Klaus-Michael Braumann Niklas Stiller (Hrsg.) Bewegungstherapie bei internistischen Erkrankungen
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Klaus-Michael Braumann Niklas Stiller (Hrsg.) Bewegungstherapie bei internistischen Erkrankungen
Klaus-Michael Braumann Niklas Stiller
Bewegungstherapie bei internistischen Erkrankungen
Mit 34 Abbildungen
1 23
Prof. Dr. Klaus-Michael Braumann Abteilung Sport-und Bewegungsmedizin Fachbereich Bewegungswissenschaft Fakultät für Erziehungswissenschaft, Psychologie und Bewegungswissenschaft Universität Hamburg Mollerstraße 10, 20148 Hamburg
Dr. Niklas Stiller Schumannstr. 17, 40237 Düsseldorf
ISBN-13
978-3-642-01331-7 Springer-Verlag Berlin Heidelberg New York
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22/2122/UN – 5 4 3 2 1 0
V
Vorwort: »Das Herz muss über die Hürde« Ein paar Gedanken zur Compliance bei Bewegungstherapie »Auch die längste Reise beginnt mit dem ersten Schritt« heißt ein chinesisches Sprichwort. Aber das ist wohl nur teilweise wahr. Denn nicht aus jedem ersten Schritt wird auch tatsächlich eine große Reise, da man z. B. nach den ersten drei Schritten entmutigt aufhören kann. Kennen Sie das? Dass Sie kurz vor einer Reise plötzlich keine Lust mehr haben, loszufahren? Es kommt dieser Moment – meist ein, zwei Tage vor Antritt der Reise – wo man sich innerlich losreißen muss. Es ist der Augenblick, wo man versteht, dass man wirklich fahren muss. Die Bequemlichkeiten zu Hause verlassen müssen und sich auf den Weg machen. Unbekanntem begegnen wird und damit fertig werden muss. Ist man dann einmal unterwegs, fühlt man sich besser: Das Herz muss erst einmal über die Hürde. In einer ähnlichen Situation befinden sich unsere Patienten, die um ihrer Gesundheit willen ihr Leben verändern müssen und eine für sie zunächst ungewohnte und unbequeme Bewegungstherapie anfangen und durchhalten sollen. Die zu überwindenden Widerstände sind hier offenbar beträchtlich. Die Hürden sind gewaltig. »In zahlreichen Studien konnte gezeigt werden, dass die Zahlen der Patienten, die sich an die konkreten Trainingsvorgaben halten, bei körperlichem Training besonders niedrig sind«, schreiben David Niederseer und Josef Niebauer in ihrem Kapitel »Bewegungstherapie bei koronarer Herzkrankheit«. Die Widerstände gegen die Veränderung, die sich wie Ausreden anhören, sind zahlreich und menschlich zugleich: 4 Wenn ich die Gewohnheit habe, jeden Feierabend mit Kumpels in der Kneipe Bierchen zu stemmen und Zigarettchen zu rauchen, dann könnte es sein, dass ich diese Kumpels und die Kneipe – die mich doch seelisch aufrecht halten – erst mal aufgeben muss, um die Kraft zu meiner Bewegungstherapie zu finden. Eine hohe Hürde. Andere werden mich, anstelle dieser Kumpels, aufrecht erhalten müssen, bis ich es selber kann. 4 Oder ich sitze gerne abends auf dem Sofa, sehe Fernsehkrimis und stopfe dazu Kartoffelchips in mich hinein, gehe dann mit einer Art Kater ins Bett und stehe morgens deprimiert auf. 4 »Ich bin doch eine ästhetische Zumutung, weil ich viel zu fett bin: So kann ich doch nicht in den Wald marschieren und joggen. Die Leute sehen mich schief an, wenn ich mit meinen wabbelnden Pfunden vorbeikomme.« 4 »Außerdem habe ich einfach keine Zeit. Der Zeitaufwand für so eine Bewegungsgeschichte ist riesig. Ich mach’ das ein, zwei Mal und dann kommt mir was dazwischen. Ein Termin. Schließlich muss ich auch noch arbeiten. Mir meinen Lebensunterhalt verdienen. – Und das war’s dann.« 4 »Ich war schon als Kind zu fett.« 4 »Ich habe ein Trauma zu verarbeiten. Mein Mann ist gestorben. Da habe ich angefangen zu essen.« 4 »Wegen irgendwelcher Blutwerte soll ich mich hier abstrampeln.« Diese Widerstände können zum Teil auch depressiver Natur sein.
VI
Vorwort
Hier muss der Arzt mitunter auch Psychotherapeut sein; oder es müssen spezielle psychologisch geschulte Motivationstrainer zu einer Bewegungsgruppe hinzugezogen werden, um Probleme dieser Art zu bearbeiten. Dem Teufelskreis steht im Prinzip ein »Kreis der positiven Verstärkung« gegenüber, aus wachsendem körperlichem Wohlbefinden und wachsendem Selbstbewusstsein. Das Problem ist nur, dass die initiale »Umkehr des Drehsinns« erst einmal mit einem Kraftakt verbunden ist. Hier gibt es verschiedene Ansätze, den Patienten zu unterstützen: 4 Eine gesunde Wut erzeugen: »Denen werde ich’s zeigen. Natürlich darf ich auch mit schlabbernden Pfunden im Wald herumlaufen, das steht mir zu!« 4 Das Verhältnis des Patienten zu seinem Körper muss neu justiert werden, d. h. Arbeit am Selbstbild des Patienten vornehmen. Das Schöne ist: Wenn die Bewegungstherapie erst einmal in Gang gekommen ist, geschieht dieses »Neu-Justieren« zum großen Teil von selbst. Denn der Körper verändert sich in einem positiven Sinne – und mit ihm das Verhältnis des Patienten zu ihm; zu sich selbst. Und sein Selbstbewusstsein wächst. Der Therapeut kann es dem Patienten zwar nicht abnehmen, sein Herz über die Hürde zu tragen, er kann ihm aber dabei assistieren: 4 Er kann mit ihm ein Team bilden, ein Mannschaftsgefühl erzeugen, bei dem der Patient die Hauptleistung erbringt, und der Arzt wichtige Hilfsleistungen beisteuert. 4 Er kann klare Ziele formulieren. Durch sinnvolle Zwischenziele kann er für regelmäßige Erfolgserlebnisse sorgen. Er kann sinnvolle Systeme der Selbstbelohnung vorschlagen, die nicht den Erfolg der Bewegungstherapie in Frage stellen, sondern diesen verstärken. 4 Er kennt positive Beispiele von Patienten, die es geschafft haben; er kann solche Patienten vorstellen und sie ihre Geschichte erzählen lassen. Er hat DVDs auf denen Rolf Maier und Tina Schröder (Namen frei erfunden) über ihre Schwierigkeiten berichten, und über den schließlichen Erfolg. Das ist ermutigend. 4 Auch mentales Training kann hilfreich sein: Skifahrer gehen z. B. den zu fahrenden Kurs mit all seinen Höchstschwierigkeiten mit geschlossenen Augen durch, bevor sie starten. Am Ende ist die Bewegung selber die Belohnung, das Erfolgserlebnis. Die regelmäßige Bewegung ist eine Freude, auf die er nicht mehr verzichten will. Sie ist ein Teil von ihm geworden. David Niederseer und Josef Niebauer führen in ihrem o. g. Koronar-Kapitel weiter aus: »Allein zu Hause nach Anweisungen des Arztes zu trainieren, stellt für schwer motivierbare Patienten eine wenig zufriedenstellende Alternative dar. Viel besser kann hier motivierend auf die Patienten eingegangen werden, wenn ein stationärer Aufenthalt angeboten wird. Jedoch konnte in zahlreichen Studien nachgewiesen werden, dass die Patienten nach der stationären Rehabilitation nur selten körperliche Aktivität in ihren Alltag integrieren. So bietet sich eine ambulante (....) Rehabilitation an, die über eine lange Zeitdauer finanziert werden kann, da sie wesentlich kostengünstiger als ein stationäres Programm ist«. Der einzelne Arzt darf in diesem Zusammenhang von sich selbst nicht zu viel erwarten. Er kann keine Institution ersetzen, er kann nur Teil eines Zusammenhangs sein. Er kann mit guter Beratungsarbeit einigen mehr dabei helfen, ihr Herz über die Hürde zu werfen, er kann dies aber letzten Endes nicht für sie tun. Der Arzt kann anerkennen, dass die nötigen Schritte für die Patienten schwierig sind: Es hilft dem Patienten, wenn er spürt, dass der Arzt sich über die Höhe der Hürden einigermaßen im Klaren ist. Ganz gleich, in welchem Rahmen wir den Bewegungs-Patienten begegnen: Es wird uns leichter fallen, sie zu erreichen, wenn wir uns darüber klar sind, welche Belastun-
VII Vorwort
gen – nein nicht »wir ihnen zumuten wollen« -, sondern: zu welchen Belastungen wir sie einladen, sich selber zuzumuten. Auch die längste Reise beginnt mit dem ersten Schritt. Aber vorher muss das Herz über die Hürde. Sonst kommt man nicht an. September 2009 Klaus Michael Braumann Niklas Stiller
VIII
Inhaltsverzeichnis I
Allgemeiner Teil
1
Bewegungstherapie und ihre Umsetzung – eine Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . Klaus-Michael Braumann Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Probleme der Durchführung einer Bewegungstherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Individuelle Bewegungstherapie – Voraussetzungen zur Durchführung . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1.1 1.2 1.3 1.4
2 2.1 2.2 2.3 2.4 2.5 2.6 2.7 2.8
3 3.1 3.2 3.3 3.4 3.5
4 4.1 4.2 4.3 4.4 4.5 4.6 4.7 4.8 4.9
Effekte körperlichen Trainings auf den Organismus . . Klaus-Michael Braumann Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Akute und chronische Anpassungen an Körperarbeit . . . Trainingseinflüsse auf die Muskulatur . . . . . . . . . . . . . Trainingseinflüsse auf den passiven Bewegungsapparat . Trainingseinflüsse auf innere Organe und Organsysteme Notwendige Belastungsintensitäten . . . . . . . . . . . . . . Trainierbarkeit und Altern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
4 6 7 11
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Grundlagen des Trainings: Ausdauer, Kraft, Bewegung und Koordination Jan Schröder Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ausdauertraining . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Krafttraining . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Beweglichkeitstraining . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Koordinationstraining . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Die Wirkung körperlicher Aktivität auf das Immunsystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hinnak Northoff, Markus Löffler, Asghar Abbasi Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Klinisch epidemiologische Untersuchungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Körperliche Aktivität und zelluläre Reaktionen im peripheren Blut . . . . . . . . . . . . . . . . . Antwort von Hitzeschockproteinen, Immunglobulinen und Zytokinen auf körperliche Belastung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Körperliche Aktivität, low-grade systemic inflammation (LGSI) und Arteriosklerose . . . . . . Körperliche Aktivität und Insulinresistenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Körperliche Aktivität und Krebsprävention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Geschlechtsspezifische Unterschiede der immunologischen Belastungsreaktion . . . . . . . Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
II
Therapieformen
5
Bewegungstherapie bei Diabetes mellitus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wolf-Rüdiger Klare Typ-2-Diabetes: Begünstigt durch Übergewicht und Bewegungsmangel . . . . . . . . . . . .
5.1
3
23 24 26 30 34 34
39 40 41 42 44 46 46 47 47 48
53 54
IX Inhaltsverzeichnis
5.2 5.3 5.4
6 6.1 6.2 6.3 6.4 6.5 6.6 6.7
7
7.1 7.2 7.3 7.4 7.5 7.6 7.7
8 8.1 8.2 8.3 8.4 8.5 8.6
9 9.1 9.2 9.3 9.4 9.5 9.6 9.7 9.8
Physiologische Wirkungen einer Bewegungstherapie bei Diabetes mellitus und assoziierten Störungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Durchführung eines Bewegungstrainings bei Diabetes mellitus . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Körperliche Aktivität als Therapiebestandteil bei Fettstoffwechselstörungen . . . . . . . Aloys Berg, Daniel König Zur Situation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Definition, Vorkommen und klinische Relevanz von Fettstoffwechselstörungen . . . . . . . . Grundsätzliche Therapieansätze bei Fettstoffwechselstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die therapeutischen Prinzipien der körperlichen Aktivität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die praktische Umsetzung der körperlichen Aktivität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erfahrungen und Beispiele zur Effektivität der therapeutischen Wirkung körperlicher Aktivität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sport und Bewegung in der Prävention und Therapie von Übergewicht und Adipositas im Kindes- und Jugendalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Christine Graf, Sigrid Dordel, Benjamin Koch Hintergrund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bewegung, Bewegungsmangel und Folgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Rolle der Sport- und Bewegungstherapie bei kindlicher Adipositas . . . . . . . . . . . . . Inhalte einer Sport- und Bewegungstherapie und Effekte auf die Körperkomposition . . . . Geeignete Sportarten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ausgewählte Risiken im Sport und bei körperlicher Aktivität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bewegungstherapie bei arterieller Hypertonie . . . . . . . Hans-Georg Predel, Thomas Schramm Definition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Epidemiologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diagnostik des Hochdruckpatienten . . . . . . . . . . . . . . . . Therapie der arteriellen Hypertonie . . . . . . . . . . . . . . . . Kontraindikationen und Komplikationen der Sporttherapie . Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
56 58 61
63 64 64 66 67 71 72 75
77 78 78 80 81 82 83 84
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
89
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90 90 91 91 95 96
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Bewegungstherapie bei Herzinsuffizienz – aktuelle Forschungsergebnisse Herbert Nägele Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Herzinsuffizienz – ein Problem der Peripherie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Therapie der Herzinsuffizienz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Methoden der Bewegungsbehandlung bei Herzinsuffizienz . . . . . . . . . . . . Sicherheitsaspekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Was sagen die Leitlinien? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Finanzielle und krankenversicherungsrechtliche Aspekte . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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97 98 99 100 105 109 109 110 110
X
Inhaltsverzeichnis
10
Bewegungstherapie bei koronarer Herzkrankheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . David Niederseer, Josef Niebauer Koronare Herzkrankheit – eine Einführung in das Krankheitsbild . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bewegungstherapie bei koronarer Herzkrankheit – Empfehlungen . . . . . . . . . . . . . . . . Wirkungen von Bewegungstherapie bei koronarer Herzkrankheit . . . . . . . . . . . . . . . . . Hinweise für die praktische Umsetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
10.1 10.2 10.3 10.4 10.5
11
11.1 11.2 11.3 11.4 11.5 11.6
12 12.1 12.2
13
13.1 13.2 13.3 13.4 13.5 13.6 13.7 13.8
14 14.1 14.2 14.3 14.4 14.5 14.6 14.7 14.8
Leistungsfähigkeit und Training bei Patienten nach Herzoder Lungentransplantation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Uwe Tegtbur, Elke Gützlaff, Martin W. Busse, Martin Dierich, Jens Gottlieb, Christoph Bara, Christiane Kugler, André Simon, Axel Haverich Körperliche Leistungsfähigkeit nach Herztransplantation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Trainingsstudien bei herztransplantierten Patienten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Empfehlungen zum körperlichen Training nach Herztransplantation – Gefährdungen und Besonderheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Körperliche Leistungsfähigkeit nach Lungentransplantation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Trainingsstudien bei lungentransplantierten Patienten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
115 116 121 126 134 134
143
144 145 146 148 149 151
Bewegungstherapie bei obstruktiven Atemwegserkrankungen . . . . . . . . . . . . . . . . 153 Andreas Meyer, Hans Jörg Baumann Lungensport bei asthmakranken Erwachsenen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154 Körperliches Training bei COPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158 Effektivität von körperlichem Training zur Verbesserung motorischer Leistungen bei Patienten mit demenzieller Erkrankung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Michael Schwenk, Andreas Lauenroth, Peter Oster, Klaus Hauer Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Epidemiologie und demografische Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Zusammenhang motorischer und kognitiver Leistungen bei Demenz . . . . . . . . . . . Einfluss einer kognitiven Einschränkung auf das motorische Rehabilitationsergebnis . . . . Ergebnisse randomisierter, kontrollierter Studien zur Effektivität von körperlichem Training Neuer demenzspezifischer, körperlicher Trainingsansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fazit und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bewegungstherapie bei neurologischen Erkrankungen Carl D. Reimers, Anne K. Reimers Multiple Sklerose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Parkinson-Syndrom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schlaganfälle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Querschnittslähmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Neuromuskuläre Erkrankungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . Post-Poliomyelitis-Syndrom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fibromyalgie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
167 168 168 168 170 172 178 181 182
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186 189 190 192 194 195 196 197
XI Inhaltsverzeichnis
15 15.1 15.2 15.3 15.4 15.5 15.6 15.7
16 16.1 16.2 16.3 16.4 16.5 16.6 16.7
17 17.1 17.2 17.3 17.4 17.5 17.6 17.7 17.8
Bewegungstherapie bei psychischen Erkrankungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Andreas Broocks Die evolutionäre Sichtweise: kein Überleben ohne Bewegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bewegungsmangel als Risikofaktor für psychische Erkrankungen? . . . . . . . . . . . . . . . . Historische Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Empirische Befunde zur Wirksamkeit von körperlichem Training . . . . . . . . . . . . . . . . . . Biologische und psychologische Wirkmechanismen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Worauf kommt es in der praktischen Umsetzung an? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
201
Bewegung und Kognition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kirsten Hötting, Brigitte Röder Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Neuroplastizität – eine Begriffsdefinition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Einfluss von Bewegung auf kognitive Leistungen bei Menschen . . . . . . . . . . . . . . . Wirkmechanismen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bewegung zur Prävention und Behandlung neurologischer Erkrankungen . . . . . . . . . . . Bewegungsinduzierte Plastizität im somatosensorischen und motorischen System . . . . . Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
211
Bewegung und Krebs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Lisa Pleyer, Andrea Kappacher, Sabine Rosenlechner, Richard Greil Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Weshalb Tumorpatienten Bewegungstherapie als nichtpharmakologische Maßnahme »verschrieben« werden sollte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mögliche Zeitpunkte des Einsatzes von Bewegungstherapie im Laufe einer Tumorerkrankung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kann Bewegungstherapie Tumorpatienten schaden? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Besonderheiten der Verschreibung von Bewegungstherapie bei Tumorpatienten . . . . . . . Empfehlung und Ausführung wie weit ist die Kluft? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Biologische Mechanismen des tumorigenesefördernden Effekts von Adipositas und körperlicher Inaktivität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
223
III
Zum Nachschlagen
18
Administrative Rahmenbedingungen, Verordnungsund Abrechnungsmöglichkeiten . . . . . . . . . . . . . Hans-Hauke Engelhardt Rehabilitationssport und Funktionstraining . . . . . . . . Präventionssport . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Eigenfinanzierter Präventions- und Rehabilitationssport und eigenfinanziertes Funktionstraining . . . . . . . . . . Aktueller Diskussionsstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
18.1 18.2 18.3 18.4 18.5
202 202 203 204 205 207 208
212 212 213 215 217 218 219
224 224 229 230 231 233 233 236
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
244 249
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
249 249 253
Stichwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
255
XII
Autorenverzeichnis
Autorenverzeichnis Ashgar Abbasi, MSc
Prof. Dr. Andreas Broocks
PD Dr. Dr. Christine Graf
Institut für Klinische und Experimentelle Transfusionsmedizin (IKET) Eberhard Karls Universität Tübingen Otfried-Müller-Straße 4/1 D-72076 Tübingen
HELIOS Kliniken Schwerin Carl-Friedrich-Flemming-Klinik Wismarsche Straße 393–397 D-19049 Schwerin
Institut für Bewegungsund Neurowissenschaften Abt. Bewegungs- und Gesundheitswissenschaften Deutsche Sporthochschule Köln Am Sportpark 6 D-50933 Müngersdorf
PD Dr. Christoph Bara Klinik für HTTG-Chirurgie Medizinische Hochschule Hannover Carl-Neuberg-Straße 1 D-30625 Hannover
Prof. Dr. Hans-Jörg Baumann Universitätsklinikum HamburgEppendorf Zentrum für Innere Medizin, Med. Klinik II Martinistraße 52 D-20251 Hamburg
Prof. Dr. Aloys Berg Abt. Rehabilitative und Präventive Sportmedizin Universitätsklinikum Freiburg, Medizinische Universitätsklinik Hugstetter Straße 55 D-79106 Freiburg
Prof. Dr. Klaus-Michael Braumann Abteilung Sport-und Bewegungsmedizin FB Bewegungswissenschaft, Fakultät für Erziehungswissenschaft, Psychologie und Bewegungswissenschaft Universität Hamburg Mollerstraße 10 D-20148 Hamburg
Prof. Dr. Martin W. Busse Institut für Sportmedizin und Prävention Universität Leipzig Marschnerstraße 29 D-04109 Leipzig
Dr. Martin Dierich Klinik für Pneumologie Medizinische Hochschule Hannover Carl-Neuberg-Straße 1 D-30625 Hannover
Prof. Dr. Richard Greil Universitätsklinik für Innere Medizin III Landeskrankenhaus Paracelsus Medizinische Privatuniversität Salzburg Müllner Hauptstraße 48 A-5020 Salzburg
Dr. Elke Gützlaff Dr. Sigrid Dordel Institut für Schulsport und Schulentwicklung Deutsche Sporthochschule Köln Am Sportpark 6 D-50933 Müngersdorf
Hans-Hauke Engelhardt Herz InForm – Arbeitsgemeinschaft Herz-Kreislauf Hamburg Humboldtstraße 56 D-22083 Hamburg
Institut für Sportmedizin Medizinische Hochschule Hannover Carl-Neuberg-Straße 1 D-30625 Hannover
PD Dr. Dr. habil. Klaus Hauer Bethanien-Krankenhaus/ Geriatrisches Zentrum Klinikum der Universität Heidelberg Rohrbacher Straße 149 D-69126 Heidelberg
Dr. Jens Gottlieb Klinik für Pneumologie Medizinische Hochschule Hannover Carl-Neuberg-Straße 1 D-30625 Hannover
Prof. Dr. Axel Haverich Klinik für HTTG-Chirurgie Medizinische Hochschule Hannover Carl-Neuberg-Straße 1 D-30625 Hannover
XIII Autorenverzeichnis
Dr. Kirsten Hötting
Dr. Christiane Kugler
Dr. David Niederseer
Biologische Psychologie und Neuropsychologie Universität Hamburg Von-Melle-Park 11 D-20146 Hamburg
Klinik für HTTG-Chirurgie Medizinische Hochschule Hannover Carl-Neuberg-Straße 1 D-30625 Hannover
Dr. Andrea Kappacher
Dr. Andreas Lauenroth
Universitätsklinik für Innere Medizin III Landeskrankenhaus Paracelsus Medizinische Privatuniversität Salzburg Müllner Hauptstraße 48 A-5020 Salzburg
Netzwerk AlternsfoRschung (NAR) Bergheimer Straße 20 D-69115 Heidelberg
Universitätsinstitut für präventive und rehabilitative Sportmedizin Institut für Sportmedizin des Landes Salzburg Paracelsus Medizinische Privatuniversität Salzburg Lindhofstraße 20 A-5020 Salzburg
Dr. Wolf-Rüdiger Klare Klinik für Innere Medizin/ Diabeteszentrum Hegau-Bodensee-Klinikum Radolfzell Hausherrenstraße 12 D-78315 Radolfzell
Dr. Benjamin Koch Projektgruppe Komm mit in das gesunde Boot – Grundschule Sektion Sport- und Rehabilitationsmedizin Universitätsklinikum Ulm – Haus 58/33 Frauensteige 6 D-89075 Ulm
Prof. Dr. Daniel König Abt. Rehabilitative und Präventive Sportmedizin Universitätsklinikum Freiburg, Medizinische Universitätsklinik Hugstetter Straße 55 D-79106 Freiburg
Dr. Markus Löffler Institut für Klinische und Experimentelle Transfusionsmedizin (IKET) Eberhard Karls Universität Tübingen Otfried-Müller-Straße 4/1 D-72076 Tübingen
PD Dr. Andreas Meyer Klinik für Pneumologie Krankenhaus St. Kamillus Kliniken Maria Hilf GmbH Kamillianerstraße 40–42 D-41269 Mönchengladbach
Prof. Dr. Hinnak Northoff Institut für Klinische und Experimentelle Transfusionsmedizin (IKET) Eberhard Karls Universität Tübingen Otfried-Müller-Straße 4/1 D-72076 Tübingen
Prof. Dr. Peter Oster Bethanien-Krankenhaus/Geriatrisches Zentrum Klinikum der Universität Heidelberg Rohrbacher Straße 149 D-69126 Heidelberg
Dr. Lisa Pleyer PD Dr. Herbert Nägele Krankenhaus St. Adolf-Stift Hamburger Straße 41 D-21465 Reinbek
Prim. Univ.-Prof. Dr. Dr. Josef Niebauer Universitätsinstitut für präventive und rehabilitative Sportmedizin Institut für Sportmedizin des Landes Salzburg Paracelsus Medizinische Privatuniversität Salzburg Lindhofstraße 20 A-5020 Salzburg
Universitätsklinik für Innere Medizin III Landeskrankenhaus Paracelsus Medizinische Privatuniversität Salzburg Müllner Hauptstraße 48 A-5020 Salzburg
Prof. Dr. Hans-Georg Predel Institut für Kreislaufforschung und Sportmedizin Deutsche Sporthochschule Köln Am Sportpark 6 D-50933 Müngersdorf
XIV
Autorenverzeichnis
Dipl.-Sportwiss. Anne K. Reimers Tannenweg 35a D-50374 Erftstadt-Liblar
Prof. Dr. Carl D. Reimers Klinik für Neurologie Zentralklinik Bad Berka GmbH Robert-Koch-Allee 9 D-99437 Bad Berka
Prof. Dr. Brigitte Röder Biologische Psychologie und Neuropsychologie Universität Hamburg Von-Melle-Park 11 D-20146 Hamburg
Dr. Sabine Rosenlechner Universitätsklinik für Innere Medizin III Landeskrankenhaus Paracelsus Medizinische Privatuniversität Salzburg Müllner Hauptstraße 48 A-5020 Salzburg
Dr. Thomas Schramm Maternusstraße 40–42 D-50996 Köln
Jan Schröder Fachbereich Bewegungswissenschaft Abt. Bewegungs- und Trainingswissenschaft Universität Hamburg Mollerstraße 2 D-20146 Hamburg
Michael Schwenk Bethanien-Krankenhaus/Geriatrisches Zentrum Klinikum der Universität Heidelberg Rohrbacher Straße 149 D-69126 Heidelberg
PD Dr. André Simon Klinik für HTTG-Chirurgie Medizinische Hochschule Hannover Carl-Neuberg-Straße 1 D-30625 Hannover
Prof. Dr. Uwe Tegtbur Institut für Sportmedizin Medizinische Hochschule Hannover Carl-Neuberg-Straße 1 D-30625 Hannover
1 ·
Allgemeiner Teil 1
Bewegungstherapie und ihre Umsetzung – eine Einführung – 3 Klaus-Michael Braumann
2
Effekte körperlichen Trainings auf den Organismus – 13 Klaus-Michael Braumann
3
Grundlagen des Trainings: Ausdauer, Kraft, Bewegung und Koordination – 23 Jan Schröder
4
Die Wirkung körperlicher Aktivität auf das Immunsystem – 39 Hinnak Northoff, Markus Löffler, Asghar Abbasi
1I
3 1.1 ·
Bewegungstherapie und ihre Umsetzung – eine Einführung Klaus-Michael Braumann
1.1
Einleitung – 4
1.1.1 1.1.2 1.1.3 1.1.4 1.1.5
Bewegung als Therapie – 4 Probleme der Bewegungstherapie – 5 Unklarer Wirkmechanismus – 5 Unkenntnis der Dosierung – 6 Semantisches Problem – 6
1.2
Probleme der Durchführung einer Bewegungstherapie – 6
1.3
Individuelle Bewegungstherapie – Voraussetzungen zur Durchführung – 7
1.3.1 1.3.2 1.3.3
Belastungsuntersuchung – 7 »Laktattest« – 8 Spiroergometrie – 10
1.4
Zusammenfassung – 11
1
4
1 2 3 4 5 6 7 8 9
Kapitel 1 · Bewegungstherapie und ihre Umsetzung – eine Einführung
Fehlernährung bei Überernährung sowie Bewegungsmangel sind in der heutigen modernen industriellen Welt als wesentliche Ursachen für die meisten der sogenannten »Zivilisationskrankheiten« erkannt worden. Vor diesem Hintergrund erhält regelmäßige körperliche Bewegung als ein elementarer Bestandteil des menschlichen Lebens eine völlig neue Bedeutung. Zunehmend diskutiert wird Bewegung als Bestandteil eines therapeutischen Konzepts bei verschiedensten Krankheitsbildern. In diesem Beitrag lesen Sie über:
4 die präventive und die therapeutische Bedeutung von Bewegung, 4 mögliche Gründe, warum die Bewegungstherapie noch nicht ausreichend ins Bewusstsein von Forschung und Praxis gelangt ist, 4 den dringenden Bedarf an Forschungsarbeiten zu Wirkmechanismen und Dosierung der Bewegungstherapie, 4 diagnostische Verfahren zur Feststellung der individuellen Dosierung von Bewegung.
10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
1.1
Einleitung
Der biologische Bauplan des menschlichen Körpers gleicht immer noch dem unserer Vorfahren, für die als Jäger und Sammler ein hohes Maß an Bewegung zum normalen Alltag gehörte. Demzufolge verfügen wir über einen für die Anforderungen der modernen Zivilisation überdimensionierten Bewegungsapparat sowie ein gleichfalls überdimensioniertes Herz-Kreislauf-System. Als Folge der modernen Lebensweise sind die minimalen Reize nicht mehr gegeben, die der Regel nach Roux [23] entsprechend zur Aufrechterhaltung der Organfunktionen notwendig sind. Somit sind Fehlfunktionen der verschiedenen Organsysteme durch Bewegungsmangel vorprogrammiert. Die chronische körperliche Unterforderung im Alltagsleben in Kombination mit immer höherer psychischer Belastung führt zu typischen Krankheitsbildern, für deren Behandlung Bewegung zunehmend als Teil eines therapeutischen Konzepts diskutiert wird. Die präventiven Effekte regelmäßiger körperlicher Aktivität sind unumstritten. Seit Ende der 1960er-Jahre konnte in zahlreichen epidemiolo-
gischen Studien gezeigt werden, dass regelmäßige körperliche Aktivität als wesentliches Element zur Reduzierung des Risikos von Herz-Kreislauf-Erkrankungen betrachtet werden muss. Diese Zusammenhänge wurden zunächst beim Vergleich der Herzinfarktinzidenz in Berufsgruppen mit unterschiedlicher körperlicher Aktivität nachgewiesen; zwischenzeitlich ist gesichert und in zahlreichen Kohortenstudien immer wieder belegt, dass regelmäßige körperliche Aktivität das Risiko einer kardiovaskulären Erkrankung um 50 % reduziert [20]. Ähnliche Zusammenhänge liegen auch für andere chronische Erkrankungen vor: Menschen, die sich regelmäßig bewegen, erkranken seltener an Diabetes [13, 28] oder malignen Tumorerkrankungen [5] und haben seltener psychische Erkrankungen [9]. Selbst bei bereits bestehenden Erkrankungen hat eine gute Fitness erhebliche Auswirkungen: Körperlich untrainierte haben im Vergleich zu fitten Menschen mit der gleichen Erkrankung eine bis zu dreifach höhere Mortalität. Dies konnte gezeigt werden für Patienten mit Hypertonus, Diabetes, COPD, Hypercholesterinämie, Übergewicht und auch bei Nikotinabusus [16].
1.1.1
Bewegung als Therapie
Erst seit relativ kurzer Zeit setzt sich in der Medizin zunehmend die Erkenntnis durch, dass durch gezielt angewandte Bewegung auch bereits bestehende Krankheitsbilder behandelt werden können. Für Erkrankungen des Bewegungsapparates beziehungsweise im Rahmen von Rehabilitationsmaßnahmen nach operativen Eingriffen am Bewegungssystem ist ein gezieltes Kräftigungsprogramm der beteiligten Muskulatur seit 30 Jahren ein unverzichtbarer Bestandteil der postoperativen Therapie; viele der heute routinemäßig durchgeführten rekonstruktiven Gelenkeingriffe wären ohne die Erkenntnisse der Möglichkeiten einer postoperativen Trainingstherapie gar nicht denkbar [8, 21]. > Inzwischen ist gut belegt, dass regelmäßige Bewegung nicht nur präventive, sondern – richtig dosiert und individuell angepasst – auch hervorragende therapeuti-
5 1.2 · Einleitung
sche Effekte bei einer Vielzahl von Krankheitsbildern hat [19].
Dieses Buch möchte den aktuellen Stand der bewegungstherapeutischen Möglichkeiten für verschiedene Krankheitsbilder präsentieren. Sie werden in den folgenden Kapiteln eine Darstellung der bekannten Effekte von Bewegung auf verschiedene Erkrankungen finden. So werden kompetente Spezialisten aus der Kardiologie die Effekte eines Bewegungstrainings auf das Herz-Kreislauf-System beschreiben: wie man durch Bewegung koronare Herzkrankheit, Herzinsuffizienz und Hypertonus behandeln kann. Aus der Sicht der Diabetologen werden die Möglichkeiten zur Therapie des Diabetes genauso präsentiert wie die Therapieoptionen bei Fettstoffwechselstörungen und Übergewicht. Aus pulmologischer Sicht werden die Effekte auf Asthma und COPD abgehandelt, der Neurologe und der Psychiater schreiben über die Möglichkeiten der Bewegungstherapie für Krankheiten aus diesen Fächern und schließlich findet sich ein umfangreiches Kapitel über die Effekte einer Bewegungstherapie bei Patienten mit den verschiedenen Formen von Krebserkrankungen. Sie finden Ausführungen über die Bedeutung von Bewegung im Rahmen der Rehabilitation nach Herz- bzw. Lungentransplantation ebenso wie in der Prävention kindlicher Adipositas sowie der Verbesserung der Lebenssituation alter Menschen. Schließlich umfasst das Buch auch Ausführungen über Effekte, die über rein gesundheitliche Dimension hinausgehen, wie z. B. die intellektuelle Leistungsfähigkeit. Trotz der faszinierenden Datenlage muss man in der täglichen Praxis allerdings feststellen, dass eine regelhafte Verordnung von Bewegung als therapeutisches Element noch immer nur zögerlich erfolgt. Einige mögliche Gründe sollen hier angerissen werden.
1.1.2
Probleme der Bewegungstherapie
Über Jahrtausende wurden Menschen krank, weil sie zu wenig zu essen hatten und sich körperlich zu stark belasten mussten. »Bettruhe und viel Essen« war daher über lange Zeiten die erste Therapieemp-
1
fehlung. Erst seit wenigen Jahrzehnten hat sich dieser Mechanismus der Krankheitsentstehung in das totale Gegenteil verkehrt; eine immer größere Zahl von Menschen wird heutzutage krank, weil sie zu viel isst und sich zu wenig bewegt. Das bedeutet aber auch ein komplettes Umdenken in der Behandlung. Dieser »Paradigmenwechsel« ist in einer Wissenschaft mit einer so langen Tradition wie der Medizin vermutlich nicht innerhalb einer halben Generation zu erreichen. Bewegung als Therapie ist deshalb noch nicht genügend in das Bewusstsein vieler Ärztinnen und Ärzte gelangt [3]; erst seit wenigen Jahren finden sich sport- und bewegungsmedizinische Inhalte in den Curricula für das Medizinstudium.
1.1.3
Unklarer Wirkmechanismus
Daneben gibt es noch andere Gründe für die nur langsam entstehende Akzeptanz der Bewegungstherapie innerhalb der klinischen Medizin: So liegen bislang viel zu wenig wissenschaftlich begründete Kenntnisse über die Mechanismen ihrer Wirkung vor, insbesondere über die notwendige Trainingsintensität, Trainingshäufigkeit sowie über Dosis-Wirkungs-Beziehungen. Während die Effekte pharmakologischer Substanzen oftmals bis hin zur molekularen Ebene untersucht sind, steht die Erforschung der zellulären oder gar molekularen Mechanismen der Effekte körperlicher Bewegung erst in den Anfängen und beschränkt sich mehr auf eine Darstellung einzelner Phänomene. Erfreulicherweise konnten im Hinblick auf die Wirkmechanismen von Bewegung in den vergangenen Jahren bemerkenswerte Erkenntnisse gewonnen werden, die auch in diesem Buch ausführlich dargestellt werden. Die vielleicht bedeutendste Erkenntnis ist vermutlich aber die, dass die Muskulatur neben ihrer mechanischen Funktion als Stabilisator und Beweger von Gelenken auch als endokrines Organ betrachtet werden kann: Muskeltätigkeit führt zu einer vermehrten Bildung und Freisetzung antiinflammatorisch wirkender Zytokine, insbesondere von Interleukin 6. Dieses Phänomen könnte möglicherweise die beeindruckenden Effekte einer Bewegungstherapie auf so unterschiedliche Krankheitsbilder wie KHK, Herz-
6
1 2 3
Kapitel 1 · Bewegungstherapie und ihre Umsetzung – eine Einführung
insuffizienz, Diabetes, Tumorerkrankungen oder Multiple Sklerose erklären: Bei der Entstehung dieser Krankheitsbilder werden in letzter Zeit vermehrt entzündliche Reaktionen diskutiert; unter anderem handelt es sich dabei um den besonders im viszeralen Fettgewebe produzierten Tumornekrosefaktor-alpha (TNF-α) [18].
4 1.1.4
Unkenntnis der Dosierung
5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Im Vergleich zu anderen Therapiekonzepten herrscht bei der Verordnung von Bewegungstherapie nach wie vor Unsicherheit im Hinblick auf die geeigneten Belastungsformen sowie die zum Erreichen eines optimalen Therapieeffekts notwendigen Intensitäten und Häufigkeiten. Eine pauschale Empfehlung wie »Treiben Sie mal Sport und bewegen Sie sich mehr« ist oftmals der einzige Rat, der Patienten bei entsprechender Indikation von ihren behandelnden Ärzten mit auf den Weg gegeben wird. In der Tat gibt es kaum Daten, aus denen die Dosis-Wirkungs-Beziehungen von Bewegungstherapie indikationsbezogen und individuell abgeleitet werden können. Entsprechend der trainingswissenschaftlichen Aufteilung wird zwar zwischen Krafttraining und Ausdauerbelastungen (sogenanntem »Kardiotraining«) unterschieden, die unterschiedliche Effizienz individuell angepasster Intensitäten bei verschiedenen Krankheitsbildern wurde bislang allerdings kaum systematisch untersucht. Schließlich besteht auch bei der Ermittlung optimaler Intensitäten erheblicher Forschungsbedarf: Aufgrund des unzweifelhaft vorhandenen potenziellen Risikos einer akuten Belastung – z. B. bei einem Patienten mit KHK oder Asthma – wird eine Bewegungstherapie häufig mit sehr niedrigen Intensitäten angeboten und durchgeführt. Das führt beispielsweise dazu, dass in den vielen Einrichtungen, in denen Bewegungstherapie eine immer größere Bedeutung erlangt, die Patienten unabhängig von Alter, Geschlecht und Leistungsfähigkeit alle nach derselben Standardbelastung trainiert werden, dadurch oftmals weit von ihren »optimalen« Intensitäten entfernt.
1.1.5
Semantisches Problem
Schließlich scheint auch ein gewisses semantisches Problem eine breitere Akzeptanz von Bewegungstherapie bislang verhindert zu haben. Zu häufig wird Bewegungstherapie auch als »Sport«-Therapie bezeichnet, und die Patienten erhalten von ihren Ärzten die Empfehlung, »Sport« zu treiben. Der Begriff »Sport« wird bei vielen Menschen aber assoziiert mit verbissenem Streben nach Höchstleistung, mit »Bewegen unter Wettkampfbedingungen« und mit Erschöpfungszuständen nach anstrengenden Sportbelastungen. Die weitaus meisten positiven Effekte, die durch regelmäßige körperliche Aktivität im therapeutischen Bereich erreicht werden, entstehen aber durch körperliche Aktivität im Sinne von Bewegung. Nach Bouchard versteht man hierunter den »erhöhten Energieumsatz durch lokomotorische Muskelaktivität« [2], und genau dieser Ansatz muss in der Öffentlichkeit stärker vermittelt werden, damit die bisherigen Vorurteile gegen die Bewegungstherapie abgebaut werden können. Es geht nicht um »Sport«, sondern um »Bewegung«.
1.2
Probleme der Durchführung einer Bewegungstherapie
Trotz der bemerkenswerten Erkenntnisse über die hervorragenden Effekte einer Bewegungstherapie sind die Voraussetzungen zur Durchführung einer solchen Behandlung äußerst begrenzt. Das liegt unter anderem daran, dass sehr viele therapeutische Effekte von Bewegung unter dem Begriff »Sekundär-« oder sogar »Tertiär(!)-Prävention« subsumiert werden. Das führt dann dazu, dass die eindeutigen therapeutischen Effekte, z. B. auf Risikofaktoren für die koronare Herzkrankheit (Hypertonus, Fettstoffwechselstörung, Insulinresistenz), deren Therapie wiederum zu einer Reduzierung der KHK-Häufigkeit führt, als Sekundärprävention bezeichnet werden und durch diesen semantischen Winkelzug nicht in das ureigene Aufgabenfeld der gesetzlichen Krankenversicherung fällt. Im Gegensatz zu physiotherapeutischen Leistungen kann Bewegungstherapie in der Regel nur in Form von Rehabilitations- oder Präventions-
7 1.2 · Individuelle Bewegungstherapie – Voraussetzungen zur Durchführung
sport in Gruppen betrieben werden. Hierfür haben insbesondere die Sportorganisationen, inzwischen aber auch vermehrt kommerzielle Fitnesseinrichtungen, hervorragende Programme entwickelt. In der Praxis zeigt sich allerdings, dass zu wenige Patienten die für sie notwendigen bewegungstherapeutischen Möglichkeiten unter den aktuellen Bedingungen in Anspruch nehmen. Tatsächlich haben viele chronisch kranke Menschen im Laufe ihres Lebens jegliches Körpergefühl verloren, sind aufgrund der ihnen bekannten Diagnosen verängstigt und unsicher darüber, wie stark sie sich belasten dürfen und was sie sich zumuten können. Und die Notwendigkeit, ein solches Programm in einer Gruppe durchzuführen, ist ein weiterer gravierender Grund für eine Nicht-Teilnahme an derartigen Programmen. Für diese Patienten fehlen die Möglichkeiten einer Bewegungsvermittlung, durch die sie – ähnlich wie bei der Krankengymnastik – in wenigen Therapieeinheiten erlernen könnten, wie sich Training anfühlt und wie sie es in eigener Regie durchführen können.
1.3
Individuelle Bewegungstherapie – Voraussetzungen zur Durchführung
Wenn eine Bewegungstherapie als eine ärztlich verordnete Therapieoption verstanden wird, dann müssen vor Beginn bei den Patienten neben einer eindeutigen Indikationsstellung verschiedene diagnostische Verfahren durchgeführt werden, um einen optimalen Therapieeffekt zu erreichen. Eine Bewegungstherapie folgt in Ihren Grundzügen den Regeln der Trainingslehre. Sie beruht auf dem Prinzip der Anpassungsfähigkeit von Organsystemen durch überschwellige Belastungen [23], auf die eine Phase der sogenannten »Superkompensation« folgt, während derer sich die belasteten Strukturen nicht nur wieder erholen, sondern sogar eine höhere Leistungsfähigkeit als vor dem Training erreichen. Wichtig hierbei ist der Wechsel zwischen Belastung und Regeneration, um einen möglichst hohen Leistungszuwachs zu erreichen. Das bedeutet, dass auch im Rahmen der Bewegungstherapie eine gezielte Anwendung optimaler Trainingsintensitäten mit ausreichenden Regenerationszeiten
1
angestrebt werden sollten, um somit den größtmöglichen Behandlungserfolg zu erzielen. > Durch die individuelle Anpassung des Trainings soll sowohl eine Überlastung (potenzielle Gefährdung) als auch die Unterforderung des Patienten (geringer oder gar fehlender Therapieeffekt) vermieden werden. 1.3.1
Belastungsuntersuchung
Ziel einer Belastungsuntersuchung vor Therapiebeginn ist neben der Feststellung der aktuellen Leistungsfähigkeit die Vorgabe optimaler Belastungsintensitäten sowie die Abklärung der Frage, ob der Patient überhaupt gefahrlos belastet werden kann. Es sollte deshalb schon aus forensischen Gründen selbstverständlich sein, vor Einleitung einer Bewegungstherapie durch eine ärztliche Untersuchung das Risiko einer unerkannten Schädigung weitgehend zu minimieren; hierzu gehören selbstverständlich auch eine Belastungsuntersuchung mit einem Belastungs-EKG sowie die Bestimmung des Blutdruckverhaltens. Dabei sollte die Belastungsuntersuchung unbedingt bis zur vollständigen Ausbelastung der Probanden durchgeführt und nicht bereits auf submaximalen Belastungsstufen abgebrochen werden. Nur so lassen sich Auffälligkeiten entdecken, die beim Training in eigener Regie möglicherweise fatale Wirkungen haben könnten. Die Untersuchung sollte zunächst auf einem Fahrradergometer durchgeführt werden, weil dabei am besten eine artefaktfreie EKG-Ableitung sowie eine sichere Bestimmung des Blutdrucks bei Belastung gelingt. Bei Bedarf kann dann später eine Untersuchung auf dem Laufbandergometer erfolgen, da geübte Läufer unter diesen Bedingungen eine höhere Ausbelastung erreichen können. Die Untersuchung erfolgt nach einem standardisierten Schema: Ausgehend von niedrigen Belastungsintensitäten wird die Belastung stufenförmig in definierten Zeitabständen um einen definierten Betrag gesteigert, bis aufgrund von Erschöpfung oder dem Vorliegen von Abbruchkriterien ein Abbruch erfolgt (Stufentest). Bei der Fahrradergometrie erfolgt die Belastungssteigerung üblicherweise alle 3 Minuten in Schritten von 50 Watt, kann aber bei Personen
8
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11
Kapitel 1 · Bewegungstherapie und ihre Umsetzung – eine Einführung
mit geringerer Leistungsfähigkeit auch auf 25-WattSchritte verringert werden (WHO-Protokoll). Das Ausdauertraining ist ein Hauptelement bewegungstherapeutischer Maßnahmen bei nichtorthopädischen Erkrankungen. Im Rahmen einer solchen Untersuchung kann durch eine sogenannte »Leistungsdiagnostik« die Ermittlung der für bestimmte Trainingsziele am besten geeigneten individuellen Intensität für Ausdauerbelastungen erfolgen.
Die wichtigsten leistungsphysiologischen Parameter, die während einer solchen Belastungsuntersuchung ermittelt werden sollten, sind: 5 die maximal erbrachte physikalische Leistung, 5 die sogenannte »individuelle aerob-anaerobe Schwelle« (IAAS) und daraus abgeleitet 5 die optimale Herzfrequenzen zum Erreichen bestimmter Trainingsziele sowie 5 (optional) die max. Sauerstoffaufnahme fähigkeit (VO2 max.).
12 13 14 15 16 17 18 19 20
1.3.2
»Laktattest«
Die individuelle anaerobe Schwelle wird mit einem »Laktattest« ermittelt. Physiologische Grundlage solcher Tests ist der Umstand, dass Muskeln bei Belastung Milchsäure produzieren, diese Milchsäure aber gleichzeitig von anderen Organen (u. a. Leber, Herzmuskel und wenig aktive Muskulatur) wieder eliminiert wird [4]. Milchsäuerbildung und -elimination befinden sich bei Belastungen in einem »steady state«. Ab einer bestimmten Belastungsintensität wird so viel Milchsäure gebildet, dass die Elimination nicht mehr ausreicht – es kommt zu einem allmählichen Anstieg der Laktatkonzentration im Blut. Der Belastungsbereich, bei dem sich Milchsäurebildung und -abbau gerade noch im Gleichgewicht befinden, wird »maximales Laktat-StaedyState« (maxLass) oder auch als »anaerobe Schwelle« bezeichnet [1, 10].
Die Ermittlung der Laktatleistungskurve wird typischerweise in einem Stufentest bestimmt (7 Kap. 1.3.1): Dabei erfolgt am Ende jeder Belastungsstufe die Registrierung der Herzfrequenz (Hf) und die Entnahme eines Tropfens Blut aus dem (hyperämisierten) Ohrläppchen zur Bestimmung der Laktatkonzentration (Lak). Die grafische Beziehung zwischen der Belastungsintensität und der dabei gemessenen Milchsäurekonzentration wird als die Laktatleistungskurve (LLK) bezeichnet. Diese Kurve zeigt typischerweise auf niedrigen Belastungsstufen zunächst einen flachen Verlauf. Wenn mit steigender Belastung die Laktatbildung immer mehr steigt und die Steady-State-Bedingungen nicht mehr aufrechterhalten werden können, kommt es zum typischen exponentiellen Anstieg der Kurve. Je später dieser Anstieg erfolgt, desto höher ist die Belastung, die ohne eine leistungslimitierende Laktatakkumulation erbracht werden kann. Zur Ermittlung der anaeroben Schwelle aus einem Stufentest existieren verschiedene Verfahren, die aber alle in der Lage sein sollten, den Bereich des maxLass mit ausreichender Genauigkeit zu diskriminieren. Eine Überprüfung der angewandten Methodik zur Ermittlung der Schwelle erfolgt durch eine Dauerbelastung im Bereich der ermittelten Schwellenintensität. Die Belastung am maximalen Laktat-Steady-State wird als diejenige definiert, bei der in den letzten 20 Minuten einer z. B. 30-minütigen Dauerbelastung die Laktatkonzentration um weniger als 1 mmol/l ansteigt [11]. Die Kenntnis der individuellen aerob-anaeroben Schwelle erlaubt die Vorgabe individuell günstiger Belastungsintensitäten: Erfahrungsgemäß lässt sich die Intensität im Bereich der Schwelle für eine wenig trainierte Person nur für eine kurze Zeit durchhalten. In der Trainingswissenschaft wird daher eine Belastung von ca. 85 % der anaeroben Schwelle empfohlen, mit der längere Belastungen problemlos toleriert werden können (sog. »Behaglichkeitsbereich«). Es besteht trainingswissenschaftlicher Konsens, dass bei diesen Belastungsintensitäten die günstigsten Anpassungen des Organismus erreicht werden, ohne dass gesundheitlich schädliche Effekte im Rahmen eines Trainingsprogramms (z. B. bei Menschen mit Vorerkrankungen) zu erwarten sind [17].
9 1.2 · Individuelle Bewegungstherapie – Voraussetzungen zur Durchführung
Ermittlung von Trainingsherzfrequenzen
[Lak] mmol/l
10
B
200 180 160
A
8
140 120
6
100 80
4 100 % IAAS
2 0 0
50
100
150 Watt
200
60 40 20 0
85 % IAAS
75 % IAAS
[Hf]
12
1
250
. Abb. 1.1 Schema zur Ermittlung der Trainingsherzfrequenzen aus der Laktatleistungskurve. Hf Herzfrequenz, IAAS individuelle aerob-anaerobe Schwelle, Lak Laktatkonzentration
Die Ermittlung der Herzfrequenzen für die unterschiedlichen Belastungsbereiche ist in . Abb. 1.1 dargestellt: Die anaerobe Schwelle dieser exemplarischen LLK liegt – ermittelt als Punkt der größten Steigungsänderung der Kurve – bei einer Belastung von ca. 180 Watt (Kreis), die korrespondierende Herzfrequenz bei ca. 158 Schlägen/min (Punkt A). Das bedeutet, dass längere Belastungen mit einer Herzfrequenz oberhalb von 158 Schlägen/ min zu einer allmählichen Übersäuerung und damit zu einer vorzeitigen Ermüdung führen würden. Bei 85 % der Intensität der anaeroben Schwelle (in diesem Beispiel also bei ca. 150 Watt) liegt ein Bereich, der relativ problemlos über eine längere Zeit toleriert werden kann. Die Herzfrequenz für diesen »Behaglichkeitsbereich« liegt demnach bei ca. 150 Schlägen/min (Punkt B). Die effektivste Intensität eines Ausdauertrainings liegt in diesem Beispiel also in einem Herzfrequenzfenster zwischen 150 und knapp unter 160 Schlägen/min. Durch mehrfache Laktattests im Verlauf einer Trainingsperiode kann die Effizienz des Trainingsprogramms überprüft werden: So zeigt sich ein erfolgreich durchgeführtes Ausdauertraining an einer Verschiebung der LLK nach rechts sowie durch eine Abnahme der Herzfrequenz auf gleichen Belastungsstufen – durch die verbesserte aerobe Leistungsfähigkeit kommt es zu einer verzögerten Laktatakkumulation und damit einem geringeren
Sympathikusantrieb mit geringerer Katecholaminkonzentration [26, 27]. Überraschenderweise wird eine derartige Eingangsuntersuchung noch immer häufig als überzogen angesehen; die Herzfrequenzen zur Trainingsintensitätsvorgabe werden stattdessen aus bestimmten Algorithmen abgeleitet. Tatsächlich aber sind diese in der Trainingspraxis genutzten Algorithmen zur Ermittlung der individuellen Trainingspulse mit einer hohen Fehlerquote verbunden, die häufig zu einer Über- bzw. Unterschätzung der Herzfrequenz und damit einer Über- bzw. Unterforderung führen. So können die Herzfrequenzen im Bereich der individuellen anaeroben Schwelle stark schwanken und bei verschiedenen Personen durchaus zwischen Werten von 120–185 Schlägen/ min liegen. Ein weiterer Vorteil der Laktatdiagnostik besteht darin, dass man auch ohne eine vollständige Ausbelastung des Patienten valide Parameter zur Trainingssteuerung erhält. Trainingsempfehlungen, die sich z. B. an der maximalen Herzfrequenz oder an der sogenannten maximalen Sauerstoffaufnahmefähigkeit orientieren, benötigen eine vollständige Ausbelastung der Patienten, welche gerade bei leistungsschwachen Patienten oder solchen mit kardiovaskulärem Risiko nicht angestrebt werden sollte [25].
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Kapitel 1 · Bewegungstherapie und ihre Umsetzung – eine Einführung
Eine gründliche Eingangsuntersuchung inklusive einer Laktatleistungsdiagnostik sollte also nicht nur aus forensischen Gründen, sondern auch zur Ermittlung der individuell optimalen Trainingsherzfrequenzen durchgeführt werden. Denn wenn Bewegung als Teil eines neuen Therapiekonzepts etabliert werden soll, muss dafür Sorge getragen werden, dass dieses »Medikament« nicht pauschal (»… treiben Sie mal Sport!«), sondern indikationsgerecht angewendet wird. Dazu ist die Kenntnis der individuell ermittelten optimalen Belastungsintensität unverzichtbar.
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Schließlich ist die Kenntnis der optimalen individuellen Belastungsbereiche auch deswegen von Bedeutung, weil die Effizienz z. B. eines Ausdauertrainings durch intensivere Trainingsbelastungen offensichtlich signifikant verbessert werden kann [15]. Tatsächlich zeigt sich auch im Gesundheitssport im Vergleich zu früheren Jahren ein deutlicher Trend zu höheren Belastungsintensitäten und sogar zu einer Verlagerung vom reinen Ausdauertraining hin zu vermehrter Empfehlung von Krafttraining, selbst bei Bluthochdruckpatienten [7]. Ähnliche Ergebnisse sind für die Bewegungstherapie bei Patienten mit obstruktiven Lungenerkrankungen [6] sowie Patienten mit Herzinsuffizienz [14] beschrieben. Gelegentlich geäußerte Zweifel an der Indikation von Laktatmessungen zur Ermittlung individueller Belastungsintensitäten bei Patienten werden durch neuere Daten relativiert: Form und Lage der LLK ähneln stark der Katecholaminantwort bei Körperarbeit, durch die es mit zunehmender peripherer Vasokonstriktion zu einer Reduzierung von Verteilungsräumen kommt, in denen die Laktatelimination stattfindet. Die LLK steigt dann als Zeichen einer abrupten Zunahme der sympathoadrenergen Stimulation. Die LLK spiegelt also gleichsam den Verlauf der Katecholaminkonzentration wider und erlaubt somit einen Rückschluss auf die Konzentration zirkulierender Katecholamine [24]. Da gerade bei Patienten mit Vorerkrankungen des Herz-Kreislauf-Systems eine zu hohe Sympathikusaktivierung vermieden werden muss, ist
die Kenntnis der anaeroben Schwelle als Ausdruck des Beginns der sympathoadrenergen Stimulation von wesentlicher Bedeutung bei der individuellen Anpassung eines Ausdauertrainings im Rahmen bewegungstherapeutische Programme.
1.3.3
Spiroergometrie
Optional ist im Rahmen einer leistungsdiagnostischen Untersuchung auch eine Spiroergometrie sinnvoll. Die zusätzliche Atemgasanalyse ermöglicht weitere Informationen über die aktuelle Leistungsfähigkeit und den Grad der Belastung [12]. Sie erlaubt mit der Bestimmung der maximalen Sauerstoffaufnahmefähigkeit (VO2 max.) – dem »Bruttokriterium der kardiopulmonalen Leistungsfähigkeit« – die Beurteilung der Kenngröße für die aerobe Leistungsfähigkeit schlechthin. Da auch hier eine maximale Ausbelastung nicht immer erreicht werden kann, sollte man von einer »peak VO2« sprechen. Die Sauerstoffaufnahmefähigkeit sollte immer auf das Körpergewicht bezogen werden (ml/kg/ min). Die peak VO2 wird von der Leistungsfähigkeit mehrerer in den Sauerstofftransport eingebundener Organsysteme beeinflusst: der Leistungsfähigkeit der Lunge, der Pumpleistung des Herzmuskels, der Verfügbarkeit von genügend Sauerstoffträgern sowie letztlich auch von der Fähigkeit der peripheren Muskulatur, den angebotenen Sauerstoff nutzen zu können. Sie gilt somit als der Marker schlechthin zur Beurteilung des Fitness- bzw. Ausdauertrainingszustandes. Sie erreicht im 3. Lebensjahrzehnt ihren Höhepunkt und nimmt anschließend pro Dekade um ca. 10 % ab [22]. Bei hochausdauertrainierten Athleten (Ruderer, Skilangläufer) kann dieser Wert bis >80 ml/kg/min betragen. Veränderungen der VO2 während eines Trainings sind ebenfalls aussagefähige Parameter eines erfolgreich durchgeführten Trainings. Schließlich kann durch eine spiroergometrische Untersuchung auch eine sog. »respiratorische anaerobe Schwelle« ermittelt und zur Vorgabe geeigneter Trainingsbelastungen herangezogen werden: Durch Pufferung der bei Muskelarbeit anfallenden Milchsäure durch Bicarbonat kommt es zur Bildung und vermehrter CO2-Abgabe, wenn die
11 1.2 · Zusammenfassung
Michsäurekonzentration ansteigt. Das führt in der grafischen Darstellung zu einem überproportionalen Anstieg der CO2 Abgabe. Dieser als »VCO2 slope« bezeichnete Deflektionspunkt der CO2-Abgabe-Kurve repräsentiert die respiratorische Schwelle (29), die in enger Beziehung zur metabolischen Schwelle steht.
1.4
Zusammenfassung
Die präventiven Effekte regelmäßiger körperlicher Aktivität sind unumstritten und konnten durch zahlreiche Studien belegt werden. Erst seit relativ kurzer Zeit setzt sich hingegen die Erkenntnis durch, dass durch gezielt angewandte Bewegung auch bereits bestehende Krankheitsbilder behandelt werden können. Trotzdem erfolgt eine regelhafte Verordnung von Bewegung als therapeutisches Element noch immer nur zögerlich, und erst seit wenigen Jahren finden sich sport- und bewegungsmedizinische Inhalte in den Curricula für das Medizinstudium. Obwohl hinsichtlich der Wirkmechanismen von Bewegung in den vergangenen Jahren bemerkenswerte Erkenntnisse gewonnen werden konnten, lässt auch die Forschungslage noch zu wünschen übrig. Als diagnostische Verfahren zur Feststellung der individuell geeigneten Dosierung von Bewegung eignen sich Belastungsuntersuchungen, die Ermittlung der Laktatleistungskurve und ggf. die Spiroergometrie. Dabei bestätigen neuere Untersuchungen die Indikation von Laktatmessungen zur Ermittlung individueller Belastungsintensitäten.
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Kapitel 1 · Bewegungstherapie und ihre Umsetzung – eine Einführung
23 Roux W. Gesammelte Abhandlungen über Entwicklungsmechanik der Organismen. Band 1: Funktionelle Anpassung. Leipzig: Engelmann, 1895. 24 Schneider DA, McLellan TM, Gass GC. Plasma catecholamine and blood lactate responses to incremental arm and leg exercise. Med Sci Sports Exerc 32: 608– 613, 2000. 25 Steinacker JM, Liu HY, Reißnecker S. Abbruchkriterien bei der Ergometrie. Dtsch Z Sportmed 53: 228–229, 2002. 26 Strobel G. Sympathoadrenerges System und Katecholamine im Sport. Dtsch Z Sportmed 53: 84–85, 2002. 27 Strobel G, Friedmann B, Siebold R et al. Effect of severe exercise on plasma catecholamines in differently trained athletes. Med Sci Sports Exerc 31: 560–565, 1999. 28 Tuomilehto J, Lindstrom J, Eriksson JG et al. Prevention of type 2 diabetes mellitus by changes in lifestyle among subjects with impaired glucose tolerance. N Engl J Med 344: 1343–1350, 2001. 29 Wassermann K, Beaver, W.L., Whipp, B.J. A new method for detecting the anaerobic threshold by gas exchange. J Appl Physiol 60: 2020-2027, 1986.
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Effekte körperlichen Trainings auf den Organismus Klaus-Michael Braumann
2.1
Einleitung – 14
2.2
Akute und chronische Anpassungen an Körperarbeit – 14
2.2.1 2.2.2
Akute Anpassungen – 14 Chronische Anpassungen – 15
2.3
Trainingseinflüsse auf die Muskulatur – 15
2.3.1 2.3.2
Krafttraining – 15 Ausdauertraining – 16
2.4
Trainingseinflüsse auf den passiven Bewegungsapparat – 18
2.5
Trainingseinflüsse auf innere Organe und Organsysteme – 18
2.5.1 2.5.2
Anpassungseffekte auf das Herz-Kreislauf-System – 18 Hormonelle Veränderungen – 19
2.6
Notwendige Belastungsintensitäten – 20
2.7
Trainierbarkeit und Altern – 20
2.8
Zusammenfassung – 21
2
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Kapitel 2 · Effekte körperlichen Trainings auf den Organismus
Sämtliche Organe des Menschen benötigen zur Aufrechterhaltung ihrer Funktion Minimalreize. Während dauerhaft unterschwellige Reize langfristig zu einer Funktionsabnahme führen, reagiert der Organismus auf wiederholt gesetzte überschwellige Reize mit morphologisch-physiologischen Anpassungen im Sinne von Trainingseffekten. In diesem Beitrag lesen Sie über:
4 akute und chronische Anpassungsreaktionen des Organismus auf Körperarbeit, 4 die unterschiedlichen Auswirkungen von Kraftgegenüber Ausdauertraining, 4 Anpassungsreaktionen des aktiven und passiven Bewegungsapparates, 4 Anpassungsreaktionen des Herz-Kreislauf-Systems, 4 Anpassungsreaktionen verschiedener Organsysteme, 4 die notwendigen Belastungsintensitäten, um die gewünschten Anpassungsreaktionen zu erzielen, 4 Aspekte des Trainings in höherem Alter.
2.1
Einleitung
Anpassung ist eine Grundeigenschaft von Leben. Nach Roux (1895) benötigen alle Organe zur Aufrechterhaltung ihrer Funktion Reize minimaler Intensität. Unterschwellige Reize bewirken eine Anpassung im Sinne einer Funktionsabnahme, überschwellige Reize haben Anpassungen im Sinne einer Funktionssteigerung zur Folge. Ein überschwelliger Reiz führt zunächst zu einer Störung der Homöostase, auf die der Organismus im Sinne einer Gegenregulation reagiert. Als Ergebnis kommt es zur Bildung neuer Strukturen, die zu einer Erweiterung der Funktionsamplitude einzelner Organe führt (7 Kap. 3). Diese Anpassungsprozesse sind reversibel und bilden sich zurück, wenn notwendige Minimalreize ausbleiben. Das bedeutet, dass ein Training dauerhaft durchgeführt werden muss, um erworbene Funktionsverbesserungen von Organen auch langfristig zu stabilisieren (z. B. Scharschmidt u. Pieper 1982).
2.2
Akute und chronische Anpassungen an Körperarbeit
Jede Form körperlicher Belastung führt – unabhängig vom Trainingszustand – zu vielfältigen unmittelbaren Reaktionen des Organismus. Durch den gesteigerten Energieumsatz der Muskulatur werden zahlreiche Prozesse in Gang gesetzt, die der Aufrechterhaltung einer ausgeglichenen Energiebilanz dienen. Die phänomenologischen Effekte dieser Regulationsprozesse sind weitgehend aufgeklärt; erheblicher Forschungsbedarf besteht allerdings noch in der Aufklärung der Mechanismen, die derartige Prozesse steuern. Durch häufige Wiederholungen körperlicher Belastungen kommt es dann zu morphologisch-physiologischen Anpassungen, die als Trainingseffekte bezeichnet werden (chronische Anpassungen).
2.2.1
Akute Anpassungen
Sofortreaktionen auf den vermehrten Stoffwechsel bei Körperarbeit sind eine Aktivierung des Sympathikus durch Metaborezeptoren in der peripheren Muskulatur. Die Veränderungen der Metabolitenkonzentration sowie der Temperatur in arbeitenden Muskeln werden an das zentrale Nervensystem (ZNS) zurückgemeldet und bewirken eine sympathoadrenerge Stimulation. Zu den vielfältigen vom Sympathikus vermittelten Reaktionen gehört zunächst eine über cholinerge sympathische Nervenfasern vermittelte Gefäßdilatation in den arbeitenden Muskeln sowie die als »kollaterale Vasokonstriktion« bezeichnete Blutumverteilung in die arbeitende Muskulatur: Unter dem Einfluss der erhöhten lokalen Metabolitenkonzentration bleibt die Gefäßdilatation in der arbeitenden Muskulatur trotz der immer mehr steigenden Sympathikusaktivierung bestehen, sodass eine optimale regionale Durchblutung gewährleistet ist. Die Sympathikusaktivierung führt zum Blutdruckanstieg durch Erhöhung des peripheren Widerstands sowie eine Erhöhung des Herzzeitvolumens, sie bewirkt weiter eine Aktivierung der Atmung durch Steigerung der Atemfrequenz und -tiefe sowie die Stimulierung zahlreicher Stoffwechselprozesse wie z. B. eine Erhöhung der Glu-
15 2.3 · Trainingseinflüsse auf die Muskulatur
kosekonzentration und eine Aktivierung der Lipolyse. Weiterhin kommt es zur Schweißbildung, um eine Hyperthermie zu verhindern und eine normale Körpertemperatur aufrechtzuerhalten. > Alle Reaktionsprozesse diesen letztlich der Aufrechterhaltung eines adäquaten Sauerstoffangebots an die arbeitende Muskulatur und der Bereitstellung von Substraten zur Energiegewinnung.
2.2.2
Chronische Anpassungen
Von solchen unmittelbaren Veränderungen zahlreicher Körperfunktionen auf akute Belastungsreize lassen sich chronische Anpassungen an immer wiederkehrende Belastungen unterscheiden. Zahlreiche dieser Veränderungen sind unter gesundheitlichen Aspekten von Bedeutung und werden deshalb durch gezielte wiederkehrende Belastungen im Sinne von Training angestrebt. Als Training bezeichnet man die »systematische Wiederholung gezielter überschwelliger Muskelanspannungen mit morphologischen und funktionellen Anpassungserscheinungen zum Zwecke der Leistungssteigerung« (Hollmann u. Hettinger 1990). Auch wenn in dieser Definition primär die Muskeltätigkeit angesprochen wird, ist eine Vielzahl weiterer Organe bei der Körperarbeit involviert, die ebenfalls Anpassungen zeigen. In den vergangenen Jahrzehnten sind die durch regelmäßiges körperliches Training zu erzielenden Anpassungen des Organismus in vielfältigster Weise untersucht und in umfangreichen Publikationen beschrieben worden. Die folgenden Ausführungen können daher nur eine summarische Beschreibung zahlreicher Einzeleffekte sein, wobei eine Schwierigkeit darin liegt, dass Trainingseffekte letztendlich zu einem veränderten Zusammenspiel verschiedener Organfunktionen führen, die ihrerseits ebenfalls durch chronische Belastungen in typischer Weise verändert sind.
2.3
2
Trainingseinflüsse auf die Muskulatur
Anpassungen der Muskulatur werden am ehesten wahrgenommen und gelten vermutlich deshalb als die wichtigsten Adaptationen des Körpers an regelmäßige körperliche Aktivität. Dabei kommt es zum einen zu einer direkten Zunahme der von der Muskulatur erzeugten Kraft mit einer Verbesserung des Zusammenspiels verschiedener Muskeln an der Entstehung einer Bewegung; hier wirkt ein gezieltes Kräftigungsprogramm entscheidend bei der Beeinflussung verschiedener Beschwerden des Bewegungsapparates. Training führt aber auch zu Veränderungen des Stoffwechsels sowie der endokrinen Funktionen des Muskels; so haben die positiven Auswirkungen eines Trainings auf den Zucker- oder Fettstoffwechsel ihre Ursache in einer verbesserten »Biochemie« der Muskulatur; neben diesen Veränderungen des Muskelstoffwechsels als Ergebnis eines Ausdauertrainings sind die vermehrte Sekretion antiinflammatorisch wirkender Zytokine (7 Kap. 4) in entscheidendem Maße verantwortlich für die gesundheitlich relevanten Effekte eines Trainings auf das kardiovaskuläre System. Das Bildung dieser Substanzen ist möglicherweise die Erklärung für die hervorragenden therapeutischen Effekte von Bewegung bei so vielen, teilweise sehr unterschiedlichen Krankheitsbildern (Flynn et al. 2007).
2.3.1
Krafttraining
Regelmäßig durchgeführte Übungen, die einen bestimmten minimalen Krafteinsatz der Muskulatur erfordern, führen zu typischen Veränderungen, welche sich summarisch in einer besseren Kraftentwicklung des Muskels niederschlagen. Jeder Anfänger kennt das Phänomen, dass Training zwar zu einem Kraftzuwachs führt, eine oftmals gewünschte Volumenzunahme des Muskels aber zunächst ausbleibt. Der Grund hierfür liegt darin, dass ein Training zunächst über eine verbesserte Koordination zu einem Kraftzuwachs führt und erst in zweiter Linie durch eine Volumenzunahme in Form einer Zunahme von Muskelmasse.
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Kapitel 2 · Effekte körperlichen Trainings auf den Organismus
Beim Kraftzuwachs durch eine Koordinationsverbesserung lassen sich zwei unterschiedliche Mechanismen der Anpassung feststellen:
Intramuskuläre Koordination In der ersten Phasen der Anpassung kommt es zunächst zu einer Verbesserung der intramuskulären Koordination. Die Kraftentwicklung eines Muskels hängt u. a. von der Rekrutierung einer möglichst großen Anzahl motorischer Einheiten ab. Eine motorische Einheit setzt sich zusammen aus einer motorischen Vorderhornzelle und allen von ihr innervierten Muskelfasern. Ihre Größe kann stark variieren: In Muskeln im Bereich des Kopfes werden nur wenige Fasern von einer motorischen Nervenfaser versorgt, in den Muskeln des Rumpfes und der unteren Extremitäten 1.000 und mehr Fasern (Burke 1981; Hennemann u. Mendell 1981). Daneben trägt auch die Innervationsfrequenz eines arbeitenden Muskels zu seiner Kraftentwicklung bei. Während die Muskulatur unter Ruhebedingungen mit einer Aktionspotenzialfrequenz von etwa 30–35 Hz innerviert wird und diese Frequenz bei maximalem Krafteinsatz auf 90–100 Hz ansteigt, kann die maximale Innervation durch ein gezieltes Training auf bis etwa 130–150 Hz gesteigert werden (Sale 2008). > Je höher also die Zahl der aktivierten motorischen Einheiten und je höher die Innervationsfrequenz ist, desto größer ist die muskuläre Kraftentwicklung (z. B. Alway et al. 1990).
Erste Trainingseffekte führen zur Möglichkeit der Aktivierung einer möglichst großen Zahl motorischer Einheiten sowie zu einer höheren Innervationsfrequenz, sind also zunächst ausschließlich Effekte einer besseren intramuskulären Koordination.
Intermuskuläre Koordination
19 20
Auch das verbesserte Zusammenspiel mehrerer Muskeln, die an einer Bewegung beteiligt sind, führt zu einer verbesserten Kraftentwicklung. Durch die besser abgestimmte Aktivierung von Agonisten, Synergisten und Antagonisten als Resultat einer verbesserten intermuskulären Koor-
dination kommt es zu einer Kraftzunahme, gemessen z. B. bei einer komplexen Belastung wie beispielsweise dem Heben einer Hantel. Eine verbesserte intermuskuläre Koordination führt aber auch zu einer besseren Bewegungsökonomie. Diese überwiegend neuronal vermittelten Verbesserungen der Koordination gelten nicht nur als die Hauptursache für die Kraftzunahme bei Älteren, bei denen aufgrund des Fehlens von Testosteron eine Anpassung im Sinne einer Muskelhypertrophie nicht mehr für möglich gehalten wird (Moritani 1981); eine verbesserte Koordination wird als die wichtigste Begründungen für ein Krafttraining auch und gerade bei älteren Menschen betrachtet: Die Verbesserung der Koordination gilt als einer der wichtigsten Faktoren bei der Prophylaxe häuslicher Stürze mit den oftmals daraus folgenden fatalen Konsequenzen.
Hypertrophie Erst im späteren Verlauf eines regelmäßig durchgeführten Krafttrainings kommt es dann zu Veränderungen der Muskelfaser selbst: Zu einer Zunahme der kontraktilen Proteine, damit einer Größenzunahme der Muskelfasern und schließlich des Querschnitts des gesamten Muskels. Bei dieser als Hypertrophie bezeichneten Anpassung bleibt die Anzahl der Muskelfasern eines Muskels allerdings unverändert, es kommt lediglich zu einer Dickenzunahme der einzelnen Fasern. Inwieweit eine echte Hyperplasie (Zunahme der Zahl von Muskelfasern) durch ein Krafttraining möglich ist, ist bis heute noch nicht abschließend geklärt (Brown et al. 2000).
2.3.2
Ausdauertraining
Im Gegensatz zum Krafttraining, bei dem der Trainingseffekt überwiegend in einer Zunahme der kontraktilen Muskeleiweiße bzw. einer Verbesserung der neuronalen Ansteuerung liegt, führt regelmäßig betriebenes Ausdauertraining zu typischen biochemischen Veränderungen der Muskulatur. Die Resynthese der während jeder Form der Muskeltätigkeit verbrauchten intrazellulären energiereichen Phosphatverbindungen (Kreatinphosphat/CP und Adenosintriphosphat/ATP) erfolgt
17 2.3 · Trainingseinflüsse auf die Muskulatur
auf zwei Wegen: kurzfristig über die Abgabe eines Phosphatrests vom intramuskulär gespeicherten energiereichen Kreatinphosphat auf das Adenosindiphosphat (ADP) und den daraus resultierenden Wiederaufbau zu ATP, im weiteren Verlauf dann durch Spaltung von Glukose in Pyruvat (sog. »anaerober Stoffwechselweg«, bei dem u. a. Milchsäure entsteht), längerfristig durch eine vollständige Oxidation der Glukose und der freien Fettsäuren. Die Verbindung der im Zitratzyklus freigesetzten Wasserstoffionen mit Sauerstoff durch die Enzyme der Atmungskette in den Mitochondrien ist hierbei die energieliefernde Reaktion. Bei sehr hoher Energieflussrate erfolgt die ATPResynthese innerhalb der Muskelzelle zunächst durch Spaltung der Glukose, bei der Einschleusung des dabei entstandenen Pyruvats in den Zitratzyklus werden so viele Wasserstoffionen freigesetzt, dass die Kapazität der Atmungskettenenzyme zur aeroben ATP-Synthese nicht mehr ausreicht. Es kommt zu einer Überhäufung der Zelle mit Wasserstoffionen, die an das gleichzeitig entstandene Pyruvat gebunden werden, welches sich dadurch zur Milchsäure (Laktat) wandelt. Bei abnehmender Energieflussrate können die auf den Laktatmolekülen »geparkten« Wasserstoffionen wieder in die Atmungskette eingeschleust werden. Die bei Körperarbeit entstehende Milchsäure ist also keinesfalls ein »biochemischer Bösewicht«, sondern eine wichtige energiereiche Verbindung. Die mit Beginn von Muskelarbeit einsetzende chemische Veränderung im Milieu des arbeitenden Muskels (Säurebildung durch vermehrte CO2- und Milchsäurebildung, Temperaturerhöhung) sowie Impulse aus peripheren Mechanorezeptoren stellen einen wesentlicher Stimulus für die SympathikusAktivierung dar. Daraus resultieren Effekte auf den Gesamtorganismus: Regelmäßiges betriebenes Ausdauertraining führt zu einer Verbesserung der aeroben Stoffwechselleistungsfähigkeit, erkennbar an einer Zunahme der Anzahl und Größe der Mitochondrien. Dadurch ist eine größere Energieflussrate auf aerobem Wege möglich, bevor es zum Milchsäureanstieg und damit einhergehend zum pH-Abfall im Muskel kommt. Dieser geringere pH-Abfall dürfte der entscheidende Grund für die verringerte
2
sympathoadrenerge Stimulation und die geringere Katecholaminkonzentration auf gleichen Belastungsstufen nach einem Ausdauertraining sein. Ausdauerbelastungen mit geringer Intensität führen darüber hinaus auch Anpassungserscheinungen auf den Fettstoffwechsel: Es kommt zu einer Zunahme der Aktivität verschiedener Lipasen und damit einer verbesserten Utilisation der freien Fettsäuren in den energieliefernden Prozessen innerhalb der Zelle. In Hinblick auf den Zuckerstoffwechsel führt ein Ausdauertraining zu einer Zunahme der Glut-4-Transportmoleküle und somit zu einer verbesserten Glukoseutilisation (Phillips et al. 1996). > Insgesamt führen die durch ein Ausdauertraining erzielbaren Anpassungsprozesse dazu, dass ein Muskel auf aerobem Wege eine höhere Belastungsintensität realisieren kann.
Wenn ein wesentlicher Aspekt des Effektes des Krafttrainings in einer Verbesserung der intramuskulären Koordination liegt, so besteht auch beim Ausdauertraining ein wesentlicher Trainingseffekt in einer Verbesserung der koordinativen Leistungsfähigkeit. Dieser Effekt macht sich in einem geringeren Energieverbrauch bei gleichen Belastungsstufen bemerkbar, wenn zahlreiche Energie verbrauchende Luxusbewegungen durch eine verbesserte Bewegungskoordination und dadurch eine bessere Bewegungsökonomie entfallen. Die Verbesserung des aeroben Stoffwechsels auf biochemischer Ebene wird unterstützt durch die Zunahme der muskulären Kapillarisierung, wodurch eine größere Austauschfläche zwischen Blutgefäßsystemen und Muskelzellen erreicht wird. Bereits nach zweimonatigem Ausdauertraining kann die Anzahl der muskulären Kapillaren um 50 % ansteigen. Verglichen mit untrainierten Normalpersonen haben Ausdauertrainierte eine zweibis dreifach höhere Kapillardichte, bezogen auf eine Muskelfaser. Nicht ganz eindeutig scheint dabei die Frage geklärt zu sein, ob es sich bei diesen im Querschnitt gefundenen Veränderungen der KapillarFaser-Relation tatsächlich um eine echte Neubildung von Kapillaren oder »nur« um eine vermehrte Schlängelung bereits vorhandener Kapillaren handelt, die dann mehrfach in einem Schnitt getroffen
18
Kapitel 2 · Effekte körperlichen Trainings auf den Organismus
2
werden. In jedem Fall kommt es zu einer Zunahme der Austauschfläche und damit der maximalen möglichen Sauerstoffdiffusion, wodurch die aerobe Belastungsfähigkeit vergrößert wird.
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Trainingseinflüsse auf den passiven Bewegungsapparat
Auch das Skelettsystem mit seinen Bestandteilen Knochen, Gelenke und Bänder ist prinzipiell in der Lage, sich veränderten Belastungsbedingungen anzupassen. Im Gegensatz zur Muskulatur, in der derartige Adaptationen relativ schnell ablaufen, benötigen Anpassungen des bradytrophen Gewebes allerdings deutlich längere Zeit, zudem sind Überlastungssymptome durch zu hohe Belastungen (Sehnen- und Bandprobleme bis hin zur Ermüdungs- oder Überlastungsfraktur) nicht selten. Am Knochen kommt es bei erhöhter Beanspruchung durch eine gesteigerte Osteoblastentätigkeit zu einer vermehrten Bildung organischer Grundsubstanz mit erhöhtem Einbau von anorganischen Salzen (Booth u. Gould 1975). Das kann sich an einer Zunahme der Corticalisdicke an Röhrenknochen sowie einer Verstärkung der Spongiosastrukturen zeigen. An der Wirbelsäule sind Dickenzunahmen der Wirbelkörper beobachtet worden. Diese Effekte sind Grundlage der Bewegungstherapie bei Osteoporose (Siegrist et al. 2008). An den Gelenken betreffen die Anpassungen in erster Linie den hyalinen Gelenkknorpel. Bereits 1948 wurde von Holmdahl und Ingelmark eine Dickenzunahme des Knorpels während Körperarbeit nachgewiesen, die auf die vermehrte Flüssigkeitsfüllung der Knorpelgrundsubstanz zurückgeführt wurde, hervorgerufen durch den Wechsel von Kompression und Entlastung während jeder Form von Bewegung. Dadurch kommt es nicht nur zu einem besseren Nährstoffangebot für die Chondrozyten, deren Versorgung lediglich durch Diffusion erfolgt. Durch die Quellung soll der Knorpel auch resistenter gegen erhöhte Druck- und Scherkräfte werden und somit weniger verletzungsanfällig. Dieser kurzfristige Mechanismus ist gerade in der Vorbereitung auf eine körperliche Belastung von großer Bedeutung (Aufwärmen). Schließlich kommt es durch die Dickenzunahme des Gelenkknorpels
zu einer Straffung der Gelenkbänder und somit zu einer verbesserten Stabilität bei Belastung. Regelmäßige Belastungen wie z. B. während eines gezielt durchgeführten Trainings sollen zu einer Hypertrophie des Knorpels führen können. Dabei finden sich eine Vergrößerung der Chondrone und Knorpelzellen sowie eine erhöhte Soffwechselaktivität der Zellen. Ob derartige Effekte einen bereits degenerativ vorgeschädigten Knorpel wieder aufbauen können, sei dahingestellt – in jedem Fall gilt Bewegung als ein wichtiger Faktor, weiteren Abnutzungserscheinungen vorzubeugen. > Grundsätzlich gilt auch für den passiven Bewegungsapparat, dass Belastung zu einer Kräftigung, Unterforderung dagegen zu einer Schwächung von Knochen, Knorpel, Sehnen-und Bandstrukturen führt.
2.5
Trainingseinflüsse auf innere Organe und Organsysteme
2.5.1
Anpassungseffekte auf das Herz-Kreislauf-System
Relativ kurzfristig nach Beginn eines regelmäßigen Ausdauertrainings lässt sich eine Verringerung der Ruheherzfrequenz feststellen. Dieser Effekt ist in erster Linie verursacht durch die mit dem Training einhergehende Zunahme des Blutvolumens, woraus eine größere ventrikuläre Füllung mit einem vergrößerten Schlagvolumen resultiert. Die Blutvolumenzunahme wird hauptsächlich durch eine Zunahme des Plasmavolumens verursacht. Ausdauertraining führt zwar auch zu einer Zunahme der absoluten Hämoglobinmenge, dieser Effekt wird aber durch die gleichzeitige überproportionale Zunahme des Plasmavolumens überdeckt, sodass scheinbar eine verringerte Hämoglobinkonzentration gefunden wird (Convertino et al. 1980). Auch während Belastung kommt es durch Training zu einer Abnahme der Herzfrequenz auf gleichen Belastungsstufen. Da das für gleiche Belastungen geförderte Herzzeitvolumen bei Trainierten und Untrainierten gleich groß ist, kann dieser Befund nur durch eine Erhöhung des Schlagvolu-
19 2.5 · Trainingseinflüsse auf innere Organe und Organsysteme
mens erklärt werden, welches bei hoch ausdauertrainierten Athleten bis zu 200 ml betragen kann. Bei gleicher maximaler Herzfrequenz von ca. 200/ min ergibt sich daraus ein maximales Herzminutenvolumen (HMV) von fast 40 l, verglichen mit dem max. HMV von etwa 20 l bei einem Untrainierten. Schon vor 100 Jahren wurde die durch Training auszulösende Vergrößerung des Herzens beschrieben, die während vieler Jahre als eine gefährliche Anpassung des Organismus betrachtet wurde. Erst in den vergangenen 30 Jahren setzte sich allmählich die Erkenntnis durch, dass die als »Sportherz« bezeichnete Herzvergrößerung eine vollständig reversible, ungefährliche physiologische Anpassung darstellt (Braumann 2003). Verglichen mit der überwiegend durch Muskelmassenzunahme verursachten Herzvergrößerung bei lange bestehendem Bluthochdruck handelt es sich beim Sportherzen um eine Volumenhypertrophie mit Vergrößerung der Herzhöhlen und nur geringer Zunahme von Herzwand und -septum. Das Herzgewicht überschreitet dabei nicht die »kritische Grenze« von 500 g. Auch die Kontraktilität des Myokards nach Training ist auf submaximalen Belastungsstufen deutlich niedriger als beim Untrainierten. Das bedeutet, dass das Herz deutlich geringere unökonomische Beschleunigungsarbeit verrichten muss, wodurch der myokardiale Sauerstoffverbrauch geringer wird. Weitere Trainingseffekte sind eine vermehrte Bildung von gefäßerweiterendem Stickoxid (Hambrecht et al. 2003) sowie die vermehrte Freisetzung von endothelialen Vorläuferzellen (O´Sullivan 2003), die möglicherweise ein verbessertes »remodelling« bewirken und somit dabei helfen, die Ablagerungen von Cholesterinpartikeln in geschädigten Endothelbereichen zu verhindern.
2
Auch die kardialen Anpassungseffekte wie die Vergrößerung des Schlagvolumens, die daraus resultierende Frequenzreduzierung und Zunahme der für die myokardiale Durchblutung wichtigen Diastolendauer, der niedrigere Blutdruck und die verringerte Kontraktilität bewirken eine erhebliche Minderung des Sauerstoffverbrauchs und dadurch eine ökonomischere Arbeitsweise des Myokards auf gleichen submaximalen Belastungsstufen. Hier sollte noch einmal darauf hingewiesen werden, dass diese für das Herz-Kreislauf-System günstigen Adaptationsvorgänge ihren Ursprung in der verbesserten Stoffwechselleistung der peripheren Muskulatur haben; durch die geringere Bildung saurer Metaboliten erfolgt die sympathoadrenerge Stimulation durch die peripheren Chemorezeptoren erst verzögert auf höheren Belastungsstufen.
2.5.2
Hormonelle Veränderungen
Zahlreiche Veränderungen der Körperfunktionen, die unter Belastung der Aufrechterhaltung einer adäquaten Energieversorgung der arbeitenden Muskulatur dienen, werden durch nervale und hormonelle Mechanismen vermittelt. Wegen der schwierigen Abgrenzung (so werden sympathische Reaktionen sowohl direkt durch Nerven als auch auf humoralem Weg durch Katecholamine vermittelt), soll im Folgenden von neurohumoralen Mechanismen die Rede sein. Aufgabe dieser Mechanismen ist die Bereitstellung von Nährstoffen aus den intra- und extramuskulär gelegenen Glykogen- und Fettspeichern. Mit Arbeitsbeginn kommt es zu einem Abfall des Blutglukosespiegels und gleichzeitig zu einem Abfall der Insulinkonzentration. Dagegen steigen die Konzentrationen von Katecholaminen, aber auch von Glukagon, somatotropem Hormon (STH) und Cortisol, wodurch eine durch vermehrte muskuläre Glukoseaufnahme verursachte Hypoglykämie verhindert wird. Durch Ausdauertraining kann dieser Mechanismus z. T. erheblich beeinflusst werden. So konn-
20
1 2 3 4 5 6 7 8
Kapitel 2 · Effekte körperlichen Trainings auf den Organismus
ten Lindgarde et al. 1983 zeigen, dass das Niveau der körperlichen Fitness positiv mit der Glukosetoleranz korreliert ist. Ausdauertrainierte haben gegenüber Untrainierten nicht nur unter Ruhebedingungen eine niedrigere Insulinkonzentration, sondern auch nach oraler Glukosebelastung, was auf eine erhöhte Empfindlichkeit der peripheren Insulinrezeptoren hin deutet. Diese Anpassung tritt bereits nach relativ kurzer Trainingszeit ein, ist allerdings nach der Beendigung regelmäßiger Bewegung innerhalb von nur wenigen Tagen reversibel (Terblanche 1989). Ausdauertrainierte nutzen aufgrund eines trainierten Fettstoffwechsels bei gleichen relativen Belastungen mehr Fette zur Energiebereitstelllung als Untrainierte. Dadurch fällt die Blutzuckerkonzentration weniger stark ab, sodass die oben beschriebenen hormonellen Reaktionen in abgeschwächter Form ablaufen.
9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
2.6
Notwendige Belastungsintensitäten
Die vielfältigen Befunde, aus denen die positiven Effekte von körperlicher Aktivität abgeleitet werden können, sind nicht immer Resultat gezielt durchgeführten Trainings. Präventive Effekte können durch vielfältige Formen körperlicher Aktivität erreichet werden. Dazu gehören Aktivitäten im Beruf ebenso wie solche in der Freizeit. Wichtig ist allerdings, dass es sich bei den Belastungen um Ausdauerbelastungen unter Einbeziehung einer großen Muskelmasse handeln sollte (mindestens ein Sechstel der Gesamtmuskelmasse). Die Intensität der Aktivität braucht nicht hoch zu sein. Bereits durch moderates Gehen, Radfahren und auch Gartenarbeit konnten Magnus et al. (1979) eine Verringerung des koronaren Risikos nachweisen. In der Studie von Paffenbarger (1978), in der fast 18.000 ehemalige Harvard-Studenten nach ihrem Aktivitätslevel in der Freizeit befragt wurden, zeigte sich die deutliche Reduzierung des Koronarrisikos bei einem zusätzlichen wöchentlichen Energieumsatz durch körperliche Belastung von ca. 2.000 kcal. Dabei spielte es keine Rolle, ob es sich um gezieltes »Training« oder »nur« um
bewusste körperliche Bewegung handelte (Teppensteigen statt Fahrstuhlfahren etc.). Nach den Empfehlungen des American College of Sports Medicine (ACSM 1998) sind die unter gesundheitlichem Aspekt erstrebenswerten Anpassungen durch körperliches Training dann am ausgeprägtesten, wenn eine bestimmte Trainingshäufigkeit, Dauer und Intensität eingehalten wird. Dabei sollte mindestens 3- bis 4-mal pro Woche für eine Zeit von 20 bis 40 Minuten eine Dauerbelastung bei einer Intensität von 75 % der sogenannten »Herzreserve« durchgeführt werden. Andere Autoren empfehlen andere Algorithmen zur Berechnung des individuellen Trainingspulses. Zwischenzeitlich besteht Konsens darüber, dass individuelle Herzfrequenzvorgaben für die Steuerung der Belastungsintensität im Rahmen einer bewegungstherapeutischen Intervention ausschließlich aus den Ergebnissen einer leistungsdiagnostischen Untersuchung abgeleitet werden sollten. Dabei gilt die durch einen sogenannten »Laktattest« ermittelte »anaerobe Schwelle« als Orientierungspunkt, von dem aus die Belastungsintensitäten für verschiedene Trainingsziele abgeleitet werden (7 Kap. 1).
2.7
Trainierbarkeit und Altern
Obwohl die akuten Anpassungen des Herz-Kreislauf-Systems an körperliche Belastung deutlich geringer bei älteren Menschen als bei jüngeren sind, lassen sich grundsätzlich die gleichen Anpassungen an körperliche Belastung beobachten. Anpassungen des Herz-Kreislauf-Systems: Ehsani
et al. (1991) fanden bei Männern im Alter von Mitte 60 nach einem gemischten Ausdauer- Intervalltrainingsprogramm, welches 3- bis 4-mal wöchentlich über ein Jahr durchgeführt wurde, neben einer Zunahme der maximalen Sauerstoffaufnahme eine Zunahme der Auswurffraktion als Ausdruck einer Verbesserung der Ventrikelfunktion. Auch bei Patienten nach Myokardinfarkt konnten Williams et al. (1985) durch ein dreimonatiges Ausdauertrainingsprogramm eine Abnahme des Körpergewichts, des Körperfettanteils, der Ruhepulsfrequenz sowie des Druck-Frequenz-Produkts als Ausdruck eines verringerten myokardialen Sau-
21 2.8 · Zusammenfassung
erstoffbedarfs bei gleichzeitiger Zunahme der während eines ergometrischen Tests maximal erreichten Herzfrequenz und der Sauerstoffaufnahmefähigkeit beobachten. Diese Trainingseffekte fanden sich auch bei Patienten, die unter einer Medikation mit β-Blockern standen. Dabei reichen bereits geringe Trainingsintensitäten zum Erreichen von positiven Anpassungen aus (Hamdorf et al. 1992). Anpassungen des Bewegungsapparates: Kraft-
training führt zu einer Verbesserung der Flexibilität der Gelenke, wie Raab et al. 1988 bei älteren Frauen zeigen konnten. Sogar noch bei über Neunzigjährigen lassen sich durch ein Krafttraining deutliche Effekte erzielen. Dabei kommt es neben den bekannten Effekten durch die Verbesserung der Koordination offensichtlich auch noch zu einer Zunahme der Muskelmasse (Fiatarone et al. 1990). Die Bedeutung dieses Befundes für pflegebedürftige Bewohner von Altenheimen dürfte offensichtlich sein.
2.8
Zusammenfassung
Regelmäßiges körperliches Training führt zu charakteristischen Anpassungsreaktionen zahlreicher biologischer Strukturen, die zu einer höheren maximalen Leistungsfähigkeit führen, andererseits aber auch bedeuten, dass sich der Organismus während submaximaler Belastungen nur geringfügig von seinem Ruhezustand entfernen muss, dass also länger ein Zustand der Homöostase aufrechterhalten werden kann. Diese Anpassungen betreffen alle Organe, treten aber am ausgeprägtesten beim Bewegungsapparat sowie dem kardiovaskulären System in Erscheinung. Die allgemeine Kräftigung des aktiven und passiven Bewegungsapparates führt nicht nur zu einer Verringerung typischer muskuloskelettaler Beschwerden; durch die Zunahme stoffwechselaktiven Muskelgewebes kommt es bei einem trainierten Menschen gleichzeitig auch zu einer Erhöhung des Energieumsatzes über den Tag verteilt mit allen daraus folgenden bekannten Effekten auf Stoffwechsel und das kardiopulmonale System.
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Literatur 1
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Kapitel 2 · Effekte körperlichen Trainings auf den Organismus
17 Henriksson J, Hickner RC. Training induced adaptations in skeletal muscle. In: Harries M, Williams C, Standish WD et al. (eds.) Oxford Text Book of Sports medicine. Oxford University Press: Oxford (1994), pp. 27–45 18 Hollmann W, Hettinger T. Sportmedizin – Arbeits- und Trainingsgrundlagen. Schattauer: Stuttgart, New York (1992) 19 Holmdahl DE, Ingelmark BE. Der Bau des Gelenkknorpels unter verschiedenen funktionellen Verhältnissen. Acta Anatomica 6309–6375 (1948) 20 Lindgarde F, Malmquist J, Balke B. Physical fitness, insulin secretion and glucose tolerance in healthy males and mild type II diabetes. Acta Diabetol Lat 20:33–40 (1983) 21 Magnus K, Matroos A, Strackee, J. Walking, cycling or gardening, with or without seasonal interruption, in relation to acute coronary events. Am J Epidemiol 110:724–733 (1979) 22 Moritani T. Training adaptations in the muscles of older men. In: Smith EL, Serfass RC (eds.) Exercise and Aging: The scientific Basis. Enslow: New Jersey (1981), pp. 149– 166 23 O‘Sullivan SE. The effects of exercise training on markers of endothelial function in young healthy men. Int J Sports Med 24:404–409 (2003) 24 Paffenbarger RS, Wing AL, Hyde RT. Physical activity as an index of heart attack risk in college alumni. Am J Epidemiol 108:161–175 (1978) 25 Phillips SM, Han XX, Green HJ et al. Increments in skeletal muscle GLUT-1 and GLUT-4 after endurance training in humans. Am J Physiol 270:E456–462 (1996) 26 Raab DM, Agre JC, McAdam M et al. Light resistance and stretching exercise in elderly women: effect upon flexibility. Arch Phys Med Rehabil 69:268–272 (1988) 27 Roux W. Gesammelte Abhandlungen über Entwicklungsmechanik der Organismen. Band 1: Funktionelle Anpassung. Leipzig: Engelmann, 1895. 28 Sale DG. Neural Adaptation to Strength Training. In: Komi PV (ed.) Strength and Power in Sport. Wiley-Blackwell: Oxford (2008), pp. 281–314 29 Scharschmidt F, Pieper KS. Adaptabilität und Adaptation an sportliches Training bei Heranwachsenden. Medizin u. Sport 22:37-40 (1982) 30 Siegrist M, Lammel C, Gradinger R. Osteoporose. In: Halle M, Schmidt-Trucksäss A, Hambrecht R et al. (Hrsg.) Sporttherapie in der Medizin. Evidenzbasierte Prävention und Therapie. Schattauer: Stuttgart, New York (2008), S. 343–352 31 StrattonJR, Levy WC, Cerqueira MD et al. Cardiovascular responses to exercise. Effects of aging and exercise training in healthy men. Circulation 89:1648–1655 (1994) 32 Terblanche SE. Recent advances in hormonal response to exercise (Mini Review). Comp Biochem Physiol 93B:727–739 (1989) 33 Williams MA, Mares CM, Esterbrooks DJ et al. Early exercise training in patients older than age 65 years compared with that in younger patients after acute myocardial infarction or coronary artery bypass grafting. Am J Cardiol 55:263–266 (1985)
Monografien und Lehrbücher 34 American College of Sports Medicine. Guidelines for exercise testing and prescription. Lea & Febiger: Philadelphia, London (1991) 35 Hollmann W, Hettinger T. Sportmedizin – Arbeits-und Trainingsgrundlagen. Schattauer: Stuttgart, New York (1992) 36 Skinner JS (ed.) Exercise testing and exercise prescription for special cases. Theoretical basis and clinical application. Lea & Febiger: Philadelphia, London (1994) 37 Weineck J,. Sportbiologie. Perimed Spitta: Erlangen (1994)
23
Grundlagen des Trainings: Ausdauer, Kraft, Bewegung und Koordination Jan Schröder
3.1
Einführung
– 24
3.2
Ausdauertraining
3.3
Krafttraining
3.3.1 3.3.2 3.3.3
Muskelquerschnittstraining (Hypertrophietraining)) Kraftausdauertraining – 32 Maximalkraft- und Schnellkrafttraining – 33
3.4
Beweglichkeitstraining
3.5
Koordinationstraining
– 26
– 30
– 34 – 34
– 30
3
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Kapitel 3 · Grundlagen des Trainings: Ausdauer, Kraft, Bewegung und Koordination
Training bezeichnet ganz allgemein eine Summe von Prozessen, die bestimmte Entwicklungen und Anpassungsprozesse hervorrufen. Beim körperlichen Training werden in diesem Sinne Reize in Form gezielter Beanspruchungen gesetzt, die eine Verbesserung der Konstitution und Leistungsfähigkeit bewirken. Hierbei kann das Training verschiedene Zielsetzungen aufweisen. Das vorliegende Kapitel befasst sich mit anwendungsorientierten Aspekten zur Trainingsgestaltung in der Bewegungstherapie.
Reiz Leistungsniveau
24
Superkompensation
Regeneration/ Kompensation
Erschöpfung
In diesem Beitrag lesen Sie über:
4 Superkompensation und Adaptation, 4 die Gestaltungmöglichkeiten der Trainingsreize, 4 die spezifischen Anforderungen beim Ausdauertraining, Krafttraining, Beweglichkeitstraining und Koordinationstraining.
3.1
Einführung
Die Trainingslehre befasst sich mit der Gestaltung von körperlichen Anpassungsprozessen. Training kann definiert werden als die »Summe aller in bestimmten Zeitabständen zum Zwecke der Leistungssteigerung durchgeführten Beanspruchungen (Reize), die zu funktionellen und morphologischen Veränderungen des Organismus führen« (Hollmann 1973, S. 191). Der Kerngedanke der Trainingslehre ist daher die (Trainings-)Reizsetzung. Der Trainingsreiz muss überschwellig sein (vgl. Weineck 1990, S. 18), damit das organische System im Sinne einer relevanten Beanspruchung, bzw. Ressourcenausschöpfung gefordert wird. Bei einem ausreichend beanspruchenden Reiz erfolgt in der anschließenden Erholungsphase nicht nur die Regeneration/Kompensation, sondern es kommt zu einer überoptimalen Restitution der Ressourcen, der Superkompensation (. Abb. 3.1). Das Modell der Superkompensation ist für die Glykogenutilisation und -speicherung im Muskel empirisch belegt, darf aber als anschaulich-vereinfachendes Modell auch auf andere Adaptionsprozesse – z. B. die Proteinsynthese im Muskelaufbau (vgl. Zatsiorsky 1996, S. 82–85) – übertragen werden, auch wenn die benötigten Regenerationsphasen für jede physiologische Struktur unterschiedlich sind. Eine generelle Gültigkeit dieser Modell-
. Abb. 3.1 Superkompensation als Modellvorstellung für Adaptionsprozesse nach überschwelligen Trainingsreizen (Ressourcenausschöpfung, Regeneration und überoptimale Kompensation)
vorstellung darf jedoch nicht angenommen werden. Anpassungen der Knochenbälkchenstruktur an dauerhafte körperliche Anforderungen (z. B. in der Osteoporoseprophylaxe) oder die Notwendigkeit des Stabilisierungstrainings (GA1) zur Sicherung der Anpassungseffekte des Grundlagenausdauertrainings sind nicht mit dem Superkompensationsmodell in Einklang zu bringen. Jüngere trainingswissenschaftliche Vorstellungen gehen daher von einem einfachen Reiz-Adaptionsmodell aus (Olivier et al. 2008). Der didaktisch bedeutsame Grundgedanke einer Strukturierung von überschwelliger Beanspruchung und notwendiger Regeneration wird jedoch im Superkompensationsmodell anschaulich abgebildet. Adaptionen werden verstanden als die strukturell-morphologischen, biochemischen oder neurobiologischen Anpassungen infolge definierter Trainingsreize. Die Trainingslehre hat die Aufgabe, das Handwerkszeug für die Gestaltung der Trainingsreize zu liefern. So bleibt es häufig das Geheimnis eines guten Trainers, in welchem zeitlichen Abstand nachfolgende Trainingsreize gesetzt werden sollten (. Abb. 3.2). Verfrühte Reize stören die Homöostaserestitution und verhindern somit die erhoffte Leistungssteigerung. Zu späte Reize verfehlen das Adaptionsziel und führen zur Leistungsstagnation, weil die Superkompensation schon wieder abgeklungen ist. Allgemeingültige Regeln für die zeitli-
25 3.1 · Einführung
3
erneute Reizsetzung und Adaption
zu früh
zu spät
Zeitpunkt optimal
Überforderung
Stagnation
Leistungsprogression
. Abb. 3.2 Leistungsniveauentwicklung in Abhängigkeit von der zeitlichen Gestaltung wiederholter ressourcenausschöpfender Reize im Superkompensationsmodell
che Struktur der Reizsetzung lassen sich nicht finden. Zum einen unterscheiden sich die benötigten Regenerationszeiten in Abhängigkeit von den Trainingsmaßnahmen (z. B. Maximalkrafttraining mindestens 2 Tage Pause, Beweglichkeitstraining jeden Tag möglich), aber auch in Abhängigkeit von den Athleten (Regenerationszeiten müssen z. B. dem Alter angepasst werden; während Jungerwachsene 3- bis 4-mal Muskelaufbautraining pro Woche tolerieren, brauchen ältere, auch erfahrene Athleten längere Pausen). Aus der ursprünglich erfahrungsbasierten Meisterlehre mit den von Experten formulierten »Regeln« ging die Trainingslehre hervor, aus der sich fortwährend eine zunehmend evidenzbasierende Trainingswissenschaft entwickelt (vgl. Hohmann et al. 2002, S. 11), deren Regeln und Empfehlungen empirisch gestützt, überprüft und mehrfach reproduziert werden konnten. Die Gestaltung der Trainingsreize bezieht sich nur im engeren Sinne auf eine Trainingseinheit. Wichtig in der Trainingsgestaltung ist der systematisch geplante, längerfristige Prozess. Die Trainingsreizgestaltung muss daher auch als sich verändernder Prozess verstanden werden. Bestimmten Regeln folgend werden die Trainingsziele und die daran geknüpften Trainingsmethoden variiert. Die
planmäßige Strukturierung des Trainingsprozesses nennt man Periodisierung. Ein kurzer Planungszeitraum (1 Woche) wird Mikrozyklus genannt, ein Planungshorizont für eine gesamte Saison (½ Jahr oder 1 Jahr) heißt Makrozyklus. Wesentlich für den Planungsprozess sind die Mesozyklen, die mittelfristigen Unterteilungen des Makrozyklus. Mesozyklen variieren in ihrer Länge zwischen 4 und 12 Wochen, je nach Trainingsziel und Jahrestrainingsphase (allgemeine oder spezielle Vorbereitungsperiode, Wettkampfperiode, unmittelbare Wettkampfvorbereitung/Tapering-Phase). Für die Gestaltung der Trainingsprozesse können sich Trainer auf allgemeingültige Grundsätze stützen. Diese Trainingssteuerungsprinzipien können auf jeder Planungsebene (Mikro-, Meso- und Makrozyklus) befolgt werden: 4 Prinzip der Kontinuität 4 Prinzip von Belastung und Regeneration 4 Prinzip der progressiven Steigerung 4 Prinzip der Variation In der Sportpraxis hat es sich als günstig erwiesen, dass nach etwa 3 fordernden, eventuell progressiv gesteigerten Beanspruchungen eine regenerative Einheit folgen sollte. Diese Handlungsanweisung gilt auch für die Gestaltung von Mikrozyklen
26
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Kapitel 3 · Grundlagen des Trainings: Ausdauer, Kraft, Bewegung und Koordination
innerhalb eines Mesozyklus: Auf drei fordernde, progressiv gesteigerte Wochen folgt eine regenerative Woche zur Sicherung der angestrebten Adaptionen (vgl. Hottenrott u. Zülch 1995, S. 13). Ein Trainingsreiz wird determiniert durch die Ausprägung mehrerer Qualitäten. In einer Vereinfachung wird hier festgehalten, dass sich alle Trainingsmethoden voneinander abgrenzen lassen, wenn man die Gesamtbeanspruchung nach vier Kriterien differenziert.
