Seewolf. Du kannst mir glauben oder nicht, es ist mir gleich. Aber wenn du mich beleidigst, dann hast du auch mich zum Feind.“ Barba schwieg einen Moment, und die Seewölfe starrten ihn an. „Aber nicht nur ich interessierte mich für dich und deine Freunde. Don Bosco tut das auch schon seit einer geraumen Weile. Nicht zuletzt seit dem Moment, in dem ihr die Silberflotte angegriffen habt, denn
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damit habt ihr ihm einen fetten Brocken abgejagt, den er sich holen wollte, nachdem die anderen den Kampf für ihn erledigt hatten. Außerdem interessiert sich Don Bosco seit einiger Zeit schon für eure sagenhafte Schlangeninsel. Anlaß genug geben dazu ja der Wikinger mit seinem Schwarzen Segler, die Rote Korsarin mit ihrer Galeone, die man weithin an den roten Segeln erkennt und die sie ,Roter Drache’ getauft hat und auf der eine Crew von Engländern fährt. Und nicht zuletzt der Franzose, der den Piraten der Karibik ebenfalls immer wieder die Hölle gehörig angeheizt hat, sobald sie sich der Schlangeninsel zu sehr näherten oder ihm sonst ins Gehege gerieten. Man erzählt wirklich sehr merkwürdige Dinge über diese Insel, das kannst du mir glauben. Es soll da ein Felsentor geben, das der Satan persönlich bewacht ...“ Big Old Shane brach in lautes Gelächter aus. „Dieser Don Bosco soll sich nur in acht nehmen, daß ihn der Teufel nicht persönlich holt, wenn er sich zu nahe an die Schlangeninsel heranwagt!“ Der einstige Waffenmeister von Arwenack brüllte vor Lachen, und die anderen Seewölfe fielen ein. Die Galeere glich im Nu einem Tollhaus, und dann, wer es angestimmt hatte, wußte später niemand mehr, erscholl der alte Kampfruf der Seewölfe. Er brandete wie eine Riesenwoge durch das Schiff, schwemmte alles mit sich fort, drang bis in die Höhle, in der Don Bosco und seine Spießgesellen ihre Orgie feierten und in der die Weiber plötzlich mit ihrem Gekreische aufhörten. „A-r-w-e-n-a-c-k !“ hörten sie den Kampfruf der Seewölfe. Und dann noch einmal und gleich darauf abermals. Don Bosco fuhr hoch. Er stieß Conchita, die schwarzhaarige Schöne, seine Gefährtin, die ihm bedingungslos ergeben war, zur Seite. Seine Züge verzerrten sich vor Wut. „Nuno!“ brüllte er, und der Riese erhob sich schwankend, stierte Don Bosco aus seinen kleinen, tückischen Augen an. „Nuno! Bring diese Dreckskerle zur Ruhe,
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sofort! Und wenn du es nicht schaffst, dann erledige ich es persönlich! Denen soll ihr Gebrüll noch vergehen, sie kennen Don Bosco noch nicht. Aber sie werden mich kennenlernen, gleich morgen früh, und sie sollen zittern vor mir!“ Don Bosco langte nach der schwarzhaarigen Conchita. Dann setzte er einen großen Weinkrug an die Lippen und trank ihn aus. So überlegt er auch sonst handelte —hatte er erst mal ein genügend großes Quantum Wein intus, dann brach seine wahre Natur plötzlich durch. Er erhob sich gedankenschnell, ließ den Krug fallen und sprang auf Nuno zu, der immer noch dastand und ihn anglotzte. „Du sollst sie zum Schweigen bringen, habe ich gesagt!“ brüllte er. Er versetzte dem Schlagmann einen Tritt. Mit solcher Kraft, daß Nuno zurückflog und gegen die Felsen in seinem Rücken prallte. Ein Felsvorsprung bohrte sich in seinen Rücken, der von gewaltigen Muskelsträngen durchzogen wurde, und Nuno schrie auf vor Wut und Schmerz. Aber dann sah er Don Bosco. und er kannte den Tortuga-Piraten lange genug, um zu wissen, wie gefährlich er in diesem Moment war. Nuno überwand seine Wut und seinen Schmerz und rannte los. Das sollten ihm die Seewölfe büßen, schwor er sich. Vor allem dieser Kerl mit dem Narbengesicht und dieser Seewolf mit den kalten, eisblauen Augen ... * Sie hörten Nuno den Niedergang abentern. Die Stufen bogen sich unter seinem Gewicht, und dann stand er vor ihnen, die Neunschwänzige in der Faust. Er sagte kein Wort, aber aus seinen kleinen, blutunterlaufenen Augen starrte er sie tückisch an, und dann schlug er zu. Seine Hiebe prasselten auf sie herab, sie konnten nicht ausweichen, ihre Ketten hinderten sie daran. Nuno wütete wie ein Berserker unter ihnen, und auch Barba kriegte seinen Teil, nach ihm die anderen, die im Achterschiff an die Ruderbänke gekettet
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waren. Etliche von ihnen verloren das Bewußtsein, aber das störte Nuno nicht. Er schlug und schlug, bis sogar seine Kräfte allmählich erlahmten. Dann lehnte er sich gegen die Bordwand der Galeere. „So, jetzt könnt ihr weiterbrüllen!“ sagte er und zog dabei die Neunschwänzige durch seine Linke. Hasard und Philip, die beiden Söhne des Seewolfs, bluteten aus mehreren Wunden. Carberrys’ Hemd hing in Fetzen um seinen gewaltigen Oberkörper, denn so gut er es vermochte, hatte er die Zwillinge gedeckt, sie vor den Hieben dieses Wahnsinnigen geschützt. Der Seewolf starrte Nuno an, und noch nie hatten seine Männer einen solchen Zorn, eine solch tödliche Drohung in seinen Augen gesehen. „Das wirst du büßen, Nuno!“ sagte er dumpf. „Du und dein Don Bosco. Ihr glaubt, ihr habt uns fest. Ich sage es dir heute: Wir werden euch vernichten, wir werden dich und Don Bosco jagen, bis auch der letzte von euch ausgelöscht ist, bis die Meere dieser Welt wieder frei sind von solchem Ungeziefer wie euch.“ Nuno zuckte unter seinen Worten zusammen wie unter Peitschenhieben. Seine kleinen Augen verschwanden fast hinter den dicken Fleischwülsten, die sie umgaben. Langsam trat er auf den Seewolf zu, die Neunschwänzige in der Rechten. Aber dann überlegte er es sich. Er starrte den Seewolf aus blutunterlaufenen Augen an. „Nein, es hat keinen Sinn, dich weiter auszupeitschen. Kerle wie dich man auch mit der Neunschwänzigen nicht erschlagen. Für dich gibt es andere Mittel, Seewolf, st sehen. Don Bosco hat sich für euch etwas ausgedacht, und morgen früh, bei Sonnenaufgang, werdet ihr sehen, was.“ Er trat ein paar Schritte zurück. „Diese beiden da“, er deutete auf die Zwillinge, „diese beiden werden morgen früh vor deinen Augen sterben, wenn du nicht redest. Weißt du eigentlich, wie bei Don Bosco gestorben wird, he? Nein, du weißt es nicht, aber du wirst es erfahren.
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Es dauert lange, Seewolf, und es ist schlimm für den, der sterben muß. Und nach diesen beiden folgt der nächste. Und bei jedem werden die Qualen schlimmer sein, die er zu erdulden hat. Don Bosco segelt erst, wenn du geredet hast, wenn er weiß, was er wissen will. Und dann werden die Schätze deiner Insel uns gehören, so, wie wir dein Schiff bereits haben. Die Legende vom unbesiegbaren Seewolf ist zu Ende, deine Stelle wird Don Bosco einnehmen. Er und wir, wir werden die Beherrscher der Karibik sein. Und nichts, gar nichts wird uns davon abhalten, auch du nicht, Seewolf.“ Durch die Reihen der Seewölfe ging ein Murren. Der alte O’Flynn war derjenige, der den alten Schlachtruf abermals anstimmte. Und alle Seewölfe fielen ein, und dabei glühten ihre Augen den Schlagmann der „Conchita“ an. Wie eine wilde Meute von Wölfen hockten sie angekettet auf ihren Bänken, und unter ihren Stimmen erbebte die Galeere. Nuno starrte sie an. Entsetzen trat in seine Züge, seine Augen begannen zu flackern. Er spürte, welch eine Welle von Wut und Haß ihm von den Ruderbänken entgegenschlug, und er wich zurück. Er begriff nichts, aber er begann in diesem Moment zu ahnen, auf was Don Bosco sich eingelassen hatte, als er die Seewölfe in seine Gewalt brachte. Die Seewölfe brüllten ihren alten Schlachtruf immer noch durch die Nacht, als Nuno längst wie von Furien gehetzt über die Insel jagte. Schwer atmend verstummten sie erst eine ganze Weile später. Und als sie verstummten, hatte Don Bosco die Orgie beendet. Conchita, seine Geliebte, klammerte sich an ihn. Aus grollen, angstvoll geweiteten Augen starrte sie in die Nacht, dorthin, wo die Galeere lag, die Don Bosco nach ihr benannt hatte. „Was sind das für Männer?“ fragte sie leise, und ihre Stimme vibrierte dabei. „Du hättest dich nie mit ihnen einlassen sollen, diese Männer sind unser Tod. Du kannst sie nicht besiegen, sie haben einen Pakt mit dem Teufel. Sie ...“
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Conchita hielt sich die Augen zu. Schlimme Gesichte nahmen vor ihren Augen plötzlich Gestalt an. Sie sah Kampf, Feuer, Tod. Sie sah sinkende Schiffe, sie sah Don Bosco. Blutüberströmt stand er auf dem Achterdeck eines Schiffes, kämpfte verzweifelt um sein Leben, sie sah die See, die Don Bosco umgab. Sie hallte wider vom Donner schwerer Geschütze... Conchita schrie auf, und erst die derbe Ohrfeige, die Don Bosco ihr versetzte, brachte sie in die Wirklichkeit zurück. „Wieso kann ich diese Hundesöhne nicht besiegen?“ brüllte er sie an. „Ich habe sie schon besiegt. Angekettet sitzen sie auf den Ruderbänken der ,Conchita`, und morgen, bei Sonnenaufgang, wird dieser Seewolf mir alles sagen, was ich wissen will, oder er wird erfahren, wie die Hölle Don Boscos aussieht und welche Qualen sie für ihn und seine Seewölfe bereithält. Mal sehen, ob ihm dann der Satan wirklich zu Hilfe eilt, und wenn, dann nehme ich es mit ihm auch noch auf! Ich bin der Herrscher von Tortuga, und bald werde ich der Herrscher über die ganze Karibik sein, es wird niemanden mehr geben, der mir zu widerstehen vermag. Sie sollen mir Tribut zahlen, alle, so weit die Karibik reicht!“ Don Bosco stand in der Felsenhöhle, in der sie bis eben gefeiert hatten, und seine Schnapphähne starrten ihn an, als wäre er eine Erscheinung. Conchita klammerte sich an ihm fest. Ihr schlanker Körper bebte, und eine grauenhafte Angst begann sie zu erfüllen. Sie hatte den Seewolf und seine wilden Gesellen gesehen, sie war Zeuge davon geworden, wie nur zwei von ihnen, ein alter und ein junger, ganz allein die Karacke Don Boscos zu den Fischen schickten. Sie hatte über den Seewolf schon vieles gehört, zu viel, um nicht zu wissen, was ihnen allen bevorstand, falls dieser Mann jemals die Freiheit wiedererlangte. Da würde keine Rechnung offenbleiben. Der Seewolf würde sie begleichen. Auf seine Art und ohne jedes Pardon. Conchita starrte auf die huschenden Schatten, die das flackernde Feuer gegen die Felswände der Höhle warf. Dann riß
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sie sich mit einem wilden Aufschrei los. Sie ertrug die schrecklichen Gesichte, die sie aus den tanzenden Schatten an den Höhlenwänden anzuspringen schienen, nicht mehr länger. Wie Gespenster drangen sie auf Conchita ein, drohten sie zu erdrücken. Conchita rannte davon, wie von Furien gehetzt. Don Bosco fluchte wild, verwünschte alle Weiber und ihre Launen und griff erneut zum Krug. Er trank in dieser Nacht, bis er von jenem Felsbrocken rollte, die in der Höhle herumlagen und den Schnapphähnen als Sitzgelegenheit dienten. Er schlief bis zum Morgengrauen, dann erhob er sich schwerfällig und brüllte dabei nach Pablo, seinem Unterführer, und nach Nuno. Anschließend wankten die drei Männer die Felsen herab. Dorthin, wo die Galeere lag. Aber bei jedem Schritt, den Don Bosco an diesem Morgen tat, wurde sein scharfer Verstand wieder klarer. Er begann zu denken, gründlich, wie es seine Art war und wie es ihm schon ungezählte Male das Leben gerettet hatte. Und plötzlich verfluchte er seine Geliebte. Conchita, nicht mehr. Denn er spürte sie jetzt selber, die Gefahr, die vom Seewolf und seinen Männern ausging, die diesen Morgen wie ein unsichtbarer Schatten verdunkelte. Don Bosco fuhr sich über die Stirn und wischte den Schweiß, der sich dort bildete, mit dem Handrücken fort. Ich muß verdammt auf der Hut sein, dachte er. Aber ich will die Schätze, die dieser dreimal verfluchte Seewolf auf seiner Insel lagert, und er wird sie mir geben, so wahr ich Don Bosco bin...“ 2. Die Nacht wich dem Morgengrauen. Durch das Gebälk, das den Laufgang in der Mitte des Hauptdecks stützte, über den Dollbord, in dem die langen Ruder verankert waren, kroch das erste Grau des heraufdämmernden Tages ins Innere der Galeere. Die Seewölfe sahen es mit gemischten Gefühlen. Es hatte noch so manche
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Diskussion im Laufe der Nacht darüber gegeben, wie man der in jeder Hinsicht äußerst bedrohlichen Lage begegnen, wie man diesem Tortuga-Piraten doch die Luvposition absegeln könne. Aber es hatte sich nichts ergeben, dieser Don Bosco war zu gerissen, zu vorsichtig und zu brutal. Nur in einem hatten alle Seewölfe gleich reagiert: Niemand ließ im Laufe dieser schlimmen Nacht auch nur andeutungsweise etwas darüber verlauten, daß es sich bei den beiden angeblichen Schiffsjungen der „Isabella“ um die beiden Söhne des Seewolfs handelte. Denn jeder der Seewölfe wußte nur zu gut: Erfuhr Don Bosco auch nur ein Sterbenswörtchen davon, würde er nicht zögern, diese beiden Jungen als Druckmittel gegen den Seewolf auszuspielen. Und beinahe unbewußt vertraute jeder von ihnen auf Carberry, der sich irgendetwas überlegt haben mußte, wie er Don Bosco davon abhalten konnte, die Zwillinge als erste zu töten. Der Profos war nicht der Mann, der große Sprüche klopfte, schon gar nicht in einer solchen Situation. Hinzu kam noch, daß man die anderen, Barba eingeschlossen, die das Schicksal der Seewölfe teilten, nicht kannte, ihnen also eher mit Vorsicht und Mißtrauen begegnete, anstatt zu vertrauensselig zu sein. Es handelte sich alles in allem gesehen um eine so teuflische Situation, wie sie die Seewölfe noch nie in all den langen Jahren ihrer gemeinsamen Unternehmungen erlebt hatten. Der Seewolf grübelte vor sich hin. Das Morgengrauen war auch nicht dazu angetan, seinen Optimismus, über den er normalerweise verfügte, wiederzubeleben. Die Entscheidung stand unmittelbar bevor, jeden Moment konnte Don Bosco erscheinen. Der Seewolf warf einen besorgten Blick zu seinen Söhnen hinüber. Der Gedanke allein, daß dieser Tortuga-Pirat es wagen würde, Hand an die beiden zu legen, brachte ihn fast um den Verstand. Die beiden saßen zwischen dem riesigen Carberry und Big Old Shane auf der Ruderbank an Steuerbord. Sie hatten die
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ganze Nacht über kaum ein Wort verlauten lassen, aber sie hielten sich tapfer. Der Seewolf knirschte abermals mit den Zähnen. Er sollte zusehen müssen, wie man diese beiden qualvoll zu Tode folterte, wie eine solche Bestie in Menschengestalt sie vor seinen Augen den Folterknechten übergab? Nein, das würde niemals geschehen, das schwor sich der Seewolf in diesem Moment. Schlangeninsel hin, Schlangeninsel her. Es mußte sich für ihn doch ein Weg finden lassen, seine Kinder, das teuerste Vermächtnis, das seine verstorbene Frau ihm hinterlassen hatte, zu schützen, ohne seine Freunde auf der Schlangeninsel zu verraten, ohne sie diesem Don Bosco und seinen Spießgesellen auszuliefern. Die Worte Ferris Tuckers gingen ihm durch den Kopf. Nein, es konnte noch nicht alles zu Ende sein, dieser Don Bosco würde nicht der Mann sein, der den Seewölfen ein so schmähliches Ende bereitete. Und dem Wikinger und der Roten Korsarin und Jean Ribault. Ganz abgesehen von Männern wie von Hutten, dem Boston-Mann und all den anderen. Einen Moment lang wurde im Seewolf das Gefühl ganz stark, daß es einen Ausweg geben würde, wie schon so oft, aber er sah ihn noch nicht. Stimmen wurden am Ufer laut. Der Seewolf erkannte das verhaßte Organ Don Boscos. Dann die röhrende Stimme von diesem Nuno, seinem Henkersknecht, der jeden seiner Befehle blind und ohne zu überlegen ausführen würde. Der Seewolf straffte sich unmerklich, und auch durch die Seewölfe ging es wie ein Ruck, als Schritte den Niedergang herabpolterten. Sekunden später stand Don Bosco im Ruderdeck. Er trug hohe Lederstiefel, deren Schäfte er umgekippt hatte. Eine Hose aus blauem Stoff, einen schweren, breiten Gürtel, in dem zwei Pistolen und ein Entermesser steckten. Der Oberkörper, über und über mit Tätowierungen bedeckt, war nackt. Man sah, wie die Muskeln unter seiner kupferbraunen Haut spielten.
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In diesem Moment, als der Herrscher von Tortuga vor ihnen stand und sie musterte, während ein höhnisches Lächeln seine Lippen umspielte, erinnerten sich die Seewölfe daran, daß sie schon einmal auf einer Galeere Dienst getan. Daß sie schon einmal viele Monate als Galeerensklaven an die Ruderbänke gekettet, nur noch von ihrer Wut und von der nie erlahmenden Hoffnung auf Befreiung gelebt hatten. Und daß der Tag gekommen war, an dem der Seewolf und Ben Brighton sie von den Ketten ihrer Peiniger befreiten. Das war in Spanien gewesen, in der Mündung des Guadalquivir. Don Boscos Stimme unterbrach ihre Gedanken und Erinnerungen. „Also, Seewolf, wie hast du dich entschieden? Willst du reden, oder müssen die beiden da sterben?“ Er deutete auf die Zwillinge. die unwillkürlich näher an Carberry herangerückt waren. Nuno betrat das Ruderdeck. hinter ihm Pablo. Der mieseste Kerl. den die Seewölfe jemals kennengelernt hatten. Als Pablo sich neben Don Bosco und Nuno aufbaute, lief der alte O’Flynn vor Wut rot an. „Dir drehe ich eines Tages eigenhändig den Hals um!“ schrie er den Unterführer Don Boscos an. „So was wie dich haben wir früher auf der ,Empress of Sea’ mit einem nassen Tampen erschlagen und den Haien zum Faß vorgeworfen. Und bei allen Meermännern und Seejungfrauen, ich schlage dir eines Tages den Schädel mit meinem Holzbein ein, und dann wird mir unser Schiffszimmermann ein neues anfertigen müssen, weil mir das alte danach viel zu dreckig und zu stinkig ist, als daß ich es dann noch tragen würde!“ Der Alte hatte sich in Wut geredet. Und auch Batuti, der Pablo von Anfang an nicht gemocht hatte, starrte ihn finster an. Pablo zuckte zusammen, als Batuti sich so weit aufrichtete, wie seine Ketten es ihm erlaubten. Die Eisen klirrten dabei an seinen Hand- und Fußgelenken. „Batuti dich erwürgen, komm her, dann tot! Nix brauchen dazu, nur Fäuste! Und du, Don Bosco, gut aufpassen auf dich. Lügner, Feiglinge, Stinktiere wie Pablo
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fallen eigenen Herrn an, stechen ab eines Tages, von hinten. Vergiften vielleicht deinen Wein oder dein Wasser, dann tot, Don Bosco!“ Batuti spuckte aus, danach setzte er sich schweigend auf seine Ruderbank, aber er ließ Pablo keine Sekunde aus den Augen, und seine Augen glühten dabei durch das Ruderdeck wie die eines schwarzen Panthers. Don Bosco besaß genügend Gespür, um zu begreifen, was sich in den Seewölfen im Laufe dieser Nacht alles aufgestaut hatte und wie leicht das zur gewaltsamen Entladung kommen konnte. Verdammt, dachte ich muß endlich Schluß machen mit diesem ganzen Unsinn. Ich will endlich diesen Seewolf zum Sprechen bringen. Er trat ganz nahe an Hasard heran. „Deine Antwort, Seewolf. Ich will sie jetzt. Sagst du nein, dann lasse ich dich und die beiden dort auf die ‚Isabella’ bringen. Du wirst reden, auf jeden Fall. Und wenn die beiden dort sind, dann lasse ich den nächsten holen, dann wieder einen und so weiter. Bis nur noch du allein lebst. Aber gewonnen hast du erst, wenn auch du gestorben bist, ohne mir gesagt zu haben, was ich wissen will.“ Don Bosco starrte den Seewolf abermals an, und als dieser beharrlich weiterhin schwieg, als einer der Zwillinge mit flackernden Augen von der Ruderbank emporfuhr, schneller, als Carberry ihn packen konnte, da war Don Bosco mit ein paar gedankenschnellen Bewegungen heran. Er sah die Todesangst in den Augen des Jungen, er sah die Not, die dieser Junge in diesem Moment erlitt, und er wollte seine Chance nutzen. Brutal griff er nach dem Jungen. „Nuno, schließ die Eisen der beiden auf! Der Seewolf hat’s so gewollt!“ Er packte den Jungen, es war Philip Killigrew, und riß ihn von der Ruderbank zu sich herüber, während Nuno bereits mit den Schlüsseln für die Eisen herbeieilte, um den Befehl Don Boscos auf der Stelle zu befolgen. Genau auf diesen Moment hatte Carberry gewartet. Er ließ den Schlagmann der Galeere herankommen, bis der
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Muskelmann unmittelbar neben ihm stand. Gleichzeitig behielt Carberry Don Bosco im Auge, der den Jungen immer noch gepackt hielt und auch in Reichweite Carberrys stand. Nuno verpaßte Carberry einen derben Faustschlag in den Rücken, der den Profos für einen Moment nach vorne warf. „Mach Platz, du Mistbock, oder ich gerbe dir das Fell, bis du die Rahnock nicht mehr vom Kielschwein unterscheiden kannst!“ Carberry spürte die Welle des Jähzorns, die alles in ihm überschwemmte. Diese ständigen Demütigungen verkraftete er einfach nicht mehr. Blitzschnell krümmte er sich zusammen, dann fuhr sein kantiger Schädel mit ungeheurer Wucht empor. Die ganze Kraft seiner Rückenmuskeln lag in diesem Stoß. Er rammte Nuno den Kopf vor die Brust. Der Schlagmann der „Conchita“ verlor den Halt. Er stieß einen unartikulierten Schrei aus, der die Galeere erbeben ließ, dann krachte er irgendwo zwischen die Ruderbänke, die unter seinem Gewicht zersplitterten. Carberry nahm sich gar nicht die Zeit, sich anzusehen, wie es den riesigen Schlagmann erwischte, denn der fiel geradewegs in die Fäuste des Schiffszimmermanns, der auch nicht lange fackelte, sondern so kräftig zulangte, wie seine angeketteten Arme ihm das erlaubten. Nuno brüllte, und Don Bosco, der das alles zwar registriert, aber eben doch nicht schnell genug begriffen hatte, ließ den Zwilling fahren und warf sich herum. Genau in den zweiten Kopfstoß Carberrys hinein, zu dem er eben ausgeholt hatte. Carberrys eisenharter Schädel krachte Don Bosco in die Rippen und trieb ihm die Luft aus den Lungen. Aber noch ehe er mit weit aufgerissenen Augen ebenfalls zwischen die Bänke stürzen konnte, packte Carberry ihn mit seinen angeketteten Händen und riß ihn zu sich auf die Ruderbank herab. Gleich darauf verpaßte er Don Bosco abermals einen mit aller Kraft geführten Kopfstoß vor die Brust, dann einen unters Kinn.
