Detlef Gaus · Elmar Drieschner (Hrsg.) ‚Bildung‘ jenseits pädagogischer Theoriebildung?
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Detlef Gaus · Elmar Drieschner (Hrsg.) ‚Bildung‘ jenseits pädagogischer Theoriebildung?
Detlef Gaus · Elmar Drieschner (Hrsg.)
‚Bildung‘ jenseits pädagogischer Theoriebildung? Fragen zu Sinn, Zweck und Funktion der Allgemeinen Pädagogik Festschrift für Reinhard Uhle zum 65. Geburtstag
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
.1. Auflage 2010 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2010 Lektorat: Katrin Emmerich / Tanja Köhler Redaktion: Bettina Ziegler VS Verlag für Sozialwissenschaften ist eine Marke von Springer Fachmedien. Springer Fachmedien ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Druck und buchbinderische Verarbeitung: STRAUSS GMBH, Mörlenbach Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-531-17125-8
Inhaltȱ ȱ ȱ BildungȱundȱallgemeinpädagogischeȱTheoriebildungȱ ElmarȱDrieschnerȱundȱDetlefȱGausȱ..................................................................... 9 I.ȱȱ KonjunkturenȱdesȱBildungsbegriffsȱ Vernunft,ȱBildungȱundȱKritik.ȱȱ AnmerkungenȱzurȱDialektikȱderȱAufklärungȱ JürgenȱOelkersȱ ................................................................................................... ȱ35ȱ Bildungȱ–ȱtheȱformationȱofȱaȱgenteelȱcharacter?ȱ MonikaȱBotheȬScharfȱ ......................................................................................... ȱ67ȱ ȱ DieȱEntwicklungȱdesȱDeutungsmustersȱBildungȱimȱMediumȱ vonȱKonversationslexika.ȱEineȱinhaltsanalytischeȱUntersuchungȱ MartenȱKirschnerȱ .............................................................................................. ȱ79ȱ ȱ ȱ
II.ȱȱ PositionsbestimmungenȱderȱAllgemeinenȱPädagogikȱ/ȱȱ ȱȱ HistorischȬsystematischenȱErziehungswissenschaftȱ ȱ
DieȱphilosophischeȱDimensionȱderȱPädagogikȱ KlausȱPrangeȱ ..................................................................................................... ȱ95ȱ ȱ VonȱderȱUnentbehrlichkeitȱzurȱEntbehrlichkeitȱ ‚allgemeinerȱWissenschaft‘ȱimȱFalleȱvonȱErziehungȱundȱBildungȱ DietrichȱHoffmannȱ .......................................................................................... ȱ107ȱȱ ȱ UngeliebtesȱKind?ȱZurȱRolleȱderȱempirischenȱPädagogikȱalsȱ Pädagogikȱ MatthiasȱvonȱSaldernȱ ...................................................................................... ȱ123ȱ ȱ
PädagogischeȱoderȱerziehungswissenschaftlicheȱHistoriographie?ȱ SkizzeȱeinesȱVermittlungszusammenhangsȱimȱAnschlussȱanȱ ideengeschichtlicheȱÜberlegungenȱvonȱQuentinȱSkinnerȱ MarcusȱErbenȱ .................................................................................................. ȱ145ȱ ȱ ȱ
III.ȱȱProfessionelleȱundȱinstitutionelleȱBezugsfelderȱdesȱȱ ȱȱ Bildungsbegriffsȱ ȱ
BildungȱalsȱSelbstbildungȱoderȱKompetenzentwicklung?ȱȱ ZurȱAmbivalenzȱvonȱKindȬȱundȱKontextorientierungȱ inȱderȱfrühpädagogischenȱBildungsdebatteȱ ElmarȱDrieschnerȱ ............................................................................................ ȱ183ȱ ȱ LernenȱinȱKonzeptionenȱderȱAllgemeinenȱDidaktik.ȱȱ EineȱkritischeȱAnalyseȱ HanaȱKiperȱ....................................................................................................... ȱ221ȱ ȱ Öffentlichkeit,ȱSchulbildungȱundȱProfessionalitätȱvonȱLehrkräften.ȱ ZurȱkommunikationstheoretischenȱNeubegründungȱ vonȱLehrerprofessionalitätȱ ShinjiȱNobiraȱ ................................................................................................... ȱ243ȱ ȱ ProfessionswissenȱalsȱZentrumȱderȱDiskurseȱüberȱLehrerbildungȱ KarlȱNeumannȱ ................................................................................................. ȱ269ȱ ȱ Subjektorientierteȱ(offene)ȱKinderȬȱundȱJugendarbeitȱalsȱȱ Bildungsarbeit.ȱMöglichkeitenȱundȱGrenzenȱallgemeinȬȱ pädagogischerȱReflexionsȬȱundȱBegründungsformenȱ außerschulischerȱBildungsarbeitȱ MichaelȱBosselmannȱundȱHannahȱDenker........................................................ 283ȱ ȱ ȱ ȱ
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ZuȱwelchemȱZweckȱstudiertȱmanȱErziehungsȬȱundȱBildungstheorien?ȱ ZurȱLehrgestaltȱderȱAllgemeinenȱPädagogikȱinȱȱ modularisiertenȱStudiengängenȱ PeterȱVogelȱ....................................................................................................... ȱ311ȱ ȱ KonzepteȱzumȱBildungsauftragȱderȱHochschule.ȱZurȱhistorischenȱ undȱsystematischenȱRekonstruktionȱeinesȱToposȱzwischenȱ bildungstheoretischenȱIntentionenȱundȱhochschulȬȱ organisatorischenȱFunktionenȱ DetlefȱGausȱ ...................................................................................................... ȱ323ȱ ȱ BildungȱinȱMuseen?ȱ MartinȱFrommȱ................................................................................................. ȱ361ȱ ȱ ȱ
IV.ȱBildungsfähigkeitȱausȱhistorischerȱPerspektiveȱ ȱ
LernfähigkeitȱundȱGeschlechtȱ HartmutȱTitzeȱundȱCorinnaȱM.ȱDartenneȱ...................................................... ȱ381ȱ ȱ ZurȱDeutungȱvonȱ‚Bildsamkeit‘ȱimȱProzessȱderȱ ‚Kommunikationsspirale‘ȱdesȱ‚Ideenprofils‘ȱ AxelȱNathȱundȱAlexanderȱGriebelȱ................................................................... ȱ401ȱ ȱ DisziplinäresȱImportverhalten.ȱDieȱRezeptionȱfremddisziplinärenȱ WissensȱinȱderȱErziehungswissenschaftȱamȱBeispielȱ derȱgenetischenȱErkenntnistheorieȱ TorbenȱKneisler................................................................................................. ȱ435ȱ ȱ ȱ
VerzeichnisȱderȱAutorinnenȱundȱAutoren.................................................. 457ȱ
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Bildung und allgemeinpädagogische Theoriebildung Elmar Drieschner / Detlef Gaus
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Einleitung
Zu Beginn des neuen Jahrtausends befindet sich das gesamte Bildungssystem vom Kindergarten bis zur beruflichen Weiterbildung in einem fundamentalen Wandel. Aufgrund der Herausforderungen des globalisierten Wirtschaftslebens soll das Bildungssystem in seinen verschiedenen Teilbereichen reformiert werden. Ein Motor dieser Reformambitionen sind die Ergebnisse der internationalen Schulleistungsforschung, die dazu verwendet werden, dem deutschen Bildungssystem zu bescheinigen, dass es die nachwachsenden Generationen für die Herausforderungen der Zukunft nicht hinreichend vorbereite. Die derzeit beobachtbaren gesellschaftlichen und politischen Anstrengungen um Bildungsförderung sind im historischen Vergleich beachtlich. Bildung hat, so scheint es, wieder Hochkonjunktur. Die hohe Priorität von Bildungsfragen lässt sich u.a. an zahlreichen Maßnahmen zur Bildungsförderung erkennen, die vor allem seit den letzten sechs Jahren eingeleitet wurden. Dazu zählen z.B. die jährlich vorgelegten Bildungsberichte, die empirisch den Stand des Bildungswesens von der frühkindlichen Bildung, Betreuung und Erziehung bis zur beruflichen Weiterbildung aufzeigen. Evaluiert werden auch die Kenntnisse, Fähigkeiten und Fertigkeiten von Schülerinnen und Schülern auf der Basis nationaler Bildungsstandards, welche verbindlich erwartete Kompetenzleistungen curricular festlegen. Auch auf internationaler Ebene werden im Schul- und Hochschulbereich von renommierten und mit Millionenbeträgen ausgestatteten Forschungsinstituten in regelmäßigen Zeitabständen vergleichende Erhebungen und Analysen zu den Bildungsstrukturen in den einzelnen Ländern durchgeführt. Das prominenteste Beispiel ist die von der OECD (Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung) durchgeführte PISA-Studie (Programm for International Student Assessment). Parallel legen Stiftungen der Wirtschaft wie z.B. die BERTELSMANN-STIFTUNG oder die ROBERT BOSCH STIFTUNG und privatwirtschaftliche Initiativen wie ‚MCKINSEY bildet‘ Programme und Förderkonzepte auf, um z.B. die Bildungsqualität im Kindergarten zu verbessern, Hauptschüler gezielt auf
ihren Schulabschluss oder das Berufsleben vorzubereiten oder akademische Exzellenz zu fördern (vgl. MELVILLE 2009). Bildung ist also allem Anschein nach wieder ein Thema. Ist ‚Bildung‘ aber tatsächlich wieder ein Thema? Und wenn ja, in welcher Weise wird Bildung thematisiert? Am Anfang der Überlegungen zu diesem Band stand eine gewisse Ratlosigkeit im Angesicht der Unübersichtlichkeit des Feldes. Zwar wird derzeit in allgegenwärtigen Diskursen wieder von ‚Bildung‘ gehandelt. Dieser Begriff war mit den sozialwissenschaftlichen und kritischen Wendungen der Wissenschaftslandschaft im Allgemeinen und der Erziehungswissenschaft im Besondern in den 1960er und 1970er Jahren als metaphysisch überfrachteter und ideologisch entlarvter durch Begriffe wie Lernen, Sozialisation oder Identität ersetzt worden (vgl. UHLE 1997). In der Gegenwart aber ist er, so scheint es auf den ersten Blick, präsenter denn je. Wird aber auch nur etwas genauer hingeschaut, so fällt eines auf: ‚Bildung‘ wird, diskursanalytisch ausgedrückt, im allfälligen Diskutieren und Reformieren, Kritisieren und Konzeptionieren nur mehr als ‚Container-Begriff‘ verwendet. In den aktuellen Diskursen zeigen sich die unterschiedlichsten Verwendungsformen des Bildungsbegriffs, denen z.T. völlig konträre Motive, Annahmen und Prinzipien zugrunde liegen. Diese Tendenz wird an den zahlreichen neuen Komposita deutlich, die ‚Bildung‘ als Grund- oder Bestimmungswort enthalten. Um es provozierend auf den Punkt zu bringen: Die ‚Bildungsrepublik‘ diskutiert das ‚Bildungsklima‘ im ‚Bildungssystem‘, die ‚Bildungspolitik‘ beauftragt die ‚Bildungsforschung‘, über ‚Bildungspanels‘ und ‚Bildungsstudien‘ ‚Bildungsmonitoring‘ zu betreiben, um ‚Bildungspläne‘ entwickeln zu können, die ‚Bildungsschichten‘ zueinander aufschließen lassen, wozu auch die ‚Lehrerbildung‘ reformiert werden muss, damit die ‚Kompetenzbildung‘ hin zur ‚Persönlichkeitsbildung‘ unter dem regulierenden Wirken von ‚Bildungsstandards‘ möglich werde, usw. Der inflationäre Gebrauch des Bildungsbegriffs führt zu terminologischer Unschärfe und definitorischer Unklarheit. Ein Interesse an einer semantischen Bestimmung des Kerns dieses Begriffs scheint offenbar nicht mehr zu bestehen. Wie im Auge dieses verbalen Hurrikans scheint jene Wissenschaft zu liegen, die doch einmal den Bildungsdiskurs dominierte. Scheinbar mittendrin im Diskursgetümmel als Teil eines neuen Konglomerats Bildungswissenschaften herrscht doch merkwürdige Ruhe um jenes Fach, das, je nach Ausprägung, mal als Allgemeine Pädagogik, mal als Historisch-systematische Erziehungswissenschaft figuriert. Inmitten des diskursiven Sturms scheint dieser Bereich an Bedeutung zu verlieren. Strukturell schlägt sich dies im Abbau oder in der Umwidmung von Stellen im Zuge des Generationenwechsels an Hochschulen nieder, um Platz zu machen für neue, andere Bereiche der ‚Bildungsforschung‘.
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Dabei ist die Allgemeine Pädagogik / Historisch-systematische Erziehungswissenschaft doch einst als Antwort auf derartige Pluralisierungsprozesse im pädagogischen Diskurs wie im pädagogischen Feld entstanden. Die Geschichte der Pädagogik als Profession wie als wissenschaftlicher Disziplin ist in der Moderne, insbesondere im 20. Jahrhundert, durch vielfältige Ausdifferenzierungsprozesse gekennzeichnet (vgl. HORN/TENORTH 1998; TENORTH 1989, 1997). In diesem Zusammenhang begründen sich der Anspruch und die Funktion der Allgemeinen Pädagogik / Historisch-systematischen Erziehungswissenschaft, als sozialer und kommunikativer Zusammenhang eine disziplinäre Klammer zu bilden. Ihre zugeschriebene Aufgabe wie ihr Selbstverständnis bestanden darin, die Breite des pädagogischen Feldes und die Tiefe der pädagogischen Diskurse philosophisch auszuleuchten, theoretisch zu definieren, zu erforschen und weiter zu entwickeln. Seit den 1960er Jahren kann eine immer weitergehende Aufgliederung der Erziehungswissenschaft in hochgradig spezialisiert arbeitende Subdisziplinen mit jeweils unterschiedlichen Akzentuierungen des Bildungsverständnisses beobachtet werden. Sie bilden neuerdings jenes Konglomerat ‚Bildungswissenschaften’, zu dem auch die Teilgebiete der Psychologie, Politologie und Soziologie gezählt werden, die sich mit Fragen der Bildung beschäftigen (vgl. LENZEN 2004; KIPER 2009, S.119f.). Damit einher geht seit dem letzten Drittel des 20. Jahrhunderts eine Entgrenzung der pädagogischen Handlungsfelder über den gesamten Lebenslauf in seiner Länge und inzwischen durch nahezu alle Lebenslagen in ihrer Breite (vgl. HEISE 2002; GRUNERT/KRÜGER 2004; LÜDERS/KADE/ HORNSTEIN 2007). Die dadurch bedingte heterogene Struktur des professionelldisziplinären Feldes führte zur Frage nach dessen Einheit bzw. Identität. Zu Zeiten des Beginns dieses Ausdifferenzierungsprozesses wurden der Allgemeinen Pädagogik der Sinn und die Funktion einer besonderen Integrationsleistung zugeordnet. Ihre zentrale Aufgabe und zugleich fortwährende Problematik bestand in der Entwicklung eines ‚pädagogischen Grundgedankengangs‘, der die auseinanderstrebenden Bereichspädagogiken verbindet, zu einer gemeinsamen Identität des Faches beiträgt und ein einheitliches Verständnis und Ethos des pädagogischen Handelns und Reflektierens begründet (vgl. FLITNER 1950, S.9). Allgemeine Pädagogik gründete sich nach diesem traditionellen Selbstverständnis auf dem Anspruch, Grundfragen pädagogischen Denkens übergreifend über Subdisziplinen und Diskurse zu bearbeiten. Rekurriert wurde dabei auf eine universale, gleichsam ahistorische Idee ‚des Pädagogischen‘, auf die Vorstellung einer paedagogia perennis, wie OTTO WILLMANN sie einst genannt hat, welche transzendentalphilosophisch, subjektphilosophisch oder mit konstanten sozialen Strukturbedingungen des pädagogischen Verhältnisses begründet wurde. Versuche solcher Grundlegungen pädagogischen Denkens und 11
Handelns sind im Kern anthropologisch ausgerichtet: Transzendentalbezug, autonome Subjektivität und Sozialität des Individuums erscheinen als Grundtatsachen des Menschseins (vgl. KOERRENZ 1999, S.394). Die Adressaten pädagogischer Prozesse werden daher in einer solchen allgemein pädagogischen Perspektive nicht nur in ihren institutionell definierten Rollen etwa als Schülerinnen und Schüler, Beratungsbedürftige oder Teilnehmerinnen und Teilnehmer an Weiterbildungsveranstaltungen wahrgenommen. Vielmehr werden sie als bildungsfähige Kinder, Jugendliche und Erwachsene in ihren soziokulturellen, generationenspezifischen und familiären Lebenszusammenhängen, ihren alters- und geschlechtstypischen wie auch biographisch bedingten Problemen, Sorgen, Anliegen und Interessen gesehen. Über die Konzepte, Verfahren und organisatorischen Bedingungen von Bereichspädagogiken hinaus wird der Blick geweitet auf die schon von FRIEDRICH DANIEL ERNST SCHLEIERMACHER paradigmatisch ausformulierte Frage nach dem Verhältnis der Generationen und, damit verbunden, auf die grundlagentheoretische Frage nach den Bedingungen, Antinomien, Ambivalenzen und Paradoxien pädagogischen Handelns. So wird – um nur ein Beispiel zu nennen – als fortwährende Reflexionsaufgabe die erziehungsethische Grundfrage gestellt, ob die Gegenwart des Kindes für seine Zukunft aufgeopfert werden darf (vgl. SCHLEIERMACHER 1826/1957, S.48). Die allgemeinpädagogische Frage nach ‚der Gestaltung‘ ‚der pädagogischen Grundfragen‘ ‚des Lebens‘ in Familie und pädagogischen Institutionen ist bis heute unbestritten gesellschaftspolitisch von besonderer Relevanz. Zugleich aber erscheinen alle tatsächlichen Versuche der Formulierung universalistischer und die Bereichspädagogiken integrierender Antworten angesichts beschleunigter gesellschaftlicher Pluralisierungs- und Differenzierungsprozesse einerseits sowie vor dem Hintergrund sozialhistorischer Relativierungen von Ideen in der modernen Historiographie andererseits als schwer realisierbare Zielstellung. Nicht zuletzt darf der grundlegende Ertrag der kritischen Diskussionen zum Ende der 1960er Jahre nicht vergessen werden. Es war der berechtigte Hintergrund vielfältiger Kritik an einem solchen traditionellen Konzept, dass schon damals die ‚Geisteswissenschaftliche Pädagogik am Ausgang ihrer Epoche‘ erkannt worden ist (vgl. DAHMER/KLAFKI 1968). Vor diesem Hintergrund kann der traditionelle Anspruch der Allgemeinen Pädagogik, als übergeordnete Leitdisziplin an der Ausarbeitung eines integrierenden pädagogischen Grundgedankengangs zu arbeiten, heute nur mehr kontrovers diskutiert und vielfach kritisiert werden. Bestritten wird zuweilen die Notwendigkeit eines solchen Unternehmens überhaupt. Dem liegt eine Wertschätzung der Pluralisierung pädagogischer Konzepte und der Entgrenzung pädagogischer Handlungsfelder zugrunde. Bei einem solchen Fokus erscheinen Reintegrationsversuche nur mehr als Einschränkungen. 12
Deshalb wird heute zumeist ein bescheideneres Selbstverständnis des Faches vertreten. Als Historisch-systematische Erziehungswissenschaft versteht sich das Fach nicht mehr als Leitdisziplin, sondern als erziehungswissenschaftliche Teildisziplin. Diese findet ihren Gegenstandsbereich in der historischen Rekonstruktion und systematischen Reflexion der begrifflichen, kategorialen und strukturellen Grundlagen pädagogischen Denkens und Handelns. Der Anspruch des ‚Allgemeinen‘ artikuliert sich in der diachronen (historischen) sowie der synchronen (systematischen) Analyseperspektive im Unterschied zum Speziellen der Bereichspädagogiken. Grundannahmen, die in verschiedenen pädagogischen Praxis- und Forschungsfeldern z.T. unhinterfragt vorausgesetzt werden, sowie Begriffsverwendungen, in denen implizit Wertungen und Beziehungsstrukturen enthalten sind, werden historisch-systematisch sowie wissenschaftstheoretisch erhellt, problematisiert und präzisiert. Insbesondere die in der aktuellen Diskussion häufig voraussetzungslos gebrauchten Begriffe ‚Erziehung‘ und ‚Bildung‘ werden im Kontext systematischer Erziehungs- und Bildungstheorien theoretisch hinterfragt und auf ihre Bedingungsgefüge hin problematisiert (vgl. HANSMANN/MAROTZKI 1988, 1989; MAROTZKI/WIGGER 2008). Die Historisch-systematische Erziehungswissenschaft ist zudem diejenige Instanz, die zwischen dem allgemeinen Bildungsbegriff und den formalen, nonformalen und informellen Bildungsverständnissen in verschiedenen institutionellen Kontexten wie z.B. der Familie, dem Kindergarten, der Schule, der Kinder- und Jugendhilfe oder der Hochschule analytisch trennt, diese aber gleichwohl in ihren geschichtlich gewordenen und logisch aufeinander verwiesenen Bezügen erläutern kann. Insgesamt bietet die Allgemeine Pädagogik als Historisch-systematische Erziehungswissenschaft heute begriffliche und historische Reflexionen zu den Grundbegriffen pädagogischen Denkens und den Grundformen pädagogischen Handelns. Insofern sollte davon auszugehen sein, dass in einer Hochphase eines immer weiter um sich greifenden Jargons von Bildung diese fachliche Expertise eine Hochkonjunktur erleben müsste. Das Gegenteil ist aber der Fall: Das Fach ist schon im disziplinären Rahmen in der Defensive; im Konstituierungszusammenhang der Disziplin findet es immer weniger Beachtung und Anerkennung. Außerdisziplinär aber findet es so gut wie überhaupt kein Gehör. Die so genannten ‚Bildungsexperten‘, die sich im – mit JEAN BAUDRILLARD – allfälligen ‚Rauschen‘ der medialen Inszenierung versenden, sind in aller Regel kaum je Allgemeine Erziehungswissenschaftler von Profession oder auch nur von Neigung. In dieser Zustandsbeschreibung mag ein Paradox erblicken, wer es mag – erkannt werden kann in ihr auch ein dialektischer Zusammenhang. Erst die schon angesprochene Unschärfe und mangelnde Tiefe bei der heutigen weiten Verwendung des Bildungsbegriffs sichert dessen breite Anschlussfähigkeit. ‚Bildung‘ 13
taugt nur so lange zur Klammer semantischer Inklusion, wie niemand so genau nachfragt, was diese Benennung denn eigentlich meinen könnte. Demgegenüber ist es die zentrale Aufgabe der Allgemeinen Pädagogik / Historisch-systematischen Erziehungswissenschaft, die neuerliche Hochschätzung des Bildungsbegriffs einer historischen, systematischen und kritischen Analyse zu unterziehen. Insofern liegt ihre Aufgabe in Bezug auf dieses derzeitige Thema gerade in der Leistung einer Exklusion. Sie hat den Bildungsdiskurs einzuhegen, abzugrenzen, zu klären und zu reinigen; sie muss, um die Metapher des Rauschens aufzunehmen, jene Frequenz trennscharf ‚entstören‘, auf der die Bildungsbotschaft unter den gegenwärtigen Bedingungen versendet wird. Einem solchen Anliegen ist die Konzeption des vorliegenden Bandes geschuldet. 2
Bildungsfähigkeit, Bildsamkeit und Bildung
Auseinandersetzungen mit der Theorie von Bildung gehören zu den wichtigsten Kernaufgaben der Allgemeinen Pädagogik / Historisch-systematischen Erziehungswissenschaft. Auf der Ebene des Allgemeingültigkeitsanspruchs gilt dieser Satz unabhängig davon, ob ein universell pädagogischer Grundgedankengang ‚des Bildenden‘ formuliert werden soll oder ob dieser Grundbegriff und die ihm anhängenden Grundfragen historisch-systematisch für ‚die Bildungswissenschaften‘ erhellt werden sollen. Die Auseinandersetzung mit der Frage nach der Theorie der Bildung kann als Kernstück des Faches gelten. Allgemeinpädagogisches / historisch-systematisches Nachdenken über Bildung fokussiert den Zusammenhang von Bildungsfähigkeit als naturgegebener Voraussetzung und Möglichkeit von Lernprozessen, Bildsamkeit als grundlegendem Prinzip pädagogischer Praxis und Bildung als Selbsthervorbringung des Individuums in Interaktion mit seiner Umwelt. Diese Dimensionierung gründet sich auf der pädagogisch-anthropologischen Bestimmung des Menschen als erziehungsbedürftigem Lernwesen, ebenso auf seiner Bestimmung als Kulturwesen, dessen Verhalten weniger durch genetisch verankerte Programme instinktreguliert gesteuert, sondern vielmehr über Lernprozesse den jeweiligen Umweltbedingungen angepasst wird. Die Lernfähigkeit und mithin die Instinktreduzierung des Menschen ist demnach die anthropologische Voraussetzung für die Herausbildung von Kultur. Dabei gilt grundsätzlich: „Ob nun der Mangel oder der Reichtum des Menschen zum anthropologischen Ausgangspunkt genommen wird, was seine Mängel ausmacht, ist gleichzeitig sein Reichtum: die Kehrseite seiner Lern- und Erziehungsbedürftigkeit ist seine unendliche Lernund Erziehungsfähigkeit“ (ROTH 1966, S.166).