Qualitäten von Trainingsreizen (Belastungsnormative) 5 5 5 5
Intensität Umfang (Dauer) Dichte (Belastungs-Pausen-Struktur) Trainingseinheiten pro Woche
9 10 11 12 13
Intensität: Die Intensität bezieht sich jeweils auf die Höhe einer Beanspruchung in Relation zu einer persönlichen Maximalleistung (im Bereich des Ausdauertrainings z. B. das Grundlagenausdauer 1 Training mit 70 % der maximalen Herzfrequenz als Beanspruchungsintensität oder im Krafttraining z. B. das Hypertrophietraining mit 70 % der maximalen Last des 1-Wiederholungs-Maximums). Umfang und Dauer: Umfang und Dauer sind Qua-
18
litäten, die beschreiben, wie lange die Reize auf die Organsysteme einwirken (z. B. 3 Wiederholungen à 2.000 m in der (Tempolauf-)Wiederholungsmethode im Ausdauertraining oder 5 Serien à 8 Wiederholungen einer Trainingsbewegung im intensiven Muskelaufbautraining). Die Nomenklatur ist für die Bereiche Ausdauer- und Krafttraining in der Literatur häufig etwas verwirrend; eine Wiederholung im Krafttraining hat eine andere Dimension als eine Wiederholung im wettkampfspezifischen Ausdauertraining.
19
Dichte,
14 15 16 17
20
Trainingseinheiten pro Woche: Der Begriff der Dichte ist ein semantisch etwas unglücklicher Ausdruck, der im Zusammenhang der Trainingslehre die Gestaltung der Relationen von Belastungen und Pausen innerhalb einer Trainingseinheit meint. Nur im erweiterten Sinne ist damit auch
die zeitliche Strukturierung der Trainingseinheiten pro Woche gemeint. Die Konstellation der Belastungsnormative Intensität, Umfang (Dauer), Dichte und Einheiten pro Woche definiert die einzelnen Trainingsmethoden und grenzt sie voneinander ab (. Tab. 3.1 für Ausdauertraining, . Tab. 3.2 für Krafttraining).
3.2
Ausdauertraining
Ausdauer wird häufig vereinfachend als Kondition bezeichnet und Konditionstraining wird synonym für Ausdauertraining verwendet, obwohl die Ausdauerfähigkeit neben der Kraft, der Schnelligkeit und der Flexibilität nur eine von mehreren konditionellen Fähigkeiten ist. Die Ausdauer kann definiert werden als »… die Fähigkeit, eine bestimmte Leistung über einen möglichst langen Zeitraum aufrecht erhalten zu können« (Martin et al. 1993, S. 173). Von den Kraftfähigkeiten lässt sie sich definitorisch dadurch abgrenzen, dass bewegte Lasten weniger als 30 % der Maximalkraftlast betragen, sodass die Blutversorgung der Arbeitsmuskulatur nicht durch kapilläre Kompression beeinträchtigt wird. Für statische Ausdauerleistungen darf die Last 15 % der Maximallast nicht übersteigen, wenn die Durchblutung nicht eingeschränkt werden soll (Hollmann u. Hettinger 1990, S. 334). Der Aspekt der Ermüdungswiderstandsfähigkeit trifft das Wesen der Ausdauerleistungsfähigkeit in seinem Kern. Physiologisch limitierender Faktor der Ausdauer ist die Energiebereitstellung (ATP-Resynthese). Verkomplizierend für eine allgemeingültige Definition der Ausdauer ist die sportartspezifische Bandbreite der zeitlichen Dauer, über die die individuell höchstmögliche Geschwindigkeit durchgehalten werden soll. Von Ausdauerleistungen wird schon beim 400-m-Lauf gesprochen: Kurzzeitausdauer (KZA). Kurzzeitausdauerdisziplinen umfassen ein Spektrum von Wettkampfdistanzen, die in 0,5 bis 2 Minuten zu absolvieren sind (400- und 800-m-Lauf, 100- und 200-m-Schwimmen, 500und 1000-m-Eisschnelllauf etc.). Deutlich abzugrenzen von der Beanspruchungscharakteristik der KZA sind Beanspruchungszeiten von 2 bis 10 (bzw. 12) Minuten: Mittelzeitausdauer (MZA). Mittelzeit-
27 3.2 · Ausdauertraining
ausdauerdisziplinen (1.500- und 3.000-m-Hindernislauf, 800-m-Schwimmen) fühlen sich deutlich anders an als Kurzzeitausdauerbelastungen oder Langzeitausdauerbelastungen. Der physiologische Hintergrund liegt in der Energiebereitstellung (Gewichtung der ATPResynthese Mechanismen) für die Bewältigung der muskulären Arbeit über die wettkampfspezifische Dauer der körperlichen Maximalbelastung. Die Ausdauerfähigkeit kann daher grob differenziert werden in die aerobe (Grundlagen-)Ausdauer und die anaerobe Ausdauer. Die korrespondierenden Ausdauertrainingsmethoden haben differenzierte physiologische Adaptionen der aeroben oder anaeroben energieliefernden Systeme zum Ziel (makroskopisch: Herzwanddicke und Kammervolumen, Kapillarisierung und Blutbildung; mikroskopisch: Zellorganellen und spezifischer Enzymbesatz). Kurzzeitausdauerdisziplinen (0,5 bis 2 min) grei-
fen zu etwa 80 % auf anaerobe ATP-Resynthesemechanismen zurück – insbesondere auf die laktazide Glykolyse. Inhaltliche Überschneidungen des Kurzzeitausdauertrainings zum speziellen Kraftausdauertraining spiegeln sich disziplinspezifisch in konkreten Trainingsmaßnahmen wider (z. B. 30-m-Bergaufsprints oder 100-m-Fallschirmläufe). Mittelzeitausdauerdisziplinen (2 bis 10 (12) min)
dürfen ebenfalls als deutlich anaerob beanspruchend charakterisiert werden, aber die aerobe Energiebereitstellung (ca. 60 %) dominiert bereits gegenüber dem anaeroben Anteil (ca. 40 %). Das spiegelt sich in der Belastungsgestaltung des MZATrainings wider: der zeitliche Umfang der anaeroben Trainingsmaßnahmen ist gegenüber den KZADisziplinen reduziert. Langzeitausdauerdisziplinen (LZA) werden weitergehend subdifferenziert nach der wettkampfspezifischen Belastungsdauer: LZA 1 ca. 12 bis 35 min, LZA 2 ca. 35 bis 90 min, LZA 3 von ca. 90 bis 360 min. Der Anteil der anaeroben Energiebereitstellung nimmt mit der Dauer der Belastung ab (LZA 1 ca. 30 % und LZA 3 ca. 5 %), geht aber nie gegen Null. Diese Zusammenhänge müssen in der Belastungsreizkonfiguration des Ausdauertrainings abgebildet werden.
3
Ausdauertrainingsmaßnahmen können grob unterschieden werden in solche zur Verbesserung der aeroben Kapazität, der Grundlagenausdauer (GA) und solche zur Verbesserung der – anteilig unterschiedlich ausgeprägten – anaerob fordernden Wettkampfspezifischen Ausdauer (WSA) (Hotterott u. Zülch 1995). Die Trainingsziele (GA oder WSA) werden durch differenzierte Trainingsmethoden angesteuert (. Tab. 3.1). Verfahren (Stufentests mit definierten Testprotokollen) liefern objektive Kriterien, die es erlauben, bestimmte Methoden voneinander abzugrenzen. Die Herzfrequenz steigt nahezu linear mit zunehmender körperlicher Belastungsintensität an, so lange der Energiebedarf aerob gedeckt werden kann: Die maximale Sauerstoffaufnahme (VO2max) gilt als Bruttokriterium des kardiopulmonalen Systems. Ab einer individuell unterschiedlichen äußeren Beanspruchungsgrenze kann die benötigte Energie nicht mehr allein durch den aeroben Stoffwechsel bereitgestellt werden. Die Herzfrequenz steigt zwar immer noch – bis zu einem altersabhängigen Maximum – an, aber nicht mehr im gleichen Maße wie die äußere Beanspruchung (Geschwindigkeit). Im Idealfall ist diese Schwelle in der Aufzeichnung der Herzfrequenzkurve als »Knickpunkt« (point of deflection) zu erkennen (Conconi-Schwelle; . Abb. 3.3). In der Praxis gelingt dies häufig jedoch nicht oder nicht eindeutig genug. Der Schwellenbereich, in dem die Energiebereitstellung nicht mehr konstant aerob geleistet werden kann, ist jedoch in einem Stufentest über die Laktatakkumulation zu identifizieren. Laktatbildung und-abbau stehen in einem Gleichgewicht. Wie lange dieses Fließgleichgewicht beibehalten werden kann, hängt insbesondere von der Laktateliminationsfähigkeit des Organismus ab. Wenn über eine Phase von 30 Minuten gleichbleibend hoher Belastung die Laktatkonzentration im venösen Blut nicht um mehr als 1 mmol/l ansteigt, befindet sich das Gesamtsystem noch im Steady State (Laktatfließgleichgewicht). Die höchste Beanspruchung (Geschwindigkeit), bei der sich Laktatbildung und -abbau noch im Fließgleichgewicht befinden, heißt maximales Laktat-Steady-State (maxLaSS). Höhere Geschwindigkeiten führen im Leistungsdiagnostische
28
1
Kapitel 3 · Grundlagen des Trainings: Ausdauer, Kraft, Bewegung und Koordination
. Tab. 3.1 Ausdauertrainingsmethoden in einer Übersicht Schlagwort
Ziel
Methode
Intensität
Umfang
Dichte
Laktat
Gesundheitstraining
REKOM
Langsamer Dauerlauf
60–70 % HFmax
Mind. 12 min 60–90 min
Keine Pause
≤2 mmol/l
Stabilisierungstraining
GA 1
Zügiger Dauerlauf
70–80 % HFmax
Ca. 60 min
Keine Pause
≤3 mmol/l
GA 1–2
Schneller Dauerlauf
75–85 % HFmax
Ca. 45 min
Keine Pause/ Tempowechsel
2–3 mmol/l
Entwicklungstraining
GA 2
Sehr schneller Dauerlauf
80–90 % HFmax
Ca. 45 min
Keine Pause/Tempowechsel
3–7 mmol/l
Intensiv-anaerob Wettkampfspezifische Ausdauer
WSA
≥90 % HFmax
Exemplarisch: 10.000 m 5.000 m 12.000 m
Keine Pause
≥7 mmol
8
Tempolauf (TL) 5 Wettkampfmethode 5 Unterdistanzlauf 5 Überdistanzlauf
9
Wiederholungsmethode (TL-WH)
≥90 % HFmax
3×2.000 m
10 min
Intervallmethode 5 extensive 5 intensive
≥90 % HFmax
5×1.000 m 8×600 m
3 min
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Die vorgeschlagenen Trainingsumfänge für die WSA-Methoden sind beispielhaft angepasst für LZA-Disziplinen, z. B. 10.000-m-Lauf. GA Grundlagenausdauer, HFmax maximale Herzfrequenz, REKOM Regeneration-Kompensation, WSA Wettkampfspezifische Ausdauer
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HF [bpm]
15
Herzfrequenz
Laktat
Laktat [mmol/l]
anaerober Schwellenbereich
Geschwindigkeit [km/h]
. Abb. 3.3 Die anaerobe Schwelle – der Übergang von der überwiegend aeroben zur überwiegend anaerober Stoffwechsel bei Ausdauerleistungen. Die individuelle anaerobe Schwelle kann sowohl über die Herzfrequenz als auch über die Laktatkinetik (Balance von Laktatbildung und -abbau) abgeschätzt werden. Je nach Methode kann die ermittelte Schwellen-(lauf-)geschwindigkeit jedoch leicht differieren. bpm beats per minute (Herzschläge pro Minute), HF Herzfrequenz
Körper zu verstärkter Akkumulation von Laktat. Das Gesamtsystem befindet sich im »anaeroben” Belastungsspektrum. Immer weiter steigende körperliche Beanspruchungen führen zum Abbruch der muskulären Arbeit, weil das Laktat nicht mehr ausreichend Säure-Ionen binden und aus der Zelle eliminiert werden kann, sodass der intrazelluläre pH-Wert sinkt. Es ist als körpereigener Schutzmechanismus zu verstehen, wenn Enzyme der Glykolyse (insbesondere die Phosphofructokinase) »ihre Arbeit« ab einem pH-Wert von 6,3 praktisch einstellen und den kontraktilen Proteinen in der Muskelzelle somit nicht mehr genügend ATP zur Verfügung gestellt wird. Die anaerobe Schwelle, der Beginn der kontinuierlichen Laktatakkumulation, kann mithilfe unterschiedlicher Standards individualisiert bestimmt werden: individuell anaerobe Schwelle (IAAS). Früher wurde als interpersonell einheitliche Schwelle ein Wert von 4 mmol/l angenommen (Heck 1990).
29 3.2 · Ausdauertraining
Aus der Laktatleistungskurve kann mithilfe der IAAS direkt rückgeschlossen werden, bis zu welcher Beanspruchung (Geschwindigkeit) aerobes (Grundlagen-)Ausdauertraining praktiziert werden kann, ohne dass hierfür zwingend eine Maximalleistung zur Ermittlung der maximalen Herzfrequenz erbracht werden muss. Dies ist im Zusammenhang mit gesundheitssportlicher, individueller Leistungsdiagnostik und Trainingsberatung ein wesentlicher Aspekt. Die differenzierten Trainingsbelastungszielzonen innerhalb des aeroben Beanspruchungsspektrums können auf die individuell anaerobe Schwelle relativiert werden (HF IAAS), in der Literatur finden sich jedoch häufig Trainingsbelastungsangaben, die an der maximalen Herzfrequenz (HFmax) orientiert sind. Wenn eine Maximalbeanspruchung nicht anzuraten und eine Laktatleistungsdiagnostik aus organisatorischen Gründen nicht möglich ist, muss hierfür auf eine Schätzformel (z. B. maximale Herzfrequenz ist gleich 220 minus Lebensalter) zurückgegriffen werden. Der höhere aerobe Belastungsbereich, der an die Schwelle zum anaeroben Stoffwechsel heranreicht, wird als Entwicklungstraining (GA 2) bezeichnet und umfasst den individuellen Herzfrequenzbereich von 80–90 % der maximalen Herzfrequenz (HFmax). Der Bereich von 70–80 % der maximalen Herzfrequenz wird als Stabilisierungstraining oder GA-1-Training bezeichnet. Differenziert werden kann das GA-1-bis-2-Training (75– 85 % HFmax). Als Gesundheitstraining wird der Intensitätsbereich von 60–70 % HFmax bezeichnet. Anfänger sollten in diesem Tempobereich mindestens 12 Minuten »Laufen ohne zu Schnaufen«, um langfristig positive Adaptionen des Herzkreislaufsystems sicherzustellen. Ausdauerathleten bewegen sich in diesem langsamen Intensitätsbereich zur aktiven Regeneration nach belastenden Trainingseinheiten, weshalb es auch als REKOMTraining (Regeneration-Kompensation) bezeichnet wird. Lange Läufe (60 bis >90 Minuten) mit der geringen REKOM-Intensität werden auch als Fatburning-Training bezeichnet, weil hier über den langen Beanspruchungszeitraum viele Fettkalorien verbrannt werden. Bezogen auf die Zeit liegt die höchste Energieflussrate aus dem Fettstoffwechsel jedoch bei einer Intensität von 90 % IAAS. Bei einer
3
Orientierung an der maximalen Herzfrequenz entspricht diese Anforderung in etwa dem Übergang vom Stabilisierungstraining zum Entwicklungstraining (ca. 80 % HFmax). Für den Bereich oberhalb des maximalen Laktat-Steady-State liegt keine lineare Relation zwischen Belastung und Herzfrequenz vor, aber die Herzfrequenz ist hier regelhaft höher als 90 % HFmax. Die anaerob orientierten Ausdauertrainingsmethoden werden als WSA-Methoden (wettkampfspezifische Ausdauer) zusammengefasst.
WSA-Methoden 5 Tempolaufmethode in Wettkampf-, Unteroder Überdistanz mit Renntempo 5 Wiederholungsmethode als wiederholte Unterdistanztempoläufe mit jeweils einer vollständigen Pause (10 Minuten) zwischen den Wiederholungen 5 Intervallmethoden mit relativ kürzeren Belastungsdistanzen und jeweils nur unvollständigen (lohnenden) Pausen (3 Minuten) zwischen den Belastungsintervallen
Die »lohnenden« Pausen ermöglichen eine komplette Restitution der Kreatinphosphatspeicher und eine systemische Erholung der aeroben Kapazitäten bis eine Absenkung der Herzfreqzenz auf etwa 120 bis 130 Schläge pro Minute erreicht ist, aber keine vollständige Senkung des Blutlaktatspiegels unter den Wert der anaeroben Schwelle. In der Folge akkumuliert das Laktat (>7 mmol/l). Bei der Intervallmethode wird je nach Länge und Häufigkeit der Belastungsintervalle unterschieden in die extensiven Intervalle (z. B. 5×800 Meter) und die intensiven Intervalle (z. B. 8×200 Meter); die lohnende, unvollständige Pause von 3 Minuten gilt für beide Varianten. In der langfristigen Trainingsprozessgestaltung hat sich für Langzeitausdauerathleten eine zeitliche Verteilung der Trainingsziele mit einer Dominanz des Stabilisierungstrainings (GA 1) von mehr als 60 % Trainingsumfang als günstig herausgestellt. REKOM-Training sollte 10–15 % nicht unterschreiten und das »härtere« Training (GA 2
30
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Kapitel 3 · Grundlagen des Trainings: Ausdauer, Kraft, Bewegung und Koordination
und WSA) sollte zusammen nicht mehr als 20–35 % des Gesamttrainingsvolumens ausmachen (Hottenrott u. Zülch 1995, S. 19). Für Freizeitsportler ist der Anteil des REKOM-Trainings zulasten des WSATrainings zu erweitern. Kumulierte Überforderungen führen gerade bei ambitionierten Freizeitsportlern, die nicht engmaschig sportmedizinisch betreut werden, häufiger zu Übertrainingssyndromen. Das Trainingsgestaltungsprinzip der Balance zwischen Belastung und Erholung ist in der langfristigen Trainingsprozessplanung genauso wichtig wie die Prinzipien von kontinuierlicher, progressiv zu steigernder und zu variierender Beanspruchung. Nicht verschwiegen werden darf, dass eine gute Grundlagenausdauer auch für Nicht-Ausdauersportler von Bedeutung ist. Eine gut entwickelte Grundlagenausdauer verkürzt die Regenerationszeiten zwischen jeglichen Trainingseinheiten.
3.3
Krafttraining
Zielsetzung beim Krafttraining sind funktionelle und strukturelle Adaptionen des neuromuskulären Systems. Die Vergrößerung des Muskelquerschnitts (Hypertrophie durch Verdickung der Muskelfasern) ist im Zusammenhang von Gesundheits- und Fitnesskrafttraining die wesentliche Zielrichtung, aber im leistungsorientierten Training muss das Kraftverhalten darüber hinaus differenziert werden in Maximalkraftleistungen (Höhe der maximal bewegten Last), in Schnellkraftleistungen (Kraftanstiegsverhalten pro Zeiteinheit) und in Kraftausdauerleistungen (Ermüdungsresistenz gegen äußere Lasten).
16 17 18 19 20
3.3.1
Muskelquerschnittstraining (Hypertrophietraining))
Die optimale Reizkonfiguration für muskuläre Adaptionen im Sinne von Hypertrophie (Proteinsynthese zur Vermehrung der Myofilamente) ist charakterisiert durch eine möglichst lange Spannungsdauer unter hoher Spannung. Trainingsmethodisch heißt das: submaximal hohe Lasten und ein großes Trainingsvolumen für die beanspruchte Muskulatur. Um den Umfang für eine Muskel-
schlinge – unter der Maßgabe der hohen, submaximalen Lasten – realisieren zu können, wird versucht eine maximale Wiederholungsanzahl pro Serie zu absolvieren. Je nach Trainingszustand und Körperbautyp hat sich eine Anzahl von 8 bis 12 Wiederholungen bis zur Muskelerschöpfung als effektiv für den optimierten Muskelaufbau erwiesen; für Leistungssportler auch 5 Wiederholungen und für Anfänger auch 15 Wiederholungen pro Serie mit den entsprechend höheren, respektive niedrigeren Lasten. Damit der notwendige Gesamtumfang für die angestrebte Muskelausschöpfung gewährleistet ist, wird empfohlen 3 bis 5 Serien à 8 bis 12 Wiederholungen zu trainieren (Schmidtbleicher 1987). Die Pausen zwischen den Serien sollten so kurz sein, dass eine kumulierte Ermüdung einsetzt. Sie sollten aber auch so lang sein, dass auch in der 2. bis 5. Serie noch die gewünscht hohen Lasten über 8 bis 10 Wiederholungen bewegt werden können: je nach Adressatengruppe 3 Minuten (± 1 Minute) Pause zwischen den Serien. Adaptionen auf höherem Leistungsniveau sind schwerer zu provozieren als für Anfänger. Deshalb machen fortgeschrittene Trainierende nicht nur 3 bis 5 Serien à 8 bis 12 Wiederholungen für eine Muskelschlinge, sondern wählen 1 bis 3 verwandte, sich inhaltlich überlagernde Übungen pro Trainingseinheit für eine Muskelschlinge (Güllich u. Schmidtbleicher 1999). Eine Kombination von Latissimus-Zug, Ruderzug und Bizeps-Curl bedeutet eine kumulierte Wirkung für die Armbeuger. Eine betont langsame Bewegungsausführung (ca. 5 Sekunden pro Wiederholung) verlängert die Spannungsdauer unter hoher Last (TuT: Time under Tension). Leistungsorientierte Bodybuilder nutzen diese Strategie als weitere Reizsteigerung zur Muskelhypertrophieanregung. Für Anfänger – mit weniger ausschöpfenden Lasten – wird die langsame Bewegungsausführung empfohlen, weil so eine hohe Bewegungskontrolle gegeben ist und Verletzungen durch dynamische Beschleunigungsspitzen vermieden werden. Für Anfänger sollte ein komplettes Work-out als Ganzkörpertrainingsprogramm (ca. 5 bis 10 Übungen von »Kopf bis Fuß« über etwa 45 bis 90 Minuten) konzipiert sein, das 2- bis 3-mal pro Woche durchgeführt wird. Fortgeschrittene wählen sich 2 oder sogar 3 Trainingsschwerpunkte (Split Trai-
3
31 3.3 · Krafttraining
. Tab. 3.2 Muskelaufbautrainingsmethoden in einer Übersicht Methode/ Zielgruppe
Intensität [%1-WH Maximum]
Bewegungstempo/ Dynamik
Wiederholungen (Anzahl)
Serien (Anzahl)
Dauer pro Serie (Time under Tension)
Pausen zwischen den Serien
Trainingskonzept/Häufigkeit pro Woche
»Sanftes Krafttraining«: Anfänger
40–60 %
Ruhig
15–20 WH
1–3 sets
30–60 sec
2–3 min
Ganzkörpertraining 5–10 Übungen 2- bis 3-mal/ Wo.
Konstante Lasten: Fortgeschrittene
75–85 %
Ruhig
8–12 WH
3–5 sets
30–45 sec
3–5 min
Split-Training 5–6 Übungen 2- bis 4-mal/ Wo.
Stumpfe Pyramide: Fortgeschrittene
70 %+ 80 %+ 85 %+ 90 %
Ruhig
12–10–85 WH
Je 1 Serie 1–1–1–1
30–45 sec
3–5 min
Split-Training 5–6 Übungen 2- bis 4-mal/ Wo.
»Definition«: Bodybuilding
60–70 %
Langsam
15–20 WH
≥3 sets plus viele ähnliche Übungen
≥60 sec
2–3 min
Split-Training 5–6 Übungen 2- bis 4-mal/ Wo.
High Intensity Training (»HIT«): Bodybuilding
80 %
Extrem langsam
5–8
1 set plus ähnliche Übungen
≥60 sec
3–5 min
Split-Training 5–6 Übungen 2- bis 4-mal/ Wo.
Isometrisch: Reha und Leistungssport
Submaximal bis maximal
Statisch
WH gleich Serien
3–5 Serien
20–45 sec
2–3 min
Gezielt ausgewählte Muskeln
Isokinetisch: Reha und Leistungssport
Submaximal bis maximal
Vorgewählt: 60/sec–180/ sec
10–15 WH
3–5 Serien
30–60 sec
2–3 min
Gezielt ausgewählte Muskeln
Die Angaben sollen als Synopse der einschlägigen Standardwerke verstanden werden (7 Kap. 3.6.). WH Wiederholung, Wo. Woche
ning), die dann nacheinander mit jeweils einem Tag Regenerationspause in ständiger Folge trainiert werden; z. B. »Oberkörper Push«, »Oberkörper Pull« und »Beine«, um einmal im Jargon zu bleiben. Für den Erfolg im Muskelaufbautraining gilt zwar die Bodybuilding Formel »no pain – no gain«, aber der Muskel wächst nicht während des Trainings, sondern in der Regenerationsphase. So ist
im Krafttraining nicht nur die Beachtung des Trainingsgestaltungsprinzips der Kontinuität und der progressiven Steigerung der Beanspruchung zu beherzigen, sondern auch das Prinzip von Belastung und Erholung. Darüber hinaus profitiert der Muskel von Variationen der Belastungsgestaltung. Es ist somit notwendig, alle 4 bis 6 Wochen Trainingsübungen zu variieren oder auszutauschen. Aber auch Trainingsziele sollten neu formuliert
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Kapitel 3 · Grundlagen des Trainings: Ausdauer, Kraft, Bewegung und Koordination
werden, sodass im Training ein Methodenwechsel für Variation sorgt. Diese Grundsätze sollten sich bei der langfristigen Trainingsplanung in der Periodisierung von Mesozyklen abbilden. Eine Besonderheit für Fortgeschrittene stellt das Hoch-Intensitäts-Training (HIT) dar. Extrem langsame Bewegungsausführungen (bis zu 10 Sekunden pro Wiederholung) bei hoher Muskelspannung erschöpfen die Energievorräte im Muskel derart, dass nur eine Serie mit 5 bis 10 Wiederholungen trainiert werden muss; gegebenenfalls wird eine verwandte Übung für die betreffende Muskelschlinge angefügt. Im Hochleistungsbodybuilding werden so vergleichbare Ergebnisse wie beim sehr zeitintensiven Volumentraining mit vielen Serien erzielt (Gießing 2006). Ein Sonderfall für Anfänger ist das »sanfte Krafttraining«, bei dem die Trainierenden nicht aufgefordert werden, die maximal mögliche Anzahl von Wiederholungen bis zur Muskelerschöpfung zu leisten. Die Serie soll abgebrochen werden, wenn subjektiv eine mittelgradig hohe Schwierigkeit beim absolvieren der Wiederholungen empfunden wird. Die Lasten werden in der Regel so niedrig gewählt, dass der Abbruch nach etwa 15 Wiederholungen erwünscht ist (Buskies 1999). Für Anfänger sind im ersten halben Trainingsjahr auch mit dieser »sanften Beanspruchung« die gewünschten Adaptionen zu erzielen. Für gesundheitlich orientiertes, prophylaktisches Krafttraining – insbesondere für Risikogruppen – wird dieser Trainingsmodus empfohlen (Zimmermann 2000). Ein weiterer Sonderfall im Muskelaufbautraining ist das isometrische Training, bei dem sich die Muskellänge während der Kontraktion äußerlich nicht verändert: statische Halteübungen. Für Rumpfmuskeltraining ist diese Muskelarbeitsweise eine gebräuchliche Variante in der Trainingspraxis. Sportartspezifisch (z. B. im alpinen Skifahren) finden sich auch gezielte isometrische Krafttrainingsübungen (z. B. Abfahrtshocke über 60 bis 180 Sekunden halten). Aber auch in der Frühmobilisation nach Immobilisation – oder noch im Gips – werden statische Muskelkontraktionen therapeutisch gegen Muskelatrophien eingesetzt. Die Muskelspannung sollte quasi maximal sein, die Haltedauer 30 bis 45 Sekunden. Damit dauert ein Haltezyklus in etwa so lange wie eine Serie im
dynamischen Krafttraining (Time under Tension). Wiederholte Anspannungszyklen sind demnach als Serien zu bewerten (3- bis 5-mal 20 bis 45 Sekunden halten), auch wenn sie leider häufig missverständlich als Wiederholungen bezeichnet werden. Isokinetisches Krafttraining ist dynamisches Krafttraining, das jedoch nicht gegen den Widerstand der Schwerkraft (Körpergewicht oder Zusatzlast) ausgeführt wird. Der sehr fein abgestufte, intermittierende Bremsmechanismus isokinetischer Trainingssysteme verlängert die muskuläre Spannungsdauer in Relation zum (Antigravitations-) Gewichtstraining. Das Muskelwachstum ist gewährleistet, aber die Koordination der isokinetisch geregelten Bewegung ist so artifiziell, dass nur ein geringer Transfer für Maximalkraft- oder Schnellkraftleistungen unter Alltagsbedingungen beobachtet wird (Morrissey et al. 1995). Die Methoden des Hypertrophietrainings werden tabellarisch kompakt dargestellt (. Tab. 3.2).
3.3.2
Kraftausdauertraining
Kraftausdauer ist die Erscheinungsform der Kraftfähigkeit, die maßgeblich durch die energieliefernden Prozesse zur Realisierung der Muskelarbeit limitiert wird. Deshalb wird das Kraftausdauertraining in anerkannten Standardwerken bisweilen im Kontext der Ausdauerfähigkeit diskutiert (Schnabel et al. 1997). Im Maximalkraft- und Schnellkrafttraining kann fast ausschließlich auf die Kreatinphosphatspaltung zur ATP-Resynthese zurückgegriffen werden (ca. 10 bis 20 Sekunden maximale Kontraktionen; Heck 1990). Die Dauer der Serien (Time under Tension) im Muskelaufbautraining reicht mit bis zu 60 Sekunden in das Zeitfenster der anaerob-laktaziden Energiebereitstellung hinein. Die Serien im Kraftausdauertraining sind genau mit dieser Absicht so konzipiert, dass die muskuläre Beanspruchung unter laktaziden Bedingungen gefordert werden. Im Fitness- und Gesundheitstraining werden für Adaptionen der Kraftausdauerfähigkeit 20 bis 30 Wiederholungen empfohlen und kurze, unvollständige Pausen (0,5 bis 1 Minute) zwischen den 3 bis 5 Serien. Eine kumulierte Ermüdung und moderate Übersäuerung ist gewollt. Das Bewegungstem-
33 3.3 · Krafttraining
po ist ruhig bis zügig – bei dauerhafter muskulärer Anspannung während der Wiederholungen. Im leistungssportlichen Zusammenhang werden sportartspezifisch bis zu 60 Wiederholungen gefordert, im (Hochleistungs-) Rudern in Testsituationen bis zu 210 Wiederholungen (Altenburg et al. 2008). Die Bewegungsdynamik wird im sportartspezifischen Kraftausdauertraining der sportlichen Technik nachempfunden. Die Widerstände im Kraftausdauertraining sind generell als mittelhoch einzustufen (ca. 50–60 % der Maximallast); im sportartspezifischen Training kann neben dem Gewichtstraining aber auch ein Schleppanker, ein Bremsfallschirm oder das Gelände (Bergauf-Sprints, -Sprünge) als Krafttrainingsmittel eingesetzt werden, sodass die Last nicht immer als prozentuale Angabe in Relation zu einer Maximalkraftleistung angegeben werden kann. In der Trainingspraxis wird die Rumpfmuskulatur regelhaft im Sinne von Kraftausdauerbeanspruchungen trainiert (Bauch-Crunches mit 20 bis 30 Wiederholungen), auch wenn der Trainierende ansonsten ein Muskelaufbautraining absolviert. Im Gesundheitssport – insbesondere im Gruppentraining – wird Kraftausdauertraining häufig als Zirkeltraining (Circuit-Training) organisiert. Im Gegensatz zum Mehrsatztraining wird beim »Zirkel« nach der 1. Serie einer Übung zunächst die 1. Serie der 2. und aller weiteren Übungen absolviert. Der 2. Zirkeldurchlauf (Zyklus) bedeutet dann, dass für alle Übungen auch die zweite Serie geleistet wird. In kraftausdauerintensiven Sportarten werden bis zu 5 Zyklen (à 8 bis 10 Übungen) im Zirkel durchlaufen. Charakteristisch für das Zirkeltraining ist die hohe Dichte, das heißt die kurzen Serienpausen zwischen den Belastungen (Übungen). Eine längere Pause wird zwischen den wiederholten Durchläufen gemacht.
3.3.3
Maximalkraft- und Schnellkrafttraining
Maximal- und Schnellkrafttrainingsformen sind nicht kennzeichnend für den Gesundheits- und Fitnessbereich. Eine Ausnahme ist vielleicht das Kursangebot des Fitness-Boxens im kommerziellen Studio für den Bereich der Schnellkraft.
3
Ziel des Maximalkraft- und Schnellkrafttrainings ist vornehmlich die Verbesserung der neuronalen Faktoren Frequenzierung und Rekrutierung, die als intramuskuläre Koordination bezeichnet werden. Damit das Nervensystem seine Funktionsfähigkeit verbessert, muss der Organismus erholt sein. Das bedeutet für beide Trainingsziele, dass Serienpausen ausreichend lange für eine vollständige Erholung sein müssen (3 bis 5 Minuten). Eine kumulierte Ermüdung soll vermieden werden. Auch die Serien sind nur so lang, dass keine muskuläre Erschöpfung angestrebt wird: im Schnellkrafttraining bei mittleren Lasten (40–60 % der Maximalleistung) etwa 6 bis 8 Wiederholungen über 3 bis 5 Serien; im Maximalkrafttraining bei maximalen Lasten (90–100 % der Maximallast) zwischen 1 bis 5 Wiederholungen über 5 bis 10 Serien. Das bedeutet, der Umfang ist in diesen neuronal ausgerichteten Trainingszielsetzungen gering (Anzahl der Wiederholungen × Anzahl der Serien). Das Nervensystem adaptiert nur im Sinne einer verbesserten intramuskulären Koordination, wenn die Trainingsbewegungen mit maximaler Geschwindigkeit ausgeführt werden, sonst werden weder die schnell zuckenden Muskelfasern noch ihre motorischen Nerven angesprochen. Für Schnellkraftbewegungen bedeutet dies eine explosive Anspannungscharakteristik mit äußerlich sichtbar schnellen Trainingsbewegungen. Für Maximalkraftbeanspruchungen ist äußerlich wegen der hohen Lasten keine schnelle Bewegung zu sehen, aber die Anspannungscharakteristik ist ebenfalls explosiv. Intramuskulär koordinative Kraftsteigerungen sind gebunden an die spezifische Bewegungsausführung, deshalb werden im speziellen Schnellkrafttraining in der Regel nur Trainingsübungen durchgeführt, die den sportlichen Techniken möglichst nahe kommen. Maximalkrafttraining wird auch im Rahmen der Periodisierung des Muskelaufbautrainings eingeflochten, die Übungen beschränken sich in der Regel jedoch auf die Grundübungen Kniebeuge, Bankdrücken, Kreuzheben und die olympischen Gewichthebertechniken des Reißens und Stoßens mit den jeweiligen Vorübungen. Eine Sonderform des Schnellkrafttrainings mit Maximalkrafteffekten ist das plyometrische Trai-
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Kapitel 3 · Grundlagen des Trainings: Ausdauer, Kraft, Bewegung und Koordination
ning, bei dem zum Beispiel durch Niedersprün-
ge mit voraktivierter Muskulatur eine exzentrisch-nachgebende Muskelarbeit provoziert wird (Dehnungsverkürzungszyklus: DVZ). Es werden sehr hohe Muskelspannungen generiert (Fallhöhe und reflektorische Antworten des Organismus auf den plötzlichen Dehnungsreiz). Es kommt schnell zu Mikrotraumatisierungen (Muskelkater und schwerwiegendere Faserverletzungen); plyometrisches Krafttraining ist der leistungssportlichen Zielsetzung vorbehalten und wird im langfristigen Trainingsaufbau vorbereitet. Hiervon abgegrenzt werden müssen die Vibrationsplattformen der Fitnessbranche, die ebenfalls reaktive, intramuskulär wirksame Reize setzen, die jedoch für Fitness- und Gesundheitssport geeignet sind. Die reaktiv belastenden Effekte der geringen Bewegungsamplitude im Vibrationstraining können nicht verglichen werden mit denen der Fallhöhe im plyometrischen Training.
3.4
Beweglichkeitstraining
Beweglichkeit, oder Flexibilität, ist die konditionelle Grundeigenschaft, die die Fähigkeit zur Ausnutzung der Bewegungsamplitude (range of motion) der Körpergelenke beschreibt (Klee u. Wiemann 2005). Die Testung der Beweglichkeit ist in der Praxis nicht ganz einfach, weil der Zugschmerz in der Testung als Kriterium berücksichtigt werden muss. Im Beweglichkeitstraining wird die subjektive Empfindung eines tolerablen Zieh-Schmerzes zur Beschreibung der notwendigen Intensität herangezogen. Beweglichkeitstraining kann als Muskeldehnung (Stretching) in mehreren Varianten durchgeführt werden, oder als schwingendes, dynamisches Lockern. Im vorgewärmten Zustand darf die dynamische Lockerung nicht – wie früher – als »Zerrgymnastik« fehlinterpretiert werden (z. B. Armkreisen). Die Effektivität dieser Methode ist nicht infrage zu stellen. Die Dehnmethoden (aktiv oder passiv) im Sinne des Stretchings sind in der Praxis seit den 1990er-Jahren weit verbreitet, wobei die neurophysiologischen Legitimationen sich als nicht haltbar erwiesen haben (vermeintliche Umgehung des
Dehnungsreflexes und zur Relaxierung genutzter Sehnenreflex). Verbesserungen der Bewegungsamplitude nach Stretching sind jedoch unzweifelhaft, auch wenn in jüngerer Vergangenheit auf die negativen Effekte für unmittelbar folgende Schnell- und Maximalkraftleistungen hingewiesen wird (Turbanski 2005). Allen Dehntechniken ist gemeinsam, dass der Agonist in einer endgradigen Gelenkstellung fixiert wird. Beim »aktiven Dehnen« wird diese Position durch den Antagonisten hergestellt und beim »passiven Dehnen« durch einen Partner, durch die Muskelkraft der eigenen Hände (oberen Extremität; . Abb. 3.4) oder die Schwere des eigenen Körpergewichts. Das nachfolgende Dehnen des Agonisten geschieht entweder progressiv kontinuierlich (Permanentmethode) bis zur Schmerzgrenze (entspricht der Reizintensität) oder auch federnd wippend (dynamisches Stretching). Der Trainingsumfang ergibt sich aus der Haltezeit (zwischen 10 und 30 Sekunden) und möglichen Wiederholungen der Dehnübung (1 bis 3 Wiederholungen). Eine Variante des Permanentstretchings ist die postisometrische Methode. Hier wird der nachfolgend zu dehnende Agonist zunächst maximal isometrisch angespannt (ca. 6 Sekunden). Eine größere Effizienz dieses Vorgehens wurde postuliert, konnte aber nicht nachgewiesen werden (Klee u. Wiemann 2005). Die postisometrische Methode wird auch AED-Methode (Anspannen-Entspannen-Dehnen) oder englisch CHRS-Methode (contract hold relax stretch) genannt. Beweglichkeitstraining ist bedeutsam für die korrekte und ökonomische Ausführung sportlicher Techniken und kann bedenkenlos jeden Tag trainiert werden, ohne dass es zu Überlastungsfolgen kommt.
3.5
Koordinationstraining
Das Teilthema Koordination ist ein gewaltiger Komplex. Im engeren Sinne handelt es sich beim Gegenstand des Koordinationstrainings um die Gestaltung motorischer Lernprozesse. Zielorgan für die Trainingsmaßnahmen ist das zentrale Nervensystem, eine sehr plastische, adaptionsfähige Struktur. Koordiniert werden motorische Äußerungen des aktiven Bewegungsapparates. Gesteu-
35 3.5 · Koordinationstraining
a
b
3
c
. Abb. 3.4 Unterschiedliche methodische Varianten des Stretchings im Beweglichkeitstraining. A: aktives Stretching B: passives Stretching C: passives Stretching als wippendes, dynamisches Dehnen
ert werden die motorischen Effekte durch Verschaltungen des Zentralen Nervensystems (ZNS). Exakter sollte man von Regelungsprozessen sprechen. Bei der Regelung gibt es einen fortwährenden Prozess der Ergebniskontrolle und Anpassungen der Bewegungsprogramme. Grob gekonnte Bewegungen werden durch Rückmeldungen (Feedback) der beteiligten Sinnesorgane in einem Soll-WertIst-Wert-Vergleich verfeinert. Die Modellvorstellung eines Regelkreises darf als Grundgedanke der Bewegungsregulation verstanden werden (Meinel u. Schnabel 1987). Über die Mechanismen der Programmmodulationen im motorischen Lernprozess gibt es differenzierte Modelle (Schmidt 1975, 1991). Der Erkenntnisgewinn durch weiter ausdifferenzierte Befunde in den letzten Jahrzehnten ist außerordentlich komplex. Koordinationstraining ist immanenter Bestandteil jedes Techniklernens im Sport (Grosser u. Neumaier 1982). Zu beachten ist, dass die Koordination als Fähigkeitskomplex verstanden werden muss; die Inhalte des Koordinationstrainings sind hingegen konkrete Bewegungsaufgaben, die eine Fertigkeit ansteuern. Aktuelle trainingswissenschaftliche Übersichtsarbeiten stellen fest, dass ein Koordinati-
onstraining als Fertigkeitstraining verstanden werden muss (Olivier et al. 2008). Bewegungsfertigkeiten und Fertigkeitselemente werden als sportliche Techniken erlernt, stabilisiert und automatisiert (Mechling 1988). Losgelöst von der wissenschaftstheoretischen Fähigkeits-Fertigkeits-Diskussion wird für das Koordinationstraining festgehalten, dass zur Verbesserung des motorischen Bewegungsvollzuges zum einen die Sinnesorgane (Muskelspindeln, Sehnenorgane, Gleichgewichtsorgan, Visus) mit den afferenten ZNS-Verschaltungen und supraspinalen Strukturen und zum anderen die efferenten ZNS-Verschaltungen (intermuskuläre Koordination) die Zielorgane des Koordinationstrainings sind. In der traditionellen Vorstellung des RegelkreisModells wird der Könnensstand einer Bewegung durch die wiederholten Regelkreisdurchläufe verfeinert (Meinel u. Schnabel 1987). Für die Praxis des motorischen Lernens bedeutet dies: Viele Wiederholungen einer Bewegung führen zu einer Automatisierung. Es ist dabei für die Praxis nicht bedeutsam, ob sich das Bewegungslernen auf neurophysiologischer Ebene durch die ältere Vorstellung der Verfestigung von vorgegebenen Programmbah-
36
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Kapitel 3 · Grundlagen des Trainings: Ausdauer, Kraft, Bewegung und Koordination
nen im Sinne von Engrammen (Martin 1989) oder durch die Neubildung von Nervenbahnen (Neuroplastizität) abbildet. In der Praxis des Techniktrainings zeigt sich, dass die Wirkung eines Koordinationstrainings insbesondere von der Sensitivität der involvierten Sinnesleistungen abhängt. Die Verfeinerung des Könnensstandes einer Bewegung kann beschleunigt werden durch »aggressive Reize« für die Sinnesorgane (Nagel u. Wulkop 1992). Für die Trainingspraxis bedeutet dies, dass der (Bewegungs-)Programmabgleich (Sollwert-Istwert-Abgleich) beim »Verfeinern der Koordination« erfahrungsgemäß zu guten Lernergebnissen führt, wenn es deutlich spürbare Kontraste der zentralnervös analysierten Bewegungsvarianten gibt (Martin 1989). Beispiel: Das Erlernen des Freiwurfes von der 4-m-Linie im Basketball muss einerseits vielfach wiederholt werden (Drill), andererseits ist es hilfreich, mal mit einem Tennisball, mal mit einem Medizinball und auch mit einem Basketball zu werfen. Diese Strategie des Kontrastierens der sensorischen Rückmeldungen führt zu einer variabel an die Anforderung angepassten motorischen Konsequenz. Im Modell der Theorie der koordinativen Fähigkeiten verbessert sich dadurch insbesondere die Differenzierungsfähigkeit zur Feinabstimmung von Bewegungen (Hirtz 1990). Das pointierte Ansprechen der muskuloskelettalen Sinnesorgane (Muskel- und Sehnenspindeln, Gelenk- und Hautrezeptoren) wird in der physiotherapeutischen Rehabilitation umgesetzt, indem koordinativ anspruchsvolle Aufgaben für die verletzten Strukturen gestellt werden. Aggressive Reize für die Sinnesorgane eines traumatisierten Kniegelenks sind z. B. Kniebeugen auf einer Wippe, oder ein Einbeinstand mit Zusatzbewegungsaufgaben auf einem Gel-Kissen. Dieses sensomotorische Training ist veraltet auch als propriozeptives Training bekannt und wird im sportlichen Koordinationstraining als Stabilisierungstraining in jüngerer Zeit auch präventiv durchgeführt (Schlummberger u. Eder 2001). Die koordinativ anspruchsvollen Trainingsreize (akzentuierte Bewegungsaufgaben mit aggressiven Reizen für das Sensorium) haben schnelle Adaptionen des ZNS zur Folge. Für die Trainingsgestaltung bedeutet dies, dass dem Organismus immer neue Reize (variierte Bewegungs-
aufgaben) angeboten werden sollen, damit die Reize überschwellig bleiben: 4 Kontrastierende Bewegungsaufgaben sind hilfreich für die Verfeinerung motorischer Programme. 4 Instabile Unterstützungsflächen akzentuieren das sensorische Feedback (Sensomotorik). 4 Koordinationstraining braucht kurze, variierende Reize mit eher weniger Wiederholungen. 4 Das neuromuskuläre System darf für ein Koordinationstraining nicht (vor-)ermüdet sein. 4 Im Techniktraining, wo die störungsfreie Automatisierung einer Idealbewegungsausführung angestrebt wird (Fertigkeitserwerb) sind auch einschleifende, vielfache Wiederholungen notwendig (Martin 1989). Literatur 1 2
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37 3.5 · Koordinationstraining
15 Mechling, H. (1988). Zur Theorie und Praxis des Techniktrainings: Problemaufriss und Thesen. Leistungssport, 28 (1), 39–42. 16 Meinel, K., Schnabel, G. (1987). Bewegungslehre – Sportmotorik. Berlin: Verlag Volk und Wissen. 17 Morrisey, M. C., Harman, E. A., Johnson, M. J. (1995). Resistance training modes: specificity and effectiveness. Medicine and Science in Sports and Exercise, 27 (5), 648–660. 18 Nagel, V., Wulkop, M. (1992). Techniktraining im Hockey. Ahrensburg: Czwalina Verlag. 19 Olivier, N., Marschall, F., Büsch, D. (2008). Grundlagen der Trainingswissenschaft und -lehre. Schorndorf: Hofmann Verlag. 20 Schlumberger, A., Eder, K. (2001). Verletzungsprophylaxe durch Stabilisationstraining. Leistungssport, 31 (5), 26–31. 21 Schmidt, R. A. (1975). A Schema Theory of Discrete Motor Skill Learning. Psychological Review, 82 (4), 225–260. 22 Schmidt, R. A. (1991). Motor Learning and Performance. Champaign, IL.: Human Kinetics Publishers. 23 Schmidtbleicher, D. (1987). Motorische Beanspruchungsform Kraft. Deutsche Zeitschrift für Sportmedizin, 38 (9), 356–377. 24 Schnabel, G., Harre, D., Borde, A. (1997). Trainingswissenschaft. Berlin: Sportverlag. 25 Turbanski, S. (2005). Aufwärmeffekte von Stretching in Sportarten und Disziplinen mit Schnellkraftanforderungen. Leistungssport, 35 (2), 20–23. 26 Weineck, J. (1990). Optimales Training. 7. Aufl., Erlangen: Perimed Verlag. 27 Zatsiorsky, V. (1996). Krafttraining. Praxis und Wissenschaft. Aachen: Meyer & Meyer Verlag. 28 Zimmermann, K. (2000). Gesundheitsorientiertes Muskelkrafttraining. Schorndorf: Hofmann Verlag
3
39
Die Wirkung körperlicher Aktivität auf das Immunsystem Hinnak Northoff, Markus Löffler, Asghar Abbasi
4.1
Einleitung
4.2
Klinisch epidemiologische Untersuchungen
4.3
Körperliche Aktivität und zelluläre Reaktionen im peripheren Blut – 42
4.4
Antwort von Hitzeschockproteinen, Immunglobulinen und Zytokinen auf körperliche Belastung – 44
4.4.1 4.4.2 4.4.3
Körperliche Aktivität und Hitzeschockproteine – 44 Immunglobulinantwort auf körperliche Belastung – 44 Zytokinreaktionen bei körperlicher Belastung – 44
4.5
Körperliche Aktivität, low-grade systemic inflammation (LGSI) und Arteriosklerose – 46
4.6
Körperliche Aktivität und Insulinresistenz
4.7
Körperliche Aktivität und Krebsprävention
– 47
4.8
Geschlechtsspezifische Unterschiede der immunologischen Belastungsreaktion
– 47
4.9
– 40
Zusammenfassung
– 48
– 41
– 46
4
40
1 2 3 4 5 6 7 8
Kapitel 4 · Die Wirkung körperlicher Aktivität auf das Immunsystem
Körperliche Betätigung kann je nach Art, Intensität und Dauer sowohl positive als auch gelegentlich negative Auswirkungen auf das Immunsystem haben. Dabei sind die Einflussfaktoren und -mechanismen vielfältig. Das vorliegende Kapitel stellt die wichtigsten Erkenntnisse und den aktuellen Forschungsstand in Kurzform vor. In diesem Beitrag lesen Sie über:
4 körperliche Aktivität und zelluläre Reaktionen im peripheren Blut, 4 die Hitzeschockprotein-, Immunglobulin- und Zytokinantwort auf körperliche Belastung, 4 den Einfluss körperlicher Aktivität auf die chronisch niedriggradige systemische Entzündung (LGSI) und auf die Insulinresistenz 4 den Einfluss körperlicher Aktivität auf Krebserkrankungen, 4 geschlechtsspezifische Unterschiede der immunologischen Belastungsreaktion.
9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
4.1
Einleitung
Die alte Volksweisheit, dass körperliche Aktivität und Leibesertüchtigung im Regelfall gut für die Gesundheit sind, wird traditionell überwiegend auf die bekannten positiven Auswirkungen auf den Bewegungsapparat und auf die Kreislauffunktion bezogen. Die Frage, ob dies auch für die Immunfunktion gilt, wird erst seit ca. 20 Jahren gezielt untersucht. Seit den Arbeiten von Haralambie [1] und später Cannon [2] weiß man, dass Serumparameter, die mit der sogenannten Akute-PhaseReaktion (APR) der Leber assoziiert sind, und entzündungsassoziierte Zytokine durch körperliche Belastung induzierbar sind. Seit der Gründung der Internationalen Gesellschaft für »Exercise Immunology« (ISEI 1989) haben die diesbezüglichen Forschungsaktivitäten konstant zugenommen. Heute kann deshalb als weitgehend gesichert gelten, dass Sport sowohl positive als auch negative Wirkungen auf das Immunsystem und seine Funktionalität haben kann. Die Vorstellung, dass regelmäßige moderate körperliche Belastung auch auf das Immunsystem einen positiven »Trainingseffekt« hat, während exzessive Ausdauerbelastungen zu (transienten) Immundefizienzen führen können,
wurde bereits 1991 formuliert [3] und später dann als »J-Curve-Modell« notorisch [4]. Das Modell visualisiert das synoptische Ergebnis einer Reihe von Studien, die zeigen, dass – verglichen mit Sportabstinenz – regelmäßige moderate körperliche Betätigung mit einer Erniedrigung der Häufigkeit von Infekten der oberen Atmungsorgane assoziiert ist, während langdauernde erschöpfende Ausdauerbelastung (z. B. Marathon, Halbmarathon, Ultramarathon) zu einer transient erhöhten Anfälligkeit für Infekte führt (. Abb. 4.1; mod. nach [4]). Die Verbesserung der Abwehrlage durch regelmäßige moderate körperliche Aktivität ist epidemiologisch in Form eines erniedrigten Infektrisikos (z. B. 29 % Reduktion bei 2 Stunden Bewegung pro Tag [5]) relativ gut belegt. Nicht so einfach ist es dagegen, regelmäßig signifikant veränderte Immunfunktionen aufzuzeigen, die dafür verantwortlich sind. Bei der 2. Hälfte der J-Kurve gibt es ebenfalls eine Reihe von epidemiologischen Studien, welche die erhöhte Infektanfälligkeit nach exzessiver Ausdauerbelastung aufzeigen [4;6–8]. Letztere manifestiert sich sowohl in einer erhöhten Rate von (oberen) Atemwegserkrankungen (in der englischsprachigen Literatur als upper respiratory tract infection (URTI) bezeichnet) in den Stunden und Tagen nach akuter erschöpfender Ausdauerbelastung als auch in verlängerten Krankheitszeiten bei Athleten in Intensivtraining [9–11] und in begleitenden Leistungseinschränkungen bis hin zur Entwicklung des Fatigue-Syndroms [12]. Vereinzelt konnten Studien den Einfluss von erschöpfender Ausdauerbelastung auf die Infekthäufigkeit nicht bestätigen [13] und ferner wird diskutiert, ob nicht ein Teil der nach extremer Ausdauerbelastung berichteten URTIEpisoden durch Austrocknung und ähnliche Phänomene und damit letztlich nichtinfektiös verursacht wird [14]. Nichtsdestoweniger lassen sich – im Gegensatz zur Situation bei moderater körperlicher Belastung – nach erschöpfenden Ausdauerbelastungen regelmäßig Veränderungen einer Anzahl von immunlogischen Parametern messen. Die Veränderungen sind zum Teil dramatisch und lassen sich in ihrer Gesamtheit sehr wohl mit der Annahme einer belastungsinduzierten transienten Immunsuppression vereinbaren. Im Zentrum letzterer dürften vor
41 4.2 · Klinisch epidemiologische Untersuchungen
4
Infektanfälligkeit
einer Immunmodulation zusammenhängen [15;31] (7 Kap. 4.5).
inaktiv
moderat
langandauernd erschöpfend
Belastungsintensität
. Abb. 4.1 Beziehung zwischen körperlicher Belastung in Infekthäufigkeit. Die Kurve wird wegen ihrer Ähnlichkeit mit einem amerikanisch geschriebenen J auch als J-Kurve bezeichnet
> Durch körperliche Aktivität wird ein in Teilen ähnliches hormonelles und immunologisches Reaktionsmuster erzeugt wie durch Infektionen, Trauma oder chirurgische Stressoren, jedoch mit besonderer Betonung der antiinflammatorischen Komponente, was sich letztlich in einer antiarteriosklerotischen und antidiabetogenen Wirkung ausdrückt.
Körperliche Aktivität ist zudem ein sauberes, perfekt dosierbares System, welches sich auch als Modell zur Untersuchung von neuro-endokrin-immunologischen Abläufen bei Stress und Stressadaptation heranziehen lässt.
4.2
allem die verstärkte Produktion von Interleukin 6 (IL-6) [3;15] und eine verminderte Produktion von Interferon-gamma (IFN-γ) [16;17], des Tumornekrosefaktors alpha (TNFα) [15;16] und Interleukin 1 (IL-1] [18] sowie die verminderte Expression von Toll-like-Rezeptoren (TLR) stehen [19;20]. Allerdings sind nicht alle Veränderungen, die man regelmäßig messen kann, ausschließlich unter diesem Aspekt subsumierbar. Die starken Verschiebungen der Zellen im peripherem Blut, die sich während und nach Belastung zeigen, sind zum Teil auch mechanischen Einflüssen zuzuordnen und reflektieren weiterhin Migrationsvorgänge in Richtung Gewebe. IL-6 wiederum, der Parameter im Blut, der die größte Reaktion auf körperliche Belastung zeigt, hat neben seiner immunologischen Bedeutung eine Vielzahl an somatisch/metabolischen Wirkungen, die unter anderem Gehirn- (Thermoregulation [21;22]) und Leberfunktion (Induktion von APR [23;24]), ACTH [3;25;26], Glukosefreisetzung [27;28] und Lipolyse [6;29;30] betreffen. Schließlich gibt es auch zunehmend Hinweise darauf, dass die positiven Auswirkungen, die chronische moderate körperliche Aktivität auf das Gefäßsystem hat, durch eine Reduktion der mit dem Alter gemeinhin zunehmenden »systemischen Low-Level-Inflammation«, also letztlich mit
Klinisch epidemiologische Untersuchungen
Eine erschöpfende Ausdauerbelastung, wie sie beispielsweise mit einem Marathon, einem Halbmarathon oder einem Triathlonwettkampf verbunden ist, bringt in den folgenden 3–5 Tagen ein erhöhtes Risiko für das Auftreten einer Erkrankung der oberen Atemwege (URTI) mit sich. Dies ist zumindest das Ergebnis der großen Mehrheit von Studien, die sich mit diesem Thema befassen. Man nimmt an, dass infolge einer solchen erschöpfenden und länger andauernden Belastung das Immunsystem dergestalt in Mitleidenschaft gezogen wird, oder besser im Sinne einer transienten Immunsuppression reguliert wird, dass einkommende Mikroorganismen eine erhöhte Chance haben, sich durchzusetzen oder dass vorbestehende subapparente Infekte exazerbieren können. Die Situation entspricht der 2. Hälfte der bereits in der Einleitung (7 Kap. 4.1) angesprochenen J-Kurve (. Abb. 4.1), welche das Ansteigen des Infektrisikos bei lang andauernden und erschöpfenden Belastungen widerspiegelt. Der Zeitraum nach erschöpfender Ausdauerbelastung, in dem diese erhöhte Infektanfälligkeit besteht (~1 bis 3 Tage), wird in der Literatur auch als Open Window bezeichnet. Eine Reihe der großen Ausdauerwettkämpfe wurden weltweit für die Untersuchungen genutzt
42
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Kapitel 4 · Die Wirkung körperlicher Aktivität auf das Immunsystem
[10;32]. Wiederholte Zyklen von schwersten Belastungen und zusätzliche Faktoren wie Schlafentzug usw. dürften das Infektrisiko weiter erhöhen. Dies ergibt sich aus einer deutschen Studie mit 852 Athleten die über 1 Jahr retrospektiv verfolgt wurden [33]. Da man die Postbelastungsdysfunktion des Immunsystems in der Open-Window-Phase mit einem erschöpfenden Verbrauch von einzelnen nutritiven Elementen, Spurenstoffen oder Antioxidantien in Verbindung brachte, sind in einer großen Reihe an Studien solche Substanzen als Supplemente eingesetzt worden. Zu diesen gehören neben Glutamin, Rinderkolostrum und Kohlenhydraten mehrfach ungesättigte Omega-3-Fettsäuren, Pflanzensteroide, Zink und Antioxidantien wie Vitamin C, Vitamin E, Beta Carotin, N-Acetylcystein und andere [34;35]. Obwohl es für jedes der getesteten Supplemente einzelne positive Studien gibt, sind die Ergebnisse insgesamt enttäuschend. Am ehesten dürfte Vitamin C einen positiven Einfluss haben [35]. Dieser kann jedoch in keinem Fall als gesichert gelten. Die Einnahme von Antioxidantien wie Vitamin E kann möglicherweise sogar inverse Effekte – also eine verstärkte oxidative Belastung – erzeugen [35]. Die Einnahme von komplexen Kohlenhydraten während der Belastung kann zwar den Anstieg der Mediatoren, die mit der Immunsuppression vergesellschaftet sind (IL-6 und in der Folge IL-10 und IL-1-Rezeptorantagonist/IL-1RA) reduzieren, ein klinischer Effekt – also eine Reduzierung des belastungsinduzierten Infektrisikos – ist jedoch bislang nicht zweifelsfrei bewiesen [35]. Hier sei nur nebenbei bemerkt, dass zweifelhaft ist, ob die Reduktion der belastungsinduzierten transienten Immunsuppression in der Trainingsphase wirklich ein adäquates »therapeutisches« Ziel darstellen sollte. Solange nicht das Gegenteil bewiesen ist, sollte davon ausgegangen werden, dass die natürliche Reaktion letztlich sinnvoll ist und vermutlich Schlimmeres (wie z. B. eine übermäßige Entzündungsreaktion bis hin zur Autoaggression) verhindern hilft.
4.3
Körperliche Aktivität und zelluläre Reaktionen im peripheren Blut
Körperliche Aktivität bewirkt Veränderungen der zirkulierenden Leukozyten im Blut, in Anzahl und Funktionalität. Als Antwort auf körperliche Aktivität steigt die Anzahl neutrophiler Granulozyten während und nach Belastung im Blut an, wohingegen die Anzahl der Lymphozyten und natürlichen Killerzellen (NK) während Belastung ansteigt, nachher jedoch unter die Ausgangswerte fällt [36]. Nach starker Anstrengung unter 1 h Dauer wird demnach eine sofortige Leukozytose im Wesentlichen aus Neutrophilen und Lymphozyten beobachtet, welche von einer Neutrophilie in der Erholungsphase mit Spitzen nach 2–3 h gefolgt wird [36;37]. Wenn die Belastung jedoch länger andauert, überlagern sich diese Effekte. Die initiale Leukozytose scheint durch eine verstärkte Demargination von Leukozyten, durch erhöhte Scherwirkung und Katecholaminausschüttung bewirkt zu werden. Bei längeren Belastungen kommt die Kortisolwirkung mit einer Ausschüttung von Neutrophilen aus dem Knochenmark hinzu. Insgesamt werden also bei und nach stärkeren Belastungen eine Granulozytose und eine biphasische Bewegung der Lymphozyten und NK-Zellen [17] bewirkt. Innerhalb der T-Zellpopulation findet sich dabei eine Verschiebung des Verhältnisses von Effektor- und Helfer-T-Zellen (TH/TC) [38] zugunsten der zytotoxischen Effektorzellen und innerhalb der TH-Population wiederum eine Verschiebung des TH1/TH2-Quotienten [18] zugunsten der weniger aggressiven TH2-Population. Amplitude und Dauer der Veränderungen verhalten sich proportional zur Belastungsintensität und in geringerem Ausmaß auch zur Dauer der Belastung [39].
Körperliche Aktivität und Lymphozytenfunktion Es wird angenommen, dass die erhöhte Anfälligkeit für Infekte der oberen Atemwege nach erschöpfenden Ausdauerbelastungen hauptsächlich auf eine Hemmung der Lymphozytenfunktion zurückgeht. Eine Anzahl von Studien zeigt, dass die Fähigkeit von Lymphozytenkulturen auf adäquate Stimulati-
43 4.3 · Körperliche Aktivität und zelluläre Reaktionen im peripheren Blut
on hin zu proliferieren durch sportliche Belastung vorübergehend partiell gehemmt wird. So wurden z. B. signifikante Verminderungen der mitogen-stimulierten Lymphozytenproliferation nach erschöpfenden Laufbandbelastungen nach 2,5 h [40] oder nach 2,5 h Fahrradergometrie bei 75 % VO2max bei männlichen und weiblichen Triathleten gefunden [41]. Die zytotoxische Aktivität (NKCA) von natürlichen Killerzellen (NK) im peripheren Blut wird ebenfalls durch intensive sportliche Belastung moderiert, und zwar biphasisch. Initial bzw. bei kurzen und moderaten Belastungen findet man eine Verstärkung der NKCA, während sie bei langandauernder intensiver Belastung wieder zurückgeht oder gar absinkt [42–45]. Die Hemmung der NK-Funktion wird durch Manipulationen, welche die Prostaglandin-Entstehung unterdrücken, zumindest partiell wieder aufgehoben [40]. Leukozyten von trainierten Athleten sind nach einer Trainingspause von mindestens 24 h im Allgemeinen bezüglich Anzahl und Funktion nicht signifikant von denen der Allgemeinbevölkerung verschieden. Das geht aus Querschnittsstudien [46] und Verlaufsstudien mit monatelangem Training hervor. Auch die Initiation einer spezifischen Immunantwort (Impfung) oder die Hypersensitivitätsreaktion vom verzögerten Typ werden durch körperliche Aktivität nicht signifikant beeinflusst [47]. Es gibt eine Reihe von Berichten, aber noch keinen gesicherten Nachweis dafür, dass Anzahl und Funktion von NK-Zellen durch dauerhafte moderate körperliche Betätigung zunehmen.
Körperliche Aktivität und Monozyten Wenn Granulozyten die Träger der unspezifischen angeborenen Immunität sind, so sind die Lymphozyten die eigentlichen Träger der spezifischen Immunantwort, und die Monozyten als Scharnier zwischen beiden zu sehen. Während Monozyten mit ihrer Phagozytose unspezifische Aufgaben erfüllen, fungieren sie durch ihre Antigenpräsentation als unmittelbare Initiatoren der spezifischen Immunantwort. Ihre Zytokinproduktion (TNFα, IL-1, IL-6, IL-10) ist Teil der Immunantwort, bestimmt aber auch den »proinflammatorischen« oder »antiinflammatorischen Status« des Gesamtorganismus mit.
4
In der letzten Zeit wurde von einigen Autoren eine Einteilung der Monozyten entsprechend ihrer Expression von Toll-Like-Rezeptoren (TLR, Typ-ITransmembranglykoproteine, die den Beginn der Signalkaskade für Endotoxin (Lipopolysaccarid/ LPS) und andere Stimulanzien markieren) in einen eher proinflammatorischen (TLR ↑) und einen eher antiinflammatorischen Typ (TLR ↓) vorgenommen. Bei akuter körperlicher Belastung tritt normalerweise eine Monozytose auf, ähnlich der Granulozytenkinetik, jedoch weniger stark ausgeprägt. Wenn man die obige Einteilung akzeptiert, so sind diese vermutlich durch Adrenalin aus marginalisierten Pools mobilisierten Monozyten einem eher proinflammatorischen Phänotyp zuzuordnen. Dauerhafte moderate körperliche Betätigung führt jedoch deutlich und signifikant zu Veränderungen der peripheren Monozyten in Richtung des antiinflammatorischen Phänotyps. Dies wurde in mehreren Studien am Beispiel von TLR4, dem primären Signalmolekül für LPS, gezeigt. Es ist bekannt, dass eine hohe TLR4-mRNA-Expression mit hohen Spiegeln von IL-1, TNFα und IL-6 nach LPS-Stimulation korreliert [48]. Diese Expression von TLR4 auf Monozyten des peripheren Blutes wurde sowohl bei jüngeren, vor allem aber auch bei älteren Probanden innerhalb von 12 Wochen durch moderaten Sport klar gesenkt [49;50]. Querschnittsstudien zeigen das gleiche Bild. Auch eine Korrelation zwischen verminderter TLR4-Expression und LPS-induzierter Freisetzung von inflammatorischen Zytokinen (IL-1, TNFα) wurde gezeigt [48].
Insgesamt finden sich verschiedene funktionelle und numerische Veränderungen der Zellen des peripheren Blutes als Antwort auf körperliche Belastung. Diese Veränderungen gehen vermutlich auf Mobilisierungs- und Migrationsphänomene und teilweise ebenfalls auf Apoptosevorgänge zurück. Die antiinflammatorische Modulation von Monozyten und die dadurch induzierte Beeinflussung der low-grade systemic inflammation (LGSI) stellen dabei einen Kandidatenmechanismus zur Erklärung der antiarteriosklerotischen Wirkung von Bewegung dar.
1
44
Kapitel 4 · Die Wirkung körperlicher Aktivität auf das Immunsystem
4.4
Antwort von Hitzeschockproteinen, Immunglobulinen und Zytokinen auf körperliche Belastung
4.4.1
Körperliche Aktivität und Hitzeschockproteine
2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Hitzeschockproteine (HSP) sind hoch konservierte ubiquitäre Proteine, die als schnelle Antwort auf verschiedene Arten von Stress, einschließlich Hitzeschock, gebildet werden. Wegen ihrer protektiven und reparativen intrazellulären Funktionen (Assistenz bei Degradation, Synthese, Faltung und Transport von Proteinen) sind sie unverzichtbar für die Homöostase der Zelle unter Belastung und werden auch Ammenmoleküle oder Chaperone genannt. Extrazellulär sind sie an der Antigenpräsentation und der Aktivierung des Immunsystems beteiligt. Induziert werden HSP durch eine Vielzahl von Einflüssen wie Hyperthermie, oxidativen Stress (Bildung freier Radikale), Glukosemangel, pH-Wertverschiebungen u. a., von denen ein Großteil auch bei körperlichen Belastungen auftritt. Es wird vermutet, dass sowohl die intrazellulären protektiven HSP als auch die extrazellulären immun-stimulierenden HSP in Zirkulation eine wichtige Rolle in der Immunantwort verbunden mit körperlicher Aktivität spielen. Die HSP-Antwort auf körperliche Aktivität hängt von der Dauer und Intensität der Belastung ab und wird vom Alter beeinflusst [51]. Intensive, erschöpfende Ausdauerbelastungen wie Marathon oder Ultramarathon führen zur Hochregulation von HSP im Muskel [52] oder auch in den Leukozyten des peripheren Blutes [53] und schützen sie gegen oxidativen Stress und DNA-Schäden [51]. Während in den Leukozyten die HSP bei trainierten Athleten in Ruhe eher erniedrigt sind, steigen sie mit zunehmender Trainingsdauer im Muskel an und bleiben dort erhöht [52]. Während HSP im Muskel offenbar auch an der Trainingsadaptation beteiligt sind und lokal zur Bewältigung der leistungsbedingt erhöhten Radikalbildung kontinuierlich vorgehalten werden, scheint dies in den peripheren Systemen bei Trainierten im Sinne eines »ökonomischen Managements« der verschiedenen
Schutzsysteme nicht erforderlich zu sein. Offenbar greift hier die protektive Wirkung anderer oxidativer Systeme wie z. B. Superoxid-Dismutase, die in trainierten Personen hochreguliert sind. Bei starken akuten Belastungen werden jedoch auch bei trainierten Athleten HSP wie HSP70 und HSP27 wieder hochreguliert.
4.4.2
Immunglobulinantwort auf körperliche Belastung
Die Antwort der Immunglobuline auf körperliche Belastung hängt von der Art der Belastung ab; akute Belastung und regelmäßige Trainingsbelastungen rufen dabei unterschiedliche Reaktionen hervor. Kurze maximale oder intensive Belastung scheint transient mit einem Ansteigen der Serumimmunglobuline vergesellschaftet zu sein, unabhängig vom Trainingsstatus. Dies gilt auch nach Korrektur für das Plasmavolumen. Dieser Anstieg wird vermutlich durch den Beitrag extravaskulärer Proteinpools und einen vermehrten Lymphstrom verursacht. IgM scheint am stärksten zu reagieren, die Ergebnisse variieren jedoch sehr stark. Noradrenerg sympathisch-neurale Interaktionen oder verstärkte Antigenexposition durch forcierte Atmung werden als Ursachen diskutiert. Intensive langandauernde und erschöpfende Ausdauerbelastungen und Perioden von intensivem Training oder Wettkämpfe führen jedoch regelmäßig zu einer Erniedrigung der Immunglobuline im Serum und im Speichel. Insbesondere die Verminderung des IgA im Speichel wird dabei als mögliche Ursache für die erhöhte Inzidenz von URTI angesehen [54].
4.4.3
Zytokinreaktionen bei körperlicher Belastung
Zytokine – unter ihnen Monokine, Lymphokine, Interleukine, Chemokine und Myokine – sind Mediatoren, die eine Immunantwort entscheidend steuern, in etlichen Fällen aber auch wichtige somatisch-metabolische Funktionen ausüben. Bei Trauma, Verbrennungen oder Infektionen erscheinen sie in der Reihenfolge TNFα, IL-1β, IL-6, gefolgt von inhibitorisch-regulativen Mediatoren wie IL-
45 4.4 · Antwort von Hitzeschockproteinen, Immunglobulinen und Zytokinen auf ...
arbeitender Muskel
Verletzungen
Infekte Entzündungen
4
Gehirn Temperaturerhöhung Hypophyse / Hypothalamus
HSP ACTH
IL-6
Nebennierenrinde
IL10, IL1RA Freisetzung von entzündungshemmenden und immunsupperssiven Mediatoren Leber Moderation der Glukoseutilisation Entzündungsreaktion Zuckeraufnahme in Zellen Freisetzung und Abbau optimiert antiatherovon Fettsäuren antidiabetisch sklerotisch für Abbau im Muskel Glukose Freisetzung schlank Akute Phase Proteine bei körperlicher Belastung zur anti-emtzündlich und Muskelernährung restaurativ
. Abb. 4.2 Übersicht über die vielfältigen Quellen und Wirkungen von IL-6. ACTH Adrenocorticotropes Hormon, HSP Hitzeschockproteine, IL10 Interleukin 10, IL1RA Interleukin-1-Rezeptorantagonist, IL-6 Interleukin 6
1RA, sTNFR, und IL-10 im Blut. TNFα und IL-1β sind neben IFNγ, welches im Normalfall nicht in der Peripherie nachweisbar ist, Zytokine der T-Helferzellen vom Typ 1 und fördern die aggressive, zellulär betonte Immunabwehr, während die anderen genannten Zytokine die TH2-Antwort markieren, immunmodulatorisch eingreifen und die humorale Immunantwort stimulieren. Auch bei körperlicher Belastung lässt sich eine Zytokinantwort nachweisen, die partielle Ähnlichkeit mit der Reaktion auf Infektionen hat, aber in wesentlichen Punkten anders verläuft. Hier ist IL-6 der zentrale und mit Abstand der prominenteste periphere Mediator (. Abb. 4.2). IL-6 wurde bereits Anfang der 1990er-Jahre nach körperlicher Belastung [3] nachgewiesen und kann bis zu 100-fach erhöht sein, während die primär proinflammatorischen Mediatoren IL-1 und TNFα nur in Extremfällen und dann nur in Spuren auffindbar sind. Heute weiß man, dass IL-6 direkt von der arbeitenden Muskelzelle ausgeschüttet wird [55]. IL-6
zieht eine Schleppe von antiinflammatorischen Mediatoren, wie IL-1RA (IL-1-Rezeptorantagonist), sTNFR, IL-10 und IL-12p40 [56;57] nach sich. Diese werden teilweise von IL-6 induziert, während IL-1 und TNFα von IL-6 gehemmt werden [58]. Auch die weiteren bekannten Wirkungen von IL-6 sind eindeutig restaurativer und antiinflammatorischer Natur. Es ist der wesentliche Auslöser der Akute-Phase-Reaktion der Leber (APR) und erzeugt gleichzeitig via ACTH das antiinflammatorisch/ immunsuppressiv wirksame Kortison [3]. Bei der APR werden solche Proteine, die bei Infekten und Trauma verbraucht werden (Fibrinogen, Komplement-Faktoren), und Schutzproteine wie CRP, α1Antitrypsin oder Transferrin zulasten von Albumin hochgefahren. IL-6 hat weiter einen Insulin sensibilisierenden Effekt im Muskel und stimuliert die Glukoseproduktion im arbeitenden Organismus [58]. Weiterhin stimuliert IL-6 die Lipolyse und Lipidoxidation [27;29;30].
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Kapitel 4 · Die Wirkung körperlicher Aktivität auf das Immunsystem
Die anderen Mediatoren, die bei längeren Ausdauerbelastungen im Plasma erscheinen, sind entweder direkte kompetitive Gegenspieler von IL-1, TNFα und IFNγ (IL-1RA, sTNFR, IL-12p40) [56;57] oder sie haben selbst direkte supprimierend/modulierende Wirkung. Aber auch die LPS stimulierte (ex vivo) Freisetzung von IL-1, TNFα und IFNγ ist nach erschöpfender Ausdauerbelastung deutlich gehemmt, wobei ganz besonders IFNγ als zentraler Verstärker der Zytokinantwort betroffen ist [16].
Zusammengefasst ist die Gesamtheit der Zytokinreaktion nach körperlicher Belastung (mit Ausnahme des Sonderfalles IL-8), als imposante antiinflammatorisch-restaurative Schutzreaktion mit IL-6 als zentralem Bindeglied zu Glukose- und Fettstoffwechsel zu sehen.
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4.5
Körperliche Aktivität, low-grade systemic inflammation (LGSI) und Arteriosklerose
Als chronisch niedriggradige systemische Entzündung (low grade systemic inflammation/LGSI) wurde ein Zustand beschrieben, der durch 2- bis 3-fach erhöhte Plasmaspiegel von TNFα, IL-1β, IL-6 und CRP gekennzeichnet ist. Er ist oft mit Adipositas und metabolischem Syndrom gekoppelt und wird heute als ein wesentlicher ursächlicher Faktor für die Entstehung der Arteriosklerose angesehen. Eine heute zunehmend akzeptierte Hypothese besagt, dass das Fettgewebe insbesondere bei vorexistierender Inaktivität eine wesentliche Quelle des TNFα ist und dass TNFα als entzündlicher Mediator am Anfang der Entzündungsvorgänge steht. IL-6 wird von TNFα induziert, nicht aber umgekehrt, und hemmt als klassischer Gegenspieler von TNFα u. a. die Produktion von letzterem [59]. CRP ist ein Akute Phase Protein der Leber, welches letztlich ebenfalls als Folgeprodukt der TNFαProduktion zu sehen ist. Somit sind IL-6 und CRP zwar als geeignete Indikatoren für die LGSI anzusehen, stellen aber in der Kausalitätskette mit hoher Wahrscheinlichkeit den Versuch des Körpers dar, sich gegen überhöhte TNF-Spiegel zu wehren.
Da TNFα die Schlüsselstellen des Insulinsignalweges hemmt, wird die Assoziation von Adipositas und Typ-2-Diabetes erklärbar. Die Verbindung von Adipositas und der erhöhten Produktion von Entzündungsmediatoren wurde in verschiedenen Studien an Mensch und Tier gezeigt [60;61]. Chronisch entzündliche systemische Entzündungsvorgänge werden mit Alterungsprozessen assoziiert gesehen [62;63], die größte Rolle spielt jedoch die physische Inaktivität. Als Risikofaktor für die Allgemeinsterblichkeit wurde sie höher als Bluthochdruck, Hyperlipidämie, Diabetes oder Adipositas eingestuft [64]. An einer großen Kohorte wurde gezeigt, dass selbst bei Jugendlichen maßgebend fehlende Fitness als Zeichen von Inaktivität mit signifikant erhöhten Entzündungsmarkern einhergeht [65]. Die protektive klinische Wirkung von regelmäßiger körperlicher Aktivität gegen frühzeitigen Tod kann heute als unbestreitbar angesehen werden und scheint statistisch auch unabhängig vom Faktor Übergewicht standzuhalten. Als Erklärungsmechanismus liegt die regelmäßige belastungsinduzierte IL-6-Ausschüttung nahe, die Produktion und Wirkung von TNFα in Schranken halten kann und damit die primäre Ursache der LGSI hemmt. Eine Erniedrigung proinflammatorischer Zytokine und eine Erhöhung antiinflammatorischer Zytokine im Plasma durch körperliche Aktivität wurde in mehreren Studien kürzlich gezeigt [59;66].
4.6
Körperliche Aktivität und Insulinresistenz
Die oben beschriebene Rolle von TNFα aus dem Fettgewebe als vermutliche Hauptursache der LGSI und Arterioskleroseentstehung spielt auch in der Entstehung der Insulinresistenz eine wesentliche Rolle. TNFα greift direkt in den Glukosestoffwechsel ein, indem es die Signalwege des Insulins hemmt und somit die Glukoseaufnahme und Verwertung beeinträchtigt [67]. Während TNFα somit als Hauptursache der Insulinresistenz gelten darf, ist IL-6 auf praktisch allen Ebenen sein direkter Gegenspieler. IL-6 hemmt die TNF-Freisetzung und induziert IL1RA und IL-10, stimuliert Lipolyse und Fettoxidation und vermindert die Insulinresistenz, indem es Glukoseaufnahme und Oxidati-
47 4.8 · Geschlechtsspezifische Unterschiede der immunologischen Belastungsreaktion
on im Muskel fördert [58]. Dauerhafte körperliche Betätigung vermindert einmal dadurch bereits per se das Fettgewebe und reduziert damit die Quelle des TNFα. Gleichzeitig wird durch körperliche Aktivität auch ganz direkt die TNFα-Freisetzung vermindert [16]. Zusammengefasst kann man nach dem bestätigten Stand des Wissens davon ausgehen, dass TNFα im pathogenetischen Zentrum der Arteriosklerose und der Insulinresistenz steht, während IL-6 (und CRP) zwar der beste Marker ist, de facto aber als Reaktion auf die erhöhten lokalen TNFα Spiegel in der Peripherie sichtbar wird.
4.7
Körperliche Aktivität und Krebsprävention
Aktuelle Studien zeigen, dass körperliche Aktivität eine beachtliche Wirkung gegen das Auftreten bestimmter Krebserkrankungen besitzt [68]. Insbesondere hormonsensitive Tumoren wie das Mammakarzinom [69] werden günstig beeinflusst, die Feststellung gilt aber auch für das Kolonkarzinom [70], Prostata- [71] und Endometriumkarzinome [72]. Weiterhin konnte schon bei wenigen Stunden körperlicher Aktivität pro Woche bei Brustkrebspatientinnen eine signifikant verminderte Rezidivrate der Erkrankung und eine geringere allgemeine Sterblichkeitsrate nachgewiesen werden [73;74]. Einer der Mechanismen könnte, ähnlich wie bei der Arteriosklerose, die aktivitätsassoziierte Vermeidung von chronisch entzündlicher Aktivität (LGSI) sein [75]. Die Verbindung von LGSI und der Entstehung von Krebserkrankungen wird durch eine beachtliche Zahl von Studien belegt [76;77], ohne dass die molekularen/zellulären Grundlagen bisher geklärt sind. Chronischer Stress und DNASchäden durch Radikalbildung bei LGSI-Zustand sind denkbar. Akute massive körperliche Belastung kann zwar selbst auch DNA-Schäden induzieren, körperliche Betätigung induziert aber gleichzeitig Schutzsysteme wie HSP und körpereigene antioxidative Systeme. Eine andere Erklärungsmöglichkeit für die imposante protektive Wirkung von körperlicher Aktivität gegen die Entstehung bestimmter Krebsarten könnte in den NK-Zellen zu finden sein. NK-Zellen sind die wesentlichen Träger der Krebsabwehr (immune surveillance). Ihre Aktivität
4
wird durch moderate körperliche Betätigung definitiv nicht gehemmt, wahrscheinlich sogar verbessert. Dabei ist auch denkbar, dass im Blut aktivierte NK-Zellen schnell in die Peripherie migrieren und dass de facto eine stärkere Aktivierung vorliegt als im peripheren Blut nachweisbar ist.
4.8
Geschlechtsspezifische Unterschiede der immunologischen Belastungsreaktion
Eine Reihe von Studien weist darauf hin, dass es geschlechtsbezogene Unterschiede in der immunologischen Belastungsreaktion gibt [78–80]. Es ist davon auszugehen, dass diese Unterschiede Auswirkungen auf die Anpassung des Körpers an Trainings- und Leistungsanforderungen haben. Die stringente Untersuchung dieser Unterschiede ist jedoch extrem komplex und wird deshalb in vielen Studien vermieden, beispielsweise sind orale Kontrazeptiva oder das Vorliegen einer belastungsassoziierten Amenorrhoe zu berücksichtigen. Aber auch wenn beides nicht vorliegt, wird oft von wesentlich größerer Streuung der Werte bei Frauen verglichen mit Männern berichtet. Unterschiede ließen sich u. a. in der Reaktion der NK-Zellen und bei Hitzeschockproteinen zeigen [78;80;81]. Als interessanter Nebenbefund, dessen Bedeutung bislang noch nicht klar ist, stellte sich dabei heraus, dass Frauen auf Kohlehydratzufuhr unter Belastung mit einem Anstieg von Adrenalin reagieren, während Männer gegenteilig reagieren [80]. Kürzlich wurde die Genexpression im peripheren Blut von Frauen nach Belastung zyklusabhängig untersucht. Es stellte sich heraus dass einige entzündungsassoziierte Genpfade am Tag 10 (follikuläre Phase) und am Tag 25 (luteale Phase) klar gegenläufig reguliert wurden [82]. Dies erklärt möglicherweise, warum bei Frauen oft in Untersuchungen große Schwankungsbreiten – aber Mittelwerte ähnlich wie bei Männern gefunden wurden. > In jedem Fall zeigt sich deutlich, dass alle Untersuchungen, die den Zyklus und damit assoziierte Bedingungen nicht adäquat einbeziehen, nur schlecht oder gar nicht interpretierbar sind.
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Kapitel 4 · Die Wirkung körperlicher Aktivität auf das Immunsystem
Hier gibt es noch eine Menge aufzuarbeiten – trotz oder gerade wegen der unbestreitbaren Komplexität der Materie.
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Zusammenfassung
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Körperliche Aktivität hat, abhängig von Art, Dauer und Intensität, deutliche Auswirkungen auf Marker und Funktionalität des Immunsystems. Während erschöpfende Ausdauerbelastungen eine transiente Immundefizienz mit der Folge vermehrter Infektanfälligkeit post Belastung nach sich ziehen können, hat chronische, einigermaßen moderate körperliche Aktivität den gegenteiligen Effekt und wirkt der Entstehung von Arteriosklerose und Insulinresistenz entgegen. Ursächlich wird heute die regelmäßige belastungsinduzierte Ausschüttung von IL-6 gesehen, dessen antiinflammatorisch-restauratives Wirkungsspektrum auf verschiedensten Wegen die chronisch niedriggradige systemische Entzündung (LGSI) eindämmt. Letztere ist mit Alter und Adipositas auf der einen Seite und Arteriosklerose und Insulinresistenz auf der anderen Seite vergesellschaftet. Sowohl klinische als auch In-vitroAnalysen der NK-Zellaktivität belegen, dass chronische moderate körperliche Aktivität die Entstehung von Tumoren (insbesondere hormonsensitiven Tumoren) oder aber Rezidive verhindern oder verzögern kann. Seit Kurzem wird auch klar, dass die immunologischen Reaktionen auf Belastung einer sehr deutlichen Modulation durch den weiblichen Zyklus unterliegen. Hier besteht ein klarer Bedarf für weitere Untersuchungen.
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Kapitel 4 · Die Wirkung körperlicher Aktivität auf das Immunsystem
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51 ·
Therapieformen 5
Bewegungstherapie bei Diabetes mellitus – 53 Wolf-Rüdiger Klare
6
Körperliche Aktivität als Therapiebestandteil bei Fettstoffwechselstörungen – 63 Aloys Berg, Daniel König
7
Sport und Bewegung in der Prävention und Therapie von Übergewicht und Adipositas im Kindesund Jugendalter – 77 Christine Graf, Sigrid Dordel, Benjamin Koch
8
Bewegungstherapie bei arterieller Hypertonie – 89 Hans-Georg Predel, Thomas Schramm
9
Bewegungstherapie bei Herzinsuffizienz – aktuelle Forschungsergebnisse – 97 Herbert Nägele
10
Bewegungstherapie bei koronarer Herzkrankheit – 115 David Niederseer, Josef Niebauer
11
Leistungsfähigkeit und Training bei Patienten nach Herz- oder Lungentransplantation – 143 Uwe Tegtbur, Elke Gützlaff, Martin W. Busse, Martin Dierich, Jens Gottlieb, Christoph Bara, Christiane Kugler, André Simon, Axel Haverich
12
Bewegungstherapie bei obstruktiven Atemwegserkrankungen 153 Andreas Meyer, Hans Jörg Baumann
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13
Effektivität von körperlichem Training zur Verbesserung motorischer Leistungen bei Patienten mit demenzieller Erkrankung – 167 Michael Schwenk, Andreas Lauenroth, Peter Oster, Klaus Hauer
14
Bewegungstherapie bei neurologischen Erkrankungen – 185 Carl D. Reimers, Anne K. Reimers
15
Bewegungstherapie bei psychischen Erkrankungen – 201 Andreas Broocks
16
Bewegung und Kognition – 211 Kirsten Hötting, Brigitte Röder
17
Bewegung und Krebs – 223 Lisa Pleyer, Andrea Kappacher, Sabine Rosenlechner, Richard Greil
53
Bewegungstherapie bei Diabetes mellitus Wolf-Rüdiger Klare
5.1
Typ-2-Diabetes: Begünstigt durch Übergewicht und Bewegungsmangel – 54
5.1.1 5.1.2
Statistische Entwicklung – 54 Insulinresistenz: Ein ehemals positives Phänomen verkehrt sich in sein Gegenteil – 55
5.2
Physiologische Wirkungen einer Bewegungstherapie bei Diabetes mellitus und assoziierten Störungen – 56
5.2.1 5.2.2
Bewegungstherapie bei Insulinresistenz – 56 Atheroskleroseprävention durch körperliches Training – 57
5.3
Durchführung eines Bewegungstrainings bei Diabetes mellitus – 58
5.3.1 5.3.2 5.3.3 5.3.4
Häufigkeit und Intensität – 58 Krafttraining – 59 Was kann der Hausarzt tun? Umdenken ist angesagt! – 59 DiSko – Wie Diabetiker zum Sport kommen – bringt Bewegung in die Schulung – 60
5.4
Zusammenfassung – 61
5
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Kapitel 5 · Bewegungstherapie bei Diabetes mellitus
Die Entstehung eines Diabetes mellitus Typ 2 wird auf vielfältige Weise durch Übergewicht bzw. Adipositas und Bewegungsmangel, die beide auch unabhängig voneinander eine Insulinresistenz hervorrufen, begünstigt. So beobachtet man in den letzten Jahren eine Zunahme der Prävalenzraten des Typ-2-Diabetes ebenso wie eine Zunahme von Personen mit starkem Übergewicht bzw. Adipositas. Als auslösende Faktoren sind hierbei Ernährungsfehler im Sinne einer zu hohen Kalorienzufuhr und – von großer Bedeutung – Bewegungsmangel zu nennen. Eine gezielte Bewegungstherapie ist somit als wesentlicher Therapiebestandteil von Patienten mit Diabetes mellitus Typ 2 zu fordern. In diesem Beitrag lesen Sie über: 4 die Prävalenz von Übergewicht und Diabetes mellitus Typ 2 in modernen Industriestaaten, 4 die pathophysiologischen Zusammenhänge zwischen Insulinresistenz, Diabetes mellitus und metabolischem Syndrom, 4 die physiologischen Einflüsse von Ausdauertraining auf Insulinresistenz und Atheroskleroseneigung, 4 praktische Empfehlungen zur Durchführung eines Bewegungsprogramms bei Typ-2-Diabetikern.
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5.1
Typ-2-Diabetes: Begünstigt durch Übergewicht und Bewegungsmangel
Die Prävalenz des Diabetes mellitus Typ 2 ist in den letzten Jahrzehnten weltweit dramatisch gestiegen. Derzeit sind in Deutschland mindestens 7 Millionen Menschen betroffen, Tendenz steigend (Hauner 2008). Besonders stark sind die Zuwachszahlen in den Schwellenländern, in denen sich die westliche Lebensweise gerade erst in großem Umfang zu etablieren beginnt, allen voran Indien und China. Auch dadurch wird klar: Der Diabetes mellitus Typ 2 ist eine klassische Zivilisationskrankheit. Zu den wichtigsten Risikofaktoren zählen hyperkalorische Ernährung und Bewegungsmangel.
5.1.1
Statistische Entwicklung
Sprach man früher von »Altersdiabetes«, so ist in jüngster Zeit zu beobachten, dass der Typ-2-Diabetes in immer jüngeren Jahren auftritt. Dieses Phänomen ist nicht anders als durch die veränderten Lebensbedingungen der letzten Jahrzehnte zu erklären. Ein wichtiges Kennzeichen dieser Entwicklung ist die Zunahme des Übergewichts in der Bevölkerung. Übergewicht entsteht, wenn dauerhaft mehr Kalorien zugeführt als verbraucht werden. In den letzten Jahrzehnten hat der Anteil der übergewichtigen Personen in Deutschland ständig zugenommen. Nach dem letzten Mikrozensus waren 2003 49 % der erwachsenen Bevölkerung ab 18 Jahren übergewichtig (BMI>25). Bei den Männern ist das gegenüber 1999 eine Steigerung um 2 % und bei den Frauen um 1 %. 13 % der Bevölkerung hatten starkes Übergewicht (BMI>30). Man schätzt, dass bereits etwa 20 % der Kinder und Jugendlichen in Deutschland übergewichtig sind. In England hat der Anteil der übergewichtigen Jugendlichen innerhalb von 10 Jahren von 5 auf 17 % zugenommen. Da in diesem Zeitraum kein Anstieg der Kalorienaufnahme zu verzeichnen war, muss das an einem Verlust an körperlicher Aktivität liegen. Nach einer Studie in Hessen verbringen Jugendliche durchschnittlich 18,6 Stunden pro Woche mit Fernsehen und Video-Konsum. Dazu kommen noch durchschnittlich 9,4 Stunden vor dem Computer. Zusammengenommen ergibt das 4 Stunden täglich! Während sich in Bezug auf das Ernährungsverhalten der Deutschen in den letzten Jahren durchaus positive Trends ausmachen lassen (der Fettanteil sinkt, es werden mehr Obst, Gemüse und Ballaststoffe konsumiert), nimmt die Zahl der körperlich Inaktiven bei den Menschen in den mittleren und höheren Altersklassen deutlich zu. Mehr als die Hälfte des Tages verbringen die Deutschen im Durchschnitt mit Schlafen und Sitzen. Im Berufsleben und im Haushalt sind körperliche Anstrengungen eher die Ausnahme. Wir können heute bequem innerhalb weniger Stunden ganze Kontinente überqueren, ohne uns körperlich anstrengen zu müssen. Selbst für kurze Distanzen wird häufig das Auto benutzt. Ein Ausgleich dieses eklatanten
55 5.1 · Typ-2-Diabetes: Begünstigt durch Übergewicht und Bewegungsmangel
Bewegungsmangels findet nur ganz unzureichend statt. Die Daten des Bundes-Gesundheitssurveys 1998 belegen, dass 43,8 % der Männer und 49,5 % der Frauen in Deutschland überhaupt keinen Sport in ihrer Freizeit betreiben. Die Empfehlung, mindestens an 3 Tagen pro Woche, besser täglich eine halbe Stunde körperlich so aktiv zu sein, dass man leicht ins Schwitzen gerät, erfüllen derzeit gerade einmal 13 % der Bevölkerung (Mensink 1999). k Der Mensch ist nicht an die Zivilisation angepasst
Die ganz überwiegende Zeitspanne der bekannten Menschheitsgeschichte hat der Mensch als Jäger und Sammler zugebracht. In dieser Periode hat sich seine körperliche Konstitution entwickelt. Die für diese Lebensweise günstigen Eigenschaften haben sich genetisch fixiert. Aus Untersuchungen an zeitgenössischen Naturvölkern wissen wir, dass bei dieser Lebensweise ein Bewegungspensum von 10–20 Kilometern täglich zum Überleben erforderlich war. Genetisch sind wir nach wie vor Jäger und Sammler, da sich in den letzten 30.000–40.000 Jahren das menschliche Erbgut nicht wesentlich verändert hat. Eine Anpassung an die erheblich veränderten Lebensbedingungen der letzten Jahrzehnte konnte nicht stattfinden. Der Mensch ist also an eine Lebensweise mit viel körperlicher Bewegung und ungesichertem Nahrungsangebot bestens angepasst. Die heutigen Lebensbedingungen sind aber durch das Gegenteil gekennzeichnet. Heute braucht der Mensch erheblich weniger Kalorien als früher. Auf diese Diskrepanz von körperlicher Bewegung und Kalorienzufuhr reagiert der Körper mit der Anlage von Fettpolstern. Übergewicht wird so zu einem verbreiteten Merkmal der Wohlstandsgesellschaft. Übergewicht und Bewegungsmangel wiederum führen zu Insulinresistenz.
5.1.2
Insulinresistenz: Ein ehemals positives Phänomen verkehrt sich in sein Gegenteil
Insulinresistenz bedeutet, dass die Insulinwirkung im Körper gestört ist. Es ist also eine größere Insulinmenge erforderlich, um eine definierte Men-
5
ge Glukose aus dem Blut in die insulinabhängigen Gewebe (v. a. die Skelettmuskulatur) einzuschleusen. In bestimmten Situationen, z. B. beim Fasten, bei Hypoglykämien oder im Rahmen schwerer Erkrankungen oder Operationen, ist dieser hormonelle Anpassungsmechanismus durchaus sinnvoll, denn dadurch kann der nur begrenzt vorhandene Brennstoff Glukose für die unmittelbar auf Glukose angewiesenen Organe (Gehirn, Erythrozyten) reserviert werden. Der Einstrom von Glukose in die Muskulatur und ins Fettgewebe wird behindert, im Gegenzug wird die Lipolyse gefördert und so werden der Muskulatur vermehrt Fettsäuren als Alternative für die Energiegewinnung zur Verfügung gestellt. In der Entwicklungsgeschichte des Menschen, in der Hungerperioden an der Tagesordnung waren, könnte das Phänomen Insulinresistenz somit für das Überleben von Vorteil gewesen sein. Es ist daher verständlich, dass es sich genetisch stark verbreitet hat (»thrifty genotype«). Wenn aber Übergewicht und Bewegungsmangel die Insulinresistenz zum Dauerzustand machen, werden die Insulin produzierenden Betazellen des Pankreas einem Dauerstress ausgesetzt und müssen erheblich mehr Insulin bereitstellen. Erhöhte Blutspiegel freier Fettsäuren haben zusätzlich eine negative Wirkung auf die Betazellen (Lipotoxizität). Bei vorhandener genetischer Prädisposition kommt es dadurch zum progredienten Betazellverlust und über das Zwischenstadium der gestörten Glukosetoleranz schließlich zur Diabetesmanifestation.
Pathophysiologie der peripheren Insulinresistenz Vor allem das Verhältnis von abdominellem zu subkutanem Fettgewebe ist für die Entwicklung der Insulinresistenz und damit des Diabetes mellitus Typ 2 entscheidend. Bei den betroffenen Personen ist die Stoffwechselregulation des metabolisch hoch aktiven abdominellen Fettgewebes gestört. Die hypertrophierten abdominellen Adipozyten haben eine geringere Kapazität zur Fettaufnahme und weisen eine erhöhte Lipolyserate auf. In Kombination mit einer gesteigerten hepatischen Lipogenese, VLDL-Synthese und -Sekretion steigen die Spiegel zirkulierender triglyzeridreicher Lipoproteine und freier Fettsäuren (FFS) im Blut an. Wegen der ver-
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Kapitel 5 · Bewegungstherapie bei Diabetes mellitus
minderten Fettaufnahmekapazität der abdominellen Adipozyten werden nun vermehrt Fettsäuren in ihrer Speicherform als Triglyzeride auch in extraadipozytären Organen abgelagert. Bioptisch und mittels Magnetresonanz-Spektroskopie ist bei Personen mit Insulinresistenz und Diabetes mellitus Typ 2 ein erhöhter intramuskulärer Triglyzeridgehalt eindeutig nachgewiesen (Bachmann et al. 2001, Perseghin et al. 1999). Auch bei hoch trainierten Ausdauersportlern finden sich in der Muskulatur vergrößerte Fett-bzw. Triglyzeridspeicher. Diese sind aber in unmittelbarer Nähe zu ihrer »Zielorganelle«, den Mitochondrien angeordnet. Damit unterliegen sie dem ständigen metabolischen Austausch. Im Gegensatz dazu lassen sich die Fettspeicher von Personen mit Insulinresistenz und Diabetes mellitus Typ 2 vorwiegend in der Zellperipherie der Muskelzelle nachweisen. Die Fettoxidation ist hier deutlich reduziert und die Muskelzelle ist auf Speicherung und Reesterifizierung von Fettsäuren statt auf oxidative Phosphorylierung ausgerichtet. Die hypertrophierten abdominellen Adipozyten produzieren vermehrt zahlreiche Zytokine, die einerseits zusätzlich zu dem geschilderten Mechanismus die Insulinwirkung an der Zielzelle behindern (z. B. TNFα) und andererseits atherosklerotische Prozesse fördern (Interleukin-6, PAI-1). Das die Insulinsensitivität steigernde Adiponectin wird vermindert produziert.
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Das metabolische Syndrom als Bündel kardiovaskulärer Risikofaktoren
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Mit der Insulinresistenz und dem manifesten Diabetes mellitus Typ 2 assoziiert, findet sich häufig ein ganzes Bündel weiterer Befunde, die als metabolisches Syndrom zusammengefasst werden: arterielle Hypertonie, Hypertriglyzeridämie, erniedrigtes HDL, Übergewicht. Diese Häufung kardiovaskulärer Risikofaktoren erklärt die erhöhte Herzinfarktund Schlaganfallrate von Typ-2-Diabetikern und ihre statistisch um mehrere Jahre verkürzte Lebenserwartung. 75 % der Diabetiker sterben vorzeitig an diesen Erkrankungen Die Vorbeugung und Behandlung des Typ-2-Diabetes muss daher v. a. diese Komplikationen im Visier haben.