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Don Bosco verdrehte die Augen. Er war beileibe kein Schwächling, aber das vertrug auch seine bärenstarke Natur nicht mehr. „Die Schlüssel, Ferris!“ brüllte Carberry so laut, daß alle im Ruderdeck befindlichen Männer zusammenfuhren. „Nimm diesem Bastard die Schlüssel für die Eisen ab, dann werden wir es ihnen besorgen! Die sollen den alten Carberry von seiner miesesten Seite kennenlernen, die mach ich fertig, denen reiße ich ihr lausiges Fell in Streifen von ihrem verwanzten Balg. Die werden zum Schluß so ekelhaft aussehen, daß nicht einmal der letzte Hai mehr Appetit auf sie haben wird!“ Carberry schüttelte den Tortuga-Piraten mit seinen gewaltigen Fäusten wie einen nassen Sack hin und her. Die Seewölfe, ihrer seit langem aufgestauten Wut nicht mehr Herr, brüllten dazu wie die Teufel. Es war eine Szene aus der Hölle, die sich in diesem Moment an Bord der Galeere abspielte. Aber so leicht sie sich vielleicht auch in den Besitz der Schlüssel für die Hand- und Fußeisen hätten setzen können, wie leicht unter Umständen sogar ihre Befreiung gewesen wäre — eben dieses mörderische Gebrüll wurde ihnen zum Verhängnis. Pablo, der mit Don Bosco und Nuno das Ruderdeck betreten hatte, überblickte die Lage sofort. An die Seewölfe traute er sich nicht heran. Das Entermesser — seine einzige Waffe —half ihm gegen diese entfesselte Horde von Wüterichen auch nicht sehr, auch dann nicht, wenn er einen von ihnen erstach. Er spürte. was in diesem Moment unter den Seewölfen ausgebrochen war, und er verspürte so große Furcht davor. daß es ihnen wirklich gelingen könnte, sich zu befreien, daß er sich hastig umdrehte und den Niedergang wieder hinaufstürzte. Dann rief er gellend ein paar der Männer zu Hilfe. die sich auf der unweit von der Galeere in der Bucht ankernden „Isabella“ befanden. Sechs der wüsten Kerle stürzten herbei. Sie hatten das Gebrüll ohnehin schon gehört, aber in diesem Augenblick begriffen ihre vom Alkohol noch vernebelten Gehirne,
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was wirklich an Bord der „Conchita“ geschah. Noch im Laufen rissen sie ihre Pistolen aus den Gürteln und die breiten, gekrümmten Piratensäbel aus dem Gehänge. So polterten sie den Niedergang hinab, angeführt von Pablo, dem Unterführer Don Boscos, den immer noch das nackte Entsetzen gepackt hielt. Der Seewolf erblickte sie als erster, und er stieß einen Warnruf aus. Die Seewölfe fuhren herum, und sie blickten in die Läufe der Pistolen, die die Piraten auf sie gerichtet hatten. Carberry und Ferris Tucker ließen jedoch von ihren Opfern nicht ab. Wie Carberry Don Bosco, so hatte der Schiffszimmermann den Schlagmann mit den Fäusten gepackt und hielt den Riesen erbarmungslos fest. „Ihr braucht nur abzudrücken“, sagte er, „und ich drehe diesem Dreckskerl den Hals um. Glaubt nur, daß mir dazu noch Zeit bleibt. Oder probiert’s mal aus, dann werdet ihr schon sehen.“ Carberry, aus seinem Jähzorn erwacht, starrte Pablo düster an. „Komm her!“ sagte er dann. „Komm her, oder ich zerquetsche deinen Don Bosco mit meinen Ketten wie eine Laus. Und denk daran, alle haben es gehört. Wenn du zu feige bist, dann werden sie wissen, warum Don Bosco sterben mußte!“ Carberry wußte, daß er keine Chance hatte, freizukommen, aber er wollte diese blutrünstigen Gesellen wenigstens. von den Zwillingen ablenken. Zeit gewonnen, alles gewonnen, das hatten die Seewölfe schon zu oft erlebt. Pablo zögerte. Das, was sich da anbahnte, war absolut nicht nach seinem Geschmack. Zwar war er alles andere als feige, aber der Aufforderung dieses narbigen Giganten da Folge zu leisten, nein, das kam überhaupt nicht in Frage. Genauso gut hätte er einem Hai in den weit offenen Rachen springen können. Don Bosco selbst war es, der die makabre Szene beendete. Zwar hatte er sich nicht gerührt, aber er war bei Bewußtsein und wartete auf seine Chance. Als Carberry für
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einen winzigen Moment seinen eisenharten Griff lockerte, um hernach umso fester zuzupacken, hieb er dem Profos den Ellenbogen mit aller Gewalt in die Magengrube. Carberry war so überrascht von dieser Aktion seines vermeintlich bewußtlosen Gegners, daß er Don Bosco fahrenließ und einen Moment lang nur noch Sterne vor seinen Augen tanzen sah. Don Bosco glitt wie ein Aal aus der Umklammerung. Ehe Carberry wieder völlig klar sah, hatte er eine seiner Pistolen aus dem Gürtel gezogen, aus dem Carberry sie wegen seiner Ketten nicht hatte herausreißen können, und schlug sie dem Profos über den Schädel. Dann war er mit einem Satz bei Ferris Tucker und setzte ihm die Mündung gegen die Stirn, während er knackend den Hahn spannte. „Loslassen!“ sagte er kalt. „Oder ich blase dir dein Spatzenhirn aus dem Schädel. Und, verdammt, es ist mir Ernst damit!“ Ferris Tucker blieb nichts anderes übrig, er ließ los, und Nuno rollte von der Ruderbank auf die Planken des Ruderdecks. Benommen, mit glasigen Augen starrte er um sich. Ein paar Tritte Don Boscos brachten ihn jedoch schnell wieder zu sich. Brüllend sprang er auf, immer noch taumelnd, wollte sich auf Ferris Tucker stürzen, aber Don Bosco stoppte ihn mit einem neuen Tritt, der Nuno in die entgegengesetzte Richtung beförderte. Anschließend blieb Don Bosco schwer atmend stehen. Seine Augen waren blutunterlaufen, sein Kinn schwoll langsam, aber stetig an. Er starrte die Seewölfe an, und sein Blick verhieß nichts Gutes. Die anderen Piraten, die Pablo zu Hilfe geholt hatte, bildeten vom Niedergang aus einen Halbkreis um ihn, der sich zu den Ruderbänken hin öffnete. Don Bosco setzte sich in Bewegung. Langsam ging er auf den Seewolf zu. „Ich kriege aus dir raus, was ich wissen will“, sagte er. „Du wirst mich noch auf den Knien anbetteln, mir alles das sagen zu dürfen, was du mir jetzt noch verschweigst!“
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Ganz plötzlich fuhr er herum. „Nuno!“ brüllte er. „Pack diesen narbigen Kerl da. Mit ihm werde ich den Anfang machen. Nach ihm ist der da dran!“ Er deutete auf den hünenhaften Schiffszimmermann der „Isabella“, und seine Züge verzerrten sich vor Wut. „Schafft den Narbenkerl und den Seewolf auf die ‚Isabella’, wir haben jetzt genügend Zeit vertrödelt. Wir laufen sofort aus. Den Kurs zur Schlangeninsel kennen wir. Der dreimal verfluchte Wikinger und die Rote Korsarin sind fort -außer dem Franzosen ist niemand auf der Insel, der uns Schwierigkeiten bereiten könnte. Nützen wir unsere Zeit, keine Insel der Welt birgt mehr Schätze als die Schlangeninsel!“ Die Kerle brachen in wüstes Gebrüll aus. Dann packten sie gemeinsam mit Nuno und Pablo erst den Seewolf, dann Carberry. Der Einfachheit halber, damit keiner von ihnen auch nur auf die Idee kam, ernsthaft Widerstand zu leisten, kriegten beide eins über den Schädel. Erst dann schlossen sie die Bewußtlosen lös und transportierten sie ab, aber nicht ohne sie vorher wieder mit Hand- und Fußfesseln versehen zu haben. Sie schleiften den Seewolf und seinen Profos die Stufen des Niedergangs hoch, und die Zwillinge, Hasards Söhne, starrten ihnen hinterher, genau wie die anderen Seewölfe. Es war die schlimmste Situation, in der sie sich bisher befunden hatten. Matt Davies knirschte mit den Zähnen. Nie hätte ihnen das passieren dürfen. Aber dieser Pablo, der sie mit seiner Unschuldsmiene diesem Don Bosco ans Messer geliefert hatte, der sollte sich nur in acht nehmen, das schwor sich Matt Davies in diesem Moment und schlug die messerscharf zugeschliffene Spitze seiner Hakenprothese ins Holz seines Ruders. Die Seewölfe sprachen kein Wort miteinander. Es gab einfach nichts zu sagen. Auch Barba im Achterschiff schwieg, er wußte, daß im Moment jedes Wort zuviel gewesen wäre. Zu groß war die Verbitterung der Seewölfe. Wenig später machte die „Conchita“ die Leinen los, und der verhaßte Nuno gab den
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Takt an. War irgendjemand zu langsam, dann jagte er seine Aufseher durch die „Conchita“ oder bearbeitete die Männer an den Rudern auch persönlich mit seiner Neunschwänzigen. Denn Nuno war nicht nur Schlagmann, sondern auch der Oberaufseher über die Rudersklaven der Galeere. Die „Conchita“ glitt aus der Bucht. Da erschien Pablo, Unterführer Don Boscos und Kommandant der Galeere zugleich, im Ruderdeck. Mit ihm erschien ein Mann, der Nuno von der Große und von seinen Muskelpaketen her, die sich wie dicke Wülste unter der Haut abzeichneten, kaum nachstand. „Du sollst an Bord der ,Isabella’ gehen, Nuno“, sagte Pablo dumpf. „Der Seewolf redet nicht. Besorg es jetzt erst mal diesem Narbengesicht, das dich bei Diego so famos verprügelt hat. Danach schicke ich dir dann den da und dann wieder einen und so weiter. Genauso, wie es Don Bosco befohlen hat. Bis zur Schlangeninsel ist es noch weit, wir haben also viel Zeit!“ Pablo sagte das nicht ohne Genugtuung und auch nicht ohne Berechnung. Die Bemerkung über die Prügel, die Nuno von Carberry in der Schildkröte, Diegos Felsenkneipe auf Tortuga, bezogen hatte, heizte den Schlagmann so richtig an. Er richtete seine tückischen kleinen Augen auf Ferris Tucker. „Freu dich nur nicht, daß du erst der zweite bist!“ brüllte er. „Wenn ich mit euerm Profos fertig bin, habe ich erst meine richtige Form. Und dann wird dir die Sache von vorhin noch verdammt sauer aufstoßen, darauf kannst du dich verlassen!“ Der Glatzkopf verschwand, nachdem er seine Fäuste noch einmal drohend gegen Ferris Tucker geschüttelt hatte. 3. Als Carberry sein Bewußtsein wiedererlangte, dröhnte sein Schädel. Aber er stellte sofort fest, daß er sich nicht mehr in dem stinkigen Ruderdeck der Galeere
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befand, sondern daß ihm frischer Seewind um die Ohren blies. Er öffnete die Augen und blinzelte um sich. Dabei erblickte er den Seewolf, und sofort war er hellwach. Hasard stand am Besanmast auf dem Achterdeck der „Isabella“. Seine Füße waren frei, aber seine Hände hatte man mit Eisenfesseln an den Mast geschlossen. Soweit Carberry sah, war ein Loskommen aus eigener Kraft für den Seewolf unmöglich. Hasard war offenbar schon länger bei Bewußtsein, denn er blickte zu ihm herüber. Sein Gesicht war ernst, als er Carberry zunickte. Der Profos grinste zurück. Yes, Sir, hier oben auf dem Achterdeck der „Isabella“ an der frischen Luft fühlte er sich bis auf den dröhnenden Schädel schon wesentlich besser. Die Kerle sollten nur kommen, denen würde er es schon zeigen. Danach begann er, seine eigene Lage zu sondieren. Er war mit den Eden an die Wanten des Besanmastes gefesselt, aber genau wie beim Seewolf hatte man seine Füße nicht Bunden. Diese Erkenntnis entlockte dem Profos ein Grinsen. Ho, die Kerle begannen leichtsinnig zu wer den! Umso besser! Carberry versuchte sich zu bewegen. Viel kam dabei allerdings nicht heraus, denn die hoch über seinem Kopf ans Besanwant angehängten Hände ließen ihm nicht viel Spielraum. Zudem war es nur eine Frage der Zeit, wann sie ihm einschlafen und damit aktionsunfähig werden würden. Carberry ließ seine Blicke über die „Isabella“ schweifen. Und was er sah, das fuchste ihn nicht wenig. Auf dem Hauptdeck lümmelten sich so an die zwanzig Kerle von Don Boscos Piratenbrut herum. Allesamt Schlagetots erster Güte, die in zerfranster und liederlicher Kleidung dreckig und ungewaschen herumsaßen oder standen und zu ihm und dem Seewolf schadenund erwartungsfroh herüberglotzten. Junge, Junge, dachte Carberry, denen würde ich helfen, da herumzulümmeln und blöde durch die Gegend zu glotzen! Die sollten mal einen einzigen Tag an Bord der „Isabella“ sein! Er blickte zu Hasard hinüber.
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„He, Sir, was sagst du zu diesen verlausten Decksaffen da unten, wie, was? Denen müßte man mal so richtig die Ärsche polieren, damit sie in Schwung kommen. Und diese kalfaterten Halbaffen wollen unsere ,Isabella’ segeln? No, Sir, da lacht sich ja sogar unser Arwenack schon vorher halb tot ...“ Carberry hatte das Wort Arwenack kaum ausgesprochen, als ein dunkler Schatten blitzschnell vom Besanmast herabturnte und gleich darauf mit einem gewaltigen Satz auf den Decksplanken der „Isabella“ landete. Er kefferte aufgeregt, während er erst auf Carberry und dann auf den Seewolf zuhüpfte. Arwenack, der Schimpanse, das Bordmaskottchen der Seewölfe, bleckte die Zähne und trommelte sich mit beiden Händen auf der Brust herum. Gleichzeitig ertönte aus der Takelage ein wüstes Gezeter. Es stammte von Sir John, dem Bordpapagei. „Arschgeigen!“ vernahm der Profos zu seinem größten Vergnügen. „Verlauste und triefäugige Kombüsenkakerlaken!“ Arwenack sprang an Carberry empor, klammerte sich an dem riesigen Mann fest und starrte dann ratlos auf die Tampen, mit denen man den Profos ans Besanwant gefesselt hatte. Wieder entblößte er sein starkes Gebiß und begann zu keffern. In diesem Moment enterte Don Bosco den Niedergang zum Achterdeck auf. In halber Höhe blieb er stehen. „Nuno!“ brüllte er. „Einen Krug Wein für mich, aber dalli!“ Von irgendwoher antwortete der Muskelmann, aber Carberry konnte nicht herauskriegen, woher. Arwenack hatte das Gebrüll jedoch anders gedeutet. Wenn ihn schon die ganzen fremden Figuren an Bord ziemlich nervös machten und ihn irritierten, so war die Art und Weise, wie sie sich aufführten, für ihn total unverständlich. Don Bosco hatte kaum den Mund wieder zu, da flog ihm auch schon ein Belegnagel an den Kopf. Gekonnt gezielt und mit erheblicher Kraft geworfen. Der Tortuga-Pirat verlor das Gleichgewicht. Mit einem Fluch, der sogar
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Carberry und den Seewolf erblassen ließ, stürzte er den Niedergang hinab an Deck. Dabei riß er Nuno, der soeben mit dem Krug Wein aufgetaucht war, mit sich auf die Planken. Der Wein ergoß sich an Deck, und die beiden Piraten brüllten jetzt um die Wette. Carberry, der nur einen Teil der Vorgänge beobachten konnte, brach in dröhnendes Gelächter aus. Arwenack, der das Ganze von der Schmuckbalustrade aus beobachtete und noch ein paar Belegnägel in seinen Affenhänden hielt, hüpfte keffernd an Deck auf und ab. Dann, um das Maß vollzumachen, feuerte er einen zweiten Belegnagel ab. Er traf den Glatzkopf genau auf seine ohnehin schon beträchtlich in Mitleidenschaft gezogene Nase. Der Riese brüllte vor Wut, schlug mit seinen Armen um sich und fegte dabei Don Bosco, der sich eben wieder aufrappeln wollte, abermals von den Füßen. Der TortugaPirat knallte mit dem Schädel auf die Decksplanken und blieb für einen Moment mit glasigen Augen liegen. Nuno riß eine Pistole aus dem Gürtel, wollte sie auf Arwenack richten, aber da traf ihn der dritte Belegnagel. Diesmal mitten ins Gesicht. Der Schuß löste sich krachend, aber Arwenack, der sehr wohl wußte, wie gefährlich so eine Pistole auch für ihn war, turnte längst die Wanten empor und brachte sich unter dem mörderischen Gezeter Sir Johns in Sicherheit. Mehrere Pistolen entluden sich jetzt knatternd, aber die Kugeln verfehlten den Schimpansen. Don Bosco setzte dem Ganzen mit dröhnender Stimme ein Ende. Dann hielt er sich den Schädel und schielte zur Takelage empor. „Dieser verfluchte Affe paßt genau zu dieser Satanscrew!“ fluchte er. Aber dann, als er Nuno anblickte, begann er zu grinsen. Dem Muskelmann wuchs ein faustgroßes Veilchen unter dem linken Auge, und seine Nase sah aus, als habe der Profos sie persönlich in die Mangel genommen.
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„Ich bringe dieses Vieh um!“ brüllte der Glatzkopf. „Ich knalle es ab, sobald ich es noch mal zu sehen kriege, ich ...“ Don Bosco fuhr auf ihn zu. „Gar nichts tust du. Hier wird nichts und niemand abgeknallt, bis ich es befehle!“ sagte er. „Und das gilt für alle, verstanden? Es schadet überhaupt nichts, wenn dir so ein Schimpanse mal eins auf deinen Dummkopf klopft, dann wirst du endlich mal wach!“ Nuno blinzelte Don Bosco verwirrt an, aber noch immer fuchtelte er mit seiner Pistole herum. Dann, mit einem Ruck, steckte er sie weg, und seine Augen blickten wieder so tückisch wie sonst. „Das wird dieser Kerl mir büßen, ich werde ...“ Wieder fuhr Don Bosco ihm ins Wort. „Ich habe gesagt, daß ich einen Krug Wein will. Kriege ich ihn jetzt endlich oder nicht?“ fragte er, und Nuno zog es bei dem Ton seiner Stimme vor, schleunigst im Achterkastell zu verschwinden. Er verstand die Welt in diesem Moment nicht mehr. Irgendetwas stimmte auch bei Don Bosco nicht mehr ganz. Früher hätte er diesen verdammten Schimpansen einfangen und Spießruten laufen lassen. Unterdessen enterte Don Bosco zum Achterdeck auf. Langsam ging er auf den Seewolf zu, Carberry schenkte er vorläufig noch nicht die :geringste Beachtung. Genauer geragt, er wollte dem Profos keine Beachtung schenken, aber der durchkreuzte seine Pläne gründlich. „He, du Dreckspirat“, höhnte er, „was muß das für ein Gesindel von Tagedieben und Taugenichtsen sein, über das du auf Tortuga herrschst, wenn dich schon ein Schimpanse auf die Bretter legt! Dich, den gefürchteten Herrscher von Tortuga, und deinen hirnlosen Dickwanst von Schlagmann gleich dazu. Ihr habt euch gesucht und gefunden, und verlaß dich drauf, euch treiben wir noch zu Paaren!“ Carberry lachte so dröhnend, daß die ganze „Isabella“ zu erheben schien. „Sieh dich an, o Herrscher von Tortuga!“ höhnte er weiter. „Hoheit scheinen mit ihrem Affenarsch in ein Weinfaß gefallen
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zu sein oder sich vor Furcht um das kostbare Leben naß gemacht zu haben. Seht ihn euch an, den Helden der Karibik, wie er dasteht. Wie ein Säugling, dem man die vollgepinkelten Windeln nicht gewechselt hat!“ Und wieder brach Carberry in sein dröhnendes Gelächter aus, denn was er sagte, stimmte tatsächlich. Die vom Wein getränkte Hose klebte Don Bosco am Achtersteven und ließ ihn zu einer höchst lächerlichen Erscheinung werden. Don Bosco hatte sich vorgenommen, sich nicht mehr provozieren zu lassen. Aber das war einfach zuviel. Das ertrug er vor all seinen Männern nicht. Und diesmal half ihm auch sein sonst so kühler Verstand nicht, der ihm hätte sagen müssen, daß Carberry ihn nicht ohne Absicht auf eine solche Weise bis zur Weißglut zu reizen versuchte. Aber Don Bosco war einfach zu wütend, um das zu bemerken. Mit einem Satz war er bei Carberry und holte zu einem Schlag aus, der auch den bärenstarken Profos der „Isabella“ sofort ins Land der Träume geschickt hätte. In diesem Moment, noch bevor Don Bosco zuzuschlagen vermochte, geschah etwas völlig Unerwartetes, und auch der Seewolf glaubte seinen Augen nicht zu trauen. Carberrys Rechte zuckte aus den Wanten herab, ein gewaltiger Hieb traf den Tortuga-Piraten an den Schädel. Doch noch ehe Don Bosco zusammensacken konnte, hatte Carberry ihm das Entermesser, das in seinem breiten Gürtel steckte, entrissen. Mit der flachen Klinge schlug Carberry abermals zu und versetzte Don Bosco mit beiden Beinen zugleich einen solchen Tritt, daß Don Bosco über das ganze Achterdeck geschleudert wurde und Sekunden später gegen das Schanzkleid an Backbord krachte, wo er in sich zusammensackte und mit verdrehten Augen liegenblieb. Das alles hatte sich weit schneller abgespielt, als es die sich an Deck herumlümmelnden und erwartungsvoll zum Achterdeck empor starrenden Piraten verarbeiten konnten. Stattdessen glotzten
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sie den Profos blöde an, trauten ihren Augen einfach nicht. Der Profos nützte die knappe Zeit, die ihm verblieb. Die Klinge des Entermessers fuhr zu den Wanten empor, gleich darauf hatte er auch die Linke frei. Dann rannte er zum Seewolf hinüber. Hasard machte eine abwehrende Armbewegung. „Hau ab, Ed!“ sagte er rauh. „Die verdammten Eisen bringst du nicht auf. Verlier keine Zeit, du weißt, was du zu tun hast!“ Die letzten Worte hatte er bereits hastig hervorgestoßen, denn auf dem Hauptdeck, in der Kuhl, erhob sich ein wildes Gebrüll. Endlich hatten die Piraten begriffen, was passiert war. Sie sprangen auf und rannten auf den Niedergang zu, Entermesser, Pistolen und Säbel in den Fäusten. „Verflucht, Ed, verschwinde endlich!“ sagte der Seewolf, und Schweißtropfen standen auf seiner Stirn. „So eine Chance kriegen wir nie wieder. Ich hätte meine beiden Jungen sowieso nicht allein gelassen mit diesem Unhold da!“ Carberry knirschte mit den Zähnen vor Wut. Der Seewolf hatte recht, diese verdammten Eisenketten und Eisenschellen, mit denen die Piraten den Seewolf an den Mast gekettet hatten, die brachte auch der stärkste Mann nicht auf. „Verlaß dich auf den alten Carberry, Sir, der wird diesen Höllenhunden jetzt mal richtig Feuer unter die Ärsche machen!“ sagte er noch, dann war er mit ein paar Sätzen bei Don Bosco, der sich eben aufrappeln wollte. Er packte den immer noch Benommenen und warf ihn in hohem Bogen über Bord. Fast gleichzeitig drangen die Piraten mit wildem Geheul auf den riesigen Profos ein. Sie konnten nicht glauben, was sie sahen. Carberry empfing sie mit wilden Hieben, die er mit dem erbeuteten Entermesser führte. Gleichzeitig brüllte er sie mit solcher Urgewalt an, daß sie vor dieser donnernden Stimme entsetzt für einen Moment zurückwichen. Einen der Piraten erwischte Carberry voll mit dem Entermesser. Der Mann brach vor ihm mit einem wilden Schrei zusammen,
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rollte über die Planken des Achterdecks und blieb dann liegen. „Los, her mit euch, ihr verlausten Bilgenratten!“ brüllte der Profos und stürzte sich auf die zurückweichenden Piraten. „Euch werden jetzt die verwanzten Affenärsche rasiert, ich werde euch ...“ Der Rest ging unter im Gebrüll Nunos, der eben die Stufen zum Achterdeck empor sauste. Er kam Carberry gerade recht. Er packte den Hünen, der noch gar nicht genau begriffen hatte, was auf dem Achterdeck eigentlich passierte, entriß ihm den schweren Weinkrug, den Nuno für Don Bosco aus dem Achterkastell der „Isabella“ geholt hatte, verpaßte dem Glatzkopf einen gewaltigen Tritt und nahm dann noch einen kräftigen Schluck aus dem Krug, indem er sich die Piraten mit dem Entermesser vom Leib hielt. Dann schleuderte er den Krug dem stürzenden Schlagmann, der ein paar der auf Carberry eindringenden Männer den Niedergang mit sich wieder hinabriß, hinterher. Als das Gefäß an Nunos Schädel zerplatzte, explodierte in seinem Kopf ein wilder Reigen von Sternen, bunten Kreisen und gigantischen Blitzen, die in sein Bewußtsein herniederzuckten und es an diesem Tage zum zweitenmal auslöschten. „Mach’s gut, Sir!“ brüllte Carberry dem Seewolf zu, auf dessen Stirn sich bei diesem seiner Meinung nach höchst überflüssigen und lebensgefährlichen Gerangel dicke Schweißtropfen gebildet hatten. Denn wie leicht hätte sich aus einer der Pistolen ein Schuß lösen können, trotz des Befehls Don Boscos, keinen der Seewölfe zu töten, wie leicht hätte Carberry trotz seiner ungeheuren Kraft überwältigt werden können. Und dann wäre die Riesenchance, die sie durch eine geglückte Flucht Carberrys alle erhielten, vertan gewesen. Aber der Seewolf kannte seinen Profos. Es wäre Carberry einfach angesichts der auf ihn einstürmenden Piraten unmöglich gewesen, einfach die Flucht zu ergreifen, ohne vorher noch einmal gründlich aufzuräumen. Nein, dieser Carberry war dazu aus einem zu harten Holz geschnitzt!