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Bildungsfähigkeit ist zwar eine Naturanlage, zugleich aber auch ein sozialhistorisches Konstrukt im Wandel, das je nach gesamtgesellschaftlichem Kontext und struktureller Entwicklung des Bildungssystems Personengruppen ab- und zugesprochen wird. Im gesellschaftlichen Modernisierungsprozess kann eine Entwicklung von statischen hin zu offenen Vorstellungen von Bildungsfähigkeit festgestellt werden. So wurde etwa in der mittelalterlichen Gesellschaft Bildungsfähigkeit als Korrelat sozialer Positionierung aufgefasst. Eingelassen in die ontologisch manifestierte geschlossene Gesellschafts- und Naturdeutung war ein statisch-anlageorientierter Begriff von Bildungsfähigkeit, der soziale Ungleichheit genetisch legitimiert, gewissermaßen – mit MICHEL FOUCAULT – in die Körper einschreibt. Mit der gesellschaftlichen Modernisierung verschwand eine solche Zuweisung gesellschaftlicher Positionen qua Geburt und eine solche Exklusion breiter Bevölkerungsteile von institutionalisierter Bildung. Demgegenüber basiert funktionale Differenzierung als Strukturierungsform der Moderne sowohl funktionell als auch legitimatorisch auf universellen Inklusionsangeboten. Wie TALCOTT PARSONS und NIKLAS LUHMANN hervorheben, ist Inklusion ein normatives Prinzip der Moderne. Es resultiert aus der Verknüpfung von Gleichheits- und Fortschrittsidee (vgl. SCHIMANK 2005, S.242). Folglich mussten sich in der Tiefenstruktur der Kultur die Vorstellungen über Bildungsfähigkeit öffnen. Dementsprechend ist für die grundlegenden Dimensionen ein fundamentaler Wandel von einem statischen hin zu einem dynamischen Begriff der Bildungsfähigkeit zu konstatieren. Ein Beispiel für den grundlegenden Neubezug der Allgemeinen Pädagogik / Historisch-systematischen Erziehungswissenschaft auf ein solches offenes Verständnis von Bildungsfähigkeit in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist ihre Rezeption des dynamischen Begabungsbegriff HEINRICH ROTHs (vgl. LEHBERGER 2009). Mit Bezug auf lernpsychologische und sozialisationstheoretische Forschungen aus dem angloamerikanischen Raum überführt ROTH den passivischen und endogen bestimmten Begriff ‚Begabung‘ in eine weitgehend offene und dynamische Form, um „die Bedeutung der kumulativen Wirkung früherer Lernerfahrungen, die Bedeutung der sachstrukturell richtigen Abfolge der Lernprozesse, die Entwicklung effektiver Lernstrategien, kurz: die Abhängigkeit aller Lernprozesse von Sozialisations- und Lehrprozessen“ gegenüber genetischen Einflüssen auf Bildungsprozesse zu betonen (ROTH 1969, S.22). HARTMUT HACKER sieht in diesem offenen Verständnis von Bildungsfähigkeit die Grundlage eines auf individuelle Förderung angelegten Bildungssystems: „Erziehen und Unterrichten sind keine Aktivitäten, die die Entwicklung begleiten, [...], Erziehung und Unterricht sind vielmehr entscheidende, die Entwicklung beeinflussende und prägende Faktoren“ (HACKER 2008, S.25f.).
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Ein aktuelles Beispiel eines offenen Begriffs von Bildungsfähigkeit entstammt der neueren Hirnforschung. Offene Bildungsfähigkeit wird hier durch das Konzept der Neuroplastizität neu begründet. In Abgrenzung zum verhaltensgenetischen Determinismus betonen die Forschungen zur Plastizität die Wechselwirkungen zwischen Sozialisation und morphologischen bzw. physiologischen Veränderungen der Gehirnarchitektur. Der Begriff der Neuroplastizität bezeichnet in diesem Prozess die „Fähigkeit des Nervensystems zur permanenten Anpassung seiner Verbindungen an ihren Gebrauch“, welche die neurophysiologische „Grundlage für jede Form von Lernen und Gedächtnis“ bildet (SPITZER 2008, S.57). Interdisziplinär beruht diese These auf der gemeinsamen Einsicht von Hirnforschung, Evolutionstheorie und Kulturanthropologie, dass der Plastizität des menschlichen Gehirns eine wichtige Überlebensfunktion zukommt, weil dadurch Anpassung an wechselnde Umwelten möglich wird. Im Unterschied zu anderen Organen des Körpers ist das Gehirn besonders deutlich durch einen nutzungsabhängigen Aufbau gekennzeichnet, weshalb der Neurobiologe GERALD HÜTHER Gehirne als „zeitlebens programmierbare Konstruktionen“ bezeichnet. Er verdeutlicht, dass das überlebensrelevante Wissen und Können, je nach historischen und soziokulturellen Umweltbedingungen, in die ein Mensch hineingeboren wird, ontogenetisch durch die Art der Nutzung bestimmter Verschaltungen im Gehirn verankert wird. Die Anpassungsflexibilität des Gehirns ist so gesehen die anthropologische Voraussetzung für die Herausbildung von Kultur als evolutionärer Überlebensstrategie (HÜTHER 2004, S.53). CHRISTIAN RITTELMEYER wendet diesen Befund bildungstheoretisch und spricht von einem Plastizieren an der eigenen Leiblichkeit. Ebenso wie die Sinnesorgane wird die Architektur des Gehirns durch das gezielte Aufsuchen bzw. Ermöglichen von Erfahrungen gebildet (vgl. RITTELMEYER 2002). Bildungsfähigkeit anzunehmen ist eine notwendige Bedingung, über Bildung nachzudenken. Sie ist aber noch nicht deren hinreichende Bedingung. Der weiterreichende Gedanke der Bildsamkeit setzt zwar Bildungsfähigkeit als Grundannahme voraus, unterscheidet sich jedoch von der Frage nach der statischen oder offenen Bildungsfähigkeit bzw. der Anlage- oder Umweltbestimmung der menschlichen Entwicklung. Bildsamkeit bezeichnet vielmehr ein universal gültiges Grundprinzip pädagogischer Praxis, das darin besteht, das Kind unabhängig vom empirischen Ausprägungsgrad seiner Bildungsfähigkeit als Akteur seines Bildungsprozesses in den Mittelpunkt zu stellen. Pädagogisches Handeln oszilliert demnach zwischen der Gegenwart und der Zukunft des Kindes und stützt sich auf die unhintergehbare Prämisse, dass das Kind in unterstützten Lernprozessen selbsttätig seinen Bildungsprozess auf Basis seiner je individuellen Voraussetzungen gestaltet, um Selbstbestimmung zu erlangen. Wie JÜRGEN REKUS erläutert, unterstellen pädagogische Handlungen „unbescha16
det der faktischen, naturgegebenen Voraussetzungen und Möglichkeiten ..., dass der im Lernprozess Geführte das zu Lernende sich selbst aneignen kann. Die Unterstellung als pädagogische Grundvoraussetzung gilt selbst dann, wenn der Lernprozess am Ende nicht gelingt, weil es an der rechten Begabung mangelt. Bildsamkeit muss in jedem Fall vorausgesetzt werden, wenn die Interaktion pädagogisch sein soll“ (REKUS 2006, S.114). DIETRICH BENNER verschränkt in diesem Sinne das Prinzip der Bildsamkeit mit dem der Aufforderung zur Selbsttätigkeit. Erziehung, die im Dienst der Bildung steht, kann demnach nur über das selbsttätige Mitwirken des Zu-Erziehenden verstanden werden. Bildsamkeit entfaltet BENNER relational als Anerkennung des Zu-Erziehenden. Dieser muss verstanden werden als jemand, „der an der Erlangung seiner humanen Bestimmtheit mitwirkt“ (BENNER 1991, S.57). Mitwirkung ist als pädagogische Begegnung in wechselseitiger Anerkennung „produktiver Freiheit“ zu verstehen. Diese Freiheit erschließt sich für das Kind nicht bereits im Zugeständnis von Freiräumen, sondern erst in der Aneignung dieser Freiheit durch eigenständiges Denken und Handeln (ebd., S.62). Deshalb hat Erziehung den Charakter einer ‚Aufforderung zur Selbsttätigkeit‘. Für sie ist es erforderlich, produktiv an die bereits vorhandenen Fähigkeiten und Fertigkeiten des Kindes anzuknüpfen, diese in erzieherischen Aufforderungen zu überschreiten, ohne das Kind dabei zu überfordern. Pädagogisches Handeln ist angesichts der hier in Rede stehenden Prinzipien durch eine so genannte Als-ObStruktur gekennzeichnet. Diese liegt darin, „den Heranwachsenden zu etwas aufzufordern, was er – noch – nicht kann, und ihn als jemanden anzuerkennen, der er – noch – nicht ist. Diese Dialektik der beiden ersten Prinzipien führt keineswegs in einen Widerspruch pädagogischen Denkens und Handelns mit sich selbst, sondern bestimmt jene Grundparadoxie pädagogischer Praxis, der diese ihre spezifischen Wirkungsmöglichkeiten verdankt. Daß pädagogische Praxis, an die Bildsamkeit des Zu-Erziehenden anknüpfend, zur Selbsttätigkeit auffordert, besagt gerade, daß der Zu-Erziehende ohne eine entsprechende Aufforderung noch nicht selbsttätig sein kann, daß er dies auch nicht aufgrund einer solchen Aufforderung wird, sondern nur vermittels seiner eigenen Mitwirkung werden kann“ (ebd. 1991, S.71). Bildungsfähigkeit und Bildsamkeit gemeinsam sind die Voraussetzungen, deren Betrachtung erst eine systematische Erörterung von Bildung ermöglicht. Auf einer ersten allgemeinen Bedeutungsebene bezeichnet der Begriff ‚Bildung‘ die Entfaltung der Möglichkeiten und Potenziale eines Individuums in aktiver Auseinandersetzung mit seiner sozialen und materiellen Umwelt über den gesamten Lebenslauf mit der Aufgabe und dem Ziel, einen individuellen Welt- und Selbstbezug im Denken, Fühlen und Handeln zu entwickeln. Die Frage nach dem reflektierten Selbst-Welt-Verhältnis bildet das Zentralthema der Bildungstheorie. 17
Im neuhumanistischen Bildungsideal wird dieses Selbst-Welt-Verhältnis im Kontext der Herausbildung von Individualität und Personalität unter den Auspizien von Einheitlichkeit und Ganzheitlichkeit reflektiert (vgl. REICHENBACH 2007, S.113ff.). So heißt es etwa bei WILHELM VON HUMBOLDT: „ … so drängt ihn [sic. den Menschen] doch seine Natur beständig, von sich aus zu den Gegenständen außer ihm überzugehen, und hier kommt es nun darauf an, daß er in dieser Entfremdung nicht sich selbst verliere, sondern vielmehr von allem, was er außer sich vornimmt, immer das erhellende Licht und die wohltätige Wärme in sein Innres zurückstrahle“ (HUMBOLDT 1986, S.32). Auch im Zeitalter der modernisierten Moderne wird dieses Ideal von Bildung immer wieder als Paradigmatisches formuliert, so z.B. bei WINFRIED BÖHM: „Bildung meint ... den eminent spannungsreichen dialektischen Prozeß der Auseinandersetzung von Mensch und Welt in der Weise, daß das menschliche Individuum von seiner natürlichen Selbstbezogenheit abläßt, sich von der Befangenheit seiner sinnlichen Erfahrungswelt befreit, sich auf die Welt einläßt und in der Hingabe an seine ihm eigentümlichen Berufung zum Weltdienst sich selbst als sich in Raum und Zeit zusammenfassende Person findet und sich quasi auf einer höheren Stufe auf sich zurücknimmt“ (BÖHM 1988, S.404). Auch REINHARD UHLE akzentuiert diesen traditionellen Gedanken von Bildung als Höherentwicklung des Ichs, wenn er darauf verweist, dass Bildungsphilosophie, die sich dem Projekt der Moderne verpflichtet, einerseits darauf basiert, „Entwicklung im Sinne PIAGETs als eine über Stufen sich steigernde Wechselwirkung zwischen Ich und Welt aufzufassen, und anderseits zwar kein genaues ‚Perfektionsziel’ des Individuums zu benennen, wohl aber Forderungen für Aneignungsprozesse von Kultur durch das Ich angeben zu können, die eine erhöhte Chance für Emporbildungsprozesse bieten können“ (UHLE 2002, S.88; vgl. grundlegend UHLE 1993). Jenseits solcher grundsätzlichen, auf überzeitliche allgemeinpädagogische Gültigkeit abzielenden Thematisierungen von Bildung können aus historischsystematischer Perspektive Veränderungen bildungstheoretischer Leitkonzeptionen im gesellschaftlichen und kulturellen Wandel konstatiert werden. Im Zuge von Modernisierung, Individualisierung und Pluralisierung der Gesellschaft lässt sich zum einen ein langfristiger Trend feststellen, in dem der Bildungsbegriff selbst immer pluralere Verwendungsweisen findet. In diesem Prozess bricht einerseits die relativ geschlossene Einheit des klassisch-neuhumanistischen Bildungsideals zugunsten vielfältig formulierter Bildungsideale auf. Der zugleich kritische und affirmative Bildungsbegriff wird dabei in den immer vielfältigeren Diskursen zugleich affirmiert und kritisiert. Andererseits ist auch die Pluralisierung der Sinnzuschreibungen und Funktionsweisen des Bildungsbegriffs in unterschiedlichsten Zusammenhängen zu konstatieren.