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5.2
Physiologische Wirkungen einer Bewegungstherapie bei Diabetes mellitus und assoziierten Störungen
5.2.1
Bewegungstherapie bei Insulinresistenz
Durch Verhaltensänderungen kann das Ausmaß der Insulinresistenz nachhaltig beeinflusst werden. Dazu muss das Ungleichgewicht von Kalorienzufuhr und Kalorienverbrauch möglichst beseitigt werden. Die wesentliche Änderung der Lebensumstände der letzten Jahrzehnte ist nicht die Überernährung, viel deutlicher fällt ein eklatanter Rückgang des Bewegungsumfangs der Durchschnittsbevölkerung ins Gewicht. Folglich sollte v. a. hier angesetzt werden, zumal mit Diäten allein nur bei einem sehr kleinen Prozentsatz der Betroffenen langfristige Erfolge erzielt werden können. k Körperliche Aktivität verbessert nachhaltig die Insulinwirkung
Durch regelmäßiges Ausdauertraining kommt es zu zahlreichen Anpassungen in der Skelettmuskulatur. In den Muskelzellen werden vermehrt Glukosetransporter (GLUT-4) aktiviert, außerdem werden vermehrt Enzyme der Glukoseoxidation und der Glukosespeicherung bereitgestellt (. Abb. 5.1, mod. nach Martin Halle, München). Beides erhöht die Fähigkeit der Muskelzelle zur Glukoseaufnahme. Die kontraktile Aktivität der Muskulatur führt darüber hinaus – auch unabhängig von Insulin – zu einer gesteigerten GLUT-4-Translokation (Jessen u. Goodyear 2005). Weiterhin kann am trainierten Muskel eine Zunahme der Kapillardichte um bis zu 20 % beobachtet werden. Auch dadurch wird die Insulinwirkung gesteigert. Ein weiterer Mechanismus der Verbesserung der Insulinwirkung durch Bewegung ist die nachgewiesene Verminderung von intramyozellulären Fetteinlagerungen durch Bewegung (Bruce et al. 2004). Große Interventionsstudien mit Personen mit gestörter Glukosetoleranz haben gezeigt, dass durch einen aktiven Lebensstil mit moderater Bewegung eine echte Prävention des Typ-2-Diabetes möglich ist (Tuomiletho et al. 2001, Knowler et al. 2002). Dass sich auch bei manifestem Typ-2-Diabetes die
57 5.2 · Physiologische Wirkungen einer Bewegungstherapie bei Diabetes mellitus
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. Abb. 5.1 Von körperlicher Aktivität beeinflusste Muskelenzymsysteme. Die mit einem Stern gekennzeichneten Enzyme des transmembranösen Glukosetransports und des zellulären Glukosemetabolismus werden nach regelmäßigem Ausdauertraining vermehrt aktiviert. GLUT-4 Glukosetransporter 4, IRS-1 Insulin-Rezeptorsubstrat 1, PI-3-Kinase Phosphatidylinositol3-Kinase
Blutzuckereinstellung durch Bewegung nachhaltig verbessern lässt, hat Boule in einer Metaanalyse von 12 kontrollierten Studien (durchschnittliche Beobachtungszeit 8 Monate) gezeigt: Regelmäßiges körperliches Training im aeroben Bereich (3bis 4-mal/Woche) kann den HbA1c-Wert (Hämoglobin-A1c-Wert) um gut 0,66 % (7,65 vs. 8,31 %; entsprechend einer Senkung des Blutglukosespiegels um 20 mg/dl) senken. Diese Verbesserung der Stoffwechsellage wurde erreicht, obwohl es bei den Studienteilnehmern nicht zu einer Gewichtsabnahme kam (Boule et al. 2001). Damit ist regelmäßige körperliche Aktivität zusammen mit der Bemühung um Gewichtsreduktion eine kausale Therapie des Diabetes mellitus Typ 2.
5.2.2
Atheroskleroseprävention durch körperliches Training
Regelmäßige Bewegung wirkt auf vielfältige Weise der Atherosklerose entgegen: 4 Körperliche Aktivität fördert Gewichtsabnahme und Gewichtsstabilisierung. Insbesondere das metabolisch hoch aktive abdominelle Fett wird reduziert (Wing 2002).Kein seriöses Gewichtsabnahmeprogramm kommt daher ohne eine Bewegungskomponente aus. 4 Durch aerobes Ausdauertraining lässt sich eine signifikante Blutdrucksenkung erreichen (Fagard 2001). 4 Körperliche Aktivität verbessert das Lipidprofil, insbesondere werden erhöhte Triglyzeridspiegel nachhaltig gesenkt (Di Loreto et al. 2005). 4 Die fibrinolytische Aktivität ist bei Typ-2-Diabetes häufig gestört. Auf der anderen Seite gibt
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Kapitel 5 · Bewegungstherapie bei Diabetes mellitus
es eine Assoziation zwischen aerober Fitness und Fibrinolyse. 4 Die endotheliale Dysfunktion ist ein häufiges Phänomen bei Typ-2-Diabetes. Hier handelt es sich um eine verminderte Bereitstellung von Stickoxid (NO). Dieser Mangel wirkt proatherogen und beeinträchtigt die koronare Mikrozirkulation, ein atherogener Effekt, der durch körperliches Ausdauertraining normalisiert werden kann. 4 Körperliche Aktivität hat einen antiinflammatorischen Effekt. Da nach heutiger Kenntnis die Atherosklerose u. a. von subklinisch erhöhten CRP-Werten begleitet ist, wird nachvollziehbar, dass auch in diesem Punkt Bewegung stabilisierend auf atherosklerotische Gefäßveränderungen wirkt (Steward 2002) (7 Kap. 4). »Lieber fett und fit als schlank und schlapp!« Dieser etwas provozierende Slogan hat seinen Ursprung in einer großen epidemiologischen Studie von Steven Blair, der zeigen konnte, dass eine gute kardio-respiratorische Fitness mit einer geringeren Mortalität korreliert ist und dass dabei das Körpergewicht der Probanden fast keine Rolle spielt. Im Gegenteil: Übergewichtige Personen mit guter Fitness hatten ein geringeres Sterblichkeitsrisiko als Normalgewichtige mit schlechter körperlicher Leistungsfähigkeit (Blair et al. 1998).
5.3
Durchführung eines Bewegungstrainings bei Diabetes mellitus
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5.3.1
Häufigkeit und Intensität
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Die positiven metabolischen Effekte von körperlichem Training auf den muskulären Glukosestoffwechsel halten nur maximal 48 Stunden an. Trotzdem kann bereits durch eine einmalige gezielte intensive körperliche Aktivität pro Woche im Sinne von »Sporttreiben« das Risiko einer Diabetesmanifestation bei gefährdeten Personen gesenkt werden (Manson et al. 1992). Dazu ist es erforderlich, dass man sich mindestens 20 Minuten pro Woche so intensiv belastet, dass man ins Schwitzen kommt.
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Ca. 10 km Walking pro Woche war der durchschnittliche Bewegungsumfang, der in Kombination mit einer Ernährungsumstellung bei übergewichtigen Personen mit gestörter Glukosetoleranz in einem Zeitraum von 3 Jahren das absolute Risiko einer Diabetesmanifestation um 15 % reduzierte. Das entspricht einer NNT (»number needed to treat«) von 7 (Knowler et al. 2002). Gute körperliche Fitness ist bei Männern mit Typ-2-Diabetes mit einer geringeren Mortaliät korreliert, wenn mindestens 2 Stunden pro Woche körperliche Aktivitäten mit Schwitzen absolviert werden (Lynch et al. 1996). Die Arbeitsgruppe um De Feo (Perugia) konnte kürzlich in einer kontrollierten randomisierten Langzeitstudie zeigen, dass ab einem Bewegungsumfang von täglich einer halben Stunde zügigem Gehen (4 km/h) bei Typ-2-Diabetikern signifikante Veränderungen bei wesentlichen Parametern des metabolischen Syndroms zu verzeichnen waren: Absenkung des HbA1c um durchschnittlich 0,4 %, Rückgang erhöhter Blutdruckwerte, Anstieg des HDL um 5 %, Abfall erhöhter Triglyzeridwerte um 20 %. Gleichzeitig wurden Medikamentenkosten in Höhe von 288,00 $ pro Patient jährlich eingespart (. Tab. 5.1, mod. nach Di Loreto et al. 2005). Diese Effekte wurden erzielt, obwohl das Gewicht sich nicht veränderte (Di Loreto et al. 2005). Dies verdeutlicht, dass der BMI als Beurteilungskriterium für eine Lebensstiländerung nur bedingt tauglich ist, da er die Veränderung der Körperkomposition im Rahmen körperlicher Aktivität nur unzureichend widerspiegelt. Was die Intensität angeht, gilt eine einfache Regel: Wichtig ist, dass man im aeroben Bereich »trainiert«, d. h. dem Organismus muss immer genug Sauerstoff zur Glukose- und Fettverbrennung zur Verfügung stehen. Das ist gewährleistet, wenn nicht mehr als ca. 75 % der maximalen Herzfrequenz abgerufen werden. Niedrigere Belastungsstufen sind bei den meist älteren, übergewichtigen und bewegungsunerfahrenen Typ-2-Diabetikern zumindest zu Beginn des Bewegungsprogramms sinnvoll, um Überlastungen zu vermeiden (. Tab. 5.2). Auf der anderen Seite muss aber eine Reizschwelle von 30 % der maximalen Herzfrequenz überschritten werden, wenn Anpassungsprozesse im Stoffwechsel und im Herz-Kreislauf-
59 5.3 · Durchführung eines Bewegungstrainings bei Diabetes mellitus
. Tab. 5.1 Änderung wesentlicher Stoffwechselund Kreislaufparameter sowie der jährlichen Behandlungskosten durch täglich eine halbe Stunde zügiges Gehen (4 km/h) bei Typ-2-Diabetikern innerhalb von 2 Jahren Beobachtungsdauer Basal
Änderung
HbA1c [%]
7,7±0,2
–0,4±0,1
RRsyst. [mm Hg]
143±3
–6,4±2,4
RRdiast. [mm Hg]
85±1
–2,9±1,6
Cholesterin [mmol/l]
5,6±0,2
–0,3±0,1
Triglyzeride [mmol/l]
2,4±0,1
–0,5±0,1
10-JahresKHK-Risiko [%]
22,5±1,6
–2,6±0,6
Kosten ($)
2.471
–288
. Tab. 5.2 zen
Altersabhängige Trainingsherzfrequen-
Alter
Idealer Trainingspuls (ca. 60–75 % der maximalen Herzfrequenz)
70
90–120
60
95–125
50
100–130
40
105–145
System stattfinden sollen. Diese Intensitäten werden bei den Belastungen im Haushalt oder am Arbeitsplatz meist nicht erreicht. Die Belastungssteuerung erfolgt am besten anhand der Herzfrequenz. Bei Einnahme bradykardisierender Medikamente (z. B. Betablocker) versagt diese Methode jedoch. Außerdem kann nicht jeder seinen Puls sicher tasten. Alternativ empfiehlt es sich, darauf zu achten, dass man nicht kurzatmig wird, man muss sich noch unterhalten können (»laufen ohne zu schnaufen«).
5
> Bei diesen Vorgaben sollte beachtet werden, dass es sich lediglich um eine grobe Orientierung handelt und dass die individuell günstigsten Herzfrequenzen im Einzelfall davon deutlich abweichen können.
5.3.2
Krafttraining
Kraftausdauertraining verbessert nachhaltig die glykämische Stoffwechsellage und hat vergleichbare blutzuckersenkende Effekte wie aerobes Ausdauertraining. Sigal et al. haben die Ergebnisse von 7 kontrollierten Studien dargestellt, die den Einfluss von Kraftausdauertraining auf die Blutzuckerregulation untersucht haben. Im Schnitt wurden 3,5 Trainingseinheiten/Woche über 14 Wochen bei 55 % der Maximalkraft absolviert. Es handelte sich durchschnittlich um 6 Kraftausdauerübungen für den Oberkörper und 5 für die untere Extremität. Dies führte zu einer Absenkung des HbA1c um 0,83 % (Sigal et al. 2004). Daraus leitet die Amerikanische Diabetesgesellschaft (ADA) folgende Empfehlung ab: mindestens 3-mal pro Woche Kraftausdauertraining unter Einbeziehung aller großen Muskelgruppen (3 Durchgänge mit 8–10 Wiederholungen mit submaximaler Intensität).
5.3.3
Was kann der Hausarzt tun? Umdenken ist angesagt!
Jeder, der Typ-2-Diabetiker betreut, weiß, dass das Hauptproblem darin besteht, die oben angeführten Empfehlungen wirklich in die Tat umzusetzen. Hier spielt der Hausarzt eine Schlüsselrolle. Er ist für Typ-2-Diabetiker die wichtigste Beratungsinstanz. Deshalb ist es von entscheidender Bedeutung, wie nachdrücklich er dem Patienten einen aktiven Lebensstil nahebringt. Motivation zu mehr Bewegung und praktische Anleitung zur Umsetzung im Alltag sollten im Zentrum der ärztlichen Beratung und der Diabetikerschulung stehen. »Bewegung gehört zur Körperhygiene wie das Zähneputzen«, so könnte die Devise lauten. Überzeugend kann das natürlich nur von einem Arzt vertreten werden, der diese Devise selbst lebt! Es erscheint daher
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Kapitel 5 · Bewegungstherapie bei Diabetes mellitus
durchaus sinnvoll, sich einmal die eigenen Lebensgewohnheiten kritisch anzuschauen. Das gilt natürlich in gleichem Maße für das Praxis- und Schulungsteam. Auch hier gilt: Das positive Beispiel überzeugt am besten. In der oben zitierten Studie aus der Arbeitsgruppe um Di Feo konnte gezeigt werden, dass die konsequente ärztliche Beratung im Rahmen der regelmäßigen Sprechstunde hoch effektiv ist. Die wiederholte Beratung im Rahmen der Sprechstunde hatte zur Folge, dass zwei Drittel der Patienten die gewünschte Steigerung des Bewegungsumfangs über 2 Jahre wirklich beibehalten haben (Di Loreto 2005). Die strukturierten Beratungsgespräche haben folgende Aspekte abgedeckt: 4 Motivation: Die Vorteile von körperlicher Aktivität wurden erläutert. 4 Selbstwirksamkeit: Mit den Patienten wurde ein »Trainingsprogramm« in kleinen Schritten geplant, das schnell kleine Erfolge ermöglichte. 4 Spaßfaktor: Es wurde eine Auswahl von 2 bis 3 verschiedenen attraktiven Bewegungsformen angeboten. 4 Unterstützung: Familienangehörige wurden zum Mitmachen aufgefordert. 4 Umgang mit Hindernissen: Mit den Patienten wurde ernsthaft darüber gesprochen, wie vermeintliche Hindernisse beseitigt werden können. 4 Tagebuch: Die Patienten wurden aufgefordert, Art und Umfang der Aktivität zu notieren. Dies zeigt also, dass das ärztliche Gespräch – wenn es strukturiert geführt wird – eine Änderung des Bewegungsverhaltens von Typ-2-Diabetikern bewirken kann. Hier sollte daher ein Schwerpunkt der ärztlichen Intervention liegen. Statt eines weiteren Medikaments (z. B. eines Insulinsensitizers) kann man zusätzlich den täglichen Spaziergang auch auf Rezept verordnen und bei jedem Arztkontakt überprüfen, ob das »Medikament« wirklich angewandt wird. Entscheidend ist, dass der Arzt immer wieder auf das Thema zu sprechen kommt. Eine solche ärztliche Verordnung hat außerdem den nicht zu unterschätzenden Nebeneffekt, dass sie als Legitimation gegenüber Personen im Familien- oder Bekanntenkreis dienen kann, die der Sache kritisch gegenüberstehen.
Zur Selbstkontrolle und Motivation haben sich Schrittzähler als sehr sinnvoll erwiesen. Wer sich so ein kleines Gerät an den Gürtel steckt, kann täglich überprüfen, ob der gewünschte Bewegungsumfang erreicht wird. Ideal wäre ein Konto von 10.000 Schritten pro Tag. Ein kleiner Vorrat solcher Geräte zum Ausleihen sollte in jeder Praxis vorhanden sein.
5.3.4
DiSko – Wie Diabetiker zum Sport kommen – bringt Bewegung in die Schulung
Die strukturierte Schulung ist die Basis jeder Diabetestherapie. Leider gehen die vorhandenen Schulungsprogramme bisher einseitig nur darauf ein, das Essverhalten der Patienten zu verändern. Die DiSko-Projektguppe der Arbeitsgemeinschaft »Diabetes & Sport« der Deutschen Diabetesgesellschaft (DDG) hat daher in Zusammenarbeit mit dem Verband der Diabetesberatungs- und -schulungsberufe (VDBD) eine zusätzliche Schulungseinheit »Bewegung« entwickelt, die in alle Schulungsprogramme als zusätzliche Stunde eingefügt werden kann. Im Rahmen dieser Schulungsstunde unternehmen die Teilnehmer einen halbstündigen Spaziergang unter Leitung der Schulungskraft. Vorher und nachher werden Blutzucker und Puls gemessen. Anhand der gemachten Erfahrungen (es werden Blutzuckerabsenkungen von durchschnittlich 60 mg/dl erreicht) wird dann gemeinsam besprochen, was diese Erfahrungen in Zukunft für den Alltag der Schulungsteilnehmer bedeuten. Die Stunde endet damit, dass jeder Teilnehmer für sich schriftlich individuelle Ziele formuliert, deren Umsetzung dann in der Folge in der Sprechstunde gemeinsam mit dem Hausarzt überprüft werden können. Die kürzlich abgeschlossene Einjahres-Evaluation mit 92 Teilnehmern aus 11 Praxen hat gezeigt, dass diese einmalige Intervention geeignet ist, das Aktivitätsniveau im Alltag nachhaltig zu steigern und dadurch die körperliche Leistungsfähigkeit messbar zu verbessern. Außerdem haben die Teilnehmer durchschnittlich 1,5 kg an Gewicht verloren (Siegrist 2007). Dieses Bewegungsmodul sollte daher überall in die Schulung integriert werden
61 5.4 · Zusammenfassung
(weitere Informationen unter www.diabetes-sport. de). > Jeder Arzt, der Diabetiker betreut, sollte seinen Patienten angemessene Bewegungsangebote vermitteln können. Das können Diabetes-Rehasportgruppen, (Nordic-)Walkingtreffs, Gymnastikgruppen oder Fitness-Studios sein. Hier ist eine Vernetzung mit geeigneten Anbietern vor Ort (Sportvereine, Selbsthilfegruppen, Fitnessstudios, Krankenkassen) von zentraler Bedeutung.
5.4
Zusammenfassung
Literatur 1
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3
4
5 6
Die Prävalenz des Diabetes mellitus Typ 2 ist in den letzten Jahren weltweit stark gestiegen, ein Ende dieser Entwicklung zeichnet sich noch nicht ab. Gleichzeitig beobachtet man eine starke Zunahme von Übergewicht und Adipositas, bedingt durch übermäßige Kalorienzufuhr und durch Bewegungsmangel. Letzterem Faktor kommt dabei besondere Bedeutung zu. Durch das starke Übergewicht, besonders mit vermehrtem abdominellem Fettgewebe, entsteht eine Insulinresistenz mit der langfristigen Folge der Ausprägung eines Diabetes mellitus Typ 2. Das Ausmaß dieser Insulinresistenz kann durch Lebensstiländerungen mit verminderter Kalorienzufuhr und besonders vermehrter Bewegung nachhaltig beeinflusst werden. Verschiedene Studien haben gezeigt, dass regelmäßiges Ausdauertraining es zu zahlreichen Anpassungen im Glukosestoffwechsel der Skelettmuskulatur führt. So wird bei Personen mit gestörter Glukosetoleranz durch regelmäßiges Training eine präventive Wirkung gegen Diabetes-mellitus-Manifestation beobachtet; ist der Diabetes bereits manifest, kann eine gezielte Bewegungstherapie die Insulineinstellung deutlich verbessern. Es wird daher gefordert, dass die Verordnung einer individuell angepassten Bewegungstherapie Teil der Behandlung von Typ-2Diabetikern sein sollte und dass Informationen zu diesem Thema in die entsprechenden Schulungsprogramme für Diabetiker aufgenommen werden sollten.
5
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Kapitel 5 · Bewegungstherapie bei Diabetes mellitus
18 Wing R. R.: Exercise and weight control. In Handbook of Exercise in Diabetes. 2. Aufl. American Diabetes Association (2002) S. 355–36
63
Körperliche Aktivität als Therapiebestandteil bei Fettstoffwechselstörungen Aloys Berg, Daniel König
6.1
Zur Situation – 64
6.2
Definition, Vorkommen und klinische Relevanz von Fettstoffwechselstörungen – 64
6.3
Grundsätzliche Therapieansätze bei Fettstoffwechselstörungen – 66
6.4
Die therapeutischen Prinzipien der körperlichen Aktivität – 67
6.5
Die praktische Umsetzung der körperlichen Aktivität – 71
6.6
Erfahrungen und Beispiele zur Effektivität der therapeutischen Wirkung körperlicher Aktivität – 72
6.6.1 6.6.2
Effekte auf Gesamt- und LDL-Cholesterin – 72 Effekte am HDL-Cholesterin und an den Triglyzeriden – 72
6.7
Zusammenfassung – 75
6
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Kapitel 6 · Körperliche Aktivität als Therapiebestandteil bei Fettstoffwechselstörungen
Fettstoffwechselstörungen gehören in den westlich orientierten Industrienationen heute zu den am weitesten verbreiteten Erkrankungen. Sie werden oft von Übergewicht und einem ungesunden Lebensstil begleitet; in den meisten Fällen haben sie atherosklerotische Erkrankungen und deren klinische Endpunkte zur Folge. Welche Bedeutung Sport und Bewegung in der Therapie dieser Störungen zukommt, beschreibt der folgende Beitrag. In diesem Beitrag lesen Sie über: 4 Definition, Epidemiologie und klinische Relevanz von Fettstoffwechselstörungen, 4 unterschiedliche Therapieansätze, 4 die therapeutischen Prinzipien körperlicher Aktivität, 4 Erfahrungen zur Effektivität sporttherapeutischer Therapieansätze.
6.1
Zur Situation
Die Häufigkeit erworbener Fettstoffwechselstörungen hat in den vergangenen Jahrzehnten in Deutschland wie auch den anderen Ländern mit typisch westlichem Lebensstil dramatisch zugenommen. So zählen Fettstoffwechselstörungen, phänotypisch charakterisiert vor allem als kombinierte Dyslipoproteinämie mit Hypertriglyzeridämie und erniedrigtem HDL-Cholesterin, zu den Wohlstandserkrankungen erster Ordnung. Ausgelöst werden sie durch Ernährungsfehler und körperliche Inaktivität als metabolische Reaktion auf Übergewicht und Adipositas. Aktuelle Empfehlungen nationaler wie internationaler Fachgesellschaften beinhalten zur Therapie bei Fettstoffwechselstörungen daher als wichtigen Baustein immer auch therapeutische Lebensstiländerung (Therapeutic Lifestyle Changes, TLC). Sport und Bewegung werden als Gesundheitsfaktor in unserer Bevölkerung nach wie vor nur unzureichend genutzt. Bereits nach dem 30. Lebensjahr sinkt das Ausmaß der Freizeitaktivität stark ab. Dies ist umso enttäuschender, als in den vergangenen Jahren große kontrollierte Studien die positiven Effekte des Lebensstils, hier über körperliche Aktivität und Ernährung in der Prävention von Herz-Kreislauf- und Stoffwechselerkrankungen, eindrucksvoll aufgezeigt haben. Aktuelle Meta-
analysen haben zudem auch die Bedeutung körperlicher Aktivität als alleinige Interventionsgröße in der Therapie des manifesten Typ-2-Diabetes mellitus (T2DM) belegt. Besonders deutlich zeigt sich die krank machende Wirkung eines ungesunden Lebensstils bei Ausprägung von Übergewicht und Adipositas. So war bei einer Untersuchung von annähernd 17.000 Personen bei Vorliegen einer moderaten Adipositas (Body-Mass-Index/ BMI 30–34,9) im Vergleich zu Normalgewichtigen (BMI 18,5–24,9) die Prävalenz des T2DM bereits verfünffacht, der Hypertonie mehr als verdoppelt und der Dyslipoproteinämie um mehr als 30 % erhöht. Welche Bedeutung Sport und Bewegung in der Therapie von Fettstoffwechselstörungen, die in den meisten Fällen chronische Erkrankungen und deren klinische Endpunkte zur Folge haben, besitzen und über welche Anpassungen diese erklärt werden können, soll in der folgenden Übersicht vermittelt werden. Einführend wird zunächst auch auf die klinische Relevanz und grundsätzliche Therapienotwendigkeit von Fettstoffwechselstörungen eingegangen. Für eine vertiefende Einsicht in die komplexe Thematik der Biochemie und Pathophysiologie des Lipoproteinstoffwechsels und der Fettstoffwechselstörungen möchten wir allerdings auf weiterführende Übersichten und Fachbücher verweisen.
6.2
Definition, Vorkommen und klinische Relevanz von Fettstoffwechselstörungen
Fettstoffwechselstörungen äußern sich üblicherweise als Dyslipoproteinämien und sind somit als Konzentrations- und/oder Kompositionsveränderung in einer oder mehreren Lipoproteinklassen im Plasma gekennzeichnet sind. Dabei können die verschiedenen Lipoproteinklassen isoliert oder gemischt betroffen sein. Zu unterscheiden sind Veränderungen der 4 Chylomikronen 4 Very-Low-Density Lipoproteine (VLDL) 4 Low-Density Lipoproteine (LDL) 4 High-Density Lipoproteine (HDL).
6
65 6.2 · Definition, Vorkommen und klinische Relevanz von Fettstoffwechselstörungen
Fettstoffwechselstörungen zeigen unabhängig von der Diagnose atherosklerotischer Systemerkrankungen wie der koronaren Herzkrankheit (KHK) oder der peripheren arteriellen Verschlusskrankheit (PaVK) zunächst das erhöhte Risiko für eine solche Erkrankung an. Der Zusammenhang zwischen Fettstoffwechselstörungen und Herz-Kreislauf-Erkrankungen ist allerdings evident; so sind Fettstoffwechselstörungen an der Entwicklung von atherogenen Entzündungsprozessen der Blutgefäße ursächlich beteiligt. Primäres Ziel zur Verringerung des kardiovaskulären Risikos stellt das LDL-Cholesterin dar; je nach Risikokategorie des Betroffenen (niedriges, mittleres und hohes Risiko) werden hier Zielwerte von weniger als 160 mg/dl bzw. 130 mg/ dl oder 100 mg/dl angesetzt. Aber auch die Triglyzeride und das HDL-Cholesterin sind als therapiebedürftige Komponenten einer Dyslipoproteinämie anzusehen und sollten entsprechend korrigiert werden. So werden Zielwerte für das HDL-Cholesterin über 40 mg/dl und für die Triglyzeride von weniger als 200 mg/dl bzw. 150 mg/dl bei T2DM und metabolischem Syndrom angestrebt. Fettstoffwechselstörungen können primäre und/oder sekundäre Ursachen haben. Vor der Diagnose von primären Fettstoffwechselstörungen müssen daher sekundäre Formen, d. h. Fettstoffwechselstörungen in Begleitung von lebensstilinduzierten Erkrankungen wie Übergewicht und Diabetes mellitus, aber auch Nieren-, Leber- und Schilddrüsen-Erkrankungen sowie unter medikamentöser Therapie ausgeschlossen werden. Obschon Lebensstiländerungen bei allen Formen von Fettstoffwechselstörungen zum Grundkonzept der Therapie gehören, sind es vor allem die sekundären Fettstoffwechselstörungen und hier die Dyslipoproteinämie beim T2DM und metabolischen Syndrom, die von der körperlichen Aktivität als Therapiebestandteil im besonderen Maße profitieren. Erst wenn nach Beseitigung der sekundären Ursachen und nach Ausschöpfung aller nichtmedikamentösen Maßnahmen wie Ernährungsumstellung, Steigerung der Freizeitaktivität und Gewichtsreduktion die therapeutisch vorgesehenen Zielwerte nicht erreicht werden, ist eine medikamentöse Therapie in Betracht zu ziehen. Das LDL-Cholesterin stellt dabei zwar den wichtigsten modifizierbaren Risikofaktor dar, jedoch sollte stets eine globale Risikoein-
. Tab. 6.1 Lipide und Dyslipoproteinämien: Dyslipoproteinämien bei Patienten mit vorzeitiger KHK (aus Winkler et al. 2007) Art der Dyslipoproteinämie
Relative Häufigkeit [%]
Hypertriglyzeridämie und niedriges HDL
14,5
Kombinierte HLP und niedriges HDL
12,5
Niedriges HDL
7,0
Kombinierte HLP
5,0
Hypertriglyzeridämie
3,0
Hyper-LDL-Cholesterinämie und niedriges HDL
2,0
Hyper-LDL-Cholesterinämie
1,0
HDL High-Density Lipoproteine, HLP Hyperlipoproteinämie, KHK koronare Herzkrankheit, LDL Low-Density Lipoproteine
schätzung vorgenommen werden, zu der auch weitere Faktoren (Alter, Geschlecht, Rauchen, HDLCholesterin, Triglyzeride, Blutdruck, Diabetes, KHK-Diagnostik, Carotismorphologie, Familienanamnese) erfasst werden. Das globale Risiko wird heute als 10-Jahres-Risiko über epidemiologisch gesicherte Algorithmen, für die deutsche Bevölkerung üblicherweise nach dem PROCAM-Score, berechnet. Leider gehen allerdings Lebensstilfaktoren, so die Freizeitaktivität, nicht in die benutzten Algorithmen und deren Risikoabschätzung ein. Auch wenn die Erhöhung des LDL-Cholesterins mit einer deutlichen und gesicherten Erhöhung des kardiovaskulären Risikos einhergeht, dominiert bei Patienten mit vorzeitiger KHK mittlerweile eine Dyslipoproteinämie mit erhöhten Triglyzeriden und erniedrigtem HDL-Cholesterin. Es ist anzunehmen, dass sich hinter diesem Typ der Dyslipoproteinämie der atherogene Phänotyp mit gleichzeitig erhöhtem small dense LDL verbirgt. Dieser Lipoprotein-Phänotyp tritt im mittleren Lebensalter und bei ungünstigem Lebensstil vermehrt auf und ist mit der Erhöhung einer laborchemisch nur schwer zugänglichen, aber besonders atherogenen Subklasse der LDL verbunden. Die klassische, isolierte LDL-Hypercholesterinämie weist zwar das statistisch höchste KHK-Risiko auf, ist aber längst
66
1 2 3 4 5
Kapitel 6 · Körperliche Aktivität als Therapiebestandteil bei Fettstoffwechselstörungen
nicht mehr so häufig wie vor Einführung der Statine als effiziente Cholesterin-Synthese-Inhibitoren (. Tab. 6.1). Wegen ihrer Häufigkeit – sowohl bezogen auf den Anteil der KHK-Patienten als auch auf die Verbreitung bei Personen mit schlechter metabolischer Fitness – und vor allem wegen ihrer guten therapeutischen Ansprechbarkeit auf Lebensstiländerungen sind die Dyslipoproteinämien mit erhöhten Triglyzeriden und erniedrigtem HDL-Cholesterin sowie erhöhtem Anteil an small dense LDL gerade für die Sportmedizin und sportorientierte Schulungsprogramme von besonderem Interesse.
6 7
6.3
Grundsätzliche Therapieansätze bei Fettstoffwechselstörungen
8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Für Personen mit einem nachweisbar erhöhten kardiovaskulären Risiko (niedrig erhöhtes Risiko: 10-Jahres-Risiko für ein schwerwiegendes koronares Ereignis <10 %; mittleres Risiko: 10-Jahres-Risiko bei 10–20 %; hohes Risiko: 10-Jahres-Risiko >20 % oder bereits bestehende KHK oder KHK-Äquivalente sowie T2DM) bestehen definierte Zielwerte und Therapieoptionen; diese sind in . Tab. 6.2 zusammengefasst. Es ist jedoch zu betonen, dass sich die Initiierung und Einhaltung einer lebensstilorientierten Therapie nicht allein am LDL-Cholesterinwert orientieren darf, sondern auch von weiteren Faktoren wie dem jeweiligen Körpergewicht, dem T2DM-Risiko sowie den Blutwerten für HDLCholesterin und die Triglyzeride sowie dem familiären Risiko für Herz-Kreislauf- und Stoffwechselerkrankungen abgeleitet werden muss. Zudem ist offensichtlich, dass zusätzlich zur LDL-CholesterinSenkung nach dem Prinzip »the lower the better« auch die gleichzeitige Erhöhung des HDL-Cholesterins als ein therapeutisches Ziel beachtet werden muss. So gilt ein HDL-Cholesterinwert >60 mg/dl nach dem National Cholesterol Education Program Adult (NCEP) Treatment Panel III sogar als Schutzfaktor und kann die Summe der Risikofaktoren in der groben Risikoeinschätzung um einen Punkt reduzieren. In klinischen Risikoscores wird oftmals auch auf den LDL/HDL-Quotienten verwiesen; als ideal, d. h. unbedenklich im Sinne der Atherosklerose,
wird ein Quotient <3 ausgewiesen; Werte >4 sprechen dagegen für ein erhöhtes atherogenes Risiko. Der LDL/HDL-Cholesterin-Quotient sollte allerdings nur bewertet werden, wenn das LDL-Cholesterin <190 mg /dl liegt. Bei LDL-Cholesterin-Konzentrationen über 190 mg/dl liegt in jedem Fall eine absolute LDL-Hypercholesterinämie vor, die auch durch eine HDL-Erhöhung nicht mehr »kompensiert« werden kann. Unabhängig von möglichen Risikokategorien und Zielen zur Erreichung von Fettstoffwechselwerten sollte einem gesundheitsbetonten Lebensstil grundsätzlich so früh wie möglich und nicht erst beim Vorliegen von Risikofaktoren oder nach Eintreten von Folgeerkrankungen zugesprochen werden. In der Therapie sind nichtmedikamentöse und medikamentöse Optionen zu unterscheiden. Die Summe der nichtmedikamentösen Ansätze wird in den Guidelines des National Cholesterol Education Program Adult (NCEP) Treatment Panel III auch unter dem Begriff »Therapeutic Lifestyle Changes« (TLC) subsummiert. Das TLC-Konzept umfasst die Änderung des Ernährungsverhaltens mit Verminderung der Zufuhr gesättigter und trans-Fettsäuren sowie der vermehrten Zufuhr von einfach und mehrfach ungesättigten Fettsäuren und Ballaststoffen ebenso wie die Erhöhung der körperlichen Aktivität in der Freizeit, wenn notwendig verbunden mit dem Ziel einer Gewichtsreduktion oder zumindest Gewichtsstabilisierung. Eine konsequente Lebensstiländerung weist im Vergleich zu medikamentösen Maßnahmen eine vergleichbare oder sogar höhere Therapieeffizienz auf. Bei Patienten mit nachweislich hohem Risiko für kardiale Ereignisse, d. h. Patienten mit gesicherter koronarer Herzkrankheit oder bestehendem T2DM, reichen die angestrebten Änderungen des Lebensstils leider meist nicht aus, um die notwendigen drastischen Absenkungen im LDLCholesterin auf Werte unter 100 mg/dl zu erreichen. In diesem Fall ist die medikamentöse Therapie unumgänglich. Abhängig von der vorliegenden Fettstoffwechselstörung werden dazu heute unterschiedliche Substanzklassen (Statine, Ezetemib, Austauschharze, β-Sitosterin, Fibrate, Glitazone, Nikotinsäure, Omega-3-Fettsäuren) eingesetzt. Zur jeweiligen Indikation, Therapieeffizienz und zu möglichen Nebenwirkungen wird auf weiter-
67 6.4 · Die therapeutischen Prinzipien der körperlichen Aktivität
6
. Tab. 6.2 Relative Verteilung der verschiedenen Dyslipoproteinämien bei Patienten mit vorzeitiger KHK Risikokategorie
Zielwert LDLCholesterin
Nichtmedikamentöse Therapie
Medikamentöse Therapie
Niedriges Risiko
<160 mg/dl
LDL-C >160 mg/dl
LDL-C >190 mg/dl Optional bereits bei 160–190 mg/dl
Mittleres Risiko
<130 mg/dl
LDL-C >130 mg/dl
LDL-C >130 mg/dl Wenn Zielwert durch die nichtmed. Therapie nicht erreicht wird
Hohes Risiko
<100 mg/dl
LDL-C >100 mg/dl
LDL-C >100 mg/dl Optional >70 mg/dl, z. B. bei akutem Koronarsyndrom oder T2DM
LDL Low-Density Lipoproteine, LDL-C LDL-Cholesterin, T2DM Diabetes mellitus Typ 2
führende Übersichten und Fachbücher verwiesen. Bei Versagen der konventionellen Therapie, z. B. bei homozygotem LDL-Rezeptordefekt, besteht die Möglichkeit, die atherogenen LDL-Partikel über extrakorporale Absorptionsverfahren (LDL-Apherese) regelmäßig zu eliminieren.
6.4
Die therapeutischen Prinzipien der körperlichen Aktivität
Eine der wichtigsten Grundlagen zur aktivitätsinduzierten Verbesserung des Lipoproteinprofils ist die Steigerung des Energieumsatzes. Dabei beruht die positive Beeinflussung des Lipoproteinstoffwechsels beim atherogenen Phänotyp nach Erreichen eines ausreichenden Tagesenergieumsatzes vor allem auf 2 entscheidenden Kenngrößen: 4 Reduktion der Fettspeicher und Optimierung der Lipolyse sowie 4 Veränderung der Aktivität von Lipasen und Lipidtransferproteinen mit stoffwechselrelevanter Wirkung auf den Lipoproteinumsatz im Organismus In der Pathogenese des atherogenen Phänotyps spielen verschiedene Faktoren eine Rolle: Durch eine verstärkte hepatische Fettsäure-, Triglyzeridund Apolipoprotein-B-Synthese werden deutlich mehr triglyzeridreiche VLDL-Lipoproteine sezerniert und in die Blutbahn gebracht. Ursächlich hier-
für ist einerseits eine Aktivitätssteigerung lipogener Enzyme (Fettsäuresynthetase, Glycerol-3-Phosphat-Acyltransferase, Acetyl-CoA-Carboxylase etc.), ausgelöst durch Faktoren wie Hyperinsulinismus, Upregulation von Transkriptionsfaktoren der Lipogenese (SREBP-1c) sowie Downregulation von Transkriptionsfaktoren der Fettoxidation (PPAR-α) bzw. von Aktivatoren der Lipolyse (PPAR-γ). Andererseits führen die beim metabolischen Syndrom verringerte Aktivität der peripheren Lipoproteinlipase sowie die hypertrophierten Adipozyten im abdominellen Fettgewebe zur Akkumulation triglyzeridreicher Lipoproteine. Dabei ist die Differenzierungskapazität des abdominellen Fettgewebes von zentraler Bedeutung für die Pathogenese des metabolischen Syndroms und der mit ihr assoziierten Dyslipoproteinämie. Während der Adipozyt von metabolisch Gesunden zeitlebens eine hohe Proliferations- und Differenzierungskapazität aufweist, ist diese bei den meist inaktiven und übergewichtigen Patienten mit metabolischem Syndrom gestört. Die Adipozyten dekompensieren zusehends und verlieren ihre metabolische und regulatorische Kompetenz. Das Unvermögen, weitere Fettsäuren in den Adipozyten speichern zu können, führt zu einer vermehrten Aufnahme von Fettsäuren in extraadipozytären Organen, vor allem in Muskel, Leber und Pankreas. Diese extraadipozytäre Fettspeicherung scheint hauptverantwortlich für die Insulinresistenz und ein wesentlicher Pathomechanismus in
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1 2
Kapitel 6 · Körperliche Aktivität als Therapiebestandteil bei Fettstoffwechselstörungen
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. Abb. 6.1 Metabolische Dysregulation des hypertrophierten abdominellen Adipozyten. CRP C-reaktives Protein, FS Fettsäuren, IL-6 Interleukin-6, KHK Koronare Herzkrankheit, LPL periphere Lipoprotein-Lipase, PAI-1 Plasminogen Aktivator Inhibitor 1, TNF-α Tumornekrosefaktor-alpha, VLDL-C Very-Low-Density-Lipoprotein-Cholesterin
der Entstehung des metabolischen Syndroms zu sein (. Abb. 6.1). Es ist daher nachvollziehbar, dass eine gezielte Reduktion der Fettmasse, z. B. durch Lebensstilintervention über körperliche Aktivität, pathophysiologisch bedeutsame Regelkreise günstig beeinflusst. Vor allem die metabolische Kapazität des Adipozyten wird verbessert, da die »Fettüberladung« der einzelnen Fettzelle reduziert und hierdurch die physiologische Stoffwechselfunktion des Adipozyten zumindest teilweise wieder hergestellt wird. Die zentrale Rolle der Fettspeicherkapazität des Adipozyten in der Pathophysiologie des metabolischen Syndroms wird durch das Modell der lipatrophen Maus und dem Therapieprinzip der Thiazolidindione untermauert. Mäuse mit einer Atrophie des Fettgewebes weisen eine extreme Hypertriglyze-
ridämie und Insulinresistenz auf. Durch subkutane Transplantation von Fettgewebe können jedoch sowohl Dyslipoproteinämie als auch Insulinresistenz weitgehend behoben werden. Intakte und differenzierungsfähige Fettzellen bewirken eine verminderte Insulinresistenz und Dyslipoproteinämie, gleichzeitig aber auch die Zunahme des adipozytären Fettgehaltes bei gleichzeitiger Abnahme des extraadipozytären Fettanteils in Leber, Muskulatur oder Pankreas. Die fehlende Differenzierungsfähigkeit der Fettzellen ist auch für die Freisetzung von proinflammatorischen Zytokinen sowie verschiedenen adipozytären Differenzierungsfaktoren wie Tumornekrosefaktor-alpha (TNF-α), Interleukin-6, Leptin, Adiponectin oder Resistin verantwortlich (. Abb. 6.2). Es ist gesichert, dass der Adi-
69 6.4 · Die therapeutischen Prinzipien der körperlichen Aktivität
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. Abb. 6.2 Der Adipozyt als endokrines Organ. β3 Beta-3-Adrenorezeptor, Compl.D Complement factor D, FFS freie Fettsäuren, GH/IGF-1 Growth hormon/Insulin like growth factor, IL Interleukin, PAI-1 Plasminogen Aktivator Inhibitor 1, TGF-β Transforming growth factor-beta, TNF-α Tumornekrosefaktor-alpha
pozyt Peptidhormone wie die oben genannte Zytokine (Adipozytokine) bildet und sezerniert. Es ist davon auszugehen, dass Adipozytokine dem Organismus das Ausmaß der Fettdepots »übermitteln« (z. B. Leptin) und zudem als lokale Adipostate vor weiterer Überladung und drohender Apoptose wirken (z. B. TNF-α); zusätzlich tragen sie zur Erhöhung der Insulinsensitivität durch Verbesserung der insulininduzierten Signaltransduktion und der Fettsäureoxidation (z. B. Leptin, Adiponectin) bei. Die von entdifferenzierten Adipozyten teilweise vermehrt freigesetzten Substanzen unterhalten so die lokale wie auch systemische Entzündungsreaktion und tragen als Begleitfaktor zur atherosklerotischen Gefäßerkrankung bei. Es lässt sich schlussfolgern, dass vermehrte und regelmäßig ausgeübte körperliche Aktivität eine Reduktion der Fettmasse mit Verbesserung der metabolischen Kompetenz der Adipozyten, vor allem im abdominellen Bereich, induziert. Hierdurch werden die periphere Triglyzerid-Clearance verbessert, die Triglyzeridspiegel im Blut gesenkt und die extraadipozytäre Fettspeicherung vermindert. Die hierdurch erreichte Verringerung der Insulinresistenz vermindert die Hyperinsulinä-
mie und damit auch die hepatische De-novo-Lipogenese und Triglyzeridsynthese. Zusätzlich wird auch die Entzündungslage durch verringerte Freisetzung von proatherogenen Adipozytokinen positiv beeinflusst. Regelmäßige körperliche Aktivität verbessert daher nicht nur die Dyslipoproteinämie im Rahmen des metabolischen Syndroms, sondern die gesamte, die Atherosklerose unterhaltende Risikokonstellation. Im Gegensatz zu einer durch Ernährungsrestriktion erreichten Reduktion der Fettmasse führt der bewegungsinduzierte Kalorienmehrverbrauch zum Aufbau bzw. Erhalt der Muskelmasse und fördert weitere metabolische Anpassungen wie eine vermehrte GLUT-4-Translokation an die Muskelmembran sowie eine Verbesserung der intramuskulären Lipolyse und der mitochondrialen Fettoxidation. Dies unterstützen auch experimentelle Ergebnisse zur Sarkopenie, die auf die positive Beeinflussung von zellulären, katabolen Regulationsfaktoren wie Interleukin-6 (IL-6), Tumornekrosefaktor-alpha (TNF-α) oder den Peroxisome-Proliferator-Activated-Rezeptor (PPAR) durch körperliche Aktivität hinweisen.
70
Kapitel 6 · Körperliche Aktivität als Therapiebestandteil bei Fettstoffwechselstörungen
1 LDL
2 CE
3
TP
CE
4
HDL2
HDL3 M
LPL
5
CE
LCAT
CE
TP
TG VLDL
6
Cholesterin
7 8
Arterie
HL
9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
. Abb. 6.3 Wichtige Stoffwechselwege im Lipoproteinmetabolismus, die durch körperliche Aktivität günstig beeinflusst werden. CE Cholesterinester, CETP Cholesterinester-Transfer-Protein, HDL High-Densitiy Lipoproteine, HL hepatische Lipase, LCAT Lecithin-Cholesterin-Acyl-Transferase, LDL Low-Density Lipoproteine, LPL periphere Lipoproteinlipase, M∅ Makrophage, TG Triglyzeride, VLDL Very-Low-Density Lipoproteine
Regelmäßige körperliche Aktivität verändert die Aktivität von Lipasen und Lipidtransferproteinen mit stoffwechselrelevanter Wirkung auf den Lipoprotein-Turnover im Organismus. Durch Bewegung induzierte Veränderungen betreffen nachweislich die hepatische Lipase (HL), die periphere Lipoprotein-Lipase (LPL), die Lecithin-Cholesterin-Acyl-Transferase (LCAT) sowie das Cholesterin-Transfer-Protein (CETP). Die Aktivität der LPL und LCAT wird durch körperliche Mehraktivität gesteigert, die HL und das CETP werden gehemmt. Die Aktivierung der endothelständigen LPL ist für die Delipidierung der zirkulierenden Lipoproteine verantwortlich und führt zu erniedrigten Triglyzeriden und erhöhten HDL-Spiegeln, vorrangig der HDL2-Subfraktion. Im Gegensatz dazu ist die HL für den Katabolismus der Lipoproteine verantwortlich; eine erhöhte Aktivität der HL geht so mit einem erhöhten HDLUmsatz und erniedrigten HDL-Spiegeln sowie der
beschleunigten Bildung von small dense LDL einher. Die LCAT katalysiert schließlich die Veresterung des Cholesterins auf der Oberfläche der HDLPartikel und induziert die Bildung der kleinen und dichten HDL3-Partikel. Diese Reaktion macht es möglich, dass Cholesterinester in den lipophilen Kern des HDL-Partikels wandert. Damit ist eine wesentliche Voraussetzung für die kardioprotektiv günstige Aufnahme von Cholesterin aus der Peripherie und ihren Rücktransport zur Leber (ReverseCholesterol-Transport) über HDL-Partikel gewährleistet. Im Gegensatz hierzu fördert das CETP den Transfer von Cholesterinestern und Triglyzeriden von HDL2- Partikeln zu proatherogenen VLDLund LDL-Cholesterin-Partikeln (. Abb. 6.3). Die Ergebnisse der HERITAGE Family Study haben jedoch gezeigt, dass die Unterschiede in der Verteilung und Zusammensetzung der Lipoproteine weniger vom Lebensstil als von familiär-genetischen Determinanten bestimmt werden. Zukünf-
71 6.5 · Die praktische Umsetzung der körperlichen Aktivität
tige Studien müssen daher versuchen, das offensichtlich genetisch beeinflusste Ansprechen der Lipoproteine und ihres Stoffwechsels auf körperliche Aktivität zu entschlüsseln und prognostische Zielvariablen zur Beurteilung des Trainings- oder Therapieerfolges zu ermitteln. Dies erscheint sinnvoll, um unter dem Aspekt der Trainingstherapie ausgewählte Risikokollektive besser erkennen und effektiver beraten zu können.
6.5
Die praktische Umsetzung der körperlichen Aktivität
Seit jeher steht auch die Frage nach Intensität, Dauer und Art der körperlichen Aktivität im Mittelpunkt therapeutischer Fragestellungen: Ausschlaggebend für die Wirkung von Sport und Bewegung ist weniger die ergometrisch testbare, muskuläre Leistungsfähigkeit als vielmehr die regelmäßige muskuläre Beanspruchung der Energiebereitstellung während des Zeitraums der körperlichen Belastung. In diesem Zusammenhang ist vor allem eine Mindestdauer von 30 Minuten pro Trainingseinheit sowie die moderate Intensität des Trainings hervorzuheben. Dies erklärt sich über die hierdurch induzierte Aktivierung und Inanspruchnahme des Fettstoffwechsels und der damit assoziierten vermehrten Oxidation von Fettsäuren in der arbeitenden Muskulatur. Dabei ist darauf zu verweisen, dass die genetisch bedingte Fähigkeit einer hohen maximalen Sauerstoffaufnahme (VO2max) nicht automatisch mit einer erhöhten Kapazität zur Fettsäureoxidation assoziiert sein muss. Ausschlaggebend ist nicht das Ausmaß der aeroben Kapazität oder der Umsatz der Fettsäuren unter Ruhebedingungen, sondern die mitochondriale Oxidation von Fettsäuren während des Zeitraums der körperlichen Belastung. Interventionsprogramme zur Verbesserung des Lipoproteinprofils und weiterer kardiovaskulärer Risikofaktoren sollten deshalb nicht an der Steigerung der körperlichen Fitness (VO2max) gemessen werden, sondern auf die Zunahme der körperlichen Aktivität als Maß für den erhöhten Freizeit-Energieumsatz zielen. Bei exakter, quantitativer Messung des Aktivitätsumsatzes ergibt sich so für den Energiemehrumsatz eine höhere negative Korrelation mit
6
metabolischen Risikofaktoren als für die Verbesserung der körperlichen Fitness. Auch hinsichtlich des Einflusses von Umfang und Intensität der Belastung auf die Lipidspiegel ist der Umfang der körperlichen Aktivität und nicht die Intensität oder Steigerung der VO2max am engsten mit der Verbesserung des Lipidprofils assoziiert. Entsprechend kann für die Praxis der Bewegungstherapie bei Fettstoffwechselstörungen wie folgt zusammengefasst werden: 4 Die Fettoxidation wird zwar durch die muskulären Eigenschaften (Anteil der hochoxidativen Slow-Twitch-Fasern und deren enzymatische Ausstattung) vorgegeben, ist aber in jedem Alter trainierbar und durch exogene Faktoren zu beeinflussen. 4 Um das Angebot von körpereigenen Fetten (Lipolyse) und auch den Fettsäureumsatz (β-Oxidation) zu optimieren und entsprechend zu trainieren, sind moderate Belastungsintensitäten (50 % VO2max) sinnvoll. 4 Fette werden im Muskel auch schon in Ruhe und unmittelbar nach Belastungsbeginn verbrannt; der Anteil der Energiebereitstellung über Fette steigt jedoch mit zunehmender Belastungsdauer auf bis zu 80 % an. 4 Belastungseinheiten von mindestens 30 Minuten sind zu bevorzugen, aber nicht zwingend vorzugeben, da mit Trainingsanpassung vermehrt auch die intramuskulären Triglyzeride (IMTG) in die Fettoxidation einbezogen werden. Die IMTG sind dabei nicht nur für die Fettbilanz und Clearancerate der TG und freien Fettsäuren nach Belastung, sondern auch für die Insulinsensitivität entscheidend. Dabei sollte man wissen, dass bei einer dem Training vorausgegangenen kohlenhydratreichen Mahlzeit die Fettoxidation für die Energiebereitstellung unterdrückt und die Kohlenhydratoxidation bevorzugt werden. 4 Mit zunehmendem Körpergewicht benötigt die gleiche Arbeitsintensität mehr Energie und wird als körperlich belastender empfunden. Übergewichtige mit Fettstoffwechselstörungen sollten daher eine niedrigere Arbeitsintensität als Normalgewichtige wählen, um nicht vorzeitig zu ermüden und frustriert ihr geplantes Trainingsprogramm abzubrechen. Die
72
Kapitel 6 · Körperliche Aktivität als Therapiebestandteil bei Fettstoffwechselstörungen
gewünschte Arbeitsintensität lässt sich nicht willkürlich vorgeben, sondern wird durch den Fitnessgrad bestimmt. Somit ist es weder motivierend noch zielführend, wenn sich Untrainierte an der Ausdauerleistung und dem Energieverbrauch von Leistungssportlern orientieren.
1 2 3 4 6.6
Erfahrungen und Beispiele zur Effektivität der therapeutischen Wirkung körperlicher Aktivität
6.6.1
Effekte auf Gesamtund LDL-Cholesterin
5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Während der Effekt körperlicher Aktivität auf die Gesamt- und LDL-Cholesterinkonzentration eher gering ist und ein Ausmaß von –5 % so gut wie nie übersteigt, wird ihr Einfluss dagegen über die Veränderung der Komposition der LDL-Partikel und als Verringerung der kleinen, atherogenen LDLPartikel hoher Dichte (small-dense-LDL-Partikel) deutlich. Gerade in Risikokollektiven wird die Bedeutung des Aktivitätsstatus für das LDLProfil erkennbar. So wird bei Patienten mit metabolischem Syndrom das LDL-Profil stärker als bei gesunden Erwachsenen über den Faktor der Freizeitaktivität beeinflusst. Wie bereits beschrieben, spiegelt sich in der Erhöhung der small dense LDL das ungünstige LPL/HL-Aktivitätsverhältnis wieder. Eindrucksvoll zeigt sich dies bei Übergewichtigen: Bezogen auf einen BMI-Wert von 25 kg/m2 verdoppelte sich bereits bei einem BMI-Wert von 27 kg/m2 die Konzentration der small dense LDL, während die Konzentration des Gesamt-LDL-Cholesterins nicht in Abhängigkeit des BMI-Wertes signifikant differiert. – Anders als die anderen Lipoproteine (Lp) wird der genetisch determinierte Lp(a)-Wert vom Lebensstil oder der körperlichen Fitness nicht beeinflusst. Die Bedeutung der körperlichen Aktivität auf den LDL-Stoffwechsel wird auch bei akuter Änderung des Lebensstils, so im Rahmen einer Intervention als stationäre Reha-Maßnahme mit T2DMPatienten, deutlich sichtbar (. Abb. 6.4; mod. nach Halle et al. 1999b). Hier kommt es unter kontrol-
lierten Bedingungen und bei Vorgabe einer negativen Energiebilanz bereits innerhalb von 4 Wochen nicht nur zu der erwarteten Senkung der Triglyzeride, sondern auch zu einer signifikanten Verschiebung innerhalb der LDL-Verteilung mit nachweislicher Absenkung der small dense LDL. Körperliche Aktivität, so die regelmäßige Teilnahme an der Herzgruppe, scheint aber auch zu einer für den Krankheitsverlauf nicht unwichtigen Verbesserung der Compliance bei KHK-Patienten zu führen. Unter optimierten therapeutischen Bedingungen weisen so KHK-Patienten mit vermehrter Freizeitaktivität, stabilem Körpergewicht und gut eingestellter Einnahme eines CholesterinSynthese-Inhibitors die mit Abstand niedrigsten LDL-Cholesterinwerte in einer auf ihr Lipidprofil und begleitende inflammatorische Risikofaktoren untersuchten Stichprobe von KHK-Patienten auf. Unter günstigen Lebensstil- und Verhaltensbedingungen können so signifikant niedrigere LDL-Cholesterinwerte von im Durchschnitt 90,8 mg/dl im Vergleich zu 145,7 mg/dl bei Herzgruppenpatienten unter ungünstigen Bedingungen, d. h. ohne gezielte Intervention, gemessen werden (. Abb. 6.5, mod. nach König et al. 2005).
6.6.2
Effekte am HDL-Cholesterin und an den Triglyzeriden
Annähernd alle vergleichenden Studien haben einen positiven Einfluss der körperlichen Fitness und der Freizeitaktivität auf das HDL-Cholesterin und die Triglyzeride nachgewiesen. In Abhängigkeit von Studiendesign und von der Genese bzw. Ausprägung der Fettstoffwechselstörung konnten im Rahmen bewegungsorientierter Interventionsprogramme Anstiege beim HDL von bis zu 30 % sowie eine Senkung der Triglyzerid-Spiegel von bis zu 35 % des Ausgangswertes beobachtet werden. Die Größe der relativen Veränderung korreliert allerdings mit dem für HDL erniedrigten und für die Triglyzeride erhöhten Ausgangswert. Der Anstieg im HDL-Cholesterin war vorrangig auf eine Vermehrung der cholesterinreichen HDL2-Subfraktion zurückzuführen. Die proteinreiche HDL3-Subfraktion wird durch körperliche Aktivität dagegen kaum beeinflusst. Obwohl eine Anhebung der
73 6.6 · Erfahrungen und Beispiele zur Effektivität der therapeutischen Wirkung ...
LDL2 IDL LDL1 LDL4 LDL6 LDL5
LDL3
n=34 25
6
. Abb. 6.4 Veränderung in der Verteilung der LDL-Partikel unter Bedingungen einer negativen Energiebilanz während einer 4-wöchigen Reha-Maßnahme bei T2DM-Patienten. IDL Intermediate Density Lipoproteine, LDL Low-Density Lipoproteine
mg/dl
20 15 10 5 0 before
after
sign.diff.before/after
G(+++)
G(++)
G(+)
G(o)
160 140
mg/dl
120 100 80 60 40
p<0.0001
20 0 LDL-C
. Abb. 6.5 Einfluss von Lebensstil- und Verhaltensbedingungen auf LDL-Cholesterinwerte bei Herzgruppenpatienten. BMI Body-Mass-Index, G(o) Patienten ohne gezielte Intervention, G(+) Patienten mit lipidsenkender Medikation, G(++) Patienten mit lipidsenkender Medikation plus 1 weiterer Interventionsfaktor, G(+++) Patienten mit lipidsenkender Medikation plus 2 weitere Interventionsfaktoren (angepasster BMI, hohe Freizeitaktivität), KHK koronare Herzkrankheit, LDL-C LDL-Cholesterin
HDL-Spiegel durch körperliche Aktivität nicht zwangsläufig an eine Reduktion des BMI gekoppelt ist, scheint es dennoch, dass vor allem Adipöse mit metabolischem Syndrom im Rahmen einer bewegungsinduzierten Gewichtsreduktion besonderes
profitieren. Gleiches trifft auch für die Reduktion der Triglyzeride nach körperlichen Aktivitätsprogrammen zu. Sowohl die Konzentration als auch die Zusammensetzung der HDL-Partikel sind, wie bereits beschrieben, mit dem Stoffwechselweg und dem Umsatz der Triglyzeride eng verbunden. Eine bewegungsinduzierte gesteigerte Aktivtät der LPL bei gleichzeitig reduzierter Aktivtät der HL ist daher für die Senkung der Triglyzeridspiegel wie auch dem Anstieg des HDL-Cholesterins verantwortlich. Aufgrund des guten Ansprechens des HDL-Cholesterins und der Triglyzeride auf körperliche Aktivität sind diese Parameter auch geeignet, um der Frage nach dem Vorhandensein einer Dosis-Wirkungs-Beziehung nachzugehen. Einige Untersuchungen konnten eine enge Beziehung zwischen Dauer und entsprechenden Beeinflussungen von HDL und Triglyzeriden aufzeigen. So wurde für das HDL-Cholesterin mit jedem gelaufenen Kilometer pro Woche ein Anstieg um ca. 0,1 mg/ dl nachgewiesen. Da diese Dosis-Wirkungs-Beziehung jedoch nicht durchgehend reproduziert werden konnte, muss diese Frage durch weitere Studien und in kontrollierten Stichproben endgültig beantwortet werden. Gerade am Beispiel des HDL-Cholesterins lässt sich allerdings belegen, dass vor allem der Umfang und nicht die Intensität der Belastung
74
Kapitel 6 · Körperliche Aktivität als Therapiebestandteil bei Fettstoffwechselstörungen
1
– Δ LDL
60
8 9
+
++
+++
Zielwert 40/50
mg/ dl
50 47,2
40 30 17,9
20
7,2
6
5,9 –6,4
11
16,8
8,6
4,5
–6,8
0 –10
7
Zielwert 150
Zielwert 130
10
6
–
70
3
5
Δ HDL 84
80
2
4
– Δ TG
n=38 n=83 n=74 n=71
n=36 n=59 n=46 n=43
n=19 n=39 n=27 n=29
. Abb. 6.6 Einfluss der Lebensstiländerung bei Teilnehmern des M. O.B. I.L. I.S.-Schulungsprogramms für adipöse Erwachsene mit eingangs ungünstigen Lipidwerten nach einem Jahr Teilnahme. Während die Veränderungen für die Triglyzeride und das LDL-Cholesterin durch die erreichte Gewichtsreduktion sichtbar beeinflusst werden, fallen die Erhöhungen im HDLCholesterin unabhängig vom Gewichtserfolg aus. HDL High-Density Lipoproteine, LDL Low-Density Lipoproteine, TG Triglyzeride, (-) Teilnehmer mit Gewichtszunahme, (+) 0–4,9 % Gewichtsabnahme, (++) 5–9,9 % Gewichtsabnahme, (+++) >10 % Gewichtsabnahme, bezogen auf das Ausgangsgewicht
10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
entscheidend für den HDL-Anstieg verantwortlich ist. Eindrucksvoll lassen sich die Effekte des veränderten Lebensstils auf das Lipidprofil auch an aktuellen Ergebnissen zum sportmedizinischen Schulungsprogramm M. O.B. I.L. I.S. für adipöse Erwachsene dokumentieren. Das Schulungsprogramm wurde von der Medizinischen Universitätsklinik Freiburg, Abteilung für Rehabilitative und Präventive Sportmedizin, und der Deutschen Sporthochschule Köln, Institut für Kreislaufforschung und Sportmedizin, auf den Weg gebracht und bezieht originär Strategien aus dem Bereich der Sportpsychologie zur Volution mit ein. Insgesamt werden aus den Bereichen Bewegung und Sport, Psychologie und Pädagogik, Ernährung, Medizin und Gesundheit interdisziplinär Inhalte in mehr als 50 Gruppensitzungen über den Zeitraum von einem Jahr für Erwachsene mit einem EingangsBMI von 30–40 kg/m2 praktisch und theoretisch vermittelt. In einer ausgesuchten Stichprobe von Teilnehmern mit einer bestehenden Dyslipoproteinämie zu Beginn der Schulung ist aufzuzeigen, dass Teilnehmer mit eingangs ungünstigen Lipidwerten (LDL-Cholesterin >130 mg/dl, HDL-Choleste-
rin für Männer <40 mg/dl bzw. für Frauen <50 mg/ dl, Triglyzeride >150 mg/dl) von der über ein Jahr eingehaltenen Lebensstiländerung signifikant profitieren. So lassen sich das LDL-Cholesterin im Durchschnitt um 11 mg/dl und die Triglyzeride um 50 mg/dl absenken, das erniedrigte HDL-Cholesterin dagegen um 6,5 mg/dl erhöhen. Während allerdings die Veränderungen für die Triglyzeride und das LDL-Cholesterin durch die erreichte Gewichtsreduktion sichtbar beeinflusst und starke Erniedrigungen vor allem bei deutlichem Gewichtsverlust erzielt werden (. Abb. 6.6), fallen die Erhöhungen im HDL-Cholesterin für alle M. O.B. I.L. I.S.-Teilnehmer nach einem Jahr erfolgreicher Teilnahme unabhängig vom Gewichtserfolg aus. Veränderungen im HDL-Cholesterin sind somit in dieser Stichprobe in erster Linie über die vermehrte Freizeitaktivität und nicht über die Gewichtsreduktion der Teilnehmer zu erklären.
75 6.7 · Zusammenfassung
Physiologische Grundlagen zur Wirkung von Sport und Bewegung bei Fettstoffwechselstörungen
Lebensstil
Freizeitaktivität
Triglyzeride Small dense LDL HDL
Atherogener Phänotyp
6
. Abb. 6.7 Schematische Darstellung der Zusammenhänge zwischen Lebensstil und den Folgen der lebensstilinduzierten, sekundären Dyslipoproteinämie. HDL High-Density Lipoproteine, LDL Low-Density Lipoproteine
Körperl. Fitness
Aerobes Training Aktivitätsumsatz Sauerstoffverbrauch
6.7
Genetische Disposition
Zusammenfassung
Wegen ihrer Häufigkeit und vor allem wegen ihrer guten therapeutischen Ansprechbarkeit auf Lebensstiländerungen sind Fettstoffwechselstörungen mit erhöhten Triglyzeriden und erniedrigtem HDL-Cholesterin sowie erhöhtem Anteil an small dense LDL für die Sportmedizin und bewegungsorientierte Schulungsprogramme von besonderem Interesse. Denn in den überwiegenden Fällen ist ein ungünstiger Lebensstil mit Übergewicht und fehlender Freizeitaktivität mit dieser typischen atherogenen Dyslipoproteinämie verknüpft (. Abb. 6.7). Die Bedeutung und Wirksamkeit körperlicher Aktivität für die Prävention und Therapie dieses atherogenen Phänotyps sind hervorragend belegt und umfassen eine signifikante Absenkung der Triglyzeride bei gleichzeitiger Anhebung des HDL-Cholesterins sowie eine Reduktion der atherogenen small-dense-LDL-Partikel. Die therapeutische Wirkung der regelmäßigen, vermehrten körperlichen Aktivität bei dieser Form wie auch anderen Formen der sekundären Dyslipoproteinämie kann am ehesten über ihren Einfluss auf die Körperkomposition und die metabolische Komposition der Fettzellen, d. h. die Verminderung des Körperfettanteils und der Fettzellgröße mit Erhöhung der Muskelmasse, sowie über die sportinduzierte Aktivitätsänderung spezifischer Enzyme und Transferproteine des Lipoproteinstoffwechsels erklärt werden.
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76
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Kapitel 6 · Körperliche Aktivität als Therapiebestandteil bei Fettstoffwechselstörungen
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26
27
28
29
30
31
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77
Sport und Bewegung in der Prävention und Therapie von Übergewicht und Adipositas im Kindes- und Jugendalter Christine Graf, Sigrid Dordel, Benjamin Koch
7.1
Hintergrund – 78
7.2
Bewegung, Bewegungsmangel und Folgen – 78
7.2.1 7.2.2
Energieumsatz – 79 Bewegungsmangel und Übergewicht – 80
7.3
Die Rolle der Sport- und Bewegungstherapie bei kindlicher Adipositas – 80
7.4
Inhalte einer Sport- und Bewegungstherapie und Effekte auf die Körperkomposition – 81
7.5
Geeignete Sportarten – 82
7.6
Ausgewählte Risiken im Sport und bei körperlicher Aktivität – 83
7.7
Zusammenfassung – 84
7
78
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10
Kapitel 7 · Sport und Bewegung in der Prävention undTherapie von Übergewicht und Adipositas im Kindes- und Jugendalter
Übergewicht bzw. Adipositas nehmen in den letzten Jahren in den Industrieländern bei Kindern und Jugendlichen stark zu. Dies wird vor allem auf eine deutliche Reduktion der täglichen aktiven Bewegung z. B. durch erhöhten Fernsehkonsum sowie Computernutzung zurückgeführt. Soll hier therapeutisch interveniert werden, so ist eine grundsätzliche Änderung des Lebensstils mit der vermehrten Integration von Bewegung im Sinne von Spiel und Sport das Ziel. Wie sich eine Zunahme der Aktivität positiv auswirkt und welche Sportarten bzw. Programme sich eignen, beschreibt der folgende Beitrag. In diesem Beitrag lesen Sie über: 4 Bewegung bzw. Bewegungsmangel und ihre generellen Folgen, 4 den Einfluss von Bewegungsmangel auf Energieumsatz und den Zusammenhang mit der Adipositas bei Kindern und Jugendlichen, 4 die positiven Auswirkungen vermehrter Bewegung für die Kinder und Jugendlichen, 4 mögliche Risiken beim Sport oder körperlicher Aktivität, die insbesondere adipöse Kinder und Jugendliche betreffen.
11 7.1
Hintergrund
12 13 14 15 16 17 18 19 20
Übergewicht und Adipositas im Kindes- und Jugendalter nehmen erheblich zu. Weltweit geht die Weltgesundheitsorganisation von etwa 10 % übergewichtigen Kindern aus, in Deutschland sind – laut den aktuellen Daten des Kinder- und Jugendgesundheitssurveys (s. a. www.rki.de) – 15 % der Kinder übergewichtig und 6,3 % adipös. Als Ursachen werden neben der genetischen Disposition und einem niedrigen sozioökonomischen Status Fehlernährung und Bewegungsmangel sowie ein reiz- bzw. bewegungsarmes Umfeld und ein täglicher mehrstündiger Fernseh- bzw. Computerkonsum angenommen (Bar-Or u. Baranowski 1994). Allerdings kann Übergewicht sich nur entwickeln, wenn zwischen Energiezufuhr und -verbrauch ein Ungleichgewicht besteht. Da sich die Ernährung bei Kinder und Jugendlichen in den letzten Jahren nicht wesentlich verändert hat (Remer 2000), scheinen insbesondere Bewegung/Bewegungsmangel/körperliche Inaktivität eine Rolle zu spielen.
7.2
Bewegung, Bewegungsmangel und Folgen
Spiel und Sport fördern die körperliche und motorische, emotionale, psychosoziale und kognitive Entwicklung von Kindern (Dordel 2003, Tortelero et al. 2000). Wie viel Bewegung jedoch für eine gesunde Entwicklung notwendig ist, kann aktuell nicht beantwortet werden. Genauso wenig ist eine Quantifizierung von »Bewegungsmangel« möglich. Eine »Definition« schlagen Hollmann und Hettinger (2000) vor: Als Mangel wird eine muskuläre Beanspruchung unterhalb einer individuellen Reizschwelle betrachtet, die zum Erhalt der funktionellen Kapazitäten des menschlichen Organismus notwendig wäre. Die Bestimmung dieser »Schwelle« und damit die Erfassung des sogenannten Bewegungsmangels ist in jedem Alter methodisch schwierig. Im Kindesalter werden zumeist Interviews und Beobachtungen, Herzfrequenzmonitoring, Schrittzähler und motorische Testverfahren als indirekte Marker für körperliche Aktivität/ Inaktivität eingesetzt (Graf et al. 2004, Rowlands et al. 2000). In vielen Studien bestätigt sich ein zunehmender Rückgang von körperlicher Aktivität bei Kindern und Jugendlichen. Als wesentliche Ursachen für diese Entwicklung werden zumeist Veränderungen der kindlichen Bewegungswelt aufgeführt, insbesondere die übermäßige Nutzung audiovisueller Medien. In einer Metaanalyse von Marshall et al. (2004) wurde der Zusammenhang zwischen Fernsehen, Video- und Computerspielen und körperlicher Aktivität bei Kindern zwischen 3 und 18 Jahren untersucht. Körperliche Aktivität und Fernsehen bzw. Computer korrelierten zwar negativ, aber der Einfluss konnte nur als gering eingestuft werden. Ähnlich verhielt es sich mit dem Zusammenhang hinsichtlich des Körperfettgehaltes, der ebenfalls nur gering positiv nachweisbar war. Die Autoren folgerten daraus, dass die Verbindung zwischen sitzender Tätigkeit und Gesundheit nicht allein durch Computer-/Fernsehverhalten dargestellt werden kann, sondern dass andere Faktoren, insbesondere die körperliche Aktivität im Alltag eine wesentliche Rolle spielen. Diese wird maßgeblich durch eine zunehmende Technologisierung und Urbanisierung eingeschränkt, aber auch durch
79 7.2 · Bewegung, Bewegungsmangel und Folgen
fehlende familiäre Vorbilder beeinflusst (Bar-Or u. Baranowski 1994, Bös 2001, Dordel 2003, Graf et al. 2003). Nach Bös et al. (2001) sind die täglichen Bewegungsumfänge von Kindern von 3 bis 4 Stunden in den siebziger Jahren auf ca. 1 Stunde pro Tag zurückgegangen. Innerhalb dieser 60 Minuten bewegten sich die Kinder lediglich 15 bis 30 Minuten intensiv. In einer multizentrischen prospektiven Längsschnittstudie wurden die Freizeitaktivitäten von 2.379 9-jährigen weißen und farbigen Mädchen über 10 Jahre untersucht (Kimm et al. 2002). Der Energieverbrauch gemessen in sogenannten metabolischen Einheiten (entsprechen dem Faktor, um den die Ruhe-Sauerstoffaufnahme von 3,5 ml/ [min×kg] gesteigert wird.) nahm insbesondere mit dem Eintritt in die Pubertät deutlich ab. Zusätzlich bestanden erhebliche Unterschiede zwischen den jeweiligen ethnischen Gruppen. Von den heranwachsenden Afro-Amerikanerinnen war nach der Pubertät keine mehr in ihrer Freizeit aktiv, bei den weißen Mädchen noch etwa ein Drittel. Daraus resultierende Konsequenzen für die Motorik sind messbar. Zunehmend finden sich Defizite in nahezu allen motorischen Hauptbeanspruchungsformen (Bös et al. 2001, Bös 2003, Graf et al. 2004). Der Vergleich der körperlichen Fitness von 10-jährigen Kindern zwischen 1980 und 2000 zeigte eine Abnahme der Ausdauerleistungsfähigkeit, Sprungkraft und Flexibilität um etwa 10–20 % bei Jungen und Mädchen (Bös et al. 2001). Tomkinson et al. (2003) beschrieben eine mittlere Abnahme der aeroben Leistungsfähigkeit um jährlich etwa 0,5 %, insgesamt also 10 %. In der Berechnung wurden die Ergebnisse des Shuttle-Run-Tests von knapp 130.000 Kindern und Jugendlichen (6 bis 19 Jahre) zwischen 1981 und 2000 aus 11 Ländern berücksichtigt. Eine verminderte Ausdauerleistungsfähigkeit gilt im Erwachsenenalter als Prädiktor für die kardiovaskuläre Morbidität und Mortalität (Myers et al. 2002). Gesundheitliche Konsequenzen in dieser Form sind für das Kindesalter bisher noch nicht belegt. Man kann jedoch ähnliche Folgen annehmen.
7
Der Bewegungsumfang von Kindern ist in den vergangenen Jahrzehnten messbar zurückgegangen, insbesondere nach Eintritt der Pubertät. Mehrere Studien belegen die negativen Folgen hinsichtlich Motorik und körperlicher Leistungsfähigkeit.
7.2.1
Energieumsatz
Der Energieverbrauch des Körpers wird im Wesentlichen von drei Faktoren bestimmt, dem Grund-/ Ruhe-Energieumsatz sowie der nahrungs- und der aktivitätsbedingten Thermogenese, inklusive der sogenannten nonexercise activity thermogenesis (NEAT). Etwa 90 % des Gesamtenergieverbrauchs werden durch den Grundumsatz und die körperliche Aktivität bestimmt (Maffeis u. Schulz 2005). Ab dem 10. Lebensjahr nehmen geschlechtsspezifische Unterschiede Einfluss, Jungen weisen dann einen höheren Verbrauch auf als Mädchen. Die Bestimmung des Energieumsatzes erfolgt in der Regel durch die direkte oder indirekte Kalorimetrie. Mit der Methode des doppelt markierten Wassers kann der Energieumsatz relativ genau berechnet werden. Einfachere Messmethoden sind Herzfrequenzmessungen, Akzelerometer oder Schrittzähler (Übersicht in Williams 1997). Da der Grundumsatz im Wesentlichen stabil bleibt, stellen die aktivitätsbedingte und die Nonexercise-activity-Thermogenese die entscheidenden Einflussgrößen für Veränderungen des Energieumsatzes dar. Körperliche Aktivität führt zu einer akuten, während der Belastung stattfindenden Steigerung des Energieverbrauchs, aber auch zu einer erhöhten Umsatzrate im Anschluss an die Belastung (post exercise thermogenesis) sowie langfristig zu einer Steigerung des Grundumsatzes durch die Beeinflussung der sogenannten Körperkomposition (Hauner u. Berg 2000).
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
80
Kapitel 7 · Sport und Bewegung in der Prävention undTherapie von Übergewicht und Adipositas im Kindes- und Jugendalter
7.2.2
Bewegungsmangel und Übergewicht
Wie eingangs beschrieben gilt als eine wesentliche und gesicherte Folge von Bewegungsmangel die Entstehung von Übergewicht. Auch wenn körperliche Inaktivität nicht allein auf einen erhöhten Fernsehkonsum zurückgeführt werden kann (Marshall et al. 2004), wird dessen Rolle hinsichtlich der Entwicklung der kindlichen Adipositas kaum angezweifelt. Mit einem mehrstündigen täglichen Fernsehkonsum (>3 bis 4 Stunden) steigt bei Kindern das Adipositas-Risiko um den Faktor 4 bis 5 an (Gortmaker et al. 1996). Fernsehzeit stellt naturgemäß keine Bewegungszeit dar und wird meist von einem erhöhten Kalorienkonsum und reduziertem Grundumsatz begleitet (Robinson 2001). Allerdings unterscheiden sich sonst der Grundumsatz sowie der Gesamtenergieverbrauch von Übergewichtigen nicht unbedingt von dem normalgewichtiger Kinder (Maffeis et al. 1992, 1996). Einige Untersuchungen bezüglich des Gesamtenergieverbrauchs zeigen sogar einen höheren Verbrauch bei den Adipösen (Maffeis et al. 1993, Volpe-Ayub u. Bar-Or 2003). Dies wird durch eine insgesamt erhöhte Masse und somit auch Muskelmasse bei Adipositas erklärt (Nemet et al. 2003). Eine Relativierung des Energieverbrauchs auf die Körpermasse brachte auch keine eindeutigen Ergebnisse hervor. Davies et al. (1995) bestätigen den inversen Zusammenhang zwischen einem erhöhten Körperfettgehalt und dem Energieverbrauch, andere Autoren fanden wiederum keine Beziehung (Ekelund et al. 2002, Goran et al. 1997). Um diesen Aspekt endgültig aufdecken zu können, bedarf es Längsschnittbetrachtungen größerer Kollektive, in denen der Energieverbrauch bereits vor der Entstehung von Übergewicht analysiert wird. Nicht nur allgemein wirkt sich Bewegungsmangel negativ auf die motorische Leistungsfähigkeit aus, besonders die übergewichtigen und adipösen Kinder erzielen deutlich schlechtere Resultate als ihre normalgewichtigen Altersgenossen (Graf et al. 2004, Dordel u. Kleine 2005). Es ist anzunehmen, dass das ständig schlechtere Abschneiden in sportlichen Leistungen den weiteren Rückzug aus der Aktivität und die Bevorzugung sitzender Tätigkeiten mit entsprechender Fehlernährung unterstützt
(Bar-Or u. Baranowski 1994). Aufgrund der aktuellen Datenlage kann jedoch nicht beantwortet werden, ob die Kinder sich wegen ihres erhöhten Körpergewichtes weniger bewegen oder ob die motorischen Defizite aufgrund des Bewegungsmangels zu Frustration und zunehmender Inaktivität führen, da diese Ergebnisse nicht von allen Arbeitsgruppen bestätigt werden. So fanden Deforche et al. (2003) zwar schlechtere Ergebnisse in Tests, in denen das Körpergewicht Einfluss ausübt, z. B. Ausdauer, nicht aber in allen Aufgaben, z. B. der Armkraft im »Handgrip-Test«. Gleiches gilt für koordinative Beanspruchungen, bei denen nicht das gesamte Körpergewicht bewältigt werden muss, sowie Aufgaben der Flexibilität (Dordel u. Kleine 2005). Für therapeutisch orientierte Programme stellen diese Befunde einen wichtigen Ansatz zur Unterstützung der Motivation, allgemein der psychomotorischen Förderung übergewichtiger und adipöser Kinder und Jugendlicher dar.
7.3
Die Rolle der Sportund Bewegungstherapie bei kindlicher Adipositas
Ein wesentliches Ziel einer erfolgreichen Adipositas-Therapie ist die dauerhafte Änderung des Lebensstils. Es gilt, die Betroffenen (wieder) an sportliche Tätigkeiten heranzuführen und sie zu motivieren, regelmäßige körperliche Aktivität in Alltag und Freizeit zu integrieren. Primär steht nicht der Kalorienverbrauch im Vordergrund, sondern die Reduktion möglicher motorischer Defizite und langfristig die Steigerung von Alltags- und Freizeitaktivitäten. Somit spielt besonders die Motivation und Änderungsbereitschaft der Betroffenen sowie des Umfeldes (Familie, Peers) eine bedeutsame Rolle hinsichtlich Erfolg oder Misserfolg einer Sporttherapie. Der Begriff Sport ist in diesem Zusammenhang deutlich vom Wettkampf- und Leistungssport zu unterscheiden. So geht es nicht vorrangig um die Steigerung körperlicher Funktionen, das Training elementarer motorischer Fähigkeiten oder das Erlernen sportmotorischer Fertigkeiten; vielmehr sollen durch Bewegung, Spiel und Sport Prozesse des Erlebens und Verhaltens in Gang gesetzt
81 7.4 · Inhalte einer Sport- und Bewegungstherapie und Effekte auf die Körperkomposition
bzw. modifiziert werden. Dieser mehrdimensionale Ansatz von Sporttherapie erweist sich damit im Sinne der Salutogenese als gut geeignet, Gesundheit und Wohlbefinden zu fördern. So können Bewegung, Spiel und Sport in verschiedener Hinsicht die Befindlichkeit und Lebensqualität von Kindern und Jugendlichen verbessern (Dordel 2003, Hollmann u. Hettinger 2000): 4 positive Effekte auf das Herz-Kreislauf-System und kardiovaskuläre Risikofaktoren 4 positive Effekte auf den Kohlenhydratstoffwechsel und eine Insulinresistenz 4 positive Effekte auf den Fettstoffwechsel und Adipozytokine 4 Verbesserung des Immunsystems 4 Steigerung körperlicher Fitness 4 Abbau motorischer Defizite 4 kognitive Effekte durch Einsicht in gesundheits-/krankheitsrelevante Zusammenhänge, in die Notwendigkeit zur Änderung des Lebensstils 4 psychisch-emotionale Effekte 5 durch Stärkung des Selbstvertrauens, der Selbstwirksamkeit, der Autonomie, durch ein positives Selbstbild und gesteigerte Stressresistenz 5 durch Förderung sozialer Kompetenz, Anerkennung und Integration Sporttherapie lässt ein personenzentriertes Arbeiten zu, erlaubt parallel aber auch eine aktive Gruppendynamik. Kinder und Jugendliche werden in ihrer Individualität bestärkt und gleichzeitig werden ihre sozialen Kompetenzen gefestigt. Die körperliche Aktivität führt zu einer Verbesserung des Körper- und Selbstbildes sowie zu einer Stärkung der Ich-Kompetenz eines Kindes bzw. Jugendlichen. Freude zu empfinden bei gemeinsamem Spiel und Sport, die eigene Leistung wahrzunehmen und Leistungsfähigkeit zu spüren in einer Gruppe von Kindern mit gleichen und/oder ähnlichen Problemen kann dem häufig sozial isolierten übergewichtigen Kind wieder Lebensqualität vermitteln und helfen, Kontakte zu knüpfen und neue Freunde zu finden (Strauss u. Pollack 2003). Möglicherweise lernt es, mit negativen Erfahrungen, die es im regulären Schul- und Vereinssport gemacht hat, umzugehen und körperliche Aktivitäten (wie-
7
der) als selbstverständlichen Bestandteil im Tagesverlauf zu schätzen (Barton et al. 2004).
7.4
Inhalte einer Sportund Bewegungstherapie und Effekte auf die Körperkomposition
Zu den Inhalten einer Bewegungs- und Sporttherapie für adipöse Kinder und Jugendliche liegen weder national noch international übereinstimmende Konzepte vor (Watts et al. 2005, Gutin et al. 2002, Hayashi et al. 1987, Treuth et al. 1998). Trainingsart (Kraft, Ausdauer, gemischt), Trainingsfrequenz (1- bis 5-mal wöchentliches Training, 20 bis 90 Minuten) sowie Trainingsintensität (65–85 % oder 70–75 % der maximalen Herzfrequenz) sind unterschiedlich gestaltet, aber auch das Altersspektrum und die Größe der Gruppen werden variabel organisiert. Zwar finden sich in den meisten veröffentlichten Programmen eine erfolgreiche BMI-Reduktion und/oder weitere positive Effekte auf andere physiologische Parameter. Um aber daraus eine einheitliche Herangehensweise bzw. Leitlinien zu entwickeln, ist die Datenlage zu inkonsistent (Summerbell et al. 2003). Es fehlt an kontrollierten, methodisch ähnlich gestalteten Interventions-Programmen mit vergleichbaren Untersuchungskollektiven, die über einen längeren Zeitraum verfolgt werden. Unter Berücksichtigung dieser Defizite ist aber der Nutzen von körperlicher Aktivität in der Therapie unbestritten. Zunächst kann die Steigerung der körperlichen Aktivität, inkl. einer Steigerung der Alltagsaktivitäten zu einer Abnahme des Gesamtkörpergewichts, insbesondere der Fettmasse führen (Bar-Or et al. 1998). Epstein und Goldfield (1999) verglichen Programme für übergewichtige Kinder und Jugendliche, die neben einem Ausdauertraining einerseits Gymnastik, andererseits die gezielte Förderung von Alltagsaktivitäten (s. u.) beinhalteten. Nach 6 Monaten ließ sich eine Reduktion des prozentualen Übergewichts zwischen 17 und 21 % nachweisen. Maßnahmen, die längerfristig angelegt sind und den Schwerpunkt auf Alltagsaktivitäten legen, scheinen allerdings besonders effektiv
82
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Kapitel 7 · Sport und Bewegung in der Prävention undTherapie von Übergewicht und Adipositas im Kindes- und Jugendalter
zu sein, da die Bewegungsgewohnheiten nachhaltiger beeinflusst werden können als durch Programme, die nur auf wenige Monate oder gar Wochen beschränkt sind. Epstein et al. (1982) überprüften die Effektivität eines Ausdauertrainings mit einem Programm, das hauptsächlich die Aktivität im Alltag förderte. Zusätzlich wurde in beiden Gruppen eine Umstellung der Ernährungsgewohnheiten angestrebt. Nach 6 Monaten konnten zwar die Teilnehmer beider Gruppe den BMI reduzieren, in der Nachbeobachtungsphase war aber das zweite Programm deutlich erfolgreicher. In der Ausdauergruppe stieg der BMI wieder um 1,2 kg/m2, in der zweiten Gruppe lag er immer noch 1,5 kg/m2 unter dem Ausgangsniveau. Zusätzlich scheint sich ein Training zumindest kurzfristig auch positiv auf das gesamte Bewegungsverhalten auszuwirken (Kriemler et al. 1999). Die Folge ist einerseits eine Steigerung des Energieverbrauchs, andererseits aber auch eine Änderung der Körperkomposition und Abnahme der Fettmasse bzw. eine Vergrößerung der Muskelmasse. Aus gesundheitlicher Sicht ist besonders eine Abnahme des viszeralen Fettgewebes bedeutsam. Gutin et al. (2002) konnten bei 80 adipösen Jugendlichen durch ein 8-monatiges moderates bzw. intensives Training den Anteil des viszeralen Fetts im Mittel um –11,0 cm3 bzw. um –42,0 cm3 senken. Die Folge einer Gewichtsreduktion ist stets auch eine Reduktion der fettfreien, sprich Muskelmasse. Damit sinkt der Grundumsatz und die Gewichtsstabilisierung wird erschwert. Ein altersangepasstes Krafttraining kann dieser Entwicklung zumindest partiell entgegenwirken (Blaak et al. 1990, Watts et al. 2004, Treuth et al. 1998). Treuth et al. (1998) führten mit 12 adipösen Mädchen (7 bis 10 Jahre) ein 5-monatiges Krafttraining durch (3-mal pro Woche 20 Minuten; je Muskelgruppe 2 Sätze mit 12 bis 15 Wiederholungen bei 50–70 % der Maximalkraft). Die fettfreie Masse wurde von 27,1 auf 29,2 kg gesteigert.
7.5
Geeignete Sportarten
Eine allgemeine Empfehlung bestimmter, für Übergewichtige besonders geeigneter Sportarten ist aufgrund des derzeitigen Wissensstandes nicht
möglich bzw. nicht sinnvoll. Von entscheidender Bedeutung ist vielmehr das individuelle Interesse eines Kindes bzw. Jugendlichen; dieses kann wiederum abhängig sein von den Sportengagements der Freunde. In einer qualifizierten Interventionsmaßnahme werden daher verschiedene Sportarten angeboten, um die Teilnehmer mit einer breiten Palette sportlicher Aktivitäten vertraut zu machen, die sie auch nach Beendigung der Maßnahme fortführen können. Daher sollte bei im Rahmen einer Schulung angebotenen Sportarten darauf geachtet werden, dass diese möglichst selbstständig, am besten gemeinsam mit Freunden und vor allem auch langfristig ausgeübt werden können.
Entscheidend bei der Wahl der Sportart ist das individuelle Interesse, daher sollten möglichst selbstständig auszuübende Sportarten im Vordergrund stehen, die langfristig und gemeinsam mit Freunden ausgeübt werden können.
Ausdauersportarten gelten zwar aus gesundheitlicher Sicht als besonders günstig; ob sie einen höheren Nutzen haben als beispielsweise Krafttraining, ist allerdings bisher nicht erwiesen. Bei extremer Adipositas empfehlen sich zum Schutz des noch im Wachstum befindlichen Bewegungsapparates Sportarten, in denen das Körpergewicht getragen wird, z. B. Radfahren oder Schwimmen. Allerdings sind Ausdauersportarten in der Regel für Kinder nicht besonders interessant. Schwimmen wird von adipösen Kindern und Jugendlichen nicht selten gemieden, da sich ihre Körperfülle dabei nicht durch geschickt gewählte Kleidung verstecken lässt. Einen besonders hohen Aufforderungscharakter weisen Spielsportarten auf. Hier wird durch das gemeinsame Spiel zusätzlich das Gruppengefühl gesteigert; teilweise können Übergewichtige ihr hohes Körpergewicht positiv einbringen und so Erfolg und Anerkennung innerhalb der Gruppe bzw. Mannschaft erleben (vgl. Koch et al. 2007). Neben Sport sollte stets die Bedeutung der sogenannten Alltagsaktivität unterstrichen werden. Begleitend zu der Schulungsmaßnahme können die Kinder und Jugendlichen motiviert wer-
83 7.6 · Ausgewählte Risiken im Sport und bei körperlicher Aktivität
7
. Tab. 7.1 Einteilung der Kinder-Bewegungspyramide sowie Beispiele. In Abhängigkeit von der Intensität zählen die Aktivitätsbeispiele zu moderaten oder intensiven Aktivitäten Täglich [min]
Intensität
Modifizierte Borgskala
Beispiele
Intensive Aktivitäten
2×15 insgesamt 30
Schwitzen oder Hecheln
≥6 anstrengend
Schulsport, Vereinsaktivität, Freizeitaktivität mit der Familie oder mit Freunden wie Schwimmen, Inlineskaten, Versteckspiel etc.
Moderate Aktivitäten
4×15 insgesamt 60
Kein Schwitzen oder Hecheln
3–5 etwas anstrengend
–
Alltagsaktivitäten
6×5–10
–
–
Wegstrecken wie zur Schule gehen oder mit dem Fahrrad oder Roller fahren; Hausarbeit z. B. Laubkehren, Staubsaugen, Zimmer aufräumen
Inaktivität 6–12 Jahre
Max. 4×15
–
–
>12 Jahre
Max. 4×30
–
–
den, Wege – z. B. zur Schule – aktiv zu gestalten, etwa Radtouren gemeinsam mit der Familie oder mit Freunden zu unternehmen etc. Als Empfehlung dient die sogenannte Kinder-Bewegungspyramide (. Tab. 7.1, mod. nach Graf et al. 2005) für bewegungsarme und/oder übergewichtige Kinder und deren Eltern, mit deren Hilfe Bewegung, Spiel und Sport verstärkt in Alltag und Freizeit integriert, inaktive Tätigkeiten aber reduziert werden sollen, da neben einer Steigerung der Bewegungszeit besonders die Reduktion von Inaktivität, speziell der Nutzung audiovisueller Medien (Fernsehzeit, Computer- und Playstation-Konsum) bedeutsam scheint. Dies kann jedoch nur erreicht werden, wenn den Kindern und Jugendlichen attraktive Alternativen aufgezeigt werden.
7.6
Ausgewählte Risiken im Sport und bei körperlicher Aktivität
Bei der juvenilen Adipositas finden sich zahlreiche potenzielle Komorbiditäten (Wabitsch 2004). Aus sportmedizinisch/sportwissenschaftlicher Sicht
Fernsehen, Computer, Playstation
müssen vorrangig orthopädische Aspekte berücksichtigt werden. Sie bedürfen – ebenso wie die übrigen im Folgenden genannten Komorbiditäten – eines angepassten Bewegungs- bzw. Sportangebots, das auf die individuellen Voraussetzungen, Möglichkeiten und Einschränkungen abgestimmt ist; möglicherweise ist zusätzlich physiotherapeutische Behandlung indiziert. Grundsätzlich ist – absolut betrachtet – die Belastbarkeit des passiven Bewegungsapparates bei Kindern und Jugendlichen geringer als bei Erwachsenen, da das Skelettwachstum in diesem Alter noch nicht abgeschlossen ist. Belastungen der Gelenke und anderer passiver Strukturen, die im Rahmen unterschiedlicher körperlicher Aktivitäten auftreten (z. B. beim Springen und Laufen, Tragen und Fangen von schweren Gegenständen wie z. B. Medizinbällen), werden bei Adipösen durch das höhere Körpergewicht noch gesteigert. Dies kann langfristig besonders im Bereich der unteren Extremitäten zu einem Neuauftreten oder einer Progression bereits bestehender Schäden führen. Eine im Verhältnis geringer ausgeprägte Muskelmasse erfüllt die erforderliche Schutzfunktion für die Gelenke
84
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Kapitel 7 · Sport und Bewegung in der Prävention undTherapie von Übergewicht und Adipositas im Kindes- und Jugendalter
im Sinne einer Stabilisierung bei hohen Belastungen nicht ausreichend. Daraus resultiert ein erhöhtes Risiko akuter Verletzungen bis hin zu chronischen Schäden. Dies gilt besonders bei abruptem Bremsen, plötzlichen Richtungsänderungen beim Laufen und bei hohen Kraftbelastungen, z. B. bei unsachgemäß durchgeführtem Krafttraining. Zusätzlich fallen bei adipösen Kindern erhöhte Blutdruckwerte, Belastungsasthma und eine eingeschränkte thermoregulatorische Kompensationsfähigkeit auf. Die genannten Risiken verdeutlichen, dass eine Sporttherapie bei adipösen Kindern und Jugendlichen grundlegende sportwissenschaftliche, aber auch sportmedizinische Kenntnisse erfordert. Neben physiologischen und pathophysiologischen Hintergründen, potenziellen Komorbiditäten und Risiken empfehlen sich Kenntnisse im Umgang mit Notfallsituationen. Als mögliche Störgrößen hinsichtlich Durchführung und Erfolg einer Sport- und Bewegungstherapie im Rahmen einer Adipositas-Schulung haben sich die folgenden Punkte herauskristallisiert:
Mögliche Störgrößen während und nach einer Sporttherapie bei adipösen Kindern und Jugendlichen 5 Fehlende Überprüfung der Motivation der teilnehmenden Kinder und ihrer Familien 5 Zu geringe und nicht anhaltende Motivation 5 Kurze Dauer der Sporttherapie 5 Mangelnde Einbeziehung der Familie und des weiteren sozialen Umfelds in die Förderung der körperlichen Aktivität in Alltag und Freizeit 5 Hoher Leistungsdruck in der Gruppe oder im Umfeld 5 Ungenügende Abstimmung des Programms auf die individuellen Voraussetzungen, Möglichkeiten und Interessen der teilnehmenden Kinder und Jugendlichen
20 Die oben aufgeführten physiologischen und psychologischen Effekte verschiedener nationaler und
internationaler Programme zeigen, dass durch die Bewegungstherapie neben einer Reduktion des BMI und BMI-SDS (alters- und geschlechtskorrigierte Größe bzw. BMI-standard deviation score) v. a. eine Steigerung der Leistungsfähigkeit und Besserung des Selbstkonzepts erreicht werden kann. Als entscheidendes Kriterium hat sich aber die stete Überprüfung der Motivation und ggf. notwendige Kontrolle, z. B. durch die Kostenträger (regelmäßiger Teilnahmenachweis für die Krankenkassen) gezeigt. Ein weiteres Problem ergibt sich aus dem Fehlen einer adäquaten Nachsorge. Die Kinder und Jugendlichen haben bestenfalls infolge einer interdisziplinären Schulungsmaßnahme den BMI-SDS, möglicherweise auch den BMI senken können, sind aber meist immer noch adipös mit den o. g. Konsequenzen. Selbst die Steigerung der motorischen Leistungsfähigkeit vermag die oft jahrelang erworbenen Defizite nicht auszugleichen. Den Kindern und ihren Familien muss dies bereits im Vorfeld, aber auch während und nach dem Programm deutlich gemacht werden, um nicht falsche Hoffnungen zu wecken, die dann zu weiteren Frustrationen führen. Besonders bedeutsam ist dies für die weitere Entwicklung nach der Teilnahme. Aktuell sind die wenigsten Vereine und/oder andere Sportanbieter auf die besondere Situation dieser Kinder und Jugendlichen vorbereitet – als positives Beispiel kann das Programm »Schwer mobil« des Landessportbundes Nordrhein-Westfalen genannt werden. Die hier noch bestehende erhebliche Versorgungslücke unterstreicht die Bedeutung intensivierter körperlicher Beanspruchung im Alltag und möglichst selbstständig gestalteter Bewegungs- und Sportaktivität in der Freizeit übergewichtiger und adipöser Kinder und Jugendlicher.
7.7
Zusammenfassung
Zunehmender Bewegungsmangel auch im Kindes- und Jugendalter führt in den letzten Jahren zu einer Zunahme von Übergewicht und Adipositas bei diesen Altersgruppen. Bedingt wird dies etwa durch vermehrten Fernsehkonsum und Computernutzung, aber auch durch insgesamt zu geringe körperliche Aktivität im Alltag. Eine Änderung die-
85 7.7 · Zusammenfassung
ser Situation bedingt eine Änderung des Lebensstils. Die Umsetzung entsprechender Programme ist daher in hohem Maße von der Motivation durch den jeweiligen Therapeuten abhängig. Geeignete Sportarten sind generell solche, die von den Kindern und Jugendlichen freiwillig gewählt werden. Ausdauertraining steht somit weniger im Vordergrund als Spielsportarten, die mit Freunden oder mit der Familie ausgeübt werden können. Besonders wichtig ist auch die Motivation zur Integration von körperlicher Aktivität in den Alltag wie z. B. den Schulweg zu Fuß oder mit dem Fahrrad zu bewältigen. Bei der Gestaltung der Programme ist auch die meist mangelhafte körperliche Fitness übergewichtiger Kinder und Jugendlicher zu beachten, um Überlastungen mit resultierenden Gelenkschäden oder Gefährdungen durch erhöhte Blutdruckwerte, Belastungsasthma und eine eingeschränkte thermoregulatorische Kompensationsfähigkeit zu vermeiden.
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Kapitel 7 · Sport und Bewegung in der Prävention undTherapie von Übergewicht und Adipositas im Kindes- und Jugendalter
26 Graf C., Kupfer A., Kurth A. et al.: Effekte einer interdisziplinären Intervention auf den BMI-SDS sowie die Ausdauerleistungsfähigkeit adipöser Kinder – Das CHILT IIIProjekt. Dtsch ZS Sportmed 56:353–357 (2005b) 27 Graf C., Rost SV, Koch B. et al.: Data from the StEP TWO programme showing the effect on blood pressure and different parameters for obesity in overweight and obese primary school children. Cardiol Young 15:291–298 (2005c) 28 Graf C., Jouck S., Koch B. et al.: Motorische Leistungsfähigkeit von übergewichtigen und adipösen Kindern und Jugendlichen im Vergleich zu ihren Altersgenossen. Monatsschrift Kinderheilkunde. Monatsschr Kinderheilkd 155: 631–637 (2007) 29 Graf C., Koch B., Brixius K. et al.: Correlation between BMI, physical performance, insulin sensitivity, and adipocytokines in children – baseline and final data of the CHILT III project. Zur Publikation eingereicht 30 Gutin B., Barbeau P., Owens S. et al.: Effects of exercise intensity on cardiovascular fitness, total body composition and visceral adiposity of obese adolescents. Am J Clin Nutr 75:818–826 (2002) 31 Hauner H., Berg A.: Körperliche Bewegung zur Prävention und Behandlung der Adipositas. Dtsch Ärztbl 97:768–774 (2000) 32 Hayashi T., Fujino M., Shindo M., Hiroki et al.: Echocardiographic and electrocardiographic measures in obese children after an exercise program. Int J Obes 11:465– 472 (1987) 33 Hebestreit H.: Exercise and physical activity in the child with asthma. In: Armstrong M., van Mechelen W. (Hrsg.): Paediatric exercise science and medicine. Oxford university press, Oxford (2000) S. 323–330 34 Hollmann W., Hettinger T (Hrsg.): Sportmedizin. 4. Aufl. Schattauer Verlag, Stuttgart, New York (2000) 35 Israel S.: Thermoregulation und Wasserhaushalt. In: Badtke G. (Hrsg.): Lehrbuch der Sportmedizin. BarthVerlag, Heidelberg, Leipzig (1999) 36 Kimm SY, Glynn NW, Kriska AM. et al.: Decline in physical activity in black girls and white girls during adolescence. N Engl J Med 347:709–715 (2002) 37 Koch B., Graf C., Dordel S.: Sport- und bewegungstherapeutische Ansätze In: Graf C., Dordel S., Reinehr T. (Hrsg.): Bewegungsmangel und Fehlernährung im Kindes- und Jugendalter. 1. Aufl. Deutscher Ärzte-Verlag, Köln (2007) S. 185–192 38 Lawrenz A., Lawrenz W.: Bedeutung von Bewegung und Sport beim adipösen Kind. In: Wabitsch M., Zwiauer K., Hebebrand J., Kiess W. (Hrsg.): Adipositas bei Kindern und Jugendlichen – Grundlagen und Klinik.. Springer Medizin Verlag, Berlin, Heidelberg, New York (2005) S. 315–320 39 Lazzer S., Vermorel M., Montaurier C. et al.: Changes in adipocyte hormones and lipid oxidation associated with weight loss and regain in severely obese adolescents. Int J Obes 29:1184–1191 (2005)
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87 7.7 · Zusammenfassung
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65 66
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7
89
Bewegungstherapie bei arterieller Hypertonie Hans-Georg Predel, Thomas Schramm
8.1
Definition – 90
8.2
Epidemiologie – 90
8.3
Diagnostik des Hochdruckpatienten – 91
8.4
Therapie der arteriellen Hypertonie – 91
8.4.1 8.4.2
Bewegungstherapie – 91 Bewegungstherapie in Verbindung mit medikamentöser antihypertensiver Therapie – 95
8.5
Kontraindikationen und Komplikationen der Sporttherapie – 95
8.6
Zusammenfassung – 96
8
90
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Kapitel 8 · Bewegungstherapie bei arterieller Hypertonie
Körperliche bzw. sportliche Aktivitäten haben sich als ein wesentliches therapeutisches Prinzip der arteriellen Hypertonie etabliert. In verschiedenen prospektiven Studien und deren Metaanalysen konnte gezeigt werden, dass regelmäßige körperliche/sportliche Aktivitäten die kardiovaskuläre Letalität sowie die Gesamtmortalität signifikant senken. In diesem Beitrag lesen Sie: 4 wie Bluthochdruck definiert ist, 4 über Epidemiologie und Diagnostik der arteriellen Hypertonie, 4 über die Kombination von medikamentösen und nichtmedikamentösen Maßnahmen in der Therapie der Hypertonie, 4 welche Effekte die Bewegungstherapie auf den Blutdruck hat, 4 wie die Bewegungstherapie bei Hypertonie geführt werden sollte, 4 welche Kontraindikationen es gibt und welche Komplikationen auftreten können.