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Carberry sprang. Sein Sprung wurde mit einem infernalischen Geheul quittiert, dem aber Don Boscos Summe vom Hauptdeck her ein jähes Ende setzte. Der TortugaPirat stand auf dem Hauptdeck. Das Wasser tropfte ihm aus der Kleidung und den Haaren, seine Züge waren wutverzerrt. „Brüllt nicht so dämlich herum, ihr lausigen Versager!“ schrie er mit einer vor Wut vibrierenden Stimme. „Fangt mir diesen Kerl wieder ein, oder ich heize euch die Hölle an, wie ihr das noch nie erlebt habt! Wenn dieser Kerl entkommt, dann rollen hier an Bord die Köpfe, ist das klar?“ schrie er seine Männer an, und seine Stimme schnappte über vor Zorn. Ratlos starrten ihn die Piraten an. Da riß Don Bosco der Strick. Er sprang einen der Männer an und versetzte ihm einen wilden Schlag ins Gesicht. „Glotz mich nicht so dämlich an, du Hurensohn!“ brüllte er. „Über Bord mit euch, glaubt ihr denn, der Kerl kann was anderes tun als schwimmen? Holt ihn ein, bringt ihn an Bord zurück, oder euch alle holt der Teufel!“ Er sah Nuno, der auf den Planken lag und sich eben wieder zu regen begann. „Hoch mit dir, du hirnloser Dreckskerl!“ schrie er ihn an und versetzte ihm gleichzeitig einen Tritt, der Tote erweckt hätte. „Ich werde feststellen, wie dieser Profos sich befreien konnte. Du hast ihn an den Wanten festgebunden, und du wirst es büßen, wenn er entwischt!“ Nuno sprang auf, er wankte noch ein paar Sekunden hin und her, aber dann hatte er die Balance zurückgewonnen. Aus kleinen, blutunterlaufenen Augen starrte er um sich, und dann endlich begriff er, was geschehen war. Die wütenden Schimpfkanonaden, die Don Bosco auf ihn herabprasseln ließ, halfen seinem trägen Verstand dabei. „Alle Mann mir nach!“ brüllte er die Piraten an und sprang über Bord. Die Männer, die sich auf der Kuhl befanden, folgten ihm. Und wer zu lange zögerte, dem half Don Bosco mit einem Tritt in den Achtersteven auf die Sprünge. „Kommt mir ja nicht ohne diesen Kerl zurück!“ brüllte er den Männern nach, aber
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im Innern spürte er es sowieso - sie würden diesen Carberry nicht mehr fassen. Dazu war sein Vorsprung viel zu groß, und deshalb beteiligte Don Bosco sich nicht an der Jagd. Er starrte die Stufen, die zum Achterdeck emporführten an. Dann enterte er auf. Langsam, Schritt für Schritt. An Deck blieb er stehen, und seine Blicke suchten den Seewolf. Eine ganze Weile lang blickten die Männer einander an, anschließend ging Don Bosco auf den Seewolf zu. Wortlos prüfte er die Eisenfesseln, lange, beinahe pedantisch gründlich. Dann nickte er zufrieden. „Gut, daß ich angeordnet habe, dich an den Mast zu ketten, sonst wärst du jetzt auch fort gewesen, Seewolf“, sagte er, und noch immer zitterte seine Stimme vor Wut. „Mag dein Profos entkommen sein, ich werde diesem Kerl keine Gelegenheit geben, uns Ärger zu bereiten. Außerdem ist er noch nicht auf Tortuga, wo er wahrscheinlich bei diesem Diego Hilfe finden könnte. Aber er muß“ erst nach Tortuga, er kann gar nicht anders. Er hat jedoch kein Boot, und wenn er eines hätte, dann blieben immer noch rund hundert Meilen zu segeln, und das kostet Zeit. Das gibt mir auf jeden Fall den Vorsprung, den ich brauche, damit dieser Kerl meine Pläne nicht noch im allerletzten Augenblick zuschanden machen kann!“ Er winkte einen Mann zu sich heran, der an Bord der „Isabella“ geblieben war. „Rüber mit dir zur Galeere! Sie soll sofort ablegen. Wir segeln in der nächsten Stunde, Kurs auf die Schlangeninsel!“ Der Mann eilte davon, wenig später legte ein Boot von der „Isabella“ ab und ruderte zur „Conchita“, die am Ufer der Bucht vertäut worden war, hinüber. Don Bosco starrte den Seewolf abermals an, während er sich breitbeinig vor ihm aufbaute, aber wohlweislich außerhalb der Reichweite seiner Beine blieb, die in hohen Lederstiefeln steckten. „Und nun zu dir, Seewolf. Willst du jetzt reden oder nicht? Die Flucht deines Profos’ bringt jetzt endgültig Wind in unsere Segel. Wenn du mir auch jetzt nicht
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sagst, was ich wissen will, dann lasse ich die beiden Jungs und noch zwei deiner Kerle holen, und sie werden hier, auf dem Achterdeck deiner ‚Isabella’, vor deinen Augen sterben. Entscheide dich, meine Geduld ist zu Ende, ich warte keine Minute länger!“ Don Bosco fixierte ihn scharf, und plötzlich überzog ein teuflisches Lächeln sein Gesicht. „Noch etwas, Seewolf“, fügte er leise hinzu. „Sind die beiden Jungens und die beiden Männer erst hier, dann sterben sie. Gleich ob du redest oder nicht. So, wie entscheidest du dich? Antwort!“ Hasard hatte etwas Ähnliches befürchtet. Zumindest seit der Flucht Carberrys. Er wußte, daß die Piraten Carberry nicht mehr erwischen würden, falls er den Haien entkam. Er kannte seinen Profos. Und die Stunde der Entscheidung war nun für ihn da. Hasard entschloß sich schnell. Er konnte auch gar nicht anders, denn dieser Don Bosco würde wirklich nicht zögern, seine Drohung wahr zu machen. „Gut, ich weiß, wann ich verloren habe“, sagte er daher, und innerlich knirschte er dabei vor Zorn mit den Zähnen. „Aber so einfach, wie du dir das vorstellst, ist die Sache nicht. Zu erzählen oder zu erklären gibt es nichts. Ich selber muß die ‚Isabella’ durch den Felsendom steuern, du könntest es nicht, auch wenn ich es dir erklären würde.“ Don Bosco war einen Schritt zurückgetreten. Mißtrauisch sah er den Seewolf an. Deutlich registrierte der Seewolf, wie es hinter der Stirn des Piraten arbeitete. „Du willst mich reinlegen, du Hund!“ sagte Don Bosco dann mit vor Wut heiserer Stimme. „Aber das gelingt dir nicht. Die Galeere wird in Sichtweite von uns bleiben. Pablo hat ausgezeichnete Augen und zudem ein sehr gutes Spektiv. Wenn auch nur das geringste passiert, dann sind deine Männer geliefert, ist das klar? Vielleicht hast du aber auch recht, und außer dir, dem Wikinger oder der Roten Korsarin und dem Franzosen vermag
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wirklich niemand durch den Felsendom ins Innere der Schlangeninsel zu segeln ...“ Don Boscos Gesicht nahm einen nachdenklichen Ausdruck an. Ja, vielleicht stimmt das. Denn wieso solltet ihr euern Männern so weit trauen, daß ihr ihnen euer wichtigstes Geheimnis verraten würdet? Ich täte das ja auch nicht, auf keinen Fall!“ Wieder starrte Don Bosco den Seewolf argwöhnisch an, aber mehr und mehr schwand das Mißtrauen aus seinen Zügen. „Du bist gar nicht so dumm, Don Bosco“, bestärkte ihn der Seewolf. „Niemand würde ein solches Geheimnis an mehr Leute verraten als unumgänglich notwendig.“ Das Gesicht des Piraten nahm einen lauernden Ausdruck an. „Du meinst den Wikinger, die Rote Korsarin und diesen Franzosen, he? Sie wissen es, denn ihre Schiffe segeln durch den Felsendom, meine Späher haben mir das berichtet. Versuche gar nicht erst, das abzustreiten!“ Der Seewolf schwieg, er wartete ab, was Don Bosco jetzt tun würde. Aber der hatte die Augen zusammengekniffen und dachte angestrengt nach. „Du kennst das Geheimnis, du könntest es mir sagen“, fuhr er dann fort. „Ich könnte dich auch sicher dazu zwingen. Ich könnte dich foltern lassen, und sei sicher, daß ich die Methoden kenne, die auch dem härtesten Mann die Zunge lösen. Ich werjedoch nicht tun, denn du wirst dein Schiff, von dem du immer noch hoffst, daß du es mir irgendwie wieder abnehmen kannst, sicherer durch diesen verdammten Felsendom bringen, als ich es jemals vermöchte. Aber eines will ich noch wissen, Seewolf“, fügte er hinzu, und seine Augen verengten sich argwöhnisch, „warum nennt man diese Insel die Schlangeninsel? Was hat es damit für eine Bewandtnis?“ Hasard hatte Mühe, sein Erschrecken zu verbergen. Bisher war er sicher gewesen, daß dieser Don Bosco zumindest von Arkana und ihren Schlangenkriegerinnen und auch von dem Schlangentempel nichts
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wußte, aber diese Frage kam dennoch zu überraschend. Trotzdem gelang es ihm, keine Miene zu verziehen. „Das ist einfach. In den Felsen der Insel finden sich merkwürdige Abbildungen. Schlangen. Man begegnet ihnen an verschiedenen Stellen, aber woher sie stammen, wer sie in die Felsen geschlagen hat, das weiß niemand.“ Don Bosco nickte. Die Erklärung, die Hasard schnell genug eingefallen war, befriedigte ihn. Er kannte solche Abbildungen in den Felsen auch von den Caicos- und den Turk-Inseln. Schlangen, Schildkröten und anderes Getier. Auch von ihnen wußte niemand zu sagen, woher sie stammten und wann sie einst in die Felsen geschlagen worden waren. „Und wer hat euch verraten, wie man in die hinter dem Felsendom liegende Bucht der Insel gelangt?“ fragte er dann weiter. Und das war die Frage, die der Seewolf schon lange befürchtet hatte. Ob er wollte oder nicht, die Wahrheit durfte er dem Piraten nicht sagen, deshalb hatte er sich längst eine Antwort zurechtgelegt. „Ein alter Indio, den wir am Auge der Götter auf Grand Kaiman kennenlernten und dessen Heiligtum wir vor der Zerstörung bewahrten, hat uns von dieser Insel berichtet. Er sagte, daß sie ein großes Geheimnis in ihrem Innern berge, daß aber kein Mensch und auch kein Segler heil in ihr Inneres gelangen könne, ohne dieses Geheimnis zu kennen. Er nahm mich, einen Tag bevor wir Grand Kaiman und damit auch die Bucht unter dem Auge der Götter verließen, mit in seinen Tempel, der ganz oben auf einem Berg an einem nahezu kreisrunden See lag. Was geschah, weiß ich nicht, denn ich verlor das Bewußtsein, kurz nachdem ich den Tempel betreten und der alte Indio eine seiner Opferschalen entzündet hatte, aus der ein grünlicher Rauch emporquoll. Als ich wieder zu mir kam, sagte der Alte nur, ich solle jetzt sofort zur Schlangeninsel segeln. Mir würde nichts geschehen, wenn ich alles genauso tun würde, wie es mir meine innere Stimme, die zugleich die seine sei,
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vorschriebe. So gelang es mir, die Einfahrt in die Bucht mit der ‚Isabella’ zu finden. Du kannst mir glauben oder nicht, es ist mir völlig gleichgültig. Außerdem habe ich deine Fragen jetzt endgültig satt und werde dir keine mehr beantworten, ganz gleich, was du dann mit mir machst.“ Don Bosco schwankte, ob er dem Seewolf glauben sollte oder nicht. Aber von jenem Auge der Götter hatte er vor vielen Jahren einmal gehört, und das gab den Ausschlag. Daß es längst zerstört war, daß die Hüter des Heiligtums nicht mehr lebten, davon wußte er sowenig wie davon, daß der Seewolf Wahrheit und Unwahrheit geschickt miteinander vermischt hatte. Schließlich siegte in Don Bosco jedoch die Gier. Es hatte keinen Sinn, den Seewolf jetzt noch der Folter zu unterziehen, um herauszufinden, ob er gelogen hatte oder nicht, denn dieser verfluchte narbige Kerl war entkommen. Und der konnte noch Unheil genug stiften. Don Bosco beging nicht den Fehler, auch nur einen einzigen dieser Satanskerle zu unterschätzen. Die waren, jeder einzelne für sich, allesamt gefährlicher als ein ganzes Rudel Haie. „Und der Schatz, wo befindet sich der? Sag nur nicht, daß es auf der Insel keine Schätze gibt, dann lasse ich die Jungens und die beiden Männer von der Galeere holen!“ Wieder knirschte der Seewolf unmerklich mit den Zähnen. Dieser Kerl hatte ihn in der Mangel, und wie! Er konnte es nicht riskieren, ihn zum Äußersten zu treiben. Er mußte diesen Saufbold hinhalten, damit Carberry Zeit gewann. „Ich habe dir gesagt, daß ich weiß, wann ich verloren habe. Aber was nützt es. wenn ich dir sage, wo die Schätze verborgen sind. Denn wenn du es weißt, dann bringst du uns um, sobald wir uns auf der Insel befinden. Zug um Zug, Don Bosco. Das ist mein letztes Angebot. Und ich sage es dir schon jetzt: Eher stirbt jeder meiner Männer, die beiden Jungens eingeschlossen, ehe sich einer meiner Seewölfe auf einen solchen Handel mit dir einläßt, bei dem wir nicht die geringste Chance haben. Nun liegt es an dir. Erst zur
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Insel, dann reden wir über die Schätze. Und wenn dir das nicht paßt, dann bringe uns um.“ Der Seewolf starrte ihn an, und diesmal spürte sogar der Pirat, daß das das letzte Wort des Seewolfs in dieser Sache war. Ein Blick in seine eisblauen Augen, in seine granitharten Gesichtszüge machte dem Tortuga-Piraten klar, daß mit ihm nicht mehr zu verhandeln war. Und seine Männer — nein, aus diesen dreimal verfluchten Satansbraten war bestimmt nichts herauszuholen, wenn der Seewolf das nicht wollte. Die würden sich eher in Stücke reißen lassen, als zu reden. Blieben noch die beiden Jungens. Aber die wußten garantiert nichts, wer teilte schon Schiffsjungen solche Geheimnisse mit? Don Bosco entschloß sich schnell. „Gut, Seewolf. Ich lasse dich am Ruder anketten. Du wirst die ,Isabella’ steuern. Aber denk dran: Deine Männer bleiben auf der Galeere, und sie sterben, wenn du mich betrügst. Auf der Insel reden wir dann über die Schätze. Wenn du Wort hältst, werde ich meines auch halten. Wir handeln die Bedingungen, unter denen du uns das Versteck der Schätze. verrätst, auf dem Weg zur Insel aus. Aber bilde dir nicht ein, Seewolf, daß ich so dumm sein werde, dir und deinen Männern die Chance zu geben, uns die Insel oder die Schätze wieder abzujagen. Ich werde darüber nachdenken, und du solltest es auch tun.“ Don Bosco wandte sich ab. An seinem flackernden Blick hatte der Seewolf jedoch gesehen, was der Kerl wirklich vorhatte. Hasard nahm sich vor, jede sich ihm bietende Chance zu nutzen, um diesem Burschen ein Schnippchen zu schlagen. Jedenfalls sahen die Dinge im Moment schon wesentlich besser aus als vor der Flucht Carberrys. Etwas später kehrten Nuno und seine Männer an Bord zurück. Ohne Carberry, wie Hasard es im stillen geahnt, aber auch gehofft hatte. Don Bosco geriet außer sich vor Wut. Er entriß Nuno die Neunschwänzige und prügelte unter wüstem Gebrüll auf ihn ein. Immer wieder deutete er auf das
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Besanwant an Steuerbord, an dem noch die Fessel hing, die Carberry hatte abstreifen können, weil sie zu locker und zu nachlässig geknüpft worden war. Don Bosco tobte wie ein Berserker, und als er endlich Ruhe gab, stieß er die wildesten Drohungen aus, die Hasard je gehört hatte. Nuno entzog er schon im voraus den Anteil an der zu erwartenden Beute. Der Seewolf sah, wie der Glatzkopf Don Bosco einen tückischen Blick aus seinen kleinen Augen zuwarf, der nichts Gutes verhieß. Du solltest von jetzt an auf der Hut sein, Don Bosco, denn dein Leben ist keinen Penny mehr wert, dachte der Seewolf. Wenn du dem Glatzkopf Gelegenheit gibst, dann bringt er dich um. Gegen ein Messer im Rücken ist auch der stärkste Mann machtlos! Es war, als wenn Don Bosco das ahnte. Er trat auf Nuno zu. „Ab auf die Galeere mit dir!“ brüllte er ihn an. „Wenn auch nur das geringste an Bord schiefgeht, wenn du den geringsten Fehler begehst, dann kette ich dich persönlich an die Ruderbank! Denk dran, Nuno, das ist meine letzte Warnung an dich hirnlosen Idioten!“ Nuno warf ihm abermals einen tückischen Blick zu, aber dann verschwand er in Richtung Hauptdeck. Etwa eine Viertelstunde später ruderte die Galeere auf die „Isabella“ zu. Dort stoppte sie, und die Piraten übernahmen von ihr die Schlepptrossen, mit denen sie die Galeone des Seewolfs aus der Bucht schleppen sollte. Laute Kommandos ertönten, und dann, eine Weile später, vernahm der Seewolf das dumpfe Tomtom, mit dem Nuno als Schlagmann der „Conchita“ das Tempo für die Ruderer angab, als die Piraten den Anker an Bord gehievt hatten. Die beiden Schiffe nahmen Fahrt auf, und wenig später glitten sie aus der Bucht. Don Bosco trat an den Seewolf heran. „Jetzt gilt es“, sagte er. „Ich lasse dich jetzt ans Ruder anketten. Du erhältst genügend Bewegungsfreiheit, um es zu bedienen. Aber für den Fall, daß du auf dumme
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Gedanken kommen solltest, merk dir das: Es wird immer ein Mann mit einer geladenen Pistole neben dir stehen. Planst du Verrat, erhältst du eine Kugel. Auch ich werde meistens in deiner Nähe sein, und ich werde dir auf die Finger sehen, Seewolf. Glaube ja nicht, daß ich deine Gefährlichkeit auch nur einen Moment Unterschätze. Ich habe genug von dir gehört.“ Don Bosco trat ein paar Schritte zurück und winkte ein paar seiner Männer heran. Dann zog er eine seiner beiden Pistolen aus dem Gürtel und spannte den Hahn. Er richtete die Mündung der Waffe auf Hasards Brust. „Schließt ihn los, schafft ihn zum Ruder!“ befahl er. 4. Carberry war nicht so dumm gewesen, gleich ins offene Wasser der Bucht hinauszuschwimmen. Die Gefahr, daß die Kerle Don Boscos ihn dann erwischten, entweder vom Ufer aus oder welche von denen, die ihm nachgesprungen waren, war zu groß. Stattdessen hatte Carberry sich unter dem Heck der „Isabella“ versteckt, hinter dem Ruderblatt, das leicht groß genug war, um ihn völlig zu verbergen. Er hatte dort gewartet, gerade noch die Nase über Wasser, bis die wie wild herumschreienden Kerle, die sich für seinen Geschmack wie die Verrückten aufführten, endlich an Bord zurückgekehrt waren. Während der letzte von ihnen die Jakobsleiter aufenterte, die vom Schanzkleid der Kuhl ins Wasser hinab hing, grinste Carberry schadenfroh. Denn an Deck hörte er Don Bosco toben. Dann aber begann er zu überlegen. Am liebsten wäre er heimlich an Bord der Galeere gegangen, hätte diesem Nuno aufgelauert und ihm die Schlüssel für die Eisenfesseln abgenommen. Dann, während er als Schlagmann weiterhin den Takt angab, hätten die beiden Zwillinge die Seewölfe losschließen können, und anschließend hätten sie sich dann noch so lange still verhalten, bis die „Isabella“
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vorausgesegelt und die „Conchita“, wie Don Bosco es angeordnet hatte, hinter ihr als Fühlungshalter zurückgeblieben wäre. Per Handstreich hätten sie die „Conchita“ in ihre Gewalt gebracht, alles andere wäre dann nur noch ein Kinderspiel gewesen, zumal das Überraschungsmoment eilig auf ihrer Seite gelegen hätte. Aber je länger Carberry darüber nachdachte, desto unmöglicher erschien ihm dieses Vorhaben. Schließlich befanden sich die Seewölfe und die armen Schweine im Achterschiff, die an die Ruderbänke angekettet waren wie sie, nicht alleine im Ruderdeck. Die „Conchita“ war kein kleines Schiff. Don Bosco mußte daher auch eigene Leute zum Rudern einsetzen, und die waren natürlich nicht angekettet, sondern frei. Sie würden jeden Plan dieser Art sofort vereitelt haben. Carberry stieß einen Fluch aus. Nein, von daher war nichts zu machen. Ebenso sinnlos wäre es aber auch gewesen, an Bord der „Isabella“ zurückzukehren. Zwar hätte Carberry, der das Schiff ja schließlich genauer kannte als irgendeiner der Strolche Don Boscos, sich dort eine Weile verbergen können, aber den Seewolf kriegte er nicht los, ohne die Schlüssel für die Eisenfesseln zu haben. Und die -trug Don Bosco bei sich, an den wiederum kam er auf der „Isabella“ erst recht nicht heran! Jedenfalls nicht, ohne entdeckt und aller Wahrscheinlichkeit wieder gefangen zu werden. Nein, das ging auch nicht Carberry hatte nur eine Möglichkeit, etwas für die Schlangeninsel zu tun. Er mußte die Freunde dort warnen, möglichst noch, bevor dieser Don Bosco dort mit der „Isabella“ aufkreuzte. Aber wie? Wie sollte er dort vor der „Isabella“ zur Stelle sein? Wieder stieß Carberry einen unterdrückten Fluch aus. Denn das war für ihn nicht zu schaffen, auch dann nicht, wenn es ihm gelang, in dem Schlupfwinkel des Piraten irgendwo eine Schaluppe zu erwischen. Die „Isabella“ segelte schneller, außerdem würde sie einen gehörigen Vorsprung haben.