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Damit verbunden ist, insbesondere im Bezug auf das Bildungssystem und die Schulpädagogik, auch die historisch-systematische Untersuchung, Rekonstruktion und Aufhellung einer langfristigen Tendenz zu immer pragmatischeren Bildungskonzeptionen, die das Selbst-Welt-Verhältnis instrumentell in den Blick nehmen. In der klassischen Bildungstheorie wurde die Aneignung von Weltwissen noch in einem untrennbaren Zusammenhang mit der Bildung von Persönlichkeit und Individualität gesehen. Gemäß den Lehrplantheorien in der Tradition HUMBOLDTs vollzieht sich Bildung im Medium der kulturellen Tradition, die in Form des abendländischen Bildungskanons nicht nur Inhalte, sondern auch unterschiedliche Zugänge zur Welt verkörpert, die als historisches, mathematisches, sprachliches und ästhetisch-expressives Lernfeld curricular ausgewiesen werden. Im Zuge der beschleunigten Produktion und damit zusammenhängenden Pluralisierung und im immer schnelleren Veralten von Wissensbeständen wurde eine fachsystematische und inhaltsbezogene Ausrichtung von Curriculartheorie und Didaktik zunehmend schwieriger. Bildungstheoretische Didaktik in der Tradition der Geisteswissenschaftlichen Pädagogik reagierte auf die Pluralisierung des Wissens mit besonderen Akzentuierungen in der Auswahl der Bildungsinhalte: ‚Fundamental‘, ‚klassisch‘ und ‚exemplarisch‘ sollte das in der Schule vermittelte Wissen sein (vgl. BLANKERTZ 1975). In seiner kritisch-konstruktiven Weiterentwicklung dieses Verständnisses von Schulunterricht formulierte WOLFGANG KLAFKI mit der Frage nach der ‚Zugänglichkeit‘, ‚Gegenwarts- und Zukunftsbedeutung‘ weitere Auswahlkriterien für Bildungsinhalte, die sowohl aktuelle Interessen und Bedürfnisse der Kinder berücksichtigen, als auch ihren in die Zukunft hineinreichenden Emanzipationsprozess. Fachsystematik und Kindorientierung sind in dieser Lehrplanung grundlegend immer noch aufeinander bezogen (vgl. KLAFKI 1996). Der grundlegende pragmatische Wandel in der Bildungstheorie wurde in den 1970er Jahren mit dem zuerst in der Berufsbildung aufkommenden Konzept der ‚Schlüsselqualifikationen‘ eingeleitet (vgl. z.B. ROBINSOHN/THOMAS 1968; MERTENS 1974). Hiermit wurde die vergangenheitsbezogene Orientierung traditioneller Lehrpläne an kulturellen und geistigen Traditionen zugunsten des Blicks auf gegenwärtige und vor allem zukünftige Lebensanforderungen verlassen. Dieser Übergang von der traditionellen bildungstheoretischen zur qualifikationstheoretischen Curriculartheorie und Didaktik ging mit einer verstärkten Rezeption der Ergebnisse der Qualifikationsforschung einher. Diese verweist auf den schnellen technologischen und organisatorischen Wandel beruflicher Anforderungen und die Schwierigkeiten ihrer inhaltlichen Konkretisierung. Formale Qualifikationen wie Problemlösefähigkeit, Kooperationsfähigkeit, Flexibilität, Transferfähigkeit, Selbstständigkeit, Eigenverantwortlichkeit und Selbstorganisationsfähigkeit, die als ‚Schlüssel‘ zur Erschließung sich schnell verändernder 19
beruflicher Problemlagen sowie fachlicher Wissensbestände angesehen werden, hielten im Gefolge dieser Befunde Einzug in Lehrpläne beruflicher Bildung und greifen auch auf die schulische Bildungsdiskussion über. So wurde in der Curriculumtheorie der 1970er Jahre die funktionale Verwertbarkeit schulischen Lernens in den Mittelpunkt gerückt. Lernziele sollten zu diesem Zweck exakt operationalisiert und überprüfbar gemacht werden (vgl. MAGER 1971). Nicht so sehr die Inhalte, sondern die zu erwerbenden Fähigkeiten und Fertigkeiten, die im Anschluss an den Diskurs der Wirtschaftsdidaktik ‚Qualifikationen‘ genannt wurden, rückten in das Zentrum der Aufmerksamkeit. Damit war eine neue Lage gegeben, in der das traditionale Ideal von Bildung als umfassender, zweckfreier und subjektorientierter Prozess zusehends aus dem Blick geriet. Gleiches gilt auch für die kontinuierliche Diskussion über das Konzept der Schlüsselqualifikationen in den 1980er und 1990er Jahren. Schlüsselqualifikationen wurden z.B. als wichtiges Bildungsziel in der politisch einflussreichen Expertise der BILDUNGSKOMMISSION NRW herausgestellt und definiert als „erwerbbare allgemeine Fähigkeiten, Einstellungen und Strategien, die bei der Lösung von Problemen und beim Erwerb neuer Kompetenzen in möglichst vielen Inhaltsbereichen von Nutzen sind“ (vgl. BILDUNGSKOMMISSION NRW 1995). Die funktionalen Anforderungen dominierten hier eindeutig gegenüber fachlichen Inhaltsvorgaben in der Lehrplanentwicklung. Weitere Stationen dieses Trends sind die Entwicklung konstruktivistischer Konzepte selbstorganisierten Lernens vorwiegend in den 1990er Jahren sowie neuerdings die Durchsetzung von Bildungsstandards, die in Form von Kompetenzbeschreibungen die gegenwärtige bildungspolitische und bildungswissenschaftliche Debatte bestimmen. Wie UHLE in mehreren Publikationen zur aktuellen Bildungsdebatte ausführlich analysiert, bezieht sich die Kompetenzorientierung der Bildungsstandards nicht auf qualifikationstheoretische Ansätze. Vielmehr knüpft sie konzeptionell an Literacy-Konzepten an, die in der Tradition des angloamerikanischen Pragmatismus stehen und in der empirischen LehrLernforschung entwickelt wurden. Diese den internationalen Schulvergleichsstudien zugrunde liegenden Konzepte basieren auf einem ‚funktionalpragmatischen Bildungsverständnis‘ (vgl. z.B. UHLE 2006, 2007). Der Begriff Literacy steht im angloamerikanischen Bildungsdiskurs für die Alltags- und Anwendungsorientierung grundlegender Kulturtechniken (vgl. DRIESCHNER/ GAUS 2007). Kompetenzen als übergreifende Ziele schulischen Lernens sollen demnach nach Maßgabe eines „funktionalistisch orientierten Grundbildungsverständnisses“ operationalisiert werden, „für das die Anwendung – oder vorsichtiger: die Anschlussfähigkeit – erworbener Kompetenzen in authentischen Lebenssituationen den eigentlichen Prüfstein darstellt“ (DEUTSCHES PISAKONSORTIUM 2001, S.17). Alltagspraktische Problemlösungskompetenz, d.h. die 20
Verwertbarkeit von Wissen in multiplen Situationen, bildet das PISA zugrunde liegende Leitbild schulischen Lernens. Aufgabe der Schule ist die Vermittlung von „Basiskompetenzen“, so heißt es in der PISA-Studie weiter, „die in modernen Gesellschaften für eine befriedigende Lebensführung in persönlicher und wirtschaftlicher Hinsicht sowie für eine aktive Teilhabe am gesellschaftlichen Leben notwendig sind“ (ebd.). Gemeint ist damit „eine funktionale Sicht auf Kompetenzen als basale Kulturwerkzeuge“ (ebd., S.78). Auf dieser lehrlerntheoretischen Grundlage haben die PISA-Autoren entschieden, „die Anwendbarkeit schulunterrichtlich erworbenen Wissens auf die Lösung konkreter Probleme zum ausschlaggebenden Kriterium für die Qualität von Schulleistungen zu wählen“ (HEID 2005, S.5). Das hinter der PISA-Studie stehende angloamerikanische Literacy-Konzept erweist sich als hochgradig kompatibel mit der zentraleuropäischen Diskussion um den Begriff der ‚Kernkompetenz‘. Dieser Zusammenhang ist für die Einführung von Bildungsstandards bedeutsam, insofern beide Diskurse – der bildungswissenschaftliche über Literacy und der didaktische über Kernkompetenzen – seit dem ‚PISA-Schock‘ zu Beginn des neuen Jahrtausends interagieren und gleichermaßen in die Erarbeitung von nationalen Kompetenzstandards eingeflossen sind. Als grundlegend gilt in der Literatur die Definition von Kompetenz durch den Pädagogischen Psychologen FRANZ-EMANUEL WEINERT. Kompetenzen versteht er als „die bei Individuen verfügbaren oder durch sie erlernbaren kognitiven Fähigkeiten und Fertigkeiten, um bestimmte Probleme zu lösen, sowie die damit verbundenen motivationalen, volitionalen und sozialen Bereitschaften, um die Problemlösungen in variablen Situationen erfolgreich und verantwortlich nutzen zu können“ (WEINERT 2001, S.27f.). Somit ist der heutige auf Schule zielende Diskurs durch einen ‚bildungstheoretischen Pragmatismus’ gekennzeichnet. Dieser steht auch im Verdacht eines ökonomischen Reduktionismus, weil sich die Schwerpunkte der Reflexion verlagert haben von der Bildung der Individualität und Persönlichkeit im Sinne HUMBOLDTs zugunsten ‚funktionaler Qualifikationsanforderungen‘ der modernisierten Lebens- und Arbeitswelt. Dennoch ist festzustellen, dass für diesen Prozess seit den 1990er Jahren wieder verstärkt die Benennung Bildung Verwendung findet. Dahinter steht aber keine exakte und wissenschaftlich fundierte Begriffsverwendung mehr, sondern vielmehr die Umnutzung eines Traditionsbegriffs zu einem Label. Eine andere, aber nicht minder bedeutsame Auferstehung des Wortes Bildung als Label ist insbesondere bezüglich der bildungsreformerischen Debatten auf der bildungspolitischen Ebene sowie auf den nichtschulischen Ebenen, insbesondere der Hochschulausbildung sowie der Personalentwicklung und Weiterbildung zu erkennen. Hier geht es in der Gegenwart um die ‚Bildung‘ der ‚Persönlichkeit‘, welche in ‚lebenslangem Lernen‘ ihre ‚soft skills‘ auszuprägen 21
habe. In diesen Debatten werden, sehr assoziativ, wenig theoretisch fundiert, harte und weiche Faktoren der Bildungsfähigkeit, der Bildsamkeit und der Kompetenzentwicklung zusammengewürfelt. Nach diesem Verständnis fügen sich in den ‚Kompetenzen‘ eines Menschen sein deklaratives Wissen, seine prozeduralen Fertigkeiten und seine allgemeinen kognitiven Fähigkeiten so mit Aspekten seiner Persönlichkeit zusammen, dass er Fähigkeiten zur Orientierung in unübersichtlichen kulturell-sozial bestimmten Umwelten beweist (vgl. PONGRATZ/ REICHENBACH/WIMMER 2007). Als kleinster gemeinsamer Nenner der auf Schule wie der nicht auf Schule bezogenen Debatten bleibt aus historisch-systematischer Perspektive derzeit nur die auf Viabilität zielende pragmatische Verkürzung und Vernebelung des Bildungsbegriffs zu konstatieren. Die aus allgemeinpädagogischer Sicht zu fordernde Perspektive auf die kritische Widerständigkeit des Bildungsbegriffs findet in diesen Diskursen derzeit keinen Platz. Einer solchen nachdenklichen und kritischen Perspektive einige Anregungen zu bieten, ist das Anliegen des vorliegenden Bandes. 3
Beiträge
Der vorliegende Band gliedert sich in vier Abschnitte. Der erste Abschnitt über Konjunkturen des Bildungsbegriffs im pädagogischen Diskurs wird mit einer grundlegenden Abhandlung von JÜRGEN OELKERS eröffnet. Er verdeutlicht, dass und wie das Projekt einer sich über sich selbst und über ihre Zustände kritisch aufklärenden Moderne nur als ein Bildungsprojekt gedacht werden kann. Aus allgemeinpädagogischer Perspektive erläutert er ausgehend insbesondere von VOLTAIRE, dass und wie objektive Kulturentwicklung und subjektiver Bildungsgang unentrinnbar aufeinander bezogen sind, dass die Überwindung von Barbarei und Beschränktheit aller Lebenskreise, die doch immer schon vorauszusetzen sind, nie anders als durch Lernen möglich sein kann. Nur durch Kritik sind Grenzen gedanklich zu weiten, nur durch Bildung ist die immer mögliche Barbarei zu bannen. Aus historisch-systematischer Perspektive ergänzen die beiden folgenden Artikel diese Grundsatzerörterung. – MONIKA BOTHE-SCHARF vergewissert sich in ihrer historischen Rekonstruktion des Begriffsursprungs von ‚Bildung‘ im englischen ‚formation‘ bei ANTHONY ASHLEY COOPER, dem dritten Earl of SHAFTESBURY. Sie rekonstruiert diesen Begriff in seiner zeitgenössischen Schicht- und Geschlechtsgebundenheit, ohne ihn seiner innovativen und kritischen Dimension zu entkleiden. Zwar brauchen neue Ideen, so wäre ihr Grundansatz mit M. RAINER LEPSIUS zu erläutern, immer Trägerschichten zu ihrer Verwirklichung, jedoch ist damit dennoch nichts über ihr andauerndes und über22
dauerndes kritisches Potenzial ausgesagt. – Einen ganz anderen Ansatz wählt MARTEN KIRSCHNER. Inspiriert vom Deutungsmusteransatz nach GEORG BOLLENBECK stellt er Ergebnisse einer sequenziellen Inhaltsanalyse zum Bildungsbegriff im Medium von Konversationslexika vor. Er kann zeigen, inwiefern die Verwendung des Bildungsbegriffs langfristigen Entwicklungen unterliegt, die diesen bis zu einem Höhepunkt im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts zu einem Kernbegriff der Pädagogik verdichteten. Demgegenüber ist seit dessen zweiter Hälfte eine gegenläufige Entwicklung empirisch nachweisbar. In dieser werden die Begriffsverwendungen der Benennung ‚Bildung‘ nicht nur immer pluraler, sondern auch immer kontingenter. Die Pädagogik, so das Fazit seiner Untersuchung, hat alle Deutungshoheit über ihren einstigen Zentralbegriff verloren. Der zweite Abschnitt des Bandes befasst sich mit der Positionsbestimmung der Allgemeinen Pädagogik bzw. Historisch-systematischen Erziehungswissenschaft. In einem ersten Beitrag wendet sich KLAUS PRANGE Fragen nach Sinn und Funktion einer Systematischen Pädagogik zu. Der Autor lehnt eine bloß historisch kontextualisierende Positionierung ab und hält demgegenüber, in gewisser Nähe zu JOHANN FRIEDRICH HERBARTs Grundlegung der Allgemeinen Pädagogik vor gut 200 Jahren, an einer grundsätzlich gültigen Aufgaben- und Positionsbestimmung des Faches fest. Diese erblickt er nicht mehr in einer ‚pädagogischen Grundidee‘, wohl aber in einer spezifischen Systematisierungsund Kategorisierungsleistung von Grundbegriffen und Grundfragen unter eigenen Prämissen, welche weder in den Logiken von Referenztheorien noch in den Aktualisierungen in Anwendungsproblemen aufgehen. – Eine ganz andere Position nimmt DIETRICH HOFFMANN ein. Er rekonstruiert diskursanalytisch wichtige Etappen des erziehungswissenschaftlichen Disziplinbildungsprozesses, um zu verdeutlichen, dass und wie die ‚Allgemeine Pädagogik‘ im Zuge der ‚Normalisation‘ der Erziehungswissenschaften immer mehr an Beachtung und Einfluss eingebüßt hat. Bedeutung kann sie in der Gegenwart bei realistischer Betrachtung für HOFFMANN nur mehr haben, wenn sie sich nicht mehr nach einer originellen ‚Systematik‘, sondern nach einer originären ‚Pragmatik‘ ausrichtet: Eine Funktion im Feld der Erziehungswissenschaften wird ihr nur noch zukommen, wenn sie sich daraufhin ausrichtet, zwischen Theorie und Praxis, genauer: zwischen unterschiedlichen Theorien und Praxen sachgerecht zu integrieren, zu vermitteln und diese fachgerecht zu reduzieren und zu transformieren. – Eine wiederum andere Herangehensweise wählt MATTHIAS VON SALDERN, der die Lage ausgehend von der Disziplin der Empirischen Erziehungswissenschaft aufarbeitet. Er verdeutlicht, dass die typische Polarisierung zwischen Allgemeiner Pädagogik bzw. Historisch-systematischer Erziehungswissenschaft einerseits und Empirischer Erziehungswissenschaft andererseits unzutreffend ist. Eine solche Dichotomie ist historisch betrachtet falsch, weil beide Richtungen im 23
Prozess der Ausdifferenzierung des Faches mehr und mehr unter Druck geraten. Dieses Ergebnis ist insofern zu vertreten, als dass der Autor nicht so sehr auf oftmals eher naive, an Wissenschaftstheorie und Methodologie nicht interessierte Forschungspraxis, sondern vielmehr auf ernsthaft reflexive Wissenschaftsprogrammatik achtet. Unter diesem Blickwinkel ist eine generelle sowohl Theorieals auch Empirie-Vergessenheit der Erziehungswissenschaften als Gesamtzusammenhang zu konstatieren, der sich nur in der Trias von eigenständiger Theorie, Empirie und Pragmatik erhalten lassen wird. – Einen wiederum anderen Ansatzpunkt wählt MARCUS ERBEN. Ihm geht es um die wissenschaftstheoretisch angelegte Auslotung der Möglichkeit, den Hiatus zwischen einer Allgemeinen Pädagogik als handlungsanleitender Reflexionskunst pädagogischer Grundideen und einer Historisch-Systematischen Erziehungswissenschaft als handlungsentlasteter Forschungsdisziplin zu überwinden. Der Autor entwickelt ausgehend von QUENTIN SKINNERs Konzept ‚neuer Ideengeschichtsschreibung‘ einen metatheoretischen Überlegungsrahmen, der zwischen pädagogischer und erziehungswissenschaftlicher Historiographie in ideengeschichtlicher Absicht vermittelt. Damit entgegnet er wissenschaftstheoretischen Tendenzen, pädagogische Geschichtsschreibung als thematische Spezialdisziplin der Geschichtswissenschaft einzugliedern. In seiner Abhandlung liefert er Argumente, warum pädagogische Geschichtsschreibung als integrale Aufgabe einer die pädagogischen Grundfragen im Blick behaltenden Allgemeinen Pädagogik bewahrt und ergänzt werden kann und muss. Der dritte Abschnitt des Bandes thematisiert professionelle und institutionelle Bezugsfelder des Bildungsbegriffs. Die hier versammelten Beiträge sind entlang der Lebensalter der Adressaten pädagogischer Prozesse gegliedert. – In der gegenwärtigen Bildungsreformdiskussion wird der Kindergarten in seiner institutionellen Funktion als Ort elementarer Bildung wiederentdeckt. Vor diesem Hintergrund greift ELMAR DRIESCHNER den Bildungsdiskurs in der Pädagogik der Frühen Kindheit auf. Im Kontext der Frage nach dem institutionellen Selbstverständnis des Kindergartens rekonstruiert er vergleichend Ansätze frühkindlicher Bildung als Selbstbildung und Kompetenzentwicklung. Der Autor gibt einen systematischen Überblick über die unterschiedlichen Kernthesen der beiden Ansätze, ihre zentralen theoretischen Grundannahmen, praktischen Konzeptualisierungen sowie bildungstheoretischen Implikationen in der Verhältnisbestimmung von elementarpädagogischer und schulischer Bildung. Auf dieser Basis verweist er auf mögliche allgemeinpädagogische Perspektiven in der Vermittlung von Selbstbildungsprozessen und gezieltem Kompetenzerwerb. – Dem Bereich der schulischen Bildungsarbeit als professioneller Lehreraufgabe sind drei Beiträge gewidmet, deren Reigen HANNA KIPER eröffnet. Die Autorin erinnert aus didaktischer Perspektive daran, dass Bildung 24