8.1
Definition
Gemäß den aktuellen Leitlinien der internationalen und nationalen Fachgesellschaften werden Blutdruckwerte im arteriellen Gefäßsystem von ≥140/90 mm Hg als arterielle Hypertonie definiert. Darüber liegende Blutdruckwerte werden in die Hypertoniestadien 1–3 differenziert (Deutsche Hochdruckliga 2005). Blutdruckwerte <140/90 mm Hg werden in »optimal«, »normal« und »hochnormal« eingeteilt. Bei unterschiedlicher Stadienzugehörigkeit von systolischem bzw. diastolischem Blutdruck ist für die Klassifikation der jeweils höhere Wert maßgebend. Abgegrenzt wird eine isolierte systolische Hypertonie, die vorwiegend bei älteren Patienten auftritt. Eine Belastungshypertonie liegt vor, wenn bei 100 Watt 200/100 mm Hg überschritten werden (Deutsche Hochdruckliga 2005, . Tab. 8.1). Die arterielle Hypertonie ist entweder Folge eines erhöhten Herzzeitvolumens oder eines erhöhten peripheren Gefäßwiderstandes oder beider Faktoren. Die weitaus häufigste Hochdruckform ist die primäre (essenzielle) Hypertonie (>90 % aller Hypertonien). Sie ist eine multifaktorielle, polygene Erkrankung. Demgegenüber sind die sekundär-
. Tab. 8.1 Definition und Klassifikation von Blutdruckbereichen Klassifikation
Systolisch [mm Hg]
Diastolisch [mm Hg]
Optimal
<120
<80
Normal
120–129
80–84
Hochnormal
130–139
85–89
Stufe 1 (leicht)
140–159
90–99
Stufe 2 (mittel)
160–179
100–109
Stufe 3 (stark)
≥180
≥110
Isolierte systolische Hypertonie
≥140
<90
Belastungshypertonie bei 100 Watt
≥200
≥100
Hypertonie
en Hypertonieformen in den meisten Fällen renal oder endokrin bedingt. Deren Therapie richtet sich primär nach der hochdruckauslösenden Grunderkrankung.
8.2
Epidemiologie
Die primäre arterielle Hypertonie zählt zu den häufigsten chronischen Erkrankungen und ist gleichzeitig ein klinisch bedeutsamer Risikofaktor für kardiovaskuläre Erkrankungen. Im Vordergrund stehen der apoplektische Insult, die koronare Herzkrankheit (KHK), die Herzinsuffizienz sowie Nieren- und Augenschäden (u. a. Nephrosklerose, Retinopathie, Glaukom). Zu einer weiteren Steigerung des kardiovaskulären Risikos kommt es, wenn der hohe Blutdruck mit anderen Risikofaktoren assoziiert ist. Häufig ist das Zusammentreffen mit abdomineller Adipositas sowie gestörtem Fett- und Glukosemetabolismus; eine Konstellation, die auch als metabolisches Syndrom bekannt ist. Exakte Angaben zur Prävalenz der arteriellen Hypertonie sind nicht möglich, da eine hohe Dunkelziffer vermutet wird. Sie wird für die westlichen Industrienationen mit ca. 20 % der Gesamtbevölkerung bei steigender Tendenz angegeben, wobei
91 8.4 · Therapie der arteriellen Hypertonie
ein linearer Anstieg mit dem Lebensalter beobachtet wird. So besteht bei annähernd 50 % der über 60-Jährigen definitionsgemäß eine arterielle Hypertonie. Neben der mangelhaften diagnostischen Detektion besteht seit Jahren ein therapeutisches Defizit hinsichtlich der Blutdruckkontrolle in der Bevölkerung. Nur selten gelingt es, die therapeutischen Zielwerte entsprechend der Leitlinien langfristig zu realisieren. So wird der Anteil der adäquat behandelten Bluthochdruckpatienten mit lediglich 10–15 % angegeben.
8.3
Diagnostik des Hochdruckpatienten
Die Diagnostik der arteriellen Hypertonie sollte entsprechend den aktuellen Leitlinien darauf zielen, durch eine exakte Blutdruckmessung eine hypertensive Blutdrucklage festzustellen und eine Einteilung in die o. g. Stadien vorzunehmen. Eine sekundäre Hochdruckursache sollte ausgeschlossen werden. Wichtig ist es, im Sinne einer Risikostratifizierung das kardiovaskuläre Globalrisiko durch die Suche nach weiteren Risikofaktoren sowie Begleitund Folgeerkrankungen zu bestimmen. Zur Realisierung dieser Ziele umfasst die Diagnostik eine wiederholte, methodisch korrekte Messung des arteriellen Blutdruckes, eine Anamnese, eine körperliche Untersuchung sowie ergänzende laborchemische und apparative Diagnoseverfahren. Neben der Blutdruckmessung in der ärztlichen Praxis haben sich Patienten-Selbstmessungen sowie die 24-Stunden-ABDM (ambulante Blutdruckmessung) unter häuslichen Bedingungen während der Aktivitäten des Tages sowie nachts etabliert. Blutdruckmessungen während ergometrischer Belastungen sind eine wichtige diagnostische Maßnahme. Das gilt insbesondere für den körperlich/sportlich aktiven Hochdruckpatienten und ist unabdingbar im Vorfeld bewegungstherapeutischer Maßnahmen. Zudem können Blutdruckwerte unter standardisierten, ergometrischen Belastungen nützliche prognostische und therapeutische Zusatzinformationen liefern.
8.4
8
Therapie der arteriellen Hypertonie
Generelles Ziel der antihypertensiven Therapie ist eine langfristige Blutdruckkontrolle, verbunden mit einer optimalen Reduktion des kardiovaskulären Gesamtrisikos. Die Therapie sollte daher im Gesamtkontext des individuellen Risikoprofils konzipiert werden. Die antihypertensive Therapie basiert sowohl auf nichtmedikamentösen »Allgemeinmaßnahmen« als auch auf blutdrucksenkenden Pharmaka. Für beide therapeutischen Strategien ist die Effizienz hinsichtlich der kardiovaskulären Morbiditäts- und Mortalitätsreduktion gut belegt (Fagard et al. 2002). Zu den etablierten und mit dem hohem Evidenzgrad versehenen nichtmedikamentösen Therapieansätzen gehören u. a. Gewichtsreduktion, 4 Steigerung der körperlichen Aktivitäten sowie 4 quantitative und qualitative Ernährungsumstellung (Dickinson et al. 2006, European Society of Hypertension 2003). Die nichtmedikamentösen Therapieverfahren stellen grundsätzlich die Basis der Behandlung dar. Dieses gilt vor allem für leichte Hypertonieformen ohne erhöhtes Globalrisiko. Die Indikation für eine begleitende medikamentöse Hochdrucktherapie richtet sich nach der Höhe des Blutdrucks sowie nach den Begleit- und Folgeerkrankungen. Im Hinblick auf körperliche Aktivität bzw. bewegungstherapeutische Maßnahmen ist die Kontrolle des Belastungsblutdruckes ein zusätzliches Kriterium.
8.4.1
Bewegungstherapie
Körperliche bzw. sportliche Aktivitäten haben sich als ein wesentliches therapeutisches Prinzip der arteriellen Hypertonie etabliert (European Society of Hypertension 2003, Whelton et al. 2002, Deutsche Hochdruckliga 2005, American College of Sports Medicine 2004). In verschiedenen prospektiven Studien und deren Metaanalysen konnte darüber hinaus gezeigt werden, dass regelmäßige kör-
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Kapitel 8 · Bewegungstherapie bei arterieller Hypertonie
perliche/sportliche Aktivitäten die kardiovaskuläre Letalität sowie die Gesamtmortalität signifikant senken (Whelton et al. 2002). Angesichts der Tatsache, dass derzeit lediglich ca. 10–15 % der deutschen Bevölkerung das aus sportmedizinischer Sicht empfohlene Aktivitätsniveau erreichen, ergibt sich ein enormes Potenzial für die Bewegungstherapie. Von praktischer Bedeutung ist die Sequenz des Einsatzes der nichtmedikamentösen und medikamentösen Therapieverfahren. Entsprechend den Leitlinien können bei den Hypertoniestufen 1 und 2 von Anfang an bewegungstherapeutische Maßnahmen allein oder in Kombination mit einer antihypertensiven Pharmakotherapie eingeleitet werden (Deutsche Hochdruckliga 2005). Bei Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen sollte die Bewegungstherapie in Verbindung mit weiteren nichtmedikamentösen Therapieoptionen besonders konsequent eingesetzt werden, um eine medikamentöse Hochdrucktherapie nach Möglichkeit zu vermeiden. Dagegen kann es bei älteren Hochdruckpatienten erheblich schwerer sein, eine effektive und nachhaltige Lebensstilmodifikation zu erzielen. Grundsätzlich anders verhält es sich bei Hypertoniestufe 3 (RR>180/110 mm Hg) bzw. bei bereits vorliegenden Begleit- oder Folgeerkrankungen der Hypertonie. Hier muss vor Einleitung einer Bewegungstherapie eine medikamentöse Blutdruckeinstellung erfolgen, um dann im Sinne einer sequenziellen Therapie die nichtmedikamentösen Maßnahmen einzuleiten. Es besteht eine inverse Beziehung zwischen körperlicher Aktivität und dem arteriellem Blutdruck. Diese wird auch für noch normale Blutdruckbereiche beobachtet und erklärt zumindest partiell die präventive Wirkung regelmäßiger Bewegung im Hinblick auf die Entstehung einer arteriellen Hypertonie. Für die effektive und sichere Umsetzung einer Bewegungstherapie für den kardiovaskulären Risikopatienten ist die Kenntnis grundlegender Reaktionen des Blutdruckes auf körperliche Belastungen unerlässlich. Physiologisch werden Akuteffekte von chronischen Effekten unterschieden.
Akuteffekte körperlicher Aktivität auf den Blutdruck 4 Dynamische aerobe Belastungen (z. B. Laufen mit zunehmender Geschwindigkeit) führen über eine Steigerung des Herzminutenvolumens bei gleichzeitig abfallendem peripheren Gefäßwiderstand zu einem linear zur Intensität der Belastung erfolgenden Anstieg des systolischen Blutdruckes. Der diastolische Blutdruck bleibt bei dieser Belastungsform gleich oder steigt lediglich geringfügig an. 4 Statische Belastungen insbesondere größerer Muskelgruppen (z. B. Fahrradfahren bergauf, Kraftsport etc.) führen – insbesondere bei simultaner Pressdrucküberlagerung – zu einem Anstieg des peripheren Gefäßwiderstandes. Als Folge steigt sowohl der systolische als auch der diastolische Blutdruck überschießend an. Das Blutdruckverhalten des Hypertonikers unter Belastung ist zusätzlich dadurch charakterisiert, dass die Blutdruckwerte bei vergleichbarer Belastungsintensität höher liegen als beim Normotoniker. Entsprechend kann es zu einem exzessiven Blutdruckanstieg kommen. Ein oberer Grenzwert für den systolischen Blutdruck bei maximaler Belastung wird allgemein bei 250 mm Hg angegeben, hängt jedoch konkret – insbesondere im Rahmen sportmedizinischer Fragestellungen – vom klinischen Gesamtbild ab. 4 Unmittelbar nach einem längeren Belastungsintervall kommt es zu einem über mehrere Stunden anhaltenden Blutdruckabfall, der systolisch bis zu 20 mm Hg und diastolisch bis zu 10 mm Hg betragen kann. Dieser Blutdruckabfall ist bei hypertensiver Blutdrucklage ausgeprägter (Fagard 2001).
Chronische Effekte Es ist gut dokumentiert, dass regelmäßige, vorwiegend ausdauerorientierte körperliche Aktivität sowohl den systolischen als auch den diastolischen Blutdruck durch eine ganze Reihe von Mechanismen dauerhaft senkt.
93 8.4 · Therapie der arteriellen Hypertonie
Antihypertensive Effekte einer Bewegungstherapie 5 Reduktion des peripheren Widerstandes 5 Verbesserung einer endothelialen Dysfunktion 5 Steigerung der Insulinsensitivität des arbeitenden Skelettmuskels 5 Verbesserung des Lipidprofils: small-dense LDL ↓, HDL ↑ 5 Verschiebung der vegetativen Balance zugunsten des parasympathischen Tonus 5 Modulation der Barorezeptoren-Sensitivität mit Absenkung des Sollwertes 5 Antithrombogene Effekte 5 Negative Kalorienbilanz/Unterstützung einer Gewichtsreduktion 5 Kochsalzverlust durch Schweißbildung
Sportliche bzw. körperliche Aktivitäten wirken erst dann blutdrucksenkend im Sinne einer Bewegungstherapie, wenn sie strukturiert, adäquat dosiert und dauerhaft stattfinden. Eine klinisch bedeutsame Blutdrucksenkung wird unter diesen Voraussetzungen in der Regel bereits nach 4 bis 6 Wochen erreicht. Patienten aller Altersgruppen profitieren von dem Training gleichermaßen. Die blutdrucksenkenden Effekte der Bewegungstherapie zeigen sich zumindest partiell auch bei normotensiver Blutdruckausgangslage und senken zudem das Risiko, eine arterielle Hypertonie zu entwickeln (Hu et al. 2004). Hinsichtlich geschlechtsspezifischer Effekte ist die Datenlage widersprüchlich. Während einige Untersuchungen keine signifikanten Unterschiede aufweisen, findet sich in anderen Untersuchungen bei Frauen eine stärkere Blutdrucksenkung durch die Bewegungstherapie (Whelton et al. 2002, Hagberg et al. 2000). Das antihypertensive Potenzial der bewegungstherapeutischen Interventionen, bei denen in der Regel Ausdauerbelastungen über 30–60 min in einer Intensität von 40–70 % der maximalen Sauerstoffaufnahmekapazität an mindestens 2 bis 3 Tagen pro Woche durchgeführt wurden, beträgt im Mittel 7–10 mm Hg systolisch und 5–7 mm Hg diastolisch und ist damit vergleichbar mit einer medika-
8
mentösen antihypertensiven Monotherapie. Es ist zu beachten, dass das Ausmaß der Blutdrucksenkung interindividuell erheblich differiert. Es reicht von »non-Response« bis hin zu systolisch/diastolischer Blutdrucksenkung von 25/15 mm Hg. Darüber hinaus findet sich eine günstige Beeinflussung des Belastungsblutdruckes. Die Blutdrucksenkung ist des Weiteren in der Regel umso ausgeprägter, je höher die Blutdruckausgangslage ist (Whelton et al. 2002). In den meisten Studien stellte sich zudem bereits nach wenigen Wochen eine deutliche Verbesserung der subjektiven Lebensqualität ein (Predel u. Schramm 2006). Aufgrund dieser günstigen Effekte hat sich die Bewegungstherapie im Spektrum der nichtpharmakologischen »Allgemeinmaßnahmen« als ein wesentliches therapeutisches Prinzip der arteriellen Hypertonie etabliert (American College of Sports Medicine 2004, Deutsche Hochdruckliga 2005). Zur Rolle des Krafttrainings liegen derzeit deutlich weniger wissenschaftlich basierte Untersuchungen vor. Allerdings zeigen mehrere kleine Studien, dass ein ergänzendes, dynamisches Krafttraining in moderater Intensität, insbesondere bei assoziiertem metabolischem Syndrom, durchaus günstige Effekte vermitteln kann. Unbedingte Voraussetzung hierfür ist jedoch die korrekte Durchführung des Krafttrainings in Verbindung mit einer begleitenden sportmedizinischen Betreuung. (Deutsche Hochdruckliga 2005, American College of Sports Medicine 2004, Kelly 1997, Braith u. Stewart 2006).
Konzeption und Steuerung der Bewegungstherapie Konzeption und Steuerung eines bewegungstherapeutischen Programms für den Hochdruckpatienten ist eine interdisziplinäre Aufgabe, die in Kooperation zwischen Arzt und Bewegungstherapeut erfolgen sollte. Basale Voraussetzung einer erfolgreichen Bewegungstherapie ist eine diagnostisch gesicherte, ausreichende körperliche Belastbarkeit. Neben dem klinischen Gesamtbild (Begleiterkrankungen etc.) sind Motivation, motorische und koordinative Kompetenzen und Vorerfahrungen des Patienten sowie dessen sozioökonomisches Umfeld und nicht zuletzt die infrastrukturellen Gegebenheiten wichtige Kriterien für die Gestaltung der Bewegungstherapie.
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Kapitel 8 · Bewegungstherapie bei arterieller Hypertonie
Im Hinblick auf den langfristigen Erfolg einer Bewegungstherapie für den Hochdruckpatienten können daher für die Auswahl einer geeigneten Bewegungsform bzw. Sportart nur wenige generelle Empfehlungen gegeben werden; vielmehr ist ein individualisiertes Vorgehen erforderlich. Die Nichtbeachtung dieser Prinzipien führt insbesondere in der Initialphase eines Trainingsprogramms häufig zu einem vorzeitigen Therapieabbruch. Von entscheidender Bedeutung für die Sicherung der Compliance sowie für den Therapieerfolg bei möglichst geringem Risiko ist die individuelle Auswahl einer geeigneten Sportart/Bewegungsform. Einen Überblick gibt . Tab. 8.2. Neben der Auswahl der Bewegungsform ist für den Erfolg einer Bewegungstherapie deren adäquate Dosierung entscheidend. Um die o. g. hämodynamischen und metabolischen Effekte möglichst optimal auszuschöpfen, wird empfohlen wöchentlich 3 bis 5 Trainingseinheiten mit dynamischer Muskelarbeit über einen Zeitraum von mindestens 20 bis 60 Minuten durchzuführen. Ergänzend sollte eine Trainingseinheit von 30 bis 45 Minuten Fitnessgymnastik bzw. dynamisches Kräftigungstraining unter kompetenter Anleitung hinzukommen. Die Belastungsintensität sollte so gewählt werden, dass die Belastung vorwiegend im aeroben Bereich durchgeführt wird. Die Festlegung der individuellen, optimalen Belastungsintensität sollte auf Basis einer spiroergometrischen bzw. laktatgestützten Leistungsdiagnostik erfolgen. Hieraus wird die individuelle Trainingsherzfrequenz ermittelt und durch Monitoring mittels Pulsuhren praktisch umgesetzt. Dieses Vorgehen ist besonders bei Einnahme von frequenzmodulierenden Pharmaka (Betarezeptorenblocker) bzw. bei gravierenden Begleit- und Folgeerkrankungen (z. B. koronare Herzkrankheit) anzuraten. Für die ärztliche Praxis reicht es in der Regel aus, die Belastungsintensität im Bereich von 50–70 % der fahrradergometrischen Maximalleistung festzulegen, vorausgesetzt es gibt keine medizinischen Kontraindikationen. Das Blutdruckverhalten unter der Belastung sollte hier neben der Analyse des Belastungs-EKG besonders berücksichtigt werden. Ein Beispiel für ein praktisches bewegungstherapeutisches Programm für einen Hypertoniepatienten gibt . Tab. 8.3.
. Tab. 8.2 Eignung verschiedener Sportarten bei Hypertonie Gut geeignet
Ausdauersportarten mit geringem bis mittlerem Krafteinsatz (Walking, Nordic Walking, Laufen, Radfahren, Inlineskating, Skilanglauf, Schwimmen etc.) Mannschaftsspiele mit geringer körperlicher Belastungsintensität aufgrund modifizierter Durchführung (z. B. Volleyball, Fußball, Soft-Tennis etc.) Modifiziertes Kräftigungstraining ohne Pressatmung unter fachkundiger Anleitung (z. B. Theraband)
Bedingt geeignet1
Kraft- und Kampfsportarten mit niedrigen bis mittleren Belastungsintensitäten (ohne Pressatmung) Einzelrückschlagspiele mit geringer bis mittlerer Belastungsintensität (Tischtennis, Tennis etc.) Mannschaftsspiele mit mittlerer Belastungsintensität Ausdauersportarten mit höherem Krafteinsatz, z. B. Rudern
Ungeeignet
Kraft- und Kampfsportarten mit hohen Belastungsintensitäten Einzelsportarten und Einzelspiele mit hoher Belastungsintensität (Leichtathletik, Badminton, Squash etc.)
1
Abhängig von der Schwere der Hypertonie, Begleiterkrankungen sowie der sportlichen Vorerfahrung
. Tab. 8.3 Beispiel für ein praktisches bewegungstherapeutisches Programm für einen Hypertoniepatienten Training
Dauer/Intensität
Fahrradfahren
2-mal pro Woche 45–60 min 80 % des Trainings ca. 70 % der max. Leistung zusätzlich in Intervallen höhere Belastungen
Power-Walking
1-mal pro Woche 45–60 min ca. 70 % der max. Leistung
Fitnessgymnastik
1-mal pro Woche
8
95 8.5 · Kontraindikationen und Komplikationen der Sporttherapie
. Tab. 8.4 Ergebnisse des Study Program on Physical Activity and on Risk Reduction in Treated Hypertensives (SPORT-H; American College of Sports Medicine, Stand 2004)
1
2
Blutdruck in Ruhe
Blutdruck unter Belastung
Metabolismus
Leistungsfähigkeit/ Leistungsbereitschaft
Lebensqualität
Trainingseffekte
Kardioselektive Betablocker1
+
+++
–
–
–
–
Diuretika2
+
(+)
–
(–)
(–)
(–)
Langwirksame Kalziumantagonisten
+
+
∅
∅
∅
∅
ACE-Hemmer
+
+
∅
∅
∅
∅
AT1-Antagonisten
+
+
∅
∅
∅
∅
Betablocker mit vasodilatatorischen Eigenschaften zeigen geringere Beeinträchtigung von Metabolismus, Leistungsfähigkeit, Lebensqualität und Trainingseffekten Besonders geeignet als niedrig dosierter Kombinationspartner
8.4.2
Bewegungstherapie in Verbindung mit medikamentöser antihypertensiver Therapie
In Ergänzung zu den bewegungstherapeutischen Maßnahmen ist zur Erreichung der Zielblutdruckwerte häufig eine begleitende medikamentöse antihypertensive Therapie notwendig. Bei der Wahl des antihypertensiven Pharmakons im Rahmen einer Bewegungstherapie sollte jedoch unbedingt beachtet werden, dass die günstigen Effekte der Bewegungstherapie durch die medikamentöse Therapie optimal unterstützt und nicht etwa konterkariert werden. Die antihypertensive Pharmakotherapie sollte daher folgende Qualitätskriterien erfüllen: 4 gesicherter prognostischer Nutzen, 4 effektive Kontrolle sowohl des Ruhe- als auch des Belastungsblutdruckes, 4 Stoffwechselneutralität sowie 4 fehlende Beeinträchtigung der körperlichen Leistungsfähigkeit und der subjektiven Leistungsbereitschaft. Entsprechend den Leitlinien der nationalen und internationalen Hypertoniegesellschaften können prinzipiell alle sog. Antihypertensiva der 1. Wahl eingesetzt werden. Eine orientierende Übersicht
zur Differenzialtherapie des körperlich aktiven Hochdruckpatienten gibt . Tab. 8.4. Die Stoffwechselneutralität der AT1-Antagonisten, ACE-Hemmer sowie langwirksamen Kalziumantagonisten ist differenzialtherapeutisch insbesondere bei begleitendem metabolischen Syndrom vorteilhaft (. Tab. 8.4). Steht ein exzessiver Anstieg des Belastungsblutdruckes beispielsweise im Rahmen von Kraftsport therapeutisch im Vordergrund, weisen Betarezeptorenblocker, insbesondere die der 3. Generation mit vasodilatatorischen Eigenschaften und weitgehender Stoffwechselneutralität, ein günstiges Profil auf. Dieses gilt insbesondere bei begleitender KHK.
8.5
Kontraindikationen und Komplikationen der Sporttherapie
Kontraindikationen und Komplikationen der Bewegungstherapie bei der arteriellen Hypertonie sind abhängig von der Bewegungsform sowie von Intensität und Dauer der körperlichen Belastungen (. Tab. 8.2). Grundsätzlich sollte für jeden Hochdruckpatienten unter Berücksichtigung seines Ausgangsblutdruckes sowie seiner klinischen Gesamtsituation eine individuelle Sporttherapie nach o. g. Prinzipien durchführbar und thera-
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peutisch gewinnbringend sein. Bei Werten über 180/110 mm Hg (Stufe 3) muss vor Beginn eine ausreichende medikamentöse Kontrolle erreicht sein. Weitere Einschränkungen bzw. Kontraindikationen ergeben sich bei schwerwiegenden, nicht adäquat zu kontrollierenden internistischen bzw. orthopädischen Begleit- bzw. Folgeerkrankungen. Klinisch bedeutsam sind u. a. 4 Verletzungsrisiken durch Visuseinschränkungen (hypertensive Retinopathie), 4 myokardiale Durchblutungsstörungen bzw. Arrhythmien inkl. plötzlichem Herztod (KHK, linksventrikuläre Hypertrophie), 4 Überlastungsschäden der unteren Extremitäten (Adipositas, degenerative Gelenkerkrankungen) sowie 4 Stoffwechselentgleisungen (Diabetes mellitus Typ 2).
8.6
Zusammenfassung
Ausdauerorientierte sportliche bzw. körperliche Aktivitäten stellen die Basis einer modernen, leitlinienorientierten Therapie der primären arteriellen Hypertonie dar. Zur Sicherung eines langfristigen Therapieerfolges ist eine vorausgegangene medizinische Diagnostik sowie eine adäquate Auswahl, Dosierung und Intensität der Bewegungstherapie in enger Kooperation von Ärzten und Bewegungstherapeuten unerlässlich. Bei zusätzlicher medikamentöser antihypertensiver Therapie sollte beachtet werden, dass die günstigen Effekte der Bewegungstherapie durch die medikamentöse Therapie synergistisch unterstützt werden.
Literatur
17
1
18
2
19
Kapitel 8 · Bewegungstherapie bei arterieller Hypertonie
3
20 4
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97
Bewegungstherapie bei Herzinsuffizienz – aktuelle Forschungsergebnisse Herbert Nägele
9.1
Einleitung – 98
9.1.1
Definition, Prävalenz und sozialmedizinische Bedeutung der Herzinsuffizienz – 98 Klinisches Erscheinungsbild, Symptome und Lebensqualität bei Herzinsuffizienz – 98
9.1.2
9.2
Herzinsuffizienz – ein Problem der Peripherie – 99
9.3
Therapie der Herzinsuffizienz – 100
9.3.1 9.3.2
Medikamentöse und elektrophysiologische Behandlung – 100 Bewegungstherapie – 100
9.4
Methoden der Bewegungsbehandlung bei Herzinsuffizienz – 105
9.4.1 9.4.2 9.4.3 9.4.4
Aerobes (Ausdauer-)Training – 105 Koordinations- und Bewegungsübungen – 107 Krafttraining – 107 Elektrostimulation – 109
9.5
Sicherheitsaspekte – 109
9.6
Was sagen die Leitlinien? – 109
9.7
Finanzielle und krankenversicherungsrechtliche Aspekte – 110
9.8
Zusammenfassung – 110
9
98
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14
Im folgenden Beitrag finden Sie eine Übersicht zu pathophysiologischen Grundlagen und klinischen Erfolgen einer Bewegungsbehandlung bei Herzinsuffizienz. Die bislang geringe Akzeptanz solcher Bewegungsprogramme liegt teilweise sicherlich an mangelnder Motivation und vielleicht auch mangelndem Vertrauen in die Wirksamkeit dieser Behandlung, die jedoch durch Studienergebnisse sehr gut belegt ist. So liegen auch umfangreiche Daten zu den vielseitigen physiologischen und psychologischen Auswirkungen einer Bewegungstherapie bei Herzinsuffizienz vor, bis hin zu Detailwissen über molekulare Vorgänge. Betroffene Patienten sollten daher aktiv über die positiven Wirkungen einer Bewegungsbehandlung aufgeklärt werden. In diesem Beitrag lesen Sie über: 4 Prävalenz und Stadieneinteilung der Herzinsuffizienz, 4 die Beteiligung der Peripherie an der Entstehung und Schwere der Symptome, 4 die medikamentöse und elektrophysiologische Therapie der Herzinsuffizienz, 4 die Behandlung der Herzinsuffizienz durch Bewegungstherapie: zirkulatorische, molekulare und psychologische Effekte, 4 die Durchführung der Bewegungstherapie (aerobes Ausdauertraining, Krafttraining) bei Herzinsuffizienz., 4 Sicherheitsaspekte und Kontraindikationen sowie 4 finanzielle und krankenversicherungsrechtliche Aspekte.
15 16 17 18 19 20
Kapitel 9 · Bewegungstherapie bei Herzinsuffizienz – aktuelle Forschungsergebnisse
9.1
Einleitung
9.1.1
Definition, Prävalenz und sozialmedizinische Bedeutung der Herzinsuffizienz
Unter Herzinsuffizienz (»Herzschwäche«) versteht man ein klinisches Syndrom, welches durch eine Unfähigkeit des Herzens entsteht, den Körper unter Belastung und bei Fortschreiten der Erkrankung auch schon in Ruhe ausreichend mit Sauerstoff zu versorgen. Dies führt zu einer Belastungseinschränkung (Jones u. Killian 2000), welche im Zusammenhang mit einer nachweisbaren kardialen
Funktionsstörung nach der WHO die Herzinsuffizienz definiert (McKenna 1996). Das klinische Syndrom der Herzinsuffizienz ist die Endstrecke einer Vielzahl, wenn nicht gar aller Herzerkrankungen (siehe Übersicht; Jessup u. Brozena 2003).
Ursachen einer Herzinsuffizienz 5 koronare Herzerkrankung (KHK) 5 arterielle Hypertonie 5 dilatative Kardiomyopathie (DCM) 5 hypertrophe Kardiomyopathie (HCM) 5 restriktive Kardiomyopathie (RCM) 5 Herzklappenerkrankungen (Vitien) 5 Perikarderkrankungen 5 entzündliche Erkrankungen (z. B. Myokarditis) 5 Stoffwechselstörungen (z. B. Hyperthyreose) 5 toxische Wirkungen (z. B. Chemotherapeutika) 5 bradykarde/tachykarde Arrhythmien 5 andere, seltene Ursachen
Die Herzinsuffizienz wird zunehmend die dominierende kardiale Volkskrankheit des 21. Jahrhunderts. Die Prävalenz der symptomatischen Herzinsuffizienz liegt bei 2,6 % und bei über 65-Jährigen zwischen 6 und 10 %. Es gibt Hinweise darauf, dass eine vergleichbare Anzahl von Personen eine asymptomatische LV-Dysfunktion aufweist.
9.1.2
Klinisches Erscheinungsbild, Symptome und Lebensqualität bei Herzinsuffizienz
Die Symptome einer Herzinsuffizienz sind Folge der Gewebeminderperfusion (Schwäche, eingeschränkte Belastbarkeit, Verwirrtheit) oder Stauungssymptome (Luftnot, Rasselgeräusche, Pleuraerguss, Lungenödem, Halsvenenstauung, periphere Ödeme). Erstaunlicherweise korreliert die kardiale Funktion (z. B. die Ejektionsfraktion) nicht direkt mit der körperlichen Leistungsfähigkeit, was einen ersten Hinweis auf die wichtige Rolle der Periphe-
99 9.2 · Herzinsuffizienz – ein Problem der Peripherie
rie (Muskulatur) in diesem Zusammenhang gibt (Clark et al. 1997).
. Tab. 9.1 Die Herzinsuffizienzklassifikation nach der American Heart Association
> Die Lebensqualität herzinsuffizienter Patienten ist im Vergleich zu anderen chronischen Erkrankungen wie Atemwegserkrankungen, koronarer Herzerkrankung, Arthritis, Gelenkserkrankungen usw. ganz besonders reduziert (Cleland 1998).
Stadium A
Die Überlebensprognose herzinsuffizienter Patienten ist stark eingeschränkt und eng mit der oxidativen und nutritiven Kapazität des Körpers korreliert
5 Hohes Herzinsuffizienzrisiko, da Faktoren vorliegen, die stark mit der Entstehung einer Herzinsuffizienz assoziiert sind 5 Keine strukturelle Herzerkrankung, noch nie Herzinsuffizienzsymptome
Die Einteilung der Herzinsuffizienz in Schweregrade ist sinnvoll, um eine prognostische Einschätzung abzugeben und die Intensität der Behandlung festzulegen. Klassischerweise erfolgt die Gruppierung der Patienten nach der Klassifikation der New York Heart Association (NYHA). Hier werden die Klassen NYHA I bis IV unterschieden, wobei 4 in Klasse 1 noch keine klinischen Symptome vorliegen, 4 diese bei Klasse 2 erst bei stärkerer Belastung und 4 bei Klasse 3 schon bei leichter Belastung auftreten. Patienten der NYHA-Klasse 4 haben bereits Ruhebeschwerden und sind schwerkranke Patienten, die in der Regel einer umgehenden Hospitalisation bedürfen. In letzter Zeit wird von der American Heart Association (AHA) eine neue Einteilung propagiert, welche die Stadien A bis D beinhaltet (. Tab. 9.1). 4 Stadium A umfasst Menschen mit Risikofaktoren für eine Herzinsuffizienz, obwohl die Pumpkraft des Herzens noch normal ist. 4 Das Stadium B entspricht in etwa der bisherigen NYHA-Klasse I. 4 Im Stadium C befinden sich nach der AHADefinition alle Patienten, die schon einmal unter Symptomen der Herzinsuffizienz litten. Im Stadium C befinden sich also Patienten der bisherigen Klassen 2 bis 4. 4 Das Stadium D ist als Endstadium anzusehen: Dies sind Patienten, denen wahrscheinlich nur noch mit einer Herztransplantation oder Kunstherzversorgung zu helfen ist.
9
Stadium B
5 Strukturelle Herzerkrankung, die eng mit der Entstehung einer Herzinsuffizienz assoziiert ist 5 Bisher keine Herzinsuffizienzsymptome
Stadium C
5 Frühere oder derzeitige Herzinsuffizienzsymptome bei struktureller Herzerkrankung
Stadium D
5 Fortgeschrittene strukturelle Herzerkrankung und schwere Herzinsuffizienzsymptome in Ruhe trotz maximaler medikamentöser Therapie 5 Spezielle Therapie erforderlich, z. B. Herztransplantation (HTX), intravenöse Inotropika, Kunstherz
(Braith et al.), welche bei Herzinsuffizienz gestört ist (Wiener et al. 1986, Wilson et al. 1984).
9.2
Herzinsuffizienz – ein Problem der Peripherie
Hämodynamische Daten wie Cardiac Index, Pulmonaler Kapillardruck oder Auswurffraktion korrelieren schlecht mit der maximalen Sauerstoffaufnahme VO2max, welche den Goldstandard in der Messung der Belastbarkeit dieser Patienten darstellt. Dagegen konnte eine Korrelation der VO2max zu Muskelmasse und Kraft gefunden werden. Die Symptome der Herzinsuffizienz sind somit weniger bedingt durch die zentralen Veränderungen der Hämodynamik als vielmehr verursacht durch lokale periphere Störungen. Es wurde gezeigt, dass der periphere Muskelmetabolismus einer der wesentlich limitierenden Faktoren bei Herzinsuffizienz ist. Es kann bei schweren Formen sogar zu einer regelrechten Muskelatro-
100
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14
Kapitel 9 · Bewegungstherapie bei Herzinsuffizienz – aktuelle Forschungsergebnisse
phie kommen (kardiale Kachexie, kardiales Wasting-Syndrom; Corra et al. 2004). Eine Atrophie und Schwäche von Zwerchfell und Atemhilfsmuskulatur kann für die Atemnot der Patienten zusätzlich verantwortlich sein. Verschiedene Untersuchungen haben die Abnormalitäten der Muskulatur näher charakterisiert und mit der Symptomatik der Patienten direkt in Verbindung gebracht. Eine Atrophie der Muskulatur findet sich bei bis zu 70 % der untersuchten Patienten. Histologische Untersuchungen zeigen eine Reduktion in Zahl, Länge und Durchmesser der Muskelfasern und insbesondere findet sich eine reduzierte Dichte der Mitochondrienzahl- und -oberfläche. Typ-1- und Typ-2a-Fasern sind verringert und die überwiegend glykolytisch arbeitenden Typ-2b-Fasern vermehrt. Auf molekularer Ebene zeigt sich eine Einschränkung der oxidativen Enzymaktivität des Krebszyklus. Histologisch und wohl auch ätiologisch unterscheidet sich die Muskelerkrankung bei Herzinsuffizienz von bloßer Inaktivitätsatrophie (die sicher auch eine zusätzliche Rolle spielt). Darauf weisen auch Befunde eines Befalls der Atemmuskulatur hin, die durch vermehrte Beanspruchung ja einen besseren Trainingszustand aufweisen sollte. Es kann also durchaus von einer eigenständigen Muskelerkrankung bei Herzinsuffizienz gesprochen werden (Harrington u. Coats 1997). Bei den beschriebenen Veränderungen finden sich sowohl klinische als auch histologische Ähnlichkeiten zu Patienten mit erworbenen oder angeborenen mitochondrialen Myopathien.
mer), die β-Rezeptorenblocker und die Aldosteronantagonisten schaffen. Für alle diese Substanzen konnte in großen randomisierten Studien ein prognostischer Benefit gezeigt werden (Jessup u. Brozena 2003). Elektrophysiologische Verfahren, die bei Herzinsuffizienz eine nachgewiesen positive Wirkung zeigen, sind die kardiale Resynchronisationsbehandlung (Jarcho 2006) und die prophylaktische Defibrillatorimplantation (Bardy et al. 2005) bzw. die Kombination dieser beiden Wirkprinzipien (Bristow et al. 2004). > Überhaupt ist die Herzinsuffizienz eine der ersten Erkrankungen, für deren Behandlung sichere Belege durch randomisierte kontrollierte Studien vorliegen. Der Terminus »evidenzbasiert« gilt für die Behandlung der Herzinsuffizienz ganz besonders. Die Reihenfolge der Anwendung erfolgt nach einem Stufenschema (Jessup u. Brozena 2003). Für die Behandlung der schweren Formen (NYHA II–IV, oder Klasse B–D) ist die Zuhilfenahme aller evidenzbasierten therapeutischen Möglichkeiten in abgestufter Weise indiziert.
Im Folgenden soll gezeigt werden, dass körperliche Bewegung ebenso evidenzbasiert ist wie die oben genannten Prinzipien und sich in idealer Weise ins Behandlungskonzept der Herzinsuffizienz einfügt.
9.3.2
15 16 17 18 19 20
9.3
Therapie der Herzinsuffizienz
9.3.1
Medikamentöse und elektrophysiologische Behandlung
Während noch vor 15 Jahren eine positiv inotrope Behandlung bei Herzinsuffizienz propagiert wurde (Amidon u. Parmley 1994), hat sich hier ein Paradigmenwechsel ergeben hin zu einer blockierenden Behandlung der bei Herzinsuffizienz erhöhten Neurohormone (Jessup u. Brozena 2003). Einen festen Platz in der Behandlung konnten sich die Angiotensin-Converting-Enzym-Hemmer (ACE-Hem-
Bewegungstherapie
Medizingeschichtliche Entwicklung Bereits 1772 beschrieb Heberden, dass neben Opiaten auch regelmäßige körperliche Aktivität in Form von 30-minütigem Holzhacken zu einer Linderung von Angina-pectoris-Beschwerden führt. Oertel (1885) forderte als erster Arzt 1870 körperliche Aktivität für Patienten mit Herzkrankheiten. Seine Untersuchungen zu täglichen Steigbelastungen ergaben eine Absenkung von Herzfrequenz und Blutdruck schon nach einer vierwöchigen Kur. Die lange Ruhigstellung führt dagegen zu einer Abnahme von Muskelmasse und Leistungsfähigkeit, zu einem erhöhten Thromboserisiko mit Lungenem-
101 9.3 · Therapie der Herzinsuffizienz
bolie, einer gestörten Lungenfunktion, Orthostaseneigung etc. Trotz dieser frühen Erkenntnisse galt bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts als Lehrmeinung das Prinzip der absoluten körperlichen Schonung sowohl nach einem Herzinfarkt als auch bei Herzschwäche (McDonald et al. 1972). Die Hospitalverweildauer betrug in der Regel 4 bis 6 Wochen oder mehr. Diese Vorgehensweise wurde durch Befunde aus der Pathologie begründet, wonach beispielsweise ein Herzinfarkt erst nach 6 Wochen vollständig vernarbt wäre (Mallory et al. 1939). Zur Reduktion von Komplikationen dieser Ruhigstellung empfahl Levine dann 1952 die sogenannte »Lehnstuhlbehandlung« von Infarktpatienten. Nach positiven Einzelberichten wurde ab den frühen 1960er-Jahren von einigen Arbeitsgruppen eine frühere Mobilisierung gewagt (Jeschke 1972, Missmahl 1970). Ziel war zunächst die Vermeidung bzw. Reduktion möglicher Komplikationen durch die Immobilisierung (z. B. Thrombosen, Lungenembolien etc.), später wurde über eine direkte positive Wirkung auf den Infarktverlauf spekuliert. 1966 wurde von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) zur Überprüfung der Richtigkeit der Immobilisation nach Herzinfarkt aufgefordert (WHO 1968). An die 1968 daraus entstandenen Empfehlungen lehnten Missmahl und Jeschke ihre Forderungen nach Frühmobilisation an (Jeschke 1972, Missmahl 1970). Sie definierten diese als ein »im frischen Herzinfarkt beginnendes, am klinischen Bild der Erkrankung orientiertes Behandlungsprinzip mit Bewegungsstimuli«. Auch in der amerikanischen Literatur wurde ab den 1970er-Jahren körperliche Aktivität schon am 2. bzw. 3. Tag nach einem unkompliziert verlaufenden Infarkt empfohlen. Diese Arbeitsgruppen begannen in den 1970er-Jahren auch mit Übungsbehandlungen bei Herzinsuffizienz und konnten erste Erfolge aufweisen (z. B. Conn et al. 1982, Lee et al. 1979, Letac et al. 1977). Impulse für ein dosiertes Training von Kreislaufpatienten wurden durch Arbeiten von Knipping und Hollmann gesetzt. Angeregt durch ihre Arbeiten, führte Gottheiner aus Israel mit solchen Patienten eine organisierte Bewegungstherapie von relativ hoher Intensität in Form von Gepäckmärschen am Berg Tabor durch (Gottheiner 1971). Der erste Nachweis, dass gezielte körperliche Akti-
9
vität tatsächlich nicht zu einer erhöhten Sterblichkeit führe, gelang Hellerstein (1967). Darüber hinaus widerlegten weitere Studien nicht nur ein möglicherweise erhöhtes Risiko, sondern zeigten, dass körperliche Aktivität sich günstig auf die kardiale und psychosoziale Situation auswirkt. Hollmann sowie Reindell untermauerten diese Erkenntnis durch die Untersuchung der Bedeutung eines aeroben Trainings hinsichtlich Trainingsintensitäten, -dauer und -häufigkeit. Ein Gesamtmodell zur Optimierung der Therapie wurde als sogenannte Rehabilitationsstraße vorgestellt (Krasemann 1976), die nach Halhuber im Sinne einer comprehensive cardiac care multi- und interdisziplinär als bestmögliche Behandlung für einen chronisch Herzkranken zu verstehen ist (1989). Die dennoch bislang geringe Akzeptanz von Bewegungsprogrammen liegt an der mangelnden Motivation und vielleicht auch an mangelndem Vertrauen in die Wirksamkeit dieser Behandlung. Betroffene Patienten sollten aktiv über die positiven Wirkungen einer Bewegungsbehandlung aufgeklärt werden, dies vielleicht unter leichter Zurücknahme der nicht immer so Erfolg versprechenden Invasivkardiologie. In der heutigen technologieorientierten Medizin ist es aber schwer zu vermitteln, dass ein Low-tech-Bewegungstraining z. B. einem komplizierten Stentsystem überlegen ist. Außerdem wollen die wenigsten Patienten ihren behäbigen Lebensstil aufgeben und an einem LangzeitBewegungsprogramm teilnehmen. Auf der anderen Seite kann gesagt werden, dass Teilnehmer von ambulanten Herzgruppen dies über viele Jahre bleiben. 50 % der ambulanten Herzgruppen setzen sich inzwischen aus freiwilligen Mitgliedern zusammen, die gerne bereit sind, Ihren privaten Anteil an Ihrer Gesundheit mitzufinanzieren. Die staatliche Förderung reicht dazu bei weitem nicht aus (7 Kap. 9.6).
Klinische Untersuchungen zur prognostischen Wirkung von Bewegung bei Herz-KreislaufErkrankungen einschließlich Herzinsuffizienz Um die Wirkung von Sport auf das Herz-KreislaufSystem beurteilen zu können, sollte unterschieden werden zwischen akuten schweren Kraftanstrengungen und chronischen Aktivitäten, z. B. Aus-
102
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Kapitel 9 · Bewegungstherapie bei Herzinsuffizienz – aktuelle Forschungsergebnisse
dauerübungen. Während erstere zu einer erhöhten Inzidenz kardialer Ereignisse führen können (Mittleman 1993), ist letztere mit einer Risikoreduktion verknüpft (Paffenbarger 1986). Dies zeigt den Spannungsbogen auf, dass bei Bewegungsbehandlung potenzielle Gefahren durch Überlastung einkalkuliert werden müssen, aber eine zu vorsichtige Herangehensweise eine Unterforderung und einen mangelnden Therapieeffekt bewirken kann. In anderen Worten: Wird eine hohe Sicherheitsmarge eingehalten, besteht die Gefahr einer Unterdosierung des Medikaments »Bewegung«, mögliche zusätzliche günstige Effekte entfallen. Der positive Stellenwert von systematischer und dosierter körperlicher Aktivität nach kardiovaskulären Ereignissen ist inzwischen unbestritten (Kolenda 2003). Positive Ergebnisse konnten in größeren Studien bestätigt und durch hämodynamische und metabolische Verbesserungen objektivierbar gemacht werden (z. B. Coats et al. 1990, 1992). Ein körperliches Training kann bei stabiler Angina pectoris sogar einer Koronarintervention mittels Stent (Keeley et al. 2003) überlegen sein und verursacht deutlich geringere Kosten (Hambrecht et al. 2004) bzw. stellt eine ideale Nach- und Begleitbehandlung dar (Belardinelli et al. 2001). Schließlich konnte in randomisierten Studien und Metaanalysen der Nutzen von körperlicher Aktivität nach Infarkt und bei Herzinsuffizienz auch auf die Gesamt- und die Herzkreislaufsterblichkeit gezeigt werden (z. B. ExTraMATCH Collaborative 2004, Joliffe et al. 2003). Vor Kurzem bestätigten die Daten der HFAction-Studie, dass ein körperliches Bewegungsprogramm einen messbaren Benefit auch bei ansonsten optimal behandelten Herzinsuffizienzpatienten erbringt (Coletta 2009). Die HF-ActionStudie randomisierte 2.331 Patienten der NYHAKlassen II bis IV und einer Auswurffraktion von <35 % entweder zu einem strukturierten Übungsprogramm mit ansteigenden Intensitäten oder zu einer Kontrollgruppe mit Standardbehandlung. Das Training begann mit 36 überwachten Sitzungen je à 30 Minuten und 3-mal wöchentlich. Zusätzlich erhielten die »Verum«-Patienten ein Fahrradergometer und sollten zu Hause 5-mal/Woche jeweils 40 Minuten mit moderater Intensität üben. Den Kontrollpatienten wurde geraten sich mindestens
30 Minuten täglich zu bewegen, eine Überwachung wurde jedoch nicht durchgeführt. Nach einer mittleren Beobachtungszeit von 2,5 Jahren war zwar die Gesamtmortalität und die Hospitalisationsrate in einer primären Analyse zwischen den Gruppen nicht signifikant different, wohl zeigte sich aber eine signifikante 11–15 %ige Reduktion kardialer Ereignisse, wenn nach Schweregrad der Erkankung stratifiziert wurde. Ein wichtiges zusätzliches Ergebnis war die Sicherheit der Übungsbehandlung: weder Defibrillatorauslösungen, Hospitalisationen oder Frakturen waren in der Trainingsgruppe erhöht. Die HF-ACTION-Studienergebnisse zeigen aber auch ein Problem der körperlichen Übungsbehandlung: die Motivation der Patienten diese Therapieform dauerhaft beizubehalten. Langzeitig behielten nur 30 % der Patienten die Trainingsintensität und Zeitdauer bei, im Mittel trainierten die Probanden am Ende der Studie pro Woche nur noch 50 statt der empfohlenen 120 Minuten.
Wirkung von Bewegung auf zirkulatorischer und molekularer Ebene Die biologischen Mechanismen, über die eine sportliche Aktivität Einfluss auf die Entwicklung von Herz-Kreislauf-Erkrankungen nimmt, sind vielfältig. So führt ein regelmäßiges Training über eine Abnahme des sympathischen Antriebs und eine verminderte Herzfrequenz zu einer Reduktion des Sauerstoffverbrauchs bei gleicher Belastung und damit zu einer Ökonomisierung der Herzarbeit (Graf u. Rost 2001). 4 Nach Bewegungstraining finden sich niedrigere Laktatkonzentrationen bei einer fixen submaximalen Belastung (Hambrecht et al. 1995). 4 Die Zeit bis zum Erreichen der anaeroben Schwelle verlängert sich durch Training. 4 Die prognostisch entscheidende maximale Sauerstoffaufnahme wird gesteigert (Demopoulos et al. 1997). Die zu erwartende Steigerung der Sauerstoffaufnahme liegt in einer Größenordnung von 15–25 %. Die Auswirkungen von Bewegung wirken den Aktivierungsmechanismen der Herzinsuffizienz direkt entgegen (. Tab. 9.2).
103 9.3 · Therapie der Herzinsuffizienz
9
. Tab. 9.2 Zentrale hämodynamische, peripher-muskuläre, humorale und molekularbiologische Auswirkungen von Herzinsuffizienz und körperlicher Bewegung Herzinsuffizienz
Bewegung
Herzfrequenz
↑
↓
Peripherer Widerstand
↑
↓
Endothelfunktion
↓
↑
Baroreflexsensitivität
↓
↑
Herzfrequenzvariabilität
↓
↑
Sauerstoffaufnahme
↓
↑
Anaerobe Schwelle
↓
↑
Laktatkurve
Linksverschiebung
Rechtsverschiebung ↔↓
LV-Durchmesser Schlagvolumen
↓
↑
Diastolische Füllung
↓
↑
Muskel-pH unter Belastung
↓
↑
Mitochondriendichte in der Skelettmuskulatur
↓
↑
Myozytenhypertrophie
↓
↑
Muskelaktivierungsgrad
↔↓
↑
Kollateralfluss/Anzahl
↔↓
↑
Katecholamine
↓
Angiotensin II
↔↓
Vasopressin
↓
↑
Aldosteron
↓
↑
Schilddrüsenhormonfunktion
↓
↑
Von-Willebrand-Faktor
↓
↑
eNOS-Synthaseaktivität
↓
↑
NO-Produktion
↔↓
↑
ENOS endothelial nitric oxid synthase, LV linksventrikulär, NO Stickoxid
So erzielt Sport eine breite antagonistische Wirkung zur Pathophysiologie der Herzinsuffizienz, vergleichbar einer medikamentösen Behandlung, z. B. mit einem β-Rezeptorenblocker mit Frequenzabsenkung, Steigerung des Herzzeitvolumens (Cornelissen u. Fagard 2005) und verbesserter diastolischer Füllung. Durch Ausdauertraining kann eine Blutdrucksenkung erzielt werden, diese wirkt einem der wesentlichen Risikofaktoren der Herzinsuffizienz direkt entgegen. Die Steigerung des Herz-
zeitvolumens wird hauptsächlich über eine Absenkung der bei Herzinsuffizienz pathologisch erhöhten Widerstände erreicht. Die kardiale Dilatation verringert sich, oder zumindest gibt es keinerlei Hinweise auf eine durch Sportaktivität befürchtete Zunahme der Herzgröße (Gianuzzi et al. 2003). Es kann von einem AntiRemodeling-Effekt der Bewegung gesprochen werden (Gianuzzi et al. 2003).
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Kapitel 9 · Bewegungstherapie bei Herzinsuffizienz – aktuelle Forschungsergebnisse
Entscheidend ist auch der neurohumorale Antagonismus zur herzinsuffizienzbedingten Aktivierung (Braith u. Edwards 2003). Indirekte Hinweise der positiven Auswirkungen einer Bewegung in diesem Bereich sind die Verbesserungen von Herzfrequenzvariabilität (Jancik et al. 2004) und der Baroreflexfunktion. Auf Ebene der klassischen Hormonachsen kommt es zur Besserung der gestörten Schilddrüsenfunktion (sick euthyroid syndrome [SES] oder auch low-T3-syndrome). Einflüsse auf die Endothelfunktion rückten in den letzten Jahren immer mehr ins Blickfeld der Forschung. Das Gefäßendothel ist als eigenständiges hormonaktives Organsystem anzusehen, welches eine zentrale Rolle in Entstehung und Fortschreiten von Herz-Kreislauf-Erkrankungen spielt. Ein klinisches Charakteristikum bei Herzinsuffizienz ist die reduzierte Endothelantwort z. B. auf Acetylcholin, wobei die endothelunabhängige Vasodilatation durch Nitroglyzerin oder Natriumnitroprussid erhalten bleibt. Patienten, bei denen diese Flussantwort reduziert ist, weisen eine erhöhte kardiovaskuläre Ereignisrate im Langzeitverlauf auf. Tierexperimentell ließ sich die periphere Flussaktivität herzinsuffizienter Versuchstiere durch Training steigern. Dies konnte auch für Menschen gezeigt werden (z. B. Demopoulos et al. 1997, Hambrecht et al. 2003). Die molekulare Grundlage der Endothelfunktion ist die Aktivität von Enzymen wie die eNOSund NADP(P)H-Oxidase. NO (Stickoxid) ist als vasodilatatorisches Hormon aufzufassen, welches vom Endothel gebildet wird, z. B. als Reizantwort auf gesteigerten Blutfluss. Über diesen Mechanismus kann die verbesserte Vasoaktivität nach Training über vermehrtes Einwirken von Scherkräften gut erklärt werden (Boo 2006, Hambrecht et al. 2004). Training steigert die eNOS-Aktivität über vermehrte Phosphorylierung (z. B. Adams et al. 2005). Ein weiterer noch unzureichend charakterisierter Mechanismus in diesem Zusammenhang könnte die herzinsuffizienzbedingte vermehrte vaskuläre Produktion von Von-Willebrand-Faktoren und deren Dämpfung durch Aktivität sein (Sabelis et al. 2004). Ein erhöhter Zelluntergang (Apoptose) ist ein weiteres Charakteristikum der Herzinsuffizienz. Hier besteht eine Analogie zu Altersveränderun-
gen (Aging). Endogene Knochenmarksstammzellen können zur Reparatur solcher untergegangener Endothelzellen mobilisiert werden, vorzugsweise unter ischämischen Bedingungen, eine Art natürliche Gentherapie durch Sport (Adams et al. 2005). Indirekte Hinweise auf diesen noch wenig erforschten Bereich sind direkte Korrelationen zwischen den Spiegeln zirkulierender endothelialer Progenitorzellen und kardialen Ereignissen (Sandri et al. 2005). Weiterhin kann die antioxidative und antiinflammatorische Kapazität bei herzinsuffizienten Patienten durch Training gesteigert werden (Gielen et al. 2005). Hier ergeben sich synergistische Effekte zu den ähnlich wirkenden β-Rezeptorenblockern. Weitere Faktoren sind positive Effekte auf den Lipidstoffwechsel (Steigerung der HDL-Fraktion), das Gerinnungssystem (Fibrinogenabsenkung) und den Kohlenhydratstoffwechsel (Senkung der Insulintoleranz). Alle oben genannten Faktoren verbessern die Störung der peripheren Muskulatur. Dies konnte von verschiedenen Arbeitsgruppen bestätigt werden, ohne dass negative Einflüsse auf die zentrale Hämodynamik beobachtet wurden (z. B. Coats et al. 1990, 1992, Hambrecht et al. 1995). Auch die Atemmuskulatur kann günstig beeinflusst werden (Mancini et al. 1995).
Psychologische Faktoren Ein regelmäßiges Training wirkt sich positiv auf psychosoziale Faktoren der Patienten aus. Psychische Beschwerdebilder wie emotionale Labilität, Reizbarkeit, Angst, Depressionen können im Rahmen gezielter Bewegungstherapien verbessert werden (Jokiel u. Eisenriegler 2003). Eine große Rolle wird die Verbesserung der sozialen Integration der Patienten in einer Bewegungsgruppe darstellen, deren Mitglieder oft Freunde fürs Leben werden. Weiterhin werden auch kognitive Funktionen wie die generelle Aufmerksamkeit und die psychomotorische Reaktionsgeschwindigkeit verbessert (Tanne et al. 2005).
105 9.4 · Methoden der Bewegungsbehandlung bei Herzinsuffizienz
9.4
Methoden der Bewegungsbehandlung bei Herzinsuffizienz
Es kann unterschieden werden zwischen Kraftund Ausdauertraing sowie Dauer- oder Intervalltraining. Von vornherein kann aber gesagt werden, dass es reine Trainingsformen nicht gibt. Krafttraining wirkt immer auch verbessernd auf die Ausdauer und Ausdauertraining stärkt immer auch die Muskelkraft. Probleme sind eine zentrale Limitierung durch das Herz vor Erreichen trainingsrelevanter Intensitäten für die periphere Muskulatur (z. B. Meyer et al. 1997a, 1997b). Deshalb soll eine Trainingsbehandlung bei Herzinsuffizienz immer erst nach optimaler medikamentöser Vorbehandlung erfolgen.
9.4.1
Aerobes (Ausdauer-)Training
In den Trainingsstudien und in der klinischen Praxis wurden Ausdauersportarten wie Walking, Joggen, Laufen, Radfahren, Schwimmen, Rudern und Koordinationsübungen eingesetzt. Trotz dieser verschiedenen Formen an Bewegung sind bei Herzinsuffizienz nur einige ausgewählte Trainingsarten sinnvoll. Das Fahrradergometer erlaubt eine Belastung auf sehr niedriger Stufe und ist exakt reproduzierbar. Herzfrequenz, Rhythmus und Blutdruck können kontinuierlich überwacht werden. Außerdem ist das Fahrradergometer gut geeignet, um ein Intervalltraining anzuwenden. Dies führte dazu, dass das aerobe Fahrradergometertraining das am meisten empfohlene und durchgeführte Training bei herzinsuffizienten Patienten darstellt und für besonders kranke Patienten, Patienten mit Herzrhythmusstörungen, hohem Diuretikabedarf, Adipositas sowie orthopädischen und neurologischen Zusatzerkrankungen Anwendung findet. Übrigens kann Fahrradergometertraining in geschlossenen Räumen nicht ohne Weiteres auf Fahrradfahren im Freien übertragen werden, da Umweltfaktoren die Belastungsintensität stark beeinflussen können (z. B. Wind, Steigungen). Dies bedeutet, dass normales Fahrradfahren (wobei bei einer Geschwindigkeit von 12 km/h ca.
9
1.000 ml O2/min verbraucht werden, entsprechend einer Belastungsstufe von 50–60 Watt) nicht ohne Weiteres für herzinsuffiziente Patienten geeignet erscheint, höchstens für Langzeit-Stabile mit hoher Belastungstoleranz. Da Laufen (»Joggen«) erst bei einer unteren Geschwindigkeit von 80 m/min ein komfortables Vorankommen ermöglicht, dabei aber schon ca. 1.200 ml/min Sauerstoff (> 1 W/kg KG) verbraucht, ist diese Bewegungsart ebenfalls schlecht geeignet. Beim Gehen (»Walking«) steht dagegen eine große Bandbreite von Belastungsstufen zur Verfügung (niedrige Geschwindigkeit von <50 m/ min, entsprechend 650 ml/min VO2, entsprechend 0–3 W/kg KG und höhere Geschwindigkeiten von 100 m/min, entsprechend 900–1.000 ml/min VO2, entsprechend 0,8–0,9 W/kg. Beim Schwimmen und Tauchen kommt es zu einer hydrostatischen Volumenverschiebung in Richtung Herzkammern, Erhöhung des kardialen Volumens und der Füllungsdrucke. Deshalb sollten chronisch herzinsuffiziente Patienten nicht schwimmen.
Intervalltraining versus gleichmäßige Belastung Intervalltrainingsformen wurden entwickelt, damit intensivere Belastungsreize an die Muskulatur gegeben werden, verglichen mit Dauertraining, ohne dass die Kreislaufbelastung höher wäre. Dies wird ermöglicht durch wiederholte Belastungsphasen, gefolgt von Zeiten der Erholung. Studien bei KHK-Patienten haben ergeben, dass damit ein besserer Effekt auf die Belastungsfähigkeit erzielt werden kann, verglichen mit Dauertraining. Trainingszeiten von 30 Sekunden und Erholungsphasen von 60 Sekunden mit einer Intensität von 50 % der maximalen Kurzzeitleistungsfähigkeit haben sich als besonders praktikabel erwiesen. Während der Erholungsphasen kann eine Belastungsstufe von 10 Watt gewählt werden. Es gibt auch andere geprüfte Belastungs-Ruhe-Kombinationen wie 15 sec/60 sec oder 10 sec/60 sec mit 70 % oder 80 % der maximalen Kurzzeitleistungsfähigkeit. Während der ersten 3 Zyklen soll die Last sukzessive erhöht werden, um schließlich die Endstufe in der 4. Phase zu erreichen. Insgesamt werden 10–12 Zyklen während einer 15-minütigen Sitzung
106
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Kapitel 9 · Bewegungstherapie bei Herzinsuffizienz – aktuelle Forschungsergebnisse
durchgeführt. Obwohl die Arbeitslast beim Intervalltraining verglichen mit Dauertraining deutlich höher liegt, verändern sich die hämodynamischen Parameter in ähnlichem Umfang. Höhere Laktatkonzentrationen belegen den höheren peripheren Stimulus. Somit ermöglicht das Intervalltraining intensivere periphere Stimuli ohne vermehrten kardiovaskulären Stress. Deshalb ist diese Trainingsform besonders bei herzinsuffizienten Patienten zu empfehlen.
Obwohl das Fahrradergometer die bevorzugte Anwendungsform beim Intervalltraining ist, kann auch das Laufband eingesetzt werden. In diesem Fall sollten Last und Ruhephasen von je 60 Sekunden gewählt werden. Während der Lastphasen sollte die Herzfrequenz an die maximal tolerierte Herzfrequenz auf dem Fahrrad angepasst werden, während der Ruhephasen sollte so langsam wie möglich gegangen werden.
11
Bestimmung der Arbeitslast für Intervalltraining
12
Die notwendige und sinnvolle Arbeitslast für Intervalltrainingsphasen wird mit einem »steilen Rampentest« festgelegt. Der »steile Rampentest« ermöglicht die Bestimmung der maximalen Kurzzeitbelastung des Patienten auf dem Fahrradergometer. Für diesen Test wird 3 Minuten ohne Widerstand getreten und dann die Last um 25 Watt je 10 Sekunden erhöht. Wegen der schnellen Laststeigerung können viele Patienten die maximale Arbeitslast ihres »normalen« Belastungstests verdoppeln, d. h. sie können 150–200 Watt während 60–90 Sekunden ohne Komplikationen bewältigen.
13 14 15 16 17
Intensität für Dauertraining
18 19 20
Es gibt derzeit keinen Konsensus, welcher Parameter optimal ist, um die nötige Intensität festzulegen. Drei Ansatzpunkte werden benutzt: 4 % peak-VO2, 4 % peak Herzfrequenz und 4 die subjektive Belastung.
Da Dauer und Intensität des Dauertrainings eng zusammenhängen, kann eine niedrigere Intensität durch längere oder häufigere Belastungsphasen kompensiert werden. Die Rationale, die Herzfrequenz als Maßstab für Trainingsprogramme zu nehmen, ist ihre relativ lineare Beziehung zur Sauerstoffaufnahme (Belardinelli et al 1995). Allerdings berücksichtigen die herzfrequenzbasierten Empfehlungen nicht die gestörte Kraft-Frequenz-Beziehung des insuffizienten Herzens. Es sollte eher mit niedrigeren Frequenzen gearbeitet werden, um eine myokardiale Überlastung zu vermeiden. Auch um diese Regel zu beachten, sollte das Intervalltraining vorgezogen werden, da es hohe periphere Stimuli ermöglicht, ohne die Herzfrequenz allzu deutlich zu steigern. Bei Gesunden korrelieren Intensitäten zwischen 40 und 80 % der peak-VO2 mit einer empfundenen Belastungsstufe von 12 bis 15 nach der Borgskala (z. B. Bardy et al. 2005, Belardinelli et al. 1995, 2001, Boo 2006). Bei chronischer Herzinsuffizienz werden Borgskalenwerte von <13 gut toleriert und erfolgreich angewendet. Trotzdem sollten subjektive Maßstäbe wie die Borgskala nicht als alleiniges Instrument Anwendung finden, da die subjektive Empfindung von Luftnot, Schwäche etc. eine große biologische Streuung aufweist und objektiven Kriterien wie Pulsfrequenz, Blutdruck,% VO2 aus Sicherheitsaspekten der Vorzug gegeben werden sollte.
Dauer und Frequenz Intensität, Dauer und Häufigkeit einer Belastung korrelieren eng miteinander. In Trainingsstudien bei Herzinsuffizienten gab es eine hohe Variabilität dieser Parameter mit Schwankungen von 10 bis 60 Minuten Dauer und Häufigkeiten von 1- bis 7-mal pro Woche (Meyer et al. 1996). Patienten mit einer niedrigen Belastbarkeit von 30 bis 40 Watt scheinen von kurzen täglichen Sitzungen mit einer Dauer von 5–10 min zu profitieren. Für Patienten mit einer Belastbarkeit von 40 bis 80 Watt scheinen 1 bis 2 Sitzungen pro Tag mit 15-minütiger Dauer adäquat zu sein. Belastbarere Patienten sollten 3 bis 5 Sitzungen pro Woche über je 20 bis 40 Minuten erhalten.
107 9.4 · Methoden der Bewegungsbehandlung bei Herzinsuffizienz
Trainingsfortschritt und Anpassung Die ersten klinisch merklichen Verbesserungen der aeroben Kapazität durch Bewegungsprogramme sind nach ca. 4 Wochen zu erwarten. Ein maximaler Effekt wird nach 16–26 Wochen erreichbar sein, dann tritt ein Plateau ein. Veränderungen des Trainingsplans sollten nach diesen Fortschritten individuell festgelegt werden. Es können 3 Stadien unterschieden werden: 4 Initialphase: Die Intensität sollte auf einem niedrigen Niveau gehalten werden (ca. 40–50 % peak-VO2) bis eine Belastungsdauer zwischen 10 und 15 min erreicht wird. Entsprechend der Symptome und dem klinischen Status werden die Dauer und die Trainingsfrequenz angehoben. 4 Während der Besserungsphase ist die graduelle Anhebung der Intensität das primäre Ziel (50, 60, 70 oder sogar >70 % der peak-VO2). Eine Verlängerung der Sitzung auf 15–20 min und wenn möglich auf bis zu 30 min ist das sekundäre Ziel. Auf der Grundlage wiederholter Belastungstests werden Anpassungen der Trainingsintensität empfohlen bei einer niedrigeren subjektiv empfundenen Anstrengung oder anhand einer objektiv verbesserten Belastbarkeit. Generell sollte bei Steigerungen folgende Reihenfolge eingehalten werden: zunächst Dauer, dann Frequenz, dann Intensität. 4 Die Erhaltungsphase in Trainingsprogrammen beginnt meist nach den ersten 6 Monaten. Weitere Verbesserungen sind dann kaum zu erwarten. Kontinuierliches Training führt zum Erhalt einer verbesserten Belastbarkeit oder verlangsamt zumindest den Krankheitsprogress. Die Erfolge z. B. eines 3-wöchigen Trainings gehen aber nach 3 Wochen schon wieder verloren, was die Notwendigkeit der Implementation von wirklichen Langzeitprogrammen zeigt. Die Bewegungsbehandlung ist ebenso eine Langzeittherapie wie die Therapie mit der β-Rezeptorenblockern, die ja nicht nach 6 Monaten abgesetzt wird.
9.4.2
9
Koordinations- und Bewegungsübungen
Koordinationsübungen sind eine häufige Komponente der meisten Bewegungsprogramme bei chronischer Herzinsuffizienz. Gesteigerte Koordination ist vor allem bei Muskeltraining eine wichtige Komponente der frühen Verbesserung. Die primären Ziele sind der Erhalt der muskuloskeletalen Flexibilität, der Bewegungskoordination, der Muskelkraft, der respiratorischen Kapazität sowie die Bewältigung alltäglicher Aktivitäten. Es gibt kaum gesicherte Empfehlungen zur Durchführung von Koordinationsübungen, sie sollten jedoch Steigerungen von Vor- und Nachlast vermeiden
9.4.3
Krafttraining
Während aerobes Ausdauertraining im Rehabilitationsbereich seit über 30 Jahren durchgeführt wird, wurde Krafttraining erst in den letzten Jahren vorsichtig empfohlen (Übersicht Bjarnason-Wehrens et al. 2004). Kraftbelastungen haben den Vorteil einer hohen peripheren Adaptationsförderung vor Erreichen der Limitierung durch das Herz. Krafttraining wie z. B. Gewichtheben ist anaerob, da es bei einer fast maximalen Intensität für kurze Perioden durchgeführt wird (Pu et al. 2001). Nachteilig bei Kraftbelastung kann ein relativ hoher Blutdruck- und Widerstandsanstieg sein (vor allem bei Pressbelastungen). Eine Steigerung der Vasoaktivität auch durch Krafttraining ist gezeigt worden (Rakobowchuk et al. 2005). Wegen Bedenken bezüglich einer Kreislaufüberlastung und aus Unkenntnis wird aber Krafttraining oft nicht verordnet. Dagegen können z. B. bei rhythmischen Übungen mit einer Extremität (Fuß) mit 2 Sätzen und 10 Repetitionen bei einer Last von 70 % keine wesentlichen Veränderungen der Kreislaufparameter festgestellt werden. Dies könnte an der rhythmischen Sequenz der isometrischen Muskelkontraktionen liegen, welche zusätzlich den venösen Rückfluss verbessern, den peripheren Widerstand erniedrigen, den Muskelblutfluss erhalten und die metabolischen Bedürfnisse befriedigen.
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Kapitel 9 · Bewegungstherapie bei Herzinsuffizienz – aktuelle Forschungsergebnisse
Das Ausmaß des kardiovaskulären Stresses unter Muskeltraining hängt ferner von der Muskelmasse ab, die trainiert wird. Beidarmige Übungen führen zu höherer Belastung als einarmige. So kann Muskeltraining bei Herzinsuffizienz unter Heranziehung weniger Muskelgruppen verabreicht werden (Tyni-Lenne et al. 1999). Andere Studien zeigen einen Anstieg der Ejektionsfraktion unter Krafttraining (Levingera et al. 2005). Durch Krafttraining kann sogar die aerobe Kapazität von terminal herzinsuffizienten Patienten der NYHA-Klasse III/IV (AHA C/D), die keine guten Kandidaten für ein Ausdauertraining gewesen wären, signifikant gesteigert werden (Kreulich et al. 2001). Muskeltraining verbessert die Muskelfunktion durch eine Kraftsteigerung, verbesserte Faserbilanz, höheren Aktivierungsgrad und verstärkte NO-Produktion. Auch gerade beim älteren herzinsuffizienten Patienten wirkt sich Krafttraining günstig auf diese Faktoren aus (z. B. King 2001). Im Folgenden wird ein exemplarisches Muskeltrainingsprogramm bei schwer herzinsuffizienten Patienten beschrieben, wie es in der Hamburger Studie von 2001 zur Anwendung kam (Kreulich et al. 2001).
12
k Exemplarisches Krafttraining mit Gewichtsmanschetten
13
Ziel ist ein Training von unter 1⁄7 der Gesamtmuskulatur, d. h. nur jeweils maximal einer Extremität, da bereits ein Bein im Bereich von 1⁄7 bis 1⁄6 der Gesamtmuskulatur liegt. Das Programm erfordert an Material lediglich Gewichtsmanschetten, mithilfe derer man differenzierte Aussagen über die Belastungsintensität treffen kann. Um diese festlegen zu können, soll ein modifizierter Maximalkrafttest durchgeführt werden. Hierbei ermittelt man mit möglichst wenig Versuchen das Gewicht, mit dem exakt 15 Kontraktionen gerade noch ausgeführt werden können. Als Gewichte werden Manschetten verwendet, die an den Extremitäten fixiert werden. Durch Anfügen kleiner Sandsäckchen in 100-g-Schritten können differenzierte Belastungserhöhungen vorgenommen werden. Die Übungen werden in liegender und sitzender Position durchgeführt, damit die Patienten auch vom Bett aus trainieren können mit 2 bis höchstens
14 15 16 17 18 19 20
. Tab. 9.3 Krafttraining mit Gewichtsmanschetten bei Herzinsuffizienz Training des M. bizeps
Aufrechte Sitzhaltung Gewichtsmanschette am Handgelenk (abschließend mit distaler Beugefalte ) Hand in Supinationsstellung, Handflächen locker geöffnet, Ellenbogen seitlich am Körper fixiert Bewegungsradius 90–180 ° Bewegungsausführung langsam und gleichmäßig
Training des M. trizeps
Bauchlage, der Arm hängt seitlich an der Liege herunter Gewichtsmanschette am Handgelenk (abschließend mit distaler Beugefalte ) Hand in Pronationsstellung, Hand locker geöffnet, Ellenbogen seitlich am Körper fixiert Bewegungsradius 90–0 ° Bewegungsausführung langsam und gleichmäßig
Training des M. quadriceps
Aufrechte Sitzposition Gewichtsmanschette am proximalen Abschluss des O. malleolus Bein hängt locker herab, feste Sitzposition, Sitzkante auf Kniekehlenhöhe Bewegungsradius 90–0 ° Bewegungsausführung langsam und gleichmäßig
Training der ischiokruralen Muskulatur
Bauchlage Gewichtsmanschette am proximalen Abschluss des O. malleolus Kante der Liegefläche schließt oberhalb des Knies ab Bewegungsradius 0–90 ° Bewegungsausführung langsam und gleichmäßig
9
109 9.6 · Was sagen die Leitlinien
3 Trainingseinheiten pro Woche. Die unterschiedlichen Trainingsanteile sind in . Tab. 9.4 zusammengefasst (mod. nach Kreulich et al. 2001). Die Belastungsdauer liegt bei 2 Sätzen bei etwa 16 Minuten. Hinzu kommt ein Aufwärmprogramm in Form eines Durchbewegens von circa 5 min Dauer.
9.4.4
Elektrostimulation
Die Idee, ohne Anstrengung die Muskulatur zu trainieren, könnte Wirklichkeit werden: Es gibt inzwischen Elektrotherapiegeräte, die bestimmte Muskelgruppen über Klebeelektroden von extern aktivieren können. Eine erste Untersuchung mit solchen Systemen ergab sogar klinische Verbesserungen (Nuhr et al. 2004).
9.5
Sicherheitsaspekte
Die Bewegungsbehandlung bei Herzinsuffizienz wird allgemein als sicher eingestuft, Verschlechterungen der kardialen Funktion werden in der Regel nicht beobachtet (Dubach et al. 1997, Wielenga et al. 1999). Vor, während und nach dem Training sollte jedoch ein Sicherheitsprogramm durchgeführt werden (. Tab. 9.4). > Kontraindikationen 5 manifeste kardiale Dekompensation 5 komplexe, nicht therapierbare ventrikuläre Rhythmusstörungen 5 nicht korrigierte schwere Klappenvitien (Aortenstenose, hochgradige Mitralstenose, hochgradige Mitralinsuffizienz, hochgradige Trikuspidalinsuffizienz 5 Important Stop
9.6
Was sagen die Leitlinien?
Leitlinien sind heute unverzichtbare Planungsgrundlage für medizinische Behandlungsstrategien. Herausgegeben werden sie von den entsprechenden Fachgesellschaften. Auch die Leitlinien der großen kardiologischen Gesellschaften plädieren für Übungsprogramme bei Herzinsuffizienz.
4 Die deutschen Leitlinien der Gesellschaft für Kardiologie/Herzkreislaufforschung sagen zum Thema Herzinsuffizienz und Bewegung Folgendes:
» Ein moderates körperliches Ausdauertraining ist bei stabiler chronischer Herzinsuffizienz im NYHA-Stadium I bis III zu empfehlen (Evidenzklasse IB). Zur Dyspnoe führende körperliche Anstrengungen und speziell isometrische Belastungen, die zu einer peripheren Widerstandserhöhung führen, sind generell zu vermeiden (Evidenzklasse IC). Strenge körperliche Schonung und Bettruhe sind nur bei akuter bzw. dekompensierter chronischer Herzinsuffizienz indiziert (Evidenzklasse IC) . (Hoppe et al. 2005)
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4 Inzwischen werden die deutschen Leitlinien nicht mehr aktualisiert, es wird auf die Leitlinie der Europäischen Gesellschaft für Kardiologie verwiesen (siehe folgender Punkt). 4 Die europäischen Leitlinien der Europäischen Gesellschaft für Kardiologie (ESC; Dickstein et al. 2008):
» Bewegungsprogramme werden befürwortet für alle stabilen chronischen Herzinsuffizienzpatienten. Es gibt keinen Grund eine spezielle Patientengruppe (NYHA, Ätiologie, LVEF, Medikation) vom Training auszuschliessen . (Empfehlungsklasse I, Level of Evidence: B)
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4 Die amerikanischen Leitlinien der amerikanischen Herzgesellschaft (AHA):
» Maximal exercise testing with or without measurement of respiratory gas exchange is recommended to facilitate prescription of an appropriate exercise program for patients presenting with HF (Level of Evidence: C). Exercise training is beneficial as an adjunctive approach to improve clinical status in ambulatory patients with current or prior symptoms of HF and reduced LVEF (Level of Evidence: B).
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Kapitel 9 · Bewegungstherapie bei Herzinsuffizienz – aktuelle Forschungsergebnisse
9.7
Finanzielle und krankenversicherungsrechtliche Aspekte
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Bei ärztlich festgestellter Indikation übernehmen die Rehabilitationsträger (Rentenversicherungen, gesetzliche Krankenkassen u. Ä.) die Kosten für die Teilnahme am Rehabilitationssport in Herzgruppen für 90 Einheiten (Regeldauer) innerhalb eines Zeitraums von 30 Monaten nach § 43 Satz 1 SGB V in Verbindung mit § 44 Abs. 1 Nr. 3 SGB IX. Formale Grundlage ist der »Antrag auf Kostenübernahme für Rehabilitationssport«, Muster 56. Eine über die Regeldauer hinausgehende Weiterfinanzierung des Rehabilitationssports in Herzgruppen zulasten der Rehabilitationsträger im Leistungsumfang von weiteren 90 Einheiten innerhalb eines Zeitraums von 24 Monaten kommt in Betracht bei 4 reduzierter linksventrikulären Funktion (EF1<40 %) und 4 eingeschränkter Dauerbelastbarkeit (= maximale ergometrische Belastbarkeit abzüglich 30 %) ≤0,75 W/kg KG als Folge einer Herzkrankheit mit Nachweis durch eine standardisierte Fahrradergometrie mit Angabe der Gründe für den Abbruch und der subjektiven Einschätzung des Arztes zur Belastbarkeit des Patienten.
9.8
Zusammenfassung
Trainingsprogramme bei Herzinsuffizienz sind sicher und erbringen günstige Effekte auf Symptomatik, Lebensqualität, Endothelfunktion, aerobe Kapazität, sympathische Aktivierung und sogar auf die Prognose (Neue Daten der HF-Action-Studie). Training (insbesondere peripheres Krafttraining) bewirkt keine hämodynamische Verschlechterung. Training ist auch bei immobilen herzinsuffizienten Patienten und im hohen Alter möglich. Schon eine geringe Trainingsintensität führt zu messbaren Verbesserungen. Die Bewegungsbehandlung bei Herzinsuffizienz ist somit ein wichtiger und additiver Ansatz in der Behandlung dieses komplexen Krankheitsbildes. Ihre Wirkung ist pathophysiologisch und durch Studien gut belegt, fügt sich ideal in das Stufenschema der Herzinsuffizienztherapie ein und wird in den Leitlinien empfohlen. Ein dauerhaftes Training sollte somit allen Herzinsuffizienzpatienten neben einer pharmakologischen Behandlung als zusätzliches Behandlungsverfahren angeboten werden. Zum Einsatz kommt vor allem ein aerobes Ausdauertraining, bevorzugt auf dem Fahrradergometer. Möglich sind dabei sowohl Dauer- als auch Intervalltrainingsmethoden. Entgegen der ursprünglichen Einschätzung ist aber auch ein entsprechend angepasstes Krafttraining möglich.
Literatur
Formale Grundlage für eine Folgeverordnung ist ebenfalls der »Antrag auf Kostenübernahme für Rehabilitationssport«, Muster 56. Die Folgeverordnung muss aber für jeden Fall einzeln durchgekämpft werden. Die derzeit von den Kostenträgern zur Verfügung gestellten Mittel decken die realen Kosten für die Bewegungstherapie bei schwerer Herzinsuffizienz nicht, da aufgrund der Schwere der Erkrankung die durchschnittliche Gruppengröße (ca. 10 Patienten) nur die Hälfte der sonst üblichen Gruppengröße der allgemeinen Herzgruppe (bis zu 20 Patienten) beträgt. Dabei sparen die Bewegungsprogramme in umfassenden Herzinsuffizienzprogrammen mit Sicherheit Kosten und Hospitalisationstage (Hanumanthu et al. 1997). Probleme gibt es auch bei Privatkrankenversicherungen, die in der Regel keinen Rehabilitationssport fördern.
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111 9.8 · Zusammenfassung
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Kapitel 9 · Bewegungstherapie bei Herzinsuffizienz – aktuelle Forschungsergebnisse
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113 9.8 · Zusammenfassung
71 Working Group on Cardiac Rehabilitation and Exercise Physiology: Recommendations for exercise training in chronic heart failure patients. Eur Heart J 22:125–135 (2001) Weitere Literatur bei den Verfassern.
9
115
Bewegungstherapie bei koronarer Herzkrankheit David Niederseer, Josef Niebauer
10.1
Koronare Herzkrankheit – eine Einführung in das Krankheitsbild – 116
10.1.1 10.1.2 10.1.3 10.1.4
Definition und Epidemiologie – 116 Symptomatik – 116 Diagnostik – 117 Therapie – 119
10.2
Bewegungstherapie bei koronarer Herzkrankheit – Empfehlungen – 121
10.2.1 10.2.2 10.2.3
Trainingsdauer und -häufigkeit – 121 Trainingsart und Intensität – 122 Risiko-Nutzen-Abwägung – 126
10.3
Wirkungen von Bewegungstherapie bei koronarer Herzkrankheit – 126
10.3.1 10.3.2 10.3.3 10.3.4 10.3.5 10.3.6
Einleitung – 126 Regression der Koronarsklerose – 127 Ausbildung epikardialer Kollateralen – 130 Rückbildung der endothelialen Dysfunktion – 131 Induktion der Vaskulogenese durch Stammund Progenitorzellen – 132 Glatte Gefäßmuskulatur – 133
10.4
Hinweise für die praktische Umsetzung – 134
10.5
Zusammenfassung – 134
10
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Kapitel 10 · Bewegungstherapie bei koronarer Herzkrankheit
Die koronare Herzkrankheit verursacht in den westlichen Industrieländern im Vergleich zu anderen Krankheiten die höchsten Krankheitskosten sowie die meisten Folgeerkrankungen und Todesfälle. Sie wird ganz wesentlich durch körperliche Inaktivität begünstigt, wobei weitere beeinflussbare Risikofaktoren wie Diabetes mellitus, Adipositas, arterielle Hypertonie und Rauchen zu einer gehäuften Manifestation führen. Körperliches Training bietet hier eine effektive und kostengünstige Therapieoption, die jedoch immer in Ergänzung zu anderen Therapieformen stattfinden muss. In diesem Beitrag lesen Sie über: 4 die Epidemiologie der KHK, 4 beeinflussbare Risikofaktoren wie Diabetes mellitus, Adipositas, arterielle Hypertonie, Fettstoffwechselstörungen, Rauchen und Bewegungsmangel, 4 die relevanten diagnostischen Methoden, 4 die evidenzbasierte Therapie der KHK, 4 Empfehlungen zur Bewegungstherapie bei KHK: Trainingsdauer, -häufigkeit, -art und -intensität, 4 Studienergebnisse zu den unterschiedlichen Effekten der Bewegungstherapie bei KHK, 4 Hinweise zur praktischen Umsetzung.
10.1
Koronare Herzkrankheit – eine Einführung in das Krankheitsbild
10.1.1
Definition und Epidemiologie
14 15 16 17 18 19 20
Die koronare Herzkrankheit (KHK) verursacht mehr Todesfälle und Folgeerkrankungen und größere wirtschaftliche Kosten als jede andere Krankheit in der entwickelten Welt. Die KHK ist in den USA die häufigste, ernsteste, chronische und lebensbedrohliche Erkrankung, mehr als 12 Millionen Menschen leiden daran, mehr als 6 Millionen weisen eine Angina pectoris auf und mehr als 7 Millionen haben einen Herzinfarkt erlitten. Eine fett- und energiereiche Ernährung, Rauchen und Bewegungsmangel sind mit der vermehrten Häufigkeit einer koronaren Herzkrankheit assoziiert. In den USA und Westeuropa nimmt sie vor allem in den ärmeren Bevölkerungsschichten zu und weni-
ger in den Reicheren, die eher einen gesünderen Lebensstil annehmen. Primärpräventive Anstrengungen haben die Manifestation dieser Erkrankung bei allen sozioökonomischen Gruppen in spätere Lebensabschnitte verschoben. Übergewicht, Insulinresistenz und ein Diabetes mellitus Typ 2 werden immer häufiger und sind wichtige Risikofaktoren einer koronaren Herzkrankheit. Mit der zunehmenden Verstädterung in der entwickelten Welt nehmen die Risikofaktoren für eine ischämische Herzkrankheit rasch zu. Weltweit wird mit einer starken Zunahme der KHK gerechnet, sodass sie bis zum Jahre 2020 vermutlich die weltweit häufigste Todesursache sein wird [1].
10.1.2
Symptomatik
Die koronare Herzerkrankung ist eine Atherosklerose der arteriellen Gefäße. Zunächst unbemerkt kommt es bereits früh zu Einlagerungen von Lipiden in die Gefäßwände und zu einer Störung der Endothelfunktion. Klinische Symptome im Sinne einer stabilen Angina pectoris (»Engegefühl in der Brust«) treten erst bei Gefäßeinengungen von über 50 % auf. Die klinische Symptomatik tritt zunächst in der Regel nur bei körperlicher Belastung auf und ist Zeichen einer relativen Mangelversorgung des gefäßabhängigen Myokards bei gesteigertem Sauerstoffbedarf. Bei älteren Patienten und vor allem bei Diabetikern, bei denen aufgrund einer Polyneuropathie die Schmerzempfindung gestört sein kann, werden oftmals gar keine Schmerzen empfunden. Hier tritt die Luftnot und eventuell eine verminderte körperliche Leistungsfähigkeit als erstes Symptom in Erscheinung, man spricht von sogenannten stummen Myokardischämien [2]. Treten die Beschwerden ohne körperliche Belastung in Ruhe auf, so handelt es sich um ein akutes Koronarsyndrom, bei dem es zu einer Plaqueruptur bzw. -erosion kommt. In weiterer Folge bildet sich meist ein plättchenreicher Thrombus, der zu einer deutlichen Reduktion des Blutflusses führen kann mit der klinischen Symptomatik einer instabilen Angina pectoris oder, bei entsprechender Freisetzung myokardialer Enzyme, eines Nicht-STHebungsinfarktes (NSTEMI). Kommt es zu einem kompletten Gefäßverschluss, so findet sich ein klas-
117 10.1 · Koronare Herzkrankheit – eine Einführung in das Krankheitsbild
sischer ST-Streckenhebungsinfarkt (STEMI). Entzündungsvorgänge, akute körperliche Belastung, Stresssituationen und Koronarspasmen können solche Ereignisse auslösen oder verstärken.
10.1.3
Diagnostik
Anamnese Die Anamnese des Patienten ist wegweisend für die weitere Diagnostik und Therapie. Viele Patienten haben schon vor langer Zeit einen Myokardinfarkt erlitten oder haben das Ereignis des Herzinfarktes gar nicht bemerkt, weil die klassischen Zeichen des Infarktes entweder fehlten oder falsch interpretiert wurden. Dennoch ist die Kenntnis der Beschwerden sowie des Vorliegens eines erlittenen Herzinfarktes von eminenter Bedeutung für die weitere Therapieplanung. Die typische Angina pectoris zeichnet sich aus durch ein Enge- und/oder Druckgefühl, manchmal auch Brennen hinter dem Brustbein, welches häufiger in den linken, seltener auch in den rechten Arm, Kiefer, Nacken, Oberbauch oder Rücken ausstrahlen kann. Selten können auch ganz andere Regionen betroffen sein mit Ausstrahlung in den Thorax, sehr selten ist der Thoraxbereich von der Schmerzsymptomatik ausgenommen. Auslöser für die Entstehung der Beschwerden ist eine vermehrte kardiale Belastung durch Blutdruckanstieg, Tachykardie oder bei körperlicher oder emotionaler Belastung, Kälte oder nach opulentem Essen. Die Beschwerden können typischerweise mit Luftnot einhergehen, selten ist die Dyspnoe auch alleiniges Symptom der Angina pectoris. Die Dauer der Beschwerden richtet sich in der Regel nach dem auslösenden Mechanismus. Dauern die Beschwerden länger als 20 Minuten an, so ist von einem Herzinfarkt auszugehen. Stabile Angina pectoris tritt reproduzierbar bei körperlicher oder psychischer Belastung auf und klingt in Ruhe oder nach Einnahme von Nitropäparaten ab. > Besonders wichtig sind gezielte Fragen nach etwaigen Comorbiditäten wie Diabetes mellitus Typ 2, arterieller Hypertonie, COPD (Chronic Obstructive Pulmonary Dis-
10
ease) und pAVK (periphere arterielle Verschlusskrankheit).
Klinische Untersuchung Bei der klinischen Untersuchung sollte ein internistischer Status erhoben werden. Besonderes Augenmerk muss auf die Herzauskultation gelegt werden, ob Zeichen für einen neu aufgetretenen Klappenfehler, beispielsweise eine ischämisch bedingte Mitralinsuffizienz oder eines postinfarziellen Ventrikelseptumdefekts zu finden sind. Der periphere Gefäßstatus an Bein- und Halsgefäßen gibt Hinweise auf eine generelle Atheroskleroseneigung. Zeichen der Herzinsuffizienz sind ebenfalls durch Auskultation des Herzens (3. Herzton, Galopprhythmus) und der Lunge (pulmonale Stauung mit Rasselgeräuschen), durch Palpation der Lebergröße zur Beurteilung einer eventuellen Rechtsherzinsuffizienz sowie durch die Diagnose von peripheren Ödemen zu verifizieren. Körpergewicht, Körpergröße, der daraus errechnete Body-Mass-Index (BMI = kg/m2) sowie der Bauch- und Hüftumfang (auf Nabelhöhe und auf Höhe der Trochanter majora) und die daraus errechnete Waist-to-Hip-Ratio (WHR = Bauchumfang/Hüftumfang) sind zur Beurteilung des Risikoprofils des Patienten, aber auch für die Auswahl geeigneter Bewegungsprogramme und Sportarten von großer Bedeutung.
Ruhe-EKG Das Ruhe-EKG dient zunächst als Ausgangsbefund für weitere Verlaufskontrollen und zur Beurteilung des aktuellen Status. Infarktzeichen mit Q-Zacken, R-Verlust oder negativem T geben Hinweise auf Lokalisation und Größe eines abgelaufenen Myokardinfarktes. Tachykarde und vor allem bradykarde Rhythmusstörungen können ebenfalls erfasst werden, wenngleich hier das Langzeit-EKG sensitiver ist.
Ergometrie Das Belastungs-EKG ist ein wesentlicher Bestandteil der Diagnostik der koronaren Herzerkrankung, da die weitere Therapieentscheidung auch nach abgelaufenem Herzinfarkt streng abhängig ist von der klinischen Symptomatik und objektivierbaren Ischämiezeichen. Sofern keine schweren Begleiterkrankungen mit eingeschränkter Lebenserwar-
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Kapitel 10 · Bewegungstherapie bei koronarer Herzkrankheit
tung, die keine therapeutische Konsequenz erlauben würden oder ohnehin eine operative Revaskularisation geplant ist, hat das Belastungs-EKG einen hohen Evidenzgrad bei einer in Abhängigkeit von Alter, Symptomen und männlichem Geschlecht mittleren Wahrscheinlichkeit für das Vorliegen einer KHK, auch bei Rechtsschenkelblock mit STStreckensenkung <1 mV im Ruhe-EKG. Auch bei bekannter KHK oder dem Verdacht auf eine KHK mit signifikanten Änderungen des klinischen Bildes in der letzten Zeit hat das Belastungs-EKG eine hohe Aussagekraft. Liegt bereits aufgrund der klinischen Beschwerdesymptomatik, des Alters und des Geschlechtes eine sehr hohe oder auch sehr niedrige Wahrscheinlichkeit für das Vorliegen einer KHK vor, so ist der Evidenzgrad des Belastungs-EKGs eher niedrig einzuschätzen, da die klinische Situation ohnehin schon relativ eindeutig ist. Auch bei bereits im Ruhe-EKG vorhandenen ST-Senkungen >1 mV unter Digitalismedikation sowie bei linksventrikulären Hypertrophiezeichen mit ST-Senkungen >1 mV und bei vasospastischer Angina pectoris ist der Evidenzgrad des Belastungs-EKG sehr niedrig. Für die idividuelle Trainingstherapie ist es unabdingbar die maximale Herzfrequenz zu bestimmen, was mittels maximaler Ergometrie erfolgt. Mittels Blutdruckmessung während der Ergometrie kann eine arterielle Hypertonie diagnostiziert oder ausgeschlossen bzw. der medikamentöse Therapieerfolg überprüft werden.
Echokardiographie
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Die Echokardiographie kann Auskunft über den durch einen Myokardinfarkt entstandenen lokalen Schaden geben durch Beurteilung der regionalen Kontraktilität des linken Ventrikels. Die globale Auswurffraktion ist hilfreich bei der Beurteilung der prognostischen Wertigkeit von Herzrhythmusstörungen und für die allgemeine Prognose- und Risikoabschätzung. Außerdem können valvuläre oder andere myokardiale Erkrankungen diagnostiziert und ggf. quantifiziert werden. Des Weiteren können erworbene oder angeborene Anomalien nachgewiesen werden, die – wie z. B. bei der arrhythmogenen rechtsventrikulären Dysplasie (ARVD) oder hypertrophen obstruktiven Cardio-
myopathie (HOCM) – mit einer erhöhten Mortalität assoziiert sind.
Stressechokardiographie, Szintigraphie oder Stress-MRT Eine Stressechokardiographie oder alternativ die Durchführung eines Myokardszintigrammes oder Kardio-MRT mit Belastung sind dann indiziert, wenn das Ruhe-EKG aufgrund von bereits in Ruhe bestehenden ST-Senkungen >1 mm, Linksschenkelblock, Digitalis-Therapie oder bei Präexzitationssyndrom nicht interpretierbar ist. Bei fehlender körperlicher Belastbarkeit wegen orthopädischer Probleme kann auch eine pharmakologische Belastung mit Dobutamin und ggf. Atropin erfolgen.
Langzeit-EKG Das Langzeit-EKG ist zur Ischämiediagnostik außer bei der vasospastischen, sogenannten PrinzmetalAngina und bei stummen Ischämien nicht geeignet. Es findet lediglich Einsatz zur Beurteilung von Herzrhytthmusstörungen, die entweder ursächlich für die Angina-pectoris-Symptomatik sein können oder deren prognostische Wertigkeit insbesondere bei eingeschränkter linksventrikulärer Funktion beurteilt werden soll.
Langzeit-Blutdruck Wenn die Blutdruckmessung auf eine arterielle Hypertonie hinweist, so ist diese mit einer Langzeit-Blutdruckmessung zu verifizieren. Der arterielle Mittelwert und das Tag-Nacht-Profil des Blutdrucks werden ermittelt und Weißkittelhypertonie sowie maskierte Normotonie ausgeschlossen. Weiters kann eine bestehende antihypertensive Therapie in ihrer Wirksamkeit beurteilt und eventuelle Therapieoptimierungen vorgenommen werden.
Laboruntersuchungen Lipidstatus mit LDL- und HDL-Cholesterin sowie Triglyzeride sind zur Beurteilung des koronaren Risikoprofils unerlässlich. Auch die Messung des Nüchternblutzuckers und ggf. des HbA1C ist zur Beurteilung der Zuckersoffwechsellage von enormer Bedeutung. Vor invasiver Diagnostik ist zusätzlich ein Blutbild (Thrombozytenzahlen) sowie Kreatinin und Elektrolyte im Serum und das TSH zur Diagnostik einer eventuell bestehenden, auch laten-
119 10.1 · Koronare Herzkrankheit – eine Einführung in das Krankheitsbild
ten Hyperthyreose obligat. Bei instabiler Symptomatik müssen ggf. auch die herzspezifischen Enzyme Kreatinkinase (gesamt), das Isoenzym Kreatinkinase-MB sowie das Troponin T/I bestimmt werden.
Indikationen zur invasiven Diagnostik Gemäß den Leitlinien der DGK gibt es klare Voraussetzungen für eine invasive Abklärung der koronaren Herzerkrankung mittels Herzkatheteruntersuchung. Grundsätzlich soll eine invasive Abklärung nur bei hoher und mittlerer Vortestwahrscheinlichkeit erfolgen, wohingegen bei niedriger Vortestwahrscheinlichkeit die Risiko-Nutzen-Abwägung zugunsten nichtinvasiver Abklärung entschieden werden soll. Für Details sei auf einschlägige Fachliteratur verwiesen [3, 4].
10.1.4
Therapie
Für eine ausführliche Besprechung der medikamentösen Therapie der KHK wird auf die aktuellen Leitlinien der führenden kardiologischen Fachgesellschaften [5–10] verwiesen, im Folgenden sollen nach einer tabellarischen Übersicht über alle relevanten Medikamente der Post-Infarkt-Therapie nur jene Aspekte näher besprochen werden, die mit dem Bewegungstraining im Zusammenhang stehen. 4 Thrombozytenaggregationshemmung oral, Acetylsalicylsäure (ASS, lebenslang) und Clopidogrel (für 12 Monate), 4 Betablockade oral, 4 ACE-Hemmer oder 4 Angiotensinrezeptorblocker (ARB), 4 Cholesterinsenkung mit Statinen, 4 Kalziumantagonisten. Da eine Betablockade neben der Wirkung auf den Blutdruck auch das Frequenzverhalten des Herzens beeinflusst, sollte bei pulsgesteuertem Training immer darauf Rücksicht genommen werden. Auch die zeitliche Distanz zur Einnahme des Betablockers spielt hier eine Rolle. Weiters ist ein Patient, dessen betablockierende Therapie noch nicht optimiert ist, nach abgeschlossener medikamentöser Einstellung nochmals zu ergometrieren, da
10
sich die leistungsbestimmenden Parameter wie maximale Sauerstoffaufnahme oder Pulsverhalten durch die medikamentöse Optimierung verändert haben. Bei einer erstmaligen Gabe von Kalziumantagonisten ist ein Anstieg der Herzfrequenz zu verzeichnen, sodass dies bei einem pulsgesteuerten Training zu falschen Trainingsintensitäten führen würde. Um das zu vermeiden ist eine neuerliche Ergometrie indiziert um neue Belastungsgrenzen unter Kalziumantagonisten festzulegen. Bei Antikoagulation mit Cumarinderivaten (Sintrom und Marcumar) sind Kontaktsportarten zu vermeiden. Gleiches gilt für Patienten nach Schrittmacher oder ICD-Implantation.
Risikofaktoren der koronaren Herzerkrankung Die klassischen beeinflussbaren Risikofaktoren der koronaren Herzerkrankung sind Hypertonie, Diabetes mellitus, Hyperlipidämie und Nikotinabusus. Hinzugekommen sind in den letzten Jahren als anerkannte Risikofaktoren Bewegungsmangel, Adipositas und familiäre Atherosklerosemanifestationen bei Männern vor dem 55. und bei Frauen vor dem 65. Lebensjahr (Verwandte 1. Grades). Durch entsprechende Beratung des Patienten hinsichtlich Lebensstilveränderungen wie Gewichtsabnahme, Umstellung der Diät und Nikotinverzicht sowie durch konsequente medikamentöse Therapie der Risikofaktoren Hypertonie, Hyperlipidämie und Diabetes mellitus kann zu einer signifikanten Verbesserung der Überlebensrate unserer Patienten beigetragen werden.
Hypertonie Das Risiko kardiovaskulärer Ereignisse steigt kontinuierlich mit der Höhe des arteriellen Blutdruckes. Bereits Blutdruckwerte zwischen 130 und 139 mm Hg systolisch, die noch als hochnormal angesehen werden können, führen zu einer erhöhten Inzidenz kardiovaskulärer Ereignisse [11]. Eine konsequente und adäquate Therapie des arteriellen Hypertonus senkt das kardiovaskuläre Risiko signifikant, was in mehreren Studien mit unterschiedlichen therapeutischen Substanzen nachgewiesen werden konnte [12–14]. Das Therapieziel liegt bei Blutdruckwerten deutlich unter 130/85 mm Hg, anzustreben sind
120
Kapitel 10 · Bewegungstherapie bei koronarer Herzkrankheit
4
Werte um 120/80 mm Hg, insbesondere bei Diabetikern und herzinsuffizienten Patienten. Lebensstiländerungen mit vornehmlicher Gewichtsnormalisierung, regelmäßiges körperliches Ausdauertraining mit dynamischen Belastungen sowie Limitierung des Alkoholkonsums und eine Reduktion der Kochsalzzufuhr können neben einer strengen medikamentösen Therapie zur Verwirklichung beitragen.
5
Diabetes mellitus
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Diabetes mellitus in Kombination mit koronarer Herzerkrankung stellt eine Hochrisikokonstellation dar, die eine konsequente Behandlung erfordert. Das Hauptziel ist eine normoglykämische Einstellung des Blutzuckers mit HbA1C-Werten unter 6,5 %. Zudem ist hier auf eine sehr konsequente antihypertensive Einstellung vornehmlich mit ACE-Hemmern aufgrund des nephroprotektiven Effektes zu achten und eine konsequente Gewichtsreduktion auf einen BMI von maximal 20–25 kg/m2 anzustreben [15, 16].
Fettstoffwechselstörungen Erhöhte Triglyzeride, vor allem aber erhöhte LDLCholesterinspiegel bei gleichzeitig verminderten HDL-Cholesterinspiegeln gehen mit einem hochsignifikanten Anstieg des Herzinfarktrisikos einher. Die konsequente lipidsenkende Therapie führt zu einer signifikanten Verbesserung der Prognose durch Senkung der Letalität um bis zu 34 % und Verringerung der kardiovaskulären Ereignisse um bis zu 40 %. Außerdem kommt es zu einer deutlichen Verlangsamung der Progression der allgemeinen Atherosklerose [17, 18]. Folgende Zielwerte sollten erreicht werden: 4 LDL-Cholesterin <100 mg/dl bzw. <2,6 mmol/l 4 HDL-Cholesterin >40 mg/dl bzw. >1,0 mmol/l 4 Triglyzeride <200 mg/dl bzw. <2,3 mmol/l [19, 20]
Nikotinabusus
19 20
Nikotinabusus ist ein bekannter Risikofaktor für die koronare Herzerkrankung. So konnte in der British Physicians‘ Study und der U. S. Nurses‘ Health Study [21, 22] gezeigt werden, dass Rauchen ein unabhängiger Risikofaktor für koronare Ereignisse sowohl bei jüngeren als auch bei älteren Patien-
ten war. Lediglich in der Framingham-Studie [23] zeigte sich ab einem Alter von 65 Jahren kein signifikanter Zusammenhang zwischen Rauchen und dem Auftreten einer KHK. Hier waren jedoch Karzinomerkrankungen der Lunge signifikant häufiger als Todesursache zu verzeichnen. Sicher ist, dass der Verzicht auf Rauchen zu einer Reduktion kardiovaskulärer Ereignisse um bis zu 50 % beitragen kann [24] und dass dies einer der wichtigsten therapeutischen Maßnahmen im Einzelfall zur Verringerung des koronaren Risikos darstellt. Diese Aussage konnte auch in einer 2009 publizierten Fall-Kontroll-Studie für China an 169.871 Chinesen bestätigt werden, wobei sich ein signifikanter und dosisabhängiger Zusammenhang zwischen Rauchen und Mortalität zeigte. Nach Tumoren waren kardiovaskuläre Erkrankungen die zweithäufigste Todesursache in dieser Stichprobe [25].