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Er konnte jetzt nur eines tun: nach Tortuga zurückkehren, Diego, den dicken Schildkrötenwirt um Hilfe bitten. Carberry wußte, daß er bei Diego auf jeden Fall Hilfe finden würde, denn Diego haßte dieses Piratengesindel fast genauso wie Carberry selbst. Und dann mußte man weitersehen. Und zwar auf der Schlangeninsel. Wenn dieser Don Bosco die Seewölfe inzwischen nicht schon umgebracht hatte. Aber daran glaubte Carberry auch nicht, denn der Seewolf war klug genug, um diesen Kerl, der vor Gier nach den Schätzen der Schlangeninsel ja fast platzte, so lange hinzuhalten, bis Carberry eine Möglichkeit gefunden hatte, etwas für ihre Befreiung zu unternehmen. Als Carberry einmal vorsichtig den Kopf aus dem Wasser hob und um das Ruderblatt herumpeilte, sah er die „Conchita“, die auf die „Isabella“ zulief. Warum, das war Carberry sofort klar — sie sollte die „Isabella“ aus der Bucht ins offene Meer hinausschleppen. Don Bosco verlor also keine Zeit, sondern handelte. Abermals stieß Carberry einen wilden Fluch aus, als er beobachtete, wie die Ruder der Galeere im Takt eintauchten, durchgezogen wurden und zurückschwangen. Er konnte sich nur zu gut vorstellen, wie dieser Nuno sich dort aufführen würde, zumal jetzt auch das dumpfe Tomtom der Trommel zu ihm herüberdröhnte, die den Takt für die Ruderer angab. Es war Zeit, zu verschwinden. Er brauchte ein Boot, so schnell wie möglich, aber er konnte dieses verfluchte Piratennest sicher erst bei Dunkelheit verlassen, falls noch andere Schiffe in der Bucht oder irgendwo versteckt herumlagen, mit denen die Piraten ihm folgen konnten. Aber wie viele Männer befanden sich denn überhaupt noch dort? Auch eine Frage, die Carberry sofort zu untersuchen gedachte. Er beobachtete die „Conchita“, wartete, bis sie vor die „Isabella“ schor Und die Piraten damit beschäftigt waren, die Schlepptrossen für die „Isabella“ zu übernehmen.
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Erst dann holte er tief Luft, stieß sich vom Ruderblatt ab und tauchte weg. Er schwamm, so weit er konnte, tauchte vorsichtig auf, holte Luft und verschwand sofort wieder. Ungesehen gelangte er bis ans Ufer der Bucht, und dort verharrte er unter einem überhängenden Zweig. Von dort aus beobachtete er voller Grimm, wie die „Isabella“ von der Galeere ins Meer hinausgeschleppt wurde. Deutlich sah er den Seewolf am Mast stehen, vor ihm diesen dreimal verwünschten Don Bosco, der offenbar auf ihn einredete. „Du bist schon so gut wie tot, Don Bosco“, murmelte Carberry voller Grimm, „du weißt es nur noch nicht. Aber dir werde ich es noch eintränken, uns mit deiner Giftbrühe durch diesen Pablo auf die Planken strecken zu lassen. Du wirst noch bedauern, überhaupt geboren zu sein, das schwöre ich dir!“ Carberry beobachtete, wie die Schleppleinen wieder losgeworfen und an Bord der „Isabella“ geholt wurden. Dann setzte der Dreimaster Segel. Kritisch sah Carberry aus der Entfernung zu, aber die Kerls verstanden ihr Handwerk, so zerlumpt und verlaust sie auch aussehen mochten. Die „Isabella“ glitt in die See hinaus, und die „Conchita“ folgte ihr in einigem Abstand, fiel dann aber immer weiter zurück. Carberry sah sich um. Dann lauschte er. Aber auf der Pirateninsel war es totenstill, wenn man vom gelegentlichen Zwitschern einiger Vögel absah. Vielleicht haben die Kerle nur ein paar Wachen zurückgelassen, dachte der Profos. Soll mir recht sein! Aber, verdammt, woher kriege ich ein Boot? Schließlich kann ich die rund hundert Meilen nach Tortuga nicht schwimmen! Carberry lauschte abermals, dann zog er sich aufs Ufer. Vorsichtig arbeitete er sich durch die Zweige des dicht am Wasser wachsenden Baumes hindurch und gelangte schließlich auf einen schmalem Pfad, der dicht am Ufer an der Bucht entlangführte.
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Wieder horchte Carberry. Aber es rührte sich nichts. „Die Kerle sind bestimmt längst alle besoffen. Ihr Herr und Meister, dieser Don Bosco, ist fort, und wenn die Katze nicht da ist, dann tanzen bekanntlich die Mäuse! Na, mal sehen, ob der alte Edwin Carberry dieses Gelichter wieder mal richtig eingeschätzt hat!“ Vorsichtig, ständig bereit, sofort im Ufergebüsch zu verschwinden, schlich der Profos weiter. Der Pfad führte um die Bucht herum auf ein Felsmassiv zu, das sich direkt bis ans Wasser zog. Schon von weitem erkannte Carberry die dunkle Öffnung der Grotte, die sich in die Felsen hineinzog. Der Profos tauchte im Gebüsch unter. Soviel war klar, wenn hier noch welche von Don Boscos Kerlen herumlungerten, dann in dieser Grotte. Er erinnerte sich in diesem Moment auch daran, während der Nacht das wüste Gegröle gehört zu haben, das bis zu ihnen auf die Galeere gedrungen war. Sicher hatten die Kerle dort in der Grotte ihre Orgie gefeiert. Carberry überlegte einen Moment. Es war gefährlich, einfach den Pfad weiter. Entlang zu marschieren. Da brauchte bloß jemand rein zufällig seinen Kopf aus der Grotte zu stecken und ihn zu entdecken schon war der Teufel los. No, Sir, dachte Carberry, so dumm ist der alte Ed nun auch wieder nicht. Das Ding packen wir ganz anders an. Er arbeitete sich wieder durch die Zweige zum Wasser hinunter. Naß war er sowieso noch. Leise, jedes unnötige Geräusch vermeidend, glitt er ins Wasser, holte tief Luft und tauchte sofort, nachdem er sich noch einmal die Richtung eingeprägt hatte, in die er schwimmen mußte. Einmal tauchte er kurz auf zum Luftholen. Und dabei hörte er auch schon das Gegröle, das offenbar in diesem Moment in der Grotte eingesetzt hatte. Carberry war ein ausgezeichneter Schwimmer. Was ihm anfangs an Technik gefehlt hatte, das hatte ihm Dan O’Flynn, einer der besten Schwimmer und Taucher der „Isabella“-Crew, im Lauf der Jahre
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beigebracht. Carberry hatte den jungen O’Flynn, der längst zum Mann herangewachsen war und bereits zum Achterdeck gehörte, falls es solche Unterscheidungen auf der „Isabella“ überhaupt noch gab, gern als Lehrmeister akzeptiert. Carberry war ein gelehriger Schüler gewesen,. und das kam ihm jetzt wie schon so oft - zustatten. Kurz vor der Grotte tauchte er abermals auf, verzog sich aber sofort seitwärts hinter die Felsen, um nicht entdeckt zu werden. Dann schöpfte er erst einmal Atem und lauschte anschließend. Er brauchte nicht lange, um herauszufinden, worum es ging. Eine total versoffene Stimme gab in der Grotte den Ton an. „He, du Stint, ich sage dir, diesmal hat unser Alter sich auf eine Sache eingelassen, die ihm den Kopf kostet. Mit dieser Satansbrut, den Seewölfen, ist noch niemand fertig geworden, und Don Bosco schafft das auch nicht.“ Eine Frauenstimme fuhr dazwischen. „Halt dein Maul, El Sordo! Immer wenn Don Bosco nicht hier ist, reißt du den Rand auf. Warum hast du nicht soviel Mut, ihm das selber zu sagen? Ich will es dir verraten: weil er dich auf der Stelle umbringen würde. Eine Hand genügt ihm dazu. Ich sage dir, der schafft diese Seewölfe leicht. Er hat sie ja schon, und sie werden ihm sagen müssen, wo die Schätze liegen. Ich kenne Don Bosco, ich habe oft genug in seinen Armen gelegen, bevor diese Conchita ihm den Kopf verdrehte. Ich kenne ihn besser als ihr alle zusammen!“ Der Mann, den sie El Sordo genannt hatte, lachte dröhnend. „So? Und warum hat dich Conchita dann abserviert? Warum will Don Bosco von dir jetzt gar nichts mehr wissen? Weil du ihm zu dämlich bist, sage ich dir. Diese Conchita hat wenigstens Köpfchen, und auch sie hat ihm von dieser Sache abgeraten, aber Don Bosco hat nicht auf sie gehört.“ Die Frau kreischte plötzlich auf, scheinbar hatte der Mann sie gezackt.
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„Laß mich los, verdammt, ich will nicht, laß mich los ...“ „Zier dich nicht so, es hört dich sowieso keiner. Bis heute abend sind wir hier allein, mein Täubchen, und was ich von dir haben will, das hole ich mir, ob dir das paßt oder nicht. Dafür bist du da, dafür durftest du hier auf der Insel bleiben!“ Carberry hörte die beiden miteinander kämpfen. Der Mann keuchte, die Frau kreischte und fluchte, daß es eine Art hatte. Selbst Carberry hatte derartiges aus einem Frauenmund noch hie gehört. Dann schien es ihr geglückt zu sein, sich loszureißen. Er hörte den Mann brüllen, und zwischendurch vernahm er die lauten Beschimpfungen der Frau, die aber immer leiser wurden, weil sie offenbar davonlief. Carberry hatte genug gehört. Der Kerl befand sich also jetzt allein in der Grotte. Besser hätte er es gar nicht treffen können. Schon wollte er in die Grotte hinein schwimmen, als der Kerl noch einmal mit seinem wüsten Gebrüll begann. „Du wirst schon sehen, du verdammtes Luder, daß ich recht habe. Einer dieser Teufel ist schon entkommen, der Kerl mit den Narben im Gesicht, der es Nuno auf Tortuga besorgt hat. Er wird die anderen befreien, er wird Don Bosco töten und ihm die Schätze wieder abjagen, falls Don Bosco sie je kriegt! Ich habe genug von diesen Seewölfen gehört, ich war bei der Schlacht in der Windward Passage dabei, ich weiß, wovon ich rede. Wer sich mit dieser Satansbrut anlegt, der ist ein toter Mann. Caligu hat das auch nicht glauben wollen, und was ist aus ihm geworden?“ Er schleuderte offenbar einen schweren Krug gegen die Felsen, wo er zerbarst. Der Profos hatte das Gebrüll El Sordos genützt. Er war durch die Mündung der Grotte getaucht und richtete sich eben hinter dem brüllenden Hünen, der ein steifes Bein zu haben schien, auf. „Was aus Caligu geworden ist, willst du wissen?“ fragte Carberry, packte den Piraten und drehte ihn zu sich herum. Der Kerl starrte Carberry an, dann erblaßte er und streckte beide Arme wie abwehrend von sich.
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„Nein, nein!“ brüllte er und wich vor Carberry zurück. Mit einem Satz war der Profos bei ihm und packte abermals zu. „Doch, ich bin hier. Und ich habe alles gehört, was du gesagt hast.. Wenn du in der Windward Passage dabei warst, dann weißt du Bescheid. Und jetzt sage mir schleunigst, wo hier ein Boot liegt, eine Schaluppe mit Segel oder etwas Ähnliches. Wenn dir das ganz schnell einfällt, Freundchen, dann lebst du weiter, wenn nicht, fressen dich die Haie, genau wie sie Caligu gefressen haben. Also?“ Carberry verstärkte seinen Griff, und dem Piraten traten vor Angst die Augen fast aus den Höhlen. „Ein Boot, eins mit einem Segel“, röchelte er, „dahinten, weiter hinten in der Grotte, du ...“ Carberry wandte den Kopf, zog den Piraten aber gleichzeitig mit herum, damit er ihn im Auge behielt. Verdammt, was der Kerl sagte, stimmte wahrhaftig. Eine kleine, aber immerhin seetüchtige Schaluppe lag hinten in der Grotte. Das Segel war deutlich im flackernden Schein des Feuers zu erkennen, das El Sordo in der Grotte unterhalten hatte. Was wollte er mehr? Der Profos handelte schnell; dieses Weibsbild konnte jeden Moment zurückkommen, vielleicht gab es weiter hinten in der Grotte doch noch ein paar von den Strolchen und Schlagetots Don Boscos. Sowenig Carberry ansonsten einer Rauferei aus dem Wege zu gehen pflegte, hier galt es, sich so schnell wie nur irgend möglich abzusetzen. Die Seewölfe und die Freunde auf der Schlangeninsel brauchten Hilfe, das war das einzige, was im Moment überhaupt noch zählte. Er versetzte dem Piraten, der immer noch nahezu schreckensstarr und auch ziemlich angetrunken in seinen Pranken hing, einen wohldosierten Hieb, der ihn sofort ins Land der Träume schickte. Danach ließ er den Mann zu Boden gleiten, und dabei erst bemerkte er, daß dieser El Sordo ein Holzbein trug wie der alte O’Flynn. Ein Grinsen huschte über Carberrys Gesicht.
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„In Ordnung, Junge, wenn du bei der Schlacht in der Windward Passage dabei warst und vielleicht dort auch dein Bein verloren hast, dann bist du wirklich ein alter Veteran. Und wenn du dort überlebt hast, dann bringt dich der alte Carberry auf dieser gottverdammten Insel auch nicht um, obwohl du zu Don Boscos Gesindel gehörst. Aber was du da vorhin über mich und die Seewölfe und diesen Don Bosco gesagt hast, Alter, das sollte die Lady sich hinter ihre Ohren schreiben, denn das stimmt Wort für Wort, und sie wird das schon noch merken!“ Carberry griff sich einen der noch vollen Weinkrüge und nahm einen gehörigen Schluck. Dann stellte er ihn wieder neben den Bewußtlosen. Anschließend rannte er zu der etwa fünfzig Schritt entfernt liegenden Schaluppe hinüber, durchtrennte die Leine, mit der sie an einer Art Steg vertäut war, mit einem Hieb seines Entermessers und drückte sie vom Ufer ab. Gleich darauf schwang er sich hinein. Er blickte sich um, und richtig, im Heck der Schaluppe lag ein ziemlich großes und schweres Paddel. Sofort begann Carberry damit, die Schaluppe aus der Grotte in die Bucht zu verholen. Das ging ziemlich rasch, denn das Boot war nicht sonderlich schwer, auch wenn es einen recht stabilen Eindruck auf den Profos machte. Trotzdem schaffte es Carberry fast nicht schnell genug, die Bucht zu gewinnen. Irgendwo hinter ihm wurden Stimmen laut, und als er sich umblickte, erkannte er eine schlanke junge Frau, die in diesem Moment stehenblieb und erst auf die davongleitende Schaluppe starrte, dann auf den am Boden liegenden El Sordo. Gleich darauf schrie sie aus Leibeskräften. Was sie schrie, konnte Carberry zwar nicht verstehen, weil es in der Grotte zu sehr widerhallte, aber daß es keine Freundlichkeiten waren, merkte er, als einer der Kerle, die mit der Frau aufgekreuzt waren, eine Muskete auf ihn abfeuerte. Der Schuß brach sich donnernd in dem Felsengewölbe. Ihm folgte ein zweiter,
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dann ein dritter. Aber keine der Kugeln traf, eine prallte am Felsen ab und sirrte gefährlich dicht an Carberry vorbei ins Wasser der Bucht. Gleich darauf befand sich der Profos mit der Schaluppe im Freien. Im Nu hatte er das Segel gesetzt, und dann spürte er, wie rasch die Schaluppe auf die frische Brise, die durch die Bucht wehte, reagierte. Er warf einen Blick zurück und sah, wie in der Grottenmündung drei wüste Kerle erschienen. Also hatte El Sordo sich geirrt, wenn er dachte, er sei mit der Frau allein. Und sicher waren die Kerle von ihr geholt worden, damit sie es ihm einmal gründlich besorgten. „Nicht meine Sorge, Alter“, murmelte Carberry, während er sich so klein wie möglich im Boot machte, tun ja kein Ziel zu bieten. „Wer die Windward Passage überlebt, der wird auch noch eine gehörige Tracht Prügel überleben. Mach’s gut, Alter, irgendwie, scheint mir, paßt du nicht zu diesem Geschmeiß von Schlagetots und Taugenichtsen!“ Die Schaluppe gewann an Fahrt. Die Piraten brüllten wütend hinter Carberry her, und der hätte ihnen gerne ein paar Kugeln hinübergeschickt. Aber er besaß keine Muskete oder Pistole. Die einzige Waffe, die ihm geblieben war bei seiner Flucht von der „Isabella“, war das Entermesser, das in seinem Gürtel steckte. Minuten später glitt die Schaluppe aus der Bucht und gewann die offene See. Aber erst als er eine gute Meile hinter sich gebracht hatte, richtete Carberry sich wieder auf. Und dann begann er darüber nachzudenken, welchen Kurs er steuern sollte. Gleich zur Schlangeninsel oder erst nach Tortuga zu Diego? Carberry zögerte. Das war eine Entscheidung, die sorgsam überdacht werden mußte. Segelte er direkt zur Schlangeninsel, kam er mit Sicherheit viel zu spät. Die „Isabella“ einzuholen war unmöglich. Den Kurs der „Conchita“ mußte er tunlichst meiden. Und auf der Schlangeninsel selbst? Wenn er sie bei Nacht anlief und sich entweder durch den Felsendorn hindurchmogelte, mit so einer
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kleinen Schaluppe war das durchaus möglich, oder an einer ihm bekannten Stelle die Felsen von außen empor kletterte? Vielleicht konnte er dann die Seewölfe befreien oder sonst irgendetwas zu ihrer Rettung unternehmen. Aber Carberry verwarf auch diesen Gedanken sofort wieder. Ganz verlassen war die Schlangeninsel nie. Eines der Schiffe, entweder Ribaults „Le Vengeur“ oder der Schwarze Segler des Wikingers oder die Galeone der Roten Korsarin, befand sich bestimmt in der Bucht. Außerdem gab es ja auch noch Arkana und ihre Schlangenkriegerinnen. Gegner, mit denen Don Bosco bestimmt nicht rechnete, die aber alles tun würden, um den Seewolf und seine Männer zu befreien und um die Fremden, die den Frieden und die Sicherheit der Schlangeninsel bedrohten, unschädlich zu machen. Arkana hatte da so ihre Methoden, und die waren verdammt wirkungsvoll, wie Carberry aus eigener Erfahrung wußte. Oder sollte er Kurs auf Tortuga nehmen? Dort fand er am ehesten ein richtiges Schiff. Diego zum Beispiel hatte eine schnelle und gut bewaffnete Karacke, mit der er alle notwendigen Versorgungsgüter von Hispaniola nach Tortuga transportierte. Weil das aber so war, hatte er auch ganz bestimmt eine zuverlässige Mannschaft an Bord, eine, die zu ihm paßte. Carberry konnte sich nicht entscheiden. Mochte der Satan wissen, was in diesem Moment richtig war. Aber die hundert Meilen nach Tortuga kosteten auf jeden Fall wertvolle Zeit. Zeit, die nicht zur Verfügung stand. Denn es ging diesmal ums Ganze. So schlimm, so ausweglos war ihre Lage noch nie gewesen in all den Jahren, die sie nun schon zusammen durch die Weltmeere segelten. Bei diesem Gedanken legte Carberry die Ruderpinne entschlossen um. Er nahm Kurs auf die Schlangeninsel. Mochte ihn der Teufel lotweise holen, aber er würde alles versuchen, um Hasard und seine Kameraden aus den Klauen dieses Don Bosco zu befreien.
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Carberry hatte genau die richtige Entscheidung getroffen, aber das wußte er zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Denn ein anderer Segler lief genau auf seine winzige Schaluppe zu. Die Kurse lagen so, daß sie sich in Sichtweite beider Schiffe kreuzen mußten. 5. Der große Viermaster pflügte durch die See. Ein Schiff, wie man es sonst in der Karibik nicht fand. Eine Mischung aus Galeone und chinesischer Dschunke, aber von beiden waren nur die vorteilhaften Seiten verwendet worden. Es war pechschwarz, selbst die Masten und die Segel. Und auf dem Großsegel ringelte sich ein gewaltiger geflügelter Drache. Thorfin Njal, den sie in der ganzen Karibik den Wikinger nannten, den selbst die hartgesottensten Piraten mieden und fürchteten wie die Pest, saß auf dem Achterdeck von „Eiliger Drache über den Wassern“. Er saß auf einem gewaltigen, thronartigen Sessel, von dem aus er das Schiff gut überblicken konnte. Dieser Sessel war so massiv gebaut, daß auch die stärkste See ihn nicht zerschlagen konnte, und so hatte er auch mühelos all den Stürmen getrotzt, die in den vergangenen Jahren über ihn hinweggegangen waren. Zudem war er in den schweren Bohlen des Achterdecks so verankert, daß nichts, daß keine Gewalt dieser Erde ihn von dort gegen den Willen Thorfin Njals zu entfernen vermochte. Der Wikinger fuhr sich durch seinen eisgrauen Bart. Eike, Arne, Olig und der Stör taten es ihm nach. Thorfin Njal sah das etwa vierzehnjährige, gertenschlanke und bildschön gewachsene Indianermädchen an, das vor ihm stand und seinen Kupferhelm, den er immer noch trug, einer merkwürdigen Prozedur unterzog, während der Wikinger den gewaltigen Schädel nach einem energischen Klaps, den er von dem Indiomädchen auf den Helm erhielt, wieder senkte.