zuallererst als gelingender Lernprozess zu operationalisieren ist. Sie bietet eine Zusammenschau von Lernvorstellungen und zeigt darauf aufbauend, dass die Entwicklung didaktischer Theorien und Modelle durch den Wandel von einer bildungstheoretischen hin zu einer lernpsychologischen Fundierung gekennzeichnet ist. Auf dieser Basis argumentiert sie dafür, Unterrichtstheorie heute nicht mehr auf bildungstheoretischen Überlegungen, sondern auf Konzepten und Operationalisierungen zur Lernwirksamkeit von Lehrarrangements hin anzulegen. – In völlig anderer Weise und Perspektive argumentiert hingegen SHINJI NOBIRA. Er eröffnet einen fundierten Einblick in die bildungspolitischen Entwicklungen zur Schulreform in Japan, die, wie die deutschen Entwicklungen, durch die Einführung von Bildungsstandards geprägt sind. In diesem Rahmen bietet er eine professionssoziologische Analyse der Lehrerrolle, die er als von vielfältigen Gefahren der Deprofessionalisierung umstellt erläutert. Dagegen entwickelt er eine alternative Konzeption von Lehrerprofessionalität, welche sich nicht den engen Kompetenzrahmen heutiger Lehrerausbildungs- und -anstellungskonzepte unterordnet, sondern vielmehr erneut, diesmal kommunikationstheoretisch basiert, die Freiheit der Bildung und die Freiheit des Kindes als bildungstheoretische Grundannahmen in den Mittelpunkt stellt. – Eine ebenfalls kritische Perspektive auf das Thema der Lehrerprofessionalität wählt KARL NEUMANN. Er geht, wie der vorangehende Autor, von der grundlegenden Beobachtung aus, dass die derzeitige Diskussion um Lehrerprofessionalität international auf Kompetenz- und Standardorientierung ausgerichtet ist. In Bezug auf die universitäre Lehrerausbildung ist dabei eine Verengung und Verkürzung des Kompetenzbegriffs auf ein rein domänenspezifisches Kompetenzkonzept zu kritisieren. Demgegenüber sollte, so das Plädoyer des Autors, die notwendig holistische Dimension pädagogischer Handlungskompetenz in den Blick genommen werden. Dieses bedeutet in der konkreten Umsetzung eine Berücksichtigung des Aufeinanderfolgens unterschiedlicher Ausbildungsphasen. Dabei kommt der ersten, universitären, Ausbildungsphase wesentlich die Funktion zu, Reflexionsangebote bereit zu stellen, die eine ganzheitliche Reflexionskompetenz fördern. Insofern sind Angebote Allgemeiner Pädagogik bzw. Historischsystematischer Erziehungswissenschaft für ihn nach wie vor unabdingbare Elemente pädagogischer Ausbildung. – Der offenen Kinder- und Jugendarbeit wenden sich MICHAEL BOSSELMANN und HANNAH DENKER zu. Sie erläutern, dass dieser Bereich zeitgebunden der Sozialen Arbeit mit ihren zentralen Codierungen ‚Hilfe‘ oder ‚Prävention’ zugeordnet wurde. Demgegenüber verweisen sie darauf, dass er tatsächlich als zentrales Feld informeller Bildung zu verstehen ist. Begründungen und Operationalisierungen dieses Bildungsbereichs, so die Autoren, sind nach wie vor nur auf der Basis allgemeinpädagogischer Grundsatzund Grundlagenreflexionen möglich. Zugleich mahnen sie aber auch an, dass 25
sich allgemeinpädagogische Theoriearbeit aus ihrer professionellen wie disziplinären Isolierung befreien muss: Nur auf der Basis einer Berücksichtigung von und Verzahnung mit empirischer Forschung kann Allgemeine Pädagogik auch zukünftig noch bzw. wieder eine klare Orientierungsfunktion übernehmen. – Der Lage der Allgemeinen Pädagogik / Historisch-systematischen Erziehungswissenschaft im Rahmen der Hochschule widmen sich zwei weitere Beiträge. PETER VOGEL geht in seinem Aufsatz von der Notwendigkeit aus, allgemeinpädagogische Inhalte im Zuge der Kompetenzorientierung der modularisierten erziehungswissenschaftlichen Studienprogramme nach ‚Bologna‘ neu zu konzeptionieren, zu organisieren und abzuprüfen. Er verweist auf die Gefahr einer zu eng gefassten Vorstellung pädagogischer Kompetenz, in deren Folge es durchaus möglich ist, dass allgemeinpädagogische, bildungstheoretische und historische Inhalte gänzlich aus den Studienprogrammen und damit auch aus dem fachlichen Kanon der Erziehungswissenschaften verschwinden können. Gegen diese Gefahr stellt er ein weiter gefasstes Kompetenzverständnis in Rede, als es derzeit insbesondere in der Lehrerbildung Verwendung findet. In Bezug auf allgemeinpädagogische Inhalte sieht er insbesondere deren Verknüpfung mit Kompetenzen der Reflexion und der Kritik als wichtig an. Ein mögliches Modell einer solchen systematischen Verknüpfung stellt er in den Mittelpunkt seines Strukturvorschlags für die zukünftige Ausgestaltung allgemeinpädagogischer Module. – Einen historisch-systematischen Zugriff wählt demgegenüber DETLEF GAUS in seiner diskursanalytisch angelegten Rekonstruktion der Redeweise vom Bildungsauftrag der Hochschule. Er zeigt auf, dass und wie in immer wiederkehrenden Modewellen die Vorstellung, Hochschulen dienten nicht der Lehre, nicht der Forschung, sondern einer Art von Persönlichkeitsbildung, seit etwa 100 Jahren zum Grundrepertoire der Hochschulkritik gehört. Der genaue Blick auf paradigmatische Konzepte macht deutlich, dass auf der Konzeptebene Topoi und auf der Organisationsebene Verwaltungsstrukturen immer wieder in ganz ähnlicher Weise aufkommen, diese aber auf der Legitimationsebene jeweils immer wieder ganz anders verknüpft werden. Dabei ist festzustellen, dass sich im Laufe der Zeit dieses ursprünglich aus dem Kern der Allgemeinen Pädagogik stammende Konzept gegenüber jener verselbständigt und sie schließlich überflüssig macht. – Dem Bereich der kulturellen Bildung in der Dimension der Museumspädagogik wendet sich schließlich MARTIN FROMM zu. Der Autor erläutert die vielfältigen Bezüge von Diskursen über die Einheit von ‚Bildung‘ und ‚Kultur‘, die in dieser Bildungs- und Kultureinrichtung geradezu prototypisch inzwischen seit Jahrhunderten zusammen kommen. Am Beispiel der Museumspädagogik erblickt er ein zentrales Problem solcher Art von ‚Stratosphärenpädagogik‘, die zu ihrer Begründungen wie zu ihrer Konzeptualisierung mit wohlmeinenden und wohlklingenden Begriffen jongliert. Für ihn liegt die 26
einzige Möglichkeit, solchen Schwierigkeiten zu entgehen, darin, zur exakten Operationalisierung von Begriffen und empirischen Evaluation von Eindrücken, Erlebnissen und Erfahrungen vorzudringen. Vor dem Hintergrund erster entsprechender Forschungen, die zwar individuelle Wirkungen der Museumsarbeit nachweisen, welche sich aber als multifaktoriell und multiperspektivisch darstellen, plädiert er dafür, den in der Tradition zumeist eher erratisch genutzten Bildungsbegriff zu meiden und an seiner Stelle mit kleinteiligeren, konkreteren Begriffen zu operieren. Der vierte Abschnitt fasst Forschungsergebnisse zu Thematisierungen der Bildungsfähigkeit aus historischer Perspektive zusammen. Die in diesem Abschnitt versammelten Autoren sind allesamt Vertreter der historisch-empirischen Bildungsforschung. – HARTMUT TITZE und CORINNA MARIA DARTENNE stellen der Öffentlichkeit erstmals empirische Forschungsergebnisse über die negative Selektion in Hilfsschulen vor. Hierbei wird der Blick insbesondere auf die Geschlechterdifferenz von Schülerinnen und Schülern gelegt. Diese Ergebnisse werden in langfristige Tendenzen eingeordnet und mit zentralen Entwicklungen der Bildungsbeteiligung im Höheren Schulwesen sowie im Hochschulwesen in Verbindung gesetzt. Im Ergebnis lässt sich die These vertreten, dass die Geschichte des modernen Bildungssystems als Inklusionsgeschichte zu immer mehr Geschlechtergerechtigkeit erkannt werden kann. In ihrem Verlauf ist auf der Deutungsebene eine völlige Umkehrung von einer grundsätzlich negativen Sicht auf die Bildungsfähigkeit von Mädchen hin zu einer immer positiveren Sicht festzustellen. Zugleich sind auf der Systemebene eine immer weitergehende Bildungsbeteiligung sowie ein immer größerer Bildungserfolg von Mädchen und Frauen festzustellen. – AXEL NATH und ALEXANDER GRIEBEL wenden sich dem pädagogischen Grundbegriff der Bildsamkeit zu. Sie problematisieren eben jenes pragmatische Verständnis von Bildsamkeit als universalem Grundprinzip pädagogischer Praxis, das oben mit Bezug auf JÜRGEN REKUS und DIETRICH BENNER erläutert wurde. Dagegen setzen NATH und GRIEBEL eine Interpretation, die sozial- und ideengeschichtliche Perspektiven miteinander verschränkt. Ausgehend vom Konzept der Kommunikationsschleife zwischen Entwicklungen auf der Ebene pädagogischer Deutungsmuster und der Situationsentwicklung auf der Ebene des Bildungssystems können sie nachweisen, dass das moderne Verständnis von Bildsamkeit eng mit der Frage nach der Bildungsfähigkeit des Subjekts verknüpft ist. Bildsamkeit basiert auf einem offenen Verständnis von Bildung, das sich vor allem in der Phase der Bildungsreform um 1800 entwickelte. Die je nach sozialhistorischem Kontext unterschiedlich beantwortete Frage nach genetischer Bestimmung bzw. Plastizität der menschlichen Entwicklung ist demnach zentral für pädagogisches Denken und Handeln und kann nicht aus der Theorie der Bildung ausgeklammert werden, wie die Autoren 27
anhand von Interpretationen verschiedener Texte aus unterschiedlichen Perioden der Entwicklung des modernen Bildungssystems verdeutlichen. – Der Band schließt mit einem Beitrag von TORBEN KNEISLER. Seine Erörterung der Konjunkturen in der Rezeption JEAN PIAGETs durch die Pädagogik hat eine schließende Funktion für den gesamten Band. Im qualitativen Teil seiner Abhandlung zeigt der Autor, dass und wie die Forschungsergebnisse dieses bedeutenden Entwicklungspsychologen für eine zeitgemäß aktualisierte Diskussion über Bildungsfähigkeit und Bildsamkeit zentrale Bedeutung haben. Von besonderem Interesse auch im Hinblick auf den Bildungsdiskurs ist zudem der quantitative Teil seines Aufsatzes. Er rekonstruiert aus der Perspektive der Wissenschaftsforschung – auch verallgemeinerbar zu verstehende – Mechanismen und Funktionsweisen pädagogischer Rezeptionen, welche die pädagogische Theoriebildung in ihr selbst kaum bewussten Konjunkturzyklen schwingen lassen.
* Dieser Band ist REINHARD UHLE zugeeignet. Zu seiner Entpflichtung anlässlich seines 65. Geburtstages danken ihm Freunde, Schüler, Kollegen und Weggefährten für die Jahre seiner Kritik und seiner Anregung, seiner Zustimmung und seines Widerspruchs, seines aufmerksamen Interesses und seiner Förderung. Der Geehrte hat sich in all‘ den Jahren seines Arbeitens immer wieder zentral mit Fragen der Bildungstheorie und Bildungsphilosophie als Forscher, als Hochschullehrer, als Mitglied diverser Fachkommissionen der DGfE sowie, gerade in den letzten Jahren nach Bologna, als Studiengangsplaner beschäftigt: Jetzt, da er die Bühne hauptberuflichen Auftretens verlässt, muss er zur Kenntnis nehmen, dass tatsächlich oftmals über ‚Bildung‘ nur mehr ‚jenseits pädagogischer Theoriebildung‘ verhandelt wird. Dieser Band sei ihm eine Erinnerung daran, dass jenseits des diskursiven Sturmtiefs mit seinen tief dahinziehenden Slogangewittern zumindest noch kleine Inseln fachlichen Austausches liegen. Die Beitragssammlung sei ihm Einladung dazu, sich auf diesen Inseln, nunmehr entpflichtet, auch zukünftig heimisch zu fühlen und dort im herrschaftsfreien Ringen um das bessere Argument, das ihm immer wichtig war, auch weiterhin nicht nachzulassen.
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I. KonjunkturenȱdesȱBildungsbegriffsȱ
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Vernunft, Bildung und Kritik. Anmerkungen zur Dialektik der Aufklärung Jürgen Oelkers
Aufklärung hat mit der Verknüpfung von Transparenz und Vernunft, in diesem Sinne mit einer neuen Form von Bildung zu tun. Die Welt wird durchsichtig und das Okkulte verschwindet, mindestens in dem Sinne, dass es nicht mehr Grundlage einer öffentlich akzeptierten ‚Vernunft‘ sein kann. Forschung setzt keine geheime, sondern eine unbekannte Welt voraus, die sich vernünftig beschreiben lässt. Vernunft muss mit Erfahrungsdaten kompatibel sein und kann sich nicht länger auf obskure Gegenwelten beziehen. Meine beiden Kronzeugen für die Unterscheidbarkeit der Aufklärung sind ROBERT FLUDD und ATHANASIUS KIRCHER, zwei Vernunfttheoretiker des 17. Jahrhunderts, denen ein Jahrhundert später die Vernunft ihrer Theorien abgesprochen werden musste. FLUDD war ein bekannter englischer Arzt und Paracelsist, der in Oxford Medizin studiert hatte und in London praktizierte. KIRCHER war einer der angesehensten Gelehrten des 17. Jahrhunderts. Er leitete das ‚Collegium Romanum‘ des Jesuitenordens in Rom. Die Beiden kannten einander nicht. FLUDD war ein Vierteljahrhundert älter als KIRCHER, dieser aber wiederum hatte Kenntnis von den Schriften FLUDDs. Vernunft heißt bei beiden Annäherung an das verborgene ‚Wesen‘ der Dinge, das verstanden wird, als sei es unabhängig von der sich selbst korrigierenden Erfahrung oder der Methode der Erkenntnis. Das ‚Wesen‘ (substantia) wird vorausgesetzt und ist nicht sichtbar, kann also beliebig behauptet werden. Diese Einstellung zur Wirklichkeit hat Folgen. FLUDDs ‚Meteorologica Cosmica‘ von 1626 führt die Bewegung des Wetters auf den Atem der Engel zurück, wobei friedliche Winde von stürmischen zu unterscheiden sind, die je mit göttlicher Belohnung und Bestrafung korrelieren (vgl. GODWIN 1979, S.54). Meteorologie ist die Lehre von den Meteoren oder den Himmelserscheinungen,1 die 1 Meteoriten sind vom Himmel gefallene Steine, die die Verbindung zwischen Himmel und Erde darstellen. Das griechische Wort meteoron lässt sich mit ‚Himmelserscheinung‘ oder ‚Lufterscheinung‘ übersetzen. Meteoros heisst ‚in der Höhe‘ oder ‚in der Luft schwebend‘.
ihrerseits die Engel unterstützen: Der Erzengel Michael besiegt den Drachen, der Erzengel Gabriel deutet Daniel seinen Traum der vier Tiere2. Das eine Symbol steht für die besiegte Bedrohung, das andere für die drohenden Mächte der Natur. Der Mensch, schließlich, verstanden als Mikrokosmos, ist mit allen seinen Sinnen den himmlischen Einflüssen ausgesetzt. Der Körper reagiert mit seinen Organen auf den Kosmos, dessen Kräfte – Wind und Strahlen – daher unmittelbar Einfluss nehmen auf die Gesundheit oder Krankheit des Menschen. Man sieht Milz (spleen), Magen, Leber und Gallenblase, die jeweils direkt mit kosmischen Kräften verbunden sind. Der homo sanus muss in der Festung der Gesundheit zwischen den vier Winden knien (vgl. ebd., S.56). Die Winde aber entstehen nicht durch Bewegungen des Wetters, sondern sie sind Handelnde, die Gottes Willen auf der Erde ausführen (vgl. ebd., S.55). Die Theorie ist widerspruchsfrei, weil alles zusammenpasst und dabei das Wesen der Dinge erfasst wird. Hinter den Erscheinungen stehen ‚Wesen‘, also Kräfte oder Agenten, die die Erscheinungen verursachen und zugleich als ihre Ursache oder ihr Potenzial anzusehen sind. Ohne die vier Erzengel kann es nicht die zwölf Winde geben (vgl. ebd., S.57). Die Winde aber kommen aus vier Richtungen, was sie nicht könnten, gäbe es nicht hinter ihnen stehende Agenten, die jeweils auslösen und bestimmen, was den Wind ausmacht. Dabei stehen Uriel für den Wind Meridies, Michael für den Wind Oriens, Raphael für den Wind Occidens und Gabriel für den Wind Septentrio.3 Die Engel geben den göttlichen Atem ein. Demgemäß lässt sich Wind als Hauch der Engel verstehen, der keine eigene Ursache hat. Er kann daher auch Wunder bewirken und ist eine lebensspendende Kraft, der die Gesundheit anvertraut werden kann. Das war im 17. Jahrhundert für viele Gelehrte alles anderes als ‚unvernünftig‘. Ebenso wenig war es ‚unvernünftig‘, mit JOHANNES BAPTISTA MORINO den Himmel als Teil der Natur auffassen, in der die Prima Causa, also Gott, mit den Menschen kommuniziert, vermittelt durch die Kräfte seines Wesens, die sich astrologisch berechnen lassen und die dann vernünftig sind (vgl. MORINO 1623,
2 Der Traum (Dan 7, 1-14) bezieht sich auf „großmächtige Tiere“, die aus dem Meer herausstiegen, nachdem die „Winde aus den vier Himmelsrichtungen plötzlich das große Meer“ aufgewühlt hatten (Dan 17, 2). Es handelt sich um Bestien, die aus verschiedenen Gattungen gebildet waren, also um Traum-Ungeheuer; Gott nimmt diesen Bestien in einem „Strom von Feuer“ die Macht (Dan 7, 10). 3 Septentriones (= ‚die sieben Dreschochsen‘) bezeichnet die sieben Sterne des Himmelswagens oder des großen Bären. Daher steht die Bezeichnung Septentrio für Norden (septentrional für nördlich). Die Windmetapher ist also auf den Kopf gestellt, der nördliche Wind bläst von Süden, der südliche (Meridies) von Norden; das gleiche gilt für die Seiten, Oriens bläst von Westen, Occidens von Osten.
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S.13). Man sieht freilich nicht wirklich die Kräfte, sondern nur die Bilder dieser Kräfte, die nicht geprüft werden, ob oder wie sie die Natur darstellen. Der Schluss vom Bild auf die Wirklichkeit ist mit diesem Vernunftbegriff leicht möglich und nicht erschütterbar, weil ein unabhängiges Kriterium fehlt. Die Welt kann nach einem vorausgesetzten Erkenntnisprogramm konstruiert werden, aber der Mensch kann nicht zwischen seinem Programm und der Welt unterscheiden. Man glaubt an die überzeugende Konstruktion, und hat dann die Welt erfasst, während die Naturwissenschaft seit FRANCIS BACON genau diesen Zirkel durchbricht. Diese neue Art, Wissenschaft zu betreiben, hat Erfolg, weil sie nicht die Natur aus dem vorausgesetzten Bild, aus dem Text oder aus der Vorstellung erzeugt. Die Wirklichkeit muss nicht in Übereinstimmung gebracht werden mit irgendeiner Form von Glauben. Nur deswegen verändert sich das Wissen und rationalisiert sich die Bildung. KIRCHER hat diesen empirischen Weg der Erkenntnis noch 1671 in der ‚Ars Magna Lucis‘ als atheistischen Irrweg markiert, der die entscheidende Wissensbedingung nicht beachtet und daher auch keine wirklichen Aussagen über das Wesen der Welt und die Potenziale der Schöpfung machen kann (vgl. GODWIN 1979a, S.78)4. Ohne auctoritas sacra, also ohne die Autorität der Heiligen Schrift, ist menschliche Erkenntnis gar nicht möglich, ihr fehlte die eigentliche Legitimität. Für KIRCHER gilt: Das innere Auge muss erleuchtet sein, wenn Ratio eigene Aufzeichnungen in Übereinstimmung mit der Wahrheit machen soll. Die Sonne erleuchtet die Sinne, der Sternenhimmel reflektiert sie. Nur der reflektierte Strahl erreicht die Erde, und dies auch nur an sakraler Stelle; die auctoritas profana bleibt davon unerreicht, sie erwächst aus einer Wolke des Unwissens, die den Abglanz des göttlichen Lichts verdunkelt. Man sieht, wie eine erbärmliche Laterne mit flackerndem Kerzenlicht das weltliche Buch der Erkenntnis erleuchten soll, während die wirkliche Erleuchtung diese profane Randzone gar nicht erreicht. Wissenschaft wäre so nicht etwa nur Anmaßung, sondern armseliges Verkennen der Kräfte. Das Titelbild des ersten Bandes von FLUDDs 1617 erschienenen ‚Utriusque Cosmi‘, also der Geschichte der ‚beiden Welten‘, der kleinen wie der großen,5 zeigt im äußeren Kreis den ptolemäischen Macrocosmus, dessen Spiegelbild in allen seinen Teilen der Microcosmus, also der Mensch, ist (vgl. ROOB 1996,
4 ATHANASIUS KIRCHERs Buch ‚Ars magna lucis et umbrae‘ erschien erstmals 1643 in Rom; die zweite Ausgabe wurde 1671 in Amsterdam veröffentlicht. 5 ROBERT FLUDDs Schrift ‚Utrisque Cosmi maioris scilicet et Minoris Metaphysica, Physica atque Techica Historia...‘ erschien in zwei Bänden, die erstmals 1617 und 1621 gedruckt wurden.