Übergewicht Taillenumfang, WHR und BMI korrelieren signifikant mit der Gesamtmortalität [26], mit der Inzidenz von Diabetes mellitus, arterieller Hypertonie, Fettstoffwechselstörungen und Störungen der Hämostase, was letztlich zu einer erhöhten Inzidenz auch der koronaren Herzerkrankung beiträgt. Patienten mit einem BMI von 27–35 kg/m2 sollten daher innerhalb von 6 Monaten eine Gewichtsreduktion von 5–10 % erreichen, bei einem BMI >35 kg/m2 sollte eine Gewichtsreduktion von mehr als 10 % innerhalb von 6 Monaten erreicht werden [27].
Bewegungsmangel Ungefähr ein Drittel der Männer und Frauen im Alter zwischen 65 und 74 Jahren sowie 38 % der Männer und 51 % der Frauen älter als 75 Jahre berichten, keine körperliche Aktivität mehr zu betreiben. Körperliche Aktivität erhöht jedoch das HDL-Cholesterin, vermindert Übergewichtigkeit sowie systolischen und diastolischen Blutdruck sogar bei Patienten zwischen 60 und 80 Jahren und vermindert die periphere Insulinresistenz, was zu einer Verbesserung der diabetischen Stoffwechsellage beitragen kann [28].
121 10.2 · Bewegungstherapie bei koronarer Herzkrankheit – Empfehlungen
10.2
Bewegungstherapie bei koronarer Herzkrankheit – Empfehlungen
Die Bewegungstherapie der koronaren Herzkrankheit stellt keinen Ersatz der oben aufgelisteten therapeutischen Ansätze dar, sondern ergänzt diese zu jedem Zeitpunkt und kann die Morbidität und Letalität von Patienten mit koronarer Herzerkrankung senken und deren Lebensqualität erhöhen [29–32]. Nach der Frühmobilisierung (Phase 1) im Krankenhaus unmittelbar nach dem Infarkt folgt eine als Phase 2 bezeichnete ambulante oder stationäre Anschlussbehandlung. Nach einer 6bis 12-monatigen ambulanten Rehabilitationsphase 3 sollte eine lebenslange Phase 4 folgen. Neben dieser sekundärpräventiven Bewegungstherapie stellt Bewegung natürlich in der Primärprävention den entscheidenden Baustein dar, damit es erst gar nicht so weit kommt. Dieser Beitrag beschäftigt sich aber ausschließlich mit der Sekundärprävention der KHK. Ziel der Bewegungstherapie ist zu jedem Zeitpunkt eine Verbesserung der kardiovaskulären Mortalität und Morbidität und der Lebensqualität der Patienten. > Die aktuellen Leitlinien der führenden nationalen und internationalen Gesellschaften empfehlen für Patienten mit KHK zusammenfassend folgende Trainingsdosis: ein 5 regelmäßiges Ausdauertraining im 5 ischämiefreien Bereich über jeweils 5 30 bis 60 Minuten 5 3- bis 7-mal/Woche bei 5 60–70 % der maximalen Leistungsfähigkeit [33].
Die Evidenz hinter dieser Empfehlung soll nun skizziert werden. Im Jahre 2001 erschien eine Metaanalyse der Cochrane Library of Evidence based Medicine, die das Thema dieses Beitrags zum Inhalt hatte. Die Autoren kommen zu dem Schluss, dass Bewegungstraining bei KHK (51 Studien, 8.440 Patienten) effektiv kardiovaskuläre Todesfälle reduziert (–27 %, Risikoreduktion 0,74, Konfidenzintervall [CI] 0,56– 0,98) und die kardiale Mortalität als Folge der Trainingsintervention um 31 % abnimmt. Interessanter-
10
weise war diese Mortalitätsreduktion nicht auf eine Abnahme der nichttödlichen Myokardinfarkte bzw. des plötzlichen Herztodes zurückzuführen [34]. Weiters konnte die Frage nicht beantwortet werden, ob Bewegungstherapie allein oder im Rahmen eines multimodalen Rehabilitationsprogrammes wirksamer ist. Auch wurde einschränkend angemerkt, dass die Studienpopulation von 8.440 Patienten vor allem männlich, mittleren Alters und Niedrigrisiko-Patienten mit wenigen Komorbiditäten darstellen. Eine weitere Meta-Analyse aus dem Jahre 2005 mit anderen Einschlusskriterien untersuchte 63 Studien (21.295 Patienten) und bestätigt diese Aussage. Die Gesamtmortalität über 12 Monate lag in den Interventionsgruppe bei n=659 und in den Kontrollgruppen bei n=760 (p=0.001). Zahlreiche Übersichtsarbeiten behandeln körperliches Training bei KHK und unterstreichen dessen Bedeutung, die körperlichem Training bei KHK eine Mortalitätsreduktion von 25 % attestieren [35]. Neben den drei großen kardiologischen Fachgesellschaften AHA [36, 37], ACC [36, 37] und ESC [19] haben auch die drei deutschsprachigen kardiologischen Gesellschaften [38–42] Leitlinien zu diesem Thema publiziert, die allesamt die Empfehlung beinhalten, körperliches Training in die Behandlung der KHK zu integrieren. Des Weiteren wurden kürzlich umfassende Übersichtsarbeiten zum Thema publiziert [43, 44].
10.2.1
Trainingsdauer und -häufigkeit
Da Bewegungsmangel ein unabhängiger Risikofaktor der koronaren Herzkrankheit ist, sollten Patienten aufgefordert werden einen körperlich aktiveren Lebensstil zu führen [33, 45, 46]. So empfiehlt die Deutsche Gesellschaft für Kardiologie, unter Berücksichtigung der Empfehlungen der European Society of Cardiology [45] und der American Heart Association [46], mindestens 30–45 min mäßig intensive Bewegung 4- bis 5-mal wöchentlich, wozu auch Gehen, Joggen, Radfahren oder andere Ausdauerbelastungen gezählt werden. Dies soll durch eine insgesamt aktivere Lebensweise unterstützt werden, die Spazierengehen, Treppensteigen und Gartenarbeit mit einbezieht. Die
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Herzfrequenz muss stets im ischämiefreien und beschwerdefreien Bereich liegen. Es wird hervorgehoben, dass ein jedes Mehr an körperlicher Belastung über das Alltagsniveau hinaus als günstig einzustufen ist [33]. In einer Subgruppe der Heidelberger Regressionsstudie [47] konnte gezeigt werden, dass durchschnittlich 3 Stunden intensives körperliches Training pro Woche durchgeführt werden müssen, um eine Progression der koronaren Herzkrankheit zu vermeiden und durchschnittlich 5 bis 6 Stunden pro Woche aufgebracht werden müssen, wenn eine Regression erzielt werden soll. Es besteht Einigkeit darüber, dass 60–90 min einer moderaten körperlichen Aktivität pro Tag, die einem Energieverbrauch von ca. 2.500– 2.800 kcal/Woche entspricht, notwendig sind, um langfristig eine stabile Gewichtsabnahme von mindestens 14 kg zu erzielen [34, 48–54]. Zur Stabilisierung höherer Gewichtsverluste ist ein größeres Ausmaß an körperlicher Aktivität erforderlich. Schoeller und Mitarbeiter kamen in ihren Studien zu dem Schluss, dass eine moderate körperliche Aktivität, z. B. zügiges Gehen, für 80 min/Tag bzw. eine stärkere körperliche Belastung von 35 min/Tag z. B. beim Joggen ausreicht, um den initial erzielten Gewichtsverlust langfristig zu halten [50]. Dieses Niveau an körperlichem Training entspricht in etwa einem zusätzlichen Energieverbrauch von 2.500 kcal/Woche [51]. Die aktuellen Empfehlungen der internationalen Fachgesellschaften basieren auf diesen Daten.
15 10.2.2
16 17 18 19 20
Kapitel 10 · Bewegungstherapie bei koronarer Herzkrankheit
Trainingsart und Intensität
Allgemeine Empfehlung Generell sollten KHK-Patienten folgende Bewegungselemente in ihren Alltag integrieren: 4 Lebenslang mind. 30 min/d körperliche Aktivität, 4 mittleres Belastungsniveau: ca. 70 % HFmax, 4 dynamische Ausdauersportarten, 4 bis zu 20 % der Zeit Krafttraining, 4 Training in den Alltag integrieren, 4 zur Arbeit radeln oder joggen. 4 Zusätzlich: jede Gelegenheit zur Bewegung nutzen: Treppensteigen, zu Fuß gehen etc.
Motivationshilfen Da es vielen Patienten nicht gelingt die Trainingsempfehlungen umzusetzen, können folgende Tipps hilfreich sein: 5 Suchen Sie sich einen Sport aus, der Spaß macht. 5 Strecken Sie sich nach einem sportlichen Freundes- und/oder Kollegenkreis aus. 5 Treiben Sie Sport in Gesellschaft, z. B. in Ihrer Familie, mit Ihren Freunden. 5 Tragen Sie Ihre Trainingseinheiten in Ihren Kalender als Jours fixes ein; dies sind unverschiebliche Termine! 5 Setzen Sie sich erreichbare Ziele, z. B. die erfolgreiche Teilnahme an einem Volkslauf. 5 Und schließlich: Belohnen Sie sich selber nach dem Training!
Ausdauertraining Sinnvolle und durch Studien belegte Sportarten sind hier Fahrradergometertraining, Laufbandtraining, Musikgymnastik, Schwimmen, Wandern, (Nordic) Walking, Langlauf. Damit die Patienten im ischämiefreien Bereich trainieren, ist eine regelmäßige Kontrolle der Patienten notwendig, um den Trainingspuls individuell zu bestimmen. Da fast alle Trainingsempfehlungen sich auf die maximale Leistungsfähigkeit beziehen, und diese sich durch das Training naturgemäß verändert, muss zu sinnvollen Zeitpunkten diese maximale Leistungsfähigkeit mittels Fahrrad- oder Laufbandergometrie überprüft werden, sodass tatsächlich in der leitlinienkonformen Intensität trainiert wird. Ergänzend können auch Langzeit-EKGs mit ST-StreckenAnalyse während der einzelnen Trainingsstunden durchgeführt werden [55].
10
123 10.2 · Bewegungstherapie bei koronarer Herzkrankheit – Empfehlungen
Trainingsdosierung anhand des klinischen Status VO2 max [ml/min/kg]
Anzahl der Trainingseinheiten
Intensität
Krafttraining
pro Woche
Dauer [min]
Watt/kg
Puls [%max HF]
> 25
3-7
30-60
>1
70-80
ja
20-25
3-5
20
>1
60
ja
<20
3-5
10
>1
60
ja
<15
3
<10
<1
50-60
ja
. Abb. 10.1 Dosierung vom Bewegungstherapie bei KHK. max HF maximale Herzfrequenz, VO2max maximale Sauerstoffaufnahme (aus [86])
Trainingsempfehlung Ausdauertraining KHK-Patienten sollen 5 3- bis 7-mal pro Woche 5 für 15 bis 60 Minuten pro Training 5 ein submaximales Training mit 60–70 % der maximalen Leistungsfähigkeit 5 im ischämiefreien Herzfrequenzbereich absolvieren [46, 56]. Da nicht alle Patienten diese empfohlene Trainingsdosis durchführen können, kann die »Dosierung der Bewegungstherapie« nach dem in . Abb. 10.1 (mod. nach [86]) gezeigten Schema erfolgen.
Krafttraining Während Ausdauertraining seit vielen Jahren zum festen Bestandteil von internationalen Empfehlungen zur Prävention und Rehabilitation von HerzKreislauf-Erkrankungen gehört, sind die Stellungnahmen und Empfehlungen zum dynamischen Krafttraining eher zurückhaltend [57–60]. Diese Zurückhaltung wird mit der Blutdruckreakti-
on bei Kraftbelastungen und den damit verbundenen Risiko für kardiovaskuläre Komplikationen besonders bei älteren und vorgeschädigten Personen begründet [57, 61]. In den letzten zwei Jahrzehnten sind jedoch zahlreiche Untersuchungen durchgeführt worden, deren Ergebnisse nachweisen, dass die bis jetzt empfohlene Vorsicht nicht grundsätzlich notwendig ist. Dies gilt insbesondere für das Krafttraining bei KHK-Patienten mit guter Ausdauerleistungsfähigkeit und guter linksventrikulärer Pumpfunktion [59, 62]. Richtig durchgeführt ist das Krafttraining, zumindest für diese Patientengruppe, nicht mit einem höheren Risiko verbunden als ein Ausdauertraining und kann begleitend zum Ausdauertraining zusätzliche gesundheitliche Effekte erzielen und darüber hinaus das psychosoziale Wohlbefinden und die Lebensqualität positiv beeinflussen [46, 59, 63]. Für KHK-Patienten mit guter Ausdauerleistungsfähigkeit sind in den letzten Jahren vorsichtige Empfehlungen publiziert worden [46, 59, 63]. Moderates dynamisches Krafttraining wird aufgrund seiner positiven Einflüsse auf zahlreiche gesundheitlich relevante Faktoren als wichtiger Bestandteil eines umfassenden Fitnessprogramms
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Kapitel 10 · Bewegungstherapie bei koronarer Herzkrankheit
für Personen jeder Altersgruppe empfohlen [38, 64–66]. Durch Erhöhung der Muskelmasse und/ oder Verbesserung der Koordination und der metabolischen Situation kann Krafttraining eine Steigerung der Muskelkraft und der Kraftausdauer bewirken. Dabei ist jedoch zu berücksichtigen, dass isometrische Trainingsformen weiterhin als ungünstig für das kardiovaskuläre System gelten, da es hierbei zu einem unverhältnismäßig hohen Blutdruckanstieg kommt, der proportional der trainierenden Muskelmasse ist und mit der Dauer der Belastung weiter ansteigt, ohne dass hierbei ein Steady-State erreicht wird. Selbst nach mehreren Minuten Belastung steigen Herzfrequenz und Blutdruck weiter an. Es wird postuliert, dass Angina pectoris bzw. Herzinfarkte z. B. beim Schneeschaufeln u. a. auf diese Effekte der isometrischen Belastung zurückzuführen sind [67]. Durch Kraftbelastungen kann es zwar zu extrem hohen Blutdruckanstiegen kommen, dies ist jedoch nicht bei allen Belastungen dieser Art die Regel. Die aktuelle Blutdruckreaktion auf Kraftbelastungen ist abhängig von der Belastungsform (Verhältnis isometrische/isotonische Komponente), der Intensität der Belastung – sprich Höhe der eingesetzten Kraft in Bezug auf die Maximalkraft (% MVC = maximal voluntary contraction) [68, 69] – und der Größe der eingesetzten Muskelmasse [70]. Der Blutdruckanstieg bei Kraftbelastungen ist weiter von der Wiederholungszahl und/oder Belastungsdauer abhängig. > Beachte: Die höchsten Druckwerte werden erreicht, wenn Wiederholungsserien im Bereich von 70–95 % der Maximalkraft bis zur völligen Erschöpfung ausgeführt werden.
Kommt bei Kraftbelastungen ein Vasalva-Manöver (Pressdruck) hinzu, wird der Blutdruckanstieg erheblich verstärkt. Während die Druckspitze zu arteriellen Rupturen führen können, bewirkt die Verminderung des Herzzeitvolumens ein Absinken der Koronardurchblutung. Es können Komplikationen wie Herzrhythmusstörungen und Herzinfarkt entstehen. Die postpressorische Bradykardie kann Auslöser für erhebliche Herzrhythmusstörungen bis zum Kammerflimmern sein. Der kurzfristige Druckabfall nach dem Pressvorgang führt manchmal auch bei Gesunden nach maximaler Kraftbe-
lastung zur Synkope [71]. Intraarteriell durchgeführte Blutdruckmessungen während des Krafttrainings bei Herzpatienten haben gezeigt, dass wenn die Intensität 40–60 % des Maximums des 1-RM (One-Repetition-Maximum = Einwiederholungsmaximum) nicht überschreitet – und die Wiederholungszahl zwischen 10 und 15 eingehalten wird – auch in dieser Personengruppe nur ein moderater Anstieg der Blutdruckwerte zu erwarten ist, vergleichbar mit dem, der auch bei moderatem Ausdauertraining entsteht [72]. Ergebnisse einer Metaanalyse zeigen, dass durch regelmäßiges progressives Krafttraining eine Senkung des systolischen und des diastolischen Blutdrucks in Ruhe erzielt werden kann [73]. Die therapeutische Gewichtung dieser Befunde bedarf jedoch weiterer Untersuchungen. Neben verschiedenen Krafttrainingsformen, die ausschließlich dem Leistungs- und ambitionierten Breitensport vorbehalten sind (z. B. Schnellkraft oder Reaktivkraft) sind zwei Varianten des Krafttrainings für die Bewegungstherapie mit KHK-Patienten geeignet: Kraftausdauertraining und Maximalkrafttraining oder Hypertrophietraining. Kraftausdauertraining: Als Kraftausdauer wird
die von der Maximalkraft abhängige Ermüdungswiderstandsfähigkeit gegen lang dauernde, sich wiederholende Belastungen bei statischer oder dynamischer Muskelarbeit definiert [74]. Kraftausdauertraining bei KHK-Patienten wird mit 30–50 % der MVC über 12 bis 25 Wiederholungen für 2 bis 3 Einheiten pro Woche empfohlen [38, 65, 66]. Maximalkrafttraining oder Hypertrophietraining:
Die Maximalkraft ist die größtmögliche Kraft, die das Nerv-Muskel System des Menschen willkürlich gegen einen Widerstand auszuüben vermag [74]. Diese Trainingsform wird oft auch als Hypertrophietraining bezeichnet, da sie mit einer Hypertrophie der trainierten Muskulatur einhergeht. Hypertrophietraining oder Muskelaufbautraining bei KHK-Patienten wird mit 40–60 % der MVC über 8 bis 15 Wiederholungen und 2 bis 3 Einheiten pro Woche empfohlen [38, 65, 66].
125 10.2 · Bewegungstherapie bei koronarer Herzkrankheit – Empfehlungen
10
. Tab. 10.1 Trainingsempfehlungen der Deutschen Gesellschaft für Prävention und Rehabilitation von Herz-Kreislauferkrankungen e. V. Trainingsaufbau
Trainingsziel
Belastungsform
Intensität
Wiederholungszahl
Trainingsumfang
Stufe 1 Vortraining
Erlernen und Einüben einer richtigen Durchführung, Verbesserung der intermuskulären Koordination
Dynamisch
<30 % MVC
5–10
2–3 Einheiten pro Woche, jeweils 1–3 Durchgänge
Stufe 2 Kraftausdauertraining
Verbesserung der lokalen aeroben Ausdauer, Verbesserung der intermuskulären Koordination Dynamisch
30–50 % MVC RPE 12–13
12–25
2–3 Einheiten pro Woche, jeweils 1–3 Durchgänge
Stufe 3 Muskelaufbautraining
Vergrößerung des Muskelquerschnitts (Hypertrophie), Verbesserung der intermuskulären Koordination
40–60 % MVC RPE ≤15
8–15
2–3 Einheiten pro Woche, jeweils 1–3 Durchgänge
Dynamisch
MVC maximal voluntary contraction, RPE regular pulse excitation
k Trainingsempfehlung Krafttraining
In . Tab. 10.1 sind die Trainingsempfehlungen der Deutschen Gesellschaft für Prävention und Rehabilitation von Herz-Kreislauferkrankungen e. V. zusammengefasst [65, 66]. Eine abschließende Empfehlung, wann welche Krafttrainingsform bessere Ergebnisse liefert, kann nicht abgegeben werden. Diese Fragestellung bleibt Gegenstand von wissenschaftlichen Untersuchungen. So prüfen wir derzeit zwei Trainingsprotokolle (Ausdauertraining [2- bis 3-mal/Woche je 60 min; 70–80 % HFmax] plus Kraftausdauertraining [2- bis 3-mal/ Woche 30–40 % der MVC; 30–40 Wdh.] vs. Ausdauertraining plus Hypertrophietraining [2- bis 3-mal/Woche 70–75 % der MVC; 10–12 Wdh.]) in einer randomisierten Studie an Diabetikern, wobei die vorläufigen Ergebnisse die Wirksamkeit beider Protokoll bestätigen aber noch keinen Vorteil einer Methode nachweisen [75]. Spezielle Trainingshinweise: 4 Standardisierte Mobilisations- und Dehnungsübungen zum Aufwärmen, zur Vorbereitung und zur Nachbereitung, 4 besonderen Wert auf das Erlernen einer korrekten Übungsdurchführung legen,
4 große Muskelgruppen vor kleinen trainieren, 4 Gewichte langsam und kontrolliert anheben; die Ausnutzung des gesamten Bewegungsspielraums der Gliedmaßen beachten, 4 eine ununterbrochene, angespannte Griffweise vermeiden, 4 nach jeder konzentrisch-exzentrischen Phase kann eine vollständige Entspannungsphase zwischengeschalten werden. Das zeitliche Verhältnis zwischen konzentrischer Kontraktion, exzentrischer Kontraktion und Relaxation sollte 1:1:2 betragen. Bewährt hat sich das Zeitmuster 1,5 s–1,5 s–3 s, 4 zur Schulung der Eigenwahrnehmung Kontrolle der Herzfrequenz und der RPE-Werte (RPE: regular pulse excitation), 4 Pressatmung durch gezielte Atemhinweise vermeiden, 4 Blutdruckmessung vor Beginn und nach Beendigung des Trainings, 4 beim Auftreten von Warnzeichen/Schwächeanzeichen (z. B. Schwundel, Arrhythmien, Luftnot/Kurzatmigkeit, Angina pectoris) die Übung sofort abbrechen [65, 66].
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Kapitel 10 · Bewegungstherapie bei koronarer Herzkrankheit
10.2.3
Risiko-Nutzen-Abwägung
Obwohl noch keine Strategien zur Vermeidung von bewegungsassoziierten kardiovaskulären Ereignissen in adäquaten Studien belegt werden konnten, sollten nach Meinung des Expertenteams der AHA und des American College of Sports Medicine [76] diese Risiken nicht überbewertet werden. Der Nutzen überwiegt bei Weitem den möglichen Schaden, der durch Bewegung entstehen kann. Einige Strategien werden für die Vermeidung von bewegungsassoziierten kardiovaskulären Ereignissen vorgeschlagen: 4 Ausschluss von Hoch-Risiko-Patienten von Bewegungsaktivitäten im Bereich der jungen Athleten und der Erwachsenen 4 Gewissenhafte Meldung von Prodromalsymptomatik wie Brustschmerzen, Müdigkeit oder Schwindel etc. 4 Empfehlung vernünftiger Traininsumfänge und -intesitäten in adäquater Umgebung, z. B. bezüglich Temperatur Bei gesunden Erwachsenen bewegen sich die Angaben zu plötzlichen Herztoden und akuten Myokardinfarkten zwischen 1:2,9 Millionen Trainingsstunden und 1:396.000 Joggingstunden, bei Erwachsenen mit bereits vordiagnostizierter KHK lassen sich die durchschnittlichen Ereignisse aus fünf Studien mit 1:116.906 Trainingsstunden beziffern und die durchschnittlichen tödlichen Ereignisse aus fünf Studien mit 1: 81.670 Patienten. In anderen Untersuchung geht man davon aus, dass das Risiko der sporttreibenden Bevölkerung während des körperlichen Trainings einen plötzlichen Herztod zu erleiden sich bei 0–2 pro 100.000 Sportstunden befindet und das Risiko für Herzpatienten bei 0,13–0,61 pro 100.000 Koronarsportstunden liegt [77–79]. Obwohl keine Klasse-I-Evidenz für die oben dargestellte Abhandlung vorliegt, wird aufgrund der zahlreichen überzeugenden epidemiologischen, klinischen und grundlagenwissenschaftlichen Studien Folgendes empfohlen: Der Nutzen von körperlicher Bewegung ist wesentlich größer als das Risiko für bewegungsassoziierte kardiovaskuläre Ereignisse. Daher sollten fast alle Personen
dazu angehalten werden, körperliches Training in ihren Alltag zu integrieren [76].
Einige Kontraindikationen für Bewegungstherapie bei KHK 5 akute Myokarditis 5 Dekompensation innerhalb der letzten 3 Monate 5 periphere Ödeme 5 trainingsinduzierte Myokardischämie 5 maligne ventrikuläre Tachykardie
10.3
Wirkungen von Bewegungstherapie bei koronarer Herzkrankheit
Die im Folgenden besprochenen Wirkungen der Bewegungstherapie bei KHK beziehen sich vor allem auf das Ausdauertraining. Die Wirkungen des Krafttrainings wurden bereits besprochen.
10.3.1
Einleitung
Bereits im Kindesalter lassen sich bei der familiären Hypercholesterinämie eine eingeschränkte Endothelfunktion [80] und subintimale Fetteinlagerungen in Makrophagen und glatte Muskelzellen der Koronararterien (fatty streaks) beobachten [81]. Im Laufe von Jahren kommt es zur Kalzifizierung dieser Depots und Entstehung fibröser Plaques. Während der stenosebedingte Lumenverlust der Koronargefäße bis zu einer ca. 40 %igen Lumeneinengung durch Zunahme des Gefäßdurchmessers teilweise ausgeglichen werden kann, kommt es mit weiterer Zunahme der Stenosierung zu flusslimitierenden Stenosen, die zu Myokardischämien führen. Wenngleich die koronare Herzkrankheit gewöhnlich einen progredienten Verlauf nimmt, so sind doch alle Stadien der Atherogenese prinzipiell reversibel [82]. Durch konsequentes Umsetzen präventiver Maßnahmen, die intensives körperliches Training als eine wesentliche Maßnahme beinhalten, kann die endotheliale Dysfunktion kor-
127 10.3 · Wirkungen von Bewegungstherapie bei koronarer Herzkrankheit
rigiert [83], bei einzelnen Patienten eine Regression bestehender Läsionen erreicht [30, 32, 84] und eine Verringerung der belastungsinduzierten Myokardischämie erzielt werden [85]. Die KHK-Inzidenz körperlich aktiver Menschen beträgt nur 50 % im Vergleich zu der körperlich inaktiver Menschen [76]. Die hämodynamischen Effekte von körperlichem Training sind in . Abb. 10.2 (mod. nach [86]) dargestellt. Obgleich die Evidenz für die Wirksamkeit von körperlichem Training bei KHK überwältigend ist, herrscht nach wie vor Uneinigkeit über die molekularen Wirkmechanismen. So werden Theorien über Änderungen in der glatten Gefäßmuskulatur der Koronarien genauso diskutiert wie die Annahme, dass das Endothel und insbesondere Stickstoffmonoxid (NO) den zentralen molekularen Angriffspunkt des Therapeutikums Training bei KHK darstellt (. Abb. 10.3, mod. nach [87]; . Abb. 10.4).
10.3.2
Regression der Koronarsklerose
Bereits in den 60er- und 70er-Jahren des 20. Jahrhunderts konnte in tierexperimentellen Untersuchungen gezeigt werden, dass Atherome, die unter einer fettreichen Ernährung entstanden sind, nach mehreren Monaten cholesterinfreier Diät reversibel waren [88]. Durch Etablierung der Koronarangiographie ist es seit Ende der 1970er-Jahre möglich, in randomisierten Studien den Einfluss von unterschiedlichen Therapiekonzepten auf den Verlauf der Koronarsklerose am Menschen in vivo zu untersuchen [89]. Die bisher durchgeführten Regressionsstudien können in Abhängigkeit von den zu beeinflussenden Risikofaktoren bzw. Variablen in 3 Gruppen unterteilt werden: 4 1. Risikofaktor Hyperlipidämie: Studien, die eine Lipidsenkung anstreben durch a) diätetische, b) und/oder medikamentöse und c) durch partielle ileale Bypass-Chirurgie anstreben, 4 2. gesamtes Risikofaktorenprofil: Studien, die ein multifaktorielles Vorgehen wählen und dabei körperliches Training zusätzlich zur diätetischen und/oder medikamentösen Lipidsenkung mit in die Intervention aufnehmen, und
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4 3. Kalziumblockerstudien, die ohne gezielte Beeinflussung der kardialen Risikofaktoren durchgeführt werden.
Risikofaktor Hyperlipidämie Die ersten Studien, die sich mit der Prävention der Progression der Koronarsklerose beschäftigten, untersuchten den Einfluss von Lipiden auf das Fortschreiten der Koronarsklerose. Seit Mitte der 1970er-Jahre wurden zahlreiche angiographische, prospektive Studien durchgeführt, die einheitlich eine Verlangsamung der Progression der koronaren Herzkrankheit durch konsequente medikamentöse und/oder diätetische Maßnahmen erzielten [17, 30, 32, 84, 90–95]. Darüber hinaus konnte in der 4-S-Studie und der CARE-Studie durch medikamentöse Senkung des LDL-Cholesterins eine geringere kardiale Morbidität und Mortalität nachgewiesen werden [96, 97], was voraussichtlich nicht nur durch eine Regression der koronaren Atherosklerose, sondern durch eine Stabilisierung der Plaques bedingt ist [17, 91, 98], da sich eine Regression bei einer geringeren Anzahl von Patienten fand als dies durch die Reduktion der Morbidität und Mortalität zu erwarten gewesen wäre.
Gesamtes Risikofaktorenprofil Von den unter 1) genannten Studien unterscheiden sich die hier zusammengefassten Studien durch ihr multifaktorielles Vorgehen, bei dem in diesen prospektiven, randomisierten Studien intensives körperliches Training eine besondere Stellung einnehmen sollte [30, 32, 84]. Denn bereits Ende der 1980er-Jahre gab es Hinweise aus Fallstudien und epidemiologischen Beobachtungen, die eine positive Beeinflussung der Koronarsklerose, der kardialen Morbidität und Mortalität durch körperliches Training implizierten [99]. Darüber hinaus konnte sowohl in einer umfassenden Metaanalyse [100] als auch in einer komplexen Übersichtsarbeit [101] gezeigt werden, dass körperliches Training im Rahmen der ambulanten Rehabilitation mit einer geringeren kardiovaskulären und Gesamtmortalität als im Vergleichskollektiv einherging. Es sollte jedoch nicht nur eine isolierte Intervention mittels körperlichem Training durchgeführt werden, sondern auch andere modifizierbare Risikofaktoren, wie Rauchen, Hypercholesterinämie,
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10
. Abb. 10.2 Hämodynamische Effekte der Bewegungstherapie
Ejektionsfraktion
Linksventrikuläre Füllung
Vaskuläres Remodeling Totaler periphärer Widerstand
Zytokine
Oxidativer Stress
Endothelfunktion
Gefäßsystem:
Vaskuläres und kardiales Remodeling Totaler periphärer Widerstand
Zytokine ± /
Pro-inflammatorische
Oxidativer Stress
Angiotensinausschüttung
Aldosteron
5
Venöser Rückstrom
Pro-inflammatorische
18
Muskulatur
14
inspiratorischen
17
Herzfrequenz Totaler periphärer Widerstand
11
Oxidativer Stress
9
Kraft der
8
Neuro-endokrines System:
7
Oxidative Kapazität
6
Muskulatur:
2
System:
4
Autonomes Nervensystem: Sympathikus Parasympatikus
3
Respiratorisches
128 Kapitel 10 · Bewegungstherapie bei koronarer Herzkrankheit
1
129 10.3 · Wirkungen von Bewegungstherapie bei koronarer Herzkrankheit
O2 '
NO
O2 '
. Abb. 10.3 Wirkung von körperlichem Training durch NO. eNOS endotheliale Stickstoffmonoxidsynthetase, NAD(P)H reduzierte Form des Nikotinsäureamid-Adenin-Dinukleotid-Phosphat, NO Stickstoffmonoxid, O2 Sauerstoff
Partielle Korrektur der Endotheldysfunktion
Endotheldysfunktion
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Körperliches Training
NO Ursachen: - eNOS-Expression - eNOS-Phosphorylierung - Aktivität der NAD(P)H-Oxidase
Korrekturmechanismen: - eNOS-Expression - eNOS-Phosphorylierung - Aktivität der NAD(P)H-Oxidase
Vaskulogenese Kollateralenbildung
Regression von Stenosen
Funktionelle Gefäße
EPC Apoptose Korrektur der Endotheldysfunktion Endothel Endothelzellregeneration
. Abb. 10.4 Wirkungen von Training auf das Gefäßsystem. EPC endotheliale Progenitorzellen (aus [87])
Übergewicht, arterielle Hypertonie und diabetische Stoffwechsellage, therapiert werden. Denn auch durch konsequentes Meiden der jeweiligen Noxen, durch Gewichtsabnahme [102] und durch Einstellen des Blutdrucks [103] können Effekte erzielt werden, die denen des körperlichen Training durchaus ebenbürdig sein können. Körperliches Training kann jedoch dazu beitragen, dass das Idealgewicht und ein normaler Blutdruck schneller und dauerhafter erreicht werden. So wird durch Behandlung des Risikofaktors Bewegungsmangel gleichzeitig auch der Risikofaktor arterielle Hypertonie,
aber auch Übergewicht, diabetische Stoffwechsellage etc. mitbehandelt. Diese positiven Effekte sollten Patienten nicht vorenthalten werden, weshalb in den hier vorgestellten Studien eine multifaktorielle Intervention durchgeführt wurde [33, 45, 46]. Es konnte in diesen Studien einheitlich gezeigt werden, dass eine multifaktorielle Intervention, die körperliches Training beinhaltet, zu einer Verlangsamung der Progression der koronaren Herzkrankheit führen kann [30, 31, 32, 100]. Darüber hinaus zeigten die 6-Jahres-Daten der Heidelberger Regressionsstudie erstmalig eine unabhängige Wir-
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Kapitel 10 · Bewegungstherapie bei koronarer Herzkrankheit
kung des körperlichen Trainings auf die Verlangsamung der Progression [31]. In der bislang größten, angiographisch analysierten Trainingsstudie von Haskell et al. [30], konnte gar eine geringere Hospitalisierungsrate in der Trainingsgruppe im Vergleich zur Kontrollgruppe beobachtet werden. Eine Aussage über den prognostischen Stellenwert der Regression im Vergleich zur Stabilisierung atherosklerotischer Plaques ließ sich jedoch aufgrund der dennoch zu geringen Patientenzahlen keine Aussage treffen.
Demgegenüber zeigen neuere Daten, dass ACEHemmer mit einer geringeren Morbidität und Mortalität bei Patienten mit koronarer Herzkrankheit assoziiert sind [109]. Wenngleich in diesen Studien keine quantitativen Koronarangiographien zur Bestimmung der Regression durchgeführt wurden, so konnte in einer Subgruppenanalyse der HeartOutcomes-Prevention-Evaluation-(HOPE-)Studie mittels quantitativer Ultraschalluntersuchung der A. carotis in der Ramipril-Gruppe eine langsamere Progression als in der Placebo-Gruppe nachgewiesen werden [110].
Kalziumblockerstudien Eine frühe Hemmung der Atherogenese durch Kalziumkanalblocker vom Dihydropyridintyp (Nifedipin, Nicardipin) konnte in 4 klinischen Studien an Patienten mit unterschiedlichen Stadien der Koronarsklerose anhand quantitativer Koronarangiographien nach 1 bis 3 Jahren gezeigt werden: Nifedipin und Nicardipin reduzierten die Entstehung angiographisch darstellbarer neuer Läsionen um 30–70 %, ohne einen wesentlichen Einfluss auf bereits bestehende Stenosen zu nehmen. Die antiatherosklerotische Wirkung dieser Substanzen scheint unabhängig von den bisher bekannten Risikofaktoren zu sein, da in diesen Interventionsstudien keine Veränderung der Lebensweise angestrebt und keine lipidsenkende Therapie durchgeführt wurde [104–107]. Einen möglichen Mechanismus haben Wang et al. [108] im hypercholesterinämischen Kaninchenmodell aufgezeigt, in dem durch orale Gabe von Felodipin eine verbesserte NOabhängige Vasodilatation, verminderte Monozytenadhäsion am Endothel und verringerte Entstehung intimaler Läsionen erreicht werden konnte, ohne dass es zu signifikanten Veränderungen des arteriellen Blutdrucks oder des Cholesterinspiegels gekommen wäre. Während sich in epidemiologischen Untersuchungen, Interventionsstudien und Meta-Analysen eine Reduzierung der kardialen Morbidität und Mortalität sowohl durch Lipidsenkung als auch durch körperliches Training nachweisen ließ [46, 96, 97], bleibt weiterhin ungewiss, ob die Therapie mit Kalziumkanalblockern die Anzahl von Infarkten und die kardiovaskuläre Mortalität positiv beeinflusst und sich ein prognostischer Vorteil für die Patienten ergibt.
10.3.3
Ausbildung epikardialer Kollateralen
Obwohl in verschiedenen Tiermodellen gezeigt werden konnte, dass intensives, chronisches körperliches Training zu einer Zunahme der myokardialen Kapillaren [111, 112] und zu einer Vergrößerung des Diameters bzw. einer Angioneogenese der epikardialen Kollateralen führen kann [99, 113], gelang es bisher nicht, diese Befunde in klinschen Untersuchungen am Menschen zu bestätigen [114, 115]. In der Heidelberger Regressionsstudie zeigte sich nach 1- und 6-jährigem, intensivem körperlichen Training trotz signifikanter Verbesserung der Parameter des Lipidstoffwechsels und der körperlichen Leistungsfähigkeit keine Korrelation zwischen der Kollateralisierung der Koronargefäße und den hämodynamischen Variablen, der linksventrikulären Ejektionsfraktion und der Compliance beim körperlichen Training [71]. Vielmehr fand sich eine signifikante Korrelation zwischen dem Grad der Kollateralisierung der Koronargefäße und der Progression der koronaren Herzkrankheit. Belardinelli konnte hingegen in einer Subgruppe mit ischämischer Kardiomyopathie nach 8 Wochen Training eine vermehrte Kollateralbildung zeigen [116]. Diese uneinheitliche Datenlage bedarf weiterer Studien, die in einem invasiven Ansatz dieser Fragestellung nachgehen.
131 10.3 · Wirkungen von Bewegungstherapie bei koronarer Herzkrankheit
10.3.4
Rückbildung der endothelialen Dysfunktion
Wenngleich klinische Studien eine antiatherogene Wirkung des körperlichen Trainings dokumentieren, so bleiben doch zahlreiche Fragen über die zugrunde liegenden Pathomechanismen unbeantwortet. Vor allem dem Endothel kommt dabei größte Bedeutung zu. Mikroskopisch stellt die Atherosklerose eine exzessive inflammatorisch-fibroproliferative Reaktion des Endothels als Antwort auf verschiedenste Noxen dar [82]. Dabei kommt es zur endothelialen Dysfunktion mit erhöhter endothelialer Permeabilität und vermehrter Expression von Adhäsionsmolekülen auf der Oberfläche von Endothelzellen und Monozyten [117]. Die Adhäsion von Monozyten an das Endothel, gefolgt von einer Transmigration durch das Endothel, sind die initialen Ereignisse bei der Entstehung der Schaumzellen und später bei der Entstehung von fatty-streaks, welche sich zur fortgeschrittenen atherosklerotischen Läsion weiterentwickeln [82]. Dieser Prozess wird durch atherogene Noxen wie cholesterinreiche Nahrung, diabetische Stoffwechsellage und Nikotin weiter verstärkt und führt aufgrund turbulenten Flusses im Bereich intimaler Läsionen zu einer weiteren lokalen Freisetzung von Wachstumsfaktoren (z. B. transforming growth factor (TGF)-β, platelet derived growth factor (PDGF), insulin-like growth factor (IGF)-1, basic fibroblast growth factor (bFGF)), wodurch die Bindegewebs- und Myozytenproliferation weiter gefördert wird [82, 118], bis es durch Kalzifizierung dieser Läsionen zur Entstehung fibröser Plaques kommt. Dem lokalen Freisetzen zahlreicher Faktoren wirkt eine trainingsinduzierte Steigerung des intravasalen Blutflusses und somit der Scherkräfte entgegen [119–122]. Es konnte sowohl in eigenen Arbeiten als auch in Untersuchungen anderer Arbeitsgruppen vor allem in Tiermodellen gezeigt werden, dass es durch intensives körperliches Ausdauertraining zu einer Steigerung der NO-Freisetzung kommt [123–127]. Durch eine Steigerung von NO, induziert durch L-Arginin, NO-Donor oder Transfektion mit NO-Synthase, kann die Atherogenese verlangsamt werden [128–131]. NO entsteht während der Metabolisierung von L-Arginin zu L-Cit-
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rullin. Durch orale Gabe von L-Arginin kommt es in hypercholesterinämischen Kaninchen zu einer Steigerung der NO-Freisetzung, Verbesserung der vaskulären Reaktivität, Verringerung der endothelialen Monozytenadhäsion, Superoxidanionenproduktion, Blutplättchenaggregation und Proliferation glatter Muskelzellen [128, 130, 132, 133] sowie zur Verlangsamung der Atherogenese [134] und Regression bereits existierender Läsionen [135]. Auch intravasale Applikation von L-Arginin führt zu einer verbesserten NO-Freisetzung und vaskulären Reaktivität [136], verringerten Monozytenadhäsion und gesteigerten Apoptoserate137. Ein direkter Nachweis für die antiatherogene Wirkung des NO konnte durch Transfektion transformierter, humaner Endothelzellen [138] und In-vivo-Gentransfer im Rattenmodell mit ecNOS [131] erbracht werden. Ähnliche Effekte konnten auch für körperliches Training nachgewiesen werden, bei dem es bedingt durch gesteigerten laminaren Fluss zu einer vermehrten NO Freisetzung und damit zu einer besseren vaskulären Reaktivität und verlangsamten Entstehung atherosklerotischer Läsionen kommt [123– 127]. Das gesunde Endothel moduliert den Gefäßtonus durch Freisetzung vasodilatierender Substanzen wie dem endogenen NO bzw. vasokonstriktiver Substanzen wie Endothelin. Durch körperliches Training kommt es zu einer Steigerung des intrakoronaren Blutflusses, was bei intaktem Endothel zu einer Vasodilatation epikardialer Koronarien führt, die proportional zur Höhe der flussinduzierten Scherkräfte und unabhängig vom intravasalen Blutdruck ist [127, 139]. Im Gegensatz dazu fand sich bis 6 Tage nach Ballondenudierung des Endothels epikardialer Koronararterien eine ausgeprägte Vasokonstriktion während maximaler Laufbandbelastung [140]. Die beobachtete Vasodilatation ist im wesentlichen durch eine Freisetzung von NO bedingt [127], wenngleich in anderen Gefäßen auch Prostazyklin [120] und der Endothelium-Derived Hyperpolarizing Factor (EDHF) dazu beitragen können [141]. Tatsächlich konnte im Hundemodell nachgewiesen werden, dass es durch anhaltendes Training zu einer gesteigerten mRNA-Expression von NO-Synthase kommt [140], welche zu einer Zunahme der NO-Freisetzung führt und dadurch die vaskuläre Reaktivität verbessert [127].
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Kapitel 10 · Bewegungstherapie bei koronarer Herzkrankheit
Bei Patienten mit Hypercholesterinämie, Diabetes mellitus, arterieller Hypertonie, Atherosklerose oder Herzinsuffizienz liegt eine gestörte Endothelfunktion vor [142–144]. Wenngleich der Beweis für einen kausalen Zusammenhang zwischen endothelialer Dysfunktion und Atherosklerose noch nicht erbracht ist, so ist die endotheliale Dysfunktion dennoch mit einer erhöhten kardiovaskulären Mortalität assoziiert [144]. Diese endotheliale Dysfunktion kann durch intensives körperliches Training verbessert, nicht aber vollständig normalisiert werden [83, 126, 142, 143]. Dabei gilt nicht nur, dass NO antiatherogene Eigenschaften hat, sondern auch, dass ein Mangel an NO proatherogen wirkt. So kommt es durch Gabe von NO-Antagonisten zu einer beschleunigten Progression der Atherosklerose [145]. Dieser atherogene Effekt von L-Nitroarginin kann durch körperliches Ausdauertraining normalisiert werden. Auch ein vermehrter Abbau von NO durch freie Sauerstoffradikale bzw. die Produktion von Superoxidanionen durch NADPH führt zu einer endothelialen Dysfunktion. Tatsächlich verbesserte sowohl die Kurz- als auch Langzeitgabe des Antioxidans Vitamin C die endothelvermittelte Vasodilatation bei Patienten mit koronarer Herzkrankheit [146, 147], was darauf schließen lässt, dass die vermehrte Inaktivierung von NO durch Superoxidanionen zur endothelialen Dysfunktion beiträgt. Ein wichtiges antioxidatives Enzym der Gefäßwand, welches freie Radikale eliminiert, ist die extrazelluläre Superoxid-Dismutase (EC-SOD) [148]. Landmesser et al. konnten zeigen, dass die Aktivität von EC-SOD und die flussabhängige Vasodilatation der A. radialis bei Patienten mit koronarer Herzkrankheit gegenüber Kontrollpersonen signifikant vermindert ist [149]. Auch hier fand sich nach Gabe von Vitamin C bei Kontrollpersonen keine Veränderung, während es bei Patienten mit koronarer Herzkrankheit zu einem signifikanten Anstieg des Gefäßdurchmessers kam. Eine vermehrte Expression von eNOS und EC-SOD konnte vor Kurzem im Mausmodell durch körperliches Training induziert werden [150]. Die Arbeitsgruppe um Hambrecht konnte 2000 in einer randomisierten Arbeit bei 19 KHK-Patienten (10 Trainingsgruppe, 9 Kontrollgruppe) zeigen, dass sich durch 4 Wochen Training die para-
doxe Vasokonstriktion durch Acetylcholin um 54 % (von 0,41±0,05 mm baseline auf 0,19±0,07 mm nach 4 Wochen Training) reduziert. Da die paradoxe Vasokonstriktion auf intravasale Acetylcholininjektion direkt mit dem Grad der endothelialen Dysfunktion korrelliert, kann daraus geschlossen werden, dass ein nur 4-wöchiges Training die Endothelschäden positiv beeinflusst [83]. Als Surrogatparameter für die endotheliale Dysfunktion findet seit etwa 1990 die flussmediierte Vasodilation Anwendung [151–155]. Dieses etablierte nichtinvasive Verfahren zur Früherkennung einer endothelialen Dysfunktion und Risikostratifizierung bei Personen mit koronarer Herzkrankheit verwendet die Quantifizierung der flussabhängigen Dilatation (FMD = Flow Mediated Dilation) der A. brachialis mittels hochauflösendem Ultraschall. Durch die Provokation von Scherkräften an der Gefäßwand wird die NO-Synthese stimuliert, wodurch es zu einer NO-vermittelten, endothelabhängigen Vasodilatation kommt. Je intakter das Endothel, desto deutlicher fällt die Dilatation aus. In einigen Studien konnte gezeigt werden, dass die Gefäßreagibilität sich durch Bewegungstraining bei KHK-Patienten verbessert hat [156].
10.3.5
Induktion der Vaskulogenese durch Stamm- und Progenitorzellen
1997 wurden die endothelialen Vorläuferzellen (Endotheliale Progenitorzellen, EPCs) als zirkulierende Zellen mit der Eigenschaft, sich in reifes Endothel zu differenzieren, erstmals beschrieben [157]. EPCs sind durch hämatopoetische (CD34 und CD133) und endotheliale Oberflächenantigene (KDR, CD31 und vWF) charakterisiert und sind Abkömmlinge von Knochenmarkszellen, die durch eine Reihe von Stimuli aus diesen mobilisiert werden können [158]. Ischämie scheint hier von besonderer Bedeutung zu sein: HIF-1 → VEGF → EPCFreisetzung aus dem Knochenmark [159]. > Zahlreiche Risikofaktoren der Atherosklerose gehen mit einer Konzentrationsminderung und/oder Dysfunktion der zirkulierenden EPCs einher [160], wohingegen ei-
133 10.3 · Wirkungen von Bewegungstherapie bei koronarer Herzkrankheit
ne Konzentrationszunahme von EPCs mit einer Verminderung der kardiovaskulären Mortalität korreliert [161].
In einem rezent veröffentlichten Übersichtsartikel von Fadini et al. wird die Hyopthese diskutiert, dass EPCs gemeinsam mit oxidativem Stress einen gemeinsamen molekular-pathologischen Mechanismus darstellen [162]. Das komplexe Zusammenspiel von Diabetes mellitus und EPCs verdeutlicht, dass die Hyperglykämie einen funktionshemmenden Faktor der EPCs darstellt [163]. Da körperliches Training einen positiven Einfluss auf die modifizierbaren kardiovaskulären Risikofaktoren ausübt [164], scheint ein positiver Einfluss von körperlichem Training auf EPCs und damit auf diabetische Komplikationen inklusive KHK wahrscheinlich. Diese Annahme wurde bereits erfolgreich an nichtdiabetischen KHKPatienten [165, 166] in klinischen Studien bestätigt. Körperliches Training induzierte jeweils durch temporäre Myokardischämie einen Reiz zur Mobilisation von EPCs aus dem Knochenmark. Die Endotheldysfunktion bei Patienten mit KHK wurde u. a. mit einer Reduktion der Anzahl und Einschränkung der Funktion von EPCs ursächlich in Zusammenhang gebracht [161, 167, 168]. Erste Untersuchungen weisen jedoch darauf hin, dass ein regelmäßiges körperliches Ausdauertraining bei ausgewählten Patienten zu einer Verbesserung der migratorischen Kapazität der EPCs führt und eine Freisetzung dieser Zellen aus dem Knochenmark in die Zirkulation vermittelt [165, 166, 169]. Inwieweit diese EPCs an der Gefäßneubildung in ischämischen Myokardarealen bzw. der Regeneration von Endothelzellschäden unter klinischen Bedingungen beteiligt sind, muss im Rahmen weiterer Studien gezeigt werden. Laufs und Mitarbeiter konnten an 19 KHK-Mäusen zeigen, dass körperliches Training über 28 Tage die Anzahl von EPCs erhöht. Weiters wurde in dieser Studie nachgewiesen, dass die Neointimaformation durch Training gehemmt sowie die Angiogenese stimuliert wird [165]. Neben körperlichem Training konnte in verschiedenen Arbeiten gezeigt werden, dass z. B. Statine [170], ARBs [171], ACE-Hemmer [172] sowie roter Wein [173] die Konzentration der EPCs im Blut erhöhen können.
10.3.6
10
Glatte Gefäßmuskulatur
Neben den seit Jahren untersuchten Wirkungen von Training auf das Endothel gilt auch der glatten Gefäßmuskulatur in den letzten Jahren vermehrte Aufmerksamkeit in der Forschung an Menschen und Tieren [174, 175]. So konnten Haskell et al. [176] zeigen, dass die Koronargefäße von Läufern größere Veränderungen nach Gabe von Natrium-Nitropussid (SNP) zeigten als bei einem untrainierten Vergleichskollektiv. Diese stärkere Antwort könnte von strukturellen Unterschieden, also größeren Koronargefäßen oder einer erhöhten Erregbarkeit durch SNP von koronaren glatten Muskelzellen herrühren. Auch wurde in den letzten Jahren eine Reihe von Studien präsentiert, die auf eine Veränderung der Eigenschaften von koronaren Gefäßmuskelzellen durch körperliches Training, so z. B. die Dysfunktion von sarkolemmalen K+ and L-typeCa2+-Kanälen, von Versuchstieren hinweisen [174, 175]. Chronisches Bewegungstraining reduziert die Inzidenz und Schwere des Verlaufs von KHK, wie ausführlich am Tiermodell gezeigt werden konnte [177]. Weiters senkt körperliches Training (Laufbandtraining für 16 bis 20 Wochen) in Tierversuchen die Ca2+-Sensitivität und kontraktile Antwort auf Endothelin in den Koronararterien. Die Abschwächung der kontraktilen Antwort auf Endothelin könnte große klinische Bedeutung haben, da Endothelin an der Pathologie des Vasospasmus in den Koronargefäßen beteiligt ist [178, 179], aber auch eine Rolle bei Myokardinfarkt und arterieller Hypertonie spielt [180]. In anderen Studien konnte gezeigt werden, dass körperliches Training die rezeptormediierte (Endothelin-1- und U46619-)Vasokonstriktion der koronaren Widerstandsgefäße nach Ischämie und Reperfusion reduziert (I/R) [181]. Die Regulation des Koronartonus könnte auch durch Veränderungen in der Kanalaktivität und/oder Expression von K+-Kanälen von statten gehen. Koronararterien von trainierten Tieren sind sensitiver auf K+-Kanalblocker wie Tetraethylammonium, Iberotoxin oder 4-Aminopyridin. Obwohl Bewegung die basalen K+-Kanalaktivitäten in gesunden Kornoargefäßen verbessert, kann paradoxerweise kein Effekt von Training auf K+-Stromcharakteristika oder Membranpotentialantworten an isolierten Zellen festge-
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Kapitel 10 · Bewegungstherapie bei koronarer Herzkrankheit
stellt werden. Dies könnte darauf hinweisen, dass ein notwendiger Faktor für eine Erhöhung der K+Kanal Aktivierung, der in intakten Arterien vorhanden ist, wie z. B. Dehnung oder Wandspannung, in isolierten Zellen fehlt [182]. In der gleichen Untersuchung konnte gezeigt werden, dass Bewegungstraininig die L-Typ-Ca2+-Stromdichte in Koronararterien erhöht. Die erhöhte stromgesteuerten Ca2+-Kanaldichte könnte einen elementaren Baustein zwischen funktionellen und zellulären Adaptationen in der Koronarzirkulation während körperlichem Training spielen [182]. Ausdauertraining bei diabetischen dyslipidämischen Schweinen schützt diese vor kompensatorisch erhöhter Kopplung von Ca2+-Ausstrom zu KCa-Kanalaktivierung, die in diabetischen und dyslipidämischen Koronargefäßen üblicherweise abläuft [183]. Auch die durch die diabetisch-dyslipidämische Stoffwechsellage geschädigte Ca2+-Regulation in isolierten Koronarmuskelzellen konnte verbessert werden [184].
10.4
Hinweise für die praktische Umsetzung
Grundsätzlich sollte das Umfeld, in dem das Training durchgeführt wird, gründlich überlegt werden. Es bieten sich drei Möglichkeiten an: stationäre und ambulante Rehabilitation sowie ein Training zu Hause. In zahlreichen Studien konnte gezeigt werden, dass die Zahl der Patienten, die sich an die konkreten Trainingsvorgaben halten, bei körperlichem Training besonders niedrig sind. Allein zu Hause nach Anweisungen des Arztes zu trainieren stellt für schwer motivierbare Patienten eine wenig zufriedenstellende Alternative dar. Viel besser kann hier motivierend auf die Patienten eingegangen werden, wenn ein stationärer Aufenthalt angeboten wird. Jedoch konnte in zahlreichen Studien darauf hingewiesen werden, dass die Patienten nach der stationären Rehabilitation nur selten körperliche Aktivität in ihren Alltag integrieren. So bietet sich eine ambulante kardiologische Rehabilitation an, die über eine lange Zeitdauer finanziert werden kann, da sie wesentlich kostengünstiger als ein stationäres Programm ist [38]. Weiters sollten die Komorbiditäten der Patienten berücksichtigt werden. Die Themen Herz-
insuffizienz, COPD, Diabetes mellitus, pAVK, Zustand nach Herz- und/oder Lungentransplantation, arterielle Hypertonie, Hyperlipidämie, Adipositas, Tumoren, neurologische und psychiatrische Erkrankungen sowie Training beim geriatrischen Patienten werden in diesem Buch an anderer Stelle abgehandelt. Der Patient muss immer als Ganzes gesehen werden, mit all seinen Begleiterkrankungen samt Therapie. Bewegung bietet hier eine gemeinsame Lösung für viele unterschiedliche Probleme. Besonders wichtig ist darauf zu achten, dass Training wirkt! Patienten, die trainieren, verbessern sich und müssen dadurch immer wieder neu medikamentös eingestellt werden. Auch sollte z. B. ein insulinpflichtiger Typ-2-Diabetiker mit KHK, bei dem durch körperliches Training die Insulindosis reduziert oder das Insulin gar abgesetzt werden kann, regelmäßig kontrolliert werden, sodass unnötige Hyperglykämien vermieden werden können. Selbiges gilt auch für die arterielle Hypertonie und ihre Medikation. Auch müssen Trainingsumfang und -intensität an den verbesserten Trainingszustand angepasst werden.
10.5
Zusammenfassung
Die koronare Herzkrankheit und der Diabetes mellitus Typ 2 sind im Wesentlichen Wohlstandskrankheiten und insbesondere durch körperliche Inaktivität begünstigt, was durch Hinzukommen weiterer beeinflussbarer Risikofaktoren wie arterieller Hypertonie und Rauchen zu einer gehäuften Manifestation führt. So ist es nicht zuletzt aufgrund der multifaktoriellen Genese unverkennbar, dass diese Krankheit nicht mit einer alleinigen Therapiemaßnahme geheilt werden kann, sondern ein multifaktorielles Vorgehen indiziert ist, um alle beeinflussbaren und bereits mehrfach genannten Risikofaktoren gezielt zu behandeln. So müssen neben regelmäßiger und intensiver körperlicher Aktivität eine konsequente Einstellung der arteriellen Hypertonie [45, 185, 186], eine Gewichtsnormalisierung, Aufgabe des Nikotinabusus [187] und eine kardioprotektive medikamentöse Therapie erfolgen [14, 188–190], um eine Verringerung makrovaskulärer Komplikati-
135 10.5 · Zusammenfassung
onen und somit von Myokardinfarkten und Schlaganfällen zu erzielen [45]. Körperliches Training ist ein effektives und kostengünstiges Therapeutikum, das sich in der Primär- und Sekundärprävention sowohl der koronaren Herzkrankheit als auch des Diabetes mellitus bewährt hat. Weitere Anstrengungen sind notwendig, damit dieses Therapeutikum in ausreichender Dosierung verordnet wird und die Compliance durch Überzeugung der Patienten aber auch durch Kontrolle z. B. mittels Telemonitoring oder Gruppentraining derart gesteigert wird, dass es seinen maximalen Nutzen entfalten kann. Durch konsequente Umsetzung von präventiven Maßnahmen kann die endotheliale Dysfunktion korrigiert, bei einzelnen Patienten eine Regression bestehender Läsionen erreicht und eine Verringerung der belastungsinduzierten Myokardischämie erzielt werden. Hierbei ist erkennbar, dass wenig Aktivität besser ist als keine, ein evidenzbasierter Erfolg aber nur durch ein regelmäßiges und intensives Ausdauertraining, ergänzt durch Krafttraining, erzielt werden kann und dies nur dann gelingt, wenn wir den Sport in unseren Alltag integrieren. Nur so wird es uns nachhaltig gelingen, der Entstehung von Zivilisationskrankheiten entgegenzuwirken und das Risiko für kardiovaskuläre Erkrankungen nennenswert zu senken [164].
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Kapitel 10 · Bewegungstherapie bei koronarer Herzkrankheit
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141 10.5 · Zusammenfassung
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10
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Kapitel 10 · Bewegungstherapie bei koronarer Herzkrankheit
183 Mokelke EA, Hu Q, Song M et al. Altered functional coupling of coronary K+ channels in diabetic dyslipidemic pigs is prevented by exercise. J Appl Physiol 2003;95(3):1179–93. 184 Witczak CA, Sturek M. Exercise prevents diabetes-induced impairment in superficial buffer barrier in porcine coronary smooth muscle. J Appl Physiol 2004;96(3):1069–79. 185 Intensive blood-glucose control with sulphonylureas or insulin compared with conventional treatment and risk of complications in patients with type 2 diabetes (UKPDS 33). UK Prospective Diabetes Study (UKPDS) Group. Lancet 1998;352(9131):837–53. 186 Tight blood pressure control and risk of macrovascular and microvascular complications in type 2 diabetes: UKPDS 38. UK Prospective Diabetes Study Group. BMJ (Clinical research ed 1998;317(7160):703–13. 187 Eliasson B. Cigarette smoking and diabetes. Progress in cardiovascular diseases 2003;45(5):405–13. 188 MRC/BHF Heart Protection Study of cholesterol lowering with simvastatin in 20,536 high-risk individuals: a randomised placebo-controlled trial. Lancet 2002;360(9326):7–22. 189 Collins R, Armitage J, Parish S et al. MRC/BHF Heart Protection Study of cholesterol-lowering with simvastatin in 5963 people with diabetes: a randomised placebocontrolled trial. Lancet 2003;361(9374):2005–16. 190 Ridker PM, Danielson E, Fonseca FA et al. Rosuvastatin to prevent vascular events in men and women with elevated C-reactive protein. The New England journal of medicine 2008;359(21):2195–207.
143
11
Leistungsfähigkeit und Training bei Patienten nach Herzoder Lungentransplantation Uwe Tegtbur, Elke Gützlaff, Martin W. Busse, Martin Dierich, Jens Gottlieb, Christoph Bara, Christiane Kugler, André Simon, Axel Haverich
11.1
Körperliche Leistungsfähigkeit nach Herztransplantation – 144
11.2
Trainingsstudien bei herztransplantierten Patienten – 145
11.3
Empfehlungen zum körperlichen Training nach Herztransplantation – Gefährdungen und Besonderheiten – 146
11.4
Körperliche Leistungsfähigkeit nach Lungentransplantation – 148
11.5
Trainingsstudien bei lungentransplantierten Patienten – 149
11.6
Zusammenfassung – 151
144
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Kapitel 11 · Leistungsfähigkeit und Training bei Patienten nach Herz- oder Lungentransplantation
Bei zunehmenden Überlebensraten und sehr hoher medizinischer Versorgungsqualität bei Menschen nach Herz- oder Lungentransplantation nimmt der Focus auf die Lebensqualität zu. Dazu gehört, die Leistungsfähigkeit zu untersuchen und körperliche Trainingsprogramme in die (Langzeit-)Nachsorge einzuführen. In diesem Beitrag lesen Sie: 4 über die körperliche Leistungsfähigkeit nach Herztransplantation, 4 über Trainingsstudien bei herztransplantierten Patienten, 4 Empfehlungen zur Trainingsgestaltung nach Herztransplantation, 4 über die körperliche Leistungsfähigkeit nach Lungentransplantation, 4 über Trainingsstudien bei lungentransplantierten Patienten, 4 Empfehlungen zur Trainingsgestaltung nach Lungentransplantation.
11.1
Körperliche Leistungsfähigkeit nach Herztransplantation
Die erste erfolgreiche Herztransplantation (HTX) am Menschen wurde 1967 von Dr. C. Barnard durchgeführt. Der 54-jährige Patient überlebte die Operation 18 Tage. Bis zum Jahr 1980 steigerte sich die Zahl auf ca. 100 HTX pro Jahr weltweit, und die 5-Jahres-Überlebensrate stieg auf 40 % (Gaudiani et al. 1981). Nach Einführung der immunsuppressiven Substanz Cyclosporin A 1981, verbesserter Operationsmethoden und Nachsorgestrategien erhöhten sich die 1-, 5- und 10-Jahres-Überlebensraten von 64 % im Jahr 1991 auf 73 % im Jahr 2006 (Taylor 2008;27). Mit bis heute weltweit nahezu 80.000 Operationen ist die HTX eine anerkannte Methode zur Therapie der terminalen Herzinsuffizienz. Die häufigsten Indikationen zur Herztransplantation sind koronare Herzerkrankung (45 %), Kardiomyopathie (45 %), Herzklappenfehler (4 %) und Re-Transplantationen (2 %). 50 % der Empfänger sind zum Zeitpunkt der Transplantation zwischen 50 und 64 Jahre alt, 27 % zwischen 35 und 49 Jahre (Hosenpud et al. 2001; Taylor et al. 2003).
In Deutschland ist die medizinische Langzeitnachsorge in interdisziplinären, chirurgischen bzw. kardiologischen Zentren organisiert. Während im ersten Jahr nach HTX Infektionen und akute Abstoßungsreaktionen Hauptprobleme sind, stehen im Langzeitverlauf die Transplantatvaskulopathie in ca. 50 % der Fälle, Hypertonie in 98 %, Übergewicht in 70 %, Hypercholesterinämie in 91 %, Malignome in 26 %, Nierenfunktionsstörung in 35 %, Osteoporose in mehr als 50 %, die erheblich reduzierte körperliche Leistungsfähigkeit und die subjektiv zunehmend eingeschränkte Lebensqualität im Fokus (Pethig et al. 2000). Zur (Früh-)Diagnostik der Transplantatvaskulopathie werden in definierten Abständen (zumeist alle 1 bis 3 Jahre) Herzkatheteruntersuchungen durchgeführt. Das Belastungs-EKG und die Stress-Echokardiographie haben nach HTX eine nachrangige Bedeutung. Herztransplantierte Patienten erreichen durchschnittlich eine maximale Leistungsfähigkeit von 105 Watt auf dem Fahrradergometer, entsprechend im Mittel 57 % des alters-, gewichts- und geschlechtsadaptierten Normwertes. Ferretti et al. fassten Leistungsdaten von 1.200 Herztransplantierten zusammen und berechneten eine durchschnittliche maximale Sauerstoffaufnahme von 19 ml×min–1×kg–1 (entsprechend 60 % des Sollwertes von 31 ml×min–1 ×kg–1; Ferretti et al. 2002). Die für Alltagsbelastungen so wichtige Ausdauerleistungsfähigkeit (»anaerobe Schwelle« oder die Intensität, bei der Laktat bei konstanter Ausdauerbelastung gerade noch nicht stetig ansteigt) beträgt bei Herztransplantierten im Mittel ca. 50 Watt (42 % des Normwertes Gesunder). Der mittlere Energieumsatz an dieser Ausdauerleistungsgrenze, den Patienten nach HTX 30 Minuten in den Dauertests gerade noch aufrechterhalten konnten, wird bei einer Sauerstoffaufnahme von 1.100 ml×min–1 erreicht. Reinigungsarbeiten im Haushalt oder das Tragen von Einkaufstaschen erfordern eine Sauerstoffaufnahme von etwa 800 bis 1.400 ml×min–1, Gartenarbeiten ca. 1.100 bis–2.750 ml×min–1 (McArdle et al. 2005). Etwa 40 % der Patienten nach HTX tolerieren bei 30 Minuten an der Ausdauerleistungsgrenze höchstens eine Sauerstoffaufnahme von 900 ml×min–1. Hieraus wird deutlich, dass zahlreiche Freizeit- und Alltagsbelastungen für viele Herztransplantierte trotz eines gut funktionieren-
11
145 11.2 · Trainingsstudien bei herztransplantierten Patienten
11.2
Trainingsstudien bei herztransplantierten Patienten
Obwohl die HTX unmittelbar zu einer Verbesserung der Leistungsfähigkeit von 11–13 ml×min–1 ×kg–1 auf Höchstwerte von 20–23 ml×min–1×kg–1 zwischen dem 1. und 3. Jahr nach Transplantation führt, bleibt eine weitere Normalisierung aus (. Abb. 11.1). Längsschnittstudien zeigten, dass die HTX zu einer klinisch bedeutenden Verbesserung, aber nicht zur Normalisierung der körperlichen Leistungsfähigkeit führt. Im Vergleich von Stufentests vor und 1 Jahr nach Herztransplantation stieg die maximale Sauerstoffaufnahme in Untersuchungen von Bussières et al. (von 9,8±1,4 ml×min–1×kg–1 auf 19,5±8,1 ml×min–1×kg–1), Mandak et al. (von 11,8±2,4 ml×min–1×kg–1 auf 16,9±3,7 ml×min–1 ×kg–1) und Marzo et al. (von 11,8±1,9 ml×min–1 ×kg–1 auf 19,2±3,1 ml×min–1×kg–1) jeweils signifikant an (Marzo et al. 1992; Mandak et al. 1995; Bussières et al. 1997). Die erste randomisierte Arbeit mit einem postoperativen Rehabilitations- und Trainingsprogramm bei 27 herztransplantierten Patienten wurde 1999 publiziert und demonstrierte, dass körperliches Training die maximale Sauerstoffaufnahme in den ersten 6 Monaten nach Transplantation signifikant verbessert (Kobashigawa et al. 1999). Trotzdem bleibt die Leistungsfähigkeit auch ein Jahr nach der überwiegend transplantationsbedingten Verbesserung auf 50–60 % der Sollwerte altersgleicher Gesunder reduziert. Im Langzeitverlauf nach HTX fällt die maximale Sauerstoffaufnahme um etwa 5 % pro Jahr ab (Douard et al. 1997). Bei ca. 10–20 % der Patienten nach HTX besteht eine nahezu uneingeschränkte Belastbarkeit. So zeigte sich bei 36 selektierten herztransplantierten Patienten, dass ein 16-monatiges Lauftrainingsprogramm im ersten Jahr nach Transplantation zu einer
HTX VO2 (ml/min/kg)
den Herzens nur mit größerer, »überschwelliger« Anstrengung möglich sind. Daher soll eine deutliche Verbesserung der Ausdauerleistung Hauptziel von Trainingsprogrammen nach HTX sein, damit übliche Alltagsbelastungen oder berufliche Tätigkeiten wieder körperlich toleriert werden können.
LTX
Kontrolle
30
20
10
0
–6
TX
12 18 6 Monate vor/nach TX
33
. Abb. 11.1 Verlauf der maximalen Sauerstoffaufnahme bei Patienten mit Herztransplantation, Lungentransplantation und altersgleichen Gesunden (Werte: Reinsma et al. 2006; Schwaiblmair et al. 1999, Tegtbur et al. 2006). HTX Herztransplantation, LTX Lungentransplantation, TX Transplantation, VO2 Sauerstoffaufnahme
Steigerung der maximalen Sauerstoffaufnahme von 21,7 auf 25,8 ml×min–1×kg–1 bei höherer maximaler Herzfrequenz (von 135 auf 148 Schläge×min–1) führte (Kavanagh et al. 1988). Die vielfältigen Wirkungen von Ausdauertraining auf die Leistung und die kardiovaskulären Risikofaktoren wurden in einer randomisierten Trainingsstudie, initiiert 5 Jahre nach HTX, gemessen (Tegtbur et al. 2003a). Das 12 Monate währende Ausdauertrainingsprogramm wurde zu Hause durchgeführt (3-mal 28 Minuten Ergometertraining pro Woche). Bei hoher Compliance von 85 % durchgeführter Heimergometertrainingseinheiten zeigte das via Smartcard durch den Arzt vorgegebene Training eine hohe Sicherheit ohne Komplikationen. Die mittlere maximale Sauerstoffaufnahme stieg in der Trainingsgruppe von 17 auf 20 ml×min–1×kg–1 bei gleichbleibender maximaler Herzfrequenz und gleichbleibendem subjektiven Belastungsempfinden an. Die Ausdauerleistungsfähigkeit stieg um 43 % bei gleichbleibender Herzfrequenz an, parallel dazu beschrieben die Patienten im SF-36-Fragebogen auch eine verbesserte Lebensqualität in der physischen Dimension. Das Training führte zu einer deutlichen Verbesserung der kardiovaskulären Risikofaktoren: Das HDL-Cholesterin stieg um 7 %, der Körperfettanteil reduzierte sich um 6 %, die Ruhe-Herzfrequenz
146
Kapitel 11 · Leistungsfähigkeit und Training bei Patienten nach Herz- oder Lungentransplantation
1
war um 5 % vermindert und der diastolische Blutdruck reduzierte sich um 7 %.
2
k Ursachen der reduzierten Leistungsfähigkeit
3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Wesentliche Ursache der reduzierten körperlichen Belastbarkeit Herztransplantierter ist die Dekonditionierung der peripheren Muskulatur als Folge der oft jahrelangen Inaktivität bei fortgeschrittener Herzinsuffizienz. Ein Jahr nach Herztransplantation weist die Muskulatur eine nur unvollständige Rekonditionierung auf. Die Muskelfaserverteilung ist wie vor Transplantation vom ausdauernden Muskelfasertyp I hin zu den schneller ermüdenden Muskelfasertypen IIa und IIb verschoben und die oxidative Kapazität bleibt eingeschränkt (Stratton et al. 1994; Lampert et al. 1996). Nach HTX kam es zwar zu einer Zunahme des Muskelquerschnitts, der Anteil an schneller ermüdenden TypIIa- und -IIx-Muskelfasern war 3 Monate vor und auch 12 Monate nach HTX in Relation zum Anteil der Typ-I-Muskelfasern gleichbleibend erhöht (Bussières et al. 1997). Folge des Faser-II-Shifts ist ein Anstieg des Blutlaktats schon bei geringer körperlicher Belastung (. Abb. 11.2; mod. nach Tegtbur et al. 2003b). Nach einer Erhöhung oxidativer Enzyme in den ersten 3 postoperativen Monaten blieb eine weitere Normalisierung aus. Die initialen Verbesserungen in den ersten Monaten nach HTX erklären sich durch den Wechsel von präoperativ körperlicher Schonung in überwiegend ruhendem Zustand zu postoperativer Mobilisierung für den Alltag. Das Ausmaß der körperlichen Leistungseinschränkung nach HTX geht mit dem Grad der peripheren endothelialen Dysfunktion einher (Andreassen et al. 1998). Als kardiale Ursachen der verminderten Leistungsfähigkeit werden eine eingeschränkte diastolische Dysfunktion und die reduzierte maximale Herzfrequenz sowie Herzfrequenzreserve beschrieben (Kao et al. 1994; Notarius et al. 1998; Marconi 2000). Das Herz verliert zwar durch die transplantationsbedingte kardiale Denervierung meistens dauerhaft seine zentrale parasympathische und sympathische Steuerung, kann aber durch Kompensationsmechanismen wie höheres Blutvolumen oder größere Auswurffraktion das Herzminutenvolumen ähnlich wie bei Herzgesunden belastungsadäquat anpassen (Braith et al.
1998). In einigen Fällen kommt es zu einer (para-) sympathischen Reinnervation, auch ausgedrückt durch eine größere Herzfrequenzreserve. Calcineurin-Inhibitoren wie Cyclosporin A sowie Corticosteroide sind täglich einzunehmende Basismedikamente zur Immunsuppression und bewirken eine Reduzierung der oxidativen Funktion von Skelettmuskelfasern (Meissner et al. 2001; Mitsui et al. 2002). Bei der dauerhaften Immunsuppression mit Corticosteroiden korrelierte die Reduktion der oxidativen Funktion der Skelettmuskulatur mit dem Anstieg der Blutlaktatkonzentration bei körperlicher Belastung (Mitsui et al. 2002). Die Knochendichte ist bei Herztransplantierten wegen Inaktivität sowie steroidinduziert reduziert (Braith et al. 1998). Mitchell et al. konnten zeigen, dass Kräftigungsübungen 1-mal pro Woche zur Normalisierung der Knochendichte nach Transplantation führen (Mitchell et al. 2003).
11.3
Empfehlungen zum körperlichen Training nach Herztransplantation – Gefährdungen und Besonderheiten
Da der Herztransplantierte wegen der kardialen Denervierung meistens keine Angina pectoris empfinden kann, sollten Trainingsempfehlungen immer auch die Möglichkeit einer unbemerkten kardialen Minderperfusion, z. B. bei fortgeschrittener Transplantatvaskulopathie, berücksichtigen. Der Patient sollte Steuergrößen körperlicher Belastung wie Herzfrequenz, Borg-Skala und Intensität kennenlernen und darüber sein Training selbstständig kontrollieren können. Das Herzfrequenzverhalten nach HTX sollte besondere Berücksichtigung finden (. Abb. 11.2). Die fehlende kardiale sympathische und parasympathische Steuerung führt zu einem verzögerten Herzfrequenzanstieg bei Belastungsbeginn und auch zu einem verzögerten Herzfrequenzabfall nach Belastung. Herztransplantierte erreichen am Ende des Dauertests an der Ausdauerleistungsgrenze 93±7 % ihrer maximalen Herzfrequenz des Stufentests bzw. 75±6 % der Herzfrequenzreserve. Bei 20 % der herztransplantierten Patienten wur-
11
147 11.3 · Empfehlungen zum körperlichen Training nach Herztransplantation
170 HTX KG
150
Herzfrequenz (S·min–1)
Herzfrequenz (S·min–1)
170
130 110 90 70
130 110 90 70 50
R
20
60 100 140 Leistung (Watt)
180
8
R
0
5
10 15 Zeit (min)
R
0
5
10 15 Zeit (min)
20
25
30
25
30
10
6
Laktat (mmol·l–1)
Laktat (mmol·l–1)
150
4 2
8 6 4 2
0 R
20
60 100 140 Leistung (Watt)
180
0
20
. Abb. 11.2 Verlauf der Herzfrequenz und der Blutlaktatkonzentration im Stufentest (linke Seite) und im Dauertest über 30 Minuten an der Ausdauerleistungsgrenze (rechte Seite) bei Patienten mit Herztransplantation und altersgleichen Gesunden. HTX Herztransplantation, KG Kontrollgruppe (altersgleiche Gesunde), R Ruhezustand, S Schläge
de sogar die maximale Stufentestherzfrequenz im Dauertest übertroffen. Daher ist die Herzfrequenzsteuerung anhand bekannter Formeln nicht anzuwenden. Außerdem ist zu beachten, dass es bei höheren Belastungen mit Anhäufung periphermuskulärer Stoffwechselprodukte zu einer erheblichen peripheren Vasodilatation kommt. Ohne die nach HTX fehlende oder eingeschränkte sympathische Gegenregulation kann die Vasodilatation bei Herztransplantierten zu hypotensiven Blutdruckwerten führen. Eine aktive Cool-Down-Phase von 10 bis 15 Minuten auch nach Kraftübungen ist unbedingt einzuhalten. Im Belastungs-EKG ist außerdem zu beachten, dass die maximale Herzfrequenz nach Abbruch wegen des fehlenden parasympathischen Einflusses erst in der 3. bis 8. Nachbelastungsminute erreicht wird; daher ist eine bis auf 15 Minuten verlängerte Nachbeobachtungspha-
se mit geringer Last bei EKG- sowie Blutdruckmonitoring zu empfehlen. Abgeleitet von Übersichtsarbeiten und den o. g. Publikationen können detaillierte Empfehlungen zum Umfang und zur Intensitätssteuerung des körperlichen Trainings bei herztransplantierten Patienten gegeben werden (Niset et al. 1991; Badenhop 1995; Tegtbur et al. 2003a; Tegtbur et al. 2003b).
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Kapitel 11 · Leistungsfähigkeit und Training bei Patienten nach Herz- oder Lungentransplantation
11.4 Empfehlungen zu Umfang und Intensitätssteuerung des körperlichen Trainings bei herztransplantierten Patienten Grundsätzlich sollten Herztransplantierte 3bis 5-mal pro Woche über 30 bis 45 Minuten Ausdauertraining und 1-mal pro Woche niedrig dosierte lokale Kräftigungsübungen durchführen. 5 Das subjektive Belastungsempfinden sollte nach der Borg-Skala zwischen »leicht« und »etwas anstrengend bis schwer« (11 bis 14 Einheiten) liegen. 5 Während der Ausdauerbelastung sollte eine Unterhaltung möglich sein. 5 Die Trainingsherzfrequenz sollte bei 60–80 % der Herzfrequenzreserve liegen (Trainingsherzfrequenz = (maximale Herzfrequenz minus Ruheherzfrequenz) × 60–80 % + Ruheherzfrequenz). 5 Die Trainingsintensitäten sollten auf oder bis zu 10 % unterhalb der Ausdauerleistungsgrenze liegen (Intensität des maximalen Laktat-Steady-States), oder abgeleitet vom Belastungs-EKG: 5 Erreichte Maximalleistung <50 % der Sollleistung: Ausdauertraining bei 30–40 % der Maximalleistung, initial 10 bis 15 Minuten, nach 4- bis 8-wöchiger Anpassung Verlängerung auf 20 Minuten, nach weiteren 4 bis 8 Wochen auf 30 Minuten. 5 Erreichte Maximalleistung von 50–80 % der Sollleistung: Ausdauertraining bei 40–55 % der Maximalleistung über 15 bis 20 Minuten, nach 4- bis 8-wöchiger Anpassung Verlängerung auf 30 Minuten. 5 Erreichte Maximalleistung >80 % der Sollleistung: Ausdauertraining bei 45–60 % der Maximalleistung, initial mindestens 20 Minuten, nach 4- bis 8-wöchiger Anpassung Verlängerung auf 30 Minuten.
Körperliche Leistungsfähigkeit nach Lungentransplantation
Weltweit wurden bisher über 18.000 Lungentransplantation (LTX) durchgeführt. In Deutschland sind es ca. 250 jährlich. Die häufigsten Indikationen zur LTX sind Mukoviszidose, chronisch obstruktive Lungenerkrankung bzw. Lungenfibrose. Die Patienten sind mit durchschnittlich 45 Jahren etwa 5 Jahre jünger als Patienten nach HTX. Patienten nach LTX erhalten überwiegend eine Dreifach-Immunsuppression. In großen Zentren betragen die Überlebensraten etwa 60 % nach 5 Jahren und 40 % nach 10 Jahren (Gottlieb 2007; Dierich et al. 2009). Hauptprobleme nach LTX sind Abstoßungsreaktionen und Infektionen. Die chronische Organdysfunktion wird als Bronchiolitis-obliterans-Syndrom (BOS) bezeichnet und betrifft nach 5 Jahren jeden zweiten Organempfänger. BOS ist gekennzeichnet durch eine fortschreitende obstruktive Ventilationsstörung, die häufig zu respiratorischer Insuffizienz (z. B. Sauerstoffbedarf) führt. Häufige Begleiterkrankungen im Langzeitverlauf sind Hypertonie, Diabetes, Nierenfunktionsstörungen sowie Malignome. In Deutschland stellen sich Patienten nach LTX regelmäßig in Transplantationszentren zu Folgeuntersuchungen vor. Hierdurch wurde ein hoher medizinischer Standard erreicht. Die immunsuppressive und Begleittherapie ist komplex und ist auch mit unerwünschten Arzneimittelwirkungen behaftet. Obwohl die Lebensqualität häufig als gut angegeben wird, ist die körperliche Leistungsfähigkeit altersbezogen reduziert, führt aber nur sehr selten zu erheblichen Alltagslimitierungen. Patienten haben im ersten Jahr nach LTX durchschnittlich eine maximale Leistungsfähigkeit von 70 Watt auf dem Fahrradergometer, entsprechend im Mittel 40 % des alters-, gewichts- und geschlechtsadaptierten Normwertes. Die alltagsrelevante Ausdauerleistungsfähigkeit beträgt im Mittel ca. 25 bis 30 Watt, d. h. Belastungen im Haushalt wie Staubsaugen oder Einkaufen können schon oberhalb der Ausdauergrenze liegen. Daher müssen Alltagsaktivitäten z. T. schon anaerob absolviert werden, mit der Folge rasch eintretender Ermüdung.
149 11.5 · Trainingsstudien bei lungentransplantierten Patienten
11.5
Trainingsstudien bei lungentransplantierten Patienten
11
dichte in TG, während die LWK-Knochendichte in KG weiter abnahm. k Ursachen der reduzierten Leistungsfähigkeit
Die Lungentransplantation erhöht massiv die körperliche Leistungsfähigkeit des Patienten. Die maximale Sauerstoffaufnahme verbessert sich von im Mittel 9 ml×min–1×kg–1 vor LTX auf Höchstwerte von 14 ml×min–1×kg–1 im ersten Jahr nach LTX (. Abb. 11.1). Im Langzeitverlauf jedoch bleibt die Leistungsfähigkeit mit 40–50 % der Maximalleistung erheblich reduziert. In der ersten Trainingsstudie bei 9 Patienten mit einer normalen Lungenfunktion und guter Leistungsfähigkeit 1 Jahr nach LTX (Stiebellehner et al. 1998) führte überwachtes 6-wöchiges Ausdauertraining 3- bis 4-mal pro Woche über 20 bis 30 Minuten zu einer Verbesserung der maximalen Sauerstoffaufnahme von 18,4 auf 20,3 ml×min–1 ×kg–1. Submaximale Laktatkonzentrationen waren als Hinweis für einen verbesserten aeroben Stoffwechsel reduziert. Auch Langzeittrainingsprogramme zu Hause werden von den Patienten gut angenommen. Mit einer Compliance von 79 % der geplanten Ausdauereinheiten (jeden 2. Tag 20 bis 30 Minuten auf dem Heimergometer) während der 12 Monate langen Trainingsphase erreichten Patienten in den ersten beiden Jahren nach LTX eine Verbesserung der mittleren Maximalleistung von 41 auf 55 % des Sollwertes (68 auf 81 Watt). Bei gleicher Herzfrequenz stieg die Ausdauerleistung in dem Zeitraum von 23 Watt auf 38 Watt an (Tegtbur et al. 2006). Krafttraining hat einen erheblichen therapeutischen Effekt auf die Verbesserung der Knochendichte. Je 8 Patienten wurden 2 Monate nach LTX in eine Trainings- und eine Kontrollgruppe (TG; KG) randomisiert verteilt (Mitchell et al. 2003). 6 Monate Krafttraining der Rückenstreckmuskeln 1-mal pro Woche mit 20 Wiederholungen bis zur muskulären Ermüdung führte zu einer Maximalkraftsteigerung in TG um 40 % (nichttrainierende KG +18 %). Im Vergleich zu Prä-LTX-Werten reduzierte sich die Knochendichte der Lendenwirbelkörper (LWK) um 15 % 2 Monate nach LTX in KG und TG. Das 6-monatige Krafttraining führte zu einer annähernden Normalisierung der Knochen-
Die reduzierte Funktion der aeroben Typ-I-Muskulatur ist Hauptursache der erheblich verminderten Dauer- und Maximalleistung bei Patienten nach LTX. Bei Patienten mit Mukoviszidose kommt es oft gar nicht zur normalen muskulären Entwicklung. Die chronisch obstruktive Lungenerkrankung mit begleitender Inaktivität führt zu jahre- bzw. jahrzehntelanger Dekonditionierung der peripheren Muskulatur. Nach LTX reduzieren außerdem die immunsuppressiven Calcineurin-Inhibitoren sowie Corticosteroide die oxidative Funktion von Skelettmuskelfasern (Meissner et al. 2001; Mitsui et al. 2002). In muskelbioptischen Untersuchungen bei Patienten vor und nach LTX wurde eine massive Reduktion der Muskelfasertyp-I-Anteile zugunsten der Typ-II-Anteile vor und ohne weitere Änderung 3 Monate nach LTX festgestellt (Wang XN et al. 1999). . Abb. 11.3 zeigt die Bedeutung des durch den Muskelfasershift Typ I → Typ II bedingten raschen Beginns des anaeroben Stoffwechsels mit der Folge des frühzeitigen Laktatanstieges und der Ermüdung (Guerrero et al. 2005). 12 gut belastbare Patienten 3 Jahre nach LTX (forciertes exspiratorisches Volumen (FEV1) 2,5 l) und 12 gesunde Personen einer Kontrollgruppe (KG; FEV1 4,5 l) führten über 12 Wochen ein Intervall-Ausdauertraining 3-mal 30 Minuten pro Woche durch. Die mittlere maximale Leistung stieg bei den LTX-Patienten von 85 auf 98 Watt (KG von 224 auf 255 Watt). Muskelbiopsien zeigten, dass Patienten nach LTX weniger Muskelfasern Typ I als die KG hatten, sie hatten aber nach der Trainingsphase einen verbesserten oxidativen Stoffwechsel. Da die Leistungsfähigkeit oft erheblich reduziert ist, kann eine übliche Trainingszeit von 20 bis 30 Minuten schon zu einer Überforderung des Patienten führen. Daher sollten die Trainingszeiten bei Ausdauerbelastungen initial nur zwischen 10 und 20 Minuten liegen. Patienten erhalten im Anschluss an die stationäre Rehabilitation oft wöchentlich ambulante physiotherapeutische Behandlungen. Bei diesen Gelegenheiten sollten die für den Wiederaufbau der Muskelmasse und zur Prävention
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Kapitel 11 · Leistungsfähigkeit und Training bei Patienten nach Herz- oder Lungentransplantation
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Laktat (mmol·l–1)
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R
60 100 140 Leistung (Watt)
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IIx
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IIa IIa I
I 0 R
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IIx Muskelaktivität
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KG LTX
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5
nisse des Trainings sind für den Patienten unerlässlich, da er mittelfristig sein Training selbstständig durchführen können sollte. Abgeleitet unter anderem von den Trainingsstudien nach LTX können folgende Empfehlungen zum körperlichen Training für lungentransplantierten Patienten gegeben werden:
20
60 100 140 Leistung (Watt)
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. Abb. 11.3 Verlauf der Herzfrequenz und der Blutlaktat-
12
konzentration im Stufentest bei Patienten nach Lungentransplantation und altersgleichen Gesunden. Das untere Bild zeigt im Modell die frühe Rekrutierung der Faser-II-Muskeln. KG Kontrollgruppe (altersgleiche Gesunde), LTX Lungentransplantation
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der Osteoporose so wichtigen Kraftübungen eintrainiert werden. Vor allem exzentrische Kraftübungen, die einen leichten Muskelkater hervorrufen, führen nach der muskelstrukturellen Anpassung nach etwa 7 bis 10 Tagen zu einer Zunahme der Sarkomerzahl. Für die Anpassungen des Knochenstoffwechsels wie auch der Muskulatur reicht es daher aus, Kräftigungsübungen wegen der Dauer der Anpassung pro Muskelgruppe 1-mal wöchentlich durchzuführen. Wegen der häufigen und oft gefährlichen Infektion sollte der Patient so geschult werden, dass er bereits bei den ersten Anzeichen eines Infektes sofort eine Trainingspause einlegt und sich ärztlich untersuchen lässt. Auch sollte er Zeichen wie höhere Herzfrequenz im Training und schnellere Atmung als möglichen Hinweis auf einen nahenden Infekt interpretieren lernen. Basiskennt-
Empfehlungen zu Umfang und Intensitätssteuerung des körperlichen Trainings bei lungentransplantierten Patienten Ziel sind 2 bis 5 Ausdauertrainingseinheiten pro Woche über 20 bis 45 Minuten sowie 1-mal pro Woche lokale Kräftigungsübungen. 5 Das subjektive Belastungsempfinden sollte nach der Borg-Skala zwischen »leicht« und »etwas anstrengend« (9 bis 12 Einheiten) liegen. 5 Während der Ausdauerbelastung sollte eine Unterhaltung möglich sein. 5 Die Trainingsherzfrequenz sollte bei 60–80 % der Herzfrequenzreserve liegen (Trainingsherzfrequenz = (maximale Herzfrequenz minus Ruheherzfrequenz) × 60–80 % + Ruheherzfrequenz). 5 Die Trainingsintensitäten sollten auf oder bis zu 10 % unterhalb der Ausdauerleistungsgrenze liegen (Intensität des maximalen Laktat-Steady-States), oder abgeleitet vom Belastungs-EKG: 5 Erreichte Maximalleistung <50 % der Sollleistung: Ausdauertraining bei 30–40 % der Maximalleistung initial 10 bis 15 Minuten, nach 8-wöchiger Anpassung stetige Verlängerung auf 20 Minuten, nach weiteren 8 Wochen auf bis zu 30 Minuten. 5 Erreichte Maximalleistung von >50 der Sollleistung: Ausdauertraining bei 30–50 % der Maximalleistung über 15 bis 20 Minuten, nach 8- bis 12-wöchiger Anpassung Verlängerung auf 30 Minuten.
151 11.6 · Zusammenfassung
11.6
Zusammenfassung
Patienten nach Herz- und Lungentransplantation haben auch im Langzeitverlauf im Mittel eine auf 55–70 % bzw. 40–50 % des Normwertes eingeschränkte maximale Leistungsfähigkeit. Ausdauertraining hat sich sowohl bei Patienten nach Herzwie auch nach Lungentransplantation als effektiv und sicher erwiesen. Da wegen der langen Krankheits- und Immobilisationsphasen vor allem die alltags- und ausdauerrelevante Faser-I-Muskulatur in ihrer Funktion eingeschränkt ist, sollten Ausdauertrainingsbelastungen 2- bis 4-mal wöchentlich zunächst auf 30–50 % der maximalen Leistung über 15–30 min limitiert sein. Nach einer mehrmonatigen Trainingsanpassung können Intensitäten sowie Umfänge dann entsprechend dem Trainingsfortschritt angepasst werden. Kräftigungstraining nach Transplantation einmal pro Woche hat zu einer Normalisierung der Knochendichte geführt. Daher sollten Kräftigungsübungen in Ergänzung zum Ausdauertraining absolviert werden. Bei Patienten nach Herztransplantation müssen die Auswirkungen der kardialen Denervation in der Trainingsplanung und -ausführung berücksichtigt werden.
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Kapitel 11 · Leistungsfähigkeit und Training bei Patienten nach Herz- oder Lungentransplantation
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153
Bewegungstherapie bei obstruktiven Atemwegserkrankungen Andreas Meyer, Hans Jörg Baumann
12.1
Lungensport bei asthmakranken Erwachsenen – 154
12.1.1 12.1.2 12.1.3 12.1.4 12.1.5 12.1.6 12.1.7
Einleitung – 154 Belastungsasthma – 154 Asthma und Fitness – 155 Auswirkung von körperlichem Training auf erwachsene Asthmatiker – 156 Trainingsintensität und Steuerung – 157 Fazit für die Praxis – 158 Zusammenfassung – 158
12.2
Körperliches Training bei COPD – 158
12.2.1 12.2.2 12.2.3 12.2.4 12.2.5 12.2.6 12.2.7
Einleitung – 159 Veränderungen der peripheren Muskulatur bei COPD – 159 Veränderungen der Atemmuskulatur – 160 Körperliches Training bei COPD – 160 Programme für körperliches Training bei COPD – 161 Fazit für die Praxis – 162 Zusammenfassung – 162
12
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154
Kapitel 12 · Bewegungstherapie bei obstruktiven Atemwegserkrankungen
12.1
Lungensport bei asthmakranken Erwachsenen
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Unter Asthma bronchiale leiden in Deutschland rund 10 % der Kinder und 4–5 % der Erwachsenen –damit ist Asthma eine der am weitesten verbreiteten chronischen Erkrankungen, im Kindesalter die häufigste chronische Erkrankung überhaupt. Die Krankheitskosten sind immens. Patienten mit Asthma meiden häufig sportliche Betätigung, da sie oftmals die Erfahrung von Atemnot nach körperlicher Belastung gemacht haben. Die Auswirkungen von körperlichem Training auf erwachsene Asthmatiker sind bislang nur ungenügend untersucht. In diesem Beitrag lesen Sie über: 4 die Prävalenz des Asthma bronchiale, 4 die Besonderheiten beim Belastungsasthma, 4 die Ergebnisse verschiedener Studien zu Asthma und Fitness, 4 die Auswirkungen körperlichen Trainings auf erwachsene Asthmatiker, 4 die richtige Festlegung und Steuerung der Trainingsintensität.
Einleitung
12
12.1.1
13
Das Asthma bronchiale ist eine chronisch entzündliche Erkrankung der Atemwege, die durch eine bronchiale Hyperreagibilität und eine variable Atemwegsobstruktion definiert ist. Etwa 10 % der Kinder und 4–5 % der erwachsenen Bevölkerung in der Bundesrepublik Deutschland sind von dieser Erkrankung betroffen. Damit gehört das Asthma zu den häufigsten chronischen Erkrankungen, im Kindesalter ist es die häufigste chronische Erkrankung überhaupt. Die Prävalenz hat in den westlichen Ländern nach neueren Untersuchungen ein Plateau erreicht [1]. Dank der inzwischen weitgehend etablierten Therapie mit inhalativen Glukokortikoiden hat die Mortalität in den letzten 10 Jahren um etwa ein Drittel abgenommen [2]. Die volkswirtschaftliche Bedeutung des Asthmas ist unverändert groß. Eine konservative Krankheitskostenanalyse hat einen Gesamtbetrag von 2,74 Milliarden EUR pro Jahr ermittelt [3]. Für einen mittelschwer erkrankten Patienten mit allergischem Asthma entstehen
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Krankheitskosten von 2.200–2.700 EUR [4]. Dieser Betrag steigt beim schweren Asthma auf etwa das Dreifache. Einen wesentlichen Anteil haben die indirekten Krankheitskosten, die durch Arbeitsunfähigkeit, frühe Berentung und Invalidität verursacht werden. Es wird ein allergisches Asthma von einem nichtallergischen oder intrinsischen Asthma unterschieden. Letztere Form wird durch Infekte getriggert.
12.1.2
Belastungsasthma
Unabhängig von den unterschiedlichen Formen weist das Asthma eine Besonderheit auf. Körperliche Belastung ist in der Lage, die Bronchien zu verengen und dadurch Atemnot auszulösen. Dieser Zusammenhang ist seit langer Zeit bekannt und wurde bereits 1698 von dem an Asthma erkrankten Arzt Sir John Floyer beschrieben [5]. Zwei pathophysiologische Mechanismen werden diskutiert. Einerseits führt die Ventilation von größeren Luftmengen zu einem Wärmeverlust der Atemwege. Dieser Wärmeverlust ist umso größer, je kälter die Außenluft ist und führt reflektorisch zu einer Obstruktion der Atemwege [6], [7]. Andererseits kommt es durch die gesteigerte Ventilation bei körperlicher Belastung zu einem Verlust von Wasser aus dem respiratorischen Epithel. Auch dieser Effekt wird durch niedrige Temperaturen der Außenluft verstärkt. Ein Anstieg der Osmolarität in der epithelial lining fluid triggert den Ausstoß von Mediatoren, die eine Bronchokonstriktion auslösen [8], [9]. Die belastungsinduzierte Bronchokonstriktion lässt sich bei nahezu allen asthmakranken Kindern und mindestens der Hälfte der erwachsenen Asthmatiker nachweisen [10]. Eine stadiengerechte Therapie vermindert den Einfluss des Triggers »Belastung« erheblich. Wichtigster Baustein ist das inhalierbare Kortikosteroid. Die Inhalation von β2-Sympathomimetika kann das EIA (exercise-induced asthma) nahezu vollständig blocken, weniger wirksam sind Mastzellstabilisatoren und Anticholinergika [10], [11]. Eine nachgewiesene Wirkung auf das Belastungsasthma haben auch Leukotrienantagonisten. Eine adäquate Erwärmung vor körperlicher Belastung ermöglicht
155 12.1 · Lungensport bei asthmakranken Erwachsenen
den meisten Asthmatikern eine problemlose Teilnahme am Sport [12]. Dies ist besonders im Hinblick auf den Schulsport wichtig, wo eine ausreichende Erwärmung aus Zeitgründen häufig nicht erfolgt. Neben dem EIA kann zusätzlich und unabhängig von ihm der Mechanismus der dynamischen Überblähung zu einer Belastungsluftnot beim Asthmatiker beitragen. Dieses Phänomen ist in erster Linie von COPD-Patienten bekannt. Es existieren jedoch Hinweise, dass auch bei stabilen Asthmatikern mit normaler Lungenfunktion in Ruhe eine exspiratorische Flusslimitation während der Belastung zur dynamischen Überblähung führen kann [13]. Auch sie kann durch eine vor der Belastung verabreichte bronchodilatatorische Medikation sowie die Lippenbremse günstig beeinflusst werden.
12.1.3
Asthma und Fitness
Die Erfahrung von Atemnot, ausgelöst durch körperliche Belastung, führt zu einer Verhaltensänderung bei Patienten mit Asthma. Die negative Erfahrung von Atemnot nach körperlicher Belastung erzeugt bei den Patienten Angst. Tätigkeiten, die mit einer höheren körperlichen Belastung verbunden sind, werden gemieden. Das Gleiche gilt für die Teilnahme am Breitensport. Dieser Trend beginnt bereits im Kindesalter. Asthmatische Kinder nehmen immer noch in ca. 30 % nicht oder nur teilweise am Schulsport teil [14], [15]. Daraus resultiert eine deutlich geringere körperliche Fitness. Untersuchungen dazu sind allerdings rar und nur an kleinen Kollektiven durchgeführt. Eine 1990 publizierte Untersuchung schloss 44 junge Asthmatiker (Alter im Mittel ca. 27 Jahre) mit einem leicht- bis mittelschweren Asthma ein. Die Maximalleistung wurde mit einer Spiroergometrie und einem Rampenprotokoll ermittelt. Wesentliches Ergebnis der Untersuchung war neben einer reduzierten kardiorespiratorischen Leistungsfähigkeit eine schlechte Korrelation der Maximalleistung mit dem FEV1 [16]. Eine weitere Arbeit beschrieb die Fitness von 27 jungen Asthmatikern (Alter im Mittel 31 Jahre) mit leichtbis mittelgradigem Asthma [17]. Im Gegensatz zur Untersuchung von Clark lag die mittlere maximale
12
Sauerstoffaufnahme (VO2max) nicht unterhalb des Sollwertes. Die VO2max war jedoch mit der sportlichen Betätigung in der Freizeit korreliert. Auch diese Arbeitsgruppe fand keine Beziehung der Fitness zur Höhe der Einschränkung des FEV1 prä- oder postbronchodilatatorisch [17]. In einer Studie verglichen Santuz et al. 80 Kinder mit der Diagnose eines leicht- bis mittelgradigen Asthmas im Alter von 7–15 Jahren mit 80 gesunden Kindern [18]. Bei einer Laufbandspiroergometrie erreichten sie vergleichbare Resultate hinsichtlich der VO2max, Unterschiede ergaben sich nur beim Atemmuster. Diese Arbeiten belegen, dass der Grad der Fitness nicht durch Kenngrößen des Asthmas limitiert ist, sondern aus einem Trainingsmangel resultiert. In einer größeren aktuellen Untersuchung an 258 Probanden (Alter im Mittel 42 Jahre) mit leichtbis mittelschwerem Asthma konnte bestätigt werden, dass das FEV1 oder die Dauer einer bereits lange bestehenden Erkrankung nicht mit dem Grad der Fitness korrelierten [19].
Gefährdung durch sportliche Aktivität? Gelegentlich wird die Sorge vor einer möglichen Gefährdung durch eine sportliche Betätigung bei Asthmatikern geäußert. Es ist richtig, dass Todesfälle bei Asthmatikern in Zusammenhang mit sportlicher Aktivität beschrieben sind. Eine Erhebung über einen Zeitraum von 7 Jahren in den gesamten USA ergab 61 sportassoziierte Todesfälle bei Asthmatikern [20]. In diesem Zusammenhang ist jedoch zu betonen, dass 95 % der Todesfälle bei Asthmatikern auftraten, die nicht korrekt behandelt waren, obwohl die Diagnose Asthma bekannt war. Dies macht deutlich, dass Asthmatiker – wenn überhaupt – nur dann durch sportliche Aktivität gefährdet sind, wenn sie trotz bestehender Indikation nicht korrekt therapiert werden.