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„Wenn du nicht endlich stillhältst, dann werde ich nie fertig!“ tadelte sie ihn. „Und wenn ich nicht endlich fertig werde, dann laufen wir in den Hafen von Tortuga ein, noch bevor dein Helm so glänzt und leuchtet, daß er alle deine Feinde bei seinem bloßen Anblick schon erschreckt und in die Flucht jagt.“ Thorfin Njal brummte irgendetwas vor sich hin, hielt aber weiterhin den Schädel gesenkt, während das Mädchen weiterhin eifrig den schweren Helm auf seinem Haupt polierte. Doch plötzlich hielt sie mit der Arbeit inne. Sie langte dem Wikinger in das dichte Haar, das unter dem Helm hervorquoll, und zupfte ihn daran. „He, was hast du da eben in deinen Bart gebrummt, Thorfin Njal?“ fragte sie und versetzte ihm abermals einen Klaps auf den Helm. „Hier wird nicht gebrummt, sondern stillgehalten, oder, beim Schlangengott, du wirst deinen Helm selber polieren müssen!“ Der Wikinger richtete sich plötzlich auf, seine Pranken griffen nach dem Mädchen, und ohne die geringste Mühe hob der hünenhafte Mann, dem graue Felle die Brust und die Hüften bedeckten und an dessen rechter Seite ein gewaltiges Schwert in einer schweren Lederscheide hing, das gertenschlanke Mädchen empor und hielt es so, daß seine grauen Augen genau in die des Mädchens blickten. „Hör zu, Araua, Tochter der Schlangenpriesterin Arkana und des Seewolfs, wenn du weiterhin so wenig Respekt vor Thorfin Njal, dem Wikinger, bezeugst und weiterhin durch lose Worte deinen Übermut zu erkennen gibst; dann kann es leicht sein, daß ich dir einmal gehörig das Hinterteil versohle! Mir scheint es ohnehin an der Zeit, das einmal zu tun, denn alle anderen Mannsbilder auf der Schlangeninsel wickelst du ja sowieso um den kleinen Finger.“ Araua lachte ihm ins Gesicht. „Damit drohst du mir, seit ich dich manchmal auf deinen Reisen und auf deinem Schwarzen Segler begleite, aber getan hast du es noch nie. Bei Siri-Tong
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oder bei meiner Mutter, aber mehr noch bei Siri-Tong, da wäre das etwas anderes, da würde ich besser auf der Hut sein müssen. Aber nicht bei dir, Thorfin Njal.“ Der Wikinger brach in ein dröhnendes Gelächter aus, und seine vier Wikinger lachten mit. „Da magst du recht haben, verdammt recht sogar, du kleiner Teufel. Und du weißt das nur zu gut. Vielleicht liegt es daran, daß ich mittlerweile älter geworden bin, Araua, da geht man mit so hübschen kleinen Mädchen, wie du eins bist, eben nachsichtiger um.“ Er setzte sie wieder ab. „Also, was ist nun mit dem Helm, ist er jetzt wieder so blank, wie du ihn haben willst, oder glänzt er dir immer noch nicht genug?“ Araua schüttelte eigenwillig den Kopf. „Noch nicht, aber wenn du jetzt endlich stillhalten würdest, dann bin ich schnell fertig!“ Der Wikinger fügte sich ergeben in sein Schicksal. Er wußte schon bald gar nicht mehr, wann dieses Spiel zwischen der Tochter Arkanas und ihm begonnen hatte. Aber eigenwillig, wie sie war, putzte sie hin und wieder nicht nur seinen Helm, sondern wusch auch die grauen Felle, die er trug, schrubbte sie, bis sie wieder ihre alte helle Farbe hatten. Und seinen vier Wikingern erging es nicht besser, wenn sie an Bord war. Am meisten unter ihr zu leiden hatte allerdings Muddi. Ein schmieriger, dreckiger Kerl, der eigentlich Robinson hieß. Auch das Verhältnis des Wikingers zu Arkana war ausgesprochen gut, mehr noch, es war sehr freundschaftlich und herzlich. Der Wikinger mochte diese faszinierende Frau mit den vielen Gesichtern, die sich von einem Augenblick zum anderen völlig zu verwandeln vermochte. Er besuchte sie oft in ihrem Schlangentempel tief im Innern der Insel, und sie ließ sich auch schon mal an Bord des Schwarzen Seglers sehen, wenn der in der Bucht ankerte. So hatte es sich auch ergeben, daß sich die kleine Araua, mittlerweile schon fast eine junge Frau von vierzehn Jahren, immer
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enger an ihn angeschlossen und mit der Erlaubnis ihrer Mutter so manche Reise auf dem Schwarzen Segler mitgemacht hatte. Araua, jenes Mädchen, das der Seewolf vor vierzehn Jahren unter mehr als geheimnisvollen Umständen mit Arkana auf der Mocha-Insel gezeugt hatte, nachdem er und seine Seewölfe den Araukanern in ihrem aussichtslosen Kampf gegen die Spanier zur Seite gestanden hatten. Äußerlich entsprach Araua ihrer Mutter, die Ähnlichkeit war sogar verblüffend, und sie drückte sich auch noch in weiteren Kleinigkeiten aus, aber die Augen hatte Araua von ihrem Vater. Unübersehbar. Eisblau. Und sie konnten genauso durchbohrend blicken wie die des Seewolfs selber, wenn man sie zornig machte. Je länger der Wikinger seinen Gedanken nachhing, desto bewußter wurde ihm, welch eine lange Zeit inzwischen vergangen war. Aber wo, zum Henker, mochte der Seewolf sich befinden? Seit Jahren war er - nicht: mehr: auf der Schlangeninsel gewesen. Der Wikinger spürte plötzlich, wie Araua mit dem Putzen seines Helms aufhörte. Verwundert hob er den Kopf, denn das sonst übliche Lachen begleitete diesmal das Ende der fast schon traditionellen Zeremonie nicht. Stattdessen starrte Araua ihn aus ihren eisblauen Augen, die unnatürlich geweitet waren, an. Ihr junges Gesicht, in diesem Augenblick gar nicht mehr so kindlich, wirkte starr, und der Blick ihrer Augen schien durch den Wikinger hindurchzugehen. Der Stör war unwillkürlich einen Schritt zurückgetreten. Aus schmalen Augen beobachtete er Araua, und sein ohnehin langes Gesicht wurde dabei noch länger. Auch Thorfin Njal fühlte sich unter diesem Blick, der ihn in Wirklichkeit gar nicht traf, sondern in irgendwelche Fernen ging, die er nicht kannte und die ihm für immer verschlossen bleiben würden, äußerst unbehaglich. Denn er kannte diesen Blick von Arkana, der Schlangenpriesterin. Und noch nie hatte er etwas Gutes bedeutet, sondern eher Unheil.
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Daß er sich nicht getäuscht hatte, erfuhr er sofort. „Der Seewolf“, sagte Araua leise, „er ist in der Nähe. Die. ‚Isabella’ sie ist voller Feinde, sie haben den Seewolf ... er ist ...“ Araua schrie auf, dann hielt sie sich plötzlich die Augen zu und warf sich gegen die mächtige Brust des Wikingers. „Araua“, der Wikinger zog sie an sich, und er spürte, daß ihr junger Körper vor Erregung zitterte, „Araua, was ist mit dir? Was ist mit dem Seewolf, sag es mir! Wo ist er, und wer befindet sich auf der ‚Isabella’?“ Aber Araua schwieg. Erst nach einer ganzen Weile, als der Wikinger energisch ihren Kopf anhob und ihr in die Augen blickte, erwiderte sie den Blick Thorfin Njals. „Ändere den Kurs, Wikinger“, sagte sie, und ihre Stimme hatte einen so dumpfen Klang, daß der Wikinger erschrak. „Den Kurs, Wikinger“, echote der Stör, und das zeigte an, wie irritiert er ebenfalls war. Der Wikinger warf ihm einen bösen Blick zu, er konnte diese Marotte des Störs, wie ein Echo dauernd irgendwelche Worte oder sogar Sätze zu wiederholen, nicht ausstehen. Aber er sagte nichts, sondern blickte Araua an. „Wohin soll ich den Kurs ändern, Araua?“ fragte er. „Du weißt, daß wir nach Tortuga müssen, um ...“ „Segle zur Schlangeninsel, Wikinger, so schnell wie möglich. Dort droht Gefahr, dort sind auch die ,Isabella’ und der Seewolf, dort ...“ Araua riß sich los. Dann rannte sie fort und verschwand in einem der Niedergänge, die ins Achterkastell hinabführten. Der Wikinger folgte ihr nicht. Er kannte diese unheimlichen Gesichte von ihrer Mutter. Es hatte keinen Zweck, Araua jetzt mit weiteren Fragen zuzusetzen, das wußte er aus Erfahrung. Die brauchte jetzt Ruhe, die mußte ganz von selber wieder zu sich finden. Trotzdem stieß der Wikinger einen Fluch aus, der auch die Männer an Deck herumfahren ließ. Der Boston-Mann, ein
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schweigsamer, scharfgesichtiger Mann, der in seinem linken Ohr einen großen goldenen Ring trug, ein rotes Tuch um seinen Kopf gewunden hatte und der zugleich auch der Bootsmann des Schwarzen Seglers war und der sich bisher aber am Ruder aufgehalten hatte, trat auf den Wikinger zu. „Ich würde dem Rat Arauas folgen“, sagte er nur. Dann, nach einer Weile, während der Bart des Wikingers immer noch wild hin und her zuckte, fügte er hinzu: „Sie hat das Zweite Gesicht von ihrer Mutter geerbt, und Arkana hat sich noch nie geirrt, noch nie etwas Falsches prophezeit!“ „Verdammt, ja!“ brüllte der Wikinger. „Ich weiß, daß das so ist, Boston-Mann. .Aber zum Teufel, was sollen denn an Bord der ‚Isabella’ für Leute sein, wenn nicht Hasards Seewölfe? Und wo, zum Henker, ist die ‚Isabella’, welchen Kurs segelt sie?“ Wie aus dem Nichts tauchte Araua neben dem Wikinger auf. „Zur Schlangeninsel, aber sie ist nicht allein. Ich habe Feuer gesehen, Rauch. Geschützdonner überzog die Insel, und eines unserer Schiffe versank ...“ Das gab den Ausschlag. Der Wikinger öffnete den Mund, um den Befehl zum Wenden zu geben, aber die Stimme des Ausgucks im Großtopp. unterbrach ihn. „Wahrschau, Boot Steuerbord querab. Hält Kurs auf uns. Der Mann an Bord des Bootes winkt uns zu!“ Thorfin Njal fuhr herum. Er rannte zur Steuerbordseite und starrte in die See. Richtig, dort segelte eine kleine Schaluppe heran. Der Kerl in dem Boot winkte ihm zu, er gab sich alle Mühe, dem Schwarzen Segler direkt in den Kurs zu laufen. Wieder stieß der Wikinger einen ellenlangen Fluch aus. „Der muß verrückt sein! Dieser verdammte Hundesohn muß lebensmüde sein. Ho“, brüllte er zu dem Boot hinüber, „scher dich aus unserem Kurs, du stinkende Takellaus! Oder ich werde dir ...“ „ ... deinen verdammten Wikingerarsch in Streifen abziehen, du behelmter Nordpolaffe!“ tönte es mit Donnerstimme,
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die die Entfernung spielend überwand, zu Thorfin Njal zurück. Der Wikinger stand da wie vom Donner gerührt. Das konnte nicht wahr sein. Diesen Kerl, diese Stimme, die kannte er. Die würde er auf der ganzen Welt unter allen anderen heraushören. „He, du kalfaterter Affenarsch, dreh endlich bei, oder soll ich dir vielleicht nachschwimmen, nachdem du mich gerammt hast, wie, was?“ dröhnte es erneut über die See zum Schwarzen Segler herüber, und den Worten folgte ein dröhnendes Gelächter. „Beidrehen!“ Die Stimme des Wikingers hätte Tote erwecken können. Sie scheuchte die Männer, die gleich ihm ans Steuerbordschanzkleid gestürmt waren, auf ihre Stationen. Der Schwarze Segler änderte den Kurs, die Rahen schwangen herum, das große Schiff drehte bei. Thorfin Njal stand mit herabhängendem Unterkiefer auf dem Achterdeck. Irritiert und völlig überrascht kratzte er sich, einer alten Gewohnheit folgend, ausgiebig am Helm. * Carberry war das nicht entgangen. Hatte ihn diese in seinen Augen total hirnrissige Angewohnheit des Wikingers früher schon fast zur Raserei getrieben, so schüttelte er jetzt voller Verzweiflung den Kopf. „Das darf doch nicht wahr sein“, stöhnte er, während er mit der Schaluppe auf den Schwarzen Segler zuhielt, „da umsegelt man mit der ‚Isabella’ fast die ganze Welt, schlägt sich mit indischen Halsabschneidern herum, wird um ein Haar von Kopfjägern massakriert. gerät mit Schnapphähnen übelster Sorte aneinander und hüpft Gevatter Tod laufend so gerade noch von der Schippe, und dann kommt man endlich wieder in heimatliche Gefilde zurück, und was muß man sehen? Da steht dieser Wikinger, diese nordische Eismeerlaus, am Schanzkleid des Schwarzen Seglers, so, als wäre überhaupt keine einzige Wache seit damals
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verstrichen, und kratzt sich auf seine penetrante und verruchte Weise ausgiebig am Helm!“ Carberry schüttelte abermals den Kopf, dann wurde es Zeit für ihn, das Segel einzuholen, und gleich darauf schor er längsseits. Der Boston-Mann warf ihm einen Tampen zu, vom Stör flog eine Leine in die Schaluppe, mit der Carberry das kleine Schiff am Schwarzen Segler vertäute. Carberry enterte auf. Dann lagen sich die alten Kampfgefährten und Freunde erst mal in den Armen. Doch anschließend, nachdem sich die allererste Begrüßungsfreude gelegt und der Wikinger schon nach einem Faß Rum gebrüllt hatte, warf er einen schiefen Blick auf die Schaluppe hinab. „Eure ‚Isabella’ ist aber mächtig eingeschrumpft“, sagte er. „Und ein paar Masten und Segel hat sie wohl auch verloren, wie?“ Und wieder kratzte er sich ausgiebig am Helm, der in der Sonne so blitzte, daß der Profos für einen Moment die Augen zusammenkniff. „Zusammengeschrumpft? Masten und Segel verloren, was, wie?“ fragte er, und über seiner Nasenwurzel bildete sich eine drohende Falte. Im gleichen Augenblick sah er Araua, die neben den Wikinger trat und ihm ihre Rechte entgegenstreckte. Dabei leuchteten ihre Augen, die Carberry schlagartig an den Seewolf und die ganze erbärmliche Misere erinnerten, in der die Seewölfe samt ihrer „Isabella“ steckten. „Araua grüßt dich, Carberry!“ sagte sie, und ein leises Lächeln umspielte ihre Lippen, das aber ganz rasch wieder einem nachdenklichen Gesichtsausdruck wich, der dann zu einem langen, prüfenden Blick wurde. Carberry erkannte Araua sofort, er ergriff die dargebotene Rechte mit der notwendigen und seinen Körperkräften entsprechenden Vorsicht. Auch er starrte das Mädchen nachdenklich an, dann aber fuhr er unter einer wilden Verwünschung, die sogar den Wikinger zusammenschrecken ließ, herum.
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„Verdammt!“ brüllte er. „Wir stehen hier herum und halten Maulaffen feil, und irgendwo dahinten, gar nicht so weit weg von uns, segelt die ‚Isabella’ und auf ihr, angekettet an den Besanmast, der Seewolf. Und im Kielwasser der ‚Isabella’ folgt die ,Conchita’ diese dreimal verfluchte Galeere Don Boscos, auf deren Ruderbänken diese stinkenden TortugaPiraten alle anderen Seewölfe und noch so ein paar bedauernswerte Burschen angekettet haben und sie rudern lassen, bis ihnen der Rauch aufgeht. Und Nuno, dieser verdammte Glatzkopf, zieht ihnen zur Aufmunterung ständig, welche mit der Neunschwänzigen über, oder er läßt das durch seine Aufseher besorgen ...“ Der Wikinger hatte längst aufgehört, sich am Helm zu kratzen. Auch der Stör, Olig, Arne, Eike und der Boston-Mann starrten Carberry wie eine Erscheinung an. Auch Bill the Deadhead, ein riesiger Kerl, der um den Hals an einer goldenen Kette einen handtellergroßen Totenkopf trug und der schon viele Jahre zur Crew des Schwarzen. Seglers gehörte, schob sich mit ein paar anderen Männern näher an den Profos heran. Sie bildeten einen Halbkreis um die Stelle, an der Carberry aufgeentert und aufs Hauptdeck des Viermasters gesprungen war. Die ganze Crew des Schwarzen Seglers hatte sich versammelt. Der Wikinger starrte Carberry an. Dann reichte er ihm das Rumfaß, nachdem er selber einen gehörigen Schluck genommen hatte. „Ho, Carberry, du vernarbtes Rübenschwein“, grollte er, „das will ich von dir genauer wissen. Mir scheint; es ist wieder an der Zeit, diesem TortugaGesindel eins zwischen die Hörner zu klopfen. Trink, und dann raus mit der Sprache !.. Was ist passiert?“ Carberry ließ sich nicht zweimal bitten. Er kannte die Geflogenheiten des Wikingers viel zu gut, um erst nach einem Becher Ausschau zu harten, deshalb hob er das Rumfaß an und setzte es an die Lippen. Dann reichte er es weiter. Dabei fing er einen Blick aus den eisblauen Augen Arauas auf, und er erschrak. So düster war
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dieser Blick, aber auch so entschlossen, wie er das nur beim Seewolf und auch nur bei ganz seltenen Situationen gesehen hatte. Der Wikinger hatte den Blick Carberrys bemerkt, und mit wenigen Worten klärte er den Profos über das auf, was Araua ihm noch vor kurzer Zeit gesagt hatte, was wie eine Eruption aus ihr hervorgebrochen war. „Sie hat das Zweite Gesicht ihrer Mutter“, setzte er erklärend hinzu. „Auch Arkana sieht manchmal Ereignisse voraus, die dann später tatsächlich und mit tödlicher Sicherheit eintreffen.“ Araua starrte den Seewolf immer noch an, aber ihr Blick ging durch ihn hindurch, verlor sich in irgendeiner Carberry unbekannten Ferne. Ihre Augen verdüsterten sich mehr und mehr, und ihre Gesichtszüge wirkten merkwürdig starr. „Es wird Tote geben“, sagte sie dann leise. „Sie werden die Schlangeninsel überfallen. Alle, die dort leben, befinden sich in größter Gefahr. Auch der Seewolf wird nicht helfen können, diesmal nicht, Feuer und Rauch stehen über der Insel, ich ...“ Arauas Züge entspannten sich plötzlich, der Blick ihrer eisblauen Augen kehrte zu Carberry zurück, heftete sich auf ihn, schien den Profos zu durchbohren. „Was ist geschehen?“ fragte sie leise. Carberrys Miene verfinsterte sich ebenfalls, dann begann er zu berichten. Hin und wieder zwischendurch nahm er einen kräftigen Schluck aus dem Rumfaß. Er berichtete alles, was seit ihrem Einlaufen in den Hafen Tortugas und seit der Reparatur ihres Ruderblattes geschehen war. „So liegen die Dinge“, schloß er, „und es ist die beschissenste Situation, in der sich die Seewölfe je befunden haben. Aber, zum Teufel, was sollen, was können wir tun? Einfach zur Schlangeninsel segeln und alle heraushauen, das ist nicht möglich. Dieser Don Bosco bringt jeden einzelnen, den er in seiner Gewalt hat, kaltblütig um. Er weiß, wie wertvoll die Seewölfe für ihn als Geiseln sind, daß wir gar nichts gegen ihn unternehmen können. Ich habe mir schon pausenlos meinen Kopf
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zermartert. Meiner Ansicht nach gibt es nur eine einzige Möglichkeit, wenn es Arkana nicht gelingt, mit ihren Schlangenkriegerinnen schon vorher einzugreifen und für die Seewölfe eine Wende zum Guten herbeizuführen. Denn von Arkana und ihren Kriegerinnen scheint dieser Don Bosco glücklicherweise nichts zu ahnen, oder?“ Der Wikinger nahm einen mächtigen Schluck und reichte das Faß dann dem Boston-Mann. „Nein, er weiß garantiert nichts von Arkana. Niemand in der Karibik weiß etwas davon, daß sie auf der Schlangeninsel lebt und unsere Schätze bewacht und gegen jeden Eindringling verteidigt. Und sie versteht sich darauf, mein Freund!“ fügte der Wikinger hinzu. „Bessere Wächter hätten wir nie und nirgends finden können. Sie wird etwas unternehmen, wenn dieser Don Bosco tatsächlich die Stirn hat und den Seewolf zwingt, die ‚Isabella’ durch den Felsendom zu segeln.“ Wieder kratzte der Wikinger sich am Helm, aber diesmal sah Carberry das gar nicht. Dann fuhr er fort, indem er Carberry mit sich zum Achterdeck zog: „Aber wir können Arkana nicht ohne Hilfe lassen. Wir selber müssen auch etwas tun. Was, darüber werden wir jetzt nachdenken. Und anschließend werden wir zusammen mit Siri-Tong, die mich in diesem Seegebiet treffen wollte, weil wir gemeinsam nach Tortuga zu Diego zu segeln gedachten, der Vorräte für uns besorgt hat, alles noch einmal durchsprechen. Sie ist eine verdammt gerissene Person, ganz besonders, wenn es darum geht, dem Seewolf aus der Patsche zu helfen, darauf kannst du Gift nehmen.“ Carberry sah den Wikinger an. Doch, das glaubte er ihm aufs Wort. Siri-Tong, die Rote Korsarin, hatte schon oft genug bewiesen, daß sie trotz aller Impulsivität, die ihr Handeln oft bestimmte, dennoch nicht nur ein außerordentlich hübsches Köpfchen besaß mit allem, was bei einer Frau sonst noch dazugehörte, sondern daß in diesem Köpfchen unter dem langen,
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pechschwarzen Haar auch eine respektable Portion Verstand steckte, den sie verdammt geschickt anzuwenden verstand. Und daß sie für den Seewolf, mit dem sie weit mehr als bloße Freundschaft verband, alles, auch das Allerletzte riskieren würde, das stand fest. Doch, da hatte der Wikinger recht: Siri-Tong war genau die Bundesgenossin, die sie in dieser Lage brauchten. „Wann, glaubst du, wird sie hier sein?“ fragte Carberry deshalb. Der Wikinger wiegte den Kopf. „Sie ist immer pünktlich, aber auf die Stunde genau kann das natürlich niemand sagen. Wir trennten uns an der Südspitze Hispaniolas. Sie nahm dort noch Ladung für die Schlangeninsel an Bord, dann wollte sie mir folgen. Und hier, ziemlich genau hier, ist unser Treffpunkt, wo einer auf den anderen wartet. Wir wissen aus Erfahrung, daß es immer besser ist, Tortuga und das Gesindel, das auf dieser Insel haust, zu zweit anzulaufen. Geht der eine von Bord, wacht der andere über seine Sicherheit und die seines Schiffes. So haben wir es stets gehalten, und nie hat sich einer dieser verfluchten Schnapphähne zu nahe an uns herangewagt, nachdem wir auf Tortuga einmal grundsätzlich geklärt haben, wer bei einem solchen Versuch den kürzeren zieht. Das war vor gut einem Jahr.“ Der Wikinger schwieg, er ließ sich auf seinen schweren Eichensitz auf dem Achterdeck fallen und stützte das gewaltige, behelmte Haupt in die Hände. „Doch, auch wir haben von diesem Don Bosco gehört. Aber gesehen haben wir ihn nie. Und jetzt weiß ich auch, warum. Diese Sache mit den Tauben ist raffiniert, und diesen verdammten Schlupfwinkel hat er sich geschickt und schlau ausgesucht. Dieser Mann ist, auch wenn wir den Seewolf und alle anderen heraushauen, von nun an eine ständige Gefahr für die Schlangeninsel und für uns. Ho, Carberry, ich sage dir, Tortuga geht schlimmen Zeiten entgegen. Ich werde dafür sorgen, daß in diesem Piratennest kein Stein mehr auf dem anderen bleibt!“