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S.543). In den innersten Ringen finden sich in Entsprechung zu den Elementen die vier Säfte oder Temperamente des Menschen. Der zentrale schwarze Kreis soll die saturnische Melancholie darstellen; ihm entspricht die äußerste Begrenzung des Makrokosmos durch ChronosSaturn, der das große Weltenjahr ablaufen lässt. Er zieht die beiden Welten, die große wie die kleine, getrieben durch das Stundenglas, in dem die Zeit abläuft. Die beiden Welten und so das Universum werden von polaren Kräften beherrscht, die in permanenter Spannung stehen, ohne von der menschlichen Vernunft erreicht zu werden. Die Welt ist sozusagen ohne Vernunft vernünftig. Oder anders: Ratio ist Teil des Systems, eine abhängige und keine selbständige oder gar vorrangig überragende Größe (vgl. ebd., S.560). In KIRCHERs ‚Ars Magna Lucis‘ findet sich eine Darstellung der genauen Korrespondenzen von Mikro- und Makrokosmos, die nicht den kleinsten Teil vage oder unbestimmt erscheinen lassen (vgl. GODWIN 1979a, S.80). Die Relationen zwischen Organen und Kräften, zwischen Sternen und Gefühlen, zwischen Innen und Außen, zwischen Sichtbarem und Unsichtbarem sind präzise beschrieben, ohne dass irgendetwas sie verändern könnte. Mit jedem Monat korrespondiert eine bestimmte Konstellation, somit eine bestimmte Charaktereigenschaft, eine bestimmte Möglichkeit und letztlich ein bestimmtes Schicksal. Autonomie und Freiheit der einzelnen Person sind ausgeschlossen, Unabhängigkeit durch Bildung wäre unerwünscht, aber gilt ohnehin als unmöglich. Im ‚Museum Hermeticum‘ – in der Frankfurter Ausgabe von 1749 betrachtet – sieht man, wie der Baum der Erkenntnis vorgestellt werden soll, als Wiedergeburt und so als Wiederholung, ohne die Möglichkeit, in das Schicksal einzugreifen (vgl. ROOB 1996, S.308)6. Eine solche Form der Weltdeutung wird erreicht durch Ausschluss von Kritik und so von eigenem Lernen. Die Ordnung der Welt ist gottgegeben, aber sie ist nicht transparent. Ein Abrücken von den einmal gefassten Prämissen soll auf Dauer ausgeschlossen werden. Damit ist eine Drohung verbunden, die mit einer berühmten Metapher verdeutlicht wird: Außerhalb der christlichen Rationalisierung von Welt und Mensch, so KIRCHER, findet der Mensch, der unabhängig
6 Umgeben von den Symbolen der vier Elemente sieht man am Baum die sieben Phasen der inneren Entwicklung des Werks, das von der Putrefactio (= Fäulnis) ausgeht. Links ist Saturn, der alte, rechts Lapis, der junge Mann zu sehen. Das Einhorn symbolisiert die vorletzte Phase der Weisung, aus der die roten Rosen der endgültigen Fixierung sprießen.
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erkennen will, nur das Labyrinth7, das zu enträtseln er immer vergeblich versuchen wird (vgl. KERN 1995, S.263). Ohne vorausgesetzte und verbindlich dargestellte göttliche Ordnung kann die Welt nur unerkennbar sein. Die Erkenntnis und so die Vernunft wird ständig auf die falsche Fährte geführt. Sie verirrt sich im Wirrwarr der vielen Möglichkeiten oder kommt dorthin zurück, wo sie angefangen hat. Der Zugang zur Schöpfung, die sich auf einem, dem richtigen Wege offenbart, bleibt verschlossen. Geistliche Irrgärten oder Labyrinthe der Erkenntnis sind im Jahrhundert der Aufklärung beliebte Symbole für die Grenzen der Rationalität oder die Unmöglichkeit der Vernunft (vgl. ebd., S.306ff.). Nicht nur ist, wie z.B. ANTONI ANDREJ DE KRZESIMOVVSKYs ‚christlichem Wanders-Mann‘ anzusehen ist die Welt ein Labyrinth, durch das man ohne Hilfe des Himmels aussichtslos herumirren würde (vgl. KRZESIMOVVSKY 1756). Viel mehr noch ist auch der menschliche Geist ein Irrgarten, aus dem nur die Gnade herausführt. ‚Geistliche Labyrinthe‘ sollen diesen Zusammenhang darstellen. Sie thematisieren die Überwindung des menschlichen Irrtums durch angestrengtes Suchen. Dieses bewegt sich in einem Labyrinth, das zur Wahrheit führt. Diese Wahrheit aber kann nur der Glaube erschließen. Wer ohne Glaube sucht, wird sich auf dem Weg zur Wahrheit verirren. Die Welt ist hier ein Irrgarten und der Glaube ist eine Suche. Diese gelangt nur dann durch die Wirrnis hindurch ans Ziel, wenn und soweit sich eben dieses Ziel offenbart und der Weg plötzlich erleuchtet ist. Wahrheit ist kein Prozess der Annäherung. Vielmehr entsteht sie in der herausgehobenen Situation des Glaubens. Eine solche wiederum setzt voraus, dass alle anderen Wege zur Wahrheit versperrt oder falsch sind. Im Verlaufe eines Prozesses könnte man sich an jeder Stelle irren. Wahrheit aber ist immer das Gegenteil von Irrtum, also müssen riskante Prozesse ausgeschlossen sein. Nur das Leben ist riskant, nicht der Glaube, er ist geradezu die Garantie der Risikobewältigung, ohne dass er vorab oder gar unabhängig von den himmlischen Mächten bestimmt werden könnte. In ALBRECHT WAGNERs Irrgartenmodell von 17588 wird dieser Zusammenhang von Labyrinth und Gnade wie folgt dargestellt: „Geistlicher Irrgarten, mit vier Gnaden-Brünnen, welche vorstellen (1). Die vier Ströhme des Paradieses, und den glücklichen Stand des Menschen vor dem Sünden-Fall.
7 KIRCHER nimmt das Bild des ‚kretischen Labyrinths‘ auf. Die Argumentation hier bezieht sich auf eine Darstellung auf S.84 in KIRCHERs Schrift ‚Turis Babel Sive Achrontologie, die 1679 im Amsterdam erschien. 8 ALBRECHT WAGNER verfertigte einen Einblattdruck ‚Geistlicher Irr-Garten. Labyrinthe Spirituel‘, der 1758 in Bern gedruckt wurde.
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(2). Durch das verkehrte Lesen wird angedeutet die vielen Mühseeligkeiten, welchen der Mensch in seinem Leben unterworffen ist nach dem Sünden-Fall. (3). Dass sich dieser Irr-Garten bey seinem Anfang endiget, will anzeigen, wie der menschliche Leib am Anfang von GOTT aus Erde gemacht, also auch wiederum zu derselbigen, durch die Verwesung, als zu seiner Mutter eilet. (4). Das Wasser der vier Gnaden-Brünnen gibt uns zu erkennen die teure Gnaden-Mittel, durch welche GOTT die verderbte menschliche Natur wieder zu Gnaden annimmt“ (vgl. Nachdruck in KERN 1995, S.317).
Der wahre Weg wird als zweisprachiger Textweg dargestellt: Die richtige Lektüre führt durch verschlungene Wege zu den vier Gnaden-Brünnlein. Diese sind jeweils durch Bibelstellen charakterisiert. Wer bis hierhin vorstößt, hat die Gewähr, Wahrheit oder Gewissheit zu finden, ohne die menschliche Vernunft bemühen zu müssen. Vernunft dient dem Erschließen des Textes, aber unabhängig davon kann sie nur den Irrtum verstärken. Diese Fixierung der Wahrheit hat ein bestimmtes Bild der Welt und des Lebens zur Voraussetzung. Dieses Welt- und Lebensbild wird gut auf einer Tafel veranschaulicht, die der Augsburger Kupferstecher GOTTFRIED EICHLER 1760 für eine Neuausgabe von CESARE RIPAs ‚Iconologia‘ anfertigte. Diese Ikonologie war ein Handbuch von Allegorien und Symbolen der christlichen Welt, das schon im Jahre 1593 zuerst gedruckt worden war und die Gattung der Emblematik entscheidend geprägt hat9. In EICHLERs Darstellung sieht man den Kreislauf des Lebens durch das Labyrinth der Welt. Dieser Welt- und Lebenslauf dient allerdings nur als Hintergrund für die Teufelsdrohung und somit für die Verführbarkeit und Sündhaftigkeit des Menschen (vgl. KERN 1995, S.325). Aus der Erbsünde heraus betritt das neugeborene Kind den Kreislauf des Lebens, das heißt, es tritt durch das Tor ins Labyrinth, blumenbeschmückt und doch schicksalsbehaftet. Das Leben hat Stationen und ist vorhersehbar: Im äußersten Kreis sieht man einen Jüngling mit Sichel und Ähren, der die Energie der Jugend andeutet, im nächsten Kreis sieht man eine Frau mit Trauben, die Fruchtbarkeit darstellt, daneben sitzt ein alter Mann vor einem Feuer, das Leben ist kurz, die guten Jahre sind schnell zu Ende, das Ende naht, in der Mitte steht der Tod, auf einem Podest mit Stundenglas und Sense. Die Zeit verrinnt, im Labyrinth des Lebens erschöpft sich die Kraft, Jugend und Alter sind Korrelationen ebenso wie Kindheit und Tod. Letztlich ist das Leben eine Kreiserfahrung. Man kehrt dorthin zurück, wo man angefangen hat, als sei dazwischen nur die Überbrückung von Anfang und Ende (vgl. PRAZ 1964, Vol. I/S.472ff.). Wenn man Aufklärung unterscheiden will, dann mit dem Durchbrechen dieser Schicksalsbilder. Sie sind nur dann überzeugend, wenn auch die Erkenntnis 9 Schon die erste Ausgabe in Rom erschien mit Illustrationen. RIPAs ‚Iconologia‘ wurde vom Augsburger Verleger JOHANN GEORG HERTEL für das Publikum des 18. Jahrhunderts neu aufbereitet.
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in sich selbst kreist, also ein Fortschritt des Geistes ausgeschlossen werden muss. Man betritt die Welt als Labyrinth (vgl. KERN 1995, S.323)10, und das gilt auch und gerade für die Liebe, die nichts ist als Bewegung in Kreisen, welche nicht sagen, ob die Mitte je erreicht wird (vgl. ebd., S.340)11. Kreise verweisen auf geschlossene Welten, die den Geist gefangen halten, weil die Erkenntnis nur der gegebenen Ordnung folgen kann, ohne je eigene Fortschritte zu machen. Die Erkenntnis würde so den Kreis spiegeln, unter der Voraussetzung, ihn nicht durchbrechen zu können. Und jedes Labyrinth ist mächtig genug, die eigene Ordnung zu verhüllen, so dass kein Wissen wirklich weiterführen würde. Genau dagegen richtet sich die Aufklärung. Sie geht vom Fortschritt der Erkenntnis und Nutzen des Wissens aus, ohne die Schwächen der menschlichen Natur zu negieren. Nicht alle Autoren der Epoche gehen, wie JEAN-JACQUES ROUSSEAU, von der perfectibilité des Menschen aus, also von dessen guter Natur und deren uneingeschränkter Entwicklungsfähigkeit. Ende 1766 schrieb VOLTAIRE12 eine Reihe von Aphorismen und Fragmenten zu philosophischen Problemen, die im darauf folgenden Jahr unter dem Titel ‚Le philosophe ignorant‘ veröffentlicht wurden.13 Die kurzen Stücke thematisieren die untilgbaren Schwächen der Menschen, die begründete Verzweiflung, die Grenzen der Freiheit und des Lernens, die Abhängigkeiten des Lebens, die Absurditäten hinter sophistischen Argumenten, die Macht der Ignoranz und bei alledem doch den Wunsch zu wissen,
10 HERMANN KERN zeigt JUSTUS REIFENBERGs Emblem 8 aus ‚Emblemata politica‘, die 1623 in Amsterdam erschienen. 11 KERN zeigt ‚Weg-Weiser zur Heirat aus dem Labyrinth der Liebelei‘, eine IIlustration zu JACOB CATS’ ‚Houwelyck, dat is de gantsche gelegenheyt der echtenstaets‘ von 1625. 12 FRANÇOIS-MARIE AROUET (1694-1778), der sich VOLTAIRE nannte, war Sohn eines wohlhabenden Pariser Notars und besuchte das jesuitische Collège Louis-le-Grand. 1710 erhielt er Zutritt zur mondänen Gesellschaft des ‚temple‘, hier begann er mit satirischen Dichtungen, die ihm 1717 ein Jahr Gefängnis in der Bastille einbrachten. In der Bastille entstand 1718 mit ‚l’Oedipe‘ die erste erfolgreiche Tragödie. VOLTAIRE erhielt eine königliche Pension und begründete durch erfolgreiche Finanzspekulationen seine persönliche Unabhängigkeit. 1728 erschien in England die endgültige Fassung des Epos ‚La Henriade‘, das die Zeit der Glaubenskriege unter HENRI IV. darstellte und VOLTAIRE als Kritiker des Fanatismus beider christlicher Konfessionen einen Namen einbrachte. 13 Entstanden sind diese Reflexionen gegen Ende des Jahres 1766. Erstmalig erwähnte VOLTAIRE sie in einem Brief von HORACE WALPOLE am 4. Januar 1767. Sie erschienen im sechsten Band der ‚Nouveaux Mélanges‘ (vgl. VOLTAIRE 1961, S. 859-912).
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damit Lernen sich in Prinzipien der Moral übersetzen kann (vgl. VOLTAIRE 1961, S.862, 891f.). Les philosophes wurden in Frankreich die ‚Aufklärer‘ genannt, jene Intellektuellen der Pariser Salons, die oft Aristokraten oder Abbés waren. Sie trugen den Diskurs des éclaircissement oder des siècle des lumières und beförderten ihn. VOLTAIRE war ihr prominentester Vertreter, der sein Leben fasste als Bildung oder Überwindung von Ignoranz (vgl. ebd., S.909ff.). Dabei übersah er freilich weder die Schwächen der Menschen noch glaubte er an deren bedingungslose Rationalität. Aber Bildung ist verbunden mit einem Anspruch oder gar einem intellektuellen Recht auf Kritik, das VOLTAIRE mit seiner Person wie kein zweiter Autor des 18. Jahrhunderts repräsentierte. Bereits mehr als zwanzig Jahre vor ‚Le philosophe ignorant‘ erschien im Jahre 1745 im ‚Mercure de France‘ VOLTAIREs ‚Nouveau Plan d’une histoire de l’esprit humain‘. Aus diesem sollte im Jahre 1753 der ‚Abregé de l’histoire universelle depuis Charlemagne, jusqu’à Charlequint‘ hervorgehen. Ein Vorbild dieser universellen Geschichte des menschlichen Geistes wiederum war SAMUEL FREIHERR VON PUFENDORFs ‚Histoire générale et politique de l’Univers‘ von 172114. Weltgeschichtliche Darstellungen waren zu Beginn des 18. Jahrhundert in vielen Varianten vorhanden, aber VOLTAIRE gab dem Genre eine neue Wendung. Aus dem ‚Abregé‘ entstand sein ‚Essai sur les moeurs‘, eine großangelegte „Histoire moderne“ (VOLTAIRE 1963, T.I/S.195). Diese sollte den Abstand und Unterschied zu den barbarischen, also den unaufgeklärten Epochen der Menschheit deutlich machen und darstellen, dass und wie die historische Zivilisierung des Menschen stattgefunden hat (vgl. ebd., S.201f.). Die Fortschrittsannahmen des 18. Jahrhunderts gehen wesentlich auf diese Kritik der barbarischen Vorgeschichte zurück, welche nachweisen sollte, dass in geistiger und moralischer Hinsicht keine vergangene Epoche der damals gegenwärtigen – also dem 18. Jahrhundert – überlegen sei. Ursprünglich hieß der Essay ‚histoire universelle‘ (vgl. ebd., S.LXVII). VOLTAIRE wollte die gesamte Geschichte der Menschheit als Fortschritt des Geistes darstellen, welcher die Jahrhunderte der Irrtümer hinter sich gelassen hat (vgl. ebd., T.II/S.801). Überwunden worden seien die absurdesten Annahmen des Aberglaubens, die immer wieder die „fureur dogmatique” angestachelt hatten (ebd., S.802), jene Raserei der religiösen Dogmen, die wie ewige Wahrheiten 14 Diese wiederum war die französische Übersetzung von SAMUEL FREIHERR VON PUFENDORFS Schrift ‚Einleitung zu der Historie der vornehmsten Reiche und Staaten, so itziger Zeit in Europa sich befinden‘ von 1682/1685. PUFENDORF (1632-1694) war einer der Begründer des modernen Naturrechts. Er wurde 1661 in Heidelberg erster deutscher Professor für Natur- und Völkerrecht. 1668 wurde er nach Lund und später nach Stockholm berufen, bevor er 1688 kurbrandenburgerscher Geheimrat und Historiograph in Berlin wurde.