1
156
Kapitel 12 · Bewegungstherapie bei obstruktiven Atemwegserkrankungen
12.1.4
Auswirkung von körperlichem Training auf erwachsene Asthmatiker
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Grundsätzlich gehören Sport und körperliches Training zu einer gesunden Lebensführung. In vielen Arbeiten konnte gezeigt werden, dass regelmäßiges Training das Risiko für die Entwicklung von Zivilisationskrankheiten wie Diabetes, koronare Herzerkrankung und arteriellen Hypertonus senken kann. Darüber hinaus ist belegt, dass eine gute körperliche Fitness positiv mit der Lebenserwartung korreliert. Weiterhin ist Sport heute ein wichtiger Teil der Freizeitgestaltung und führt zu sozialer Integration. Für Asthmatiker gilt grundsätzlich das Gleiche. Die Auswirkungen des körperlichen Trainings auf erwachsene Asthmatiker sind jedoch – im Gegensatz zur heute sehr umfangreichen Literatur bei COPD-Patienten – nur ungenügend untersucht. In einer Literaturrecherche von Ram im Auftrag der Cochrane Database wurden im Jahr 2005 49 Abstracts identifiziert, die sich mit körperlichem Training und Asthma beschäftigen [21]. Für eine Metaanalyse wurden dann randomisierte und kontrollierte Studien ausgewählt, die ein Training von mindestens 20–30 min Dauer mehr als 2-mal pro Woche durchgeführt hatten. Der Zeitraum der Intervention musste ferner mindestens 4 Wochen betragen; 19 Untersuchungen hielten diesen Qualitätsanforderungen stand. Nur 2 davon wurden bei jungen erwachsenen Asthmatikern durchgeführt [22], [23]. Dabei ist noch zu beachten, dass sich die Untersuchung von Girodo allein mit dem Training der Atemmuskulatur auseinandersetzte [23]. Die übrigen Studien beschäftigten sich mit dem Training von asthmakranken Kindern. In der Metaanalyse, die nicht zwischen Untersuchungen an Kindern oder Erwachsenen unterschied, konnte eine signifikante Zunahme der VO2max um 5,4 ml/ min/kg (p<0,00001) durch körperliches Training nachgewiesen werden. Diese Zunahme ging einher mit einer signifikanten Steigerung des Atemminutenvolumens (VEmax) um 6 l/min. Die Leistungsfähigkeit, die in 3 Studien überprüft wurde, stieg um 14,95 Watt ohne Signifikanz. Die maximale Herzfrequenz, die in 4 Studien während des Trainings mittels EKG aufgezeichnet wurde, stieg um
3,17 Schläge pro Minute (p=0,01). Dieser unerwartete Befund könnte dadurch erklärt werden, dass der Ausgangswert nicht unter maximaler Anstrengung erhoben wurde, da eine psychologische Barriere vorlag und die Asthmatiker im Verlauf des Trainings bei abnehmender Dyspnoe eine höhere Leistung erreicht haben. In allen in die Metaanalyse eingeschlossenen Studien konnte kein signifikanter Effekt auf das FEV1, die forcierte Vitalkapazität (FVC) oder den Peak-Flow nachgewiesen werden. Andere, ebenfalls interessante Parameter wie die Lebensqualität, der Gebrauch von rasch wirksamen β2-Mimetika oder die Ausdauerleistung wurden in keiner der eingeschlossenen Studien evaluiert. Einige der zuletzt genannten Parameter waren Gegenstand einer Untersuchung an 99 Probanden mit Asthma (mittleres Alter 46 Jahre) bzw. COPD (mittleres Alter 62 Jahre). Über einen Zeitraum von 3 Monaten wurden die Probanden von Physiotherapeuten geschult und trainiert. Das Programm beinhaltete neben einer Patientenschulung auch das Erlernen von Hustentechniken und Techniken zur Sekretmobilisation sowie Atemund Entspannungsübungen. Das Training wurde 2-mal wöchentlich auf dem Fahrradergometer, einer Rudermaschine oder durch Treppensteigen bei einer Belastungsstärke von 60–75 % der maximalen Leistungsfähigkeit (Wmax) durchgeführt [24]. Die Probanden wurden randomisiert entweder der Trainingsgruppe oder der Kontrollgruppe zugeordnet. Nach 3 Monaten wechselten die Kontrollpatienten in die Trainingsgruppe und umgekehrt. Ausgewertet werden konnten die Daten von 43 Asthmatikern und 23 Probanden mit COPD. Die Intervention führte zu einem signifikanten Anstieg der Ausdauerleistung bei gleichzeitig sinkender Pulsfrequenz während der Belastung sowie zu einem Anstieg der Gehstrecke im 6-min-Gehtest von mehr als 60 m. Ferner konnte im »Chronic Respiratory Disease Questionnaire« (CRDQ) eine signifikante Zunahme der Lebensqualität um etwa 17 Punkte in allen 4 Dimensionen (minimaler klinisch bedeutsamer Unterschied bei 2,5–3,5 Punkten) gezeigt werden. Diese sehr aufwendige und wissenschaftlich anspruchsvolle Untersuchung wurde nicht bei der Metaanalyse berücksichtigt, weil die Intervention neben dem Training auch Atemthera-
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pie und Patientenschulung enthielt, deren Effekte auf das Ergebnis nicht sicher beurteilt werden können. In einer weiteren Arbeit aus Brasilien an Kindern mit schwerem Asthma konnte durch ein Training die zur Behandlung notwendige Menge an inhalativen und systemischen Steroiden reduziert werden [25]. Diese Arbeit wurde in der Metaanalyse aufgrund ungenügender Randomisation nicht berücksichtigt. Aus eigener langjähriger Erfahrung mit dem ambulanten Training von v. a. älteren Asthmatikern in Lungensportgruppen können die oben genannten Ergebnisse bestätigt werden. > In einer kleineren, nicht randomisierten Untersuchung konnte das Training 1-mal pro Woche über 24 Monate signifikant die Ausdauerleistung steigern und die Anzahl der Krankenhaustage reduzieren [26].
In einer weiteren kleinen, kontrollierten Studie an älteren Asthmatikern konnte belegt werden, dass ein 1-mal wöchentliches Training über 12 Monate die VO2max, die maximale Leistungsfähigkeit (Wmax) sowie entscheidende Parameter der Lebensqualität sowohl in krankheitsübergreifenden (SF36) als auch asthmaspezifischen Fragenbögen (»Asthma Quality of Life Questionnaire«, AQLQ) signifikant steigern konnte [27]. In einer kürzlich durchgeführten Untersuchung an einem Mausmodell wurde der Einfluss von leichtem bis mittelschweren Training auf die allergische Entzündung in den Atemwegen untersucht [28]. Die Tiere (BALB/c) wurden zunächst 4 Wochen gegen Ovalbumin sensibilisiert. Das Training erfolgte in einem Laufrad bei 50 bzw. 75 % der maximalen Leistung für 60 min täglich über 50 Tage. Die trainierten Tiere wiesen signifikant weniger Eosinophile in der bronchoalveolären Lavage und in der Wand der Atemwege auf. Ferner war die Expression von Interleukin-4 und Interleukin-5 signifikant niedriger. Die Expression von IFN-γ, Interleukin-2 oder die Serumspiegel von IgE oder IgG1 wurden nicht beeinflusst. Interleukin-10 wurde durch das Training vermehrt exprimiert [28]. Zusammenfassend konnte in der Untersuchung gezeigt werden, dass im Tiermodell durch ein submaximales Training die TH2-Antwort bei unveränderter TH1-Antwort reduziert wird. Die Expressi-
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on des antientzündlich wirkenden Interleukin-10 wurde durch das Training signifikant gesteigert (p<0,001). Die Autoren folgerten daraus, dass ein Ausdauertraining bei 50–75 % der Maximalleistung die allergische Entzündung in den Atemwegen der untersuchten Mäuse reduziert und deshalb in ein Behandlungskonzept des Asthma bronchiale integriert werden sollte. Ein Training mit hoher Intensität kann dagegen das Gegenteil bewirken [29]. Bei Hochleistungssportlern kann gehäuft ein Asthma mittels Testung auf bronchiale Überempfindlichkeit sowie dem Nachweis einer eosinophilen Entzündung in den Atemwegen nachgewiesen werden [30]. Die dieser Assoziation zugrunde liegenden Mechanismen sind noch nicht abschließend geklärt. Der Zusammenhang von Training auf höchstem Niveau und bronchialer Überempfindlichkeit wurde an einer Untersuchung von Weltklasseschwimmern, die ihre aktive Karriere beendeten, verdeutlicht: Athleten, die ihr intensives Training mindestens 3 Monate eingestellt hatten, wiesen eine geringere bronchiale Überempfindlichkeit sowie ein geringeres Ausmaß der eosinophilen Entzündung in den Atemwegen auf als Athleten, die ihr Training auf höchstem Niveau fortsetzten [31].
12.1.5
Trainingsintensität und Steuerung
Das American College of Sports Medicine hat festgelegt, dass ein Training nur dann erfolgreich die Leistung steigern kann, wenn es mindestens 3-mal pro Woche über 20 min bei mindestens 50 % der maximalen Leistungsfähigkeit durchgeführt wird [32]. Die Grundlagen dieser Festlegung wurden jedoch an jüngeren Gesunden erarbeitet. Ob dieser Grundsatz auch für das Training mit chronisch Kranken gilt, wurde bisher nicht systematisch überprüft. Das Training von Asthmatikern wurde in den bisher vorliegenden Untersuchungen 2- bis 3-mal pro Woche für 20–30 min durchgeführt. Fast alle Interventionen erfolgten stationär oder in spezialisierten Einrichtungen. Wesentliches Trainingsgerät war das Fahrradergometer. Die Intensität reichte von 50–93 % der Wmax.
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Kapitel 12 · Bewegungstherapie bei obstruktiven Atemwegserkrankungen
In allen Untersuchungen kam es zu einer signifikanten Verbesserung der Leistungsfähigkeit. Auch ein Training mit hoher Intensität konnte von untrainierten Asthmatikern toleriert werden und führte zu einer signifikanten Leistungssteigerung [33]. Die schwedische Autorin räumt in der Diskussion jedoch ein, dass ihr Trainingsprogramm zwar effektiv sei, ein wesentliches Problem aber darin bestehe, Patienten mit Asthma überhaupt zu einem regelmäßigen Training zu bewegen. Optimal dafür geeignet sind langfristig angelegte Programme mit mittlerer Intensität (60–75 % Wmax). Dazu zählen in Deutschland v. a. Lungensportgruppen [34]. Um die Intensität des Trainings festzulegen und zu steuern, eignet sich am besten eine zu Beginn der Intervention durchgeführte Spiroergometrie nach einem Rampenprotokoll. Dies wurde auch in den oben zitierten Studien meist so gehandhabt. Als Trainingssteuerung kann dann die Pulsfrequenz verwendet werden, die sich mit Pulsuhren leicht und zuverlässig überprüfen lässt [35]. Eine Alternative stellt die Borg-Skala dar, anhand derer das Ausmaß der Dyspnoe festgelegt und zur Steuerung der Intensität der Belastung verwendet werden kann.
12.1.6
Fazit für die Praxis
Asthmatiker haben eine reduzierte körperliche Fitness, die nicht mit der Lungenfunktionseinschränkung oder der Dauer der Erkrankung korreliert, sondern Folge eines Trainingsmangels ist. Unter der Voraussetzung einer stadiengerechten Therapie ist ein Training ohne Einschränkung möglich. Es muss auf eine ausreichende Erwärmung geachtet werden. Wesentliche Kontraindikationen müssen ausgeschlossen werden [34]. Asthmatiker sollten intensiv über die Bedeutung eines regelmäßigen Trainings für den Verlauf ihrer Erkrankung und der Lebensqualität aufgeklärt werden. Zugleich sollten Sie ermutigt werden, dieses Training z. B. in Lungensportgruppen zu beginnen. Die wissenschaftliche Datenlage über die Auswirkung von körperlichem Training auf erwachsene Asthmatiker ist im Gegensatz zur COPD sehr dürftig. Vor allem ältere Asthmatiker wurden bei
den Untersuchungen bisher kaum berücksichtigt. Eine Änderung dieser Situation ist die Voraussetzung für eine Änderung der Infrastruktur, die es Asthmatikern erlaubt, ein dem Krankheitsbild angepasstes Training langfristig und wohnortnah durchzuführen.
12.1.7
Zusammenfassung
Bei Asthmatikern kann körperliche Belastung durch erhöhten bronchialen Wärme- bzw. Flüssigkeitsverlust infolge verstärkter Ventilation zu einer Zunahme der Obstruktion führen. Die Erfahrung von belastungsabhängig auftretender Dyspnoe führt bei Asthmatikern häufig zur Meidung körperlicher Anstrengung und zur Dekonditionierung. Studien an Asthmatikern belegen, dass der Grad der körperlichen Fitness nicht durch Kenngrößen des Asthmas limitiert ist, sondern aus einem Trainingsmangel resultiert. Unter der Voraussetzung einer stadiengerechten Therapie ist ein Training ohne Einschränkung möglich. Im Tiermodell konnte gezeigt werden, dass ein moderates Ausdauertraining die allergische Entzündung in den Atemwegen reduzieren kann. Dagegen kann ein Hochleistungstraining bronchiale Überempfindlichkeit und eosinophile Atemwegsentzündung verstärken. Kontrollierte Studien zum Effekt von Lungensport bei Asthmatikern sind im Vergleich zur Datenlage bei COPD spärlich. Es konnten Verbesserungen von Parametern der körperlichen Belastbarkeit ohne Änderung der Lungenfunktion gezeigt werden. Die optimale Trainingsmethodik für Asthmapatienten ist nicht abschließend geklärt. Allen Asthmapatienten sollte ein körperliches Training, z. B. in einer Lungensportgruppe, empfohlen werden.
12.2
Körperliches Training bei COPD
Die chronische obstruktive Bronchitis (COPD) ist mit einer Prävalenz von 5–15 % eine Volkskrankheit, die überwiegend durch den inhalativen Tabakkonsum verursacht wird. Betroffen sind vor allem Erwachsene, die älter als 50 Jahre sind. Kennzeichen dieser chronischen Lungenerkrankung ist eine langsam zunehmende Atemnot bei Belastung. Körperliche Anstren-
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gung verstärkt diese Atemnot und wird deshalb gemieden. Die Konsequenz ist eine Dekonditionierung und Atrophie der Muskulatur mit erheblichen Auswirkungen auf die Lebensqualität und den Krankheitsverlauf. Körperliches Training gehört deshalb heute fest zum Behandlungskonzept dieser häufigen chronischen Lungenerkrankung. In einer Vielzahl von Studien konnte die Wirksamkeit wissenschaftlich belegt werden. In diesem Beitrag lesen Sie über: 4 die Prävalenz der COPD, 4 Veränderungen der peripheren Muskulatur bei COPD, 4 Veränderungen der Atemmuskulatur bei COPD, 4 Wissenschaftliche Daten zum Training bei COPD, 4 Hinweise zum Aufbau eines Trainingsprogramms bei COPD.
12.2.1
Einleitung
Die Prävalenz der chronisch obstruktiven Bronchitis und des Lungenemphysems (COPD) nimmt in der erwachsenen Bevölkerung zu. Mittlerweile leiden etwa 5–15 % der Bevölkerung an dieser Erkrankung [1]. Weltweit steht die COPD auf Platz 4 der häufigsten zum Tode führenden Erkrankungen [2]. Jährlich entstehen dem deutschen Gesundheitssystem Kosten infolge dieser Erkrankung in einer Höhe von geschätzten 8,5 Mrd. € [3]. Vor dem Hintergrund dieser enormen sozioökonomischen Bedeutung wurden nationale und internationale Leitlinien erstellt, die die Diagnostik und Therapie der COPD standardisieren [4, 5]. Charakterisiert wird diese chronische Lungenerkrankung neben der Obstruktion der unteren Atemwege durch eine zunehmende Dekonditionierung. Die Bedeutung dieses Faktors zeigt die BOLD-Studie: Hier konnte gezeigt werden, dass die Prognose dieser Erkrankung nicht nur vom Ausmaß der Lungenfunktionseinschränkung abhängt, sondern neben dem Body-Mass-Index und dem Ausmaß der Dyspnoe vor allem auch von der zurückgelegten Strecke im 6-Minuten-Gehtest [6]. Daher beinhaltet das Management der COPD nicht nur eine stadiengerechte medikamentöse Therapie, sondern auch körperliches Training,
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Patientenschulung, Tabakentwöhnung sowie Beratung hinsichtlich Ernährung und psychologischer Aspekte [4, 7].
12.2.2
Veränderungen der peripheren Muskulatur bei COPD
Grundsätzlich findet sich bei Patienten mit COPD eine geringere Muskelmasse. Dies ist vor allem beim M. quadriceps femoris sehr stark ausgeprägt [8]. Bei etwa einem Drittel der Patienten ist diese Verschiebung der Körperkomposition mit einem Gewichtsverlust verbunden [9]. Die Entwicklung einer Muskelschwäche kann aber einer pulmonalen Kachexie vorausgehen [10]. Die Muskelfasertypologie ist in Abhängigkeit vom Schweregrad der Erkrankung verändert: Bei mittelschwerer COPD findet sich eine Atrophie der Typ-II-Fasern im M. quadriceps [11]. Bei schwerer COPD (WHO-Stadium Gold IV) kommt es zu einer Verminderung der Typ-I-Fasern und einer kompensatorischen Vermehrung der Typ-IIbFasern, nachgewiesen in Biopsien des M. vastus lateralis [12]. Aus dieser Verschiebung der Zusammensetzung resultieren eine schnellere Ermüdbarkeit und eine geringere Arbeitsleistung der Muskelfasern. Die Kapillarisierung der Muskulatur bei COPD ist vergleichbar mit derjenigen von stark dekonditionierten Gesunden. Die Anzahl der Kapillaren pro Oberflächeneinheit ist etwa halbiert [12]. Bei erhaltenem Verhältnis von Kapillaren zu Muskelfasern ist jedoch die Anzahl der Kapillarkontakte signifikant geringer [13]. Ein weiterer Faktor, der die Leistungsfähigkeit der peripheren Muskulatur begrenzt, ist eine Verminderung der Enzyme des aeroben Stoffwechsels (Zitratsynthetase, Succinatdehydrogenase und 3-Hydroxyl-CoA-Dehydrogenase, CytochromC-Oxidase) [14]. Zudem finden sich bei schwerer COPD erniedrigte Energiespeicher (Adensointriphosphat/ATP, Glykogen, Kreatinphosphat), erhöhte Ruhelaktatwerte und erniedrigte intrazelluläre pH-Werte [12, 15]. Die beschriebenen Veränderungen lassen sich grundsätzlich, wenn auch in deutlich geringerer Ausprägung, ebenfalls an der Muskulatur der
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Kapitel 12 · Bewegungstherapie bei obstruktiven Atemwegserkrankungen
oberen Extremität nachweisen [16]. Bis heute sind jedoch keine Daten veröffentlicht, die die Muskelfaserzusammensetzung, die Kapillarisierung und den Enzymhaushalt der oberen und unteren Extremität in einem Individuum mit COPD analysiert und verglichen haben. Die Atrophie und die verminderte Kraft der peripheren Muskeln ist sicher Folge der abnehmenden Aktivität der Patienten mit COPD. Dies erklärt auch die unterschiedlichen Ausprägungen an der unteren und oberen Extremität: Bei den Aktivitäten des täglichen Lebens wird die obere Extremität mehr eingesetzt. Ferner finden sich hier auch Muskeln, die als Atemhilfsmuskulatur bei der Inspiration eingesetzt werden (M. pectoralis major, M. latissimuss dorsi) und damit stärker beansprucht werden. Als weitere Gründe für die eingeschränkte Funktion der peripheren Muskeln bei COPD werden eine systemische Entzündung [17, 18], Hypoxämie, systemische Therapie mit Corticosteroiden und oxidativer Stress [19] genannt. Die Bedeutung dieser Faktoren ist jedoch umstritten [20, 21]. Eine Verminderung der aeroben Kapazität trägt ebenfalls zur Einschränkung der körperlichen Belastbarkeit bei: Eine schon bei geringerer Belastung einsetzende Laktatazidose führt zu einer Steigerung der Ventilation [22], die bereits in Ruhe durch die Verengung der Atemwege und das Lungenemphysem eingeschränkt ist. Verstärkt wird dieser Effekt durch eine Tendenz zur CO2-Retention während der Belastung, einem weiteren Faktor, welcher die Azidose steigert. > Die beschriebenen Zusammenhänge belegen, dass ein Training der peripheren Muskulatur bei Patienten mit COPD ein wichtiges Ziel im Management der Erkrankung darstellt.
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Veränderungen der Atemmuskulatur
Das Zwerchfell ist bei Patienten mit COPD an die chronische Überlastung adaptiert und hat im Vergleich zu Gesunden eine geringere Tendenz zu ermüden [20, 23, 24]. Diese Anpassung trifft für
die frühen Stadien der Erkrankung zu und tritt vor einer Veränderung der peripheren Muskeln auf [25]. Im Verlauf wird mit zunehmender Überblähung der Lunge der Wirkungsgrad des Zwerchfells ungünstiger. Als Folge nehmen sowohl die Inspirationskraft als auch die Ausdauer des Zwerchfells ab [26, 27]. Eine Schwäche der Atemmuskulatur ist deshalb bei weiter fortgeschrittener COPD häufig nachweisbar und kann mit der Bestimmung des maximalen Inspirationsdruckes (PImax) quantifiziert werden [28]. Dies trägt zu einer Verstärkung von Hyperkapnie, Atemnot und nächtlicher Sauerstoffentsättigung sowie zu einer Reduktion der körperlichen Leistungsfähigkeit bei [29]. Bei körperlicher Belastung steigt der Anteil der benutzten Maximalkraft des Zwerchfells bei Patienten mit COPD überproportional an [30]. Dies führt zu einer Erhöhung des peripheren Gefäßwiderstandes, um eine bessere Durchblutung des Zwerchfells zu ermöglichen [31]. Dieser »steal«-Effekt könnte ebenfalls zu einer verminderten Leistungsfähigkeit der peripheren Muskulatur beitragen.
12.2.4
Körperliches Training bei COPD
Das körperliche Training bildet das Fundament der pneumologischen Rehabilitation [32]. Sie ist immer dann indiziert, wenn eine COPD zu einer Einschränkung der Belastbarkeit, Atemnot bei Belastung oder Einschränkungen des täglichen Lebens geführt hat. Das körperliche Training ist vor allem im Anschluss an eine akute Exazerbation effektiv, weil in dieser Phase die Patienten besonders in Gefahr sind, in einen immobilen Lebensstil zu verfallen [33]. Das Programm muss auf die individuellen Beschränkungen des Patienten abgestimmt werden. Es sollte Einschränkungen der Ventilation, Gasaustauschstörungen und das Ausmaß der Imbalance sowohl der peripheren als auch der Atemmuskeln berücksichtigen. Dabei kann die Bewegungstherapie nicht nur die Leistungsfähigkeit verbessern, sondern führt auch zu einer Besserung von Depressionen, Symptomen der COPD (Atemnot) und der Herzkreislauffunktion [34]. Bei Patienten mit schwergradiger COPD kann es erforderlich sein, sowohl die Intensität als auch die Dauer der Bewegungstherapie zu reduzieren.
161 12.2 · Körperliches Training bei COPD
Voraussetzung einer erfolgreichen Bewegungstherapie ist eine stadiengerechte Medikation, falls erforderlich eine Langzeitsauerstofftherapie und eine Behandlung von Begleiterkrankungen. Eine Spiroergometrie vor Beginn des Trainings erlaubt nicht nur eine klare Aussage zur kardiopulmonalen Leistungsbreite, sondern ermöglicht auch die Feststellung von Faktoren, die die Leistungsfähigkeit des individuellen Patienten einschränken [35]. Eine Verbesserung der muskulären Funktion durch Bewegungstherapie beinhaltet auch eine Steigerung der oxidativen Kapazität der peripheren Muskulatur. Dies hat die Konsequenz, dass bei einer gegebenen Belastung eine geringere Ventilation erforderlich ist und damit eine dynamische Überblähung reduziert und so die Atemnot bei Belastung vermindert wird.
12.2.5
Programme für körperliches Training bei COPD
Dauer und Frequenz Über welchen Zeitraum eine Bewegungstherapie durchgeführt werden soll, ist nicht abschließend geklärt. Es konnte jedoch gezeigt werden, dass das gleiche Trainingsprogramm über 7 Wochen durchgeführt, einem 4-wöchigen Programm überlegen ist [36]. Ferner sind 20 Einheiten eines kompakten Rehabilitationsprogramms (Hauptbestandteil war Bewegungstherapie) signifikant effektiver als 10 Einheiten des gleichen Programms [37]. Obgleich auch kurze intensive Trainingsprogramme effektiv sind [32], wird von den Fachgesellschaften empfohlen, ein Training langfristiger anzulegen, da die Effekte und die Trainingsfestigkeit größer sind [7, 38]. Für die Situation in Deutschland bedeutet dies, dass im Anschluss an eine stationäre Rehabilitation (3 bis max. 4 Wochen) unbedingt eine ambulante Fortführung der Bewegungstherapie erforderlich ist. Patienten mit COPD sollten mindestens dreimal pro Woche trainieren. Es ist belegt, dass eine regelmäßige Überwachung die Effektivität deutlich erhöht [34, 35, 39, 40]. Inwiefern langfristige Maßnahmen zur Erhaltung des initial erreichten Trainingserfolges effektiv sind, wird noch kontrovers diskutiert [41, 42]. Auf dem Boden langjähriger praktischer Erfahrung im Lungensport können die
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Autoren den guten und langfristigen Effekt eines einmal wöchentlichen, beaufsichtigten Trainings von 60 Minuten bestätigen.
Trainingsintensität Auch ein körperliches Training geringer Intensität kann zu einer Verbesserung von Lebensqualität, Krankheitssymptomen und körperlicher Leistungsfähigkeit führen [43, 44]. Der Effekt eines Ausdauertrainings auf dem Fahrradergometer mit hoher Intensität (80 % der maximalen Wattleistung) lässt prinzipiell größere Effekte erwarten [22]. Bei der hier zitierten Arbeit muss berücksichtigt werden, dass vor allem bei schwerer Erkrankten (COPDStadium III–IV nach Gold) die angestrebte Trainingsintensität initial gar nicht erreicht wurde und durch ein Intervalltraining ersetzt werden musste. Zusätzlich wurde den Patienten über 2 Wochen eine Gewöhnungsphase zugestanden, die vorgegebene Intensität wurde erst nach der Hälfte der Programmdauer erreicht [45]. Dies zeigt, dass in dieser Untersuchung ein Wechsel der Trainingsmethoden zum gewünschten Erfolg geführt hat. Zudem führt ein Training hoher Intensität bei Patienten mit sehr schwergradiger COPD zu einer Maladaptation der Skelettmuskulatur infolge vermehrten oxidativen Stresses, was letztlich die muskuläre Dysfunktion verstärken kann [46]. COPD-Patienten weisen eine veränderte Muskelfasertypologie, veränderte enzymatische Ausstattung und verminderte Energiespeicher auf. Dies hat einen Mehrgebrauch des anaeroben Stoffwechselweges zur Folge. Durch eine hohe Intensität des Trainings wird dieser verhältnismäßig ineffektive Modus der Energiegewinnung weiter »trainiert«. Ein effektives Training sollte deshalb zwischen 60 % und 80 % der maximalen Leistungsfähigkeit erfolgen und sich im Verlauf dem steigenden Trainingszustand anpassen [47].
Instrumente zur Trainingssteuerung Idealerweise werden spiroergometrisch erhobene Daten zur Trainingssteuerung benutzt, wie es in den klinischen Studien zum körperlichen Training in der Regel der Fall ist. Zur Trainingssteuerung im Breitensport eignen sich Symptom-Scores wie die Erfassung der Atemnot mit der modifizierten Borg-Skala [48]. Ein Borg-Score zwischen 4
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Kapitel 12 · Bewegungstherapie bei obstruktiven Atemwegserkrankungen
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und 6 für Atemnot und Ermüdung der Muskulatur ist eine vernünftige Zielgröße eines effektiven Trainings [49]. Alternativ kann auch die Herzfrequenz zur Trainingssteuerung verwendet werden [50].
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Training der oberen oder unteren Extremitäten?
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Schwerpunkt einer Bewegungstherapie bei Patienten mit COPD ist das Training der unteren Extremität. Hier ist die Atrophie besonders ausgeprägt und führt zur ausgeprägtesten Einschränkung der Lebensqualität. Aber auch die Muskulatur der oberen Extremität wird in vielen Verrichtungen des täglichen Lebens benutzt. Deshalb sollten auch diese Muskelgruppen in eine Bewegungstherapie einbezogen werden [51]. Eine Verbesserung der Leistungsfähigkeit dieser Muskelgruppen führt zu einer Verringerung von Dyspnoe und Atemarbeit [52].
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Training von Ausdauer und/oder Kraft Am besten untersucht ist der Effekt eines Ausdauertrainings auf dem Fahrradergometer [53]. Das Training sollte am besten länger als 30 Minuten dauern und eine Belastung von >60 % der maximalen Leistung erreichen [54]. Patienten mit ausgeprägtem Krankheitsbild, die diese Trainingszeiten nicht erreichen können, sollten mit einem Intervalltraining beginnen. Diese Modifikation erlaubt verhältnismäßig hohe Trainingsreize, da es aufgrund der verminderten ventilatorischen Beanspruchung zu einer Reduktion der belastungsinduzierten Symptome kommt [55, 56]. Der positive Effekt eines Krafttrainings bei COPD ist ebenfalls in der Literatur gut belegt [57]. Vor allem die Muskelmasse und die Muskelkraft nehmen stärker zu als bei einem Ausdauertraining [58–60]. Eine Trainingseinheit besteht im Idealfall aus vier Durchläufen mit 6 bis 12 Wiederholungen bei einer Intensität von 50–85 % einer maximalen Repetition [61]. Krafttraining führt in der Regel zu weniger Atemnot bei Belastung und wird deshalb von Patienten mit COPD oft besser toleriert als Ausdauertraining [57]. Für die Praxis am geeignetsten ist sicher eine Kombination aus Kraft- und Ausdauertraining [59, 62]. Nicht vergessen werden darf, dass chronisch kranke Patienten mit COPD erhebliche Defizite bezüglich der koordinativen Fähigkeiten und
der Beweglichkeit aufweisen. Ein Trainingsprogramm muss daher neben den motorischen Hauptbeanspruchungsformen Kraft und Ausdauer auch Übungen zur Beweglichkeit und Koordination beinhalten. Ob das Training von Beweglichkeit und Koordination bei Patienten mit COPD die Fähigkeit verbessert, die Anforderungen des täglichen Lebens zu bewältigen, ist bislang nicht untersucht. Man kann jedoch annehmen, dass in vielen Rehabilitationsprogrammen in den Pausen zwischen den Blöcken Kraft und Ausdauer die Beweglichkeit und Koordination geschult wurde. Bei Patienten mit COPD ist die Beweglichkeit der Wirbelsäule und des Schultergürtels durch die pathologische Atemmechanik deutlich eingeschränkt. Besonders gut sind Drehdehnlagen geeignet, diese Situation zu verbessern. Koordinationsübungen wie Jonglieren und Balancieren helfen dem Patienten mit COPD, seine eingeschränkte Leistungsfähigkeit optimal zu nutzen.
12.2.6
Fazit für die Praxis
Das körperliche Training ist neben der Patientenschulung, der Langzeitsauerstofftherapie, der Tabakentwöhnung und der medikamentösen Therapie zentraler Bestandteil des Managements einer COPD. Um diese Erkenntnis umzusetzen und die Versorgungsqualität zu verbessern, wurden für die COPD und das Asthma Disease Management Programme entwickelt. Um ein flächendeckendes Angebot von Bewegungstherapie für dieses Patientenkollektiv zu schaffen, bedarf es noch erheblicher Anstrengungen. Lungensportgruppen, die in steigender Zahl in Deutschland etabliert werden, sind geeignet, einen Großteil dieses Bedarfs abzudecken.
12.2.7
Zusammenfassung
Die COPD gehört mit einer Inzidenz zwischen 5–15 % zu den Volkskrankheiten. Mit jährlichen Kosten von 8,5 Mrd. € für das Gesundheitssystem hat diese Erkrankung eine erhebliche sozioökonomische Bedeutung. Zusätzlich zur medikamentösen Therapie hat vor allem die nichtmedikamentöse Thera-
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pie in den letzten Jahren an Bedeutung gewonnen. Dazu zählt neben der Patientenschulung und der Ernährungsberatung in erster Linie auch das körperliche Training. Patienten mit COPD weisen eine deutliche Atrophie der peripheren Muskulatur und eine Veränderung der Muskelfasertypologie auf. Aus dem Verlust von Typ-I-Fasern, verbunden mit einem relativen Anstieg der Typ-IIb-Fasern, resultiert eine schnellere Ermüdbarkeit. Diese Veränderungen sind in der unteren Extremität wesentlich stärker ausgeprägt als in der oberen Extremität. Zusätzlich besteht in der Muskulatur eine verminderte Kapillarisierung mit signifikant geringeren Kapillarkontakten. Ferner sind der Gehalt an Enzymen des aeroben Stoffwechsels und die oxidative Kapazität erniedrigt. Patienten mit schwergradiger COPD verfügen über reduzierte Energiespeicher. Ursache dieser Veränderungen der peripheren Muskulatur kann neben einer mangelnden Beanspruchung auch eine systemische Entzündung, eine orale Therapie mit Steroiden, ein erhöhter oxidativer Stress und eine Hypoxämie sein. Das Zwerchfell ist durch den ungünstigen Wirkungsgrad infolge der Lungenüberblähung nur eingeschränkt leistungsfähig und trägt damit zu einer Steigerung der körperlichen Einschränkung bei. Zur optimalen Intensität, Dauer, Frequenz und Auswahl des Trainings liegen zahlreiche wissenschaftliche Untersuchungen vor. Am besten geeignet ist eine Mischung von Ausdauer- und Krafttraining mit einer Intensität von 60 %–80 % der maximalen Leistungsfähigkeit. Bei sehr ausgeprägt dekonditionierten COPD-Patienten eignet sich ein Intervalltraining. Wesentlicher Teil der Bewegungstherapie bei diesem Patientenkollektiv ist ferner eine Schulung der Beweglichkeit und Koordination.
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Kapitel 12 · Bewegungstherapie bei obstruktiven Atemwegserkrankungen
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Kapitel 12 · Bewegungstherapie bei obstruktiven Atemwegserkrankungen
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167
Effektivität von körperlichem Training zur Verbesserung motorischer Leistungen bei Patienten mit demenzieller Erkrankung Michael Schwenk, Andreas Lauenroth, Peter Oster, Klaus Hauer
13.1
Einleitung – 168
13.2
Epidemiologie und demografische Entwicklung – 168
13.3
Der Zusammenhang motorischer und kognitiver Leistungen bei Demenz – 168
13.4
Einfluss einer kognitiven Einschränkung auf das motorische Rehabilitationsergebnis – 170
13.5
Ergebnisse randomisierter, kontrollierter Studien zur Effektivität von körperlichem Training – 172
13.5.1 13.5.2
Qualität bisheriger Studien – 172 Anpassung bisheriger Interventionsprogramme an den kognitiven Status der Teilnehmer – 174 Inhalte bisheriger Interventionen – 175 Messmethoden und Studienendpunkte – 176 Ergebnisse bisheriger Studien – 176 Schlussfolgerungen aus der Literaturanalyse – 177
13.5.3 13.5.4 13.5.5 13.5.6
13.6
Neuer demenzspezifischer, körperlicher Trainingsansatz – 178
13.6.1 13.6.2
Entwicklung eines neuen Trainingsansatzes – 178 Evaluation des Trainingsprogramms im Rahmen einer kontrollierten, randomisierten Studie – 180
13.7
Fazit und Ausblick – 181
13.8
Zusammenfassung – 182
13
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Kapitel13·EffektivitätvonkörperlichemTrainingzurVerbesserungmotorischerLeistungenbeiPatientenmitdemenziellerErkrankung
Ein wesentlicher Aspekt demenzieller Erkrankungen ist unter anderem der Verlust motorischer und funktioneller Leistungen. Dies schränkt die Lebensqualität der Betroffenen erheblich ein, zudem ist das Sturzrisiko erhöht. Ob ein körperliches Training bei demenziell Erkrankten die motorischen Fähigkeiten verbessern oder zumindest erhalten kann, wird in den wenigen randomisierten, kontrollierten Studien zum Thema unterschiedlich gesehen. In diesem Beitrag lesen Sie über: 4 die aktuellen und zukünftig zu erwartenden Zahlen demenzieller Erkrankungen 4 den Zusammenhang zwischen motorischen und kognitiven Leistungen bei Demenz 4 den Einfluss einer kognitiven Schädigung auf das motorische Rehabilitationsergebnis 4 Ergebnisse bisheriger Studien zu körperlichem Training bei Demenz 4 ein neues körperliches Trainingskonzept, das psychosoziale Aspekte, verbliebene Ressourcen, aber auch Defizite demenziell Erkrankter berücksichtigt
13.1
Einleitung
Demenzielle Erkrankungen sind, neben dem kognitiven Leistungsverlust und dem Auftreten von Verhaltensauffälligkeiten, durch einen Verlust motorischer und funktioneller Leistungen gekennzeichnet. Die Betroffenen erleiden deutliche Einschränkungen ihrer mobilitätsabhängigen Lebensqualität und zeigen ein hohes Sturzrisiko. Der krankheitsbedingte, motorische Abbauprozess wird durch die geringe körperliche Aktivität der Patienten in hohem Maße gefördert. Deshalb ist eine Partizipation an körperlichen Trainingsprogrammen sinnvoll. Bislang gibt es jedoch keine ausreichende Evidenz für die Effektivität von körperlichem Training zur Verbesserung motorischer Leistungen bei demenziell Erkrankten. Die existierenden Studien zeigen kontroverse, teilweise negative Ergebnisse. Die mangelnde Effektivität wird nicht selten auf ein unzureichendes motorisches Trainingspotenzial kognitiv Geschädigter zurückgeführt. Eine in dieser Arbeit vorgenommene Literaturanalyse zeigt jedoch, dass diese Betrachtungsweise zu kurz greift.
Vielmehr sind untersuchungsmethodische Mängel oder unspezifische Interventionsmaßnahmen häufig die Ursache für negative Ergebnisse. Bislang fehlen methodisch hochwertige Studien mit Trainingskonzepten, welche psychosoziale Aspekte und verbliebene Ressourcen aber auch Defizite demenziell Erkrankter berücksichtigen. Ein derartiger Ansatz wird im letzten Abschnitt vorgestellt.
13.2
Epidemiologie und demografische Entwicklung
In Deutschland leben derzeit etwa 1,1 Millionen Demenzkranke. Altersspezifische Prävalenzraten – vorwiegend auf Meta-Analysen europäischer Studien basierend – zeigen, dass die Prävalenz der Demenz mit zunehmendem Alter stark ansteigt. Sie liegt bei den 65- bis 69-Jährigen bei etwa 1,2 %, verdoppelt sich im Abstand von jeweils etwa 5 Altersjahren und steigt bei den 90-Jährigen und Älteren auf über 30 % an (Bickel 2005, . Abb. 13.1). Nach der elften koordinierten Bevölkerungsvorausberechnung der Bundesrepublik Deutschland wird sich die Zahl der über 80-Jährigen von derzeit 3,7 Millionen bis 2050 auf etwa 10 Millionen Menschen erhöhen (Statistisches Bundesamt 2006). Bedingt durch die ausgeprägte Zunahme hochbetagter Menschen ist in den nächsten Jahrzehnten auch mit einem starken Anstieg der Zahl Demenzkranker zu rechnen. Nach Bickel (2005) beträgt die Anzahl der jährlichen Neuerkrankungen ca. 200.000 Fälle. Setzt man eine gleichbleibende Prävalenzrate voraus, so wird sich die Zahl der Demenzkranken bis 2050 mit ca. 2,6 Millionen Menschen mehr als verdoppeln.
13.3
Der Zusammenhang motorischer und kognitiver Leistungen bei Demenz
Motorische und kognitive Leistungen sind als Marker für die Früherkennung einer Demenz eng miteinander verknüpft. Ein sozial wie auch körperlich und geistig aktives Leben scheint das Risiko einer
13
169 13.3 · Der Zusammenhang motorischer und kognitiver Leistungen bei Demenz
% der Altersgruppen
Prävalenz (Krankheitshäufigkeit)
Inzidenz (Neuerkrankungen)
40
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22,6
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20 1,2 0,4
2,8 0,9
65–69
70–74
3,9
6,5
10,4
1,9
0 75–79 80–84 Alter in Jahren
85–89
>90
. Abb. 13.1 Prävalenz und Inzidenz der Altersdemenz (Werte: Bickel 2005) . Abb. 13.2 Folgen einer demenziellen Erkrankung Motorische Defizite
Verlust der Selbstständigkeit
Erhöhtes Sturzrisiko
Demenzerkrankung
Psychische Folgen
Geringe körperliche Aktivität
Kognitive Schädigung
demenziellen Entwicklung zu verringern (Verghese et al. 2003, Yaffe et al. 2001). Spezifische kognitive Leistungen (z. B. semantisches Gedächtnis, Aufmerksamkeit etc.) stellen signifikante Prädiktoren für funktionell-motorische Leistungen dar (Perry und Hodges 1999, Teri et al. 1989). Motorische Schädigungen wurden als signifikante Prädiktoren für das Auftreten von altersassoziierten kognitiven Schädigungen und für die Mortalität bei kognitiv geschädigten Personen identifiziert (Verghese et al. 2002, Marquis et al. 2002). Betrachtet man den Verlauf einer Demenz, so ist der Verlust kognitiver Leistungen assoziiert mit einem zunehmenden Rückgang funktioneller Leistungen im Alltag (Instrumental Activities of Daily Living, IADLs), einem Verlust motorischer Basisleistungen (Basic Activities of Daily Living, BADLs) und einem zunehmenden Risiko motorischer Fehlleistungen (Stürze; Auyeung et al. 2008, Tinetti et al.
1988, van Iersel et al. 2004). In . Abb. 13.2 sind die Folgen einer Demenzerkrankung dargestellt. Im Fokus dieser Arbeit stehen motorische Defizite und deren Trainierbarkeit. k Demenzspezifischen motorischen Defizite
Demenziell erkrankte Patienten zeigen einen progredienten Verlust von motorisch-funktionellen Leistungen (z. B. Kraft, Balance, Gangleistungen). Kennzeichnend für demenzassoziierte Motorikstörungen ist, dass einzelne Bewegungskomponenten (z. B. Schwung- oder Standphase beim Gehen, Rumpfvorneigung beim Aufstehen von einem Stuhl) zwar vollzogen werden können, die zerebrale Integration und Verarbeitung sensorischer Informationen jedoch gestört ist (higher level motor disorders). Dadurch kommt es zu Störungen von Alltagsbewegungen, welche Auslöser motorischer
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Kapitel13·EffektivitätvonkörperlichemTrainingzurVerbesserungmotorischerLeistungenbeiPatientenmitdemenziellerErkrankung
Fehlleistungen (Stürze) sein können (van Iersel et al. 2004, Manckoundia et al. 2006). Neben motorischen Auffälligkeiten sind Verluste bei aufmerksamkeitsabhängigen, motorischkognitiven Anforderungen (Doppelaufgaben, Dual Tasks) frühe Marker der Erkrankung. Die Patienten haben Schwierigkeiten beim Bewältigen simultaner Aufgabenstellungen. Beispielsweise kann eine kognitive Anforderungen (z. B. Nummern aufzählen) während des Gehens zu Störungen im Bewegungsablauf führen (Sheridan 2003). Möglicherweise stellen defizitäre Dual-Task-Leistungen ein kausales Bindeglied zur hohen Sturzgefahr demenziell erkrankter Patienten dar (Lundin-Olson et al. 1997). Das Aktivitätsniveau dementer Patienten zeigt in beide Richtungen bedeutende Abweichungen im Vergleich zu kognitiv nicht eingeschränkten Personen: Überaktivität im Sinne einer Verhaltensauffälligkeit und starke Einschränkung der Mobilität aufgrund multipler Ursachen. Die überwiegende Zahl kognitiv eingeschränkter Patienten zeigt ein zu geringes Aktivitätsniveau. Die mangelnde körperliche Aktivität führt zur Verschlechterung motorischer Leistungen und des funktionellen Status und stellt eine mögliche Ursache des hohen Sturzrisikos dieses Patientenkollektives dar (Visser 2002, Buchner u. Larson 1987). Andererseits ist auch eine erhöhte Sturzgefahr bei Überaktivität (hohe Risikoexposition) denkbar. Die Sturzinzidenz ist gegenüber vergleichbaren, nicht dementen Personen um das Dreifache erhöht und die Wahrscheinlichkeit, sich bei Stürzen schwer zu verletzen oder zu sterben, ist 3- bis 4-mal so hoch (Buchner u. Larson 1987, Lord et al. 2001). Im folgenden Kapitel wird dargestellt, ob über standardisiertes Funktionstraining während der geriatrischen Rehabilitation eine Verbesserung im motorischen Status demenziell Erkrankter erreicht werden kann. Die Analyse von Beobachtungsstudien ermöglicht eine Aussage zur Trainierbarkeit dieser Patientengruppe außerhalb randomisierter, kontrollierter Untersuchungen (7 Kap. 13.5).
13.4
Einfluss einer kognitiven Einschränkung auf das motorische Rehabilitationsergebnis
Das Ziel der geriatrischen Rehabilitation ist die Verbesserung funktioneller Leistungen im Alltag älterer Menschen. Damit verbinden sich die Wiedererlangung einer möglichst selbstständigen Lebensführung (mit oder ohne Hilfe) sowie eine Verhinderung von Pflegebedürftigkeit (Kruse 1992). Das Training von motorisch-funktionellen Leistungen hat dabei einen hohen Stellenwert. Über motorisches Training können bei verschiedenen Krankheitsbildern (Schlaganfall, Zustand nach Hüftgelenksprothese, Herzinfarkt etc.) klinisch bzw. alltagsrelevante Effekte erzielt werden. Bei Patienten mit kognitiven Störungen wird die Wirksamkeit derartiger Maßnahmen allerdings kontrovers diskutiert (Landi et al. 2002, Magaziner et al. 1990, Goldstein et al. 1997, Gruber- Baldini et al. 2003). Dies wird im Folgenden anhand verschiedener Beobachtungsstudien aufgezeigt. Im Fokus steht die Frage, welchen Einfluss eine kognitive Schädigung auf das Ergebnis von geriatrischen Rehabilitationsmaßnahmen hat. Einige Untersuchungen zeigen, dass Rehabilitationsergebnisse von Patienten mit kognitiver Einschränkung durchaus mit denen nicht kognitiv Geschädigter vergleichbar sind. Es werden nur geringfügig schlechtere Ergebnisse erzielt bzw. die Patienten schneiden lediglich bei definierten Rehabilitationsteilzielen schlechter ab (Goldstein et al. 1997, Belooseky et al. 2002, Rolland et al. 2004). Beloosesky et al. (2002) untersuchten 153 Patienten mit Hüftgelenksfraktur zu Beginn und Ende der Rehabilitation, sowie nach einem, drei und sechs Monaten. Funktionelle Leistungen wurden mittels des Functional Independence Measure (FIM) erfasst. Mittelgradig kognitiv Beeinträchtigte erreichten vergleichbare motorische Verbesserungen wie normale Patienten. Hauptprädiktor für den Rehabilitationserfolg war der funktionelle Status vor dem Frakturereignis (erfasst über Katz Index of ADL via Proxy). Selbst Patienten mit fortgeschrittener kognitiver Schädigung konnten motorische Verbesserungen erzielen, wenngleich der Gewinn geringer ausfiel. Diese Patientengrup-
171 13.4 · Einfluss einer kognitiven Einschränkung auf das motorische Rehabilitationsergebnis
pe zeigte bereits vor der Fraktur ausgeprägte Defizite im funktionellen Status. Die Autoren begründen damit den geringeren Rehabilitationserfolg. Goldstein et al. (1997) konnten zeigen, dass kognitiv beeinträchtigte Patienten (n=58) mit Hüftgelenksfraktur vergleichbare Verbesserungen im funktionellen Status (Gesamtscore FIM) erreichen wie kognitiv Intakte. Kognitive Defizite waren jedoch mit signifikant geringeren Mobilitätsleistungen (FIM Subscore) assoziiert. Zudem erwiesen sich kognitive Teilleistungen (Initiierung, Perseveration, Konzeption) als negative Prädiktoren für den motorischen Rehabilitationserfolg. In anderen Beobachtungsstudien zeigt sich eine kognitive Einschränkung jedoch als negativer Prädiktor für motorische Rehabilitationserfolge (Magaziner et al. 1990, Diamond et al. 1996, Landi et al. 2002, Gruber-Baldini et al. 2003). Landi et al. (2002) unterzogen 244 Patienten zu Beginn und Ende der geriatrischen Rehabilitation (6-mal wöchentlich, je 3 Stunden, Transfertraining, Haltungs- und Gleichgewichtstraining) einem motorischen Assessment. In der durchgeführten Regressionsanalyse war der Parameter »kognitive Einschränkung« einziger, signifikant negativer Prädiktor für den Rehabilitationserfolg. Vergleichbare Ergebnisse berichten GruberBaldini et al. (2003), die 674 Patienten nach Hüftgelenksfraktur über 12 Monate beobachteten. Das Vorliegen einer Demenz oder kognitiven Störung (unabhängig davon, ob diese bereits vor Fraktur existierte oder erst im späteren Verlauf auftrat) war ein hoher Prädiktor für verminderte Rehabilitationsleistungen. Magaziner et al. (1990) verfolgten die motorischen Leistungen (Physical Activities of Daily Living, PADs; Instrumental Activities of Daily Living, IADLs) von 536 Patienten mit Hüftfraktur über ein Jahr nach Krankenhausentlassung. Patienten, die während des Aufenthaltes kognitive Einschränkungen aufwiesen – unabhängig davon, ob akut (Delir) oder chronisch (Demenz) –, erholten sich am wenigsten von den Folgen der Hüftfraktur. Einige Autoren geben mögliche Ursachen für einen schlechteren Rehabilitationserfolg kognitiv Geschädigter an. Häufig werden dabei untersuchungsmethodische Probleme oder unspezifische
13
Trainingsansätze angeführt (Goldstein et al. 1997, Gruber-Baldini et al. 2003, Landi et al. 2002). Magaziner et al. (1990) führen an, dass mangelnde Rehabilitationserfolge bei kognitiv Geschädigten nicht zwangsläufig auf eine verminderte Trainierbarkeit zurückgeführt werden können. Vielmehr wird der gezielte Ausschluss von Therapieleistungen, begründet durch kognitive Defizite, als ein möglicher Grund für negative Ergebnisse diskutiert. Des Weiteren waren Therapieprogramme in den Beobachtungsstudien häufig nicht demenzspezifisch – eine Generalisierung der Ergebnisse ist deshalb nicht zulässig (Landi et al. 2002). Speziell geschultes Therapiepersonal scheint eine wesentliche Grundlage für Therapieerfolge bei kognitiv Geschädigten zu sein (Goldstein et al. 1997). In diesem Zusammenhang verweisen verschiedene Autoren auf einen Mangel an demenzspezifischen Therapieprogrammen und fordern die Evaluation von neuen Konzepten (Goldstein et al. 1997, GruberBaldini et al. 2003, Landi et al. 2002). Ferner ist zu bemerken, dass die vorwiegend eingesetzten globalen Ratingscalen (Fragebögen zu ADLs, IADLs), nicht ausreichend sensitiv sind um spezifische, trainingsinduzierte Veränderungen der Motorik (Kraft, Balance, Gangqualität) zu messen. Trainingserfolge wurden aus diesem Grund möglicherweise in den Beobachtungsstudien nicht hinreichend abgebildet.
Die Frage, ob bei demenziell erkrankten Patienten eine Verbesserung des motorischen Status über körperliches Training möglich ist, kann über die Ergebnisse aus Beobachtungsstudien nicht abschließend beantwortet werden. Vielmehr ist eine Analyse von randomisierten, kontrollierten Studien (Randomised Controlled Trials = RCTs) notwendig, die ein ausreichendes Evidenzniveau aufweisen.
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13
172
Kapitel13·EffektivitätvonkörperlichemTrainingzurVerbesserungmotorischerLeistungenbeiPatientenmitdemenziellerErkrankung
13.5
Ergebnisse randomisierter, kontrollierter Studien zur Effektivität von körperlichem Training
Zahlreiche RCTs belegen klinisch bzw. alltagsrelevante Auswirkungen von körperlichem Training (z. B. verbesserte Kraft und Funktion) bei kognitiv intakten, älteren Personen (Hauer et al. 2001, 2002, Lord et al. 2003). Mehrheitlich wurden in diesen RCTs demenziell Erkrankte ausgeschlossen, meistens begründet durch mangelnde Compliance oder unzureichende Reliabilität und Validität von Messverfahren (Hauer et al. 2006). Folglich existiert nur eine begrenzte Anzahl von RCTs mit kognitiv eingeschränkten Patienten. Im nachfolgenden Kapitel wird eine systematische Literaturanalyse aller bislang publizierten RCTs zum körperlichen Training bei Demenz vorgestellt. Untersuchungen mit limitiertem Design (Fallstudien, unkontrollierte nicht randomisierte Studien) oder unzureichend definiertem Patientenkollektiv wurden dabei nicht berücksichtigt. Als Basis für die methodische Vorgehensweise diente die Arbeit von Hauer et al. (2006), in welcher RCTs bis zum Jahre 2004 untersucht wurden. In der vorliegenden Arbeit wurden aktuelle RCTs der Jahre 2005–2009 ergänzt. . Tab. 13.1 zeigt eine Übersicht der eingeschlossenen 15 RCTs.
14
13.5.1
Um ein hohes Qualitätsniveau zu erreichen, müssen RCTs eine Reihe methodischer Vorgaben erfüllen, z. B. Kalkulation der Stichprobengröße, klare Falldefinition und adäquate statistische Analysen (CONSORT Statement, Moher et al. 2001). Detaillierte Kenntnisse über die Qualität von Untersuchungen bilden eine wesentliche Grundlage um den Stellenwert und die Relevanz der Ergebnisse einstufen zu können. Für die Beurteilung eingeschlossener RCTs zum körperlichen Training bei Demenz wurde ein etabliertes (modifiziertes) Rating-Schema der Cochrane Library eingesetzt (Hauer et al. 2006, Latham et al. 2003). Dieses erfasst 8 Kriterien, für welche je nach Qualität pro Item 2 Punkte (alle Kriterien erfüllt), 1 Punkt (Kriterien teilweise erfüllt) bzw. 0 Punkte (Kriterien nicht erfüllt bzw. erwähnt) vergeben wurden. Die Gesamtscores1 des Qualitätsratings sind in . Tab. 13.1 (rechte Spalte) aufgeführt. Die Studien zeigten eine große Heterogenität hinsichtlich Stichprobenumfang, Methodik, Art der Intervention und motorischem Assessment. Im Durchschnitt erreichten die RCTs 6,3 (Spannweite 1–12) von maximal möglichen 16 Punkten. In der Mehrzahl der Untersuchungen zeigten sich erhebliche Qualitätsmängel; lediglich 3 Studien erhielten mehr 1
15 16
Qualität bisheriger Studien
Aus Platzgründen sind hier nur die Gesamtscores aufgeführt. Eine Übersicht mit Rating-Scores für die einzelnen Qualitätsmerkmale der Studien kann beim Autor angefordert werden.
. Tab. 13.1 Merkmale und Ergebnisse der analysierten randomisierten, kontrollierten Studien
17
Autor
Setting
n
Intervention
Ergebnisse Motorik
Methodischer Qualitätsscore
18
Pomeroy 1993
P
24
Übungen im Sitzen (G) und Mobilitätstraining (I) vs. K: Eins-zueins Interaktion
Mobilität ↑ (Baseline Gruppenunterschiede)
5
Tappen et al. 1994
P
72
1: BADL-Training (G) vs. 2: allgemeine körperliche Aktivierung (G) vs. K: Reguläre Pflege
Selbstversorgung und ADL ↑ in 1 im Vergleich zu K
8
Frances 1995
P
12
Training untere Extremität (G) vs. K: Singen
Balance: PE, ∅ Funktionelle Leistung: PE, ∅, n. s.
1
19 20
13
173 13.5 · Ergebnisse randomisierter, kontrollierter Studien zur Effektivität von ...
. Tab. 13.1 Fortsetzung Autor
Setting
n
Intervention
Ergebnisse Motorik
Methodischer Qualitätsscore
Pomeroy et al. 1999
T
81
Kraft- und Funktion (I) vs. K: Eins-zu-eins Interaktion
Mobilität: n. s. Gehen: n. s.
5
Tappen et al. 2000
P
71
1: Gehen und Sprechen vs. 2: Gehen vs. K: Sprechen
Ganggeschwindigkeit ↓ in allen Gruppen, geringster Rückgang in 2
6
Buettner 2002
P
25
Kraft- und Funktion (G) vs. K: Reguläre Pflege
Kraft: PE, ∅ Maximale Gehstrecke: PE, ∅
2
Cott et al. 2002
P
86
1: Gehen und Sprechen vs. 2: nur Sprechen vs. K: keine Intervention
Gehen: n. s. Körperliche Einschränkungen: n. s.
7
Buettner u. Ferrario 2003
P
26
NDSP (körperliches Training und soziale Interaktion, G) vs. K: reguläre Pflege
Funktionelle Leistung: PE, ∅, n. s. Gehen: PE, ∅
4
Toulotte et al. 2003
n. a.
20
Krafttraining im Sitzen; Balance und Funktion (G) vs. K: tägliche Routine
Funktionelle Leistung: ↑, ∅
8
Shaw et al. 2003
S
308
Kraft und Funktion (H, I), Optimierung von Medikation, Hilfsmitteln etc. vs. K: reguläre Pflege
Funktionelle Leistung ↑
11
Teri et al. 2003
Z
153
RDAD, bestehend aus Kraftund Funktionstraining (H, I), Schulung von Pflegepersonal vs. K: Pflege
Motorische Leistung: n. a. Nach 3 u. 24 Monaten: ↑ weniger Aktivitätseinschränkungen
10
Stevens u. Killeen 2006
P
75
1: Training zu Musik (G) vs. 2: Gespräch vs. K: keine Intervention
Körperliche Einschränkungen: n. s. Selbstversorgung: ↑
6
Rolland et al. 2007
P
134
Kraft und Funktion (G) vs. K: Routinepflege
BADL ↓ Rückgang nach 6 u.12 Monaten Ganggeschwindigkeit ↑ Funktionelle Leistung: n. s. Balance: n. s.
12
Netz et al. 2007
T
29
Kraft und Funktion (G) vs. K: Gruppenaktivität
Funktionelle Leistungen n. s.
6
Kwak et al. 2007
Z
30
Kraft und Funktion (G) vs. K: n. a.
ADL ↑ Funktionelle Leistungen ↑
3
ADL Activities of daily living, BADL Basic Activities of daily living, D Programmdauer, F Frequenz, G Gruppentraining, I individuelles Training, H Heimtraining, K Kontrollgruppe, NDSP Neuro-developmental Sequencing Program, n. s. nicht signifikanter Unterschied, P Pflegeheim, PE positiver Effekt, keine Daten oder Statistik angegeben, RDAD heimbasiertes Patienten- und Pflegekräftetraining, S Sonstige, T Sitzungsdauer, Z zu Hause lebend, ↑ signifikante Verbesserung, ∅ unvollständige oder widersprüchliche Daten/Analysen, ↓ signifikanter Rückgang
174
1 2 3 4 5 6 7 8 9
Kapitel13·EffektivitätvonkörperlichemTrainingzurVerbesserungmotorischerLeistungenbeiPatientenmitdemenziellerErkrankung
13.5.2
als die Hälfte der maximalen Punktzahl (Shaw et al. 2003, Tappen et al. 1994, Teri et al. 2003, Toulotte et al. 2003). Gehäuft traten als Defizite u. a. 4 unzureichende Stichprobengrößen (<30 pro Studiengruppe; Buettner 2002, Cott et al. 2002, Frances 1995, Pomeroy 1993, Tappen 1994, 2000, Toulotte et al. 2003, Netz et al. 2007), 4 nicht standardisierte Assessmentmethoden (Buettner 2002, Buettner u. Ferrario 2003, Frances 1995, Pomeroy et al. 1999, Tappen 1994, Tappen et al. 2000, Teri et al. 2003, Toulotte et al. 2003) und 4 keine bzw. unvollständige Beschreibung der statistischen Methoden (Buettner 2002, Buettner u. Ferrario 2003, Cott et al. 2002, Frances 1995, Pomeroy et al. 1999, Tappen 1994, Toulotte et al. 2003, Stevens u. Killeen 2006) auf. Eine Reihe von RCTs erfüllte damit die geforderten Qualitätskriterien nur unzureichend. Diese methodischen Unzulänglichkeiten limitierten die Beurteilung der Studien.
Anpassung bisheriger Interventionsprogramme an den kognitiven Status der Teilnehmer
Körperliche Trainingsprogramme müssen dem Grad der kognitiven Einschränkung angepasst werden. Verschiedenen Demenzstadien bedürfen differenzierter Trainingsansätze und Zielsetzungen (. Abb. 13.3). In den bislang publizierten RCTS variierte der durchschnittliche kognitive Status der Teilnehmer deutlich; er reichte von stark fortgeschrittener (Mittelwert Mini Mental State Examination (MMSE) 2,6; Buettner 2002) bis hin zu mittelschwerer Einschränkung (Mittelwert MMSE 16,8; Teri et al. 2003). Häufig wurden Patienten mit sehr unterschiedlichem Schädigungsgrad eingeschlossen (Buettner u. Ferrario 2003, Cott et al. 2002, Pomeroy et al. 1999, Tappen et al. 2000, Tappen 1994, Teri et al. 2003, Toulotte et al. 2003, Rolland et al. 2007). Inwieweit bei der Vermittlung von Trainingsinhalten der Grad der kognitiven Einschränkung und
10 11 12 30
13
–2
7
14 15 16 17 18
26
–1
Sportliche Aktivitäten, gezieltes körperliches Training (z.B. Kraftund Funktionstraining)
7
MM
SE
-W ert
Kraft- und Funktionstraining mit demenzspezifischer Methodik
16
–1
0
Erhaltendes Training, Schulung der Basisaktivitäten des täglichen Lebens
19 20
Kognitiv Intakt . Abb. 13.3 Anpassung des körperlichen Trainings an den kognitiven Status
<1
0
Allgemeine Aktivierung, Palliativtherapie
Fortgeschrittene Schädigung
175 13.5 · Ergebnisse randomisierter, kontrollierter Studien zur Effektivität von ...
psychosoziale Aspekte der Erkrankung berücksichtigt wurden, ging aus der Methodik bislang publizierter Studien nicht deutlich hervor. Unklar blieb, wie ein heterogenes Teilnehmerfeld in ein Gruppensetting integriert wurde. Die Autoren gaben in diesem Zusammenhang Limitierungen der eingesetzten Trainingsprogramme an, welche möglicherweise die mangelnde Effektivität erklären (Toulotte et al. 2003). Bei der Konzeption neuer Trainingsprogramme ist eine Differenzierung der Trainingsinhalte und Methodik in Abhängigkeit vom kognitiven Status notwendig (. Abb. 13.3). Herkömmliche Kraftund Balancetrainingsprogramme, wie sie bei kognitiv intakten, älteren Menschen bereits erfolgreich etabliert sind, können vermutlich auch bei leichten bis mittelgradigen kognitiven Defiziten eingesetzt werden. Allerdings müssen psychosoziale Aspekte der Erkrankung beachtet und entsprechende methodische/pädagogische Techniken in Programme integriert werden (7 Kap. 13.6). Bei Patienten mit schwerer kognitiver Einschränkung sind vergleichbare Trainingsprogramme kaum durchführbar. In dieser Krankheitsphase sollte der Schwerpunkt auf fertigkeitsorientierten Trainingsinhalten (Basisaktivitäten des täglichen Lebens) und einer allgemeinen Aktivierung (Palliativtherapie) liegen
13
(Buettner 2002, Buettner u. Ferrrario 2003, Cott et al. 2002).
13.5.3
Inhalte bisheriger Interventionen
Für ein effektives Training von motorischen Leistungen müssen Programme mit adäquaten Inhalten, hinreichendem Umfang und ausreichender Intensität durchgeführt werden (de Vos 2005). Die bisherigen Interventionen erfüllen diese Forderung nur zum Teil. Die Interventionsansätze in den analysierten RCTs waren heterogen und unterschieden sich zum Teil deutlich hinsichtlich Inhalt, Dauer und Umfang (. Tab. 13.1). Häufig wurde Gehen bzw. Gangtraining eingesetzt (Buettner 2002, Pomeroy et al. 1999, Shaw et al. 2003, Tappen 1994, Tappen et al. 2000, Toulotte et al. 2003, Rolland et al. 2007). Des Weiteren kamen verschiedene Trainingsmethoden für Kraft, Balance, Flexibilität (Buettner 2002, Pomeroy et al. 1999, Shaw et al. 2003, Teri et al. 2003, Toulotte et al. 2003, Stevens u. Killeen 2006, Netz et al. 2007, Rolland et al. 2007) und funktionelle Fertigkeiten (Tappen 1994) zum Einsatz. Die Programme wurden 30–150 min, 2 bis 7 Tage über einen Zeitraum von 2 bis 52 Wochen durchgeführt.
. Abb. 13.4a,b Interventionsprogramme können sich hinsichtlich Trainingsinhalten und Intensität deutlich unterscheiden. a Unspezifische Hockergymnastik, b spezifisches Training der dynamischen Balance
176
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Kapitel13·EffektivitätvonkörperlichemTrainingzurVerbesserungmotorischerLeistungenbeiPatientenmitdemenziellerErkrankung
Die Interventionen waren in den RCTs nicht ausreichend beschrieben, insbesondere das gewählte Intensitätsniveau blieb weitgehend unklar. Überwiegend kamen unspezifischen Übungen (Gehen im Pflegeheim, Übungen im Sitzen; Tappen et al. 2000, Cott et al. 2003, Pomeroy 1993, Tappen 1994, Frances 1995, Toulotte et al. 2003, Stevens u. Killeen 2006, Netz et al. 2007, Kwak et al. 2007) zum Einsatz, die nicht den Kriterien eines evidenzbasierten motorischen Trainings entsprachen (Sherrington et al. 2008).
13.5.4
Messmethoden und Studienendpunkte
Motorische Studienendpunkte bilden mögliche Effekte eines körperlichen Trainings ab. In den RCTs wurden Kraft- und Beweglichkeitsparameter, funktionelle Leistungen (Gehen, Balance) sowie motorische Gesamtscores (z. B. Aktivitäten des täglichen Lebens) als Studienendpunkte definiert. Mehrheitlich wurden die Ganggeschwindigkeit (Buettner u. Ferrario 2003, Cott et al. 2002, Pomeroy et al. 1999, Tappen et al. 2000, Teri et al. 2003, Toulotte et al. 2003, Rolland et al. 2007) bzw. andere Gangparameter (maximale Gehstrecke, Buettner 2002; Gangdefizite, Frances 1995, Shaw et al. 2003) angegeben. Aus der Methodik der Untersuchungen ging jedoch nicht deutlich hervor, ob die maximale oder habituelle Geschwindigkeit gemessen wurde und die Untersuchungen standardisiert abliefen (Buettner 2002, Buettner u. Ferrario 2003, Tappen et al. 2000, Teri et al. 2003, Toulotte et al. 2003, Rolland et al. 2007). Darüber hinaus blieb unklar, inwiefern Modifikationen von Testprotokollen, beispielsweise verbale Unterstützung oder personelle Hilfestellung (Pomeroy et al. 1999, Tappen et al. 2000) sowie Hilfsmitteleinsatz (Buettner u. Ferrario 2003), die Resultate beeinflusst haben. Teilweise wurden motorische Studienendpunkte in der Methodenbeschreibung angegeben, aber hierzu keine Ergebnisse aufgeführt (Buettner u. Ferrario 2003, Teri et al. 2003). Für die Erfassung von Trainingseffekten bedarf es valider und sensitiver Messmethoden. Entsprechende Qualitätskriterien wurden in den RCTs nur unzureichend bzw. gar nicht erfüllt. Überwie-
gend kamen Tests zum Einsatz, die nur für kognitiv intakte Personen validiert und etabliert waren. Lediglich Pomeroy et al. (1993) gab eine Referenz für die Validität des eingesetzten Instrumentes (Southampton Mobility Assessment) bei demenziell Erkrankten an. Der Einsatz herkömmlicher motorischer Testverfahren (z. B. Tinetti-Test, Timed-up-and-goTest) ist bei kognitiv leicht bis mittelschwer geschädigten Patienten möglich. Dagegen scheint die Validität dieser Methoden bei fortgeschrittener kognitiver Einschränkung fraglich. Motorische Testungen setzen voraus, dass Teilnehmer die Anweisungen verstehen und adäquate Aktionen durchführen. Bei demenziell erkrankten Patienten kann der Messablauf aufgrund eingeschränkter Exekutivfunktionen sowie limitierter Gedächtnis-, und Aufmerksamkeitsleistungen beeinflusst werden. Auf derartige Methodikprobleme sind möglicherweise eine Reihe negativer Studienergebnissen zurückzuführen (Hauer et al. 2008). Ferner wurden in den RCTs teilweise Instrumente eingesetzt, die spezifische motorische Leistungen nur unzureichend abbilden. Beispielsweise merkt Tappen (1994) an, dass Messungen über den Performance Test of Daily Living möglicherweise nicht sensitiv sind um trainingsinduzierte Veränderungen der Motorik zu messen. In einigen Fällen wurden zudem unzweckmäßige Methoden verwendet. Beispielsweise wurde das für Balance und Gang konzipierte Performance Oriented Motor Assessment fälschlicherweise zur Kraftmessung eingesetzt (Frances 1995).
13.5.5
Ergebnisse bisheriger Studien
Untersuchungsergebnisse zu motorischen Ergebnissen in den bisherigen Studien sind in . Tab. 13.1 aufgeführt. Am häufigsten wurden Trainingseffekte über Gangparameter abgebildet. In 2 Studien zeigten sich verbesserte Gang- bzw. Balanceleistungen im Tinetti´s Performance Oriented Motor Assessment (Frances 1995, Shaw et al. 2003). Über quantitative Gangverbesserungen berichteten Buettner (2002) in Form einer verlängerten Gehstrecke bzw. Rolland et al. (2007) in Form einer erhöhten Ganggeschwindigkeit. Nicht signifikante Ergeb-
177 13.5 · Ergebnisse randomisierter, kontrollierter Studien zur Effektivität von ...
nisse zeigten sich bei Cott et al. (2002) und Pomeroy et al. (1999). In vier RCTs waren Ergebnisse zu Gangparametern nur unvollständig abgebildet (Buettner 2002, Buettner u. Ferrario 2003, Teri et al. 2003, Toulotte et al. 2003). In einer dreiarmigen Untersuchung mit 3 »Walking-Gruppen« wurde ein Rückgang der Ganggeschwindigkeit in allen Gruppen beobachtet, welcher jedoch in der »Walkonly-Gruppe« höher ausfiel als in der »Walk-andtalk-Gruppe« (Tappen et al. 2000). In 4 Untersuchungen zeigte sich eine Verbesserung von Kraft- und Funktionsleistungen (Buettner 2002, Buettner u. Ferrario 2003, Frances 1995, Toulotte et al. 2003). Bei Pomeroy (1993) ergaben sich nach einer physiotherapeutischen Intervention signifikant verbesserte Mobilitätsleistungen (Southampton Mobility Assessment). Dieses Ergebnis konnte in einer ähnlichen Studie mit verkürzter Programmdauer jedoch nicht bestätigt werden (Pomeroy et al. 1999). In den jüngeren Untersuchungen zeigten sich kontroverse Ergebnisse bei Kraft- und Funktionsparametern. Während Kwak et al. (2007) über signifikante Zugewinne bei motorisch-funktionellen Parametern (Kraft, Beweglichkeit, Balance) berichteten, zeigten sich in den RCTs von Netz et al. (2007) und Rolland et al. (2007) keine Steigerungen. Tappen (1994) berichtete über Verbesserungen im funktionellen Status der Patienten (Physical Self-Maintenance Scale und Goal Attainment Scale), jedoch nicht bei ADL-Leistungen (Performance Test of Daily Living). Auch bei Rolland et al. (2007) kam es während und nach der 12-monatigen Intervention zu einer Reduktion des ADL-Scores sowohl in der Trainings- als auch Kontrollgruppe, wenngleich der Rückgang in der Interventionsgruppe nach 12 Monaten signifikant geringer war. Hingegen zeigte sich in einer multifaktoriellen Interventionsstudie von Teri et al. (2003) eine verminderte Aktivitätseinschränkung der Patienten. Dem gegenüber standen nicht signifikante Ergebnisse von Stevens u. Killeen (2006) hinsichtlich körperlicher Einschränkung nach Intervention. Gleichzeitig gaben die Teilnehmer dieser Untersuchung jedoch signifikant verbesserte Fähigkeiten zur Selbstversorgung an. Die beiden umfangreichsten Interventionsstudien (Shaw et al. 2003, Teri et al. 2003) wiesen nur ein limitiertes motorisches Assessment auf. Der
13
multifaktorielle Ansatz dieser beiden Untersuchungen ließ keine eindeutige Beurteilung der Effektivität körperlichen Trainings zu.
13.5.6
Schlussfolgerungen aus der Literaturanalyse
Insgesamt zeigt die Analyse bisher publizierter RCTs widersprüchliche Ergebnisse. Damit existiert bislang keine ausreichende Evidenz für die Effektivität von körperlichem Training zur Verbesserung von motorischen Leistungen bei demenziell Erkrankten. Es bleibt weiterhin ungeklärt, ob mangelnde Trainingserfolge auf ein unzureichendes Rehabilitationspotenzial kognitiv Geschädigter oder auf die teilweise erheblichen, methodische Defizite bisheriger RCTs zurückzuführen sind. Verschiedene Autoren diskutieren methodische Einschränkungen (z. B. fehlende statistische Power, Verschmutzung der Intervention durch ergänzende Trainingsmaßnahmen in Pflegeheimen, hohe Variabilität der Studienendpunkte, Cott et al. 2002, Pomeroy 1993, Pomeroy et al. 1999, Tappen 1994) und insbesondere Limitierungen der Trainingsansätze als mögliche Ursachen für mangelnde Effektivität. Folgende Aspekte werden häufig angeführt: 4 unspezifischer Trainingsansatz, keine adäquate Trainingsbelastung, fehlende psychosoziale Komponenten, kein individuell angepasstes Training (Pomeroy 1993, Shaw et al. 2003, Tappen 1994, Cott et al. 2002, Netz et al. 2007, Stevens u. Killeen 2007) 4 unzureichende Adhärenz der Teilnehmer, möglicherweise als Zeichen einer unangepassten Trainingsintervention (Pomeroy 1993, Shaw et al. 2003, Tappen et al. 2000, Rolland et al. 2007) 4 ineffektives Training aufgrund mangelnder Unterstützung bzw. Überforderung von Personal (Buettner u. Ferrario 2003, Cott et al. 2002, Pomeroy et al. 1999, Netz et al. 2007) 4 nicht validierte, unspezifische Messmethoden (Netz et al. 2007) Bislang fehlen methodisch hochwertige RCTs mit Trainingskonzepten, welche in psychosozialer Hinsicht die verbliebenen Ressourcen, aber auch die
178
1 2 3
Kapitel13·EffektivitätvonkörperlichemTrainingzurVerbesserungmotorischerLeistungenbeiPatientenmitdemenziellerErkrankung
Defizite demenziell Erkrankter berücksichtigen. Im Folgenden wird ein demenzspezifischer körperlicher Trainingsansatz vorgestellt, welcher im Rahmen eines RCTs am Bethanien-Krankenhaus/ Geriatrisches Zentrum am Klinikum der Universität Heidelberg (Projektleiter PD. Dr. Klaus Hauer) evaluiert wurde.
4 13.6
5 6 7 8 9 10 11 12 13 14
Neuer demenzspezifischer, körperlicher Trainingsansatz
Am Bethanien-Krankenhaus/Geriatrisches Zentrum am Klinikum der Universität Heidelberg wurde eine der weltweit größten Trainingsstudien (RCT) mit demenziell erkrankten Patienten durchgeführt2. Hauptfragestellung war, ob über ein neu entwickeltes, demenzspezifisches körperliches Trainingsprogramm motorische Leistungen (nachhaltig) verbessert werden können. Sekundäre Fragestellungen betrafen die Wirkung der Trainingsintervention auf den kognitiven und emotionalen Status, die Bewegungsaktivität sowie die Motivation und Akzeptanz bezüglich der Teilnahme an Bewegungsprogrammen. Im folgenden Abschnitt wird der neu entwickelte, demenzspezifische Trainingsansatz vorgestellt. Anschließend werden erste Ergebnisse zu Trainingseffekten auf motorische Leistungen angeführt.
13.6.1
Entwicklung eines neuen Trainingsansatzes
15 16 17 18 19 20
Das in der Heidelberger Studie durchgeführte Training begründete sich auf eine Analyse spezifischer Defizite und Ressourcen demenziell erkrankter, gebrechlicher Menschen. Im Gegensatz zu bislang publizierten Studien (7 Kap. 13.5) wurden in dem neuen Trainingsansatz auch demenzspezifische motorisch-kognitive Defizite gezielt trainiert. Bei der Entwicklung konnte auf die Erfahrung und Methodik früherer erfolgreicher Interventionsstudien zurückgegriffen werden, in denen sich körperliche Leistungen und emotionaler Status ver-
2
Laufzeit 2005–2009
besserten und das Sturzrisiko verringerte (Hauer et al. 2001, 2002, 2003). Zudem zeigte sich in diesen Untersuchungen eine hohe Trainingsakzeptanz und -adhärenz. Das Programm wurde in einer Pilotphase bei kognitiv geschädigten Patienten weiterentwickelt. Das evaluierte Trainingsprogramm bestand aus 3 Bausteinen (. Abb. 13.5). Grundlage bildete ein etabliertes, progressives Kraft- und Funktionstraining. Als wesentliche Neuerung im Vergleich zu vorangegangenen Untersuchungen wurden demenzspezifische, motorisch-kognitive Aufmerksamkeitsleistungen (Dual-Task-Leistungen) trainiert. Darüber hinaus hatten psychosoziale Aspekte bei der Trainingsorganisation und der Übungsvermittlung einen hohen Stellenwert. Aufbauend auf der Literaturanalyse bislang publizierter RCTs und den dabei vorgefundenen psychosozialen Limitierungen der Trainingsansätze (7 Kap. 13.5), wurde eine demenzspezifische Trainingsmethodik und -pädagogik entwickelt (Schwenk et al. 2008). Im Folgenden werden die 3 Bausteine des Trainingsprogramms beschrieben.
Kraft- und Funktionstraining Wie andere Hochbetagte, sind demenziell erkrankte Patienten häufig multimorbide, gebrechlich und zeigen einen deutlichen Verlust motorischer Leistungen. Kraft- und Balancedefizite sowie der Verlust von motorischen Alltagsleistungen tragen zu einem hohen Sturzrisiko bei. Entsprechend umfasste das evaluierte Trainingsprogramm ein progressives, standardisiertes Training der Kraft (Kräftigung von Muskelgruppen und -ketten, die für Alltagshandlungen und die Gleichgewichtskontrolle relevant sind), funktioneller Leistungen des Alltags (Gehen, Hinsetzen, Treppensteigen) und der posturalen Kontrolle (statisches und dynamisches Balancetraining; vgl. Schwenk 2008). Das Training wurde unter Berücksichtigung psychosozialer und demenzpezifischer methodischer Gesichtspunkte durchgeführt (vgl. Baustein 3 des Traininigsprogramms). Ziel dieser Intervention war eine Verbesserung von motorischen und funktionellen Leistungen, um die Selbstständigkeit und die mobilitätsassoziierte Lebensqualität der Patienten zu erhalten sowie Folgestürze zu reduzieren.
179 13.6 · Neuer demenzspezifischer, körperlicher Trainingsansatz
. Abb. 13.5 Bausteine des neu entwickelten Trainingsprogramms für demenziell Erkrankte
Demenzspezifischer körperlicher Trainingsansatz
Progressives Kraft-und Funktionstraining
Training motorisch-kognitiver Komplexleistungen (Dual Tasks)
13
Demenzspezifische psychosoziale Aspekte
. Abb. 13.6 Training der unteren Extremität (Extensorengruppe)
Schulung motorisch-kognitiver Komplexleistungen – Dual-Task-Training Aufgrund ihrer Bedeutung bei Demenz (7 Kap. 13.3), wurden in die Heidelberger Studie, erstmals im Rahmen eines RCTs mit demenziell Erkrankten, aufmerksamkeitsabhängige Leistungen sowohl in das Training wie auch in das Assessment aufgenommen. Motorische (Gehen) und kognitive Aufgaben wurden simultan trainiert und computergestützt objektiviert (Ganganalyse, digitale Aufzeichnung von kognitiven Leistungen). Die kognitive Zusatzbelastung war zum Interventionsbeginn gering (z. B. vorwärts zählen in 2er-Schritten) und wurde bei sicherer Aufgabenbeherrschung progredient erschwert (z. B. rückwärts zählen in 3erSchritten). Neben motorisch-kognitiven Inhalten wurden auch simultan motorische Dual Tasks (z. B. Gehen und Zuspielen eines Luftballons, Gehen und Ball-Zuprellen) in die Trainingspraxis integriert.
. Abb. 13.7 Dual-Task-Training: Gehen mit gleichzeitiger Rechenaufgabe
Demenzspezifischer psychosozialer Ansatz Kognitive Leistungen, welche für die Durchführung eines motorischen Trainings wesentlich sind, werden durch die Erkrankung teilweise erheblich beeinträchtigt. Die Defizite betreffen u. a. Gedächtnis, Orientierung, Auffassung, Lernfähigkeit, Sprache und Exekutivfunktionen (ICD 10, 2006). Die Erkrankten zeigen häufig Antriebsverarmung und mangelnde Eigeninitiative. Für ein effektives Training wurden deshalb folgende methodische
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Gesichtspunkte in den neuen Trainingsansatz integriert (Schwenk et al. 2008): 4 Training in der Kleingruppe (4 bis 6 Personen) 4 Organisationsformen mit Möglichkeiten zur Binnendifferenzierung (individuelle Trainingsbelastung einzelner Teilnehmer) 4 Verwendung einfach strukturierter Übungen 4 behutsame Steigerung des Schwierigkeitsgrades 4 häufige Wiederholung von motorischen Handlungen 4 Betonung von kleinen Trainingsfortschritten 4 demenzspezifische Kommunikation zur Übungsvermittlung (verbal, nonverbal) Ein vertrauter Rahmen und stabile Bezugspersonen waren von zentraler Bedeutung. Der Wechsel zwischen einer Wiederholung vertrauter Übungselemente und neuen Lernsituationen mit zunehmend komplexeren Anforderungen wurde dem Lerntempo der Studienteilnehmer angepasst. Aufgrund möglicher Störungen der verbalen Informationsübertragung (Empfangen, Verstehen, Behalten, Sprachdarbietung; Haberstroh 2006) hatte das Anleiten von Übungen einen hohen Stellenwert. Es wurden demenzspezifische verbale und nonverbale Kommunikationsmethoden (z. B. kurze Anweisungen, positive Formulierung, Spiegeln von Bewegungen, taktile und rhythmische Unterstützung) verwendet, welche das Anleiten von motorischen Handlungen unterstützten (Oddy 2003, Schwenk et al. 2008).
15 13.6.2
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Kapitel13·EffektivitätvonkörperlichemTrainingzurVerbesserungmotorischerLeistungenbeiPatientenmitdemenziellerErkrankung
Evaluation des Trainingsprogramms im Rahmen einer kontrollierten, randomisierten Studie
Die Evaluation des neuen Trainingsansatzes erfolgte im Rahmen eines RCTs, in welchen 122 ältere (Durchschnitt: 82 Jahre), leicht bis mittelgradig kognitiv eingeschränkte Patienten mit Demenzdiagnose nach international etablierten Kriterien (NINCDS-ADRDA bzw. NINDS-AIREN, McKhann 1984, Roman 1993) eingeschlossen wurden. Im Gegensatz zu bisherigen Untersuchungen (7 Kap. 13.5) war die Teilnehmergruppe hin-
sichtlich dem Grad der kognitiven Einschränkung homogen (MMSE Spannweite: 26–17). Das Trainingsprogramm erstreckte sich über einen Zeitraum von 3 Monaten, 2-mal/Woche, 2 Stunden. Die Kontrollgruppe führte eine unspezifische Hockergymnastik durch (3 Monate, 2-mal/Woche, 1 Stunde). Untersuchungen erfolgten zu Anfang und Ende der Intervention. Des Weiteren wurden zur Überprüfung der Nachhaltigkeit des Trainingsansatzes Kurzzeit-Untersuchungen (nach 3 Monaten) und Langzeit-Untersuchungen (nach 9 Monaten) durchgeführt. Für alle Messungen wurden validierte Instrumente verwendet, die meistens bereits in der Arbeitsgruppe erfolgreich angewendet wurden. Ein ausführliches Studienprotokoll des RCTs findet sich bei Hüger (2009). Im Folgenden werden erste Studienergebnisse kurz aufgeführt. Eine ausführliche Darstellung erfolgt im Rahmen von Publikationen, die derzeit vorbereitet werden. An dieser Stelle werden lediglich Ergebnisse für den motorischen Status sowie für motorisch-kognitive Komplexleistungen (Dual Tasks) vorgestellt. Für Ergebnisse hinsichtlich des psychischen und kognitiven Status, körperlichen Aktivitätsniveaus u. a. wird auf die anstehenden Veröffentlichungen verwiesen. Die Adhärenz war mit 93 % Teilnahme an den Trainingseinheiten für die Kontrollgruppe und 94 % für die Interventionsgruppe für dieses multimorbide, hochbetagte, kognitiv geschädigte Kollektiv überdurchschnittlich hoch. Die Drop-out-Quote betrug für die Interventionszeit 13 %. Es konnten signifikante Steigerungen der Kraft und funktioneller Schlüsselqualifikationen wie Gehen und Transferleistungen durch das spezifische Trainingsprogramm erreicht werden (. Tab. 13.2). Die Verbesserungen blieben auch in einer Nachbeobachtungszeit von 3 Monaten erhalten und sind vergleichbar mit den Ergebnissen von Trainingsstudien bei Patienten ohne Demenz (Hauer 2001, 2002, 2003). Neben den positiven motorischen Ergebnissen konnten weltweit erstmals auch signifikante Trainingseffekte auf motorisch-kognitive Komplexleistungen (Dual Tasks) nachgewiesen werden. Dabei verbesserten sich die Studienteilnehmer in ihrer Leistungsfähigkeit beim simultanen Ausführen einer motorischen (Gehen) und kognitiven (Rech-
181 13.7 · Fazit und Ausblick
. Tab. 13.2 Trainingseffekte auf den motorischen Status Leistungsparameter
Effekte nach Trainingsende
Effekte 3 Monate nach Training
Dynamische Maximalkraft untere Extremität
↑
↑
Statische Maximalkraft untere Extremität
↑
↑
Transfer von Stuhl (5-chair-rise Test)
↑
↑
Treppensteigen
↑
PE
Ganggeschwindigkeit
↑
↑
Funktionelle Leistung (Tinetti)
↑
↑
Funktionelle Leistung (Timed-upand-go-Test)
↑
PE
PE positiver Effekt, jedoch nicht signifikant,↑ signifikante Verbesserung (p<0.05) im Vergleich zur Kontrollgruppe
. Tab. 13.3 Trainingseffekte auf motorisch-kognitive Komplexleistungen (Dual Tasks) Leistung unter Dual-Task-Bedingungen (Gehen und in 3erSchritten Rückwärtszählen)
Effekte nach Trainingsende
Ganggeschwindigkeit
↑
Schrittlänge
↑
Dynamische Balance (Einbeinstandphase)
↑
Kognitive Leistung (Rechnen)
PE
Dual-Task-Gesamtleistung (motorisch + kognitiv)
↑
PE positiver Effekt, jedoch nicht signifikant,↑ signifikante Verbesserung (p<0.05) im Vergleich zur Kontrollgruppe
nen) Aufgabe (. Tab. 13.3). Im Rahmen der vorliegenden Untersuchung ist es damit gelungen, einen Nachweis für die Trainierbarkeit von aufmerksam-
13
keitsabhängigen motorischen Leistungen im entsprechenden Patientenkollektiv zu liefern.
13.7
Fazit und Ausblick
Die Ergebnisse der Heidelberger Demenztrainingsstudie belegen die körperliche Trainierbarkeit leicht bis mittelschwer erkrankter demenzieller Patienten. Besondere Bedeutung für den Trainingserfolg hatte das demenzspezifische Trainingssetting, das auf psychosoziale, kommunikative und kognitionswissenschaftliche Aspekte aufgebaut war. Die Studienergebnisse sind hochrelevant für die Bewertung des Rehabilitationspotenzials demenziell erkrankter Personen. Bislang gilt eine demenzielle Erkrankung vielfach als Ausschlussgrund für Rehabilitationsmaßnahmen. Die vorliegenden Studienergebnisse weisen – im Gegensatz zu der bislang wenig evidenzbasierten Diskussion – auf das hohe Rehabilitationspotenzial dieser Patientengruppe hin. Zudem sind die positiven Ergebnisse des aufmerksamkeitsorientierten Dual-Task-Trainings ein erster Schritt in die Richtung eines demenzspezifischen Trainingsansatzes, welcher kognitive und motorische Ansätze erfolgreich verbindet. Bislang existieren auf nationaler wie internationaler Ebene keine Richtlinien zum Training bei Patienten mit demenzieller Erkrankung. Als wichtigen Schritt, die erfolgreichen Forschungsergebnisse in die Praxis umzusetzen, wurde in einem Modellvorhaben mit dem Badischen Behindertensportverband (stellvertretend für den deutschen Behindertensportverband) eine Übungsleiterausbildung für Trainer im Bereich »Sport mit demenziell Erkrankten« entwickelt und in ersten Modelllehrgängen umgesetzt. Langfristiges Ziel ist die Etablierung eines demenzspezifischen Trainingsangebots in der Übungsleiterausbildung auf nationaler Ebene wie auch in Ausbildungseinrichtungen zu Pflege, Training und Therapie. Zudem ist die Einrichtung von benutzerorientierten Informationsmedien (Webseite) zum Thema »körperliches Training – Aktivierung bei demenzieller Erkrankung« geplant. Auf Basis der vorgefundenen positiven Ergebnisse entstehen eine Reihe neuer Fragestellungen. Von hoher Bedeutung ist der Transfer von motorischen Leistungsgewinnen in den Alltag. Aus den
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Kapitel13·EffektivitätvonkörperlichemTrainingzurVerbesserungmotorischerLeistungenbeiPatientenmitdemenziellerErkrankung
Ergebnissen bisher publizierter RCTs geht nicht hervor, welcher Benefit (z. B. verbesserte Verrichtung von Alltagstätigkeiten, erhöhte körperliche Alltagsaktivität) durch verbesserte motorische Leistungen für die Patienten entsteht. Des Weiteren sind spezifische Adaptionsmechanismen, welche die entstandenen Trainingseffekte erklären, teilweise noch unbekannt und bedürfen grundlagenorientierter Forschungsprojekte. Derartigen Fragestellungen soll im Rahmen von Folgeuntersuchungen in den kommenden Jahren nachgegangen werden.
Danksagung Die Heidelberger Demenz-Trainingsstudie wurde durch die Landesstiftung Baden-Württemberg, die Dietmar-Hopp-Stiftung, die WilhemWoort-Stiftung und die Robert-Bosch-Stiftung gefördert.
Literatur 1
13.8
Zusammenfassung
Aufgrund der demographischen Entwicklungen wird die Zahl demenziell erkrankter Menschen in den nächsten Jahren in Deutschland exponentiell zunehmen. Die Erkrankung ist, neben dem Auftreten von Verhaltensauffälligkeiten, gekennzeichnet durch den Verlust kognitiver wie auch motorischer Leistungsfähigkeit. Die Betroffenen erleiden dadurch deutliche Einschränkungen ihrer mobilitätsabhängigen Lebensqualität und weisen ein hohes Risiko für Stürze/schwere Sturzfrakturen auf. Studien zur Effektivität körperlichen Trainings bzw. der funktionellen Rehabilitation weisen bei demenziell erkrankten Menschen kontroverse Ergebnisse bei zum Teil erheblichen methodischen Mängeln auf. Standardisierte Bewegungsprogramme, die sich sowohl an den spezifischen Defiziten wie auch den verbliebenen Fähigkeiten orientieren, sind bislang kaum entwickelt und wissenschaftlich evaluiert. Am Bethanien-Krankenhaus/Geriatrisches Zentrum am Klinikum der Universität Heidelberg wurde ein neues demenzspezifisches Trainingskonzept entwickelt, das psychosoziale Aspekte, verbliebene Ressourcen, aber auch Defizite demenziell Erkrankter berücksichtigt. Das neue Trainingsprogramm wurde im Rahmen einer randomisierten, kontrollierten Trainingsstudie evaluiert. Die Ergebnisse belegen, dass motorisch-funktionelle Leistungen sowie spezifische aufmerksamkeitsabhängige motorische Leistungen (Dual Tasks) bei Patienten mit beginnender bis mittelgradiger Demenz trainierbar sind.
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Kapitel13·EffektivitätvonkörperlichemTrainingzurVerbesserungmotorischerLeistungenbeiPatientenmitdemenziellerErkrankung
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Bewegungstherapie bei neurologischen Erkrankungen Carl D. Reimers, Anne K. Reimers
14.1
Multiple Sklerose – 186
14.1.1 14.1.2 14.1.3
Definition – 186 Krankheitsfolgen – 186 Bewegungstherapie – 186
14.2
Parkinson-Syndrom – 189
14.2.1 14.2.2 14.2.3
Definition – 189 Krankheitsfolgen – 189 Bewegungstherapie – 189
14.3
Schlaganfälle – 190
14.3.1 14.3.2 14.3.3
Definition – 190 Krankheitsfolgen – 192 Bewegungstherapie – 192
14.4
Querschnittslähmung – 192
14.4.1 14.4.2 14.4.3
Definition – 192 Krankheitsfolgen – 193 Bewegungstherapie – 193
14.5
Neuromuskuläre Erkrankungen – 194
14.5.1 14.5.2 14.5.3
Definition – 194 Krankheitsfolgen – 194 Bewegungstherapie – 195
14.6
Post-Poliomyelitis-Syndrom – 195
14.6.1 14.6.2 14.6.3
Definition – 195 Krankheitsfolgen – 196 Bewegungstherapie – 196
14.7
Fibromyalgie – 196
14.7.1 14.7.2 14.7.3
Definition – 196 Krankheitsfolgen – 196 Bewegungstherapie – 197
14.8
Zusammenfassung – 197
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Kapitel 14 · Bewegungstherapie bei neurologischen Erkrankungen
Neurologische Erkrankungen wie Multiple Sklerose, Parkinson-Syndrom, Schlaganfall u. a. gehen mit verschiedenen motorischen Störungen einher. Die Studienlage zu den einzelnen Problemkreisen ist unterschiedlich und die positiven Wirkungen von Bewegungstherapien sind nicht in jedem Fall ausreichend belegt. Nicht für alle der beschriebenen Erkrankungen kann eine Bewegungstherapie in gleichem Ausmaß Besserungen erzielen. Lesen Sie im folgenden Beitrag, bei welchen neurologischen Erkrankungen Bewegungstherapie mit gutem Nutzen eingesetzt werden kann und wie die jeweilige Studienlage dazu ist. In diesem Beitrag lesen Sie über: 4 die Möglichkeiten der Bewegungstherapie bei Multipler Sklerose, 4 die Möglichkeiten der Bewegungstherapie beim Parkinson-Syndrom, 4 die Möglichkeiten der Bewegungstherapie nach Schlaganfall, 4 die Möglichkeiten der Bewegungstherapie bei Querschnittslähmung, 4 Krafttraining bei neuromuskulären Erkrankungen, 4 nicht ermüdendes Krafttraining bei Post-Poliomyelitis-Syndrom.
14.1
Multiple Sklerose
14.1.1
Definition
Die Multiple Sklerose (MS) ist eine chronische Erkrankung des Zentralnervensystems, vor allem des jungen Erwachsenenalters. Es handelt sich um eine Autoimmunkrankheit mit Destruktion von Myelin, Oligodendrozyten und Axonen. Eine Behinderung resultiert u. a. aus verminderter Mobilität, Gleichgewichtsstörungen, abnormer Ermüdbarkeit sowie visuellen, kognitiven und autonomen Störungen. Der Krankheitsverlauf ist sehr variabel. Am häufigsten besteht zu Beginn der Erkrankung ein schubförmiger Krankheitsverlauf, der nach unterschiedlich langer Erkrankungsdauer bei ca. 40–60 % der Betroffenen in einen sekundär chronisch-progredienten Verlauf übergeht. Bei einer kleineren Gruppe von Patienten (ca. 5–10 %) besteht ein primär chronisch-progredienter Krank-
heitsverlauf, bei dem sich Krankheitsschübe nicht abgrenzen lassen.
14.1.2
Krankheitsfolgen
Patienten mit einer Multiplen Sklerose weisen im Mittel eine verminderte Beweglichkeit, isometrische und kinetische Muskelkraft, motorische Geschwindigkeit und Ausdauer, kardiorespiratorische Fitness und tägliche Aktivität auf. Sekundäre Folgen mangelnder körperlicher Aktivität sind Übergewicht, koronare Herzkrankheit, Diabetes mellitus, Osteoporose und Fraktur (Patienten mit einer Multiplen Sklerose haben ein 2- bis 3,4-faches Frakturrisiko durch Stürze). Drei Viertel der Patienten sind in ihrer Gehfähigkeit durch Muskelschwäche, Spastik, Tiefensensibilitätsstörungen, visuelle, zerebellare oder vestibuläre Störungen eingeschränkt. 70 % aller Patienten leiden unter einer abnormen Ermüdbarkeit, vor allem Frauen. Bei fast 40 % aller Patienten ist die abnorme Müdigkeit das am stärksten beeinträchtigende Symptom. Sie besteht häufig auch ohne vorherige körperliche Aktivität und nimmt im Verlaufe des Tages, bei höheren Temperaturen und Feuchtigkeit zu. Selbst bei geringer Erhöhung der Körpertemperatur (<1 °C) kann es zu einer vorübergehenden, meist in einer halben Stunde reversiblen Zunahme vorbestehender Störungen kommen (sog. Uhthoff-Phänomen). Die thermoregulatorischen Reflexe können beeinträchtigt sein.
14.1.3
Bewegungstherapie
Studien hoher methodischer Qualität zeigen, dass regelmäßige körperliche Aktivität bei mobilen Patienten mit Multipler Sklerose die Muskelkraft und -ausdauer, die kardiorespiratorische Fitness (aerobe Kapazität), die Belastungstoleranz, Mobilität (z. B. Änderung der Körperposition, Gehen), Feinmotorik, Lebensqualität und emotionale Befindlichkeit verbessern kann (. Tab. 14.1, mod. nach Heesen et al. 2006) und gut toleriert wird. Es gibt zudem Hinweise auf eine Hebung der Stimmung und Linderung der abnormen Ermüdbarkeit. Der Behinderungsgrad, gemessen am EDSS-Score, wurde hin-
187 14.1 · Multiple Sklerose
14
. Tab. 14.1 Fitnesstraining bei Multipler Sklerose Behinderung
Training
Keine
Keine abnorme Ermüdbarkeit, keine Temperaturempfindlichkeit
Vollständige Trainierbarkeit, kombiniertes Ausdauer- und Krafttraining in physiologischen Dimensionen, kein Extremsport
Leicht
Abnorme Ermüdbarkeit, eventuell Temperaturempfindlichkeit, leichte Gleichgewichtsstörungen
Kontrolliertes Fitnesstraining, eventuell mit vorherigem Abkühlen, Supervision zur Vermeidung von Übertraining, eingeschränkte Dauerbelastung
Mäßig
Gangstörung, Paresen, Spastik der Beine, Ataxie, Gleichgewichtsstörungen
Training entsprechend der Behinderung, Nordic Walking, häusliche Übungen, Armergometrie, Krafttraining bestimmter Muskeln, Übungen im Wasser
Schwer
Verlust täglicher Funktionen, Gehen fast unmöglich
Bewahrung der Beweglichkeit, Dehnübungen, fokussiertes Krafttraining orientiert an täglichen Herausforderungen, Yoga, aktives/passives Training der Gliedmaßen mit motorbetriebenen Geräten
Bettlägerigkeit
gegen nicht oder nur in einzelnen Studien verbessert. Es gibt keine Hinweise darauf, dass körperliche Aktivität zu häufigeren oder schwereren Schüben führt. Positive Ergebnisse liegen bisher allerdings nur für Patienten mit einem EDSS-Score von unter 6,0 vor. Selbst eine niedrigintensive Therapie kann wirksam sein. Bei Patienten mit stärkerem Behinderungsgrad sind signifikante Verbesserungen der aeroben Kapazität und anderer Körperfunktionen kaum mehr zu erwarten, möglicherweise weil die trainierbare Muskelmasse zu gering ist. In der letzten Zeit wurde wiederholt ein antiinflammatorischer Effekt körperlicher Aktivität, der den Krankheitsverlauf verlangsamen könne, vermutet. k Durchführung
Vor Beginn der Bewegungstherapie sollte eine Leistungstestung vorgenommen werden. Hierzu eignet sich besonders die Fahrradergometrie, ggf. die Armergometrie, Walking auf dem Laufband und Training im Wasser. Beginnend mit 10–25 W wird die Anforderung alle 2 bis 3 Minuten erhöht. Der Herzfrequenz- und Blutdruckanstieg kann als Folge einer kardiovaskulären autonomen Störung gerin-
Bewahrung der Beweglichkeit, überwiegend passiv, Atemtherapie
ger ausfallen als bei Gesunden. Subjektive Erschöpfung tritt – anders als bei Gesunden – oft bereits vor Erreichen der altersgemäßen maximalen Herzfrequenz ein. Empfohlen wird ein aktives Training 2- bis 3-mal pro Woche, initial eventuell über nur 10 Minuten, später über jeweils 20 bis 40 Minuten. Die Belastungsintensität kann auch schon anfangs bei 50–70 % VO2max., entsprechend 60–80 % der maximalen Herzfrequenz, liegen. Vorher sind 5 Minuten Anwärmen, hinterher 5 Minuten Abkühlen wünschenswert (. Tab. 14.2, mod. nach Bayas u. Rieckmann 2003). Neben dem aeroben Training wird ein Kraftausdauertraining empfohlen. Als Ausdauertraining, welches bereits in wenigen Wochen zu nachweisbaren Effekten führen kann, eignen sich Ergometertraining für Beine oder Arme, Schwimmen und Training im Wasser. Bei wenig beeinträchtigten Patienten kommen wie beim Gesunden auch alle anderen Bewegungsarten infrage. Zumindest am Anfang ist ein Intervalltraining sinnvoll, um Ermüdung und eine Symptomverschlechterung durch erhöhte Körpertemperatur zu vermeiden.
188
1 2 3
Kapitel 14 · Bewegungstherapie bei neurologischen Erkrankungen
. Tab. 14.2 Beispiele geeigneter Sportarten bei häufigen neurologischen Symptomen im Rahmen einer Multiplen Sklerose Symptome
Geeignete Sportart
(Spastische) Paresen
Schwimmen Gymnastische Übungen
4
Leichte Ballspiele
5
Reiten (hierdurch auch negative Auswirkungen auf Spastik beschrieben)
6
Zerebellare Symptome
7 8
Reiten Gleichgewichts-/ Koordinationsstörungen
9 Sensibilitätsstörungen
Spiele auf z. B. Matten, Teppich, Gras, Sand
Trampolinübungen
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15
Rhythmische Bewegungen zu Musik
Einsatz verschieden strukturierter Materialien, z. B. bei Ballspielen
12
14
Radfahren (ebenes Gelände bzw. Heimtrainer)
Übungen mit geeigneten Sportgeräten, z. B. dem Doppelpedalo Reiten
10 11
Schwimmen/gymnastische Übungen im Wasser
UhthoffPhänomen
Wassersportarten/-übungen
Sehstörungen
Heimtrainer Laufband
16 17 18 19 20
4 Übungen im Wasser (Schwimmen, Aquafitness und Aquajogging) sind exzellent geeignete Trainingsformen, besonders bei Ataxie. Bei Training im Wasser sind Temperaturen um 27–29 °C optimal, weil sie eine Körpererwärmung mit einem Uhthoff-Phänomen (transiente Symptomverschlechterung durch Körpererwärmung) verhindern. Weitere Vorteile des Wassers sind die Reduktion der Effekte der Schwerkraft und der Lähmungen durch den Auftrieb. Im brusthohen Wasser können
Personen mit Gleichgewichtsstörungen besser die Balance halten als an Land. Temperaturen unter 27 °C können eine Spastik verstärken. Für das Ausdauertraining werden Intensitäten von 65–75 % der maximalen Herzfrequenz oder 50–70 % der maximalen Sauerstoffaufnahme empfohlen. Faustregel: Ziel-Herzfrequenz = (220 – Alter) × (0,65 bis 0,70). Für ein Krafttraining sind 3 Sätze mit jeweils 10 Wiederholungen angemessen. Bei Patienten mit einer Ataxie kann sich ein Krafttraining allerdings als kontraproduktiv erweisen. 4 Für Krafttraining eignen sich elastische Bänder, freie Gewichte und Kraftmaschinen, in Abhängigkeit vom Behinderungsgrad. Materialien aus dem täglichen Gebrauch wie z. B. PET-Flaschen bieten sich außerdem an, da sie für den Patienten leicht einen Alltagsbezug herstellen lassen. Empfohlen werden ebenfalls 2 bis 3 Trainingseinheiten pro Woche, bestehend aus 1 bis 3 Sätzen mit 8 bis 15 Wiederholungen, ähnlich wie beim Gesunden, wobei möglichst alle Körperpartien berücksichtigt werden sollten. Training im Sitzen reduziert das Sturzrisiko. Falls 15 Wiederholungen problemlos bewältigt werden, kann eine Belastungssteigerung um 2–5 % gefahrlos vorgenommen werden. . Tab. 14.1 gibt einen Überblick. Wünschenswert ist zudem eine tägliche passive Mobilisierung über den gesamten Bewegungsumfang der großen Gelenke und aktive Übungen. Täglich sollte ein 10- bis 15-minütiges Dehnprogramm vorgenommen werden, welches alle großen Muskelgruppen einschließt, vor allem die hintere Oberschenkel-, Unterschenkel- und die Rückenmuskulatur. Die Dehnung sollte langsam, schmerzfrei und lange (20 bis 60 Sekunden pro Muskelgruppe) durchgeführt werden. Auch spastische Muskeln werden eingeschlossen. Eventuell muss die Dehnung unter Hilfe eines Partners erfolgen. Manchmal sind progressive Muskelrelaxation, Yoga, tiefes Atmen oder Muskelrelaxanzien hilfreiche adjuvante Therapien. Yoga kann die Beweglichkeit verbessern und Spastik mindern, Walking, Aerobic und Tai Chi trainieren das Gleichgewicht.