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Er griff sich das Rumfaß und setzte es an die Lippen. Carberry tat es ihm nach. „Fangen wir an damit, Wikinger, zu überlegen, wie wir Hasard und unseren Freunden helfen können, während wir hier auf Siri-Tong warten. Ich fürchte, Wikinger, viel Zeit bleibt uns nicht. Dieser Don Bosco ist der übelste Halunke, dem ich je begegnet bin. Er braucht nur noch herauszufinden, daß die beiden, die er für die Schiffsjungen der ‚Isabella’ hält, in Wahrheit die Söhne des Seewolfs sind, dann läßt er die Hölle los!“ Der Wikinger stieß einen Fluch aus. Er hatte sich sowieso nur mit Mühe beherrscht und Carberrys Bericht gelauscht, ohne ihn zu unterbrechen. „Dieses verdammte Rübenschwein“, grollte er, „soll sich gefälligst an Männer halten, aber Kinder ungeschoren lassen. Wenn ich diesen Kerl zwischen meine Fäuste kriege, dann wird er anschließend den Teufel für eine harmlose Kombüsenkakerlake halten!“ Der Wikinger brütete finster vor sich hin. Er, der Profos der „Isabella“ und der Boston-Mann begannen zu beraten, was zu tun sei, was sie zur Rettung des Seewolfs und seiner Crew unternehmen konnten. Aber je länger sie über diesen Punkt berieten, desto schwieriger wurde die Sache. Die Segel von „Eiliger Drache über den Wassern“ hingen im Gei. Der schwere schwarze Viermaster, dessen Holz, aus dem seine Erbauer ihn einst im fernen Reich des Großen Chan geschaffen hatten, mit jedem Jahr, das er abwetterte, nur immer härter wurde, hob und senkte sich langsam in der Dünung. Das Warten ging den Männern auf dem Achterdeck, zu denen sich auch Thorfin Njals vier Wikinger gesellt hatten, allmählich auf die Nerven. Auch Araua war mittlerweile eine gewisse Unruhe anzumerken. „Wir sitzen diesmal ganz verflucht in der Klemme“, sagte Carberry schließlich und blickte irritiert auf, als der Stör den letzten Teil seines Satzes wiederholte. „Uns fällt nichts Brauchbares ein. Mit roher Gewalt
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ist bei diesem Don Bosco und den Geiseln, die er gegen uns ausspielen kann, nichts zu machen, und er weiß das so gut, wie ihm bekannt ;ist, daß du, Wikinger, und die Rote Korsarin sich nicht auf der Schlangeninsel befinden. Was unseren Freund Ribault anbetrifft, so wußte Don Bosco nichts über ihn, außer daß er in einem Kampf seine ,Le Vengeur’ verloren hat. Stimmt das eigentlich?“ Der Wikinger lachte. „Die ,Le Vengeur` und ein paar seiner Männer. Er lief den Piraten in die Falle, und erst im allerletzten Moment gelang es Siri-Tong, ihm zu Hilfe zu eilen und das Allerschlimmste zu verhüten. Aber Ribault und von Hutten trieben bereits ein neues Schiff auf. Die ,Le Vengeur eine ranke, schnellsegelnde Galeone mit starker Armierung. Siri-Tong und ich halfen ihm dabei, die Galeone zu kapern. Aber es fehlt ihm noch an Bemannung. Dir brauche ich nicht zu sagen, daß das im Zusammenhang mit der Schlangeninsel ein ganz verdammt schwieriges Problem ist. Deshalb liegt die ‘Le Vengeur II.’ in der Bucht vor Anker. Wir wollten versuchen, über Diego ein paar zuverlässige Männer aufzutreiben. Wenn wir einem Mann auf Tortuga trauen können, dann ihm, das haben die vergangenen Jahre bewiesen.“ Der Wikinger brütete abermals vor sich hin. Plötzlich sah er Carberry an. „Ohne Arkana und ihre Schlangenkriegerinnen wäre aber trotzdem schon längst alles auf der Schlangeninsel zusammengebrochen. Aber das alles erfährst du später. Ed. auf der Insel hat sich so manches geändert, wenn auch nicht zum Schlechten. Die Männer schwiegen eine Weile. Hin und wieder warfen sie einen Blick in die Richtung, aus der die Galeone Siri-Tongs heransegeln mußte. Sie dachten daran, was inzwischen Bord der „Isabella“ alles geschehen sein mochte. Was hatten Don Bosco dieser glatzköpfige Nuno oder dieser verschlagene Pablo, der die Galeere als Unterführer Don Boscos befehligte, an neuen Teufeleien und Schikanen für die Seewölfe ausgeheckt? Und wie, beim
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Satan, konnten sie Arkana, Ribault, von Hutten und ihre Männer sowie alle anderen Bewohner der Schlangeninsel vor der drohenden Gefahr warnen? Carberry blickte auf, sah den Boston-Mann an. Er entsann sich in diesem Moment, daß es ja noch eine natürliche Barriere gab, die jedes Schiff daran hinderte, in die Schlangenbucht einzulaufen. Die Felsbarriere im Felsendom, die sich stufenförmig aufbaute und die Einfahrt versperrte, und das Höllenriff im Innern der Bucht, das kein Unkundiger zu umsegeln vermochte. Vor allem aber dachte Carberry an den Mahlstrom, eine unerklärliche Erscheinung, dessen Ursprung niemand von ihnen kannte, von dem sie aber wußten, daß es nur mit seiner Hilfe und deshalb auch immer nur für eine verhältnismäßig kurze Zeit möglich war, in die Schlangenbucht hinein- und auch wieder aus ihr herauszugelangen. „Boston-Mann, wann setzt der nächste Mahlstrom ein?“ fragte Carberry daher in die Stille hinein. Der Boston-Mann zuckte zusammen. Dann huschte es wie jähes Verstehen über seine Züge. Der Wikinger schlug Carberry auf die Schulter, daß sogar der riesige Profos der „Isabella“ zusammengestaucht wurde. „Das ist die Lösung!“ brüllte der Wikinger. „Warte, ich werde es ausrechnen“, sagte der Boston-Mann, und beide wußten, warum Carberry diese Frage so plötzlich gestellt hatte. Auch in den Augen Arauas blitzte es auf, und so etwas wie ein Hoffnungsschimmer zog über ihr Gesicht. Sie machten sich ans Werk. Es war eine komplizierte Berechnung, die der BostonMann anstellen mußte. Dann aber hatten sie das Ergebnis, und das sah so aus, wie Carberry sich das im stillen erhofft hatte. „Also wird die ‚Isabella’ draußen vor der Insel warten müssen!“ stellte er befriedigt fest. „Sogar ziemlich lange. Das ist gut.“ Mehr sagte er nicht, aber alle verstanden ihn. Dann hielten sie wieder Ausschau nach der Roten Korsarin, die eigentlich schon längst hätte eintreffen sollen. Die Sonne stand schon merklich tiefer, aber von Siri-Tongs Galeone „Roter Drache“
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war immer noch kein Fetzen Segel zu sehen. „Es ist gut, daß du auf die Sache mit dem Mahlstrom gekommen bist, Ed“, sagte der Wikinger. „Es bleibt uns also noch Zeit, auf Siri-Tong zu warten. Wir werden auf sie warten, solange das möglich ist. Kommt sie jedoch nicht, dann segeln wir ohne sie. Kommt jetzt, bei ein paar Bechern Rum wird uns etwas Vernünftiges einfallen!“ Ein paar Becher wurden gebracht, dann begannen der Wikinger, der Boston-Mann, Eike, Olig, Arne, der Stör — den sie wegen seines extrem langen Gesichtes so nannten —, Carberry und Araua, die die Männer trotz ihrer vierzehn Jahre voll akzeptierten, aufs neue zu überlegen, wie diesem Don Bosco ein Schnippchen zu schlagen sei. Denn die Tücke des Mahlstroms, die kannte er gewiß nicht, und der Seewolf würde sich gehütet haben, ihm darüber etwas zu verraten. Carberry rieb sich die riesigen Pranken. „Darauf hätte ich eher kommen sollen!“ murmelte er. „Warte, Don Bosco, das wird genau die Falle sein, die über dir und deinem Gelichter zuschnappt!“ 6. In der Schlangenbucht herrschte an diesem Nachmittag eine friedliche, sonnenbeschienene Idylle. Auf dem Ostufer der Bucht ließen die Sonnenstrahlen den nahezu weißen, mit Palmen bestandenen Sand leuchten. Aus einzelnen Holzhütten, die sich dort befanden, stieg dünner Rauch in den azurblauen Himmel empor. Ein paar Boote lagen auf dem Strand, ein paar Männer und ein paar Mädchen, dunkelhäutige Schlangenkriegerinnen, gingen ihren Beschäftigungen nach. Weiter vorne in der Bucht, aber doch ein ganzes Stück vom gewaltigen Felsendom entfernt, der sich grau und düster aus dem dunkelblauen Wasser erhob, ankerte eine rank gebaute Dreimastgaleone. Weiter hinten eine weitere, aber das Schiff schien schon eine ganze Weile dort zu liegen, die
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Segel hingen nicht im Gei, sondern waren sorgfältig festgezurrt. Ein Stück weiter nach Süden, dort wo sich ein breites Stück Strand von der Bucht bis tief in die Felsen erstreckte, der ebenfalls mit Palmen bestanden war, auf dem sich aber keine Hütten befanden, tollte eine Anzahl von Kindern herum. Sie nutzten die letzten wärmenden Sonnenstrahlen, denn schon bald würde die Sonne hinter den hohen Felsen, die die ganze Bucht wie ein gewaltiger steinerner Ringwall umschlossen, verschwinden. Auch an Bord der beiden Galeonen waren einige Menschen zu sehen. Männer auf der, die im vorderen Teil der Bucht ankerte, Schlangenkriegerinnen auf der, die schon längere Zeit im hinteren Teil der Schlangenbucht vor Anker lag. Auch im Dorf der Schlangenkriegerinnen, das sich weiter oben in den Felsen der Insel befand, herrschte noch lebhaftes Treiben. Zwar befanden sich hin und wieder auch Männer dort, aber an diesem Tage nicht. Außer dem schmalen Vegetationsgürtel, der die Bucht umschloß, bestand die Schlangeninsel nur aus Felsen, die überall zum Meer hin —zumindest im letzten Teil — steil abstürzten. Trotzdem waren ihre Bewohner vorsichtig genug gewesen, sie im Laufe der Jahre zu befestigen. Es gab Kanonen in gut ausgebauten Kasematten, rings um die Insel verteilt. Es gab Pulvermagazine, sinnvoll zwischen den einzelnen Geschützstellungen angeordnet, von denen auf eigens dafür eingerichteten Pfaden schnell Kugeln, Pulver oder vorgefertigte Kartuschen aus Segeltuch emporgemannt werden konnten. Siri-Tong, die Rote Korsarin, war eine der energischen Betreiberinnen des Ausbaus dieser Befestigungen gewesen. Sie kannte die Insel länger als die Seewölfe, hatte sie schon lange vor ihnen als Stützpunkt benutzt und auch vor ihnen das Geheimnis des Mahlstroms gekannt. Aber die Gelegenheit, die Schlangeninsel wirklich zum völlig uneinnehmbaren Stützpunkt für sich selbst und alle ihre Freunde
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auszubauen, erhielt sie erst mit der Erbeutung der einstigen englischen Galeone „Albion“, die bis unter die Decks mit Kanonenrohren, Lafetten modernster Bauart, Kanonenkugeln, Stangenkugeln, Musketen, Pistolen und Pulver vollgepackt war. Sie hatte die Besatzung dieser Galeone damals auf der Südseeinsel Bora Bora aus den Klauen eines wahnsinnigen Weißen befreit, der sich zum Herrscher über Bora Bora aufgeschwungen hatte, die Eingeborenen tyrannisierte und jene Engländer bei einem großen Fest, das ihn zum Gott der Insel machen sollte, zu opfern gedachte. Die Männer hatten sich der Roten Korsarin verschworen, und so war Siri-Tong damals, nachdem sowohl der Seewolf als auch sie die ungeheure Bedeutung dieser Ladung für die Schlangeninsel sofort erkannt hatten, von Bora Bora auf direktem Weg zur Schlangeninsel zurückgesegelt. Mit ihrer neuen Besatzung. Ein weiterer günstiger Umstand war der, daß diese Galeone, die die Rote Korsarin nach ihrer Rückkehr in „Roter Drache“ umtaufte und mit einer neuen, knallroten Besegelung versah, runde 600 Tonnen groß war, über vierundzwanzig Zwanzigpfünder sowie sechs Drehbassen jeweils auf dem Vorund Achterkastell verfügte, ein sehr schneller Segler war und damit für ihre Zwecke wie geschaffen schien. Den Schwarzen Segler hatte Siri-Tong nach ihrer Rückkehr endgültig an den Wikinger abgetreten, ebenso ihre alte Besatzung. Neben den Befestigungen in den Felsen rund um die Schlangeninsel, aus denen man das gesamte Seegebiet um die Insel unter Feuer nehmen konnte, gab es noch zwei Batterien zu beiden Seiten der Durchfahrt durch den Felsendom. In Aktion getreten waren sie noch nie, aber es gab sie, und sie wurden ständig einsatzbereit gehalten wie alle anderen Stellungen, um deren Pflege sich Arkana und ihre Schlangenkriegerinnen kümmerten, so, wie sie im Ernstfall auch mit den Kanonen umzugehen wußten. Selbstverständlich befanden sich ständig Ausgucks in den hoch gelegenen Felsen,
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und es war ihre Aufgabe, das umliegende Seegebiet ständig sorgfältig zu überwachen. Das alles und anderes mehr hatte sich in den vergangenen Jahren auf der Schlangeninsel im Vergleich zu der Zeit grundlegend geändert, als der Seewolf und seine Männer sich die Insel noch allein mit Siri-Tong teilten. Vieles war von der Schlangenpriesterin organisiert worden, die sich mit der Roten Korsarin ausgezeichnet verstand und sich manchmal mit ihr gegen die Männer wie den Wikinger oder Jean Ribault verbündete, wenn es galt, im Interesse der Insel und ihrer Sicherheit etwas durchzusetzen. Arkana befand sich an diesem späten Nachmittag auf einem der Felsen westlich des Felsendoms. Sie war unruhig. Und diese Unruhe in ihr wuchs. ständig, ohne daß sie einen bestimmten Grund dafür hätte angeben können. Sie strich durch ihr langes schwarzes Haar, das ihr bis weit auf den Rücken hinabfiel. Ihre dunklen Augen blickten auf die See hinaus. Noch in der vergangenen Nacht war sie im Schlangentempel gewesen, und der Schlangengott hatte ihr bevorstehende Gefahr signalisiert. Aber auf ihre Fragen war er stumm geblieben. Nur das Bild des Seewolfs war Arkana erschienen. Eines Seewolfs, der Ketten trug und sie aus seinen eisblauen Augen anblickte. Seither trieb es Arkana über die Insel, ruhelos wanderte sie durch die Felsen, und sie hatte beschlossen, noch diese Nacht den Schlangengott, der ihr dieses Zeichen tief unten im Felsendom gesandt hatte, aufs neue zu befragen. Arkana dachte zurück. Vierzehn Jahre. Bis zur Mocha-Insel, wo ihr Stamm einst gelebt hatte und wo sie dem Seewolf begegnet war. Wo der Seewolf und sie Seite an Seite gegen die Spanier gekämpft hatten und wo der Seewolf schließlich verwundet worden war. Im Schlangentempel der Mocha-Insel hatte Arkana ihn und Ben Brighton gesund gepflegt, und im Schlangentempel war es auch gewesen, wo sie ohne Wissen des
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Seewolfs von ihm ihre Tochter Araua empfangen hatte, weil der Schlangengott es von ihr gefordert hatte. Arkana dachte weiter. Eines Tages, der Kampf der Araukaner gegen die Spanier hatte einen Punkt erreicht, an dem er völlig aussichtslos geworden war, erschien die „Isabella“ des Seewolfs abermals in der Todesbucht. Die damaligen Ereignisse hatten schließlich ihre Übersiedlung auf die Schlangeninsel zur Folge gehabt, und die Schlangenpriesterin hatte diesen Schritt — wie ihre Schlangenkriegerinnen auch — niemals bereut. Es hatte des öfteren schon kritische Situationen gegeben. Aber sie hatten sie gemeistert. Mit dem Wikinger zusammen oder mit Siri-Tong oder mit den Männern der „Le Vengeur“. Oder auch mit allen zusammen. Feinde hatten sich stets blutige Köpfe bei der Insel geholt, die sie zumeist nicht einmal erreichten, weil eines der Schiffe sie bereits draußen auf See abfing und vertrieb. Es hatte Feste gegeben, und es gab selbstverständlich auch weitergehende Beziehungen zwischen ihren Kriegerinnen und den Männern auf den Schiffen. Die Kinder, die auf der Insel geboren worden waren, bewiesen das. Die Schlangeninsel begann, eine echte Enklave für Arkana. ihre Schlangenkriegerinnen und alle ihre Freunde zu werden. Und noch immer lagerten die gewaltigen Schätze, die die Schiffe mit heimgebracht hatten, tief im Innern des Schlangentempels. Unauffindbar für jeden Uneingeweihten, dafür hatte Arkana gesorgt. Aber jetzt, jetzt drohte der Insel Gefahr, das spürte sie überdeutlich. Arkana warf einen letzten Blick aufs Meer hinaus. Aber kein Segel näherte sich der Insel, nichts, was sie hätte beunruhigen können, geschah. Sie erhob sich. Einmal streckte, sie ihren schlanken, biegsamen Körper, dann stieg sie die Felsen hinab und verschwand in Richtung auf den Schlangentempel. Jean Ribault befand sich auf der anderen Seite des Felsendoms. Er hatte die Schlangenpriesterin kommen sehen und auch, wie sie schließlich wieder die Felsen hinabgestiegen war. Aber er hatte sich
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nicht gerührt, sondern diese eigenartige Frau, die offenbar niemand an sich heranließ, nur stumm angesehen. Und wieder brannte die alte Leidenschaft in dem Franzosen. Er konnte es einfach nicht begreifen, daß diese Schlangenpriesterin wie eine Festung war, die man noch so lange berennen konnte, ohne den geringsten Erfolg zu verbuchen. Er hatte es versucht, immer wieder. Und einmal glaubte er sich auch schon am Ziel. Aber dann, als die merkwürdigen Schleier, die sein Bewußtsein von einem bestimmten Moment an getrübt hatten, sich wieder verzogen, da hatte er in den Armen eines anderen Schlangenmädchens gelegen. Ribault lächelte. Nun, sicher nicht die übelste Art, einen unerwünschten Liebhaber abzuspeisen, aber verdammt, wie schaffte diese Arkana das immer wieder? über welche Kräfte verfügte sie? Und wie hatte es geschehen können, daß Arkana und der Seewolf eine Tochter miteinander besaßen, ein Mädchen, das sich nun rasch zu einer jungen, blühenden Frau entwickeln würde? Der Franzose warf einen letzten Blick auf die Schlangenpriesterin, die schon weit unten durch die Felsen kletterte. Dann seufzte er. Ein Trost jedenfalls war ihm geblieben: Auch kein anderer außer dem Seewolf hatte Arkana je berührt. Keiner von denen, die es immer wieder versuchten, und davon gab es einige. Arkana wies sie auf ihre Art in die Schranken. Jean Ribault beschloß, ebenfalls wieder in die Bucht hinabzusteigen, als ein lauter Ruf von einer der Wachen ihn aufschreckte. „Schiff nähert sich aus Süden der Insel!“ Ribault, bereits im Begriff aufzustehen, drehte sich um. Dann blickte er nach Süden. Er sah sofort, daß der Ausguck recht hatte, deutlich wuchsen die Mastspitzen eines Schiffes über die Kimm empor. Wer konnte das sein? fragte sich der Franzose. Der Wikinger und Siri-Tong kamen nicht in Frage. Die waren jetzt entweder unterwegs nach Tortuga oder
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lagen schon im Hafen der Pirateninsel. Es war ebenso ausgeschlossen, daß es sich um einen von beiden allein handelte, denn er kannte ihre Taktik, die sie auf Tortuga grundsätzlich anwendeten und die, auch durchaus angebracht war bei diesem Gesindel und Gelichter von Schnapphähnen, die dort hausten. Oder es mußte etwas Schwerwiegendes geschehen sein, was sie zwang, von ihrer sonstigen Vorsicht abzuweichen. Ribault zog sein Spektiv hervor, das er meistens bei sich trug. Er zog es auseinander und hielt es dann ans Auge. Es war ein ausgezeichnetes Instrument, aber trotzdem war auch mit dem Spektiv noch nichts zu erkennen. Jean Ribault beschloß, vorläufig nicht zur Bucht hinunterzusteigen, sondern zunächst einmal abzuwarten, wer dort von Süden mit Kurs auf die Schlangeninsel heransegelte. Der Franzose wußte, daß in diesem Moment bereits ein Mann zur Bucht unterwegs war, um Meldung zu erstatten. Sein Freund und Partner von Hutten befand sich auf der „Le Vengeur II.“, die er von seinem Felsen aus in der Bucht liegen sah, und Ribault wußte, daß sein Partner sofort alles Notwendige für eine eventuelle Verteidigung der Schlangeninsel veranlassen würde. Für ihn, Ribault, bestand also kein Anlaß zur Eile. Der Franzose beobachtete das herannahende Schiff weiter. Die oberen Segel befanden sich bereits über der Kimm, dann folgten auch die unteren, schließlich war auch der Rumpf zu erkennen. Ribault starrte wie gebannt durch das Spektiv. Verdammt, diese überhohen Masten und die ungewöhnlich breiten Rahen, die kannte er doch! Und dann dieser eigentümlich flach gehaltene Rumpf! Himmel, das war die „Isabella VIII.“, das Schiff des Seewolfs! Nein, daran bestand nicht der geringste Zweifel, Ribault kannte diesen Segler zu genau, als daß in dieser Hinsicht ein Irrtum möglich war. Ribault spürte, wie ihn eine freudige Erregung ergriff. Es war verdammt lange