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behandelt wurden und doch nur Kriege auslösten (vgl. ebd., S.804). Die Kulturen der Menschheit sind verschieden (vgl. ebd., S.810), aber in allen geht es um Fortschritte der Bildung und der Zivilisierung. Die Entwicklung der Sitten, so die Basisidee des ‚Essai sur les moeurs‘, hängt von den Revolutionen des menschlichen Geistes ab (vgl. ebd., S.816). Geschichte ist nicht einfach die Folge von Ereignissen oder gar nur von Herrschern. Vielmehr speichert und bearbeitet sie kulturelle Erfahrungen, die ihrerseits auf Institutionen und handelnde Personen zurückwirken. Irrtümer werden erkannt (ebd., S.844)15 und Verbesserungen des Geistes sind möglich, selbst wenn die Imperfektion des Menschen auch den größten Genies ihren Stempel aufdrückt (vgl. ebd., S.840). Die Kultur selbst kann dem entgegen wie ein Bildungsprozess betrachtet werden, der barbarische Sitten überwindet (vgl. ebd., S.847ff.). VOLTAIRE bezieht sich im Jahre 1753 in einem Brief16 ausdrücklich auf die Entwicklung der Naturwissenschaften, welche die riesigen Labyrinthe der metaphysischen Dogmen und philosophischen Absurditäten endlich – im 17. und 18. Jahrhundert – überflüssig gemacht haben (ebd., S.867). In diese Absurditäten muss nicht mehr eintreten, wer für den Fortschritt des Geistes besorgt sein will. Die Ausgabe der Essays war 1756 vorläufig abgeschlossen17. Im März dieses Jahres veröffentlichte VOLTAIRE sein berühmtes Gedicht ‚Sur le désastre de Lisbonne‘ über das Erdbeben von Lissabon. Er reagierte damit auf eine Naturkatastrophe, die die gesamte europäische Intelligenz erschüttert hatte (vgl. GÜNTHER 1994; Texte in: BREIDERT 1994). Dieses Gedicht wurde von den Zeitgenossen VOLTAIREs als Absage an den Fortschrittsglauben gelesen. Freilich hatte dieser selber Fortschritt nie als naive Erwartung der Vollkommenheit oder der ‚perfectibilité‘ verstanden. Die Natur wirkt immer als Begrenzung der menschlichen Aspirationen und dabei nicht zuletzt durch ihre Katastrophen. Aber das ist kein Einwand gegen die Fortschritte der Bildung und auch nicht
15 Das Beispiel an der zitierten Stelle ist die Metaphysik RENÉ DESCARTES‘. Diese enthalte zwei Irrtümer, die in der Nachfolge korrigiert worden seien, „les idées innées et la prétendue perception de l'înfini“. Aber auch die Physik DESCARTES‘ sei voller Irrtümer, deren größter wie folgt formuliert werden könne: „Donnez-moi de la matière et je fais un monde“ VOLTAIRE 1963, T.II/S.844). 16 ‚Lettre de M. de V*** A M. De***, Professeur en Histoire‘ (vgl. ebd., T.II/S.865-870). 17 Die ‚Essay sur l‘histoire générale et sur les moeurs et l'esprit des nations depuis Charlemagne jusqu‘à nos jours‘ erschienen als Bände XI bis XIV der ‚Collection complète des oeuvres de Mr. de Voltaire‘ 1756 in Genf. Eine ‚Nouvelle édition, revue, corrigée et considerablement augmentée‘ erschien 1761 in fünf Bänden an gleicher Stelle. Die definitive Ausgabe erschien schließlich 1769 in Genf unter dem Titel ‚Essai sur les moers et l’esprit des nations et sur les principaux faits de l’histoire depuis Charlemagne jusqu’à Louis XIII‘.
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gegen die Idee des Fortschritts durch Bildung. Fortschritt ist nicht Erlösung von der Natur, sondern nur Beherrschung mancher ihrer Kräfte. Am 1. November 1755, am Tag von Allerheiligen, bebte die Erde, auf der die Stadt Lissabon stand. Das Epizentrum lag vor der Küste der Stadt, das Beben wurde nachträglich mit einer Stärke von 9,0 auf der Richterskala bestimmt. Die Erschütterungen reichten von Nordafrika bis Skandinavien, dem ersten Erdstoß folgen unmittelbar danach zwei weitere, vor allem aber eine gigantische Flutwelle, die vom Ozean her riesige Wassermassen in die Mündung des Tejo presste. Dreißig Minuten nach dem Beben brachen die Kirchen der Stadt unter dem Tsunami zusammen und begruben die zu den Messen an Allerheiligen versammelten Gläubigen unter ihren Trümmern. Die Flut überschwemmte die tiefer gelegenen Teile der Stadt. Unmittelbar nach dem ersten Beben brachen Feuer aus, die Lissabon über das hinaus, was Beben und Flut angerichtet hatten, vollständig vernichteten. Noch größer waren die Schäden an der Algarve-Küste südlich von Lissabon. Die Schätzungen der Opferzahlen schwanken zwischen 20.000 und 60.000, vermutlich sind mehr als 30.000 Menschen umgekommen. Hier war eine Katastrophe geschehen, die tatsächlich als Menetekel der Aufklärung verstanden wurde (vgl. WEINRICH 1971; GENNRICH 1976; NEIMAN 2002). VOLTAIRE sah, wie andere auch, den Optimismus in Frage gestellt, in der ‚besten aller Welten‘ zu leben (vgl. BESTERMAN 1956; BRAUN/RADNER 2005). Die Philosophie eines GOTTFRIED WILHELM LEIBNIZ oder eines ALEXANDER POPE sei mit der katastrophalen Macht der Natur nicht vereinbar, anders würden die Opfer von Lissabon das Gute bestätigen. Das Axiom dieser Philosophie, ‚tout est bien‘, nehme sich angesichts des Desasters von Lissabon seltsam aus, so schreibt VOLTAIRE (VOLTAIRE 1756, S.3). Wir leben nach dieser Erfahrung offenbar nicht in der besten aller Welten, kann doch jede unserer Welten durch Katastrophen der Natur erschüttert werden, die niemand vorhersieht und keiner bannt. Aber niemand kann zum Guten beitragen, wenn er das Böse oder das Unheimliche nicht beherrscht (vgl. ebd., S.6f.). Man muss daher eingestehen, so VOLTAIRE, dass das Gute und das Böse koexistent sind und bleiben: Man muss eingestehen, dass die Philosophen niemals die Herkunft des Bösen expliziert haben, weder des moralisch noch des physikalisch Bösen. Man muss auch eingestehen, dass PIERRE BAYLE, der „größte Dialektiker, der je geschrieben hat”, nur gelernt hat, zu zweifeln und mit sich selbst zu kämpfen. Und man muss zugestehen, dass es so viele Schwächen in der Erleuchtung des Menschen gibt wie Miseren in seinem Leben (ebd., S.7). Man kann nicht, so heißt es im Gedicht selbst, von der Notwendigkeit auf die Güte der Natur schließen, und schon gar nicht darauf, die Notwendigkeit der 44
Natur beherrschen zu können, also die Schöpfung selbst in die Regie des Menschen zu nehmen. Desaster wie das von Lissabon zeigen, wie eigenmächtig die Natur ist und wie wenig es gelingt, sie unter die Herrschaft des Menschen zu stellen (vgl. ebd., S.9f.). Aufklärung heißt wohl Bildung des Menschen, aber nicht prometheische Bildung18. Es geht eben nicht um die Ablösung Gottes durch sein eigenes Geschöpf. Die Welt kann nie frei von Irrtümern gehalten werden, sie ist ein Theater der Leidenschaften und des Unglücks, das zu keinem Zeitpunkt einen nur guten Ausgang nehmen wird. Was wir ‚gut‘ nennen, das plaisir des Menschen, ist flüchtig und ohne Halt, der Augenblick des guten Erlebens kann über die Fatalität des Lebens nicht hinwegtäuschen,19 es kann nicht ‚gut‘ sein, weil es vergeht und nichts und niemand das Leiden des Menschen an sich selbst aufheben kann. „Le passé n‘est pour nous qu‘un triste souvenir; Le présent est affreux, s‘il n'est point d‘avenir, Si la nuit du tombeau détruit l‘être qui pense. Un jour tout sera bien, voilà notre espérance; Tout est bien aujourd'hui, voilà l‘illusion. Les Sages me trompaient, & DIEU seul a raison (ebd., S.16ff.).
Man kann, heißt es am Schluss des Gedichts, Hoffnung hinzufügen, aber das bleibt angesichts der Gewalt der Natur eine vage Größe (vgl. ebd., S.17). ROUSSEAU, der Intimfeind VOLTAIREs, reagierte heftig auf das Poem20. Immerhin stellte doch VOLTAIRE die Güte der Natur in Frage, also auch die Prämisse der natürlichen Erziehung, wonach nur die Gesellschaft den Menschen verderben könne. Dass die Natur dem Menschen schaden kann (oder gar will), wollte und konnte ROUSSEAU nicht wahrhaben, anders nämlich ließ sich der allgemeine Optimismus der Erziehung nicht verteidigen. Daher verlagert ROUSSEAU das Problem:
18 Prometheus ist in der antiken Mythologie einer der Titanen. Nach HESIOD bringt Prometheus den Menschen das Feuer, das Zeus ihnen vorenthalten wollte. Zur Strafe (oder zum Ausgleich) sandte Zeus den Menschen Pandora; Prometheus wird an den kaukasischen Felsen gefesselt und mit einer absurden Qual bestraft. Ein Adler frisst ihm jeden Tag die Leber aus dem lebendigen Leib, die jede Nacht nachwächst. Erst Herakles befreit Prometheus von dieser Qual. 19 Die Idee des partiell Bösen und des ‚universal Good‘ geht auf ALEXANDER POPEs Epistel I/290 im ‚Essay on Man‘ zurück. Ihn greift VOLTAIRE an (vgl. VOLTAIRE 1756, S.6). 20 ROUSSEAU schreibt VOLTAIRE einen längeren Brief über dessen Gedicht; VOLTAIRE bestätigt den Eingang dieses Briefes am 1. September 1756. ROUSSEAUs Brief wird entgegen der Absicht des Verfassers in den Nummern 44 und 53 des 1760er Jahrgangs der Zeitschrift von SAMUEL FORMEY, des Sekretärs der Berliner Akademie, veröffentlicht. ROUSSEAU berichtet über diesen Vorfall ausführlich in seinen ‚Bekenntnissen‘ im neunten Buch (vgl. ROUSSEAU 1959, S.429ff.).
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„Es ist nicht davon die Rede, zu wissen, ob jeder von uns leidet oder nicht, sondern ob die Schöpfung des Weltalls gut war und ob in der Anordnung dieses Weltalls unsere Übel unausweichlich waren. Also würde, wie mir scheint, der Zusatz eines Artikels den Lehrsatz [Tout est bien; J.O.]‘ richtiger bestimmen, und statt Alles ist gut wäre es vielleicht besser zu sagen: Das Ganze ist gut, oder Alles ist gut für das Ganze. Alsdann ist es augenscheinlich, dass kein Mensch weder dafür noch dawider bündige Beweise geben könnte, denn diese Beweise hängen von einer vollkommenen Kenntnis der Anordnung der Welt und des Endzwecks ihres Urhebers ab, und diese Kenntnis übersteigt unstreitig den menschlichen Verstand“ (ROUSSEAU 1978, S.325; Hvhbg. J.O.).
In dieser Frage dürfe nicht die Vernunft, sondern müsse die Vorsehung tätig werden (vgl. ebd., S.327f.)21. An das Gute der Natur könne man nur glauben, während VOLTAIREs skeptische Vernunft ohne Ertrag bleibe für die Menschen. Wer das ‚Gute‘ und das ‚Böse‘ einfach als Relation betrachtet, die angesichts der Erfahrungen in Natur und Gesellschaft nicht für das Gute entschieden werden kann, trägt zur Erziehung und so zum Glück der Menschen nichts bei. „Eine Unmenschlichkeit [liegt; J.O] darin ..., friedfertige Seelen zu verwirren und die Menschen ohne irgendeinen Nutzen zu bekümmern, wenn das, was man sie lehren will, weder gewiss noch nützlich ist“ (ebd., S.329). Optimismus muss gleichermaßen gewiss und nützlich sein, was nur gelingt, wenn Natur seine Grundlage ist. Dass ‚das Ganze‘ gut sei, kann man nur glauben. Der Glaube muss aber unabhängig von der Erfahrung gehalten werden, wenn der Satz der Güte überzeugen soll. Wendet man ihn auf die Erfahrung an, dann sind zu schnell zu viele Gegenbeispiele bei der Hand, um die Naivität des gläubigen Optimismus lange bewahren zu können. Katastrophen beweisen die Kontingenz der Welt und die Unberechenbarkeit der Natur, während der Glaube annehmen soll, dass alles – Welt und Mensch – an sich und in seinem Wesen vollkommen sei. Davon ist die intellektuelle Redlichkeit, die Zivilisierung durch Wahrheitssuche, zu unterscheiden. Aufklärung wäre im Wesentlichen dies, die Chance, durch Bildung oder fortgesetztes Lernen Wahrheit selbst bestimmen zu können, darunter auch jede unangenehme oder moralisch anstößige Wahrheit. Am Ende von ‚Le philosophe ignorant‘ schreibt VOLTAIRE: „Ich sehe, in diesem Jahrhundert, das von der Vernunft erleuchtet wurde [ce siècle qui est l‘aurore de la raison], wie die Köpfe der Hydra des Fanatismus nachwachsen“ (Voltaire 1961, S.911). 21 „Um diesen Punkt richtig zu denken, scheint es, die Dinge sollten in der physischen Ordnung nur relativ und in der sittlichen Ordnung absolut betrachtet werden, so dass der größte Gedanke, den ich mir von der Vorsehung machen kann, ist, dass jedes materielle Wesen relativ auf das Ganze und jedes vernünftige und empfindende Wesen relativ auf sich selber bestmöglich eingerichtet ist, was in anderen Ausdrücken sagen will, dass es für den, der sein Dasein fühlt, besser ist, dazusein, als nicht dazusein” (ROUSSEAU 1978, S.327).
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Die Wahrheit aber dürfe sich vor diesen Monstern nicht verstecken (vgl. ebd., S.912). Jede Form von Fanatismus hebe Freiheit auf, und das gelte auch für die ‚Vorsehung‘ nach ROUSSEAU. Frei sei der Mensch aber nur, wenn er vernünftig zu handeln versteht, ohne dass dafür die Welt an sich gut sein müsse oder der Optimismus durch die Natur selbst garantiert werde (vgl. ebd., S.868ff.). Mit ANTHONY COLLINS (1713)22 und anderen Freidenkern des frühen 18. Jahrhunderts23 forderte VOLTAIRE die Freiheit des Denkens, das Recht auf Kritik und die Unabhängigkeit der Bildung vom religiösen Dogma, nicht aber eine Emanzipation des Menschen von allen seinen Schwächen, die erreicht werden soll durch eine Angleichung der Erziehung an die Natur des Menschen. Die Schwächen der Natur sind für VOLTAIRE unaufhebbar24. Das aber bedeutet nicht, dass Bildung unmöglich ist, Kritik sinnlos und Fortschritte des Geistes ausgeschlossen werden müssen. Dafür gibt es eine berühmte Formel, die sich nicht ‚dialektisch‘ verstehen lässt: „Ich habe gedacht, dass die Natur jedem Wesen zugeteilt hat, was zu ihm passt; ich habe geglaubt, dass die Dinge, die wir nicht erreichen können, nicht zu uns gehören. Aber, trotz dieser Verzweiflung [désespoir] lasse ich nicht von dem Wunsch ab, unterrichtet und belehrt zu werden, und meine betrogene Neugier ist immer unersättlich“ (VOLTAIRE 1961, S.861f.).
Aufklärung hat mit Lernen zu tun, nicht mit einer Fortschrittsgarantie; wenn es Unterschiede zwischen barbarischen und zivilisierten Kulturen gibt, dann ist das lediglich eine historische Hypothese. Irgendeine automatische Bewegung der Geschichte selbst ist damit nicht verbunden. VOLTAIRE führt diesen Komplex wie folgt zusammen: Die Intelligenz des Menschen ist ebenso beschränkt wie seine körperliche Kraft. Die Fähigkeiten sind unterschiedlich verteilt, auch ist der Gebrauch der Intelligenz nie gleich. 22 ANTHONY COLLINS (1676-1729) studierte Jura, übte aber nie ein juristisches Amt aus. 1703 traf er JOHN LOCKE und knüpfte an seine Philosophie an. COLLINS war reich und unabhängig. Er verfasste 1707 ‚An Essay Concerning the Use of Reason‘, 1713 erschien sein kontroverses Buch ‚A Discourse of Free-Thinking‘, das ihn auch auf dem Kontinent bekannt machte. Einer seiner Leser war VOLTAIRE.. 23 Dazu gehörten neben JOHN TOLAND englische Deisten des frühen 18. Jahrhunderts wie THOMAS WOOLSTON (1669-1733) oder WILLIAM WOLLASTON (1659-1724). VOLTAIRE selber war ein Bewunderer von WOOLSTON, den er London traf. 24 „Ce qui est impossible à ma nature si fallible, si bornée, et qui est d‘une durée si courte, est-il impossible dans d'autres globes, dans d‘autres espèces d'êtres? Y a-t-il des intelligences supérieures, maîtresses de toutes leurs idées, qui pensent et qui sentent tout ce qu‘elles veulent? Je n‘en sais rien; je ne connais que ma faiblesse, je n‘ai aucune notion de la force des autres“ (VOLTAIRE 1961, S.867).
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Der eine kommt früher an seine Grenzen, der andere später, aber jeder hat und erreicht Grenzen (vgl. ebd., S.865). Daraus ergibt sich folgende Bestimmung: „Wir sind eingeschlossen in einem engen Lebenskreis, warum lernen wir nicht zu unterscheiden, wo wir zum Nichtwissen verdammt sind und wo wir tatsächlich etwas lernen können. Wir haben schon gesehen, dass es kein erstes Mittel gibt, ebenso wenig kann es ein erstes Prinzip geben, das wir ergreifen können“ (ebd., S.865f.).