189 14.2 · Parkinson-Syndrom
> Die Bewegungstherapie muss den individuellen physischen Möglichkeiten und Bedürfnissen Rechnung tragen. Sie sollte nicht an Tagen vermehrter Müdigkeit stattfinden. Da die Müdigkeit im Verlaufe des Tages zunimmt, bietet sich Bewegung in den Morgenstunden an.
Darüber hinaus ist ein Entspannungstraining zur Reduktion von Verspannungen und hypertonen Muskelzuständen, z. B. progressive Muskelrelaxation, sinnvoll. Die Bewegungstherapie in der Gruppe trägt zur Verbesserung psychosozialer Einschränkungen bei.
14.2
Parkinson-Syndrom
14.2.1
Definition
Die wesentlichen klinischen Kennzeichen des Parkinson-Syndroms sind Schwierigkeiten bei der Bewegungsinitiierung (Akinesie), Verminderung der Bewegungsamplituden und Spontanbewegungen (Hypokinese), langsame Bewegungen und erschwertes Beibehalten der Bewegungen (Bradykinese), ein erschwerter Wechsel zwischen verschiedenen Bewegungsmustern, eine Steifigkeit der Rumpf- und Gliedmaßenmuskeln (Rigor) sowie ein mittelfrequenter (5–6 Hz) Tremor, meist in Ruhe. Daneben bestehen oft neuropsychiatrische (Depression, Angst, Denkverlangsamung) und vegetative Störungen (Obstipation, Blasenstörung, orthostatische Beschwerden, Temperaturdysregulation, Herzrhythmusstörungen, fixierte Herzfrequenz). Dem idiopathischen Parkinson-Syndrom (IPS, Morbus Parkinson) liegt ein Verlust melanisierter Dopaminneurone in der Zona compacta der Substantia nigra im Mittelhirn und sekundär im Putamen zugrunde. Die Ursache des neurodegenerativen Prozesses ist noch unbekannt.
14.2.2
Krankheitsfolgen
Im Vordergrund der motorischen Behinderung steht die Gangstörung. Beim IPS verlangsamt sich das Gehen durch verkürzte Schrittlänge – trotz
14
kompensatorisch erhöhter Schrittfrequenz. Außerdem zeichnet das Gehen von Parkinson-Patienten eine höhere Varianz der Ganggeschwindigkeit aus. Die Patienten können jedoch ihre Schrittfrequenz normal variieren. Die Arme werden wenig mitgeschwungen. Selbst wenn die Patienten noch in normalem Tempo gehen können, so können sie doch das Tempo nicht über längere Strecken beibehalten. Die Patienten sind meist unfähig, ihre Bewegungsgeschwindigkeit zu steigern. Die Beugung im Hüftgelenk, Beugung und Streckung im Kniegelenk sowie Streckung im Sprunggelenk sind reduziert. Die einfache Reaktionszeit ist erhöht. Muskelkraft und -ausdauer sind eingeschränkt. Außerdem ist das Gleichgewicht oft gestört, viele Patienten neigen zu Stürzen. Es besteht eine Dyssynergie der Innervation der Beinmuskeln. Die Beweglichkeit der Patienten kann in fortgeschrittenen Krankheitsstadien oft relativ abrupt wechseln (On-off-Phänomen). Viele Patienten, vor allem jene mit einem ParkinsonSyndrom vom akinetisch-rigiden Typ neigen zur orthostatischen Hypotonie. Gelegentlich besteht eine belastungsabhängige arterielle Hypotonie, viele Patienten weisen eine verminderte Hitzetoleranz und Atemfunktionsstörungen (belastungsabhängige Dyspnoe, Obstruktion) auf. Muskuloskelettale Schmerzen bestehen oft schon in frühen Krankheitsstadien.
14.2.3
Bewegungstherapie
Es gibt zahlreiche Indikationen für die Durchführung physikalischer Therapie bei Morbus Parkinson: Verbesserung des Gleichgewichts, der Haltung, des Gehens, der Beweglichkeit und der Feinmotorik. In einer Meta-Analyse aus 7 Studien zeigte sich nach Bewegungstherapie eine signifikante Verbesserung der anhand der Parkinson-Funktionsskalen (z. B. Unified Parkinson´s Disease Rating Scale) quantifizierten motorischen Funktionen, 4 Studien ergaben für sich signifikant positive Effekte, 3 weitere einen Trend. Jedoch nur eine von 3 Studien zeigte eine signifikant verbesserte Lebensqualität. Die Meta-Analyse der 4 Studien ergab jedoch wiederum eine signifikante Verbesserung. Zudem wurden eine Kraftzunahme, verbessertes Gleich-
190
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11
Kapitel 14 · Bewegungstherapie bei neurologischen Erkrankungen
gewicht und ein erhöhtes Gehtempo erreicht. Keinen Einfluss hatte das körperliche Training auf die Sturzneigung und Depressivität. Einigkeit herrscht in den meisten Studien, dass physikalische Therapie – in Ergänzung der medikamentösen Behandlung – die Aktivitäten des täglichen Lebens (ADL) erleichtert, das Gehen und Stehen, die Koordination und Fallneigung, aber nicht die neurologischen Befunde verbessert. Umstritten ist, ob die Trainingseffekte das Therapieende überdauern. Wenn überhaupt, so halten die Effekte bei jüngeren und kognitiv wenig beeinträchtigten Patienten länger an. Auch häusliche Trainingsprogramme sollen sich als wirksam erwiesen haben. > Bei fortgeschrittenen Erkrankungen ist meist eine Einzelbehandlung notwendig, bei leichteren Erkrankungen bietet die Gruppentherapie kommunikative Vorteile. Da sich die Patienten meist in einem fortgeschrittenen Lebensalter befinden und vielfach seit Jahren keinen Sport getrieben haben, ist ein moderater Beginn notwendig.
18
Sportliche Aktivität wird bei einigen Patienten z. B. durch ein die Belastung überdauerndes Erschöpfungsgefühl, ein Steifigkeitsgefühl beim Schwimmen mit der Angst zu ertrinken, eine verkürzte beschwerdefreie Gehstrecke beim Wandern, unüberwindbare Müdigkeit beim Bergwandern oder verminderte Fähigkeit rascher Positionswechsel beim Tennisspiel erschwert. Grundsätzlich scheint es den Erkrankten nicht möglich, neue Bewegungsmuster zu erlernen, sodass man auf ihnen bekannte Sportarten zurückgreifen muss. Das Bewegungsprogramm, welches Reuter et al. (1999) mit ihren Patienten 2-mal wöchentlich, davon einmal in warmem Wasser, absolvierten, ist in . Tab. 14.3 (mod. nach Reuter et al. 1999) wiedergegeben.
19
Rhythmische akustische oder visuelle Stimulation (z. B. Metronom, Klicks eingebunden in
12 13 14 15 16 17
20
klassische Instrumentalmusik oder optische Linien quer auf dem Gehweg, Gehen mit Zählen) vermögen die Gehgeschwindigkeit und die Schrittlänge zu erhöhen, die Schrittfrequenz zu reduzieren und den Gehrhythmus zu verbessern. Wichtig,
aber technisch nicht so einfach ist es, die Reize der gewünschten Schrittlänge und -frequenz anzupassen. Kognitive Strategien wie die Vorstellung einer Schrittlänge vermögen das Gehvermögen ebenfalls zu verbessern. Auch ein Laufband kann als externer Stimulus zur Verbesserung der Gehvariablen beitragen. Ein Gehtraining auf dem Laufband mit einer Gewichtserleichterung für die Verbesserung des Gehens ist effektiver als eine konventionelle physikalische Therapie. Hierzu werden die Patienten in Sitzgurte eingespannt. Für die Therapie der meisten Patienten dürfte diese aufwändige Methode jedoch nicht infrage kommen. Ein Krafttraining führt bei Parkinson-Kranken zu ähnlichem Kraftzuwachs wie bei Gesunden. Dieser geht mit einer größerer Schrittlänge und höherem Gehtempo einher. Ein Training des Gleichgewichts sowie ein Krafttraining der Beinstrecker und -beuger mit hohen Widerständen vermögen die Standstabilität zu verbessern und damit möglicherweise das Sturzrisiko zu reduzieren. Grundsätzlich sollte die körperliche Aktivität möglichst in sog. On-Phasen gelegt werden. Während in frühen Krankheitsstadien bis auf Hochgeschwindigkeitssportarten fast noch alle Sportarten und regelmäßiges Training möglich sind, reduziert sich die Sportfähigkeit bereits ab Stadium III nach Hoehn und Yahr auf zyklische Sportarten wie Wandern, Radfahren und Ähnliches. Im Stadium V ist kein Sport mehr möglich. Nordic Walking mit den Stöcken als Rhythmusgeber erscheint als geeignete Möglichkeit zur Verbesserung des Gehens bei Parkinson-Patienten. Mit der Stocklänge wäre auch ein Beitrag zur Rumpfaufrichtung denkbar. Die Trendsportart wird auch in einzelnen Spezialkliniken angeboten.
14.3
Schlaganfälle
14.3.1
Definition
Die Schlaganfälle lassen sich in drei große Gruppen einteilen. Die Hirninfarkte mit einer Inzidenz von 96 bis 116 pro 100.000 Einwohner und Jahr stellen die Hauptgruppe, gefolgt von den intrazerebralen Blutungen (15–24/100.000/Jahr) und den vergleichsweise seltenen Subarachnoidalblutungen
191 14.3 · Schlaganfälle
14
. Tab. 14.3 Trainingsprogramm für Patienten mit Morbus Parkinson Übungen in der Halle Bewegungsinitiierung
Verschiedene Formen des Vor-, Rück- und Seitwärtsgehens Gehen und Anhalten Richtungswechsel auf Anordnung
Langsames Gehen, Beschleunigen, Trippeln
Gehen mit und ohne externe Stimuli einschließlich Einüben der Gangvorbereitung
Komplexe und zusammengesetzte Bewegungen
Training mit einfachen Bewegungsfolgen
Kombinierte Bewegungen
Training von Bewegungen mit großer Amplitude Training mit Seilen und Gymnastikreifen
Gleichgewichtsübungen
Übungen auf dem Pezzi-Ball
Koordinationstraining
Gleichzeitige Bewegungen: Balancieren und gleichzeitiges Ballprellen Spezielle Formen des Gehens mit überkreuzten Armen und Beinen
Kraft
Kräftigung der Rumpfmuskulatur in Bauch- und Rückenlage durch Bewegungen der Arm und Beine und Rollübungen
Atemübungen
Kräftigung der Atemhilfsmuskulatur, Aufblasen von Luftballons
Übungen im Wasser Kraft
Bewegungen der Arme und Beinen gegen den Wasserwiderstand
Verbesserung der Bewegungskontrolle
Wasser als externer Reizgeber zur Bewegungskontrolle
Reduktion der Steifigkeit
Reduktion des Muskeltonus durch das warme Wasser
Reduktion der Rumpfsteifigkeit
Rumpfdrehungen ohne Sturzgefahr
Gleichgewicht
Übungen mit Schwimmbrettern und Paddels
Schwimmübungen
Kraulen
(2–7/100.000/Jahr). Während von den Hirninfarkten und intrazerebralen Blutungen vor allem, aber keineswegs ausschließlich, ältere Personen betroffen sind, da sich die Inzidenz etwa jede Lebensdekade verdoppelt, erkranken an Subarachnoidalblutungen meist Personen im mittleren Lebensalter. Sie sind allerdings, wenn sie die Blutung überleben und erfolgreich wegen des meist zugrunde liegenden Aneurysmas operiert wurden, wieder gesund und nahezu uneingeschränkt sportfähig oder es bestehen neurologische Defizite, die per se und unabhängig von der Grunderkrankung eine Behinderung darstellen. Sie sollen hier nicht weiter behandelt werden.
> Den Hirninfarkten und intrazerebralen Blutungen liegt im höheren Lebensalter meist eine mehr oder weniger generalisierte Arteriosklerose zugrunde, von der sehr oft auch die Koronararterien betroffen sind, was bei der Planung sportlicher Aktivitäten limitierend wirken kann und berücksichtigt werden muss.
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192
Kapitel 14 · Bewegungstherapie bei neurologischen Erkrankungen
14.3.2
Krankheitsfolgen
Viele Patienten weisen nach einem Schlaganfall eine verminderte Beweglichkeit, Gleichgewichtsstörungen und Muskelschwäche auf. Nicht nur auf der paretischen Körperseite, sondern auch kontralateral kommt es zu einem Verlust an Muskelmasse mit daraus resultierender verminderter Mobilität, reduziertem Gleichgewicht und erhöhtem Sturzrisiko. Das Gehtempo mit einer chronischen Hemiparese liegt im Mittel bei 0,53±0,22 m/s (Gesunde: 1,34±0,17 m/s). Die maximale Sauerstoffaufnahme liegt bei 30–70 % derjenigen immobiler, aber sonst gesunder Vergleichspersonen, wobei viele Patienten schon bei Krankheitseintritt verminderte Werte aufweisen, da eine reduzierte kardiovaskuläre Leistungsfähigkeit einen bedeutsamen Risikofaktor für Schlaganfälle darstellt. Das bedeutet, dass motorische Aufgaben mit einem größeren Anteil der maximalen Sauerstoffaufnahme erledigt werden müssen als bei Gesunden. Der Energiebedarf ist durch Spastik und weniger effiziente Bewegungen mit der paretischen Extremität im Mittel erhöht. So ist bei langsamem Gehen der Energiebedarf um das 1,5- bis 2-Fache gesteigert. Patienten mit einer Hemiparese benötigen beispielsweise für eine Gehgeschwindigkeit von 30 m/min etwa so viel Energie (Sauerstoffverbrauch 10 ml/kg/min) wie Gesunde für ein Tempo von 60 m/min. Vielen Patienten ist keine maximale Sauerstoffaufnahme mehr zu eigen, die es ihnen erlaubt, eine Straße in der erforderlichen Zeit zu überqueren. Eine eventuelle Hemiparese führt zu einer weiteren Reduktion des Tempos. Die Folge ist ein zunehmender Rückzug in häusliche Verhältnisse. Vielfach wird eine maximale Sauerstoffaufnahme von 20 ml/kg/min nicht erreicht, die im Alter von 65 bis 97 Jahren für ein unabhängiges Leben notwendig sind. Durch die Behinderung benötigt der Kranke einen höheren Energieaufwand für die gegebene Leistung in Relation zum Gesunden.
14.3.3
Bewegungstherapie
Ziel der Bewegungstherapie ist es vor allem, die Gehfähigkeit und die Armfunktion wiederherzustellen. Die vorliegenden Studien über Physiotherapie bei Schlaganfällen sind überwiegend von mäßigem Niveau. Ob ein aerobes kardiovaskuläres Ausdauertraining zu einer verbesserten maximalen Sauerstoffaufnahme führt, wird kontrovers diskutiert. Die Schwelle für ein wirksames Training ist wahrscheinlich bei Personen mit geringer Leistungsfähigkeit deutlich niedriger als beim Gesunden. Kurze Trainingseinheiten erbringen ähnliche Ergebnisse wie längere Trainingseinheiten. In den einschlägigen Studien wurden Belastungsphasen von 30 bis 90 Minuten 2- bis 6-mal täglich gewählt. Durch ein aerobes Gehtraining und ein Krafttraining der unteren Extremitäten lassen sich wahrscheinlich die Gehgeschwindigkeit und -ausdauer erhöhen. Eine effektive Variante des Gehtrainings ist das Gehen auf dem Laufband, notwendigenfalls mit Gewichtsunterstützung. Keine Verbesserungen ließen sich in den Studien in Bezug auf die Handkraft, die Verbesserung des Treppensteigens, des Transfers, der Gewichtsverteilung zwischen paretischer und nicht paretischer Körperseite und in Bezug auf die Händigkeit erreichen. Mit Krafttraining lässt sich die Kraft auch der paretischen Extremität wieder deutlich erhöhen. Geeignete Sportarten sind solche, die eine zu bewältigende koordinative Anforderung darstellen und die aerobe Ausdauer fördern. Sinnvoll ist ein gezieltes Training der motorischen Defizite. Für Patienten mit Gleichgewichtsstörungen bietet sich ein Fahrradergometertraining an. Bei Paresen und stark übergewichtigen Patienten bietet sich ein Training im (stehtiefen) Wasser an.
14.4
Querschnittslähmung
19
14.4.1
Definition
20
Die Querschnittslähmung ist die Folge einer Rückenmarkserkrankung, bei der es zu einer Läsion der auf- und absteigenden motorischen, sensiblen und/oder vegetativen Bahnen kommt. Die Folge
193 14.4 · Querschnittslähmung
sind je nach betroffenem Bahnsystem eine gestörte Willkürmotorik, Störungen des Berührungs-, Schmerz-, Temperatur-, Vibrations- und Bewegungsempfindens in den Beinen (Paraparese/-plegie), eventuell im Rumpf und auch den Armen (Tetraparese/-plegie), je nach Höhe der Rückenmarksläsion. Durch eine vegetative Lähmung können Störungen der Blasen-, Mastdarm- und Sexualfunktion, der Hauttrophik, der Atemfunktion und der Schweißdrüsenfunktion hinzutreten. Man unterscheidet zwischen kompletten (Plegie) und inkompletten Querschnittslähmungen (Parese).
14.4.2
Krankheitsfolgen
Das somatische Hauptproblem der Querschnittslähmung ist natürlich die motorische Behinderung (Lähmung und Spastik). Hinzu kommen je nach Lokalisation und Schwere der Rückenmarksläsion eine Ataxie und Sensibilitätsstörungen. Die motorische Beeinträchtigung führt dazu, dass der Betroffene für eine gegebene Leistung, z. B. Gehen, wenn sie überhaupt möglich ist, viel mehr Energie benötigt als eine gesunde Person. Die Kranken erschöpfen rasch und neigen daher zur körperlichen Inaktivität. Erschwerend wirken sich die vegetativen Lähmungen aus. Im chronischen Stadium sind der systolische und diastolische Blutdruck bei Tetraplegie (Schädigung oberhalb von Th5) erniedrigt. Beim Wechsel von der horizontalen zur vertikalen Körperposition neigen die Kranken zu einem Blutdruckabfall. Andererseits kann es durch Überdehnung abdomineller Hohlorgane und andere Reize unterhalb der Läsion zu einem krisenhaften Blutdruckanstieg und Herzfrequenzabfall kommen (vegetative Dysreflexie). Mögliche Auslöser sind Haut- und Muskelreizungen oder z. B. eine unbemerkt volle Blase. Weitere Folgen der mangelnden Bewegung können u. a. bewegungsbehindernde Muskelkontrakturen (u. a. durch periartikuläre Ossifikationen) sein. Weitere Einschränkungen sportlicher Aktivität können sich u. a. durch paresebedingte Fehlhaltungen der Gelenke und des Rückens, Spastik und Spasmen ergeben. Durch Ausfall der Atemhilfsmuskulatur bei Tetraplegie ist das Atemvolumen sehr vermindert.
14
Jeder vierte Patient mit einer Paraplegie weist eine aerobe Leistungsfähigkeit auf, die gerade noch ausreicht, ein unabhängiges Leben zu führen. Die Herzfrequenz steigt durch Störungen des Sympathikussystems bei zervikalen Läsionen nur noch bis etwa 110–130/min an. Der Blutdruck kann durch die Vasodilatation in den arbeitenden Muskeln zusätzlich abfallen, weil die kompensierende Vasokonstriktion in anderen Körperarealen ausbleiben kann. Geringe körperliche Belastungen können bei Tetraplegikern aufgrund der gestörten Schweißsekretion zu überschießenden Anstiegen der Körpertemperatur führen. Andererseits kann die Temperatur bei Kälte durch fehlendes Kältezittern in den tiefen Körperregionen absinken. Folgen des immobilen Lebensstils sind u. a. Dyslipidämien, verminderte Glukosetoleranz, Gerinnungsstörungen, Knochen- und Gelenkerkrankungen und muskuloskelettale Schmerzen. Kardiovaskuläre Erkrankungen sind heute die häufigste Todesursache nach Querschnittslähmung. Myopathologisch fällt die Muskulatur unterhalb der Läsion durch zahlreiche Auffälligkeiten auf wie Hypotrophie, reduzierte kontraktile Proteine, geringere Maximalkraft und verminderte Ermüdungsresistenz. Die elektrische Stimulation evoziert nur ein Drittel bis ein Siebtel der normalen Kraft.
14.4.3
Bewegungstherapie
Ziele der Bewegungstherapie sind insbesondere die Kompensation des Ausfalles von Muskelfunktionen, die Entwicklung eines neuen Gleichgewichtsempfindens und Herausbildung eines sogenannten »Oberkörperathleten«. Die üblichen täglichen Aktivitäten Querschnittgelähmter reichen meist nicht aus, eine ausreichend gute kardiovaskuläre Funktion aufrecht zu erhalten. Sie benötigen lediglich etwa 15–24 % der Herzfrequenzreserve. Ein kardiovaskuläres Training kommt hingegen durch Gehen an Gehstützen, Bergauffahren mit dem Rollstuhl, Rollstuhlbasketball oder Armergometrie zustande. Der Energieverbrauch beim Rollstuhlfahren entspricht etwa dem eines Gesunden beim Gehen mit der gleichen Geschwindigkeit.
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Kapitel 14 · Bewegungstherapie bei neurologischen Erkrankungen
Durch Armarbeit (z. B. Rollstuhlergometrie, Schwimmen) lässt sich eine Effektivierung der Herz-Kreislauf-Funktionen erreichen. Es kommt zu einer Trainingsbradykardie und leichten Absenkung des Ruheblutdrucks. Die maximale Sauerstoffaufnahme und aerobe Leistungsfähigkeit der Querschnittsgelähmten können durch ein aerobes Training in 8 bis 12 Wochen um 10–20 %, also in der gleichen Größenordnung wie bei Gesunden, gesteigert werden. Die Spastik kann durch regelmäßige körperliche Aktivität gemildert werden. Für den Querschnittsgelähmten kommen – in Abhängigkeit von Höhe und Ausmaß der Lähmung – sehr viele Sportarten infrage: Schwimmen, Kanufahren, Rollstuhlbasketball, Tischtennis, Bogenund Luftgewehrschießen, Kegeln, Fechten, leichtathletische Disziplinen, daneben Betätigungen wie Boccia und Wurfpfeilspiel. Vielfach wird Schwimmen als die geeignetste Sportart angesehen. Sportler mit hoher Paraplegie oder Tetraplegie besitzen keine Sitzbalance mehr. Dadurch können Sportarten im Rollstuhl wie Tischtennis, Wurf- und Stoßdisziplinen sowie Basketball unmöglich werden. Selbst beim Tetraplegiker können fehlende Funktionen der Handmuskeln, die für die Ausübung von Sport (z. B. Schießen und Tischtennis) erforderlich sind, durch Hilfsmittel kompensiert werden. Empfohlen werden für Personen mit Paraplegie 5-mal Rollstuhlfahren oder Drehkurbelergometrie über 2–3 min im Wechsel mit gleich langen Ruhezeiten. Alternativ kommt ein 2-mal 20-minütiges Training mit einer Pause von 2 Minuten infrage. Die Empfehlungen zu Umfang und Intensität des körperlichen Trainings unterscheiden sich zwischen Gesunden und Querschnittsgelähmten nicht. Armbelastungen mit einer Sauerstoffaufnahme von 50–70 % der maximalen Sauerstoffaufnahme über 1 Stunde sind möglich.
18
14.5
Neuromuskuläre Erkrankungen
19
14.5.1
Definition
20
Die Muskelerkrankungen lassen sich grob in hereditäre und erworbene Formen einteilen. Zu den hereditären zählen u. a. die dystrophischen, mitochondrialen und metabolischen Myopathien, zu
den erworbenen vor allem die entzündlichen Myopathien.
14.5.2
Krankheitsfolgen
Die Behinderung durch Muskelkrankheiten ist zwischen den einzelnen Erkrankungen sehr unterschiedlich. Grob kann man in die Behinderung durch eine permanente Muskelschwäche (Paresen), durch eine Belastungsintoleranz, durch (belastungsabhängige) Myalgien und durch Beeinträchtigungen von Seiten anderer Organsysteme (Herzbeteiligung, Ateminsuffizienz, Skelettdeformitäten) unterscheiden. Generell gehen neuromuskuläre Erkrankungen mit einer verminderten maximalen Sauerstoffaufnahme, Arbeitskapazität und Ausdauer einher. Die mitochondrialen Myopathien sind besonders durch die Belastungsintoleranz gekennzeichnet, d. h. durch eine abnorme Ermüdung und Schwäche schon bei geringer Belastung. Assoziiert sind Laktatazidose, Tachykardie und Kurzatmigkeit. Die maximale Sauerstoffaufnahmefähigkeit der Betroffenen liegt im Mittel bei einem Drittel der gesunden Vergleichspersonen. Die Folge ist häufig ein inaktiver Lebensstil, der wiederum die aerobe Leistungsfähigkeit weiter reduziert und die Belastungsintoleranz im Sinne eines Teufelskreises noch verstärkt. Bei den idopathischen Myositiden (Poly-, Dermato- und Einschlusskörpermyositis) sind die Betroffenen durch eine proximal betonte Muskelschwäche, abnorme muskuläre Ermüdbarkeit, verminderte aerobe Kapazität, häufig durch belastungsinduzierte Myalgien und eventuell durch eine kardiale und pulmonale Beteiligung in vielen Aspekten des täglichen Lebens eingeschränkt. > Bei allen Erkrankungsarten geht die mangelnde Mobilität mit verminderter Kraft und Muskelmasse sowie verminderter maximaler Sauerstoffaufnahme einher.
195 14.6 · Post-Poliomyelitis-Syndrom
14.5.3
Bewegungstherapie
Generell scheint Krafttraining bei leicht betroffenen, gehfähigen Patienten mit langsam progredienten neuromuskulären Erkrankungen geringfügig wirksam zu sein, ohne einen zusätzlichen Schaden anzurichten. Dabei ist der Trainingseffekt spezifisch, d. h. ein dynamisches Training verbessert die dynamische Kraft, ein isometrisches Training die isometrische Kraft. Für rasch progrediente Erkrankungen wie die Duchennesche Muskeldystrophie und amyotrophe Lateralsklerose fehlen wissenschaftliche Untersuchungen bisher weitgehend. Langzeituntersuchungen fehlen völlig. Allgemein wird vor einem exzentrischen Krafttraining (Anspannung bei gleichzeitiger Dehnung des Muskels) bei Erkrankungen mit abnormen Strukturproteinen gewarnt, obwohl keine eindeutigen Hinweise auf eine trainingsbedingte zusätzliche Muskelschädigung existieren. Auch ein aerobes Training scheint effektiv zu sein. So führte ein aerobes Training bei langsam progredienten neuromuskulären Erkrankungen in 3 Studien zu leichten Verbesserungen der maximalen Sauerstoffaufnahme oder zu einer niedrigeren Herzfrequenz bei submaximalen Belastungen. Trainiert wurde 3- bis 4-mal wöchentlich bei 50–85 % der maximalen Herzfrequenzreserve. Es scheint so, dass auch bei den Dystrophinopathien die körperlichen Anpassungen an ein aerobes Training ähnlich sind wie bei schlecht trainierten, ansonsten aber körperlich gesunden Personen, solange der Patient noch gehfähig ist. Das Training wird meist auch gut toleriert. Über nicht mehr gehfähige Patienten ist noch weniger bekannt. Ein isokinetisches submaximales Krafttraining scheint in frühen Krankheitsstadien der Muskeldystrophie Duchenne zu einem leichten Kraftzuwachs zu führen. Bei Gliedergürteldystrophien ist ein leichtes, konzentrisches Krafttraining sinnvoll, bei denjenigen Muskeldystrophien, bei denen nichtstrukturelle Proteine betroffen sind, kann auch ein hochintensives Training vorgenommen werden, zumindest solange die Patienten nur leicht oder mäßig betroffen sind. Bei den myotonen Dystrophien gibt es ebenfalls Hinweise auf einen zumindest kurzfristigen Kraftzuwachs der Kniestrecker unter einem progressiven
14
Maximalkrafttraining. Hinweise auf eine zusätzliche Muskelschädigung fehlen. Auch ein aerobes Training, z. B. Walking, wird gut toleriert. Wissenschaftliche Untersuchungen, die den Wert oder auch Gefahren eines aeroben Ausdauertrainings bei mitochondrialen Myopathien schlüssig belegen, fehlen bisher. Bei den idiopathischen Myositiden konnten in mehreren Studien durch ein mehrwöchiges Krafttraining Verbesserungen der Kraft und Ausdauer erreicht werden. Krafttraining erfolgte meist isometrisch 3-mal wöchentlich mit mehreren Sätzen leichter bis mäßiger Belastungen. Zwischen den einzelnen Sätzen wurde zur Vermeidung von Müdigkeit eine 90-sekündige Pause eingelegt, zwischen den einzelnen Übungen eine 3-minütige Pause. Die exzentrischen Belastungsphasen, durch die eine Muskelschädigung befürchtet wird, wurden durch rasche (binnen 2 sec) Rückkehr in die Ausgangslage minimiert. Bei einem aeroben Training bei 60–70 % der maximalen Herzfrequenz über eine Stunde, z. B. mittels Fahrradergometrie, wurde ein Anstieg der Kreatinkinase-Aktivität nicht beobachtet. Grundsätzlich gilt, dass ein Kraftzuwachs durch ein leichtes bis mäßig intensives Krafttraining besonders in frühen Krankheitsstadien langsam progredienter Erkrankungen zu erwarten ist. Mehrere Arbeiten weisen darauf hin, dass ein hochintensives Training die Kraft hingegen reduzieren kann, sodass man von einer zusätzlichen Muskelschädigung ausgehen muss. Ein Ausdauertraining kann die maximale Sauerstoffaufnahme erhöhen. Bei fortgeschrittener Parese sind keine positiven Effekte mehr zu erwarten. Studien über die langfristigen Auswirkungen eines Bewegungstrainings bei neuromuskulären Erkrankungen gibt es bisher nicht.
14.6
Post-Poliomyelitis-Syndrom
14.6.1
Definition
Die Poliomyelitis anterior acuta (spinale Kinderlähmung) wird durch ein Enterovirus verursacht, meist Poliovirus Typ 1. Kommt es zu einer Affektion der motorischen Vorderhornzellen, so tritt eine
196
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Kapitel 14 · Bewegungstherapie bei neurologischen Erkrankungen
schlaffe Parese eines oder mehrerer Muskeln ein. Überlebt der Betroffene die Erkrankung, so kann es durch neue axonale Aussprossung und Reinnervation wieder zu einer Besserung der Paresen kommen. Jahre – meist mindestens 15 Jahre – später kann es dann aus noch nicht ganz geklärten Gründen zu einer neuen Muskelschwäche, Muskelatrophien, abnormer Ermüdbarkeit, Kälteintoleranz und Gelenkschmerzen kommen. Dieses Phänomen wird Post-Poliomyelitis-Syndrom (kurz: PostPolio-Syndrom) genannt.
14.6.2
Krankheitsfolgen
Folge der neu aufgetretenen Schwäche und abnormen Ermüdbarkeit können Gangstörungen, Schluck- oder Atemstörungen, verminderte Ausdauer und Einschränkungen in Aktivitäten des täglichen Lebens sein.
14.6.3
Bewegungstherapie
Spector et al. (1996) führten bei 6 Patienten mit post-poliomyelitischen Muskelatrophien über 10 Wochen ein 3-mal wöchentliches progressives dynamisches Krafttraining der teils betroffenen, teils unbetroffenen Knie- und Ellenbogenstrecker durch: nach 3-minütigem Aufwärmen auf dem Fahrradergometer und 10-minütigem statischen Dehnen wurden jeweils 3 Sätze von 20, 15 und 10 Wiederholungen bei etwa 75 % des Maximums für 3 Wiederholungen durchgeführt. Nur kurze exzentrische Belastungen wurden durch rasche Rückkehr (innerhalb von etwa 2 sec) in die Ausgangsposition sichergestellt. Es wurden Verbesserungen der dynamischen Kraft um 41–71 % des Ausgangswertes beobachtet. Die isometrische Maximalkraft änderte sich nicht. Es traten keine unerwünschten Wirkungen auf, und in den trainierten Muskeln wurden keine Veränderungen myopathologischer Befunde einschließlich der Muskelquerschnittsflächen gefunden. Für den Kraftzuwachs wurde im Wesentlichen eine verbesserte neuromuskuläre Koordination verantwortlich gemacht. Ganz ähnliche Resultate wurden in weiteren Therapiestudien erzielt, die alle nicht ermüdendes,
wenig intensives Kraft- und/oder Ausdauertraining nutzten. Die Erfolge bestanden in einer Kraftzunahme, verbesserter muskulärer Ausdauer, nachlassender Müdigkeit, verbesserter maximaler Sauerstoffaufnahme und verminderten Schmerzen. Unerwünschte Nebeneffekte wurden nicht berichtet.
14.7
Fibromyalgie
14.7.1
Definition
Bis zu 2 % der Bevölkerung (Prävalenz bei Frauen 3,4 % und bei Männern 0,5 %) leiden im Verlaufe ihres Lebens unter chronischen, generalisierten muskuloskeletalen Schmerzen ohne erkennbaren Grund. Meist entsprechen diese Beschwerden einem fibromyalgischen Syndrom. Darunter versteht man ein chronisches Schmerzsyndrom (Dauer mindestens 3 bis 6 Monate) mit Schmerzen am Rumpf und den Gliedmaßen sowie multiplen, typisch lokalisierten, drucksensitiven Punkten, sog. tender points. Daneben liegt meist eine Vielzahl unspezifischer Beschwerden wie Schlafstörungen, Müdigkeit, Morgensteifigkeit, sensible Missempfindungen, Angst, Kopfschmerzen oder irritables Kolon vor. Die Ursache des Syndroms ist noch ungeklärt, Abnormitäten neuroendokriner Stressantworten scheinen eine Rolle zu spielen (möglicherweise Polymorphismen von Genen des serotonergen, dopaminergen und katechoalminergen Systems).
14.7.2
Krankheitsfolgen
Die diffusen Schmerzen können durch körperliche Aktivität zu-, durch leichte körperliche Aktivität aber auch abnehmen. Durch stärkere körperliche Aktivität kommt es fast regelhaft zu lokalisierten Schmerzen, sodass die Patienten oft körperlich inaktiv werden und eine geringe kardiorespiratorische Fitness aufweisen. Die belastungsbedingten Schmerzen treten nur selten schon während der Belastung, sondern meist 1 bis 3 Tage später auf. Intensive körperliche Belastungen werden von den Patienten als anstrengender empfunden als von Gesunden, sie führen zu stärkerem Muskelkater.
197 14.8 · Zusammenfassung
Dynamisches Ausdauertraining geringer Intensität führt jedoch nicht zu einer Zunahme von Schmerzen oder Müdigkeit. Die kardiorespiratorische Fitness und Muskelkraft sind unterdurchschnittlich. Die Bereitschaft zu körperlichen Leistungen ist bei den Patienten vermindert.
14.7.3
Bewegungstherapie
Es gibt starke Hinweise darauf, dass ein kardiovaskuläres Training, ein Krafttraining und eine Kombination mit einer kognitiven Verhaltenstherapie wirksam sind. Sie verbessern die aerobe Ausdauer bzw. Kraft und damit Alltagsmobilität, reduzieren Schmerzen, Angst und Depression und verbessern die Lebensqualität. Ein reines Beweglichkeitstraining bewirkt offensichtlich wenig. Sie ist daher eine sinnvolle Komponente in der Behandlung der Fibromyalgie. Weniger überzeugend sind die Effekte eines Krafttrainings. Besonders effektiv ist Bewegungstherapie im Wasser. Aerobe Aktivität (Fahrradergometer-Training, Tanzen, Aerobic, Indoor-Walking) führt zumindest kurzfristig zu einer verbesserten aeroben Leistungsfähigkeit und verbessertem allgemeinem Befinden, sie erhöht die Druckschwelle der TriggerPunkte. Die Effekte eines aeroben Trainings auf die Schmerzen, abnorme Ermüdbarkeit und den Schlaf sind inkonsistent und gering. Auch die depressive Verstimmung wird offenkundig nicht verbessert. Ähnliche Ergebnisse ergaben die wenigen qualitativ hochstehenden Studien, die ein Krafttraining oder ein kombiniertes Training aus Gehen, Kraftund Beweglichkeitstraining einsetzten. k Durchführung
Die anzustrebende Belastungsdauer beträgt mindestens 2- bis 3-mal 30 bis 45 Minuten pro Woche. Sie sollte allmählich erreicht werden, um die Patienten nicht zu überfordern. Beispielsweise kann man mit 5 Minuten täglich beginnen und alle 3 bis 4 Tage um 1 Minute steigern. Vorgeschlagen wurde ein z. B. Walking-Training von 12 Minuten bei der Ruheherzfrequenz plus 25 %-HRR (heart rate reserve, %-HRR = 25 × [220 – Alter – Ruheherzfrequenz]) 3-mal wöchentlich innerhalb von 20 Wochen auf
14
60 %-HRR zu steigern (Beispiel: Alter 40 Jahre, Ruheherzfrequenz 70/min → 25 %-HRR = 25 × (220 – 40 – 70) = 27,5). Höhere Trainingsintensitäten verschlechtern eventuell die fibromyalgischen Beschwerden. Ein jeweils einstündiges aerobes Training 2-mal wöchentlich mit einer maximalen Herzfrequenz von 150/min führt ebenfalls nicht zu einer Schmerzzunahme. Besonders gut toleriert wird ein Training im Wasser, z. B. Aqua-Jogging. Eine ständige Motivationsförderung durch den Therapeuten (regelmäßiges Nachfragen, positive Verstärkung) ist wegen der häufig geringen Compliance der Patienten unabdingbar. Fremdmotivation auch durch gemeinsame sportliche Aktivität mit Familienangehörigen oder in Sportgruppen mit ähnlichem Belastungsprofil fördert die langfristige Steigerung der körperlichen Aktivität. Der Patient muss, um unrealistische Erfolgserwartungen und damit Therapieabbrüche zu vermeiden, darüber aufgeklärt werden, dass nur mittelfristige Effekte im Sinne einer Beschwerdelinderung, aber nicht Heilung zu erwarten sind.
14.8
Zusammenfassung
Gut belegt sind die positiven Auswirkungen einer Bewegungstherapie bei der Multiplen Sklerose. Das Ausmaß, in dem ein Training möglich ist, hängt dabei wesentlich von der Schwere der Symptome ab. Patienten mit Multipler Sklerose profitieren von aerobem Ausdauertraining, insbesondere von Übungen im Wasser. Auch Krafttraining kann sinnvoll sein, darüber hinaus Dehnübungen und eine passive Mobilisierung über den gesamten Bewegungsumfang der großen Gelenke. Auch bei Patienten mit Parkinson-Syndrom gibt es eine Vielzahl möglicher Indikationen für eine Bewegungstherapie, positive Effekte auf die Mobilität sind belegt. In Betracht kommen vor allem ein Gehund Krafttraining. Nach einem Schlaganfall ist die maximale Sauerstoffaufnahme deutlich eingeschränkt. Ob die gezielte Bewegungstherapie förderlich sein kann, ist noch umstritten. Querschnittsgelähmte Patienten profitieren uneingeschränkt von gezielter Bewegungstherapie, kardiovaskuläres Training ist unerlässlich. Patienten
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Kapitel 14 · Bewegungstherapie bei neurologischen Erkrankungen
im Rollstuhl können eine Vielzahl von Sportarten ausüben und selbst für Tetraplegiker stehen geeignete Hilfsmittel zur Verfügung, die ein körperliches Training ermöglichen. Bei langsam progredienten neuromuskulären Erkrankungen in frühen und mittleren Krankheitsstadien scheint ein leichtes bis mäßig intensives Krafttraining vor allem in frühen Stadien positive Auswirkungen zu haben. Hochintensives Training kann dagegen die Kraft möglicherweise weiter reduzieren. In mehreren Therapiestudien wurden positive Effekte durch nicht ermüdendes Kraft- oder Ausdauertraining bei Patienten mit Post-Poliomyelitis-Syndrom erzielt. Bei Patienten mit einem Fibromyalgie-Syndrom trägt ein kardiovaskuläres Training zur Beschwerdelinderung bei. Besonders geeignet sind Bewegungstherapie im Wasser und ein allmählich gesteigertes Walking-Training.
Literatur Multiple Sklerose
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199 14.8 · Zusammenfassung
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201
Bewegungstherapie bei psychischen Erkrankungen Andreas Broocks
15.1
Die evolutionäre Sichtweise: kein Überleben ohne Bewegung – 202
15.2
Bewegungsmangel als Risikofaktor für psychische Erkrankungen? – 202
15.3
Historische Entwicklung – 203
15.4
Empirische Befunde zur Wirksamkeit von körperlichem Training – 204
15.4.1 15.4.2 15.4.3
Depression – 204 Angsterkrankungen – 205 Sonstige Störungen – 205
15.5
Biologische und psychologische Wirkmechanismen – 205
15.5.1 15.5.2
Physiologische Wirkungen – 205 Psychologische Faktoren – 206
15.6
Worauf kommt es in der praktischen Umsetzung an? – 207
15.7
Zusammenfassung – 208
15
202
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Kapitel 15 · Bewegungstherapie bei psychischen Erkrankungen
Bereits in der Antike wurde Sport als Präventionsmaßnahme gegen psychische Störungen betrachtet. Im weiteren Verlauf der Geschichte der Psychiatrie wurde diesem Aspekt jedoch keine Bedeutung mehr zugemessen, um erst in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts wieder Beachtung zu finden. Inzwischen liegen etliche Studien vor, die die Wirksamkeit von Bewegungstherapien bei bestimmten psychischen Störungen, insbesondere Depressionen und Angsterkrankungen, belegen. In diesem Beitrag lesen Sie über: 4 Bewegungsmangel als Risikofaktor für psychische Störungen, 4 die historische Entwicklung der Bewegungstherapie in der Psychiatrie bis heute, 4 die Studienlage zur Wirksamkeit von Bewegungstherapien bei psychischen Störungen, besonders Depression, 4 biologische und psychologische Wirkmechanismen der Bewegungstherapie, 4 die praktische Umsetzung von Bewegungstherapie bei psychischen Störungen.
15.1
Die evolutionäre Sichtweise: kein Überleben ohne Bewegung
Das Überleben der Menschen ist seit Urzeiten mit einem hohen Grad an motorischer Aktivität verbunden, sei es als Jäger oder Sammler oder im Hinblick auf die Verteidigung gegenüber Feinden. Im Gegensatz dazu ist es erst seit wenigen Jahrzehnten möglich, dass eine ausreichende Versorgung mit Nahrungsmitteln – und zwar weit über das notwendige Maß hinaus – mit einem Minimum an körperlicher Aktivität sichergestellt werden kann: mit dem Fahrstuhl in die Tiefgarage, mit dem Wagen zur Arbeit, trotz Ärger und »Stress« Immobilisierung am Schreibtisch, auf dem Heimweg geht es durchs McDrive, abends warten 34 Kabel-Programme oder das Internet usw. Viele Patienten, die mit Angststörungen, Schlafstörungen oder depressiven Symptomen zur Behandlung kommen, berichten, dass sie zu Schulzeiten gute Sportler waren, als Studenten z. B. noch Handball gespielt haben, dann aber im Rahmen ihrer »Karrierechance« keinerlei Zeit mehr für Sport gehabt hätten. Beruflich sei es dann
auch bergauf gegangen, ebenso mit dem Körpergewicht, dann aber seien die oben genannten Probleme aufgetaucht. Es gehört zum Allgemeinwissen, dass die meisten Hunde krank werden, wenn sie nicht täglich ein Minimum an Auslauf und Bewegung haben. Weniger bekannt ist, dass dies auch für den Menschen gilt: Unsere genetische Ausstattung garantiert, dass wir auf viele Herausforderungen gut vorbereit sind, nicht aber auf die moderne Bewegungsarmut, die für unseren Organismus absolut unphysiologisch ist.
15.2
Bewegungsmangel als Risikofaktor für psychische Erkrankungen?
Epidemiologische Studien belegen mittlerweile, dass Bewegungsmangel nicht nur für eine Reihe körperlicher Erkrankungen einen maßgeblichen Risikofaktor darstellt, sondern auch für die Entwicklung depressiver Erkrankungen. Eine umfangreiche prospektive Studie ergab, dass es bei Probanden mit geringer körperlicher Aktivität im Vergleich zu sportlich aktiven Personen innerhalb von acht Jahren zu einer doppelt so hohen Neuerkrankungsrate für depressive Störungen kam (Farmer et al. 1988). In einer anderen Untersuchung wurde eine Stichprobe mit 8.098 Personen in 2 Gruppen unterteilt: Regelmäßige körperliche Aktivität war mit einer signifikant geringeren Prävalenz von depressiven Erkrankungen und verschiedenen Angststörungen verbunden. Im Hinblick auf Suchterkrankungen oder Psychosen konnten keine signifikanten Unterschiede gesichert werden (Goodwin 2003). In einer deutschen Untersuchung mit 1.000 Jugendlichen (14 bis 18 Jahre alt) zeigte es sich, dass regelmäßiges Ausdauertraining mit einem positiveren Selbstbild assoziiert war. In psychometrischen Skalen ergaben sich bei den Jugendlichen geringe Angst- und Depressionswerte sowie ein geringer Grad an sozialer Inhibition (Kirkcaldy et al. 2002). Der Konsum von Alkohol, Zigaretten und Drogen lag bei den sportlich aktiven Jugendlichen signifikant niedriger.
203 15.3 · Historische Entwicklung
In einer weiteren deutschen Bevölkerungsstudie an 2.548 Jugendlichen und jungen Erwachsenen (15 bis 24 Jahre) war regelmäßige körperliche Aktivität mit einer niedrigeren Prävalenz komorbider psychischer Störungen verbunden, dies in Zusammenhang mit niedrigeren Raten von Drogenmissbrauch, Angststörungen und Dysthymie (Ströhle et al. 2007). Im Unterschied dazu ergab sich eine höhere Inzidenz für die Entwicklung einer bipolaren Störung in der Gruppe der regelmäßig Trainierenden. Hieraus kann geschlossen werden, dass eine hohe Intensität regelmäßiger sportlicher Aktivität nicht grundsätzlich vor allen psychischen Störungen schützt, sondern dass die Risikoabschätzung differenziert erfolgen muss (Ströhle et al. 2007).
15.3
Historische Entwicklung
Historisch gesehen ist die Anwendung von Bewegung als Therapie und Prävention psychischer Störungen aus verschiedenen europäischen und asiatischen antiken Hochkulturen überliefert (Scheibe 1994). Nachdem im Mittelalter die sogenannten Geisteskrankheiten vernachlässigt und schwer gestörte Patienten gemeinsam mit Kriminellen untergebracht wurden, entstand erst mit der Renaissance und der Aufklärung ein gesellschaftliches Klima, das eine medizinisch-diätetische Behandlung von psychiatrischen Krankheitsbildern einschließlich der therapeutischen Anwendung von körperlicher Aktivität möglich werden ließ (Shivers u. Fait 1985). Ein Durchbruch bewegungstherapeutischer Maßnahmen erfolgte jedoch erst – insbesondere in den USA – im Zuge der Einrichtung von Hospitälern für Kriegsveteranen des Zweiten Weltkriegs. In der psychiatrisch-wissenschaftlichen Literatur fand die Bewegungstherapie erst Ende der 1970er-Jahre größere Beachtung. Ein Beispiel dafür sind die Untersuchungen der Arbeitsgruppe um Greist (1978, 1979), die an einer kleinen Gruppe depressiver Patienten vergleichbare therapeutische Wirkungen eines psychotherapeutischen Verfahrens und eines Ausdauertrainingsprogramms fanden. Es gibt einige Hinweise darauf, dass auch Krafttraining zu positiven psychischen Veränderungen führt. Aus sportmedizinischer Sicht ist derzeit die Frage von großem Interesse, ob Krafttraining zu
15
anderen neuroadaptiven Veränderungen führt als Ausdauertraining. Diese Frage ist bisher nicht mit den Methoden der biologischen Psychiatrie einschließlich neuer bildgebender Verfahren untersucht worden. Auch andere gesundheitsbezogene Auswirkungen von Krafttraining, etwa im Hinblick auf Gefäßrisikofaktoren wie Blutdruck, Glukosetoleranz und Fettstoffwechsel sind im Vergleich zu den gesundheitlichen Vorteilen eines regelmäßigen Ausdauertrainings weniger gut untersucht (Übersicht bei Reimers u. Broocks 2003). k Therapeutische Anwendung von Sport und Bewegung heute
Es ist wissenschaftlich eindeutig belegt, dass regelmäßiges Ausdauertraining einen vorbeugenden Einfluss auf die wichtigsten Gefäßrisikofaktoren hat: Erhöhter Blutdruck, Fettstoffwechselstörungen, Übergewicht sowie eine diabetische Stoffwechsellage werden positiv beeinflusst. Körperliche Aktivität hat zudem einen prophylaktischen Effekt für eine Vielzahl anderer Erkrankungen und erhöht eindeutig die Lebenserwartung (Paffenbarger et al. 1993, 1999, Chakravarty et al. 2008). Zu ähnlichen Schlussfolgerungen kommt eine prospektive kanadische Studie an 8.403 Personen (Middleton et al. 2008). Sport- und bewegungstherapeutische Behandlungsformen werden heute in praktisch allen psychiatrisch-psychotherapeutischen oder psychosomatischen Kliniken angewendet. Grundsätzlich geht es darum, über eine Verbesserung der körperlichen Fitness und des Körpergefühls positive Auswirkungen auf die psychische Befindlichkeit zu erzeugen. Neben ausdauerorientierten Ansätzen (z. B. Walkinggruppe, Fahrradergometer-Training) werden auch Krafttraining, Gymnastik oder spielerisch orientierte Gruppenaktivitäten angeboten. Über physiologische Effekte hinaus sollen in der Gruppe auch Spaß und Kreativität erlebt sowie Kommunikation und Interaktion gefördert werden.
204
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Kapitel 15 · Bewegungstherapie bei psychischen Erkrankungen
Brückenschlag zwischen Bewegungstherapie und psychotherapeutischen Verfahren 5 Mithilfe der progressiven Muskelrelaxation nach Jakobson wird über die schrittweise Kontraktion und Relaxation der Muskulatur ein Entspannungseffekt angestrebt. 5 Moderne psychotherapeutische Verfahren wie die dialektisch-behaviorale Therapie setzen Sport und Bewegung im Rahmen des Fertigkeitentrainings ein, z. B. um Spannungszustände abzubauen. 5 In speziellen Techniken, wie der »kommunikativen Bewegungstherapie«, wird der Brückenschlag zu tiefenpsychologisch orientierten Psychotherapien versucht. 5 In der Tanztherapie geht es nicht nur um die Bewegung, sondern auch um den Ausdruck von Gefühlen, um nonverbale Kommunikation und Interaktion.
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Durch eine spielerische Herangehensweise und das Überwinden von Hemmungen kann es auch in anderen Bereichen zu einer Auflockerung des Verhaltens kommen. Darüber hinaus finden in den meisten psychiatrisch-psychotherapeutischen Einrichtungen auch physiotherapeutische Methoden wie Massagen oder Kneippsche Güsse Anwendung. Auch diese Methoden sollen dazu dienen, über die Linderung von chronischen Schmerz- oder Verspannungszuständen das psychische Befinden positiv zu beeinflussen.
15.4
Empirische Befunde zur Wirksamkeit von körperlichem Training
18
15.4.1
Depression
19
Im Unterschied zu einer Vielzahl von Studien, die sich mit Sporteffekten bei Gesunden befassen, hat der norwegische Psychiater Martinsen insbesondere Ausdauertraining zur Behandlung klinisch manifester Depressionen angewendet. In einer viel zitierten klinischen Studie wurden 49 stationäre
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20
Patienten mit der Diagnose »Major Depression« entweder mit 3×1 Std. Ausdauertraining pro Woche oder ebenso lange mit Ergotherapie behandelt (Martinsen et al. 1985). Gemessen mithilfe der BDISkala (Beck Depression Inventory), kam es in der Sportgruppe zu einem signifikant stärkeren Absinken der Depressivität. Patienten mit dem größten Anstieg der Ergometrieleistung zeigten gleichzeitig den besten Therapieeffekt. Weitere klinische Studien ergaben, dass der therapeutische Effekt nicht zwangsläufig von der Verbesserung der kardiopulmonalen Fitness abhängt, da auch für Krafttraining eine vergleichbare Wirksamkeit dokumentiert werden konnte (Martinsen et al. 1989, Singh et al. 2001, Singh et al. 1997, Doyne et al. 1987). Die genannten Studien erlauben keine Aussage über den antidepressiven Effekt von Sport per se, da auch andere Behandlungsverfahren zur Anwendung kamen (add-on-design). Deutlich aussagekräftiger ist eine umfangreiche Studie mit 156 Patienten, die unter mäßig bis schwer ausgeprägten Depressionen litten (Blumenthal et al. 1999). Die Patienten wurden randomisiert auf drei Behandlungsgruppen verteilt (Ausdauertraining, Antidepressivum [Sertralin] oder Kombination von Ausdauertraining und Sertralin). Nach einer 16-wöchigen Behandlungsphase unterschieden sich die Gruppen statistisch nicht voneinander. Im PräPost-Vergleich kam es zu einer statistisch und klinisch signifikanten Besserung der depressiven Symptomatik. Zwar kam es in der Medikamentengruppe zu einem etwas schnelleren Ansprechen auf die Behandlung, entscheidend bleibt aber, dass ein reines körperliches Training ohne die gleichzeitige Gabe von Medikamenten nach 16 Wochen genauso gut wirksam ist wie eine lege artis durchgeführte psychopharmakologische Behandlung. Im Rahmen einer naturalistischen Follow-up-Untersuchung zeigte sich, dass die remittierten Patienten in der Sportgruppe eine signifikant niedrigere Rückfallrate im Vergleich zu denjenigen Patienten aufwiesen, die initial über 16 Wochen medikamentös behandelt worden waren (Babyak et al. 2000). In einer neueren Studie zeigten sich signifikante therapeutische Effekte bereits nach 10 Tagen (Knubben et al. 2007).
205 15.5 · Biologische und psychologische Wirkmechanismen
15.4.2
Angsterkrankungen
Einzelfallberichte hatten schon früher auf die Wirksamkeit von Sport bei Patienten mit Angststörungen hingewiesen. Zusammenfassend zeigt die Meta-Analyse von Petruzello et al. (1991), dass sowohl einzelne Trainingssitzungen, als auch ein länger dauerndes körperliches Training angstmindernde Wirkungen haben (Petruzello et al. 1991). In einer kontrollierten Studie (46 Patienten mit der Diagnose einer Panikstörung und/oder Agoraphobie) führten sowohl ein 10-wöchiges Ausdauertrainingsprogramm als auch eine medikamentöse Behandlung mit Clomipramin im Vergleich zu einer Plazebobehandlung zu einer klinisch und statistisch signifikanten Besserung der Angstsymptomatik (Broocks et al. 1998). Gleichzeitig zeigten die Patienten der Sportgruppe einen deutlichen Anstieg der zuvor eingeschränkten Ausdauerleistung, die spiroergometrisch objektiviert werden konnte (Broocks et al. 1997, 1998). In einer epidemiologischen Studie an 4.000 Japanern zeigte sich, dass die Abneigung gegen körperliche Aktivität signifikant mit dem Auftreten einer Panikstörung korreliert war (Kaiya et al. 2005). Die Bedeutung komplementärer Methoden in der Behandlung von Angststörungen wurde in einer umfangreichen Meta-Analyse von Jorm et al. (2004) untersucht. Beim Vergleich von insgesamt 34 Behandlungsmethoden, zu denen auch Homöopathie, pflanzliche Arzneimittel, Akupunktur, autogenes Training und Meditation gehörten, ergab sich der höchste Effizienzgrad für körperliches Training, weitere Evidenzen konnten für Kava-Kava und bestimmte Entspannungsverfahren eruiert werden.
15.4.3
15
et al. 2001, Deimel 1983). Schon aus diesem Grunde erscheinen sporttherapeutische Maßnahmen sinnvoll, außerdem wurde eine positive Interaktion von körperlicher Aktivität, verbesserter sozialer Interaktion und aktiverer Freizeitgestaltung beobachtet (Längle 2000). Ein weiterer Grund für die Bedeutung bewegungstherapeutischer Maßnahmen in der Behandlung der Schizophrenie besteht in der möglichen Beeinflussung von depressiven Begleitund Minussymptomen. Für weitere Störungsbilder (Sozialphobie, posttraumatische Belastungsstörung, Somatisierungsstörung, Zwangsstörung) existieren lediglich Einzelfallberichte und offene Studien (Manger u. Motta 2005), die für einen therapeutischen Effekt von regelmäßiger körperlicher Aktivität sprechen könnten. Es ist denkbar, dass über eine Abnahme innerer Angespanntheit und eine Besserung der Grundstimmung unspezifische therapeutische Effekte erzielt werden können, die sich indirekt positiv auf die für die jeweilige Störung charakteristische Symptomatik auswirken.
Bei Depressionen und Angsterkrankungen haben sich positive therapeutische Effekte auch in kontrollierten Studien nachweisen lassen. Bei anderen psychischen Störungen wie Suchterkrankungen oder Psychosen ist die Datenlage nach wie vor sehr dünn.
15.5
Biologische und psychologische Wirkmechanismen
15.5.1
Physiologische Wirkungen
Sonstige Störungen
Die Wirksamkeit von sport- oder bewegungstherapeutischen Ansätzen wurde bei Patienten mit Suchterkrankungen und mit Psychosen aus dem schizophrenen Formenkreis bisher nicht in kontrollierten Studien untersucht. Es ist allerdings gut dokumentiert, dass die körperliche Gesundheit und Ausdauerleistungsfähigkeit bei diesen Patienten deutlich beeinträchtigt sind (Dixon et al. 1999, Mahadik
Durch die mit der motorischen Belastung verbundene sympathische Aktivierung kommt es zur vermehrten Ausschüttung von Adrenalin, Noradrenalin und Dopamin aus dem Nebennierenmark. Eine akute Kraftbelastung (ein Durchgang Beinpresse mit 80 % der maximalen Muskelkraft) führte dabei zu ähnlichen Effekten wie eine Ausbelastung auf dem Fahrradergometer (Kraemer et al. 1989). Die genannte Kraftbelastung führte außerdem zu
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Kapitel 15 · Bewegungstherapie bei psychischen Erkrankungen
einem Anstieg der Plasmakonzentration von Testosteron, IGF-I (Insulin-like growth factor), Renin und Angiotensin II. Ein Anstieg der β-EndorphinKonzentration im peripheren Blut wurde nach akuten Ausdauerbelastungen über etwa 50–60 % VO2max der maximalen Sauerstoffaufnahme oder einer Dauerbelastung von über 30–45 min beobachtet (Janal et al. 1984, Krüger et al. 1986, Schwartz u. Kindermann 1990). Experimentelle Untersuchungen haben gezeigt, dass regelmäßige motorische Aktivität in verschiedenen Hirnarealen zu einer verbesserten Verfügbarkeit von Serotonin führt. Interessanterweise führt plötzliches »Absetzen« von Ausdauertraining bei trainierten Langstreckenläufern zu »Entzugserscheinungen« in Form von Reizbarkeit, innerer Unruhe, leichteren depressiven Verstimmungen bis hin zu diffusen Angstgefühlen (Morris et al. 1990). Nach Wiederaufnahme des Trainings kommt es zur raschen Rückbildung dieser Symptomatik. Neben dem Einfluss auf den Serotonin-Stoffwechsel werden in jüngster Zeit vermehrt Befunde publiziert, die eindeutig zeigen, dass motorische Aktivität akut zu einem Anstieg von BDNF (brainderived neurotrophic factor) führt. In bestimmten Hirnarealen kommt es zu einer Stimulierung der Neurogenese, dies verbunden mit verbesserten Leistungen im Hinblick auf Gedächtnis und andere geistige Funktionen. Tierexperimentelle Studien haben überdies gezeigt, dass die Widerstandsfähigkeit des Gehirns gegenüber verschiedenen Noxen durch motorische Aktivität erhöht werden kann und dass es über eine verstärkte Expression bestimmter Gene zu einer erhöhten Plastizität des Gehirnes kommt. Bei Mäusen wurde nach einer Periode mit vermehrter Lauftätigkeit ein Anstieg neuronaler Vorläuferzellen im Bereich des Hippocampus beobachtet (van Praag et al. 1999). Hinzu kam, dass die Laufrad-Mäuse in Gedächtnis-Paradigmen deutlich bessere Ergebnisse erzielten. Diese tierexperimentellen Befunde passen gut zu klinischen Studien, in denen Ausdauertraining ein präventiver und therapeutischer Effekt im Hinblick auf die Alzheimer-Demenz zugeschrieben werden muss. Ein möglicher Wirkmechanismus könnte darin bestehen, dass Ausdauertraining auch die häufigsten Gefäßrisikofaktoren günstig beeinflusst, zumal es offenbar Verbindungen zwischen
zerebrovaskulären Veränderungen und der Entwicklung der Alzheimer-Demenz gibt. Die Effektstärken, die über ein therapeutisches körperliches Training bei Patienten mit leichter oder mittelgradig ausgeprägter Alzheimer-Demenz erzielt werden konnten, waren mit den Effekten von medikamentösen Behandlungsversuchen durchaus vergleichbar (Übersicht bei Reimers u. Broocks 2003). Der schon genannte BDNF ist bei der AlzheimerDemenz intrazerebral erniedrigt, besonders ausgeprägt im Hippocampus. Für die Behandlung depressiver Symptome, die häufig als Komplikation der Alzheimer-Demenz auftreten, ist außerdem relevant, dass BDNF antidepressive Effekte zugeschrieben werden und tierexperimentell ein Synergismus zwischen erhöhter BDNF-Expression nach aerober Ausdauerbelastung und Gabe von Antidepressiva nachgewiesen werden konnte.
15.5.2
Psychologische Faktoren
Auch psychologische Faktoren könnten für die Wirkung bewegungstherapeutischer Behandlungen relevant sein: Eine grundlegende Erfahrung der Patienten, die es geschafft haben ein regelmäßiges körperliches Training zu beginnen, besteht darin, dass sie den Symptomen nicht hilflos gegenüberstehen, sondern aktiv etwas zur Überwindung ihrer Symptome tun können (»Selbstwirksamkeitserwartung«). Das Ausmaß an wahrgenommener Kontrolle über die Symptome hat einen erheblichen Einfluss auf die Entstehung von Panikattacken. Aus verhaltenstherapeutischer Sicht könnte auch die Reattributierung angstbesetzter Körpersensationen einen entscheidenden therapeutischen Wirkfaktor darstellen. Während der Ausdauerbelastung erlebt der Patient die mit den Angstzuständen assoziierten Symptome wie Herzrasen, Schwitzen, schnelles Atmen und leichten Schwindel als völlig normale physiologische Reaktionen, die nach kurzer Zeit von selbst verschwinden. Die Notwendigkeit, die häusliche Umgebung zu verlassen und im Rahmen des Trainings auf eine ausreichende kardiale Belastbarkeit zu vertrauen, bedeutet für einen Großteil der Angstpatienten zudem eine echte Exposition. Bei der sozialen Phobie könnte als psychologischer Wirkfaktor noch
207 15.6 · Worauf kommt es in der praktischen Umsetzung an
hinzukommen, dass ein verbessertes Aussehen, z. B. auch durch Krafttraining, die Eigenwahrnehmung und das Selbstwertgefühl günstig beeinflusst mit der Folge eines selbstbewussteren Auftretens in verschiedenen sozialen Situationen. Einer der größten Vorteile der Sporttherapie besteht zudem darin, dass der von vielen somatischen Befürchtungen geplagte Patient wirklich etwas zur Verbesserung seiner Gesundheit tut. Es ist wissenschaftlich eindeutig belegt, dass regelmäßiges Ausdauertraining einen vorbeugenden Einfluss auf die wichtigsten Gefäßrisikofaktoren hat: Erhöhter Blutdruck, Fettstoffwechselstörungen, Übergewicht sowie eine diabetische Stoffwechsellage werden positiv beeinflusst. Aufgrund der engen Beziehungen zwischen metabolischem Syndrom und koronarer Herzerkrankung auf der einen Seite und den depressiven Störungen auf der anderen Seite wären psychotrope Effekte von Sport auch über eine positive Beeinflussung dieser metabolischen und kardioprotektiven Wirkungen erklärbar.
15.6
Worauf kommt es in der praktischen Umsetzung an?
Der Einsatz bewegungstherapeutischer Maßnahmen setzt in der klinischen Praxis eine entsprechende Motivierung und Anleitung des Patienten voraus, weil dieser möglicherweise seit Jahren sportlich nicht mehr aktiv gewesen ist. Der Arzt oder Therapeut sollte über ein Erklärungsmodell zur Wirksamkeit von Sport verfügen und den Patienten über die Durchführung der jeweiligen bewegungstherapeutischen Angebote ausführlich informieren. Vor Beginn der Therapie sollten körperliche Kontraindikationen ausgeschlossen werden. Bei Patienten über 40 Jahre und bei kardial vorgeschädigten Patienten ist ein Belastungs-EKG indiziert. Orthopädische Probleme sollten rechtzeitig erkannt und behandelt werden. Die Trainingszeiten sollten in Form von Aktivitätstagebüchern festgehalten und zu jedem Behandlungstermin mitgebracht werden. Der Therapeut kann dadurch die jeweiligen Fortschritte oder Probleme des Patienten besser einschätzen. Dabei werden häufig Widerstände oder Befürchtungen auf Seiten des Patienten deutlich, die im Gespräch
15
abgebaut werden müssen. Diese Aufgaben können sowohl von einem speziell geschulten Physiotherapeuten als auch vom behandelnden Arzt wahrgenommen werden. Die Trainingsintensität darf zu Beginn nicht zu hoch sein. Bei der Durchführung einer Laufgruppe sollte es den Patienten anfangs ausdrücklich erlaubt sein, häufiger Gehpausen einzulegen. > Tempo und »Leistung« sind nicht entscheidend, wichtiger ist die Regelmäßigkeit des Trainings trotz aller Hindernisse.
Insbesondere bei depressiven Patienten muss darauf geachtet werden, dass es nicht zu Überforderung und erneuten Frustrationserlebnissen kommt. In sehr akuten Krankheitsphasen im Rahmen einer affektiven oder schizophrenen Psychose ist ein systematisches und intensives Training oft noch nicht möglich. Man wird sich dann zunächst auf Spaziergänge und leichte Lockerungsgymnastik o. Ä. beschränken müssen. Nach Abklingen der akuten Symptomatik kann dann versucht werden, den Patienten zu einem regelmäßigen körperlichen Training zu motivieren. Zusammenfassend wird deutlich, dass die Heranführung des Patienten an bewegungstherapeutische Maßnahmen besonders in der Initialphase Zeit und engmaschige Kontakte erfordert. In diesem Zusammenhang könnte motivationalen Therapieansätzen, so wie sie aus der »Motivierenden Gesprächsführung« bei Patienten mit Abhängigkeitserkrankungen bekannt sind, eine entscheidende Bedeutung zukommen (Miller u. Rollnick 1999). Der längerfristige Behandlungserfolg hängt davon ab, ob der Patient eine gute Eigenmotivation entwickelt, einen aktiven Lebensstil mit ausreichender und regelmäßiger Bewegung zu entwickeln und beizubehalten. Wenn das gelingt, kommt dies nicht nur der Psyche zugute: Das Risiko für eine Vielzahl körperlicher Erkrankungen wie z. B. Hypertonie, Diabetes, Adipositas, koronare Herzerkrankung, bestimmte bösartige Neubildungen (Krebs), Osteoporose nimmt deutlich ab. Dennoch wird die Bedeutung der körperlichen Fitness für die psychische Gesundheit noch immer unterschätzt.
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208
Kapitel 15 · Bewegungstherapie bei psychischen Erkrankungen
15.7
Zusammenfassung
Aus epidemiologischen Studien geht hervor, dass Bewegungsmangel auch für die Entwicklung depressiver Erkrankungen als Risikofaktor zu werten ist. Diese Beobachtung wird ergänzt durch eine Vielzahl von Daten, die die positive Wirkung von Bewegungstherapien insbesondere bei Depressionen und Angsterkrankungen belegen. Die Wirkung von Bewegungstherapie auf psychischer Ebene lässt sich naturwissenschaftlich durch eine Reihe von physiologischen Auswirkungen regelmäßigen Trainings plausibel erklären (z. B. Beeinflussung des Serotonin-Stoffwechsels sowie vermehrte Bildung von BNDF, also vermehrte Neurogenese). Auch auf psychischer Ebene lässt sich der positive Effekt einer Bewegungstherapie erklären: bei Angsterkrankungen z. B. kann alleine schon das Aufsuchen einer Sportgruppe therapeutisch im Sinne einer Exposition wirken. So kann das Selbstwertgefühl durch sporttherapeutische Maßnahmen verbessert werden. In der klinischen Praxis kommt der Motivation und Begleitung des Patienten durch seinen Arzt große Bedeutung zu: Aktivitätstagebücher können über die Einhaltung des Trainingsplans Aufschluss geben und Aufhänger für die weitere therapeutische Arbeit sein.
Literatur 1
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209 15.7 · Zusammenfassung
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39 Wurtman R. J., Fernstrom J. D.: Control of brain neurotransmitter synthesis by precursor availability and nutritional state. Biochem Pharmacol. 25:1691–1696 (1976)
211
Bewegung und Kognition Kirsten Hötting, Brigitte Röder
16.1
Einleitung – 212
16.2
Neuroplastizität – eine Begriffsdefinition – 212
16.3
Der Einfluss von Bewegung auf kognitive Leistungen bei Menschen – 213
16.4
Wirkmechanismen – 215
16.5
Bewegung zur Prävention und Behandlung neurologischer Erkrankungen – 217
16.6
Bewegungsinduzierte Plastizität im somatosensorischen und motorischen System – 218
16.7
Zusammenfassung – 219
16
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Kapitel 16 · Bewegung und Kognition
Bis ins 20. Jahrhundert hinein galt die Lehrmeinung, dass das erwachsene zentrale Nervensystem keine oder nur eine sehr geringe Fähigkeit zur Veränderung besitzt. In den letzten Jahrzehnten wurde jedoch durch tierexperimentelle Arbeiten sowie durch bildgebende Verfahren bei Menschen eindrucksvoll nachgewiesen, dass sich das Nervensystem sehr wohl ein Leben lang an wechselnde (Umwelt-)Bedingungen anpassen kann. In diesem Beitrag lesen Sie über: 4 den Begriff der Neuroplastizität, 4 den Einfluss körperlicher Aktivität auf kognitive Leistungen, 4 mögliche Wirkmechanismen im zentralen Nervensystem, 4 Prävention und Therapie neurologischer Erkrankungen durch körperliche Aktivität, 4 bewegungsinduzierte Plastizität im somatosensorischen und motorischen System.
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16.1
Einleitung
Funktionelle und strukturelle Veränderungen des Gehirns, wie eine effizientere Signalübertragung zwischen Neuronen, das Wachsen von Dendriten, die Ausbildung neuer Synapsen und sogar die Bildung neuer Nervenzellen in einigen Hirnbereichen, werden heute als neuronales Korrelat jeder Form des Lernens gesehen. Sport und Bewegung können die für das Lernen notwendigen neuronalen Prozesse anregen und somit einen positiven Effekt auf kognitive Funktionen wie Gedächtnis, Aufmerksamkeit, exekutive Funktionen und Verarbeitungsgeschwindigkeit haben. Dies wurde bisher besonders in Studien zum »erfolgreichen Altern« belegt, aber auch präventive und therapeutische Effekte von Bewegung im Zusammenhang mit Demenzerkrankungen werden diskutiert. Darüber hinaus führt das Einüben komplexer motorischer und sensorischer Fähigkeiten zu sehr spezifischen Veränderungen in motorischen und sensorischen Arealen des Gehirns. Grundlagenwissenschaftliche Studien über die Mechanismen dieser »gebrauchsabhängigen Neuroplastizität« finden ihre Anwendung zum Beispiel in der Neurorehabilitation von Schlaganfallpatienten.
16.2
Neuroplastizität – eine Begriffsdefinition
Neuroplastizität meint die Fähigkeit des zentralen Nervensystems, seine funktionelle und strukturelle Organisation an aktuelle Gegebenheiten anzupassen (Sheedlo u. Turner 1992). Ausgelöst werden diese Anpassungsprozesse während der Entwicklung des zentralen Nervensystems, durch Lernen und Interaktionen mit der Umwelt sowie durch traumatische Ereignisse. Letztere können sowohl das zentrale Nervensystem direkt betreffen (zum Beispiel Läsionen durch Schlaganfälle), aber auch Verletzungen oder Erkrankungen, die den Input in das zentrale Nervensystem verändern oder unterbinden lösen neuroplastische Prozesse im zentralen Nervensystem aus (zum Beispiel nach Amputationen von Gliedmaßen, Blindheit, Gehörlosigkeit). Klassische Studien von Rosenzweig (zusammengefasst zum Beispiel in Renner u. Rosenzweig 1987) zeigten in den 1960er-Jahren eindrucksvoll, wie sich Umweltbedingungen auf die Struktur des Gehirns auswirken. Sie verglichen die Gehirne von Ratten, die in einem Standardlaborkäfig gehalten wurden, mit denen von Tieren, die in einer sogenannten »angereicherten Umgebung« lebten. Diese Umgebung bestand aus einem größeren Käfig mit verschiedenen Möglichkeiten zur Bewegung (Laufrad, Kletterstangen), vielfältigen Sinneseindrücken und sozialen Kontakten zu Artgenossen. Ratten in dieser abwechslungsreichen Umgebung zeigten dickere Kortices als Tiere in den Standardkäfigen sowie bessere Leistungen in verschiedenen Lernaufgaben. Folgestudien (zusammengefasst in van Praag et al. 2000) bestätigten den positiven Einfluss einer angereicherten Umgebung auf Lernen und Gedächtnis und konnten eine Vielzahl von Veränderungen in neurophysiologischen Parametern nachweisen. Bemerkenswert ist, dass die beschriebenen Effekte auch dann beobachtet wurden, wenn die Tiere erst im Erwachsenenalter dieser veränderten Umgebung ausgesetzt wurden, sogar wenn dieses erst im hohen Alter geschah. Die Effekte nehmen mit zunehmendem Alter zwar etwas ab, aber die Befunde widersprechen deutlich der Annahme, dass nur das kindliche Nervensystem zur Plastizität fähig ist. Interessanterweise konnten ähnliche Effekte wie im Paradigma der angereicherten
213 16.3 · Der Einfluss von Bewegung auf kognitive Leistungen bei Menschen
Umgebung auf das Gehirn und Verhalten der Tiere gefunden werden, wenn diese nur ein Laufrad in den Käfig gestellt bekamen. Untersuchungen dieser Tiere haben in der Folge eine Vielzahl von Hinweisen auf die Wirkmechanismen von Bewegung auf kognitive Leistungen hervorgebracht (7 Kap. 16.4).
16.3
Der Einfluss von Bewegung auf kognitive Leistungen bei Menschen
Der positive Effekt aerober Sportarten (wie zum Beispiel Laufen, Schwimmen, Radfahren) auf die kognitive Leistungsfähigkeit wurde bisher ausführlich in der Alternsforschung untersucht. Eine Vielzahl von Studien der letzten Jahrzehnte zeigte einen Zusammenhang zwischen körperlicher Aktivität und Reaktionsgeschwindigkeit, Arbeitsgedächtnis, Vigilanz und fluider Intelligenz (zusammengefasst zum Beispiel in Churchill et al. 2002). In prospektiven Längsschnittstudien konnte ein positiver Einfluss von Bewegung auf das kognitive Altern bestätigt werden. Eine Forschergruppe aus den Niederlanden, Italien und Finnland (Van Gelder et al. 2004) beobachteten Männer, älter als 70 Jahre, über einen Zeitraum von 10 Jahren und erhoben sowohl Daten über deren physische Aktivität als auch die kognitive Leistungsfähigkeit. Die Männer, die mindestens eine moderate Intensität an körperlicher Aktivität zur Baselinemessung berichteten, zeigten nach 10 Jahren einen geringeren Leistungsabfall in kognitiven Funktionen als eine Gruppe, die nur sehr wenig körperlich aktiv war. Reduzierten die Probanden im Untersuchungszeitraum die Intensität oder die wöchentliche Dauer ihrer Aktivitäten, korrelierte dies mit dem Abbau ihrer geistigen Fähigkeiten. Keiner der in die Auswertung einbezogenen Probanden war im Untersuchungszeitraum schwer erkrankt, sodass der allgemeine Gesundheitszustand den Zusammenhang zwischen körperlicher Aktivität und kognitiven Variablen nicht erklären kann. Andere Arbeiten bestätigen Langzeiteffekte körperlicher Fitness auf die kognitive Leistungsfähigkeit älterer Männer und Frauen (Barnes et al. 2003). Jedoch erlauben sowohl korrelative Studien als auch prospektive Längsschnittstudien allein nicht
16
den kausalen Schluss, dass Bewegung sich positiv auf die kognitiven Variablen auswirkt. Vielmehr könnte es genauso sein, dass Personen mit sehr guten kognitiven Fähigkeiten eher dazu neigen regelmäßig Sport zu treiben. Ebenso könnten Drittvariablen wie der sozioökonomischer Status oder das Gesundheitsverhalten (Ernährung, Rauchen etc.) unabhängig voneinander sowohl die körperliche Aktivität als auch kognitive Funktionen beeinflussen. Denkbar ist auch, dass die Teilnahme an Sportgruppen zu vielfältigen sozialen Kontakten führt und dass diese Anregung letztendlich kognitive Variablen positiv beeinflusst, ohne dass Bewegung einen direkten Einfluss hat. Nur experimentelle Interventionsstudien können einen kausalen Zusammenhang zwischen Sport und Kognition eindeutig belegen. Eine Forschergruppe um Arthur Kramer und Stanley Colcombe vom Beckman Institut der Universität Illinois (USA) haben dazu in den letzten Jahren einige sehr gut kontrollierte Studien durchgeführt. Sie teilten ältere Probanden (meist zwischen 60 und 80 Jahre alt) zufällig 2 Trainingsgruppen zu: entweder einem Ausdauertraining (Lauftraining, angepasst an die jeweilige individuelle Leistungsfähigkeit) oder einem Stretchingtraining (Übungen, die nicht zu einem signifikanten Anstieg der maximalen Sauerstoffaufnahmefähigkeit führten). Alle Teilnehmer hatten vor dem Programm kaum Sport getrieben. In beiden Gruppen wurde über einen Zeitraum von 6 Monaten regelmäßig 3-mal in der Woche für ca. 45 Minuten trainiert. Die Gruppen unterschieden sich also nicht hinsichtlich Frequenz des Trainings oder der Anzahl sozialer Kontakte. Nach 6 Monaten zeigte die Ausdauertrainingsgruppe (im Folgenden Experimentalgruppe) im Vergleich zur Stretchinggruppe (im Folgenden Kontrollgruppe) einen stärkeren Anstieg ihrer kardiovaskulären Fitness sowie bessere Leistungen in Tests exekutiver Funktionen (. Abb. 16.1, mod. nach Kramer et al. 1999). Unter dem Begriff der exekutiven Funktionen werden verschiedene Prozesse der kognitiven Kontrolle zusammengefasst wie Handlungsplanung, Zielsetzung, Inhibition unangemessener Handlungen, Fehlerüberwachung oder Wechsel zwischen verschiedenen Aufgaben. Beeinträchtigungen der exekutiven Funktionen beobachtet man nach Schädigungen präfrontaler und frontaler Hirnregionen.
214
Kapitel 16 · Bewegung und Kognition
1
ACC/SMA
mit Aufgabenwechsel - vor dem Training mit Aufgabenwechsel - nach dem Training
2
ISTL
ohne Aufgabenwechsel - vor dem Training ohne Aufgabenwechsel - nach dem Training
3
5 6
Reaktionszeit in ms
4
2,600
2,200
AWM 1,800
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Laufen
Stretching
. Abb. 16.1 Teilnehmer an einem Lauftraining zeigten nach 6 Monaten selektiv schnellere Reaktionszeiten bei Aufgabenwechseln (exekutive Funktionen), Teilnehmer an einem Stretchingtraining verbesserten sich nicht
Es ist bekannt, dass besonders die Leistung in Tests zu exekutiven Funktionen mit dem Alter nachlassen. Auf neurophysiologischer Ebene zeigt insbesondere der frontale Kortex altersbedingte strukturelle und funktionelle Veränderungen (West 1995). Mithilfe der Magnetresonanztomographie konnten Colcombe und Kollegen nachweisen, dass altersbedingte neuronale Veränderungen durch ein Ausdauertraining aufgehalten werden können. Funktionell zeigte sich während einer exekutiven Aufgabe nach dem Training eine effizientere Verarbeitung in aufgabenrelevanten Arealen des präfrontalen und parietalen Kortex in der Experimentalgruppe im Vergleich zur Kontrollgruppe (Colcombe et al. 2004). Aber auch strukturelle Veränderungen wie die Zunahme grauer und weißer Substanz im Frontalhirn konnten nach einem 6-monatigen Training beobachtet werden (Colcombe et al. 2006, . Abb. 16.2). Eine Metaanalyse über kontrollierte Studien bestätigt positive Effekte eines aeroben Trainings bei älteren Menschen nicht nur auf exekutive Funktionen, sondern auch auf die Reaktionsgeschwindigkeit, Aufmerksamkeit und visuell-räumliche Wahrnehmungs- und Gedächtnisleistungen (Colcombe u. Kramer 2003). Positive Effekte sind schon
Z=2 . Abb. 16.2 Hirnregionen, die nach einem aeroben Training bei älteren Erwachsenen eine signifikante Volumenzunahme im Vergleich zu einer Kontrollgruppe (Stretchingraining) zeigten. Die Abbildung zeigt einen axialen Schnitt durch das Gehirn auf einer Höhe von 2 mm im stereotaktischen Raum. ACC/SMA anteriores Cingulum/supplementärmotorisches Areal, AWM anteriore weiße Substanz, lSTL superiorer Temporallappen links, Blau Volumenzunahme in der grauen Substanz, Gelb Volumenzunahme in der weißen Substanz (aus Colcombe et al. 2006)
nach einigen Monaten des Trainings zu beobachten, auch wenn die sportliche Betätigung erst nach dem 60. Lebensjahr aufgenommen wird. Aktuell wird in der Forschung diskutiert, ob ein aerobes Training nur den altersbedingten Abbau in kognitiven Funktionen und den zugrunde liegenden neuronalen Strukturen positiv beeinflusst oder ob auch schon im jüngeren Gehirn eine Leistungssteigerung zu erreichen ist. Eine Hypothese ist, dass im frühen und mittleren Erwachsenenalter das Maximum der kognitiven Leistungsfähigkeit liegt (Salthouse u. Davis 2006) und zusätzliche Interventionen keinen Zugewinn bringen. In diese Richtung deuten Ergebnisse einer Metaanalyse von Etnier und Kollegen (1997), die für Erwachsene zwischen dem 31. und 45. Lebensjahr kaum Veränderungen in kognitiven Parametern nach einem Fitnesstraining fest-
215 16.4 · Wirkmechanismen
stellen konnten. Andere Arbeiten berichten jedoch schon im jungen Erwachsenenalter positive Effekte eines Bewegungstrainings. So untersuchten zum Beispiel Stroth und Kollegen (2009) Studenten zwischen 17 und 29 Jahren nach einem nur 6-wöchigen Lauftraining und finden Verbesserungen im visuell-räumlichen Gedächtnis und in der Stimmung der Probanden. Mithilfe der Magnetresonanztomographie konnte ein interessanter Zusammenhang zwischen der selektiven Zunahme des regionalen Blutflusses im Gyrus dentatus des Hippocampus bei jungen Erwachsenen und einem aeroben Training hergestellt werden (Pereira et al. 2007). Der Hippocampus ist eine Struktur des medialen Temporallappen, die essenziell für das längerfristige Abspeichern von Gedächtnisinhalten ist und im Tiermodell sind bewegungsinduzierte neurophysiologische Veränderungen insbesondere in dieser Struktur beobachtet worden (7 Kap. 16.4). Wenn es einen förderlichen Einfluss von Sport und Bewegung auf kognitive Funktionen gibt, so liegt es nahe zu vermuten, dass dieses besonders in der Entwicklung des zentralen Nervensystems eine Rolle spielt. Kognitive Entwicklungstheorien betonen schon lange die Bedeutung der Bewegung für die kognitive Entwicklung, besonders bei sehr jungen Kindern (Piaget 1952). Tatsächlich konnte in einigen wenigen experimentellen Interventionsstudien ein positiver Effekt von Bewegung auf Wahrnehmungsfähigkeiten, kognitive Entwicklung und schulische Leistungen bei Kindern festgestellt werden (Sibley u. Etnier 2003). Diese Effekte waren unabhängig von der Art der sportlichen Aktivität, d. h. sie wurden sowohl nach einem aeroben Training als auch nach Programmen, die eher die motorische Geschicklichkeit fördern, beobachtet. Die Autoren schließen daraus, dass bei Kindern nicht nur die Verbesserung der aeroben Fitness den Zusammenhang zwischen Sport und Kognition vermittelt, sondern weitere Faktoren wie eine Steigerung des Selbstvertrauens oder Angstreduktion eine wichtige Rolle spielen. Insgesamt haben jedoch die wenigen Interventionsstudien im Kindesalter nicht die methodische Qualität wie die publizierten Arbeiten im hohen Erwachsenenalter, sodass weitere Studien notwendig sind, um die Beziehungen zwischen physischer Aktivität und kognitiver
16
Entwicklung besser zu verstehen und wirkungsvolle Interventionsprogramme entwickeln zu können. Die Datenlage scheint aber dahingehend eindeutig, dass die Zeit, die Kinder und Jugendliche mit Sport verbringen, zumindest nicht die schulischen Leistungen beeinträchtigt, sondern ein wichtiger Faktor für ihre gesundheitliche und kognitive Entwicklung ist (Hillman et al. 2008).
16.4
Wirkmechanismen
Wie bereits erwähnt, konnte nach einem mehrmonatigen Ausdauertraining bei älteren Menschen eine Zunahme grauer und weißer Substanz im frontalen Kortex nachgewiesen werden (Colcombe et al. 2006). Dieser Befund spricht dafür, dass Bewegungsinterventionen direkte Effekte auf das zentrale Nervensystem haben. Die technischen Möglichkeiten zur Untersuchung der zugrunde liegenden molekularen und zellulären Mechanismen sind beim Menschen jedoch begrenzt. Deshalb leisten Tierexperimente einen wichtigen Beitrag zum Verständnis des Wirkmechanismus zwischen Bewegung und kognitiven Leistungen. Die im Folgenden berichteten Studien arbeiteten mit Ratten und Mäusen, die jeweils einem sehr ähnlichen experimentellen Design zugeführt wurden: Einer Gruppe von Tieren wurde ein Laufrad in den Käfig gestellt, welches die Tiere zu vermehrter freiwilliger körperlicher Aktivität veranlasste. Eine Vergleichsgruppe wurde in Standardkäfigen ohne besondere Anreize zur Bewegung gehalten. Auf der Verhaltensebene beobachtete man bei der aktiven Gruppe nach einigen Wochen bessere Leistungen in Lern- und Gedächtnistests (van Praag et al. 1999a). Somit konnte der positive Effekt des Laufens auf kognitive Leistungen im Tiermodell bestätigt werden. Auf neuronaler Ebene hat der Nachweis einer gesteigerten Neurogenese (Neubildung von Nervenzellen) bei den aktiven Tieren im Vergleich zu inaktiven Tieren in den letzten Jahren die meiste Aufmerksamkeit erhalten (van Praag et al. 1999a, 1999b). Bis in die 80er-/90er-Jahre des letzten Jahrhunderts dominierte in der Wissenschaft noch die Meinung, dass Neurogenese nur im heranwachsenden Gehirn möglich sei. Neurogenese konn-
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Kapitel 16 · Bewegung und Kognition
te im erwachsenen Gehirn von Nagetieren, Primaten und Menschen bisher eindeutig nur im Bulbus olfactorius und im Hippocampus nachgewiesen werden. Dabei scheint nur die Neurogenese im Hippocampus auf vermehrte körperliche Aktivität anzusprechen (Brown et al. 2003). Der Hippocampus ist eine Struktur im medialen Temporallappen, der eine essenzielle Rolle bei Lern- und Gedächtnisprozessen zukommt. Es wird diskutiert, dass die Neubildung von Neuronen im Hippocampus sowie deren Integration in bestehende Netzwerke eine funktionale Rolle bei Lern- und Gedächtnisprozessen spielt (Kempermann 2002). Im Tierexperiment kann Neurogenese im Hippocampus sowohl durch körperliche Aktivität als auch durch das Trainieren von Lern- und Gedächtnisprozessen gesteigert werden. Außerdem geht ein Anstieg der Neurogenese nach vermehrter Bewegung einher mit einer gesteigerten Langzeitpotenzierung, einem neurophysiologischen Maß für Lernprozesse (van Praag et al. 1999a). Es scheint so zu sein, dass vermehrte Bewegung sowie Lernen, zumindest im Hippocampus, ähnliche neuronale Mechanismen ansprechen. Eine Idee ist, dass Bewegung die Neurogenese anregt und damit optimale Voraussetzungen für neue Lernprozesse schafft – für die funktionale Integration der Neurone in bestehende Netzwerke aber scheinen weitere Lernreize notwendig zu sein. Auch wenn die Zunahme der Neurogenese durch Bewegung sicherlich die spektakulärste Beobachtung der letzten Jahre war, so ist die Anzahl der neu gebildeten Neurone im erwachsenen Gehirn insgesamt sehr gering und nur ein möglicher Mechanismus, der den Zusammenhang zwischen körperlicher Aktivität und kognitiven Parametern erklären kann. Außerdem konnten neue Neurone bisher nur in einzelnen Arealen des erwachsenen Gehirns nachgewiesen werden, sodass die Neurogenese sicherlich nicht das neuronale Korrelat für den eingangs geschilderten Befund einer Zunahme grauer Substanz im Frontalkortex bei sportlich aktiven älteren Menschen darstellt. Hier kommen weitere strukturelle und funktionelle Veränderungen in Betracht, die in Gehirnen körperlich aktiver Tiere im Vergleich zu inaktiven Artgenossen nachgewiesen wurden, wie
4 eine stärkere Verästelung der Dendriten und eine Zunahme dendritischer Dornen (Eadie et al. 2005), 4 Veränderungen in Neurotransmittersystemen (Chaouloff 1989, Fordyce u. Farrar 1991), 4 eine Zunahme der Angiogenese (Black et al. 1990) sowie 4 die vermehrte Ausschüttung von Nervenwachstumsfaktoren (Cotman et al. 2007). Die geschilderten Effekte körperlicher Aktivität auf neuronale Prozesse wurden sowohl im heranwachsenden Gehirn als auch bei erwachsenen Tieren bis ins hohe Alter hinein nachgewiesen. Dies betont noch einmal die lebenslange Reaktionsfähigkeit des zentralen Nervensystems auf Erfahrung und spricht dafür, dass selbst erst im späteren Erwachsenenalter aufgenommene körperliche Aktivität positive Effekte auf das Gehirn haben kann. Darüber hinaus wird auch diskutiert, dass gerade Bewegung im jüngeren Alter eine neuronale Reserve darstellt, die nachlassende Plastizität im höheren Lebensalter oder Folgen neurodegenerativer Erkrankungen kompensieren kann (Kempermann, 2008).
Zusammenfassend zeigen die bisher vorliegenden Daten, dass Bewegung direkte Effekte auf die Funktion und die Struktur des Gehirns hat und somit kognitive Prozesse positiv beeinflussen kann.
Der Zusammenhang zwischen körperlicher Fitness und kognitiven Fähigkeiten wird darüber hinaus auch über indirekte Mechanismen begünstigt. Regelmäßiger Sport und Bewegung reduzieren das Risiko für Herzkreislauferkrankungen, Diabetes, Bluthochdruck oder Schlaganfälle. Diese Erkrankungen wiederum sind assoziiert mit nachlassender kognitiver Leistungsfähigkeit, entweder weil sie direkt das zentrale Nervensystem betreffen oder die Aktivitäten der Patienten einschränken und sekundär kognitive Anregungen reduzieren. Die Prävention dieser Erkrankungen hilft somit auch die kognitive Leistungsfähigkeit mit zunehmendem Alter zu erhalten.
217 16.5 · Bewegung zur Prävention und Behandlung neurologischer Erkrankungen
16.5
Bewegung zur Prävention und Behandlung neurologischer Erkrankungen
Wenn Sport sich positiv auf neuronale Plastizität und kognitive Variablen auswirkt, liegt es nahe, Bewegungsinterventionen zur Prävention und Behandlung von Erkrankungen des zentralen Nervensystems einzusetzen. Tatsächlich konnte in mehreren prospektiven Längsschnittstudien gezeigt werden, dass ältere Menschen, die sportlich aktiv sind, ein deutlich reduziertes Risiko haben, in den folgenden 5 bis 6 Jahren an einer Demenz zu erkranken (Abbott et al. 2004, Larson et al. 2006, Laurin et al. 2001, Podewils et al. 2005). In diese epidemiologischen Studien wurden nur Personen eingeschlossen, die zum ersten Untersuchungszeitpunkt keine Anzeichen einer Demenz zeigten. Dennoch ist bei einem Beobachtungszeitraum von bis zu 6 Jahren nicht auszuschließen, dass die später Erkrankten schon zu diesem Zeitpunkt subklinische Beeinträchtigungen aufwiesen. Somit wäre ihre reduzierte körperliche Aktivität möglicherweise eine Folge der Erkrankung. Diese Interpretation ist sehr unwahrscheinlich für die Daten, die finnische Forscher an mehr als 1.400 Männern und Frauen über einen Zeitraum von 20 Jahren erheben konnten (Rovio et al. 2005). Zur Baselinemessung waren die Teilnehmer 39 bis 64 Jahre alt und zeigten keine Anzeichen einer neurologischen Erkrankung. Teilnehmer, die zu diesem Zeitpunkt mindestens 2-mal in der Woche Sport trieben, und zwar in einer Intensität, die laut Selbstbericht zu Atemlosigkeit und Schwitzen führte, hatten 20 Jahre später ein um 50 % reduziertes Risiko an einer Demenz zu erkranken. Der Effekt war besonders ausgeprägt für Träger des APOE ε4-Gens, das mit einem erhöhten Risiko für eine Demenz vom AlzheimerTyp assoziiert ist (siehe jedoch auch Lautenschlager et al. 2008 und Podewils et al. 2005, die bei älteren Stichproben positive Effekt nur für Nicht-Genträger feststellen konnten). Im Mausmodell der Alzheimer-Demenz konnten Forscher der Universität von Kalifornien zeigen, dass Tiere, die Zugang zu einem Laufrad hatten, um bis zu 54 % weniger extrazelluläre Beta-Amyloid Plaques im frontalen und temporalen Kortex aufwiesen als Tiere, die keine Möglichkeit zur Bewe-
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gung hatten (Adlard et al., 2005). Außerdem schnitten diese Tiere in Tests zum räumlichen Gedächtnis besser ab als inaktive Tiere. Kontrollierte Interventionsstudien, die kognitive Variablen nach einem Bewegungstraining bei älteren Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen oder einer Demenz untersuchen, gibt es bisher kaum. Es wird zwar vereinzelt von positiven Effekten eines Ausdauertrainings auf Gedächtnis- und Aufmerksamkeitsleistungen bei Patienten mit einer Demenz vom Alzheimer-Typ berichtet (Palleschi et al. 1996), jedoch wurden die Leistungen der Patienten nicht mit denen einer Kontrollgruppe verglichen, sodass unspezifische Effekte nicht auszuschließen sind. Bemerkenswert ist eine aktuelle Studie aus Australien (Lautenschlager et al. 2008), die Probanden mit subjektiv berichteten Gedächtnisschwierigkeiten untersuchte. Es wird diskutiert, dass ältere Menschen mit milden kognitiven Beeinträchtigungen, wie zum Beispiel leichten Gedächtnisstörungen, ein erhöhtes Risiko haben, an einer Demenz zu erkranken. Die Probanden wurden zufällig einem Programm zur Steigerung der körperlichen Aktivität oder einer Kontrollgruppe zugeteilt. Die Art der Bewegung konnte dabei frei gewählt werden; die meisten Probanden wählten Laufen oder eine andere aerobe Sportart. Die Teilnehmer der Kontrollgruppe erhielten nur allgemeine Informationen über einen gesünderen Lebensstil. Die Bewegungsintervention resultierte in signifikant besseren Leistungen in kognitiven Tests unmittelbar nach der Interventionsphase, aber auch im Follow-up nach 18 Monaten. Die gemessenen Effekte waren relativ gering und es bleibt offen, ob diese Veränderungen zu spürbaren Verbesserungen im Alltag der Probanden führten. Jedoch sind die Effekte keinesfalls geringer als die, die typischerweise nach Behandlungen mit Cholinesterasehemmern bei Patienten mit milden kognitiven Beeinträchtigungen (mild cognitive impairment, MCI) berichtet werden (Larson 2008). Direkte Vergleiche zwischen einer medikamentösen Behandlung und einer Bewegungsintervention bei MCI fehlen noch. Bedenkt man jedoch die möglichen Nebenwirkungen von Cholinesterasehemmern im Vergleich zu einer Bewegungstherapie, so erscheint letztere als eine sehr
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Kapitel 16 · Bewegung und Kognition
sinnvolle Interventionsstrategie bei Menschen mit milden kognitiven Beeinträchtigungen.
16.6
Bewegungsinduzierte Plastizität im somatosensorischen und motorischen System
Das Einüben und Ausführen komplexer Bewegungen induziert Plastizität in kortikalen Karten des motorischen und somatosensorischen Systems. Im Gyrus praecentralis (primäre motorische Rindengebiete) und im Gyrus postcentralis (primäre somatosensorische Rinde) findet sich eine Abbildung der Skelettmuskulatur bzw. der Körperoberfläche in der Weise, dass benachbarte Bereiche des Körpers auch in benachbarten Bereichen des Gehirns abgebildet werden. Die Größe der kortikalen Repräsentation korreliert dabei jedoch nicht mit der Größe des Körperteils in der Peripherie, sondern mit dessen Feinmotorik bzw. Sensibilität. Die Organisation dieser Areale ist nicht statisch, sondern kann durch Erfahrung modelliert werden.
In vielen tierexperimentellen Studien sowie auch beim Menschen konnte nachgewiesen werden, dass der vermehrten Gebrauch einzelner Muskeln oder das Trainieren sensorischer und motorischer Fähigkeiten zu einer Vergrößerung der entsprechenden zentralen Repräsentationen führt.
15 16 17 18 19 20
Nudo und Kollegen (1996) zum Beispiel trainierten Affen darin, gezielte, komplexe Fingerbewegungen auszuführen. Mithilfe von Mikroelektrodenstimulation im motorischen Kortex der Tiere bestimmten sie die Repräsentation der involvierten Fingermuskeln und nicht involvierter Muskeln des Armes und der Schulter sowohl vor als auch nach dem Training. Dabei zeigte sich schon nach 11 Tagen eine vergrößerte Repräsentation der Fingermuskeln, die für diese spezifische Aufgabe besonders beansprucht wurden, jedoch nicht für die Muskeln des Armes oder der Schulter.
Kurzfristige plastische Veränderungen in motorischen Karten konnten auch bei Menschen experimentell durch das Lernen motorischer Sequenzen induziert werden (Pascual-Leone et al. 1994). Eindrucksvolle Belege für Plastizität im somatosensorischen und motorischen System bei Menschen liefern darüber hinaus retrospektive Studien an Probanden, die spezifische sensorische oder motorische Fähigkeiten über einen sehr langen Zeitraum trainiert haben. So sind die Repräsentationen der Finger der linken Hand im somatosensorischen Kortex bei professionellen Geigenspielern vergrößert im Vergleich zu Nichtmusikern (Elbert et al. 1995). Der Gruppenunterschied war nur für die linke Hand, die schnelle und präzise Greifbewegungen auf den Saiten ausführt, nachweisbar und nicht für die rechte Hand, die den Bogen führt. Dieses handspezifische Ergebnis und auch der Befund, dass das Ausmaß der Reorganisation mit dem Alter bei Beginn des Geigenspielens korrelierte, sprechen für erfahrungsabhängige Plastizität. Im motorischen Kortex blinder Menschen, die eine hohe Expertise im Lesen der Braille-Schrift haben, konnten vergrößerte Repräsentationen spezifisch für die Braille-Lese-Finger nachgewiesen werden (Pascual-Leone et al. 1993). Die beschriebenen neuronalen Veränderungen gehen einher mit verbesserten motorischen oder sensorischen Fähigkeiten, sodass Reorganisationen in den kortikalen Karten als ein Mechanismus motorischen oder sensorischen Lernens angesehen werden können. Die Deafferenzierung oder der Nichtgebrauch einzelner Körperteile hingegen resultiert in einer Abnahme ihrer kortikalen Repräsentation. Dies wurde als erstes von Merzenich und Kollegen in den 1980er-Jahren an Affen gezeigt. Sie durchtrennten die sensiblen Nerven einzelner Finger und beobachteten nach einigen Monaten, dass die kortikalen Gebiete, die vorher auf Stimulation der entsprechenden Finger reagierten, nun durch Stimulation angrenzender Körperareale aktiviert werden konnten (Merzenich et al. 1983). Ähnliche Effekte konnten bei Patienten nach Armamputationen nachgewiesen werden: Areale, die die verlorenen Gliedmaßen repräsentierten, reagierten nun auf Stimulation des Gesichts (Elbert et al. 1994). Die kortikalen Repräsentationen des Kinns oder der Lippen grenzen bei Menschen an die der Finger an. Nach einer
219 16.7 · Zusammenfassung
Amputation kommt es offensichtlich zu einer Ausweitung der kortikalen Gesichtsareale in die Gebiete hinein, die vorher die Finger repräsentierten. Das Ausmaß der Reorganisation nach Amputationen korrelierte mit dem Grad des Phantomschmerzes: Je ausgeprägter die Veränderungen im somatosensorischen Kortex waren, desto mehr Schmerzen berichteten die Patienten (Flor et al. 1995). Der Phantomschmerz ist somit ein Beispiel für negative Konsequenzen kortikaler Plastizität. Aufbauend auf diesen Ergebnissen postulierten Edward Taub und Kollegen (2002), dass der Nichtgebrauch einzelner Gliedmaßen auch mangelnde Erholung nach Schlaganfällen im motorischen System erklären kann. Kommt es nach einem Schlaganfall zum Beispiel zu Beeinträchtigungen in der Beweglichkeit eines Armes, so wird jeder Versuch des Patienten, den betroffenen Arm zu nutzen, zu Misserfolg oder Schmerzen führen. Kompensatorische Handlungen des nicht betroffenen Armes hingegen werden erfolgreich sein. In der Folge ist es wahrscheinlich, dass im Alltag Bewegungsversuche des betroffenen Armes eingestellt werden und vermehrt die nicht betroffene Extremität eingesetzt wird (»gelernter Nichtgebrauch«). Der Nichtgebrauch eines Armes hat zur Folge, dass seine kortikale Repräsentation kleiner wird, damit kommt es letztendlich zu einer weiteren Einschränkung der motorischen Fähigkeiten bzw. es tritt trotz Rückgang der primären Läsion keine Besserung der Symptomatik ein. Der von Taub und Kollegen entwickelte Ansatz der constraint-induced movement therapy (auch: forced-used, Taubsche Therapie) zielt darauf ab, maladaptive kortikale Reorganisationen rückgängig zu machen. Dazu werden Bewegungen des nicht betroffenen Armes unterbunden und gleichzeitig ein intensives Training des betroffenen Armes durchgeführt. Bei chronischen Schlaganfallpatienten konnte so bereits nach einem 12-tägigen intensiven Training eine Vergrößerung der kortikalen Repräsentationen des betroffenen Armes sowie eine signifikante Verbesserung in motorischen Alltagskompetenzen erreicht werden (Liepert et al. 2000).