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her, daß er den Seewolf zuletzt gesehen hatte, und der Satan mochte wissen, wo er sich mit seiner Crew in der Zwischenzeit wieder herumgetrieben hatte! Ribault dachte noch an den langen Törn, den damals der Seewolf, Siri-Tong und der Wikinger gemeinsam unternommen hatten. Bis nach China, ins Land des Großen Chan, wo die Rote Korsarin um ein Haar von einem chinesischen Scharfrichter enthauptet worden wäre, hatte diese Himmelhunde die Reise geführt. Und auch jetzt befand sich der Seewolf mit seiner Crew schon wieder lange unterwegs. Aber diesen Kerlen schien nie etwas zu passieren, zumindest verstanden sie es, sich immer wieder heil aus allem herauszuhauen! Und ihre „Isabella VIII.“, die brachten sie auch immer wieder mit zurück! Jean Ribault beobachtete die heransegelnde „Isabella“ durchs Spektiv. Dann aber, noch bevor sich irgendwelche Einzelheiten an Deck erkennen ließen, geschah etwas, was ihn verwunderte. Die Segel der „Isabella“ wurden ins Gei gehängt, das Schiff verlor an Fahrt und warf schließlich, soweit Ribault das erkennen konnte, den Anker. Der Franzose war aufgesprungen. Verdammt, was hatte das zu bedeuten? Sicher, ehe nicht der Mahlstrom einsetzte, konnte die „Isabella“ nicht in die Bucht. Das wußte der Seewolf besser als jeder andere, und die Seewölfe wußten es auch. Aber war das ein Grund, so weit draußen zu ankern? Ribault überlegte, und mitten in seinen Überlegungen spürte er die leichte Berührung an der Schulter. Er fuhr herum, und er blickte geradewegs in die pechscharzen Augen Arkanas. Auch sie starrte zur „Isabella“ hinüber. Sie mußte also, nachdem der Ausguck die Ankunft eines Schiffes gemeldet hatte, unhörbar zu ihm heraufgestiegen sein. „Ich sehe“, sagte sie leise, „du hegst die gleichen Gedanken wie ich. Du fragst dich, warum die ,Isabella’ so weit draußen ihren Anker geworfen hat. So, als ob man nicht will, daß wir von der Insel aus Einzelheiten
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zu erkennen vermögen! Hast du eine Erklärung?“ Der Franzose hatte sein Spektiv sinken lassen. Dann schüttelte er den Kopf. „Nein, das ist in der Tat seltsam. Normalerweise wäre der Seewolf zunächst einmal an die Schlangeninsel herangesegelt und hätte uns begrüßt, hätte zu erfahren versucht, ob hier noch alles in Ordnung ist. Das macht jeder von uns, besonders aber dann, wenn er so lange unterwegs war wie der Seewolf und seine Männer jetzt.“ Arkana nickte, und Ribault sah, wie es hinter ihrer Stirn arbeitete. „Irgendetwas stimmt dort jedenfalls nicht!“ sagte sie dann, und ihre Stimme hatte dabei einen so entschiedenen Klang, daß der Franzose aufmerkte. „Hast du einen bestimmten Verdacht, Arkana?” fragte er. Sie schüttelte den Kopf. „Nein. Aber der Schlangengott hat mir Gefahr signalisiert. Der Schlangeninsel droht Gefahr, und ich sah den Seewolf in Ketten. Ich werde den Schlangengott heute nacht erneut fragen, vielleicht weiß ich dann mehr.“ Ribault schüttelte den Kopf. „Aber das ist die „Isabella’, daran besteht nicht der geringste Zweifel, Arkana!“ sagte er dann. Die Schlangenpriesterin schwieg, sie blickte zur „Isabella“ hinüber, auf der sich nichts rührte, jedenfalls sah es so aus. „Wir sollten uns Gewißheit verschaffen“, sagte sie schließlich. „Wenn es dunkel ist, können wir leicht mit einer Schaluppe zur ‚Isabella’ hinaussegeln, ohne daß man uns bemerkt. - Es ist eine mondlose Nacht, ich werde sofort veranlassen, daß alle Vorbereitungen getroffen werden.“ Sie warf noch einen Blick auf die „Isabella“, dann wollte sie zur Bucht hinabsteigen, aber Ribault hielt sie zurück. „Laß die kleine Schaluppe schwarz streichen, laß auch ihr Segel schwarz einfärben. Ich werde dann mit Jan Ranse, meinem Steuermann, zur ‚Isabella’ hinübersegeln und nachsehen, was dort los ist. Das Verhalten des Seewolfs ist
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ungewöhnlich. Viel- leicht hat er eine Seuche an Bord und wartet darauf, daß wir ihm helfen. Morgen, eine Stunde vor Sonnenaufgang, setzt der Mahlstrom ein, dann ist es für den Seewolf Zeit, in die Schlangenbucht zu segeln. Vorher jedoch müssen wir wissen, was dort an Bord geschehen ist.“ Arkana nickte. Sie kannte den Franzosen schon viele Jahre, ihm konnte man ein solches Kundschafterunternehmen durchaus anvertrauen. Wieder wollte sie mit dem Abstieg beginnen, aber noch einmal hielt Ribault sie zurück. „Wir werden so vorgehen: Ich nehme eine der Raketen von Siri-Tong mit. Wenn an Bord der ‚Isabella’ alles in Ordnung ist oder wenn feststeht, daß sie morgen früh mit dem Mahlstrom in die Bucht einsegelt, dann schieße ich die Rakete ab, und ihr werdet das Zeichen sehen. Seht ihr aber mein Zeichen nicht und kehre auch ich mit meinen Männern nicht zurück, dann rüstet euch, die ‚Isabella’ entweder zu kapern oder, falls das mißlingt, sie auf jeden Fall am Einlaufen in die Bucht zu hindern.“ Arkana dachte nach, dann nickte sie. „Es ist gut. Meine Schlangenkriegerinnen werden bereit sein, und auch unseren Freund von Hutten werde ich verständigen. Du wirst sicher noch hier oben bleiben wollen, um die ‚Isabella’ zu beobachten, oder täusche ich mich?“ Arkana lächelte dem Franzosen zu, dann begann sie endgültig den Abstieg in die Bucht. Wieder blickte Ribault der Schlangenpriesterin nach. Er beobachtete ihre geschmeidigen Bewegungen, ihren schlanken und biegsamen Körper, und wieder war jenes heftige Begehren in ihm, das er in ihrer Nähe schon so oft verspürt hatte. Arkana drehte sich plötzlich um. Sie hatte seine Blicke gespürt und wahrscheinlich auch seine Gedanken erraten. Sie lächelte ihm zu. „Falls der Seewolf mit seinen Männern zurückgekehrt ist, werden meine Kriegerinnen und ich ein großes Fest auf der Insel ausrüsten, dann sollst auch du zufrieden sein!“
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Ribault blieb zurück. Sein Herz schlug ihm bis zum Hals. Verdammt, dachte er, nicht einmal die ureigensten, geheimsten Gedanken waren vor dieser Arkana sicher. Himmel und Hölle, wie konnte er es nur anstellen, diese Festung zu erobern? Ribault wandte sich wieder der „Isabella“ zu. Aber sie lag vor Anker. Die Segel hingen im Gei, und auf dem Schiff schien Totenstille zu herrschen. Merkwürdig, dachte Ribault, das alles das paßt ganz und gar nicht zu Hasard und seinen Seewölfen. Längst hätten die ein Boot ausgesetzt und wären zur Schlangeninsel herübergepullt. Nein, an Bord der „Isabella“ stimmte so einiges nicht, das spürte er jetzt schon fast körperlich. * Es hatte an Bord der „Isabella“ tatsächlich Schwierigkeiten gegeben. Einmal hatte Don Bosco nicht verwinden“ können, daß Carberry die Flucht gelungen war, trotz der vielen Männer, die sich zu diesem Zeitpunkt an Bord der „Isabella“ befunden hatten. Zum anderen nagte in Don Bosco das Mißtrauen gegen den Seewolf, der, angekettet am Ruder der „Isabella“, hin und wieder einen geradezu aufreizend ironischen Blick auf das Treiben der Tortuga-Piraten an Bord seines Schiffes geworfen hatte. Don Bosco hatte geschwiegen. Lange, sehr lange sogar. Aber er hatte den Seewolf beobachtet, und zwar genau. Im Moment brauchte er ihn nicht, denn den Kurs zur Schlangeninsel kannte er. Aber dann – wenn sie endlich dort waren, was würde dann geschehen? Diese Frage nagte ununterbrochen an Don Bosco. Irgendetwas hatte dieser schwarzhaarige Teufel ihm verheimlicht, das stand fest. Der Kerl versuchte jetzt, ihn und seine Männer in eine Falle oder in einen Hinterhalt zu locken. Aber wie? An diesem Wie knobelte Don Bosco herum, während die „Isabella“ der Schlangeninsel entgegenlief. Hin und Wieder warf der Tortuga-Pirat einen Blick nach achtern. Die Galeere
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„Conchita“ folgte der „Isabella“ beharrlich. Und jedesmal, wenn Don Bosco sich vorstellte, wie Nuno und seine Aufseher die verfluchten Seewölfe auf ihren Ruderbänken kujonierten, glitt ein hämisches Grinsen über seine Züge. Doch dann, wenn er den Seewolf anblickte, wenn er schon eine Bemerkung über die Galeere vom Stapel lassen wollte, dann traf sein Blick wieder diese verfluchten eisblauen Augen, die ihn höhnisch anzusehen schienen. So, als wenn sie ihm signalisieren wollten: Du glaubst, Don Bosco, du hättest mich und meine Seewölfe. Du hättest die Schätze der Schlangeninsel schon im Bauch der „Isabella“. Aber du bist ein Narr. Nicht du hast uns. sondern wir haben dich, denn du segelst mit jeder Meile, die mein Dreimaster durch die See pflügt, geradewegs in dein Verderben! Du und deine ganze Piratenbrut, und man wird sich dereinst auf Tortuga über euch Schwachköpfe halb totlachen. Don Bosco wurde, je mehr Zeit verstrich, immer unruhiger. Und irgendwann trat der Moment ein, an dem er es nicht mehr aushielt. Er sprang auf und stand mit ein paar Schritten vor dem Seewolf. „Ich weiß genau, was du denkst, Seewolf!“ sagte. er. „Du glaubst, du kannst mich und meine Männer in eine Falle locken. Du hoffst, daß es dir gelingen könnte, deine Freunde auf der Schlangeninsel zu warnen, daß sie rechtzeitig Lunte riechen. Aber du hast dich verrechnet, ich bin schlauer als dieser Caligu oder all die anderen, die sich von dir überlisten ließen. Sieh dich um, dort segelt und rudert die ,Conchita’ hinter uns her. Auf ihren Ruderbänken sitzen deine Männer, angekettet und Wehrlos. Wenn auch nur das geringste geschieht, was nach Verrat schmeckt, dann sterben sie. Pablo, mein Unterführer, den du ja kennengelernt hast und von dem du weißt, wie zuverlässig er meine Befehle ausführt, hat strenge Befehle.. Also, was rechnest du dir eigentlich aus? Warum grinst du immer so impertinent, wenn unsere Blicke sich treffen?“
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Der Seewolf musterte Don Bosco, und wieder glitt ein spöttisches Lächeln um seine Lippen. „Ich habe dich beobachtet, Don Bosco. Du steckst voller Furcht, daß es dir vielleicht doch nicht gelingen könnte, die Schätze der Schlangeninsel an dich zu bringen. Du hast sogar recht mit dieser Befürchtung. Denn wenn du auch nur einen meiner Männer umbringen läßt, dann werden die Schätze für dich verloren sein. Ich sterbe eher, als daß du ein Wort aus mir herausholst, gleich, auf welche Art du es versuchst. Zeit zum Suchen hast du aber nicht, sie würde dir im übrigen auch gar nichts nützen, denn niemand findet die Schätze, der sie nicht finden soll, Aber wie gesagt - du hättest auch keine Zeit, sie zu suchen, denn der Wikinger mit seinem Schwarzen Segler und Siri-Tong, die Rote Korsarin, würden dich dabei stören. Wenn die beiden dich aber finden, dann bist du erledigt, nicht einmal mit einer großen Übermacht könntest du sie besiegen. So liegen die Dinge. Nicht ich bin in deiner Hand, sondern du wirst letzten Endes tun, was ich von dir verlange, weil du vor Gier nach den Schätzen kaum noch klar denken kannst.“ Der Seewolf hatte ganz absichtlich versucht, Don Bosco aus der Reserve zu locken. Er wollte ihn provozieren, weil er dann in seiner Wut vielleicht den Fehler beging, ihm ins Gesicht zu schreien, was er vorhatte. Don Bosco verfärbte sich zwar, sein Gesicht lief rot an, aber er beherrschte sich eisern. „Ah, du denkst an diese merkwürdigen Dinger, die ihr an Bord habt. An die Waffe, mit der nur zwei deiner Männer meine Karacke versenkten. Vergiß nicht, wir haben diese Dinger jetzt, und wir wissen, wie man mit ihnen umgehen muß. Also, was du da vorn Wikinger und von dieser Hafenhure Siri-Tong faselst, das läßt mich kalt.“ Der Seewolf wußte, daß Don Bosco nur bluffte. So leicht war es nicht, mit den Raketensätzen aus dem Reich des Großen Chan umzugehen. Auch sie selber hatten
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eine ganze Weile gebraucht, ehe sie wirklich wußten, wie man diese Dinger am besten und am wirkungsvollsten einzusetzen hatte. Trotzdem - Don Bosco hatte die Raketen, und auch ohne daß er sie zu bedienen wußte, blieben sie gefährlich genug. Aber da war noch etwas anderes, worauf der Seewolf baute. Der Mahlstrom. Hasard glaubte nicht, daß sie es so treffen würden, daß der Mahlstrom, mit dessen Hilfe allein es möglich war, über die Felsbarriere im Felsendom in die Schlangenbucht zu gelangen, genau dann einsetzen würde, wenn sie bei der Schlangeninsel auftauchten. Die Galeere mußte sich sowieso außerhalb der Sichtweite von der Schlangeninsel halten, sonst würden Arkana und ihre Schlangenkriegerinnen und auch Ribaults Männer, sofern sich der Franzose auf der Schlangeninsel befand, sofort mißtrauisch werden. Zwar wußte Hasard nicht, wie weit inzwischen die Befestigungsanlagen auf der Insel gediehen waren, aber er kannte Siri-Tong, ihren Dickkopf, wenn sie etwas durchzusetzen gedachte, und ihre Energie, wenn es daran ging, irgendwelche Pläne in die Tat umzusetzen. Wenn der Mahlstrom aber erst später einsetzte, einen Tag vielleicht oder sogar zwei, dann mußten sie in Sichtweite der Schlangeninsel ankern. Und weil Don Bosco nicht an die Insel heransegeln konnte, ohne daß sofort entdeckt wurde, wie es in Wahrheit um den Dreimaster des Seewolfs und seine Besatzung stand, weil Don Bosco auch sonst keinerlei Signale zur Schlangeninsel geben konnte und viel zu mißtrauisch war, um ihn, den Seewolf, dazu zu zwingen, blieb dem Piraten also nichts anderes übrig, als auf den Mahlstrom zu warten. Nur – daß er davon noch gar nichts ahnte. Genau da aber lag das Problem des Seewolfs. Denn das Geheimnis, das würde er diesem verdammten Tortuga-Piraten bestimmt nicht verraten. Ganz gleich, was geschah. An diesem Problem kaute der Seewolf herum, denn nicht mehr lange; und er würde Don Bosco auf irgendeine Weise davon unterrichten müssen, wollte er nicht
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die „Isabella“ auf die Unterwasserbarriere jagen. Was aber dann geschehen würde, davon hatten die Seewölfe einen Begriff gekriegt, als damals die Spanier die Schlangeninsel angriffen. Die beiden Männer starrten sich an. Jeder wußte in diesem Moment vom anderen, daß er nach einer Möglichkeit suchte, den anderen zu packen, auszutricksen. Der Seewolf baute darauf, daß die Wachen der Schlangeninsel aus ihren Felsennestern die „Isabella“ erspähen würden, sobald sich ihre Mastspitzen über die Kimm schoben. Und daß sie dann, wenn die „Isabella“ in gehöriger Entfernung ankerte, ohne ein Zeichen zu geben oder ohne auf Rufweite an die Insel heranzusegeln, mißtrauisch werden würden. Alles andere blieb dann abzuwarten. Don Bosco wiederum baute darauf, daß der Seewolf es nicht wagen würde, ihm eine Falle zu stellen, denn das Leben aller seiner Männer stand auf dem Spiel. Aber wie sich die Dinge in Wirklichkeit entwickeln sollten, das ahnte zu diesem Zeitpunkt keiner von ihnen, und das war gut so. Der Augenblick, in dem der Ausguck das Auftauchen der Schlangeninsel über der Kimm meldete, kam. Es war der Moment, in dem Don Bosco grinsend an den Seewolf herantrat. „Du siehst es, Seewolf, wir haben deine lausige Insel gefunden, auch ohne deine Hilfe, wenn man davon absieht, daß du die ‚Isabella’ gesteuert hast. Wo bleibt denn nun dieser Wikinger? Wo die Rote Korsarin, he?“ Don Bosco lachte schallend. Dann deutete er nach achtern. „Siehst du, wie klug dieser Pablo ist’? Von der ,Conchita’ wird keiner deiner Späher in den Felsen der Insel etwas entdecken, nur deine ‚Isabella’ wird er ausmachen können. Und die, die segelt jetzt schnurstracks in die Schlangeninsel hinein, und meine Männer werden an deinen Culverinen und Drehbassen stehen und jeden Widerstand augenblicklich zusammenkartätschen. Ich aber, ich werde dir Gesellschaft leisten, damit du nicht aus
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Versehen irgendeinen dummen Fehler begehst. Gut so, Seewolf?“ Wieder lachte Don Bosco schallend. Er merkte gar nicht, wie ihn der Seewolf einen Moment lang grinsend anblickte, denn er war durch das höhnische Gerede Don Boscos auf eine hervorragende Idee verfallen. Ja, dieser Dreckskerl sollte nur neben ihm am Ruder bleiben, das löste eines seiner Hauptprobleme fast von selbst. Und dann verpaßte er Don Bosco die eiskalte Dusche, die er sich bis zu diesem Moment aufgespart hatte. „Du wirst dich noch ein bißchen gedulden müssen, Pirat“, sagte. er und genoß dabei den jähen Wechsel im Mienenspiel Don Boscos, „bis du die Schlangeninsel von innen kennenlernen wirst. Man kann den Felsendom nämlich nur unter ganz bestimmten Umständen und auch nur zu ganz bestimmten Zeiten durchsegeln, oder man fährt mitsamt dem ganzen Schiff zur Hölle, noch ehe man überhaupt einen einzigen Blick auf das Innere der Bucht erhascht hat. Und wenn ich du wäre, dann würde ich jetzt schleunigst den Anker werfen lassen, denn sonst sehen meine Späher mit ihren scharfen Spektiven, was an Bord der ,Isabella` wirklich los ist. Und dann, Don Bosco bleibt dir das Innere der Schlangeninsel für alle Ewigkeit verschlossen!“ Don Bosco prallte zurück. Seine Züge verzerrten sich vor Wut, denn er sah, daß der Seewolf seine Worte ernst gemeint hatte. „Das war es also, was du die ganze Zeit in deinem verfluchten Schädel hattest! Das war also deine ganze Hoffnung, daß deine Freunde mir doch noch den Garaus machen könnten, ehe ich mein Ziel erreicht habe. Und du vertraust darauf, daß ich die ,Conchita` jetzt nicht erreichen kann, daß deine Männer für deine Hinterlist nicht zu büßen haben werden. Du Hund, ich werde dir zeigen, wie Don Bosco mit so hinterhältigen Kerlen wie dir umspringt!“ Don Bosco schlug zu. Immer wieder. Der Seewolf, am Ruder angekettet, vermochte den Schlägen und Tritten nicht auszuweichen, er mußte sie zähneknirschend einstecken. So lange, bis
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Don Bosco einmal in Reichweite seiner ledernen Seestiefel geriet. Da trat der Seewolf zu, mit aller Kraft, die ihm zu Gebote stand. Der Tortuga-Pirat flog quer über das Achterdeck. Die Nagelbank des Besanmastes bremste ihn, schwer krachte er gegen das eisenharte Holz. Für einen Moment rutschte der Pirat in sich zusammen, aber dann sprang er auf. Mit wildem Gebrüll riß er einen der Koffeynägel aus der Bank, stürmte auf Hasard zu und hieb ihm den hölzernen Belegnagel über den Schädel. Der Seewolf brach am Ruder zusammen, aber Don Bosco achtete gar nicht darauf. „In die Wanten!“ brüllte er seine Männer an, die in diesem Moment gar nichts begriffen. „Rauf mit euch, hoch mit den Segeln, laßt Anker fallen, oder ich mache euch Beine!“ Don Bosco sprang in die Kuhl hinab, und jeden, der nicht schnell genug war, erwischte ein Tritt oder ein wilder Hieb mit dem Belegnagel, den er noch immer in der Faust hielt. Anschließend sah er sich schweratmend um. Langsam stieg er die Stufen zum Achterdeck empor, als seine Männer die ersten Segel bargen und der Anker aus rauschte. Vor dem Seewolf blieb er stehen. „Du Hund“, zischte er voller Grimm. „Du bist einer von denen, vor denen man sich noch hüten muß, wenn man sie längst erschlagen hat. Du bist wie der Kopf einer Schlange, der immer noch beißt, auch wenn der Leib längst abgestorben ist!“ Er versetzte dem Seewolf einen Tritt. „Wach auf, du Hund. Jetzt wirst du mir erzählen, worauf es ankommt, wann und unter welchen Umständen man in diese dreimal verwünschte Schlangeninsel hineinsegeln kann. Oder, das schwöre ich dir, ich bringe dich um!“ Er versetzte dem Seewolf abermals einen Tritt, und als das nichts half, griff er sich eine Pütz, warf sie ins Meer und goß dem Seewolf, der bewußtlos in seinen Ketten am Ruder hing, einen Schwall Seewasser ins Gesicht. Das mußte er dreimal
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wiederholen, erst dann schlug der Seewolf die Augen auf. Aber unter dem Blick, der ihn aus diesen wie Eis glitzernden Augen traf, wich Don Bosco entsetzt zurück. „Wage es nicht, mich noch einmal dann zu schlagen, wenn ich mich nicht wehren kann, Pirat!“ sagte Hasard kalt, und auch seine Stimme klirrte wie Eis. „Ich werde dir sagen, wenn es Zeit ist, die Segel zu setzen und den Anker wieder zu lichten. Und unabhängig davon wirst du es hören, ihr alle werdet es hören, denn es ist, als wenn die Hölle sich auftut, und vielleicht wartet der Satan bereits auf dich und deine Galgenvögel. Und jetzt pack dich, du Dreckskerl! Bringe mich um oder nicht, mit dir habe ich nichts mehr zu reden!“ Er spuckte Don Bosco ins Gesicht, und der Pirat wich vor dem Seewolf zurück. Es war das erstemal, daß Don Bosco spürte, mit welch einem Gegner er sich da eingelassen hatte. 7. Bis die Dunkelheit einsetzte, blieb alles ruhig. Auf der Schlangeninsel und auch an Bord der „Isabella“. Zumindest schien das so. In Wirklichkeit sah es anders aus. Don Bosco hatte die neuerliche Schmach, die ihm der Seewolf vor seinen Männern angetan hatte, keineswegs verwunden. Den Herrscher von Tortuga spuckte man nicht an. Niemand. Auch der Seewolf nicht. Das würde er noch merken. Doch vorerst beschäftigte den Tortuga-Piraten ein ganz anderes Problem. Don Bosco hatte sich in die Kammer des Seewolfs zurückgezogen und dachte nach. Da war diese Insel, und da ankerte die „Isabella“. Er war sicher, daß die Bewohner der Schlangeninsel dieses legendäre Schiff, diesen Dreimaster, der sich schon vom Äußeren her von nahezu allen bekannten Schiffen durch seine überhohen Masten und merkwürdig flachen Aufbauten unterschied, auf Anhieb erkannt hatten. Und doch war keiner gekommen. Keiner. Die Schlangeninsel wirkte wie ausgestorben, nichts schien sich dort zu rühren.