Wissen und Nichtwissen unterscheiden zu können, wäre so das wahre Signum für Aufklärung. Jede Vernunft muss damit rechnen, dass hinter jeder Ursache, von der sie ausgeht, andere stehen, die unbekannt sind, am Ende gar das Unendliche (infini), das jeden Verstand überfordert (vgl. ebd., S.866). Man sucht ständig und findet niemals etwas auf definitive Weise, nichts ist abschließend erklärbar, aber unablässig werden Erklärungen notwendig. Ein Zustand vollkommener Transparenz – totaler Erklärbarkeit – der Welt hätte zur Folge, dass jeder Mensch der Gott seiner selbst wäre. Genau solches aber ist unvereinbar mit der menschlichen Natur. Man müsste das erste Prinzip kennen, das die Menschen zu denken und handeln veranlasst, während man immer nur denken und handeln kann aufgrund dieses Prinzips. Dieses erste Prinzip entzieht sich der Erkenntnis und bestimmt sie zugleich. Die menschliche Intelligenz kann der Frage nach dem Unendlichen nicht entkommen, aber sie muss sich mit ihm an sich selbst abarbeiten, ohne dass Erlösung garantiert wäre (vgl. ebd., S.873f.). In diesem Sinne behält die Aufklärung ein Grenzbewusstsein. Dieses basiert auf der Bedingung des Lernens: Das Große oder das Letzte ist unerkennbar, also müssen sich Erkenntnis und Wissen auf das Erkennbare in der Erfahrung beziehen. Man kann nicht die christliche Trinität mit der Physik erklären (vgl. ebd., S.883). Was aber Aufklärung kann, ist, diesen Versuch als absurd zu entlarven. Schließlich, so VOLTAIRE, verrät auch die Algebra nicht, wie die Regeln des Lebens zu bestimmen sind. Aus den wenigen Wahrheiten, die man lernen kann, leiten sich nicht einfach moralische Prinzipien ab. Von daher bleibt in jedem Falle ein praktisches Problem bestehen, das nicht mit Wissenschaft allein bearbeitet werden kann (vgl. ebd., S.891ff.). Was „gerecht“ ist und was „ungerecht“, muss aus der Handlungspraxis heraus je neu bestimmt werden (ebd., S.892). Die Wissenschaft kann nur verhindern, dass dabei die „chimères“ des Aberglaubens ihren Einfluss zurückerlangen und übermächtig werden (ebd., S.895). Das Prinzip der Gerechtigkeit ist universell, in dem Sinne, dass alle bekannten Kulturen darauf reagiert haben; die Praxis der Moral dagegen ist verschieden (vgl. ebd., S.901). Eine Annäherung aller Gesellschaften an einen Zustand muss daher ausgeschlossen werden, so dass auch ein Fortschritt zum letztendlich Guten ausgeschlossen werden muss. Das 48
Gute ist kein Endziel, sondern nur ein Maßstab, er soll das Handeln leiten, das aber immer mit der Fehlbarkeit des Menschen rechnen muss. Eine der historischen Quellen für VOLTAIREs Geschichte der Sitten von 1756 ist JEAN CHARDINs ‚Voyages en Perse‘.25 Das Motto auf dem Titelblatt ist ein Bekenntnis zur Aufklärung: Libertas sine scientia licentia [Licentia = Göttin der Willkür; J.O.] est – Freiheit ohne Wissenschaft ist Willkür! VOLTAIRE verarbeitete diverse Reiseberichte, um die kulturellen Abstände zwischen Europa und den anderen Welten bestimmen zu können. Gleichzeitig war die Metapher der Reise eine gute Veranschaulichung seines philosophischen Problems. Man sieht auf einem Bild in CHARDINs ‚Reisen nach Persien‘ eine Karawanserei26, die VOLTAIRE als Metapher nutzt: „Le monde est un caravansérail, et nous sommes une caravane“ (VOLTAIRE 1963, T.I/S Lf.). Jede Karawane hat nur zwei Möglichkeiten: Sie kommt ans Ziel oder verpasst die Richtung. Zudem sind Karawanen ökonomische Unternehmungen, sie dienen weder allein dem Vergnügen noch ausschließlich der Bildung. Die Metapher der Reise steht daher nicht lediglich für die ewige Suche, sondern zugleich für wirtschaftliche und politische Interessen, die mit Macht und Gewalt zu tun haben (vgl. ebd., T.II/Abb. zw. S.374/375)27. VOLTAIREs Europa ist auch eines der christlichen Mission und der imperialen Politik, die sich im 17. und frühen 18. Jahrhundert die technischen Fortschritte zunutze macht, nicht um die Bildung zu befördern oder der Aufklärung zu dienen, sondern um politische Herrschaft auszuüben, die oft genug gerade mit der Vernunft der Aufklärung begründet wurde. Die Barbaren sollten ausgerottet oder missioniert werden (vgl. ebd., Abb. zw. S.348/349, S.334/35)28. So sollte der westlichen, der christlich geprägten Rationalität zum Durchbruch zu verholfen werden. Nur so konnte auch der Kontinent Amerika erschlossen werden
25 JEAN CHARDINs Tome Premier von ‚Voyages de Monsieur le Chevalier Chardin, en Perse, et autres lieux de l‘orient ()‘ erschien 1711 in Amsterdam. VOLTAIRE zitiert ihn an mehreren Stellen (vgl. VOLTAIRE 1763, T1/S.62, passim.). CHARDIN (1643-1713) war Sohn eines wohlhabenden Juweliers, der, statt das Erbe seines Vaters anzutreten, die Welt bereiste. Von 1664 bis 1670 war er in Persien und Indien, beide Länder besuchte er erneut zwischen 1671 und 1680. 26 Das persische Wort ‚karwan‘ steht für ‚Kamelzug‘ oder ‚Reisegesellschaft‘. Die ‚Karawanserai‘ ist die Unterkunft für Karawanen an den Karawanenstraßen, also den großen Handelswegen durch die Wüsten. ‚Sérails‘ sind auch Harems. 27 Frontispiz zu: OEXMELINs ‚Histoire des aventuriers, des boucaniers et de la chambre des comptes, établie dans les Indes‘ in der Ausgabe von 1669-1705, 1686 (die Erstausgabe erschien in Paris 1636 (vgl. VOLTAIRE 1963, T.II/Abb. zw. S.375/376). 28 Darstellung ‚L‘idole Viztzilipztli‘ aus SOLIS Y RIBADENEIRAs ‚Histoire de la conquête du Pérou‘ in der Ausgabe von 1692 (vgl. VOLTAIRE 1963, T.II/Abb. zw. S.348/349), desweiteren LAFITAU: ‚Moeurs des sauvages américain‘s‘ in der Pariser Ausgabe von 1724 (vgl. ebd., Abb. zw. S.334/335).
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(ebd., S.306/307)29. Nur so entstand schlussendlich die moderne europäische Gesellschaft, wie etwa am Beispiel der Niederlande abgelesen werden kann oder muss (vgl. ebd., S.728/729)30. Der Reichtum ist auf Gewalt aufgebaut, die Vernunft hat eine blutige Seite, Bildung setzt Ausbeutung voraus, weil nur so Abstand von der eigenen Lebensnot erreicht werden kann. Gibt es also trotz aller intellektuellen Selbstbegrenzung so etwas wie eine Dialektik der Aufklärung, die die Aufklärer selbst gar nicht bemerkt haben? Und wäre das Licht der Aufklärung dann einfach die Funktion der Dunkelheit, die nicht etwa überwunden wird, sondern als moderne Barbarei im Namen der Aufklärung bestehen bleibt? Wäre dem so, könnte man ‚Aufklärung‘ nur als leichtsinnigen Irrtum bezeichnen, der befördert, was er vermeiden will. Das Barbarische hinter der Zivilisation verschwindet nicht, sondern erhält mit der Veränderung der Rationalität neue und zusätzlich bessere Chancen. Die Guillotine wäre dann tatsächlich das Symbol für die wirklichen Möglichkeiten der Aufklärung. Dialektik der Aufklärung – so nannten MAX HORKHEIMER31 und THEODOR WIESENGRUND ADORNO32 philosophische Fragmente, die zwischen 1941 und 29 Frontispiz zu BANDINI ‚Vita e lettere di Amerigo Vespucci‘ in der Florentiner Ausgabe von 1745 (vgl. VOLTAIRE 1963, T.II/Abb. zw. S.306/307). 30 Frontispiz zu Le Clerc, ‚Histoire des Provinces unie‘s‘ in der Amsterdamer Ausgabe von 1728 (vgl. VOLTAIRE 1963, T.II/Abb. zw. S.728/729). 31 MAX HORKHEIMER (1895-1973) studierte in München, Freiburg/Br. und in Frankfurt/M. 1922 promovierte er in Philosophie und wurde Assistent von HANS CORNELIUS in Frankfurt. 1925 habilitierte sich HORKHEIMER mit einer Arbeit über IMMANUEL KANTs ‚Kritik der Urteilskraft‘. 1927 unterzog er sich einer psychoanalytischen Behandlung, 1930 wurde er Ordinarius für Sozialphilosophie an der Universität Frankfurt/M. 1931 wurde HORKHEIMER Direktor des der Universität assoziierten ‚Instituts für Sozialforschung‘, dem Nukleus der Frankfurter Schule. 1933 floh HORKHEIMER in die Schweiz, 1934 ging er ins amerikanische Exil. Das Institut für Sozialforschung wurde an der Columbia University neu eingerichtet. 1940 ging HORKHEIMER nach Kalifornien, um mit THEODOR WIESENGRUND ADORNO die ‚Dialektik der Aufklärung‘ zu schreiben. 1943 wurde HORKHEIMER Direktor der wissenschaftlichen Abteilung des American Jewish Committee, während dieser Tätigkeit entstanden die ‚Studies in Prejudice‘. Unter diesem Titel wurden umfangreiche empirische Forschungen zum Antisemitismus und seinen gesellschaftlichen Ursachen durchgeführt. 1949 kehrte HORKHEIMER auf den Lehrstuhl für Sozialphilosophie nach Frankfurt zurück, 1950 wurde dort das ‚Institut für Sozialforschung‘ neu eröffnet (vgl. WIGGERSHAUS 1986). 32 ADORNO (1903-1969) promovierte ebenfalls bei HANS CORNELIUS in Frankfurt. 1925 studierte er Musiktheorie und Komposition bei ALBAN BERG und ARNOLD SCHÖNBERG in Wien, 1930 habilitierte er sich bei PAUL TILLICH in Frankfurt. 1934 emigrierte ADORNO nach Oxford und arbeitete am Merton College. 1938 ging er in die Vereinigten Staaten und wurde Mitglied des ‚Instituts für Sozialforschung‘. 1941 folgte er HORKHEIMER nach Kalifornien, im Anschluss an die Fertigstellung der ‚Dialektik der Aufklärung‘ übernahm er die Leitung eines Forschungsprojektes über soziale Diskriminierung in Los Angeles. 1949 kehrte Adorno nach Deutschland zurück, aber erst 1956 erhielt er ein Ordinariat für Philosophie und Soziologie an der Universität Frankfurt/M. 1958 übernahm er die Leitung des ‚Instituts für Sozialforschung‘ (vgl. WIGGERSHAUS 1986).
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1944 im kalifornischen Exil verfasst und 1944 zum ersten Mal veröffentlicht wurden. Das Buch erschien in einem kleinen amerikanischen Verlag und hinterließ zunächst keinerlei Spuren. Auch die geringfügig veränderte zweite Ausgabe, die 1947 in Amsterdam herauskam, blieb zunächst ohne große Wirkung. Fast zwanzig Jahre lang blieb das Buch weitgehend ungelesen. Im Jahre 1968 erschien ein nicht autorisierter Nachdruck im Verlag De Munter, dem ein Jahr später die autorisierte zweite Auflage im Verlag S. Fischer folgte. Erst zu dieser Zeit fand das Buch im Zuge der nachträglichen Konstitutierung der ‚Kritischen Theorie‘ breite Beachtung. Dabei machte schon das Vorwort von 1944 auf ein epochales Problem aufmerksam. Es diskutierte nichts weniger als die „Selbstzerstörung der Aufklärung“ (HORKHEIMER/ADORNO 1947, S.7). In der Aufklärung selbst, so die These, sei bereits der Keim ihres Untergangs enthalten. Indem sie nämlich dem Fortschritt dienen sollte, wurde sie blind gegenüber der durch Fortschritt bewirkten Zerstörung (vgl. ebd.). Aufklärung ist ein Mythos, so wie Mythos Aufklärung ist (vgl. ebd., S.10) – dieses war die generelle These, die HORKHEIMER und ADORNO entfalten wollten. Die Abhandlung beginnt mit einer Zitatenfolge, die nicht zufällig zuerst VOLTAIRE und dann BACON anführt. VOLTAIRE wird zitiert mit den frühen ‚Lettres philosophiques par M. de V.‘, die 1734 in Amsterdam veröffentlicht wurden (vgl. VOLTAIRE 1961, S.1ff.). VOLTAIRE war zu diesem Zeitpunkt vierzig Jahre alt und zog in diesen zuerst auf Englisch erschienenen Briefen33 die Bilanz seines mehrjährigen Aufenthaltes in England. VOLTAIRE hatte 1726 Frankreich verlassen müssen und lebte bis 1729 in London; die ‚philosophischen Briefe‘ beschreiben den Stand der Entwicklung von Wissenschaft und Gesellschaft in England, die als vorbildlich für den Kontinent und speziell für Frankreich galt. In diesem Zusammenhang skizziert VOLTAIRE zum Beginn des ‚Douzième lettre: Sur le Chancelier Bacon‘ Einfluss und Leistung von BACON wie folgt: „Il est père de la philosophie expérimentale; il est bien vrai qu’avant lui on avait découvert des secrets étonnants34 ... Qui ne croirait que ces sublimes decouvertes eussent été faites par les plus grands philosophes, et dans le temps bien plus éclairés que le nôtre? Point du tout: c’est dans le temps de la plus stupide barbarie que ces grands changements ont été faits sur la terre; le hasard seul a produit presques toutes ces inventions“ (VOLTAIRE 1961, S.32).
33 Tatsächlich war die Amsterdamer Ausgabe bereits eine Übersetzung einer Ausgabe, die im August 1733 in London veröffentlicht wurde. Die Übersetzung war schon im Juni 1733 im ‚Mercure de France‘ angezeigt worden. 34 „On avait inventé la boussoule, l‘imprimerie, la gravure des estampes, la peinture à l’huile, les glaces, l’art de rendre en quelque façon la vue aux vieillards par les lunettes qu’on appelle bésicles, la poudre au canon, etc.“ (VOLTAIRE 1961, S.34).
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BACONs Theorie des experimentellen Lernens ermöglichte die methodische Entwicklung der Naturwissenschaften (vgl. ebd., S.35). Was zuvor erfunden worden war, etwa der Kompass, der Buchdruck, das Kupferstechen, die Ölmalerei, die Augengläser oder das Schießpulver, war eine Angelegenheit von Versuch und Irrtum, wobei der Zufall der glücklichen Lösung zu Hilfe kommen musste. Erst nach BACON war es möglich, systematisch – oder besser: methodisch – Erkenntnisfortschritte zu erzielen. In der ‚Dialektik der Aufklärung‘ wird dieser Gedanke verkürzt. Es wird lediglich zitiert, dass BACON - nach VOLTAIRE – der „Vater der experimentellen Philosophie“ gewesen sei (HORKHEIMER/ADORNO 1947, S.13). Vorgeschichte und Folgen werden ausgeblendet, insbesondere das, was VOLTAIRE am meisten interessierte. Jenem war es nämlich tatsächlich insbesondere um den historischen Rationalisierungsgewinn nach BACON zu tun, also um die Mechanik und Optik ISAAC NEWTONs (vgl. VOLTAIRE 1961, S. 58ff., 66ff.). Diese erst erlaubten es überhaupt, die Natur unabhängig von der Dämonie des Zufalls zu betrachten. BACON selber wird mit der kleinen Arbeit ‚In Praise of Knowledge‘ zitiert (vgl. HORKHEIMER/ADORNO 1947, S.13/14), aus der VOLTAIRE seine Beispiele der vorwissenschaftlichen Erfindungen übernommen hatte. Das verwendete Zitat dient also der Denunziation. HORKHEIMER und ADORNO lassen ‚Aufklärung‘ mit BACON beginnen und verstehen darunter eine von Anfang an notwendige oder folgerichtige, aber zugleich falsche und mindestens verhängnisvolle Weichenstellung. Die Grundthese der ‚Dialektik der Aufklärung‘ bezieht sich in bestimmter Hinsicht auf ROUSSEAU, insofern Wissenschaft unterstellt wird, sie sei das „Patriarchat“ über die „entzauberte Natur“. Der wissenschaftliche Verstand, der den „Aberglauben“ besiegen soll, hat genau in dem Maße keine Grenzen mehr, wie er dieser Aufgabe erfolgreich nachgekommen ist. Die hemmende Gegenseite fehlt, die Überwindung des Mythos rächt sich: „Das Wissen, das Macht ist, kennt keine Schranken, weder in der Versklavung der Kreatur noch in der Willfährigkeit gegen die Herren der Welt“. Genauer: „Was die Menschen von der Natur lernen wollen, ist, sie anzuwenden, um sie und die Menschen vollends zu beherrschen. Nichts anderes gilt. Rücksichtslos gegen sich selbst hat die Aufklärung noch den letzten Rest ihres eigenen Selbstbewusstseins ausgebrannt. Nur solches Denken ist hart genug, die Mythen zu zerbrechen, das sich selbst Gewalt antut“ (ebd., S.14). ‚Die‘ Aufklärung allerdings gibt es nicht. HORKHEIMER und ADORNO, beeinflusst vor allem durch MAX WEBERs These von der ‚Entzauberung der Welt‘ durch rationale Verfahren, unterstellen eine Einheit, die historisch an keiner Stelle je bestanden hat. Wenn es aber nicht ‚die‘ Aufklärung gibt, kann es auch keine Dialektik ‚der‘ Aufklärung geben. Die Einheit muss konstruiert werden, 52
um überhaupt den Gegensatz zum Mythos profilieren zu können. ‚Mythos‘ ist die welthistorische Gegenmacht zur ‚Aufklärung‘, beides verstanden als Pole, die auf die Antike zurückgeführt werden. Interessant ist, dass hier die ‚Weltgeschichte‘ des 17. Jahrhunderts in neuer Form zurückkehrt. Der zentrale Gegensatz überrascht, weil Aufklärung – deren Verschiedenheit unterstellt – zwar gegen den zeitgenössischen Aberglauben zu Felde zog, nicht jedoch gegen die antike Mythologie. Diese war überhaupt nie Objekt ihrer Kritik. BACON streitet gegen die Scholastik. Sein Argument ist, dass man aus Begriffen oder Texten keine Kenntnis über die Natur ableiten könne. Diese müsse unabhängig beobachtet und experimentell erforscht werden. Experiment und Beobachtung sind beides Verfahren, die sich der Dogmatik entziehen und insofern der freien Erkenntnis dienen. Die Kritik der Magie schließt hier an, und sie ist immer gerichtet auf zeitgenössische Autoren und deren Traditionen, nicht auf eine weltgeschichtliche Polarität, wie HORKHEIMER und ADORNO sie sehen wollen. Ihnen geht es nicht primär um die historische Epoche ‚Aufklärung‘, sondern um einen damit verbundenen, tiefer liegenden Konflikt. Nur in dieser eigentümlichen Neuauflage von Weltgeschichte kann gelten: Aufklärung ist der Gegenspieler zum Mythos. Sie entrinnt ihm aber nicht, weil Mythos selbst Aufklärung gewesen ist. Diese an GEORG WILHELM FRIED35 RICH HEGEL angelehnte Denkfigur ist kühn. Sie hat aber kaum etwas zu tun mit den Figuren und Texten des 17. und 18. Jahrhunderts, die doch irgendwie den Korpus der Aufklärung ausmachen sollen. HORKHEIMER und ADORNO konstruieren, anders gesagt, einen weltgeschichtlichen Gegensatz, der sich als ‚Dialektik‘ der Aufklärung im 18. Jahrhundert gar nicht fassen lässt: „Wie die Mythen schon Aufklärung vollziehen, so verstrickt Aufklärung mit jedem ihrer Schritte tiefer sich in Mythologie. Allen Stoff empfängt sie von den Mythen um sie zu zerstören und als Richtende gerät sie in den mythischen Bann. Sie will dem Prozess von Schicksal und Vergeltung sich entziehen, indem sie an ihm selbst Vergeltung übt. In den Mythen muss alles Geschehen Buße dafür tun, dass es geschah. Dabei bleibt es in der Aufklärung: die Tatsache wird nichtig, kaum dass sie geschah. Die Lehre der Gleichheit von Aktion und Reaktion behauptete die Macht der Wiederholung über das Dasein, lange nachdem die Menschen der Illusion sich entäußert haben, durch Wiederholung mit dem wiederholten Dasein sich zu identifizieren und so seiner Macht sich zu entziehen. Je weiter aber die magische Illusion entschwindet, umso unerbittlicher hält Wiederholung unter dem Titel Gesetzlichkeit den Menschen in jenem Kreislauf fest, durch dessen Vergegenständlichung im Naturgesetz er sich als freies Subjekt gesichert wähnt“ (ebd., S.22/23).
35 GEORG WILHELM FRIEDRICH HEGEL (1770-1831) war zum Beginn des 19. Jahrhunderts Professor in Jena, bevor er 1808 Rektor des Aegidiengymnasiums in Nürnberg wurde. 1816 wurde HEGEL nach Heidelberg, 1818 nach Berlin berufen.