16.7
16
Zusammenfassung
Das menschliche Nervensystem besitzt ein Leben lang die Fähigkeit, seine Struktur und Funktion zu verändern. Diese als Neuroplastizität bezeichnete Eigenschaft des Gehirns bildet die Voraussetzung für jede Form des Lernens. Die in diesem Kapitel dargestellten Forschungsarbeiten belegen, dass Sport und Bewegung Neuroplastizität auf verschiedenen Ebenen fördern kann. So regt regelmäßige Bewegung neuronale Prozesse an, die für lebenslanges Lernen essenziell sind. Insbesondere Ausdauersport trägt dazu bei, kognitive Leistungen im höheren Lebensalter zu erhalten und zu verbessern. Das Erlernen und Trainieren komplexer motorischer Aufgaben führt zu Veränderungen in kortikalen Karten des sensomotorischen Systems, die mit gesteigerten sensorischen oder motorischen Fertigkeiten einhergehen.
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Kapitel 16 · Bewegung und Kognition
10 Colcombe, S. J., Erickson, K. I., Scalf, P. E. et al. (2006). Aerobic exercise training increases brain volume in aging humans. J Gerontol A Biol Sci Med Sci, 61, 1166–70. 11 Cotman, C. W., Berchtold, N. C., Christie, L. A. (2007). Exercise builds brain health: key roles of growth factor cascades and inflammation. Trends Neurosci, 30, 464–72. 12 Eadie, B. D., Redila, V. A., Christie, B. R. (2005). Voluntary exercise alters the cytoarchitecture of the adult dentate gyrus by increasing cellular proliferation, dendritic complexity, and spine density. J Comp Neurol, 486, 39–47. 13 Elbert, T., Flor, H., Birbaumer, N. et al. (1994). Extensive reorganization of the somatosensory cortex in adult humans after nervous system injury. Neuroreport, 5, 2593–7. 14 Elbert, T., Pantev, C., Wienbruch, C. et al. (1995). Increased cortical representation of the fingers of the left hand in string players. Science, 270, 305–7. 15 Etnier, J. L., Salazar, W., Landers, D. M. et al. (1997). The Influence of Physical Fitness and Exercise Upon Cognitive Functioning: A Meta-Analysis. J Sport Exerc Psychol, 19, 249–77. 16 Flor, H., Elbert, T., Knecht, S. et al. (1995). Phantom-limb pain as a perceptual correlate of cortical reorganization following arm amputation. Nature, 375, 482–4. 17 Fordyce, D. E., Farrar, R. P. (1991). Enhancement of spatial learning in F344 rats by physical activity and related learning-associated alterations in hippocampal and cortical cholinergic functioning. Behav Brain Res, 46, 123–33. 18 Hillman, C. H., Erickson, K. I., Kramer, A. F. (2008). Be smart, exercise your heart: exercise effects on brain and cognition. Nat Rev Neurosci, 9, 58–65. 19 Kempermann, G. (2002). Why new neurons? Possible functions for adult hippocampal neurogenesis. J Neurosci, 22, 635–8. 20 Kempermann, G. (2008). The neurogenic reserve hypothesis: what is adult hippocampal neurogenesis good for? Trends Neurosci, 31, 163–9. 21 Kramer, A. F., Hahn, S., Cohen, N. J. et al. (1999). Ageing, fitness and neurocognitive function. Nature, 400, 418–9. 22 Larson, E. B. (2008). Physical activity for older adults at risk for Alzheimer disease. JAMA, 300, 1077–9. 23 Larson, E. B., Wang, L., Bowen, J. D. et al. (2006). Exercise is associated with reduced risk for incident dementia among persons 65 years of age and older. Ann Intern Med, 144, 73–81. 24 Laurin, D., Verreault, R., Lindsay, J. et al. (2001). Physical activity and risk of cognitive impairment and dementia in elderly persons. Arch Neurol, 58, 498–504. 25 Lautenschlager, N. T., Cox, K. L., Flicker, L. et al.(2008). Effect of physical activity on cognitive function in older adults at risk for Alzheimer disease: a randomized trial. JAMA, 300, 1027–37. 26 Liepert, J., Bauder, H., Wolfgang, H. R. et al. (2000). Treatment-induced cortical reorganization after stroke in humans. Stroke, 31, 1210–6.
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221 16.7 · Zusammenfassung
43 van Praag, H., Christie, B. R., Sejnowski, T. J. et al. (1999a). Running enhances neurogenesis, learning, and longterm potentiation in mice. Proc Natl Acad Sci U S A, 96, 13427–31. 44 van Praag, H., Kempermann, G., Gage, F. H. (1999b). Running increases cell proliferation and neurogenesis in the adult mouse dentate gyrus. Nat Neurosci, 2, 266–70. 45 van Praag, H., Kempermann, G., Gage, F. H. (2000). Neural consequences of environmental enrichment. Nat Rev Neurosci, 1, 191–8. 46 West, R. (1995). An application of prefrontal cortex function theory to cognitive aging. Psychol. Bull., 120, 272– 92.
16
223
Bewegung und Krebs Lisa Pleyer, Andrea Kappacher, Sabine Rosenlechner, Richard Greil
17.1
Einleitung – 224
17.2
Weshalb Tumorpatienten Bewegungstherapie als nichtpharmakologische Maßnahme »verschrieben« werden sollte – 224
17.2.1
Einfluss von Übergewicht und Adipositas auf Tumorentstehung, Inzidenz- und Rezidivraten sowie Gesamtüberleben – 224 Bewegungstherapie und Verbesserung von Tumorfatigue – 227 Bewegungstherapie und Verbesserung der Lebensqualität von Tumorpatienten – 228 Andere mögliche positive Auswirkungen von Bewegungstherapie bei Tumorpatienten – 229
17.2.2 17.2.3 17.2.4
17.3
Mögliche Zeitpunkte des Einsatzes von Bewegungstherapie im Laufe einer Tumorerkrankung – 229
17.4
Kann Bewegungstherapie Tumorpatienten schaden? – 230
17.5
Besonderheiten der Verschreibung von Bewegungstherapie bei Tumorpatienten – 231
17.6
Empfehlung und Ausführung wie weit ist die Kluft? – 233
17.7
Biologische Mechanismen des tumorigenesefördernden Effekts von Adipositas und körperlicher Inaktivität – 233
17.7.1 17.7.2 17.7.3
Auswirkungen von Adipositas auf Energiehaushalt und Lipidmetabolismus – 233 Auswirkungen von Adipositas auf Steroidhormone – 235 Weitere Mechanismen der Tumorigeneseförderung – 236
17.8
Zusammenfassung – 236
17
224
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11
Kapitel 17 · Bewegung und Krebs
Die Zahl der Patienten, die eine Krebserkrankung (auch langfristig) überlebt haben, steigt kontinuierlich. Auch eine erfolgreiche Behandlung ist oft mit kurzfristig oder mittelfristig, fallweise auch langfristig auftretenden Nebenwirkungen unterschiedlicher Art und Ausprägung verbunden. Inzwischen setzen einige Onkologen sportliche Aktivität als nichtpharmakologische Maßnahme zur Linderung solcher tumoroder chemotherapiemediierten Folgen ein. In diesem Beitrag lesen Sie über: 4 den Einfluss von Übergewicht und Adipositas auf die Tumorentstehung, auf Inzidenz- und Rezidivraten sowie auf die Gesamtüberlebensrate von Tumorpatienten, 4 die Bewegungstherapie als Möglichkeit zur Verbesserung der Tumorfatigue und der Lebensqualität im Allgemeinen, 4 die möglichen Zeitpunkte, wann Bewegungstherapie im Laufe einer Tumorerkrankung eingesetzt werden kann, 4 Besonderheiten, die bei der Verschreibung von Bewegungstherapie bei Tumorerkrankungen beachtet werden müssen, 4 biologische Mechanismen des tumorigenesefördernden Effekts von Adipositas und körperlicher Inaktivität.
12 13 14 15 16 17 18 19 20
17.1
Einleitung
Allein in den USA gibt es heute mehr als 10 Millionen Menschen, die eine Krebserkrankung überlebt haben [1], und der Anteil derer, die Tumoren auch langfristig überlebt haben, an der Gesamtbevölkerung steigt stetig [2]. Obwohl in den letzten Jahren die Wirksamkeit der Chemotherapien deutlich gestiegen ist und das Gesamtüberleben der Patienten bei vielen Tumorentitäten zugenommen hat, so sind einige dieser Behandlungen mit akuten und chronischen physiologischen und psychologischen Auswirkungen, wie z. B. mit Fatigue, Einbußen in der Lebensqualität oder mit supprimierter Immunabwehr, behaftet. Die hohe Wahrscheinlichkeit, im Laufe des Lebens an einem Tumor zu erkranken (45 % aller Männer und 38 % aller Frauen in den USA), macht dies zu einem relevanten sozioökonomischen Thema [2]. Körperliches Training wird von einigen Onkologen inzwischen als
nichtpharmakologische Maßnahme zur Linderung von tumor- oder chemotherapiemediierten Folgen verschrieben (z. B. [3]), und die American Cancer Society empfiehlt für Krebspatienten, welche die Tumorbehandlung hinter sich gebracht haben und keine wesentlichen Komorbiditäten aufweisen, dieselben Aktivitäts-Levels wie für die Gesamtbevölkerung [4].
17.2
Weshalb Tumorpatienten Bewegungstherapie als nichtpharmakologische Maßnahme »verschrieben« werden sollte
17.2.1
Einfluss von Übergewicht und Adipositas auf Tumorentstehung, Inzidenz- und Rezidivraten sowie Gesamtüberleben
Übergewicht (Body Mass Index/BMI ≥25,0), Adipositas (BMI ≥30,0) und morbide Adipositas (BMI ≥40,0) korrelieren mit einem signifikant erhöhten Risiko, an einer Tumorerkrankung zu versterben [5–8]. > Es wird geschätzt, dass ca. 14 % aller Krebstodesfälle bei Männern und 20 % bei Frauen entsprechend 90.000 Krebstodesfälle pro Jahr in den USA vermeidbar wären, wenn Männer wie Frauen zeitlebens ein »normales Gewicht« (BMI <25,0) halten könnten [5].
Die postulierten biologischen Mechanismen, die dem Zusammenhang zwischen Übergewicht, körperlicher Inaktivität und der erhöhten Tumorinzidenz einerseits wie auch der erhöhten Tumorrezidivrate und dem Risiko am Tumor zu versterben andererseits zugrunde liegen, sind im Wesentlichen durch diverse metabolische und endokrinologische Folgen der Adipositas zu erklären [9] (7 Kap. 17.7, . Abb. 17.1). Die IARC (International Agency for Research on Cancer) kommt zum Schluss, dass ein tumorpräventiver Effekt durch die Vermeidung einer exzessiven Gewichtszunahme ausreichend evidenzgesichert ist [9]. Dieses Ergebnis wird von Calle et al.
17
225 17.2 · Weshalb Tumorpatienten Bewegungstherapie als nichtpharmakologische ...
bestätigt [5]. In ihrer prospektiven Evaluation von 900.000 US-Amerikanern, welche zum Zeitpunkt des Einschlusses in die Studie tumorfrei waren, verstarben innerhalb eines Beobachtungszeitraums von 16 Jahren 57.145 Menschen an den Folgen eines malignen Tumors. Die Relation zwischen dem BMI und dem Risiko, an Krebs zu versterben, wurde unter der Berücksichtigung anderer Risikofaktoren in einer Multivariatanalyse kalkuliert [5]. Die Ergebnisse reflektieren den kombinierten Einfluss des BMI sowohl auf die Tumorinzidenz als auch auf das Gesamtüberleben von Tumorpatienten. Die Krebstodesraten bei stark übergewichtigen Patienten (BMI ≥40,0) sind für alle Tumorentitäten zusammengenommen bei Männern um 52 % und bei Frauen um 62 % gegenüber der normalgewichtigen Bevölkerung (BMI <25,0) erhöht [5]
(. Tab. 17.1). Für fast alle untersuchten Tumorentitäten haben übergewichtige Patienten ein signifikant höheres relatives Risiko (RR) an dieser Erkrankung zu versterben; dieses Risiko steigt linear mit zunehmendem BMI (. Tab. 17.1). Besonders stark erhöht sind die folgenden Risiken [5]: 4 das männliche Todesrisiko bei hepatozellulärem Karzinom (HCC; bis zu 4,5-fach, p<0.001), 4 das weibliche Todesrisiko bei 5 Non-Hodgkin-Lymphomen (NHL; bis zu 1,95-fach, p<0.001), 5 Brustkrebs (bis zu 2,12-fach, p<0.001), 5 Pankreaskarzinom (bis zu 2,76-fach, p<0.001), 5 Zervixkarzinom (bis zu 3,20-fach, p=0.001),
. Tab. 17.1 Einfluss des Body Mass Index (BMI) auf Mortalität bei Krebs Tumorentität
BMI 18,5–24,9
p 25–29,9
30–34,9
35–39,9
>40,0
Alle Tumoren
RR
RR
RR
RR
RR
Männer Frauen
1.00 1.00
0.97 1.08
1.09 1.23
1.20 1.32
1.52 1.62
0.001 <0.001
1.00 1.00
1.15 2.68
1.28 2.90
1.63 –
– –
0.008 0.13
1.00 1.00
1.01 0.89
1.20 1.30
1.94 1.08
– –
0.03 0.13
1.00 1.00
1.20 1.10
1.47 1.33
1.84 1.36
– 1.46
<0.001 <0.001
1.00 1.00
1.13 1.02
1.90 1.40
4.52 1.68
– –
<0.001 0.04
1.00 1.00
1.34 1.12
1.76 2.13
– –
– –
0.02 <0.001
1.00 1.00
1.13 1.11
1.41 1.28
1.49 1.41
– 2.76
<0.001 <0.001
Ösophagus-CA Männer Frauen Magen-CA Männer Frauen Kolorektales CA Männer Frauen HCC Männer Frauen Gallenblasen-CA Männer Frauen Pankreas-CA Männer Frauen
226
1 2 3
Kapitel 17 · Bewegung und Krebs
. Tab. 17.1 Fortsetzung Tumorentität
Männer Frauen Melanom
5
Männer Frauen
7 8 9 10 11
Männer
Männer Frauen
Männer Frauen
Männer Frauen
0.78 0.88
0.79 0.82
0.67 0.66
– 0.81
<0.001 <0.001
1.00 1.00
0.95 0.85
0.85 1.10
– –
– –
0.32 0.95
1.00
1.08
1.20
1.34
–
<0.001
1.00 1.00
1.03 1.02
1.14 1.34
– –
– –
0.36 0.21
1.00 1.00
1.18 1.33
1.36 1.66
1.70 1.70
– 4.75
0.002 <0.001
1.00 1.00
0.98 1.02
0.79 1.10
– 0.74
– –
0.14 0.96
1.00 1.00
1.08 1.22
1.56 1.20
1.49 1.95
– –
<0.001 <0.001
1.00 1.00
1.18 1.12
1.44 1.20
1.71 1.95
– –
0.002 <0.001
1.00 1.00
1.14 1.05
1.37 1.12
1.70 0.93
– –
<0.001 0.53
1.00
1.34
1.63
1.70
2.12
<0.001
1.00
1.50
2.53
2.77
6.25
<0.001
1.00
1.38
1.23
3.20
–
0.001
1.00
1.15
1.16
1.51
–
0.001
NHL
Männer Frauen Leukämie
15
Männer Frauen
16
Mamma-CA Frauen Uterus-CA Frauen
20
1.00 1.00
Hirntumoren
Myelom
19
>40,0
Nierenzell-CA
13
18
35–39,9
Blasen-CA
Männer Frauen
17
30–34,9
Prostata-CA
12
14
p 25–29,9
Lungen-CA
4
6
BMI 18,5–24,9
Zervix-CA Frauen Ovarial-CA Frauen
BMI Body Mass Index, CA Karzinom, HCC hepatozelluläres Karzinom, NHL Non-Hodgkin-Lypmphom, p statistische Signifikanz, RR relatives Risiko
227 17.2 · Weshalb Tumorpatienten Bewegungstherapie als nichtpharmakologische ...
5 Nierenzellkarzinom (bis zu 4,75-fach, p<0.001) und 5 Uteruskarzinom (bis zu 6,25-fach, p<0.001) (. Tab. 17.1, mod. nach [5]). Als potenzieller Bias dieser Analysen muss bedacht werden, dass Adipositas möglicherweise die Diagnosestellung und/oder Therapie eines Tumors in mehrfacher Weise beeinflussen kann. Es ist jedoch nicht nur das Körpergewicht vor Diagnosestellung eines Tumors von Bedeutung, sondern auch nach Diagnosestellung unter und nach der Therapie. Fettleibigkeit scheint durch diverse, in 7 Kap. 17.7 näher beschriebenen molekulare Mechanismen bedingte Änderungen des Mikromilieus im Fettgewebe nicht nur die Entstehung, sondern auch die Ausbreitung und Metastasierung von Tumoren zu begünstigen [10] (vgl. . Abb. 17.1). Der Zusammenhang zwischen Adipositas und dem Risiko eines Tumorrezidivs oder an Krebs zu versterben wurde vor allem bei Frauen mit Brustkrebs im Detail untersucht. > Besonders wichtig erscheint, dass Übergewicht als negativer prognostischer Faktor invers mit dem Stadium der Erkrankung korreliert zu sein scheint.
Das bedeutet, dass das durch Adipositas erhöhte Risiko, an Brustkrebs zu versterben, bei Frauen im Stadium I wesentlich höher liegt (70 %) als bei Frauen im Stadium II (40 %) oder Frauen im Stadium IV, in dem Adipositas nicht mehr mit einer erhöhten Sterblichkeitsrate assoziiert ist [11]. Bedauerlicherweise ist eine Gewichtszunahme nach Diagnosestellung bei Frauen mit Brustkrebs eher die Regel als die Ausnahme [12, 13]. Zudem konnte eine nationale kanadische Studie zeigen, dass Frauen, die Brustkrebs überlebt hatten, weniger körperlich aktiv sind als Frauen ohne Brustkrebs in der Anamnese [14]. Prämenopausale Frauen mit mehr als 6 kg Gewichtszunahme hatten eine 1,5-fach höhere Wahrscheinlichkeit eines Rezidivs und eine 1,6-fach erhöhte Wahrscheinlichkeit an Brustkrebs zu versterben als Frauen, die weniger an Gewicht zunahmen [15]. Daher sind gewichtsregulierende Maßnahmen vor allem bei denjenigen Frauen, die a priori durch das niedrige Stadium ihrer Erkrankung
17
die besten Überlebenschancen hätten, besonders wichtig. Das Vermeiden oder die Bekämpfung einer Gewichtszunahme während der Brustkrebstherapie scheint durch körperliche Aktivität gut erreichbar zu sein [16–18] und wird daher vielfach empfohlen (z. B. [4, 19]). Patienten, die nach der Diagnosestellung eine Bewegungstherapie durchführten, hatten eine deutlich niedrigere Wahrscheinlichkeit eines Tumorrezidivs und eine geringere tumorspezifische Mortalität wie auch eine geringere Gesamtmortalität zusätzlich zu einer verbesserten Lebensqualität und reduzierter Fatigue [20, 21]. Ähnliches wurde auch für Patienten mit kolorektalen Karzinomen (CRC) gezeigt [22, 23]. Im Jahr 2000 wurden 300 Millionen adipöse Menschen weltweit erfasst; knapp zwei Drittel der Gesamtbevölkerung kann in den USA als übergewichtig oder adipös eingestuft werden [24]. Angesichts der kontinuierlichen Zunahme der Prävalenz an Fettleibigkeit, die kausal mit einer parallelen Zunahme der Inzidenz von Typ-II-Diabetes und kardiovaskulären Erkrankungen zusammenhängt [25], nimmt die Gegensteuerung durch Bewegungstherapie eine immer wichtigere Stellung, vor allem sozioökonomischer Natur, ein.
17.2.2
Bewegungstherapie und Verbesserung von Tumorfatigue
Das sogenannte »Asthenische Syndrom«, das sich aus einem objektiven Verlust an physischer Leistungsfähigkeit und einer subjektiven FatigueKomponente zusammensetzt [26], ist eine häufige Begleiterscheinung bei Krebspatienten. Fatigue tritt bei ca. 70 % aller Tumorpatienten während der Chemo-/Radiotherapie auf. Sie wird bei knapp einem Drittel aller Patienten nach Beendigung der tumorspezifischen Therapie chronisch und kann über Jahre hinweg anhalten [27–29]. Fatigue kann schwer ausgeprägt sein und Patienten in ihren alltäglichen Verrichtungen beeinträchtigen. Das Konzept, Bewegungstherapie als aktive Therapiemaßnahme gegen Fatigue zu verordnen, hat sich noch nicht bei allen Onkologen durchgesetzt, da es nicht eingängig erscheinen mag. Jedoch zeigen Daten aus randomisierten klinischen Studien, dass Bewegungstherapie zur Bekämpfung der Tumorfatigue nicht
228
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Kapitel 17 · Bewegung und Krebs
nur »nicht schädlich« ist, sondern die Fatigue reduziert und positive Auswirkungen auf das Gesamtbefinden und die Lebensqualität hat [26, 30–40]. Bei Patienten, deren Therapiemodalitäten einen längeren stationären Aufenthalt notwendig machen, sind das Fehlen körperlicher Bewegungsmöglichkeiten und die Bettruhe der Hauptgrund für die Konditionsabnahme während der Chemotherapie nicht die Chemotherapie und deren Nebenwirkungen selbst. Eine klinische Interventionsstudie mit Bewegungstherapie (aerobes Training auf einem Laufband für eine Zeitdauer von 30±10 Tagen) wurde bei Patienten mit hämatologischen Neoplasien, die unter stationären Bedingungen konventionelle Chemotherapien (n=45) oder Hochdosis-Chemotherapien mit autologer Stammzelltransplantation (n=21) erhielten, durchgeführt [32]. Trotz intensiver Chemotherapieprotokolle und der Nebenwirkungen/Komplikationen der Therapie ist bei diesen Patienten keine Reduktion ihres physischen Leistungsvermögens eingetreten wie sie sonst nach einem mehrwöchigen Aufenthalt auf einer (Aplasie-)Station üblich ist [32]. Eine Vielzahl an Studien belegt, dass Patienten auch während der Chemotherapie [32, 35, 41–43] oder während der Radiotherapie [44, 45] von Bewegungstherapie profitieren und dass insbesondere 4 die Entstehung von Tumorfatigue und emotionalem Stress abgewendet, 4 die Ausprägung des tumor-/therapieassoziierten asthenischen Syndroms gemildert sowie 4 das Selbstwertgefühl gesteigert werden kann. Ähnliches konnte für spätere Zeitpunkte des Einsatzes von Bewegungstherapie, wie etwa postoperativ [37], nach erfolgter Chemotherapie [33] oder während der Rehabilitationsphase [34], gezeigt werden. Bemerkenswert erscheint, dass Bewegungstherapie auch bei terminalen Krebspatienten zu Verbesserungen des Performanzstatus führen kann [42]. Eine rezent publizierte Metaanalyse, welche 28 Studien mit insgesamt 2.083 Patienten reevaluierte, bestätigt, dass Bewegungstherapie im Vergleich zu körperlicher Inaktivität zu einer statistisch signifikanten Verbesserungen von Tumorfatigue führt [39].
> Aus der Vielfalt oben zitierter Studien kann geschlossen werden, dass Bewegungstherapie mit präzise definierter und individuell an den einzelnen Patienten angepasster Intensität, Dauer und Frequenz eine wirksame Maßnahme gegen Tumorfatigue ist und daher verordnet werden sollte [31].
17.2.3
Bewegungstherapie und Verbesserung der Lebensqualität von Tumorpatienten
Lebensqualität ist ein Überbegriff für das allgemeine physische, funktionelle (i. e. Muskelkraft, Körperkomposition, Nausea, Fatigue), psychische (i. e. Stimmung, Selbstwertgefühl), emotionale und soziale Wohlbefinden. Zusätzlich zu der in 7 Kap. 17.2.1 ausgeführten positiven Wirkung auf Tumorfatigue bewirkt Bewegungstherapie eine Vitalitätszunahme sowie eine generelle Verbesserung der Lebensqualität. Nicht zu vernachlässigen ist auch die positive Auswirkung von körperlicher Bewegung auf die Psyche. Einige Studien zeigen eine Verminderung von Depressionen sowie einen stimmungsaufhellenden Effekt und eine Verbesserung des Selbstwertgefühls [43]. Ein kritischer Review über 24 Studien veranschaulicht, dass Bewegungstherapie insgesamt einen signifikanten und klinisch relevanten positiven Effekt auf die Lebensqualität nach Tumordiagnosestellung hat [46]. Dies wurde für eine Vielzahl unterschiedlicher Entitäten, wie etwa Lymphome [47], Endometriumkarzinome [48], Ovarialkarzinome [49], Brustkrebs [50, 51], kolorektale Karzinome [40, 52], HNO-Tumoren [53] und Blasenkarzinome [54] gezeigt. Derzeit kann keine klare Aussage in Bezug auf die für die gewünschten positiven Effekte nötige Quantität an Bewegungstherapie getroffen werden. Die Veränderung des Lebensstils und die Verhaltensweise zugunsten von vermehrter körperlicher Betätigung scheint jedoch eine größere Rolle zu spielen als die absolute Quantität an sportlicher Aktivität [55].
229 17.3 · Mögliche Zeitpunkte des Einsatzes von Bewegungstherapie im Laufe einer ...
17.2.4
Andere mögliche positive Auswirkungen von Bewegungstherapie bei Tumorpatienten
Weiters kann sportliche Aktivität allein oder in Kombination mit einer Diätmodifikation zu anderen Auswirkungen mit positivem Effekt für Tumorpatienten führen, wie z. B. Gewichtsabnahme bei adipösen Patientinnen mit Brustkrebs in frühen Stadien [19] oder Verbesserung des Immunstatus von Tumorpatienten [56–58]. Bewegungstherapie fördert die Immunabwehr bei Tumorpatienten mutmaßlich durch eine Erhöhung der zytotoxischen Aktivität von NK-Zellen, eine Verbesserung der Monozyten- und Lymphozytenfunktion sowie eine Steigerung der Proportion zirkulierender neutrophiler Granulozyten [56, 59]. Bewegungstherapie fördert möglicherweise auch die Knochenmarksregeneration nach erfolgter autologer Stammzelltransplantation. Patienten, die sich unter stationären Bedingungen in der Aplasie sportlich betätigten, hatten eine signifikant kürzere Dauer der Thrombopenie und Neutropenie mit geringerer Frequenz an neutropenischen Infektionen sowie höhere Hämoglobinkonzentrationen als Kontrollpatienten, die keinen Sport betrieben [30]. Weiters profitierten diese Patienten im Sinne von geringeren Schmerzen, einer Verbesserung des Allgemeinzustands sowie einer kürzeren Krankenhausaufenthaltsdauer [30]. Interessant ist, dass Bewegungstherapie bei (selektionierten) anämischen Patienten, die unter Erythropoietinsubstitution stehen, nicht nur ohne Gefahr für die Patienten durchführbar ist, sondern auch einen rascheren Anstieg des Hämoglobins nach sich zieht, sodass die Erythropoietindosis nachfolgend reduziert werden kann [60]. Obwohl die allgemein anerkannten positiven Auswirkungen von Bewegungstherapie auf kardiovaskuläre Erkrankungen und Diabetes mellitus bislang noch nicht detailliert bei Krebspatienten untersucht worden sind, ist anzunehmen, dass die günstigen Auswirkungen körperlicher Aktivität, die für die Gesamtbevölkerung zutreffen, auch bei Krebspatienten erwartet werden können vorausgesetzt, dass die Lebenserwartung nicht auf wenige Monate beschränkt ist. Ähnliches wird auch für die
17
der Osteoporose vorbeugende Wirkung von Bewegung gelten. Zusätzlich zu diesem knochenstärkenden Effekt tragen eine Reduktion des prozentuellen Körperfettanteils mit gleichzeitiger (relativer) Zunahme von Muskelmasse und eine Verbesserung des Muskeltonus sowie des Gleichgewichts zu einer geringeren Sturzneigung bei. Damit wäre auch das Frakturrisiko, insbesondere bei älteren Patienten, deutlich verringert. Manche Studien belegen eine Verbesserung der Beweglichkeit mit konkomitanter Reduktion postoperativer [61] oder anderer malignomassoziierter Schmerzen [30]. Für alle oben genannten positiven Auswirkungen von Bewegungstherapie muss jedoch der DosisWirkungs-Bezug noch geklärt werden.
17.3
Mögliche Zeitpunkte des Einsatzes von Bewegungstherapie im Laufe einer Tumorerkrankung
Die Gesellschaft für Physical Exercise Across the Cancer Experience (PEACE) gibt 5 mögliche Zeitpunkte für die ärztliche Empfehlung und/oder Verschreibung körperlicher Betätigung bei Tumorpatienten vor: 4 zur Überbrückung vor der tumorspezifischen Therapie 4 zur Verbesserung der Verträglichkeit während der Therapie 4 zur Rehabilitation unmittelbar nach der Behandlung 4 zur Langzeitverbesserung der Gesundheit sowie des Gesamtüberlebens für Patienten mit positivem Behandlungsergebnis 4 zur Palliation von Symptomen bei Patienten ohne kurative Option [62] Eine im Jahr 2005 publizierte Metaanalyse, welche Daten aus 22 qualitativ hochwertigen klinischen Studien zusammenfasste, konnte einen Benefit sportlicher Betätigung auf die kardiorespiratorische Fitness während und nach Chemotherapie, eine Linderung von Symptomen und Nebenwirkungen unter der Therapie sowie eine Verbesserung des Vigors und der Vitalität nach erfolgter Behandlung zeigen (starke, in sich konsistente, wider-
230
Kapitel 17 · Bewegung und Krebs
1
. Tab. 17.2 Positive Auswirkungen sportlicher Betätigung während und nach tumorspezifischen Therapien, für die statistische Signifikanz oder starke, widerspruchsfreie Evidenz gefunden werden konnte
2
Auswirkung
Sportliche Aktivität während der Behandlung
Sportliche Aktivität nach der Behandlung
Evidenzlevel
Positive Studien
Signifikante Studien
p
Evidenzlevel
Positive Studien
Signifikante Studien
p
Symtpome/ Nebenwirkungen
Stark
3/3
3/3
<0.001
Insuffizient
0/n. g.
0/n. g.
Nicht berechenbar
Schwach
4/5
3/5
<0.001
Stark
4/4
3/4
0.003
6
Fitness/ kardiorespiratorische Fitness
7
Lebensqualität
Schwach
4/4
2/4
0.58
Stark
5/5
4/5
0.17
8
Immunsystem
Insuffizient
2/2
2/2
0.002
Insuffizient
1/1
0/1
0.23
Physiologischer Outcome
Stark
3/4
3/4
0.001
Insuffizient
2/2
2/2
0.90
9
3 4 5
10 11
n. g. nicht gezählt, p statistische Signifikanz Definitionen der Evidenzlevel: Stark (≥3): qualitativ hochwertige Studien, 75 % davon zeigen einen statistisch signifikanten positiven Benefit Schwach (≥3): qualtitativ hochwertige Studien mit inkonsistenten Ergebnissen Insuffizient (<3): qualitativ hochwertige Studien
12 13 14 15 16 17 18 19 20
spruchsfreie Evidenz, . Tab. 17.2, mod. nach [63]). Die Dauer der größtenteils unter Aufsicht durchgeführten sportlichen Betätigung der Tumorpatienten variierte zwischen 5 Wochen und 3 Monaten, das Training fand 3- bis 5 mal pro Woche für eine Zeitdauer von 20 bis 30 Minuten pro Einheit statt, es gab keine Follow-up-Berichte. Die Drop-out-Raten waren gering, und zwar sowohl während (11,5 %) als auch nach der Tumortherapie (12,7 %). Der Großteil der bislang durchgeführten Studien befasst sich mit den Auswirkungen von Sport in frühen und späten Stadien der Tumortherapie.
17.4
Kann Bewegungstherapie Tumorpatienten schaden?
Der Befürchtung, dass sportliche Aktivität während einer Chemotherapie unter Umständen schädlich sein könnte, muss entgegengehalten werden, dass
eine länger andauernde Periode körperlicher Inaktivität während und nach der Tumorbehandlung eine oder mehrere der folgenden Auswirkungen haben kann [64]: 4 reduzierte kardiorespiratorische Fitness 4 Verschlechterung des Glukosemetabolismus mit reduzierter Insulinsensitivität 4 Zunahme kardiovaskulärer Risikofaktoren 4 Osteoporose und/oder Muskelatrophie mit eventueller Beeinträchtigung bei der Verrichtung alltäglicher Aufgaben In 12 von 14 Studien, welche Angaben zu potenziellen Schäden der Bewegungstherapie bei Tumorpatienten machten, konnte kein Nachteil für die Patienten festgestellt werden; in 2 von 14 Studien wurden milde Klagen über Nausea bei einem Patienten bzw. eine fragliche Zunahme an Lymphödemen bei einzelnen Patienten mit Axilladissektion dokumentiert [63]. Bei Tumorpatienten mit Lymphödemen
231 17.5 · Besonderheiten der Verschreibung von Bewegungstherapie bei Tumorpatienten
sind die Meinungen zur Bewegungstherapie derzeit noch geteilt. Befürchtungen mancher Onkologen, dass repetitive Bewegungen oder Sport im Allgemeinen die Entstehung von Lymphödemen begünstigen könnte, scheinen jedoch unbegründet. Die bisherigen Daten zumindest deuten auf keinen nachteiligen Effekt von Bewegungstherapie auf vorhandene Lymphödeme hin [65–67]. Eine Metaanalyse von 32 klinischen Interventionsstudien mit Bewegungstherapie bei Tumorpatienten belegt, dass sportliche Aktivität während und nach Chemotherapie generell gut toleriert wird [63]. Wichtig erscheint an dieser Stelle, dass zahlreiche, teils randomisierte klinische Studien darauf schließen lassen, dass aerobe Bewegungstherapie zu jedem der in 7 Kap. 17.3 genannten 5 Zeitpunkte während des Verlaufs der Tumorerkrankung durchgeführt werden kann und dies nicht nur ohne Schaden, sondern mit beträchtlichem Benefit für die Patienten. Das gilt sogar unmittelbar nach Hochdosis-Chemotherapien [30], in fortgeschrittenem Lebensalter [68, 69] und bei terminalen Tumorpatienten [42]. Allerdings muss bedacht werden, dass die Intensität der Belastung möglicherweise eine Rolle spielt. > Aufgrund präklinischer Daten, die in Tiermodellen generiert wurden und zeigen, dass Belastungen mit hoher Intensität (>80 % der maximalen Herzfrequenz) und von sehr langer Dauer eine Metastasierung begünstigen können [70, 71], sollte von anaeroben Belastungen Abstand genommen werden.
17.5
Besonderheiten der Verschreibung von Bewegungstherapie bei Tumorpatienten
Krebspatienten tendieren dazu, ihre körperliche Aktivität nach Diagnosestellung noch weiter zu reduzieren, und kehren selten wieder zu dem Aktivitätsniveau zurück, das vor der Tumordiagnose bestanden hat [72, 73]. Es bleibt festzuhalten, dass physische Inaktivität bereits einen Risikofaktor für die Inzidenz vieler Tumoren darstellt, allen voran
17
für die häufigsten Entitäten Brustkrebs und kolorektale Karzinome. Daher wird ein Großteil der einen Tumor überlebenden Patienten bereits vor der Behandlung einen bewegungsarmen Lebensstil geführt haben. Zusätzlich dazu können manche spezifischen Tumortherapieformen die Fähigkeit, Sport auszuüben, negativ beeinflussen. Manche Chemotherapeutika etwa haben potenziell kardiotoxische (z. B. Anthrazykline), myelotoxische, anämisierende oder polyneuropathische Nebenwirkungen (z. B. Oncovin, Velcade, Thalidomid). Auch der zusätzliche psychische Stress der Diagnosestellung sowie der Therapie selbst kann die Psyche und damit die Bereitschaft der Patienten, Bewegungstherapie zu betreiben oder sich selbst mehr zu bewegen, negativ beeinflussen. Daher muss ein bereits vorbestehendes gegenüber der »Normalbevölkerung« reduziertes physisches Leistungsvermögen bei vielen Tumorpatienten angenommen werden, welches sich möglicherweise während der Therapie noch weiter verschlechtert. Wichtig ist dabei, dass von Nichttumorpatienten als geringe oder moderate körperliche Belastung empfundene Intensitäten in der Bewegungstherapie für Krebspatienten bereits stark oder gar zu stark belastend sein können. > Das körperliche Leistungsvermögen ist also von vielen individuellen Faktoren abhängig, u. a. den bestehenden Komorbiditäten, der körperlichen Aktivität vor Diagnosestellung, der diagnostizierten Tumorentität und deren spezifischen Therapiemodalitäten sowie von den akuten und chronischen Nebenwirkungen der Therapie [62].
Vor allem bei Beginn der Bewegungstherapie bei Tumorpatienten sollte das Training durch fachliche Supervision eines Sportmediziners, Physiotherapeuten, Fitnesstrainers oder qualifizierten Personal Trainers erfolgen. Das Programm sollte unter Berücksichtigung aller oben genannten Punkte individuell auf den einzelnen Patienten abgestimmt werden. Klare Anweisungen bezüglich Intensität, Dauer, Häufigkeit und Art der körperlichen Belastung sollten gegeben werden. Weitere Besonderheiten der Therapie bei Tumorpatienten sind in . Tab. 17.3 zusammengefasst.
232
Kapitel 17 · Bewegung und Krebs
1
. Tab. 17.3 Bei der Bewegungstherapie von Tumorpatienten gesondert zu berücksichtigende Faktoren
2
Zu beachtende Faktoren
Tumorentität
Potenzieller Schaden
Anämie
5 Alle 5 CTX-induziert
5 Kardiovaskuläre Belastung 5 AP-Symptomatik 5 Belastungsdyspnoe
M-Gradient
5 Multiples Myelom 5 Morbus Waldenström
5 Hyperviskositätssyndrom mit Folge-
Immunkompromitierte Patienten
5 Potenziell alle 5 Hämatologische Neoplasien 5 CTX-induziert
5 Erhöhte Infektionsgefahr an Orten
Radiotherapie
5 Lymphome 5 Morbus Hodgkin 5 Palliation von lokaler Verdrängung
5 Hautirritationen durch Chlorkon-
3 4
schäden
5 Thromboembolisches Ereignis 5 Visusstörungen 5 Durchblutungsstörungen
5 6 7 8
durch Metastasen
5 Frakturgefährdete Osteolysen bei
9 10 11
PNP oder Ataxie, Schwindel
5 CTX-bedingt 5 Zerebrale Metastasen 5 WBI
5 Gestörtes Gleichgewicht mit erhöhter Sturzgefahr
5 Unfähigkeit gewisse Bewegungen auszuführen
Geringere physische Belastbarkeit
5 Niedrigere körperliche Aktivität be5 5 5 5
13
15
takt im Bereich der bestrahlten Haut (Schwimmbäder) 5 Erhöhte Infektionsgefahr durch Eintrittspforten bei Strahlenstomatitis
Myelom
12
14
mit hoher Menschendichte (z. B. Fitnessstudios)
Geringere psychische Belastbarkeit
reits vor Therapie Spezifische CTX-Nebenwirkungen: Kardiotoxisch Myelotoxisch (Anämie) PNP
5 Diagnoseschock und -verarbeitung 5 Therapieverarbeitung 5 Geänderter Umgang von naheste-
5 Physische Überlastung mit entsprechenden potenziellen Folgen
5 Psychische Überlastung
henden Personen mit Meidung oder Leugnung AP Angina pectoris, CTX Chemotherapie, PNP Polyneuropathie, WBI Whole Body Irradiation (Ganzkörperbestrahlung)
16 17 18 19 20
Eine definitive Empfehlung über das Ausmaß bzw. die Quantität an Bewegungstherapie bei Tumorpatienten kann zum derzeitigen Stand noch nicht abgegeben werden. Für die allgemeine Bevölkerung empfiehlt die American Cancer Society sowie das American Heart Association Nutrition Committee derzeit 30 bis 60 Minuten körperliche Aktivität von moderater bis starker Intensität, mindestens 5-mal pro Woche, um das Risiko von Tumorerkrankungen, kardiovaskulären Erkrankungen und Diabetes mellitus zu reduzieren [74, 75]. Es gibt keinen
plausiblen Grund, weshalb diese Empfehlungen bei geheilten Tumorpatienten nicht gelten sollten. Es ist anzunehmen, dass Patienten, die nach erfolgter Operation und/oder Chemotherapie respektive Strahlentherapie tumorfrei sind, aber auch Patienten mit niedriger Tumormasse, die bislang noch keiner Therapie bedurften (z. B. frühe Stadien einiger Low-grade-Lymphome), oder beispielsweise CML-Patienten (CML: chronische myeloische Leukämie) mit majorer molekularer Remission oder kompletter molekularer Remission gleichermaßen
233 17.7 · Biologische Mechanismen des tumorigenesefördernden Effekts von Adipositas und ...
von ähnlichen Empfehlungen profitieren würden. Jedoch muss dem Alter der Patienten Rechnung getragen werden. Viele Tumorpatienten sind im fortgeschrittenen Lebensalter und mit dieser Menge an Bewegungstherapie überfordert. Wichtig ist, dass der lineare Zusammenhang der präventiven Wirkung von Bewegungstherapie mit dem Ausmaß derselben kommuniziert wird und dass individuelle, auf den jeweiligen Patienten abgestimmte Empfehlungen abgegeben werden. Tägliche, regelmäßige Aktivitäten, wie etwa der Verzicht auf die Benutzung von Fahrstühlen oder von motorisierten Fahrzeugen, um stattdessen zu Fuß kleinere Strecken zurückzulegen, können bereits ein guter Anfang sein. Bei Patienten die bereits 3-mal pro Woche Sport betreiben, kann z. B. empfohlen werden, dies auf 4- bis 5-mal zu steigern.
17.6
Empfehlung und Ausführung wie weit ist die Kluft?
Nach Diagnosestellung verändern viele Tumorpatienten ihre Lebensgewohnheiten. 15–19 % erhöhen die tägliche Aufnahme von Obst und Gemüse auf 5 Rationen, 47 % ernähren sich insgesamt gesünder, 46–91 % hören auf zu rauchen, aber lediglich 29–47 % sind sportlich aktiv; 30 % der Patienten betreiben sogar weniger Sport als vor der Diagnosestellung [76–78]. Generell tendieren Tumorpatienten dazu, während und auch nach der Therapie sich weniger körperlich zu betätigen als vor Diagnosestellung [72, 73]. Nur 5 % der Tumorpatienten leisteten allen ärztlich empfohlenen Lebensmodifikationen Folge [76]. Dies ist im Licht der Daten von Ford et al. von Bedeutung. In der Analyse von 23.153 Patienten mit einem Follow-up von knapp 8 Jahren wurde gezeigt, dass Nichtraucher mit einem BMI <30,0, die sich gesund ernährten und >3,5 Stunden/Woche Sport betrieben, ein signifikant niedrigeres Risiko für kardiovaskuläre Erkrankungen, Diabetes mellitus und Tumorentstehung hatten als solche, die weniger oder keinen dieser Punkte erfüllten [79]. Es ist anzunehmen, dass die Daten von Ford, die vor der Tumordiagnose erhoben wurden, auch nach Tumordiagnosestellung gültig sind.
17
Bei einer Befragung von 281 kanadischen Onkologen und Strahlentherapeuten waren sich 56 %, 62 % und 63 % einig, dass Bewegungstherapie für den Tumorpatienten während der Therapie wichtig, von Vorteil bzw. ohne gesundheitlichen Schaden durchführbar ist [80]. Dennoch empfehlen nur 43 % derselben Ärzte ihren Patienten, sich sportlich zu betätigen; nur 28 % sprachen diese Empfehlung in den letzten 30 Tagen aus und sehr wenige glauben, dass ihre Patienten den Empfehlungen tatsächlich Folge leisten [80, 81].
17.7
Biologische Mechanismen des tumorigenesefördernden Effekts von Adipositas und körperlicher Inaktivität
17.7.1
Auswirkungen von Adipositas auf Energiehaushalt und Lipidmetabolismus
Fettgewebe ist ein aktives endokrines und metabolisches Organ, das weitreichende Auswirkungen auf andere Gewebe haben kann (z. B. [82]). Fettgewebe reguliert unter anderem den Energiehaushalt durch Freisetzung von freien Fettsäuren (FFA), die bei aeroben Tätigkeiten als Hauptenergielieferant für Skelettmuskeln und andere Gewebe dienen. Weiters sezernieren Adipozyten Hormone wie Leptin, Adiponektin und Resistin sowie Zytokine wie TNF-α (Tumornekrosefaktor-alpha), und steuern somit den Lipidmetabolismus. Wie in . Abb. 17.1 dargestellt, werden bei Adipositas FFA, TNF-α und Resistin vermehrt und Adiponektin vermindert freigesetzt. Somit führt Adipositas letzten Endes zur Induktion einer Insulinresistenz mit kompensatorischer Hyperinsulinämie [83] ein Effekt, der durch körperliche Inaktivität weiterhin verstärkt wird. Die Effekte von Bewegung auf TNF-α und die dadurch vermittelten immunmodulierenden Wirkungen werden im 7 Kap. 4 beschrieben. Adiponektin fördert die Angiogense. Tumoren, die in einer adiponektinarmen Umgebung, wie sie bei adipösen Patienten vorherrscht, entstehen, werden in fortgeschrittenen Stadien zumindest in Tiermodellen durch kompensatorische Mechanismen aggressiver und weisen trotz einer hypoxischen Umgebung
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Kapitel 17 · Bewegung und Krebs
Ovar
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Androgene (bei genetischer Präsdisposition)
3 IGF-1 Bioverfügbarkeit
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Krebszelle Chronische Anovulation
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SH-BP, IGF-BP
Progesteron Insulin
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Insulinresistenz
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Östradiol Bioverfügbarkeit FFA, TNF-, Resistin, Adiponektin
Adipozyt
Androstendion Testosteron 17-HSD Aromatase
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Proliferation Apoptose Tumorigenese
Adipositas
Östron/ Östradiol
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. Abb. 17.1 Metabolische und endokrinologische Folgen der Adipositas sowie deren postulierte Auswirkungen auf Krebsentstehung und/oder -förderung. FFA freie Fettsäuren, HSD Hydrosteroid-Dehydrogenase, IGF-1 insulin like growth factor-1, IGF-BP insulin like growth factor binding proteins, SH-BP sexual hormone binding proteins, TNF-α Tumornekrosefaktoralpha
massive Zellproliferation und Mobilisierungskapazitäten auf [84]. Chronische Hyperinsulinämie führt durch Niederregulierung der hepatischen Synthese von IGF1-BP (insulin like growth factor-1 binding protein) zu einer erhöhten Bioverfügbarkeit von ungebundenem IGF-1. Eine inverse Korrelation zwischen Plasmaspiegel an IGF-BP, welches die Bioverfügbarkeit von IGF-1 reduziert, und dem Tumorrisiko wurde gezeigt [85, 86]. In eine Studier, die Daten von 373 Patienten mit nichtmetastasiertem, operiertem CRC erfasste, waren erhöhte Spiegel von C-Peptid, einem Marker der Insulinsekretion, und erniedrigte Spiegel von IGF-1-BP mit einer erhöhten Mortalität assoziiert [86]. Etliche In-vitro- und auch In-vivo-Daten belegen, dass sowohl IGF-1 als auch Insulin die zelluläre Proliferation fördern und die Apoptose hemmen, und somit zur vermehrten
Tumorigenese beitragen [10, 87–90] (. Abb. 17.1). Manche Tumoren, wie etwa Brustkrebs, überexprimieren Rezeptoren für Insulin und IGF-1 sowie Hybridrezeptoren für Insulin und IGF-1 [91, 92]. Somit wird der proliferationsfördernde Effekt dieser Peptidhormone weiter verstärkt. Ein zielgerichtetes therapeutisches Ansteuern dieser Rezeptoren wird derzeit in vitro untersucht. In einer Kohorte von 512 Frauen mit Brustkrebs im frühen Stadium waren in einer Multivariatanalyse hohe InsulinNüchternspiegel mit einem erhöhten BMI, Fernmetastasen, einer schlechteren Gesamtprognose sowie erhöhter Mortalität vergesellschaftet [93]. Als interessante und wichtige Anmerkung sei an dieser Stelle vermerkt, dass eine positive Assoziation zwischen einer erhöhten Tumorinzidenz und verabreichter Insulindosis bei Typ-2-Diabetikern gefunden werden konnte. Dies gilt sowohl
235 17.7 · Biologische Mechanismen des tumorigenesefördernden Effekts von Adipositas und ...
für Humaninsulin als auch für Insulinanaloga [94]. Insulinresistenz, Hyperresistinämie und daraus resultierender Hyperandrogenismus wurden bislang mit der Epidemiologie und Inzidenz vieler häufiger Tumoren, wie etwa dem Mammakarzinom [95], Endometriumkarzinom [85, 96], Ovarialkarzinom [97], Pankreaskarzinom [10, 98] und CRC [99, 100], assoziiert. Interessanterweise kann sich auch während der Chemotherapie der Plasmaspiegel von IGF-BP ändern; dies wurde mit erworbener Therapieresistenz und Tumorprogression in Verbindung gebracht [101]. Eine Senkung des IGF1-Plasmaspiegels reduziert das Risiko an Krebs zu erkranken bei Typ-2-Diabetikern [96]. Dies kann durch präventive bewegungstherapeutische [102, 103], dietätische und medikamentöse Maßnahmen erreicht werden [96]. Klinische Studien mit Brustkrebspatientinnen konnten einen direkten Zusammenhang zwischen sportlicher Aktivität und der Senkung des IGF-1- [102, 103] sowie des Insulinspiegels [104] zeigen. Zusätzlich zu Lebensstilmodifikationen wie einer gesunden Ernährung und Bewegungstherapie weisen neue Denkansätze in der zielgerichteten Therapie des Mammakarzinoms in Richtung einer pharmakologischen Senkung des Insulinspiegels, beispielsweise durch Metformin [105]. Dies hätte den zusätzlichen Vorteil, dass Metformin auch eine direkte Wirkung auf Krebszellen hat, indem es als mTOR-Antagonist (mTOR: mammalian target of rapamycin) wirkt [106].
17.7.2
Auswirkungen von Adipositas auf Steroidhormone
Adipozyten besitzen auch eine Reihe von Enzymen, die Steroidhormone metabolisieren können und die Bildung von Östrogenen aus androgenen Vorstufen auf mehrfache Weise fördern: 4 Insulin erhöht die Synthese und biologische Aktivität männlicher und weiblicher Sexualhormone im Fettgewebe. Bei Männern und postmenopausalen Frauen ist das Fettgewebe der Hauptproduzent von Östrogenen und der BMI steht bei diesen Patienten in direktem Zusammenhang mit der Menge an zirkulierendem Östron und Östradiol [107–109]. Die erhöhten
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Östrogenspiegel verstärken bei postmenopausalen Frauen das Risiko an Endometrium- (ca. 5-fach erhöhtes relatives Risiko) oder Brustkrebs (ca. 2-fach erhöhtes relatives Risiko) zu erkranken [108–112]. Ein Großteil des Zusammenhangs zwischen BMI und Brustkrebs wird der adipositasmediierten Erhöhung endogener Östradiolspiegel zugeschrieben [113]. Einige Studien weisen darauf hin, dass die erhöhte Brustkrebssterblichkeit bei fettleibigen Patientinnen auf diejenige Patientinnenpopulation beschränkt ist, die östrogenrezeptorpositive Tumoren aufweisen (z. B. [114]). Bei prämenopausalen Frauen hingegen hat Adipositas wenig Auswirkungen auf den Serum-Östradiolspiegel, da der negative Rückkoppelungsmechanismus intakt ist. Bei diesen Frauen führt Adipositas jedoch zu einer Reduktion von Progesteron und somit zu einem deutlich erhöhten Risiko für ein Endometriumkarzinom, wobei sich das Risiko für Brustkrebs nicht signifikant verändert [108]. 4 Zusätzlich dazu führt Hyperinsulinämie nicht nur zu einer verminderten hepatischen Bildung von IGF-BP (siehe oben), sondern auch von SH-BP (sexual hormone binding proteins) [115]. Dies resultiert in einer erhöhten Bioverfügbarkeit von aktivem, ungebundenem IGF1 und Östradiol. Ähnlich wie beim IGF-BP besteht eine inverse Korrelation zwischen dem SH-BP-Spiegel und dem Risiko für Endometriumkarzinome bei postmenopausalen Frauen [110]. 4 Hohe Insulinspiegel können außerdem die Androgensynthese im Ovar und der Nebennierenrinde fördern und bei genetisch prädisponierten Frauen zur Entwicklung des polyzystischen Ovarialsyndroms (PCOS) führen [116, 117]. In einer Analyse von 110 postmenopausalen Brustkrebspatientinnen wurde gezeigt, dass die Hazard-Ratio für ein Tumorrezidiv bei Patientinnen mit metabolischem Syndrom respektive metabolischem Syndrom und erhöhtem Androgenspiegel (>0,40 ng/ml) um das 3-Fache bzw. 6,7-Fache erhöht war [118].
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Kapitel 17 · Bewegung und Krebs
17.7.3
Weitere Mechanismen der Tumorigeneseförderung
Neben geänderten Peptidhormon- und Steroidhormon-Plasmaspiegeln, die mitogen wirken [9], ist Übergewicht durch die intraabdominelle Drucksteigerung mit einer erhöhten Refluxrate mit den entsprechenden bekannten Risiken für Adenokarzinome des Ösophagus vergesellschaftet [119]. Zudem führt vor allem viszerale Adipositias bei manchen Patienten zu NAFLD (non-alcoholic fatty liver disease) [120]. Bei Progression zu NASH (nichtalkoholische Steatohepatitis) und Leberfibrose/-zirrhose steigt das Risiko für die Entwicklung eines hepatozellulären Karzinoms. Dieser Progression kann jedoch durch Bewegungstherapie erfolgreich entgegengewirkt werden [121].
patienten kann zum derzeitigen Stand noch nicht abschließend gegeben werden.
Literatur 1 2 3
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17.8
Zusammenfassung 7
Auch eine erfolgreiche Tumorbehandlung ist meist mit negativen körperlichen und psychischen Auswirkungen verbunden. Körperliche Aktivität kann als nichtpharmakologische Maßnahme zur deren Linderung eingesetzt werden. Ein BMI ≥25,0 korreliert mit einem signifikant höheren Risiko, an einer Tumorerkrankung zu versterben, wobei das Risiko bei verschiedenen Tumorentitäten unterschiedlich hoch ist. Adipositas wirkt sich nachweislich auf Energie- und Hormonhaushalt, Lipidmetabolismus und Tumorigenese aus. Ein tumorpräventiver Effekt durch Vermeidung exzessiver Gewichtszunahme gilt als ausreichend gesichert. Hinsichtlich der Bewegungstherapie bei Tumorerkrankungen zeigen randomisierte klinische Studien neben einer Reduktion der Fatigue weitere positive Auswirkungen. Auch während einer Chemo- oder Radiotherapie profitieren Patienten von körperlicher Aktivität. Die Mechanismen werden in diesem Beitrag beschrieben. Wichtig sind eine präzise Definition und individuelle Anpassung der Therapie an den einzelnen Patienten, die Auswahl des richtigen Zeitpunktes der Therapie sowie die Berücksichtigung spezieller Faktoren wie Anämien oder Immunkompromittierung. Eine definitive Empfehlung über das Ausmaß bzw. die Quantität an Bewegungstherapie bei Tumor-
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Kapitel 17 · Bewegung und Krebs
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239 17.8 · Zusammenfassung
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Kapitel 17 · Bewegung und Krebs
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Zum Nachschlagen 18
Administrative Rahmenbedingungen, Verordnungsund Abrechnungsmöglichkeiten – 243 Hans-Hauke Engelhardt
III
243
Administrative Rahmenbedingungen, Verordnungs- und Abrechnungsmöglichkeiten Hans-Hauke Engelhardt
18.1
Rehabilitationssport und Funktionstraining – 244
18.1.1
18.1.2
»Rahmenvereinbarung über den Rehabilitationssport und das Funktionstraining vom 01. Oktober 2003 in der Fassung vom 01. Januar 2007« – 244 Was bedeuten diese Vereinbarungen für die Praxis? – 248
18.2
Präventionssport – 249
18.3
Eigenfinanzierter Präventions- und Rehabilitationssport und eigenfinanziertes Funktionstraining – 249
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Aktueller Diskussionsstand – 249
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Zusammenfassung – 253
18
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Kapitel 18 · Administrative Rahmenbedingungen, Verordnungs- und Abrechnungsmöglichkeiten
Rehabilitationstraining ist die systematische und planmäßige therapeutische Anwendung bewegungsorientierter Maßnahmen. Ziel ist es, die Folgen von Verletzungen und Erkrankungen schnell und dauerhaft zu überwinden. Beim Funktionstraining stehen spezielle Körperpartien und –organe im Mittelpunkt, es soll dazu beitragen, die Rehabilitationsziele zu erreichen. Präventivsportangebote dienen dazu, den allgemeinen Gesundheitszustand zu erhalten. In diesem Beitrag lesen Sie über: 4 die Inhalte der »Rahmenvereinbarung über den Rehabilitationssport und das Funktionstraining« 4 die Bedeutung der Vereinbarungen für die Praxis 4 die Möglichkeiten des Präventionssports und eigenfinanzierter Sportprogramme 4 den aktuellen Diskussionsstand zum Thema.
18.1
Rehabilitationssport und Funktionstraining
Auf der gesetzlichen Grundlage des im Jahre 2001 verabschiedeten Sozialgesetzbuch, Neuntes Buch (SGB IX), in der Fassung des Gesetzes zur Förderung der Ausbildung und Beschäftigung schwerbehinderter Menschen vom 23. April 2004 (BGBl. I S. 606) wurde zum 01. Oktober 2003 erstmalig eine »Rahmenvereinbarung über den Rehabilitationssport und das Funktionstraining« getroffen.
15
Im SGB IX – Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen – § 44, Ergänzende Leistungen, heißt es dazu:
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» Die Leistungen zur medizinischen Rehabilita-
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tion und zur Teilhabe am Arbeitsleben der in … genannten Rehabilitationsträger werden ergänzt durch … 3. ärztlich verordneten Rehabilitationssport in Gruppen unter ärztlicher Betreuung und Überwachung, einschließlich Übungen für behinderte oder von Behinderung bedrohte Frauen und Mädchen, die der Stärkung des Selbstbewusstseins dienen, 4. ärztlich verordnetes Funktionstraining in Gruppen unter fachkundiger Anleitung und Überwachung …
«
Damit besteht seither ein rechtlicher Anspruch gegenüber den jeweils zuständigen Kostenträgern auf ärztlich verordneten Rehabilitationssport und Funktionstraining, eine entsprechende Indikation vorausgesetzt. Unter der Federführung der Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation (BAR) haben die gesetzlichen Krankenkassen, die gesetzlichen Unfallversicherungsträger, die Träger der gesetzlichen Rentenversicherung und der Alterssicherung der Landwirte, die Träger der Kriegsopferversorgung – alles Rehabilitationsträger – und der Bundesverband für Osteoporose e. V., der Deutsche Behindertensportverband e. V., die Deutsche Gesellschaft für Prävention und Rehabilitation von Herz-Kreislauf e. V., die Deutsche Rheuma-Liga Bundesverband e. V. unter Beteiligung und Beratung der Kassenärztlichen Bundesvereinigung und des Weibernetzes e. V. die Rahmenvereinbarung überarbeitet, sodass die heute gültige Fassung vom 01. Januar 2007 datiert. Zusätzlich haben der Deutsche Verband für Gesundheitssport und Sporttherapie e. V., die Deutsche Vereinigung Morbus Bechterew e. V., die Deutsche Fibromyalgie Vereinigung e. V., die Deutsche Parkinson Vereinigung e. V., die Deutsche Multiple Sklerose Gesellschaft e. V. und der Osteoporose Selbsthilfegruppen Dachverband e. V. ihren Beitritt zur Rahmenvereinbarung erklärt. Weitere Organisationen streben einen Beitritt an.
18.1.1
»Rahmenvereinbarung über den Rehabilitationssport und das Funktionstraining vom 01. Oktober 2003 in der Fassung vom 01. Januar 2007«
Die Rehabilitationsträger erbringen Rehabilitationssport und Funktionstraining als ergänzende Leistungen nach § 44 Abs. 1 Nr. 3 und 4 SGB IX in Verbindung mit § 43 SGB V, § 39 SGB VII, § 10 Abs. 1 ALG1 sowie Leistungen nach § 11 Abs. 5 und § 12 Abs. 1 BVG2, um das Ziel der Rehabilitation zu erreichen oder zu sichern. 1 2
ALG: Gesetz über die Alterssicherung der Landwirte BVG: Bundesversorgungsgesetz
245 18.1 · Rehabilitationssport und Funktionstraining
Ziel, Zweck und Inhalt des Rehabilitationssports Rehabilitationssport kommt für behinderte und von Behinderung bedrohte Menschen – einschließlich aller chronisch kranken Menschen – in Betracht, um sie auf Dauer möglichst (wieder) in die Gesellschaft und das Arbeitsleben einzugliedern. Rehabilitationssport soll mit den Mitteln des Sports und sportlich ausgerichteter Spiele ganzheitlich auf den Menschen wirken. Dabei ist auf eine notwendige Mobilität sowie physische und psychische Belastbarkeit für Übungen in der Gruppe zu achten. Ziel ist die Verbesserung von Ausdauer, Kraft, Koordination und Flexibilität sowie eine Stärkung des Selbstbewusstseins insbesondere von behinderten oder von Behinderung bedrohten Frauen und Mädchen. Darüber hinaus soll Hilfe zur Selbsthilfe angeboten werden. Letzteres verfolgt das Ziel, die eigene Verantwortlichkeit des Behinderten oder von Behinderung bedrohten Menschen für seine Gesundheit zu stärken und ihn zum langfristigen, selbstständigen und eigenverantwortlichen Bewegungstraining – z. B. durch weiteres Sporttreiben in der bisherigen Gruppe bzw. im Verein auf eigene Kosten – zu motivieren. Rehabilitationssport umfasst Übungen, die in der Gruppe im Rahmen regelmäßig abgehaltener Übungsveranstaltungen durchgeführt werden. Auch Maßnahmen, die einem krankheits-/ behinderungsgerechten Verhalten und der Bewältigung psychosozialer Krankheitsfolgen dienen (z. B. Entspannungsübungen), sowie die Einübung im Gebrauch technischer Hilfen können Bestandteil des Rehabilitationssports sein.
Ziel, Zweck und Inhalt des Funktionstrainings Funktionstraining hat den gleichen Zweck wie der Rehabilitationssport, ist aber insbesondere für Menschen mit Erkrankungen oder Funktionseinschränkungen der Stütz- und Bewegungsorgane angezeigt. Das Funktionstraining wirkt besonders mit den Mitteln der Krankengymnastik und/oder der Ergotherapie gezielt auf spezielle körperliche Strukturen (Muskeln, Gelenke usw.) der behinderten oder von Behinderung bedrohten Menschen, die über die notwendige Mobilität sowie physische und psy-
18
chische Belastbarkeit für bewegungstherapeutische Übungen in der Gruppe verfügen, ein. Funktionstraining ist organorientiert. Ziele des Funktionstrainings sind der Erhalt und die Verbesserung von Funktionen sowie das Hinauszögern von Funktionsverlusten einzelner Organsysteme/Körperteile, die Schmerzlinderung, die Bewegungsverbesserung und die Hilfe zur Selbsthilfe. Auch hier hat die Hilfe zur Selbsthilfe das Ziel, die eigene Verantwortlichkeit des behinderten oder von Behinderung bedrohten Menschen für seine Gesundheit zu stärken und ihn zum langfristigen, selbstständigen und eigenverantwortlichen Bewegungstraining im Sinne eines angemessenen Übungsprogramms auf eigene Kosten, z. B. durch die weitere Teilnahme an Bewegungsangeboten, zu motivieren.
Leistungsumfang/Dauer Die Erforderlichkeit für Rehabilitationssport und Funktionstraining im Sinne dieser Vereinbarung ist grundsätzlich so lange gegeben, wie der behinderte oder von Behinderung bedrohte Mensch während der Übungsveranstaltungen auf die fachkundige Leitung des Übungsleiters/der Übungsleiterin bzw. des Therapeuten/der Therapeutin angewiesen ist, um die oben genannten Ziele zu erreichen. Die Notwendigkeit für Rehabilitationssport bzw. Funktionstraining kann nach ambulanten oder stationären Leistungen zur medizinischen Rehabilitation erneut bestehen. In der gesetzlichen Rentenversicherung einschließlich der Alterssicherung der Landwirte werden Rehabilitationssport und Funktionstraining in der Regel bis zu 6 Monaten, längstens bis zu 12 Monaten, übernommen. Eine längere Leistungsdauer als 6 Monate ist unter bestimmten Voraussetzungen möglich. In der gesetzlichen Krankenversicherung beträgt der Leistungsumfang des Rehabilitationssports 50 Übungseinheiten, welche in einem Zeitraum von 18 Monaten in Anspruch genommen werden können. Bei einigen Krankheiten kann wegen der häufig schweren Beeinträchtigungen der Mobilität oder Selbstversorgung ein erweiterter Leistungsumfang von insgesamt 120 Übungseinheiten in einem Zeitraum von 36 Monaten notwendig sein und bewilligt werden. Bei chronischen Herzkrank-
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Kapitel 18 · Administrative Rahmenbedingungen, Verordnungs- und Abrechnungsmöglichkeiten
heiten beträgt der Leistungsumfang des Rehabilitationssports in Herzgruppen 90 Übungseinheiten, die in einem Zeitraum von 30 Monaten in Anspruch genommen werden können. Bei herzkranken Kindern und Jugendlichen beträgt der Leistungsumfang 120 Übungseinheiten innerhalb von 24 Monaten. Folgeverordnungen sind möglich. Rehabilitationssport in Herzgruppen kann nach wiederholter abgeschlossener Akutbehandlung erneut in Betracht kommen. Näheres ist in den Empfehlungen der Spitzenverbände der gesetzlichen Krankenkassen und der Deutschen Gesellschaft für Prävention und Rehabilitation von HerzKreislauferkrankungen (DGPR) vom 24. Juli 2003 geregelt. > Hinsichtlich der Besonderheiten des Rehabilitationssports mit herzkranken Kindern ist das DGPR Positionspapier »Die Kinderherzgruppe (KHG)« vom Oktober 2005 zu beachten.
In der gesetzlichen Krankenversicherung beträgt der Leistungsumfang des Funktionstrainings 12 Monate. Bei schwerer Beeinträchtigung der Beweglichkeit/Mobilität durch chronisch bzw. chronisch progredient verlaufende entzündlichrheumatische Erkrankungen (rheumatoide Arthritis, Morbus Bechterew, Psoriasis-Arthritis), schwere Polyarthrosen, Kollagenosen, Fibromyalgie-Syndrome und Osteoporose beträgt der Leistungsumfang 24 Monate. Eine längere Leistungsdauer ist nur möglich, wenn die langfristige Durchführung des Übungsprogramms in Eigenverantwortung wegen geistiger oder psychischer Krankheiten/Behinderungen, welche selbstgesteuerte Aktivitäten zur Durchführung des Übungsprogramms nicht ermöglichen, nicht oder noch nicht gegeben ist. In diesen Fällen erfolgen die Erst- bzw. weitere notwendige Folgeverordnung(en) bei Rehabilitationssport für 120 Übungseinheiten in 36 Monaten, in Herzgruppen für 90 Übungseinheiten in 30 Monaten, bei Funktionstraining für 24 Monate.
Durchführung und Anerkennung des Rehabilitationssports und des Funktionstrainings Rehabilitationssport und Funktionstraining werden überwiegend in gemeinnützigen Organisationen wie Turn- und Sportvereinen, in Volkshochschulen oder in örtlichen Arbeitsgemeinschaften durchgeführt, die über die jeweiligen Landesverbände der o. g. Vertragspartner der Rahmenvereinbarung (der Bundesverband für Osteoporose e. V., der Deutsche Behindertensportverband e. V., die Deutsche Gesellschaft für Prävention und Rehabilitation von Herz-Kreislauf e. V., die Deutsche Rheuma-Liga Bundesverband e. V.) organisiert sind. Diesen Vertragspartnern obliegt auch die jeweilige Anerkennung des einzelnen Leistungserbringers.
Gruppengröße, Dauer der Unterrichtseinheiten Beim Rehabilitationssport und beim Funktionstraining beträgt die maximale Teilnehmerzahl einer Übungsveranstaltung grundsätzlich 15 Teilnehmer/-innen je Übungsleiter/-in. Bei der Durchführung von Rehabilitationssport in Herzgruppen bestimmt der/die betreuende Arzt/Ärztin die Teilnehmerzahl, die nicht größer als 20 sein darf. Sofern Menschen mit Blindheit, Doppelamputation, Hirnverletzung, behinderte Menschen mit schweren Lähmungen oder andere schwerstbehinderte Menschen am Rehabilitationssport teilnehmen, sollen diesen spezifischen Übungsgruppen nicht mehr als 7 Teilnehmer/-innen angehören. Die Dauer einer Übungsveranstaltung beim Rehabilitationssport soll grundsätzlich mindestens 45 Minuten, beim Rehabilitationssport in Herzgruppen mindestens 60 Minuten betragen. Die Anzahl der Übungsveranstaltungen beträgt bis zu 2, mit besonderer Begründung höchstens 3 Übungsveranstaltungen je Woche. Die Dauer einer Übungsveranstaltung beim Funktionstraining soll grundsätzlich mindestens 30 Minuten bei Trockengymnastik bzw. grundsätzlich mindestens 15 Minuten bei Wassergymnastik betragen. Die Anzahl der Übungsveranstaltungen beträgt bis zu 2, mit besonderer Begründung höchstens 3 Übungsveranstaltungen je Woche.
247 18.1 · Rehabilitationssport und Funktionstraining
Ärztliche Betreuung/Überwachung des Rehabilitationssports Grundsätzlich erfolgen die ärztliche Betreuung und Überwachung des einzelnen behinderten oder von Behinderung bedrohten Menschen auch im Hinblick auf den Rehabilitationssport durch den behandelnden/verordnenden Arzt/die behandelnde/verordnende Ärztin. Die Betreuung der Rehabilitationssportgruppen erfolgt durch einen Arzt/eine Ärztin, der/die die Teilnehmer/-innen und die/den Übungsleiter/in bei Bedarf während der Übungsveranstaltung berät. Dieser Arzt/diese Ärztin informiert die/den behandelnde/n bzw. verordnende/n Arzt/Ärztin über wichtige Aspekte der Durchführung des Rehabilitationssports, sofern dies für die Verordnung bzw. Behandlung von Bedeutung ist. Beim Rehabilitationssport in Herzgruppen ist die ständige, persönliche Anwesenheit eines/einer betreuenden Arztes/Ärztin während der Übungsveranstaltungen erforderlich. Mit der ärztlichen Betreuung und Überwachung des Rehabilitationssports in Herzgruppen sind auf dem Gebiet des Rehabilitationssports erfahrene Ärzte/Ärztinnen zu beauftragen. Ihre Aufgabe ist es, 4 auf der Grundlage aktueller Untersuchungsbefunde die auf die Einschränkungen sowie auf den Allgemeinzustand des behinderten oder von Behinderung bedrohten Menschen abgestimmten Übungen festzulegen, 4 zu Beginn jeder Übungsveranstaltung die Belastbarkeit durch Befragung festzustellen und zu berücksichtigen; ggf. sind dem/der Übungsleiter/-in entsprechende Anweisungen zu erteilen, 4 während der Übungen die Teilnehmer/-innen zu überwachen, 4 den behinderten oder von Behinderung bedrohten Menschen zu beraten. Die Belastungsvorgaben einschließlich der Befunde sowie besondere Hinweise wie Einschränkungen usw. sind schriftlich zu dokumentieren. Beim Rehabilitationssport in Herzgruppen gelten zusätzlich die mit den Spitzenverbänden der Rehabilitationsträger abgestimmten Richtlinien der DGPR.
18
Leitung des Rehabilitationssports Beim Rehabilitationssport müssen die Übungen von Übungsleitern/-innen geleitet werden, die aufgrund eines besonderen Qualifikationsnachweises die Gewähr für eine fachkundige Anleitung und Überwachung der Gruppen bieten.
Leitung des Funktionstrainings Beim Funktionstraining kommen für die Leitung der Trainingsgruppen vor allem Physiotherapeuten/innen bzw. Krankengymnasten/-innen mit speziellen Erfahrungen und spezieller Fortbildung für den Bereich der rheumatischen Erkrankungen bzw. Osteoporose einschließlich Wassergymnastik und Atemgymnastik und mit Kenntnissen und Erfahrungen in der psychischen und pädagogischen Führung in Betracht.
Verordnung und Bewilligung von Rehabilitationssport und Funktionstraining Rehabilitationssport und Funktionstraining werden bei Bedarf von dem behandelnden Arzt/der behandelnden Ärztin verordnet. Für die gesetzliche Rentenversicherung und die Alterssicherung der Landwirte kann Rehabilitationssport und Funktionstraining auch durch den Arzt/die Ärztin der Rehabilitationseinrichtung verordnet werden. Die Verordnung muss enthalten: 4 die Diagnose nach ICD 10, die Gründe und Ziele, weshalb Rehabilitationssport/Funktionstraining erforderlich ist, 4 Angaben über die vorliegenden Funktionseinschränkungen und zur psychischen und physischen Belastbarkeit, 4 die Dauer des Rehabilitationssports bzw. des Funktionstrainings, 4 eine Empfehlung für die Auswahl der für die Behinderung geeigneten Rehabilitationssportart bzw. Funktionstrainingsart, bei Herzgruppen die Empfehlung zur Übungs- oder Trainingsgruppe sowie Empfehlungen für besondere Inhalte des Rehabilitationssports, z. B. Übungen zur Stärkung des Selbstbewusstseins behinderter oder von Behinderung bedrohter Frauen und Mädchen.
248
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Kapitel 18 · Administrative Rahmenbedingungen, Verordnungs- und Abrechnungsmöglichkeiten
Rehabilitationssport und Funktionstraining sind vor dem Beginn durch den Rehabilitationsträger zu bewilligen. Dies gilt auch für Folgeverordnungen.
Kostenregelung und Abrechnungsverfahren Die Vergütung für die Teilnahme am Rehabilitationssport bzw. Funktionstraining wird in der Regel zwischen den Bundes-/Landesorganisationen der Träger von Rehabilitationssportgruppen/Funktionstrainingsgruppen und den Rehabilitationsträgern vertraglich geregelt. Die Träger der Rehabilitationssportgruppen bzw. Funktionstrainingsgruppen haben eine pauschale Unfallversicherung für die Teilnehmer/-innen an den Übungsveranstaltungen abzuschließen, sofern nicht bereits eine Sportversicherung besteht. Die Rehabilitationsträger begrüßen eine Mitgliedschaft in den Rehabilitationssportgruppen bzw. Funktionstrainingsgruppen auf freiwilliger Basis, um die eigenverantwortliche Durchführung des Bewegungstrainings zu fördern und nachhaltig zu sichern. Eine Mitgliedschaft in der Gruppe, einer Selbsthilfegruppe oder im Verein ist jedoch für die Teilnahme am Rehabilitationssport bzw. Funktionstraining für die Dauer der Verordnung zulasten eines Rehabilitationsträgers nicht verpflichtend. Es ist nicht zulässig, neben der Vergütung des Rehabilitationsträgers für die Teilnahme am Rehabilitationssport bzw. Funktionstraining Zuzahlungen, Eigenbeteiligungen etc. von den Teilnehmer/innen zu fordern. Mitgliedsbeiträge bei freiwilliger Mitgliedschaft sind möglich. Die Abrechnung für die Teilnahme an den Übungsveranstaltungen erfolgt grundsätzlich zwischen dem Rehabilitationsträger und dem Träger der Rehabilitationssportgruppe/Funktionstrainingsgruppe. Die Abrechnung durch von den Leistungserbringern beauftragte Dritte ist möglich (z. B. im Rahmen des maschinellen Abrechnungsverfahrens nach § 302 SGB V). Der Teilnahmenachweis hat durch Unterschrift des/der Teilnehmers/-in für jede Übungsveranstaltung zu erfolgen. Abweichungen hiervon können vertraglich geregelt oder im Einzelfall mit dem Rehabilitationsträger abgesprochen werden.
Vereinbarungen zur Durchführung und Finanzierung des Rehabilitationssports und des Funktionstrainings Auf der Grundlage der Rahmenvereinbarung über den Rehabilitationssport und das Funktionstraining vom 01. Oktober 2003 in der Fassung vom 01. Januar 2007 bestehen sogenannte »Durchführungsvereinbarungen« zwischen Bundesorganisationen der Rehabilitationsträgern und den Bundesorganisationen/-verbänden der Leistungserbringer. In diesen Vereinbarungen werden insbesondere die Vergütungen für den Rehabilitationssport und das Funktionstraining und Verfahren bei Vertragsverstößen geregelt. Auf Länderebene bestehen schließlich Vereinbarungen, die basierend auf den Vereinbarungen zur Durchführung und Finanzierung des Rehabilitationssports und des Funktionstrainings regionale Besonderheiten bezüglich der konkreten Umsetzung insbesondere der Abrechnungen von Leistungen regeln.
18.1.2
Was bedeuten diese Vereinbarungen für die Praxis?
Im ambulanten Bereich können und sollten Rehabilitationssport und Funktionstraining bei entsprechender Indikation von jedem Arzt mit Kassenzulassung als ergänzende Maßnahmen zur medizinischen Rehabilitation verordnet werden. Hierfür steht erfreulicherweise ein einheitliches Verordnungsformular »Muster 56« zur Verfügung (. Abb. 18.1). Auf diesem Vordruck – u. a. bei jeder Kassenärztlichen Vereinigung erhältlich – wird als Folge einer ärztlichen Verordnung für Rehabilitationssport/Funktionstraining ein Antrag auf Kostenübernahme bei dem zuständigen Kostenträger gestellt. Diese Verordnung fällt nicht ins sogenannte Heilmittelbudget und kann vom Arzt über die Gebührenordnung extrabudgetär abgerechnet werden. In der stationären Rehabilitation können die behandelnden Ärzte die entsprechenden Anträge an die Rentenversicherungsträger stellen. Leider existieren hier noch keine bundeseinheitlichen Vordrucke. Die erforderlichen Formulare liegen
249 18.4 · Aktueller Diskussionsstand
aber in der Regel in jeder stationären bzw. teilstationären Rehabilitationseinrichtung vor. Die Abrechnung des Rehabilitationssports und des Funktionstrainings mit dem Rehabilitationsträger erfolgt durch den Leistungserbringer (z. B. Sportverein) oder durch einen beauftragten Dritten. Die Abrechnung muss folgende Informationen beinhalten: 4 Rechnungs- bzw. Belegnummer, 4 das Institutionskennzeichen (IK), 4 die ärztliche Verordnung im Original einschließlich einer Kostenübernahmeerklärung durch den Kostenträger (mit Stempel auf dem Formular oder als Begleitschreiben), 4 die Teilnahmebestätigung des Versicherten im Original (. Abb. 18.2); dabei ist es absolut erforderlich, dass auf der ersten Seite dieser Teilnahmebestätigung die erste Zeile mit den persönlichen Daten des Versicherten vollständig ausgefüllt ist und jede einzelne, teilgenommene Stunde persönlich durch die Unterschrift des Versicherten unterzeichnet ist, auf der zweiten Seite muss durch die Unterschrift des Übungsleiters die Richtigkeit der Teilnahme des Versicherten bestätigt sein. Die Anzahl der Übungsstunden ist unter der jeweils zutreffenden Positionsnummer zusammen mit dem jeweils in den Durchführungsvereinbarungen genannten Vergütungssatz einzutragen, 4 Nennung der Bankverbindung, auf die der Kostenträger die Überweisung tätigen kann, 4 ggf. Gesamtaufstellung bei mehreren Abrechnungen gegenüber einem Kostenträger.
18.2
Präventionssport
Im Gegensatz zum Rehabilitationssport und dem Funktionstraining ist der sogenannte Präventionssport – entgegen allen Ankündigungen – bisher gesetzlich nicht geregelt. Einzelne von den Kostenträgern geförderte Angebote unterliegen nach wie vor der Anerkennung jeder einzelnen Krankenkasse bzw. -versicherung. Präventionssport kann nur empfohlen werden. Bei allen, auch bei den von (Sport-)Verbänden oder Gesundheitsvereinen anerkannten Präventionsport- bzw. Gesundheitssportangeboten, ist
18
es daher unbedingt erforderlich zu prüfen, welche Kostenträger dieses Angebot anerkennen und auch finanziell fördern.
18.3
Eigenfinanzierter Präventionsund Rehabilitationssport und eigenfinanziertes Funktionstraining
Grundsätzlich stehen alle Angebote im Präventions- und Rehabilitationssport und beim Funktionstraining auch dem sogenannten »Selbstzahler« zur Verfügung. Viele private Krankenversicherungen übernehmen inzwischen die Kosten für ärztlich verordneten Therapiesport – analog dem Rehabilitationssport und dem Funktionstraining Es empfiehlt sich aber unbedingt, vor Beginn einer Maßnahme mit der privaten Krankenversicherung Rücksprache über die Kostenübernahme zu halten, da hier bisher kein rechtlicher Anspruch abzuleiten ist. Nach Ablauf der ärztlichen Vorordnungen können die meisten Angebote »auf eigene Rechnung« weiter genutzt werden. Es gibt aber auch die Möglichkeit, Bewegungstherapie bei ausgewählten Indikationen als ärztliche Leistung nach GOÄ Ziffern abzurechnen.
18.4
Aktueller Diskussionsstand
Ausgehend von der Deutschen Rheuma-Liga Bundesverband e. V., der sich auf ein Urteil des Bundessozialgerichtes vom 17. Juni 2008 beruft, das die Rechtmäßigkeit der Befristung klar verneint, haben zwischenzeitlich einige Vereinbarungspartner die Rahmenvereinbarung über den Rehabilitationssport und das Funktionstraining gekündigt. Das Bundessozialgericht hatte über mehrere Streitfälle in Sachen Funktionstraining zu entscheiden und erklärte dazu grundsätzlich:
»
Eine Einschränkung der Anspruchshöchstdauer ergibt sich derzeit aus gesetzlichem und untergesetzlichem Recht nur dadurch, dass die Leistungen im Einzelfall geeignet, notwendig und wirtschaftlich sein müssen. Soweit die ‚Rahmenver-
250
1
Kapitel 18 · Administrative Rahmenbedingungen, Verordnungs- und Abrechnungsmöglichkeiten
Antrag auf Kostenübernahema
*;2 ;6 2 958
2 3
für Rehabilitationssport
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Empfohlene Rehabilitationssportart
11 12 13 14 15 16 17 18
Empfohlene Funktionstraininsarten
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. Abb. 18.1 Verordnungsformular »Muster 56« (Vorder- und Rückseite)
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251 18.4 · Rehabilitationssport und Funktionstraining
Rehabilitationssport in Herzgruppen ist notwendig für 90 Übungseinheiten in 30 Monaten 120 Übungseinheiten in 24 Monaten (Kinderherzgruppen) Zusätzliche Angaben des Arztes bei Verordnungen für Rehabilitationssport in Herzgruppen Befund vom (Nachweis nicht älter als 6 Monate) %
Ejektionsfraktion
Bei standardisierter Fahrradergometrie im Sitzen erreichte max. Belastbarkeit daraus errechnete Dauerbelastbarkeit (max. Belastbarkeit abzüglich 30 von 100)
max. Puls/min
Watt W/kg Körpergewicht W/kg Körpergewicht
max. mm HG
M US TE
symptomlimltierte Dauerbelastbarkeit aufgrund von Ischämie-Kriterien Gründe für den Abbruch der Fahrradergometrie
R
T T MM J J
Angaben zur Medikation
Längere Leistungsdauer bei geistiger oder psychischer Krankheit/Behinderung rankheit/B mit fehlender/noch fehlender selbstgesteuerter Aktivitätt 90 Übungseinheiten in 30 Monaten
Empfohlene Anzahl wöchentlicher Übungsveranstaltungen gsveranstaltu für Rehabilitationssport/Funktionstraining 1 mal
2 mal
ründung 3 mal, Begründung
Datum
Für die ärztliche Verordnung ist die Nr. 01621 EBM berechnungsfähig chnun
T T MM J J
Vertragsarzlstempel / Unterschrift des Arztes
Kostenübernahmeerklärung rnahmeerklärung der Krankenk Krankenkasse
Die Kosten werden entsprechend der beste bestehenden Vereinbarung übernommen zur Durchführung und Finanzierung des i Rehabilitationssports ehabilitationssports gemäß § 43 Abs.1 Satz 1 SG SGB V i.V. V m. § 44 Ab s. 1 Nr. 3 SGB IX Abs.
Monate für 50 Übungseinheiten / 18 Monat
für 120 0 Übungseinheiten / 36 Monate Mon
Funktionstrainings gemäß § 43 Abs.1 Satz 1 SGB V i.V. m. § 44 Abs. 1 Nr. 4 SGB IX
Anzahl wöchentlicher Übungsveranstaltungen 1 mal
2 mal
3 mal
für die Dauer von
für 90 Übungseinheiten heiten / 30 Monate (Herzgruppen)
12 Monaten
für 120 Übungseinheiten / 24 Monate (Kinderherzgruppen)
24 Monaten
längstens bis
T T MM J J
längstens bis
T T MM J J Datum
Diese Erklärung erfolgt unter der Voraussetzung, dass ein Leistungsanspruch gegenüber unserer Krankenkasse weiter besteht
T TMM J J
Stempel der Krankenkasse / Unterschrift
18
252
1 2 3
Kapitel 18 · Administrative Rahmenbedingungen, Verordnungs- und Abrechnungsmöglichkeiten
–––––––––––––––––––––––––– –––––––––––– Name, Vorname des Versicherten
Teilnahmebestätigung
Geburtsdatum
–––––––––––––––––– Krankenasse
–––––––––––––––––– Versicherten-Nr.
(Bitte immer unmittelbar nach den Übungsveranstaltungen quittieren)
An den nachstehenden Tagen habe ich an den Übungsveranstaltungen teilgenommen: Nr.
R*
H* KH*
Unterschrift des/der Teilnehmers/in
Datum
1
4
2 3
5 6 7
47 48 49
8 9 10
50
Bestätigung des/der Übungsleiters/in
Ich bestätige, dass der/die Versicherte an den oben aufgeführten Daten an den Übungsveranstaltungen teilgenommen hat. ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– Datum, Unterschrift des/der Übungsleiters/in
11 12 13
Abrechnung R 604503: (Pos.-Nr.)
H 604504: (Pos.-Nr.)
H 604508:
14 15
(Pos.-Nr.)
––––––––––––––––––––––––––
X
––––––––––––––––––––––––––
X
––––––––––––––––––––––––––
X
(Anzahl der Übungsveranstaltungen)
–––––––––––––––––––––
=
––––––––––––––––– Euro
–––––––––––––––––––––
=
––––––––––––––––– Euro
–––––––––––––––––––––
=
––––––––––––––––– Euro
(vereinbarter Vergütungssatz)
(Anzahl der Übungsveranstaltungen)
(vereinbarter Vergütungssatz)
(Anzahl der Übungsveranstaltungen)
(vereinbarter Vergütungssatz)
––––––––––––––––– Euro (Gesamtbetrag)
Bei Zwischenabrechnung: Die letzte Abrechnung erfolgate am ––––––––––––. Bislang wurden insgesamt –––––––––– Einheiten für die vorliegende Verordnung abgerechnet.
Es wird um Überweisung des Gesamtbetrages auf unser Konto gebeten:
16 17 18 19
Konto: Bankleitzahl: Kreditinstitut: Kontoinhaber: Institutionskennzeichen: Es wird bestätigt, dass die Rehabilitationssportgruppe anerknnt ist, die Übungsveranstaltungen von einem/r qualifizierten Übungsleiter/in geleitet werden und dieser/r im Besitz einer gültigen Übungsleiter-Qualifikation ist.
–––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––
20
Datum, Stempel und Unterschrift des Leistungserbringers
*) Zutreffendes bitte ankreuzen: R = Rehabilitationssort; H = Rehabilitationssport in Herzgruppen; KH = Rehabilitationssport in Kinderherzgruppen
. Abb. 18.2 Teilnahmebestätigung Rehabilitationssport (Seite 1 und 2)
253 18.5 · Zusammenfassung
einbarung über den Rehabilitationssport und das Funktionstraining’ vom 1.10.2003 den Anspruch auf das Funktionstraining auf grundsätzlich 24 Monate begrenzt und den Nachweis darüber hinaus bestehender Notwendigkeit besondere Beweismittel fordert, ist sie in Bezug auf Versicherte der GKV nichtig.
«
Um Missverständnissen vorzubeugen, sei der Hinweis gestattet, dass unter Berücksichtigung dieses Urteils alle Vereinbarungen bis zu einer Neuregelung ihre Gültigkeit behalten. Allerdings beginnen schon in Kürze neue Beratungen, die eine entsprechende Neufassung zur Folge haben werden.
18.5
Zusammenfassung
Rehabilitationsträger (d. h. die Krankenkassen, Rentenversicherungen usw.) erbringen Rehabilitationssport und Funktionstraining als ergänzende Leistungen, um das Ziel der Rehabilitation zu erreichen oder zu sichern. Rehabilitationssport (und Funktionstraining) kommt für behinderte und von Behinderung bedrohte Menschen und damit auch chronisch kranke Menschen in Betracht, um sie unter Beachtung der spezifischen Aufgaben des jeweiligen Rehabilitationsträgers möglichst auf Dauer in die Gesellschaft und das Arbeitsleben einzugliedern. Rehabilitationssport und Funktionstraining sind ärztlich verordneter, zeitlich begrenzter Sport. Übungsleiter/innen benötigen entsprechend ihres Einsatzes besondere Qualifikationen. Die Vergütung für die Teilnahme muss mit den Rehabilitationsträgern vertraglich geregelt werden. Rehabilitationssport allgemein umfasst 50 Übungseinheiten innerhalb von 18 Monaten, die ärztliche Betreuung und Überwachung des einzelnen behinderten oder von Behinderung bedrohten Menschen erfolgt durch den behandelnden /verordnenden Arzt. Rehabilitationssport in Herzgruppen umfasst 90 Übungseinheiten innerhalb von 30 Monaten und die ständige persönliche Anwesenheit eines Arztes; die ärztliche Überwachung erfolgt durch Erstund Kontrolluntersuchung. Rehabilitationssport bei schwerer Beeinträchtigung umfasst 120 Übungseinheiten von 36 Monaten, die ärztliche Betreuung und Überwachung des einzelnen behinderten oder von
18
Behinderung bedrohten Menschen erfolgt durch den behandelnden/verordnenden Arzt. Funktionstraining umfasst 12 (24) Monate. Die Leitung der Gruppen erfolgt vor allem durch Physiotherapeuten/Krankengymnasten mit speziellen Kenntnissen für den Bereich der rheumatischen Erkrankungen. Die ärztliche Betreuung und Überwachung des einzelnen behinderten oder von Behinderung bedrohten Menschen erfolgt durch den behandelnden/verordnenden Arzt. Die Krankenkasse soll in der Satzung Leistungen zur primären Prävention vorsehen. Leistungen zur Primärprävention sollen den allgemeinen Gesundheitszustand verbessern und insbesondere einen Beitrag zur Verminderung sozial bedingter Ungleichheit von Gesundheitschancen erbringen. Beim Präventionssport handelt es sich um (ärztlich) empfohlenen (nicht verordneten) und zeitlich begrenzten Sport. Die Übungsleiter/-innen benötigen besondere Qualifikationen. Die Bezuschussung für die Teilnahme muss mit dem einzelnen Kostenträger geregelt werden.
Literatur 1
2
Rahmenvereinbarung über den Rehabilitationssport und das Funktionstraining vom 01. Oktober 2003 i. d. F. vom 01. Januar 2007, Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation, Frankfurt Vereinbarung zur Durchführung und Finanzierung des Rehabilitationssports vom 01. Januar 2008 (Vereinbarung Rehasport 2008 – DGPR – VdAK/AEV)
255
A–J
Stichwortverzeichnis
A Abrechnungsverfahren 248 Adaption 14, 24, 30 7 auch Effekte Adipositas 77, 120, 224, 227, 233, 235 Adipozyten 68f AED-Methode 34 aerob-anaerobe Schwelle 8, 20, 144 aerober Stoffwechsel 17, 28, 58 Aktivitätstagebuch 207 Alltagsaktivität, gesteigerte 82 anaerober Stoffwechsel 28, 102 Anämie 232 Angina pectoris 7 koronare Herzkrankheit Angsterkrankungen 205 Anpassungsreaktionen 7 Adaption Arteriosklerose 46, 57, 126, 132 Asthma bronchiale 154 Atemnot 155 Atemwegsentzündung, allergische 157 Atemwegserkrankungen 40 ATP-Resynthese 17 Ausdauerbelastung 41 Ausdauerleistungsfähigkeit 79
B Balancetraining 7 Training, BalanceBasisaktivitäten 175 Belastungsasthma 154 Belastungsblutdruck 93 Belastungshypertonie 90 Belastungsnormative 26 Belastungsuntersuchung 7 Beratung, hausärztliche 60, 101, 158, 233 Bewegungsamplitude 34 Bewegungsmangel 78, 80, 120, 202 Bewegungspyramide 83 Bewegungsumfang bei Kindern 79 Blutdruckbereiche, Klassifikation 90 Blutdruckeffekte 92, 107, 124 Blutvolumenzunahme 18 Bronchiolitis-obliterans-Syndrom 148
C Chemotherapie 228, 230 CHRS-Methode 34
Compliance 72, 158, 233 Conconi-Schwelle 27, 102 COPD 158
D Deafferenzierung 218 Dehntechniken 7 Stretching Demenz 167, 206, 217 Denervierung, kardiale 146 Depressionen 204 Diabetes mellitus 4, 53, 117, 120 DiSko-Projektguppe 60 Dosierung 7 Trainingsgestaltung Dual Tasks 170, 179, 181 Dyslipoproteinämien 64
E Echokardiographie 118 Effekte 7 auch Blutdruckeffekte, HerzKreislauf-Effekte – auf das Skelettsystem 18 – hormonelle 19 – immunologische 229f – kognitive 170, 213 – metabolische 69 – muskuläre 15, 21, 162, 229 – neurologische 214 – physiologische 13, 205 – präventive 4, 6 – psychisch-emotionale 81, 206, 228 – therapeutische 5f EKG 117f Endothelfunktion 104, 131–133 Energiebereitstellung 27, 233 Energieumsatz 79 Erkrankungen – neurologische 185, 217 – neuromuskuläre 194 – psychische 4, 201 Erythropoetinsubstitution 229
F Fahrradergometer 7, 105, 122, 157, 162 Fatigue 227 Fibromyalgie 196 Frühmobilisierung 121 Funktionstraining 7 Training, Funktions-
G Gangstörungen 189 Gangtraining 7 Training, GangGelenkbelastungen 83 Gewichtszunahme 227 Gleichgewichtsstörungen 192 Glukosestoffwechsel 46, 56 Grundumsatz 79f, 82
H HDL-Cholesterin 66, 72 Herzfrequenzbereiche 7 Trainingsherzfrequenzen Herzgruppen 246 Herzinsuffizienz 97, 146 – Klassifikation 99 Herz-Kreislauf-Effekte 14, 18, 102, 126, 130, 230 Herz-Kreislauf-Erkrankungen 65, 101 Herzschlagvolumen 19 Herztransplantation 143 Hitzeschockproteine 44 Hochleistungssport 157 Hockergymnastik 175 Hüftgelenksfraktur 170 Hyperinsulinämie 234 Hypertonie 89, 118f Hypertrophietraining 7 Training, Muskelaufbau-
I ICD 10 245 Immunantwort 43 Immunglobuline 44 Immunkompromittierung 232 Immunsystem 39 – Postbelastungsdysfunktion 42 Insulinresistenz 46, 55 – Pathophysiologie 55 Interleukine 44, 68, 157
J J-Kurve 41 Jugendliche 77, 202
256
Stichwortverzeichnis
K Kalziumblocker 130 Kapillarisierung 17, 159 KHK 7 koronare Herzkrankheit Killerzellen 43 Kinder 77, 246 Kinder-Bewegungspyramide 83 Kollateralenbildung 130 Komplexleistungen, motorisch-kognitive 178, 181, 218 Kontraindikationen 95, 109, 126 Koordination 17, 162 – intramuskuläre 16 Koordinationstraining 7 Training, Koordinationskoronare Herzkrankheit 65, 115 – Trainingshinweise 125 Kraftausdauertraining 7 Training, KraftausdauerKrafttraining 7 Training, KraftKrankenversicherung 245
L Laktatazidose 160 Laktatkinetik 29, 102 Laktattest 8, 20 Langzeittrainingsprogramme 149 LDL-Cholesterin 65f, 72 LGSI 7 low-grade systemic inflammation Lipidstoffwechsel 17, 104, 127, 233 – Störungen 63, 120 Lipoproteinmetabolismus 67, 70 low-grade systemic inflammation 46 Lungensport 153 Lungentransplantation 143 Lymphozyten 42
M Makrozyklus 25 Mesozyklus 25 metabolisches Syndrom 56 Mikrozyklus 25 Minderperfusion 146 Minimalreize 4, 14 M.O.B.I.L.I.S. 74 Mobilisierung, passive 188 Monozyten 43 Motorikstörungen – bei Adipositas 79 – bei Demenz 168 multiple Sklerose 186 Muskelatrophie 159
Muskelenzymsysteme 57 Muskelfasershift 146, 149, 159 Muskelhypertrophie 16 Muskelschwäche 192 Myokardinfarkt 20 Myopathien 194 Myositiden 194
N Nachsorge 84, 144, 148 Neurogenese 215 Neuroplastizität 212, 218
P Palliation 229 Parkinson-Syndrom 189 Periodisierung 25 point of deflection 27 Polyneuropathie 232 Post-Poliomyelitis-Syndrom 195 Präventionstraining 7 Training, PräventionsProgenitorzellen, endotheliale 132 Psychosen 205 Psychotherapie 204
Q Querschnittslähmung 192
R Radiotherapie 228, 232 Rahmenbedingungen 241 Rahmenvereinbarung über den Rehabilitationssport und das Funktionstraining 244 Rampentest, steiler 106 range of motion 7 Bewegungsamplitude Rehabilitation 36, 110, 134, 160, 170f, 244, 249 Rehabilitationssport 7 Training, RehabilitationsReiz-Adaptionsmodell 24 Rentenversicherung 245 Repräsentation, kortikale 212, 218 Ressourcenanalyse 178 Risiken 83, 95, 109, 126, 134, 155, 230 Ruheherzfrequenz 18
S Sauerstoffaufnahme 8, 10, 102, 145, 155 Schizophrenie 205 Schlaganfall 190 Schnellkrafttraining 7 Training, SchnellkraftSchrittzähler 60 Schulungsprogramme 74 Senioren 20 Sensomotorik 36 Spiroergometrie 10, 155, 158, 161 Sportarten – Ausdauersport 82, 94 – Fahrradfahren 105, 213 – Joggen 105, 213 – Kampfsport 94 – Reiten 188 – Schwimmen/Tauchen 105, 122, 188, 213 – Spiele 82, 94, 188 – Walking 105, 122, 197 Sportarten, geeignete – bei Adipositas 82 – bei Herzinsuffizienz 105 – bei Hypertonie 94 – bei koronarer Herzkrankheit 122 – bei multipler Sklerose 188 – bei Parkinson-Syndrom 190 – bei Schlaganfall 192 Steroidhormone 235 Störgrößen bei der Therapie 84 Stretching 34, 188 Stufentests 27 Suchterkrankungen 205 Superkompensation 24 Sympathikusaktivierung 14 Syndrom, asthenisches 227
T Testverfahren, motorische 176 Therapeutic Lifestyle Changes 66 Thermogenese 79 TNF-α 68, 233 Training 23 – Ausdauer- 7, 16, 23, 26f, 56, 92, 105, 156, 162, 187, 192, 195, 197, 203, 213, 217 – Balance- 175 – Beweglichkeits- 34 – Bewegungs- 23, 107, 197 – Circuit- 33 – Definition 15 – demenzspezifisches 178 – Dual-Task- 179
257 Stichwortverzeichnis
– – – – – – – – – – – –
Entwicklungs- 29 Fatburning- 29 fertigkeitsorientiertes 175 Funktions- 170, 178, 245, 249 Gang- 175, 190, 192 Hoch-Intensitäts- 32 Intervall- 105, 187 isokinetisches 32, 195 isometrisches 32 kardiovaskuläres 193, 197 Koordinations- 23, 34, 107, 191 Kraft- 15, 23, 30, 92, 101, 107, 123, 149, 162, 175, 178, 188, 190, 195–197 – Kraftausdauer- 32, 59, 124 – Kraft-, sanftes 32 – Langzeitausdauer- 29 – Maximalkraft- 30, 33, 124 – Muskelaufbau- 30, 31, 34, 124 – Präventions- 6, 247 – Rehabilitations- 6, 245 – REKOM- 29 – Schnellkraft- 30, 33 – Stabilisierungs- 29 Trainingsgestaltung 9, 25 – allgemeine Prinzipien 25 – bei Asthma bronchiale 157 – bei COPD 161 – bei Demenz 174 – bei Diabetes mellitus 58 – bei Fibromyalgie 197 – bei Herzinsuffizienz 105 – bei Hypertonie 93 – bei koronarer Herzkrankheit 121, 123, 125, 134 – bei Lipidstoffwechselstörungen 71 – bei multipler Sklerose 187 – bei neuromuskulären Erkrankungen 195 – bei Parkinson-Syndrom 189 – bei Post-Poliomyelitis-Syndrom 196 – bei psychischen Erkrankungen 207 – bei Querschnittslähmung 193 – bei Tumorerkrankungen 231 – Dosierung 6 – Intensität 20 – nach Herztransplantation 146 – nach Lungentransplantation 149 – nach Schlaganfall 192 Trainingsherzfrequenzen 8 – bei Diabetes mellitus 59 – bei Herzinsuffizienz 106 – bei Hypertonie 94 – bei koronarer Herzkrankheit 123 – nach Herztransplantation 148 – nach Lungentransplantation 150 Trainingsreize 25 – Qualitäten 26
Transplantation 143 Triglyzeride 66 Tumorerkrankungen 4, 223 Tumorprävention 47
U Übergewicht 7 Adipositas Übungsleiter 247 Übungsveranstaltungen 246
V Verordnung 5, 241 Verordnungsformulare 248 Versicherungsrecht 110
W Wirkmechanismus 5 WSA-Methoden 29
Z Zellreaktionen 42 ZNS 211 Zwerchfell 160 Zytokine 40, 44, 68
K–Z