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Don Boscos scharfer Verstand arbeitete, und seine Gedanken schlugen genau den umgekehrten Weg ein, den vorher schon die Überlegungen des Seewolfs genommen hatten. Hinzu kam noch, daß Don Bosco von diesen merkwürdigen Leuten, die da vorne auf der Insel hausten, eine Menge gehört hatte, ihre Gefährlichkeit und Gerissenheit hinreichend kannte. Plötzlich war ihm alles klar, plötzlich wußte er, was sie zu tun versuchen würden und welche Gegenmaßnahmen er ergreifen mußte, um sie daran zu hindern. Vor allem mit dem Seewolf mußte er rechnen, dieser Mann würde alles riskieren, um seine Freunde vor der Falle zu warnen, in die sie segeln, schwimmen oder der Teufel mochte wissen wie sonst hineingeraten würden. Don Bosco stürzte an Deck. Er brüllte ein paar Befehle, und zwei seiner wüsten Kerle stürmten aufs Achterdeck. Sie brachten Stricke mit, dann fesselten sie den Seewolf so, daß er sich nicht mehr zu rühren vermochte. Danach knebelten sie ihn. Don Bosco stand dabei und lachte höhnisch. „So, du Bastard“, sagte er, „jetzt können deine Freunde kommen. Ich werde sie empfangen, darauf kannst du dich verlassen, aber du wirst sie nicht warnen, du nicht!“ Er gab seinen Männern wieder einige Befehle, und der Seewolf verstand sie nur zu gut. Herr des Himmels, dieser Don Bosco war wirklich ein Teufel, ein Gegner, wie der Seewolf an Verschlagenheit, aber auch an Schlauheit noch keinen erlebt hatte. All seine Hoffnungen, die er gehegt hatte, alles das, was er sich durch ihr Ankern vor der Insel hatte ausrechnen können, war mit einem Schlage zunichte. Der Seewolf erstickte fast an dem Grimm, der sich jetzt seiner bemächtigte, aber das half ihm auch nicht weiter. Er sah, wie Don Bosco mit seinen Männern aufs Hauptdeck hinabhuschte, er hörte noch, wie er weitere Befehle gab, dann wurde es still auf der „Isabella“, und die Nacht sank über das Schiff. Hinter dem Seewolf, meilenweit zu sehen, brannte die Hecklaterne. Auf dem
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Hauptdeck glosten einige Schiffslaternen vor sich hin. Das war alles, sonst schien jedes Leben an Bord des Dreimasters gestorben. * Jean Ribault wartete, bis sich die Nacht über die See senkte. Zusammen mit Jan Ranse, seinem Steuermann, einem untersetzten Holländer mit wildem blonden Bart und hellen, wachen Augen, saß er in der kleinen Schaluppe, die so schwarz war wie der Viermaster des Wikingers. Arkana und ihre Schlangenkriegerinnen hatten ganze Arbeit geleistet. Die Hecklaterne der „Isabella“ schimmerte zu ihnen herüber, und die beiden Männer ließen sie kaum aus den Augen. Jan Ranse ließ seine Muskelpakete unter dem dunklen Hemd, das er trug, spielen. „Unheimlich ist das Ganze“, sagte er in seiner wortkargen Art. „Da ist etwas faul, so hätte der Seewolf sich niemals verhalten. Nun, wir werden a sehen. Ich glaube, es ist an der Zeit, Kapitän.“ Jean Ribault nickte. Der Wind stand günstig, er würde sogar ausrechen, um die Schaluppe mit Jan Ranse und ihm durch den Felsendom zu reiben, ohne daß sie erst mühsam über die Felsbarriere pullen mußten. Gemeinsam zogen sie das nachtschwarze Segel hoch, dann stieß Jan Ranse das Boot ab und schwang sich anschließend hinein. Der Wind blähte das Segel, trieb das Boot auf den Felsendom zu, und gleich darauf war es in der Finsternis der gigantischen Felsenhöhle verschwunden. Arkana blickte den beiden Männern nach. Auch von Hutten befand sich bei ihr mit einigen seiner Männer sowie einer Gruppe von Schlangenkriegerinnen, die die Schaluppe für die nächtliche Fahrt vorbereitet hatten. Schweigend starrten sie den beiden Männern nach, und keiner wußte für das eigenartige Verhalten des Seewolfs eine plausible Erklärung. „Ich mache mir wirklich Sorgen, Arkana“, sagte der dunkelhäutige von Hutten, dessen blondes, schulterlanges Haar einen
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seltsamen Kontrast zu seiner sonst durch und durch indianischen Erscheinung bildete. „Ich hätte mitsegeln sollen, aber Jean wollte das nicht, er meinte, daß einer von uns beiden auf der Insel bleiben solle, für alle Fälle.“ Arkana nickte abwesend, ihre Gedanken waren in diesem Moment ganz woanders, aber es waren durchaus keine erfreulichen Gedanken, die sie beschäftigten. Sie nickte von Hutten zu und war gleich darauf verschwunden. Von Hutten stieß eine Verwünschung aus. Er konnte sich nicht erinnern, jemals eine so belämmerte Situation erlebt zu haben. „Los!“ kommandierte er dann. „Wir kontrollieren noch einmal die Geschützstellungen am Felsendom. Ob das Sinn hat, weiß ich nicht, aber irgendetwas muß ich jetzt tun. Anschließend steigen wir auf die Felsen, ich will sehen, ob Jean uns das Zeichen gibt, das er mit Arkana verabredet hat!“ Von Hutten dachte dabei an die Rakete, die wohlverwahrt in der Schaluppe lag und gestartet werden sollte, falls wider Erwarten an Bord der „Isabella“ doch alles in Ordnung war und sie mit dem Mahlstrom, der gegen Morgen einsetzen würde, in die Bucht einlief. Jean Ribault und Jan Ranse verhielten sich schweigsam. Die Schaluppe lief gute Fahrt, und zunächst ließ Ribault sie auch alle Fahrt laufen, die der Wind hergab. Erst wenn sie dichter an die „Isabella“ heran waren, wollte er die Fahrt verringern. Nur langsam wurden die Umrisse der „Isabella“, die sich trotz der herrschenden Dunkelheit klar gegen den Sternenhimmel abhob, deutlicher. Aber kein Gelächter schallte zu ihnen herüber, nicht die gewaltige Stimme des Profos’ Edwin Carberry. Nein, es herrschte Totenstille auf dem Schiff, und daran änderte sich auch nichts, je näher sie heransegelten. Jean Ribault holte das Segel ein. „Ich werde hinüberschwimmen“, sagte er zu Jan Ranse. „Warte hier auf mich. Ich will erst auskundschaften, was an Bord los ist, du ...“
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In diesem Moment sah er die Schwimmer, die von allen Seiten zugleich auf die Schaluppe zuschossen. „Jan, Achtung, da kommen ...“ Ein Schlag traf den Franzosen an den Schädel, der sein Bewußtsein augenblicklich auslöschte. Gleichzeitig packten ein paar bärenstarke Arme den völlig überraschten Steuermann und rissen ihn aus dem Boot. Sekunden später knallte auch ihm ein Belegnagel auf den Kopf, und dann zog sich Don Bosco in die Schaluppe. Ein paar seiner Piraten folgten ihm. Don Bosco gab den beiden Männern, die Jan Ranse, den ebenfalls bewußtlosen Steuermann Ribaults, mit dem Kopf über Wasser hielten, damit er nicht ertränk, einen Wink, und sie zerrten Jan Ranse wieder in die Schaluppe. „Fesselt die beiden!“ befahl der TortugaPirat. „Aber sorgfältig. Ich gehe jede Wette ein, daß diese beiden Kerle höchst gefährliche Subjekte sind. Genau wie die Bande des Seewolfs, aber ich glaube, wir haben einen guten Fang gemacht.“ Don Bosco besah sich die beiden, so gut es ging, aber es war zu dunkel auf dem Wasser. „Schafft sie an Bord. Dann bringt die beiden zum Achterschiff, dorthin, wo der Seewolf ist. Ich will sein Gesicht sehen, wenn er entdeckt, daß der schlaue Don Bosco seine Spießgesellen gefangen hat, noch ehe sie auch nur eine Hand zu seiner Befreiung zu heben vermochten. Nehmt dem Seewolf den Knebel aus dem Mund, aber redet kein Wort mit ihm. Ich will hören, was diese Hurensöhne sich zu erzählen haben, und sie sollen nicht wissen, daß ich es höre! Beeilt euch. Die Schaluppe vertäut ihr so an der ,Isabella’, daß man sie, sobald die Morgendämmerung hereinbricht, von der Insel aus sehen kann. Vorwärts, ich sage euch, das wird heute nacht ein Fest!“ Die Männer führten seine Befehle aus. Don Bosco kehrte schwimmend zur „Isabella“ zurück. An einem Tau, das er vorsorglich von der Kuhl ins Wasser gehängt hatte, enterte er auf. Dann pirschte er sich zum
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Achterdeck hinüber und kauerte sich bei einem der Niedergänge zusammen. Von dort würde er jedes Wort hören können, das die Kerle miteinander sprachen, ohne daß der Seewolf seine Anwesenheit auch nur ahnen konnte. Anschließend wartete Don Bosco. Er sah, wie seine Männer die immer noch Bewußtlosen den Niedergang hinaufschleppten und dann ziemlich unsanft auf die Planken des Achterdecks fallen ließen in der Hoffnung, daß wenigstens einer von ihnen dadurch aus seiner Bewußtlosigkeit erwachen würde. Gleichzeitig rissen sie dem Seewolf den Knebel aus dem Mund und verhöhnten ihn. Einer der Kerle war so gerissen, sich vor dem Seewolf breitbeinig aufzubauen und ihm frech ins Gesicht zu lachen. „He, Seewolf“, grölte er, „diese Kerle da segelten mit einer pechschwarzen Schaluppe heran. Sie wollten dich wohl befreien, aber wie du siehst, hatten sie Pech. Don Bosco rechnete mit einem solchen Besuch, und wir klopften ihnen unsere Belegnägel, Pardon, natürlich deine Belegnägel aufs Hirn. Wenn Don Boscos Kopf verbunden ist, dann wird er von diesen Kerlen einiges wissen wollen. Du solltest ihnen wirklich raten, Seewolf, zu reden. Don Bosco hat nämlich verdammt schlechte Laune, weil dieser Hundesohn dort“, er wies auf Jan Ranse, „ihm ebenfalls eins aufs Hirn geschlagen hat. Dummerweise benutzte er dazu ein Messer, und Don Bosco blutet wie ein abgestochenes Schwein und muß sich jetzt erst seine Wunde verbinden lassen. Also, geht vorsichtig mit ihm um, er verträgt heute nacht bestimmt seine weiteren Scherze mehr!“ Absichtlich hatte der Pirat diese faustdicke Lüge erzählt. Er wollte damit erklären, warum Don Bosco nicht sofort erschien. Und Don Bosco hörte es und grinste anerkennend. Erkannte den Mann, und er nahm sich vor, sich diesen gerissenen Halunken näher anzusehen. In dem steckte wahrscheinlich mehr, als er bisher gewußt hatte, und solche Leute konnte Don Bosco immer gut brauchen. Er schätzte es, wenn
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jemand nicht nur seine Fäuste, sondern auch seinen Verstand gebrauchte. Die Rechnung des Piraten ging auf. Und unglücklicherweise war es Jean Ribault, der zuerst aus seiner Bewußtlosigkeit erwachte. Der Franzose sah sich einen Moment lang verwirrt um, als er dann aber den Seewolf erblickte, ans Ruder gefesselt, als er seine eigenen Fesseln spürte, begriff er sofort. Und damit nahm das Unheil auf der Schlangeninsel seinen Lauf. *
„Hasard, verdammt, was ist passiert? Was sind das für Kerle, die uns in der Schaluppe überfallen haben, wie kommen sie an Bord deiner ‚Isabella’?“ stieß der Franzose erregt hervor. „Und wo sind deine Seewölfe?“ Hasard bedeutete ihm durch ein Zeichen, zu schweigen. „Hör zu, Jean, das ist eine zu lange Geschichte. Meine Männer und auch meine beiden Söhne stecken auf der Galeere Don Boscos. Angekettet. Der Kerl läßt meine Männer und meine beiden Jungs umbringen, wenn ich ihn nicht auf die Schlangeninsel bringe, und der meint es ernst ...“ Don Bosco glaubte seinen Ohren nicht zu trauen. Die Söhne des Seewolfs? Sie befanden sich an Bord der Galeere? Don Bosco wollte aufspringen, denn schlagartig wußte er, daß es sich dabei nur um die beiden angeblichen Schiffsjungen handeln konnte. Das war ja noch weit besser, als er je zu hoffen gewagt hätte. Nur mit Mühe beherrschte sich der Pirat, denn der Seewolf sprach bereits weiter. Leise zwar, aber Don Bosco vermochte dennoch jedes Wort zu verstehen. „Hör zu, Jean. Noch sind wir allein, können reden. Jan Ranse hat diesem Don Bosco sein Messer über den Schädel gezogen, er muß die Wunde versorgen lassen. Dann aber wird er hier auftauchen, und dann haben wir keine Möglichkeit mehr, uns zu verständigen: Wie sieht es auf der Schlangeninsel aus, sind der Wikinger und Siri-Tong in der Bucht?“
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Jean Ribault sagte es dem Seewolf: Wie durch einen Zufall erwähnte er Arkana und ihre Schlangenkriegerinnen nicht, wohl auch deshalb, weil der Seewolf ihm keine Zeit dazu ließ. „Gut. Deine ,Le Vengeur II.’ ist jedenfalls da und deine Männer auch. Wir können also ...“ Jean Ribault unterbrach den Seewolf. „Nein, gar nichts in dieser Art wird passieren. Der Kerl hat sich verrechnet. Wenn ich die Rakete nicht hochjage, die in der Schaluppe liegt, wenn ich ihnen dieses Zeichen nicht gebe, dann wissen sie, daß an Bord der ,Isabella’ etwas faul ist, daß ihr in Gefahr seid und daß der Schlangeninsel ebenfalls Gefahr droht. Dann werden sie etwas unternehmen ...“ Wieder unterbrach ihn der Seewolf hastig. „Und was wäre geschehen, wenn du dieses Zeichen gegeben hättest?“ „Dann hätten sie gewußt, daß wir mit dem Mahlstrom morgen früh in die Bucht einlaufen, daß sie sich zumindest für die Dauer der Nacht keine Sorgen zu machen brauchen ...“ In diesem Moment beging Don Bosco einen entscheidenden Fehler. Er glaubte, genug gehört zu haben. Wilder Triumph leuchtete in seinen Augen, als er aufsprang und die Stufen des Niedergangs zum Achterdeck hinaufjagte. Mit wenigen Schritten war er beim Seewolf. Dem auf den Planken liegenden Franzosen verpaßte er einen wuchtigen Tritt, der Ribault die Luft aus den Lungen trieb und ihn sich an Deck zusammenkrümmen ließ. Dann baute er sich vor dem Seewolf auf. „Ihr seid noch viel dämlicher als der dümmste Hundesohn, der bei mir vor dem Mast fährt und der sein bißchen Verstand längst versoffen und verhurt hat. Ich habe alles gehört, Seewolf, und jetzt weiß ich Bescheid. Was glaubst du, wie ich diese Rakete, die in der Schaluppe dieses Bastards dort liegt, jetzt hochjagen werde! Dann wissen sie, daß an Bord der ‚Isabella’ alles in Ordnung ist, und das ist es ja auch, oder etwa nicht? Ich meine, aus
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meiner Sicht gesehen, und nur die zählt im Moment!“ Don Bosco lachte dröhnend. Dann brüllte er einen Befehl. Wenig später brachte einer der wüsten Kerle die Rakete aus der Schaluppe aufs Achterdeck. Höhnisch wies Don Bosco auf sie. „Na, nun paß mal auf, was das für ein Spaß wird. Und damit auch ja nichts schiefgeht, werde ich sie persönlich hochjagen. Ich habe mal eine von den Raketen ausprobiert, die du an Bord der ‚Isabella’ hast, ich weiß also, wie das geht, falls du jetzt immer noch hoffst, daß ich einen Fehler mache!“ Wieder lachte der Herrscher von Tortuga dröhnend. Aber der Seewolf hörte nur mit halbem Ohr hin. Dieser Kerl hat uns belauscht, dämmerte es ihm. Er weiß jetzt, daß er meine beiden Söhne an Bord der Galeere hat! Und bei diesem Gedanken überlief es ihn erst eiskalt und dann siedend heiß. Nur wie durch blutrote Nebel nahm er wahr, wie Don Bosco die Rakete zündete und wie sie, einen langen Feuerschweif hinter sich herziehend, in den sternenklaren Nachthimmel stieg und irgendwo hoch oben über der „Isabella“ in lauter bunte Sterne zerplatzte. Don Boscos Stimme riß den Seewolf in die rauhe Wirklichkeit zurück, während der Franzose vor Zorn mit den Zähnen knirschte und verzweifelt versuchte, seine Fesseln zu sprengen. „Jetzt ist alles in Ordnung, Seewolf. Morgen früh, mit dem Mahlstrom, was das ist, das wirst du mir später noch erklären müssen, steuerst du dieses Schiff durch den Felsendom in die Insel. Aber bevor das geschieht, Seewolf, werde ich. Pablo verständigen, daß sich die beiden Söhne des Seewolfs an Bord seiner Galeere befinden. Er wird von mir genaue Anweisungen erhalten, was mit den beiden zu geschehen hat und mit allen anderen, falls mir auch nur das geringste zustößt. Diesmal, glaube ich, haben wir uns genau verstanden. Ich spaße nicht. Morgen früh, mit Einsetzen des Mahlstroms, wird es Ernst!“
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Don Bosco starrte den Seewolf an. Lange. Und in seinen Augen las Hasard, daß er keine andere Wahl mehr hatte, als zu tun, was dieser Kerl von ihm verlangte. Seine beiden Söhne zu opfern, das ging über die Kraft des Seewolfs, und er wußte das. Don Bosco hatte ihn an seiner empfindlichsten Stelle gepackt. . Der Pirat deutete auf Jean Ribault und den eben wieder zu sich kommenden Jan Ranse. „Den da“, er wies auf Ribaults Steuermann, „bindet an den Großmast. Nein, schließt ihn mit Eisen dort an. Und den da“, er deutete auf Jean Ribault, „schließt ihr an den Fockmast, damit die Kerle auf der Schlangeninsel sie sehen, wenn es soweit ist, und gar nicht erst auf dumme Gedanken kommen. Schafft sie fort, sie sollen keine Gelegenheit kriegen, sich mit dem Seewolf erst irgendetwas auszuhecken. Sie sollen nicht einmal miteinander reden können. Wenn einer von ihnen sein Maul trotzdem -aufreißen sollte, dann stopft es ihm mit der Peitsche oder mit dem Belegnagel.“ Jean Ribault warf einen letzten Blick auf den Seewolf, und Jan Ranse begriff noch nicht so recht, was eigentlich mit ihm passierte, als sie ihn in die Kuhl hinabstießen und dann mit Ketten und Handschellen an den Großmast schlossen. „Rum für alle!“ brüllte Don Bosco, nachdem er zwei Mann eingeteilt hatte, die mit der erbeuteten Schaluppe zur „Conchita“ hinübersegeln sollten, um Pablo darüber in Kenntnis zu setzen, wer die vermeintlichen beiden Schiffsjungen in Wahrheit waren. Außerdem erhielten die beiden Boten noch eine Order, die dem Seewolf in der zweiten Nachthälfte noch eine teuflische Überraschung bescheren sollte. Denn Don Bosco wollte bei der Schlangeninsel und bei diesem schwarzhaarigen Teufel auf Nummer Sicher gehen. * Die Piraten feierten, aber sie betranken sich nicht so sehr, daß sie zum Schluß wie
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üblich alle auf den Decksplanken lagen und sich nicht mehr zu rühren vermochten. Dafür sorgte Don Bosco. Dann, irgendwann in der zweiten Nachthälfte, kehrte die Schaluppe von der „Conchita“ zurück. Der Seewolf, Jean Ribault und Jan Ranse vernahmen das wilde Gebrüll, mit dem die Piraten sie begrüßten, aber sie hatten keine Erklärung dafür. Die sollten sie jedoch sofort erhalten. Don Bosco erschien auf der Kuhl. Mit ihm die beiden Söhne des Seewolfs, deren schwere Ketten bei jedem Schritt laut klirrten. Don Bosco trieb die beiden die Stufen zum Achterdeck empor. Dort zerrte er sie zu ihrem Vater hinüber. „So, Seewolf, damit du siehst, daß ich nicht spaße“, sagte der Unmensch, und seine Augen funkelten dabei gefährlich, „habe ich deine beiden Söhne auf die ‚Isabella’ holen lassen. Sie werden morgen früh auf dem Vorderkastell angekettet, sobald wir den Anker lichten und die Segel setzen. Bringst du uns alle heil in die Bucht hinter dem Felsendom, dann werden sie leben. Planst du Verrat, werden sie die ersten sein, die sterben. Es liegt jetzt in deiner Hand, Seewolf, was mit den beiden geschieht.“ Der Seewolf verlor seine Beherrschung. „Du bist eine Bestie, Don Bosco. Ein Teufel, wie ihn die Hölle nicht einmal kennt!“ schrie er Don Bosco an. „Sollte ich das alles überleben, dann werde ich dich, jagen, und wenn es durch alle sieben Meere sein müßte, bis ich dich habe. Merk dir das gut. Töte mich, töte uns alle, oder du wirst sterben, von meiner Hand!“ Don Bosco sah den Seewolf an. Sein Blick begann zu flackern. Er verspürte plötzlich eine namenlose Furcht vor diesem Mann mit den Augen wie aus Eis, die eben Blitze versprüht hatten. Nein, er würde ihm keine Gelegenheit geben, sich an ihm zu rächen. Keinem der Seewölfe, das stand in diesem Augenblick für ihn fest. „Schließt die beiden an den Besan!“ befahl er dann, und seine Stimme zitterte dabei. „Sie sollen diese Nacht mit ihrem Vater verbringen. Vielleicht begreift er dann bis
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zum Morgen, bis zum Einsetzen des Mahlstroms, daß das Schicksal dieser beiden allein von ihm abhängt. Ob sie leben oder ob sie sterben. Und ihr Schicksal wird zugleich das aller anderen Seewölfe auch sein.“ Was Don Bosco damit wirklich meinte, das sagte er nicht. Als die Zwillinge am Besanmast angeschlossen waren, verließ er das Achterdeck. Er ließ jedoch vorher auch dem Seewolf die zusätzlichen Fesseln wieder abnehmen. Der Mann mußte am kommenden Morgen voll einsatzfähig sein, oder es würde ihr aller Untergang sein. Don Bosco stieg den Niedergang hinab. Und plötzlich fröstelte ihn trotz der schwülen Hitze, die in dieser Nacht über der See lag. Er ahnte nicht, was der nächste Tag ihm bringen würde. Ebenso wenig, wie er ahnte, daß in diesem Moment Araua auf dem Schwarzen Segler aufschrie, sich voller Entsetzen an der Brust des Wikingers barg. Feuer war es, was sie sah, eine brennende große Galeone in der Schlangenbucht, die sank und von der entsetzte und völlig entnervte Menschen ins Wasser sprangen, um ihr Leben zu retten. Und sie hörte das Bersten und Knirschen, mit dem ein anderes Schiff auf die Barriere im Felsen prallte, hörte die Schreie der Menschen im Innern dieses Schiffes und sah, wie das Wasser sie gurgelnd umspülte, ohne daß sie ihm zu entgehen vermochten. über der Schlangeninsel aber rollte ununterbrochen der Donner schwerer Geschütze. Menschen starben, und auch der Seewolf sank getroffen zu Boden. Araua zitterte am ganzen Körper, und hilflos begann der Wikinger die Vierzehnjährige, die plötzlich wieder zum völlig verzweifelten, schutzsuchenden Kind geworden war, zu beruhigen. Es gelang ihm nicht, und auch Carberry, der riesige Profos der „Isabella“, bemühte sich vergeblich. „Wir müssen Siri-Tong herüberholen“, sagte er und blickte zu dem ranken Segler hinüber, der sich ihnen unter vollem Preß seiner blutroten Segel rasch näherte.
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Der Wikinger nickte, während er Araua fest in seinen Armen hielt, bis sie schließlich in einen totenähnlichen Schlaf verfiel. Behutsam trug er sie in seine Kammer, deckte sie sorgsam zu, denn Arauas Körper war schweißbedeckt und ganz kühl. Eine halbe Stunde später stand die Rote Korsarin an ihrem Lager. „Ich kenne Araua“, sagte sie heiser. „Die Gabe des Zweiten Gesichts ist bei ihr noch weit stärker ausgeprägt als bei ihrer Mutter. Ich muß erfahren, was sie gesehen hat, laßt mich mit Araua allein. Aber ich fürchte, es warten schlimme Zeiten auf uns, nach allem, was ihr mir über den Seewolf und diesen Don Bosco berichtet habt.“ Sie fuhr sich durch ihr langes schwarzes Haar. Ihr schlanker, durchtrainierter und in vielen Schlachten gestählter Körper streckte sich. Sie sah den Seewolf vor sich, sah seine eisblauen Augen, die Araua von ihm geerbt hatte. Und sie dachte an die vielen Tage, Wochen, Monate und Jahre, die sie sich kannten, an die Nächte, die sie in seinen Armen gelegen hatte. „Wenn es in meiner Macht steht, Seewolf“, murmelte sie, „dann werde ich dich und deine Männer aus den Klauen dieses Don Bosco reißen. Aber erst muß ich von Araua wissen, welches Gesicht ihr zuteil wurde. Es muß eine schlimme Botschaft gewesen sein, die der Schlangengott der Tochter seiner Hohepriesterin Arkana schickte.“ Sie sah Carberry an, und ein Lächeln huschte über ihr Gesicht, als sie die Sorge in seinen vernarbten Zügen sah. Dann sah sie den Wikinger an, und wieder mußte sie lächeln, denn Thorfin Njal folgte seiner uralten. Gewohnheit und kratzte sich ratlos an seinem auf Hochglanz polierten Helm. „Geht jetzt“, sagte sie leise ein zweites Mal. „Wenn ich mit Araua gesprochen habe, werde ich euch berichten, was sie gesehen und was dieses namenlose Entsetzen in ihr ausgelöst hat.“ Der Wikinger und Carberry verließen die Kammer. Als sie an Deck traten, zeichnete sich der erste Silberstreif des nahenden Morgens an der Kimm ab. Er zeigte das
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Erwachen eines Tages an, der für immer in die Geschichte der Schlangeninsel
Überfall auf die Schlangeninsel
eingehen sollte.
ENDE