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Die Lehre vom Wiederholungszwang geht auf SIGMUND FREUD zurück, der in seiner Schrift ‚Jenseits des Lustprinzips‘ den Wiederholungszwang triebtheoretisch erklärt. Überhaupt ist die Konstruktion der ‚Dialektik der Aufklärung‘ stark psychoanalytisch inspiriert. Das durch die Aufklärung Verdrängte kann jederzeit zurückkehren, es stellt nur die andere Seite der Vernunft dar. Die Vernunft wird so niemals unabhängig von dem, das sie überwunden glaubt. Die moderne Wissenschaft wäre demnach dem antiken Mythos keinen Schritt voraus. Dieses gilt nicht nur, weil sie selbst dem Mythos von Rationalität und Fortschritt folgt, sondern auch, weil sie keine andere Denkfigur zur Verfügung hat. „Das Prinzip der Immanenz, der Erklärung jeden Geschehens als Wiederholung, das die Aufklärung wider die mythische Einbildungskraft vertritt, ist das des Mythos selber“ (ebd., S.23). HORKHEIMER und ADORNO sagen nicht, wo, an welchen Stellen und mit welchen Argumenten ‚die‘ Aufklärung das Prinzip der Immanenz entwickelt hat. BACON selbst unterscheidet zwischen Physik und Magie: Jede Form von Magie hat metaphysische Voraussetzungen, die Physik aber ist mechanisch und bezieht sich nicht auf ‚verborgene‘, sondern auf sichtbare Prozesse, auf den, wie es heißt, „gemeinen und gewöhnlichen Lauf der Natur“ (BACON 1990, Bd.II, S.299). Erst wer beides trennt, Physik und Magie, kann überhaupt Metaphysik als Metaphysik erkennen. Wer nur magisch denkt, ist außerstande, neben sich zu treten und die eigene Denkform zu verlassen. Insofern gibt es wirklichen Zwang zur Wiederholung nur im Mythos; keine Stammeskultur wäre imstande, eine Dialektik der Aufklärung zu erfinden. HORKHEIMER und ADORNO, anders gesagt, setzen voraus, was sie ablehnen. Selbst wenn man ‚Aufklärung‘ als Mythos bestimmen könnte, so wäre dieser Mythos nicht derselbe, den die Kulturanthropologie für Stammesgesellschaften beschrieben hat36. Man kann also Aufklärung nicht auf frühere Formen des Denkens zurückführen oder gar eine Art verhängnisvoller Gegenwart dieses Mythos in der Aufklärung annehmen. Zudem ist die Beweisführung unzulässig: BACON spricht wohl vom ‚Gesetz‘ der Natur, aber er versteht unter wissenschaftlicher Erkenntnis die Erfassung des Entstehungsgrundes (fontem emanationis) der Körper und ihrer Bewegungen, die nicht einfach als Wiederholung des Immergleichen37 dargestellt werden können (ebd., S.281, 278). BACON beschreibt
36 Die Quelle für HORKHEIMER und ADORNO ist ROBERT LOWIEs ‚An Introduction to Cultural Anthropology‘ in der New Yorker Ausgabe von 1940. Erwähnt werden von ihnen zudem SIGMUND FREUDs ‚Totem und Tabu‘ sowie Studien von MARCEL MAUSS und EMILE DURKHEIM. 37 Hierbei handelt es sich um eine Denkfigur FRIEDRICH NIETZSCHEs. Diese wird von FREUD ausdrücklich zitiert: Der Wiederholungszwang ‚ist‘ für ihn „die ewige Wiederkehr des Gleichen“ (FREUD 1975, S.232).
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sehr ausführlich das Erkenntnisverfahren, das ausdrücklich Übereinstimmung und Abweichung vorsieht38, also nicht einfach das ‚Prinzip der Immanenz‘. Dieses Prinzip müsste jede Form von Bewegung wie einen exakten Kreislauf oder einen präzisen Pendel betrachten. Eine solche Annahme aber widerspricht der Naturbeobachtung. Die Natur schafft ständig neue Formen und wiederholt nicht lediglich alte oder einmal geschaffene. Der Beobachter steht somit vor dem Problem, Vielfalt ordnen zu müssen, ohne den Prozess je beschließen zu können. Hinzukommt, dass im 18. Jahrhundert die Mechanik nur als eine Theorie der Bewegung verstanden wird, nie als die ganze, was dem Augenschein widersprechen würde. Man kann zudem vom Erkenntnisverfahren nie auf die Erkenntnis selbst schließen, wer Ordnung anstrebt, muss sie nicht auch erreichen, und die Ordnung der Erkenntnis ist nie zugleich die Ordnung des Objekts. Klarheit und Übersichtlichkeit sind Notwendigkeiten der Forschung. BACON verweist darauf, dass „die Wahrheit eher aus dem Irrtum als aus der Verwirrung hervorgeht“ (ebd., S.361). Irrtümer aber treten ständig auf und Wahrheiten sind gerade im Prozess der Naturforschung nie abgeschlossene Größen. Für HORKHEIMER und ADORNO ist die Wissenschaft der Aufklärung die mechanische Physik. Sie betrachten diese wie die Disziplin fester Gesetze, deren Sätze nie weiterentwickelt wurden und ewig unbestritten sind. Diese philosophische Konstruktion, die durch manche Aussagen etwa der Enzyklopädisten auch gestützt wird, hat jedoch nichts mit den Lernprozessen der Wissenschaften selbst zu tun. Daher lässt sich schließen: HORKHEIMERs und ADORNOs ‚Aufklärung‘ ist die der Philosophie, nicht die der Forschung. Aus diesem Grunde werden die Lernprozesse der Wissenschaft selbst vernachlässigt und wird stattdessen ein welthistorischer Gegensatz beschworen, welcher für die Entlarvung eines Heils- oder Glücksversprechens verwendet wird, das es jedenfalls für die Naturwissenschaft des 17. und 18. Jahrhunderts nie gegeben hat. Die Aufklärung hat auch nie wirklich ein ‚Prinzip der Immanenz‘ formuliert, wenigstens nicht als ausschließliche Bedingung für die Beschreibung der Naturgesetze. Man kann von den Gesetzen der Mechanik nicht auf die Erkenntnisse der Medizin oder der Biologie schließen. Diese lösen sich nämlich um die Mitte des 18. Jahrhunderts von mechanischen Systemen und stellen ‚Leben‘ oder die 38 Die Untersuchung der Formen betrifft die „gegebenen Eigenschaften“ der Körper. Genau zu untersuchen ist demnach, welche Fälle in der „gleichen Eigenschaft“ übereinstimmen, in welchen Fällen eine bestimmte Eigenschaft fehlt und wo sie „in verschiedenen Graden auftritt“ (BACON 1990, Bd.II/S.301ff., 307ff., 331ff.).
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Entwicklung der Natur in den Mittelpunkt (vgl. ROGER 1971, S.482ff.). Entwicklung ist nicht Wiederholung, wenigstens nicht mechanische Wiederholung, weil Leben immer auch als individuelle Form verstanden werden muss. Der genaue Zusammenhang aber ist nie abschließend klar. Von daher kann auch nicht von Ergebnissen oder Resultaten ‚der‘ Aufklärung gesprochen werden, sondern nur von Lernprozessen, die sich an den eigenen Irrtümern abarbeiten müssen. Um das in Rechnung zu stellen, müsste die Geschichte der Wissenschaften betrachtet werden, nicht lediglich bestimmte philosophische Prinzipien. HORKHEIMER und ADORNO müssen sich aber auf Prinzipien beziehen, um überhaupt den Verdacht einer welthistorischen ‚Dialektik‘ erhärten zu können: „Jeder Versuch, den Naturzwang zu brechen, indem Natur gebrochen wird, gerät nur tiefer in den Naturzwang hinein. So ist die Bahn der europäischen Zivilisation verlaufen. Die Abstraktion, das Werkzeug der Aufklärung, verhält sich zu ihren Objekten wie das Schicksal, dessen Begriff sie ausmerzt: als Liquidation. Unter der nivellierenden Herrschaft des Abstrakten, die alles in der Natur zum Wiederholbaren macht, und der Industrie, für die sie es zurichtet, wurden die Befreiten schließlich selbst zu jenem ‚Trupp‘, den Hegel als das Resultat der Aufklärung bezeichnet hat“ (HORKHEIMER/ADORNO 1947, S.24).
Für diese deutschen Philosophen ist nicht PIERRE BAYLE, wie für VOLTAIRE, sondern eben HEGEL der Meister der Dialektik. Der im schwäbischen Pietismus aufgewachsene HEGEL versteht ‚Aufklärung‘ aus dem Gegensatz zum christlichen Glauben heraus. Indem die Aufklärung sich rein negativ gegen den Glauben verhält, ist sie nicht „über sich selbst aufgeklärt“ (HEGEL 1970, S.418). Sie erkennt nicht, „dass dasjenige, was sie am Glauben verdammt, unmittelbar ihr eigener Gedanke“ ist (ebd.), das heißt, sie verkennt die eigene Dialektik. Der Glaube ist „unbefriedigte Aufklärung“, wenn und soweit er unter den Bann ihrer Metaphysik gerät, also die Vorstellung eines „prädikatlosen, unerkannten und unerkennbaren Absoluten“ übernimmt, das die christliche Gottesvorstellung ersetzen soll. Es wird sich jedoch zeigen, ob die Aufklärung „in ihrer Befriedigung bleiben kann; jenes Sehnen des trüben Geistes, der über den Verlust seiner geistigen Welt trauert, steht im Hinterhalte“ (ebd., S.423f.). ‚Aufklärung‘ wird von HEGEL nicht mit experimentellem Lernen und Fortschritten der wissenschaftlichen Erkenntnis, sondern vielmehr mit dem Angriff auf den christlichen Glauben gleichgesetzt. Die Konsequenz daraus nennt HEGEL die absolute Freiheit des Geistes, die einhergehe mit dem „reinen Schrecken des Negativen“ (ebd., S.439). „Kein positives Werk noch Tat kann... die allgemeine Freiheit hervorbringen; es bleibt ihr nur das negative Tun; sie ist nur die Furie des Verschwindens“ (ebd., S.435f.). Dieses aber ist ein theologisches Problem: Der „Schrecken des Todes“ ist die Anschauung des „negativen Wesens“ der Freiheit (ebd., S.437). HEGEL wirft der Aufklärung vor, dass sie für diese Erfahrung keine Einstellung hat, wohl aber den Glauben vom Geist des 56
Christentums trennt und ihn so zu einer hilflosen Größe werden lässt, die sich irgendwann einmal rächen wird. „Die Aufklärung, die sich für das Reine ausgibt, macht ... das, was dem Geiste ewiges Leben und heiliger Geist ist, zu einem wirklichen vergänglichen Dinge und besudelt es mit der an sich nichtigen Ansicht der sinnlichen Gewissheit - mit einer Ansicht, welche dem anbetenden Glauben gar nicht vorhanden ist, so dass sie ihm dieselbe rein anlügt“ (ebd., S.409).
Zwei Gegner werden hier deutlich. Der eine Gegner sind der Sensualismus und die mit ihm verknüpften Konzepte der natürlichen Religion oder der undogmatischen Göttlichkeit, die HEGEL mit dem „Wesen des reinen Denkens“ konfrontiert (ebd.) oder einer Theorie des Geistes, dessen Spitze das Absolute ist, ein persönlicher Gott, der sich nicht in sinnliche Anschauung auflösen soll. Die Christen verehren kein „zeitliches sinnliches Ding“, sondern Gott; der Glaube kann daher nicht historisch relativiert werden (ebd., S.410f.), sondern muss ein „Bewusstsein ... des absoluten Wesens“ voraussetzen (ebd., S.411). Der zweite Gegner ist der Utilitarismus, also die Idee, dass alles „nützlich” zu sein hat (ebd., S.415). In diesem Zusammenhang ist von ‚Trupp‘ die Rede: „Wie dem Menschen alles nützlich ist, so ist er es ebenfalls und seine Bestimmung ebensosehr, sich zum gemeinnützlichen und allgemein brauchbaren Mitgliede des Trupps zu machen“ (ebd., S.416). Das französische Wort troupe verweist von seinem galloromanischen Wortstamm her auf ‚Herde‘. Wer ‚brauchbar‘ gemacht wird oder allgemein nützlich sein soll, erhält ein Herdendasein, ohne dass die Theorien der Aufklärung imstande gewesen wären, diese ihre Rückseite zu erkennen. Diese Theorien sind dualistisch gebaut und schließen somit aus, was sie selbst betrifft. Aufklärung ist außerstande, sich über sich selbst aufzuklären. HORKHEIMER und ADORNO übernehmen die Denkfigur der hegelschen Dialektik, aber sie trennen sich von der für HEGEL noch maßgebenden protestantischen Religion. Die Stelle aber muss besetzt werden, wenn irgend von einer ‚Dialektik‘ der Aufklärung gesprochen werden soll. Sie gibt es bei HEGEL nur, soweit die Aufklärung sich selbst als Gegensatz zum Glauben auffasst. Die These ist dann, dass dieser selbstverschuldete Gegensatz die Aufklärung einholt, weil sie letztlich nur der schlechtere Glaube ist. Diese Figur benutzen auch HORKHEIMER und ADORNO, nur dass nicht der christliche Glaube, sondern der Mythos als die andere Seite der Aufklärung angesehen wird. Weil sie verdrängt, was sie konstituiert, ist Aufklärung der schlechtere Mythos. HEGEL war freilich näher am Geschehen: Für ihn ist Aufklärung keine historische Erfahrung, sondern die Summe der vorangegangenen Epoche, die zu Recht vom Gegensatz zum dogmatischen Glauben her verstanden wird. Der Gegensatz ist besonders in der deutschen Publizistik des 18. 57
Jahrhunderts an vielen Stellen greifbar, nur dass HEGEL 1807 in seiner ‚Phänomenologie des Geistes‘ philosophisch nachweisen wollte, dass seine Behauptung gleichermaßen unglücklich und überflüssig ist. Der Gegensatz ist aber nicht der zwischen Aufklärung und Mythos, sondern der zwischen der Geltung der christlichen Dogmen und der Sätze und Lehren der Wissenschaften. HORKHEIMER und ADORNO machen aber aus diesem epochalen einen welthistorischen Gegensatz. Dieser wird selbst magisch formuliert, als Verhängniszusammenhang, der sich unausweichlich vollzieht und wie ein selbst gewähltes Schicksal anzusehen ist. Das ist nur plausibel, wenn sich ‚Mythos‘ und ‚Physik‘ letztlich nicht unterscheiden. ERNST CASSIRER39, zu der Zeit der Abfassung ebenfalls Emigrant in den Vereinigten Staaten, hatte bereits 1927 im zweiten Teil seiner ‚Philosophie der symbolischen Formen‘ dargelegt, dass und wie zwischen mythischer und empirischer Kausalität zu unterscheiden sei (vgl. CASSIRER 1964, S.57ff.). Nur weil sie dies nicht tun, können HORKHEIMER und ADORNO Weltgeschichte als Verhängniszusammenhang konstruieren. Was dann ausgeblendet wird, sind vor allem die Vorteile der ‚isolierenden Abstraktion‘ im Erkenntnisverfahren der Wissenschaft. Das mythische Denken ist, folgen wir CASSIRER, kausal, Die mythische Kausalität aber ist dadurch gekennzeichnet, dass sie nicht „aus einem Gesamtkomplex ein bestimmtes Einzelmoment als ‚Bedingung‘“ erfassen und herausheben muss, sondern vielmehr alles mit allem verbinden kann. Im mythischen Denken wird Berührung in Raum und Zeit „unmittelbar als ein Verhältnis von Ursache und Wirkung genommen… Für die mythische Ansicht ist es tatsächlich die Schwalbe, die den Sommer macht“ (ebd., S.59f.). Genau dieser Unterschied zwischen einem mythischen und einem aufklärerischen Wirklichkeitsverständnis aber verbietet jene Gleichung, die HORKHEIMER und ADORNO ziehen wollen: Nach CASSIRER gilt: „Während die Denkform der empirischen Kausalität... wesentlich darauf gerichtet ist, eine eindeutige Beziehung zwischen b e s t i m m t e n ‚Ursachen‘ und b e s t i m m t e n 39 ERNST CASSIRER (1874-1945) studierte zunächst in Berlin, später in Marburg. Er promovierte 1899 bei HERMANN COHEN mit einer Arbeit über RENÉ DESCARTES, die als erster Teil einer großen Studie über GOTTFRIED WILHELM LEIBNIZ diente. Danach verfasste er die ersten beiden Bände seiner Geschichte des Erkenntnisproblems. Den ersten Band reichte er der Berliner Universität als Habilitationsschrift ein. Die venia legendi wurde erst nach massiver Intervention durch WILHELM DILTHEY erteilt. Nach dem Ersten Weltkrieg nahm CASSIRER einen Ruf an die neu gegründete Universität Hamburg an. Hier entstanden die ersten Bänder der Philosophie der symbolischen Formen, die nicht zuletzt durch die Nutzung der privaten Bibliothek ABY WARBURGs in Hamburg begünstigt wurden. 1930 wurde CASSIRER zum Rektor der Universität Hamburg gewählt, 1933 trat er unmittelbar nach dem 30. Januar von seinem Lehramt zurück. Er erhielt innerhalb weniger Wochen drei Rufe aus dem Ausland, folgte zunächst einem Ruf nach Oxford, dann einem nach Göteborg, um 1941 nach Yale zu gehen und 1944 an die Columbia University zu wechseln (vgl. LIPTON 1978).
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‚Wirkungen‘ herzustellen, stehen dem mythischen Denken auch dort, wo es die Ursprungsfrage als solche stellt, die ‚Ursachen‘ selbst noch in völlig freier Auswahl zu Gebote. Hier kann noch alles aus allem w e r d e n, weil alles mit allem sich zeitlich oder räumlich berühren kann“ (ebd., S.61).
Der böse Blick ist keine psychische Verirrung, sondern die Ursache für das böse Ereignis. Diese Ursache aber ist nie eine letzte Größe, sondern kann mit beliebig weiteren Ursachen verknüpft werden. Die Kometen bringen Unheil, aber hinter ihnen kann der strafende Gott oder der verlockende Teufel vermutet werden. Im Wind spricht sich die Seele aus, aber sie ist gleichzeitig in jeder Person und außerhalb, weil sie nicht als feste Größe beschrieben werden kann, was die ‚isolierende Abstraktion‘ voraussetzt, die HORKHEIMER und ADORNO denunziert sehen sollen. Sie befreit, so CASSIRER, von ‚mythischen Metamorphosen‘, also von inneren Bildern der Entwicklung, die für die Bewegung der Natur selbst gehalten werden. „Die Welt wird aus der Tiefe des Meeres herausgefischt oder aus einer Schildkröte gebildet, die Erde wird aus dem Körper eines großen Tieres oder aus einer auf dem Wasser schwimmenden Lotosblume geformt; die Sonne entsteht aus einem Stein, die Menschen aus Felsen oder Bäumen” (ebd., S.62). Das sind „Erklärungen“, nur keine analytischen, sondern ganzheitliche. Es sind Bilder, die für den „einfachen Ablauf des Geschehens selbst“ gehalten werden können, insofern poetische Kausalitäten, die ihren Zauber verlieren, wenn sie als Bilder durchschaut werden. Sie sind dann nur noch schön, nicht mehr oder nur ästhetisch wahr. Andererseits: Nur wer sie durchschaut, kann dem Zauber entrinnen, und das verlangt eine allgemeine, vom Betrachter unabhängige Gesetzmäßigkeit, die nicht auf einen „persönlichen Willensakt“, sei es der von Menschen, sei es der von Göttern, zurückgeführt werden kann (ebd., S.64f.). Nur so kann die „sympathische Magie“ überhaupt unterschieden werden und ist nicht die Welt immer schon ihr gleich (ebd., S.67). Diese historische Differenz – ich könnte auch sagen: dieser Fortschritt der Erkenntnis, der eben nicht ‚dialektisch‘ ist – wird von HORKHEIMER und ADORNO in Abrede gestellt. Man versteht ihren Schritt nur dann, wenn man ein Thema ROUSSEAUs aufgreift, das besonders in den marxistischen Theorien der 1920er Jahre eine zentrale Rolle spielte. Es ist dieses das Thema der Entfremdung des Menschen von seiner Natur. ROUSSEAU hatte behauptet, die Gesellschaft als solche, ihr Zustand gegenüber dem der Natur, entfremde den Menschen mit Notwendigkeit, sodass ihn nur eine natürliche Erziehung stark machen könne, in der Gesellschaft gegen sie zu überleben. Diese Theorie der Entfremdung wird von den marxistischen Theoretikern historisch gedeutet. Bei ihnen ist sie Erscheinung einer bestimmten Gesellschaft, die sich politisch wie pädagogisch überwinden lasse. ‚Dialektisch‘ wäre dann dieser Zusammenhang, die praktische Aufhebung einer Negation durch eine höhere Stufe der sozialen 59
Organisation. HEGEL steht bei diesem Gedanken Pate, nur dass die Dialektik nicht mehr auf den absoluten Geist bezogen wird, in dem alle Dialektik endet. Die neue Gesellschaft, nach Plan und mit Revolution errichtet, kann nur noch positiv wachsen. Gegen dieses geschichtsphilosophische Versprechen, das auf den deutschen Idealismus und nicht auf die Aufklärung zurückgeht, wenden sich HORKHEIMER und ADORNO. Ihr eigentliches Motiv ist die Kritik der sozialistischen Prognose, die an den Tatsachen der modernen Gesellschaft vorbeigehe. Sie hebt nicht die Entfremdung auf, sondern bestätigt sie, weil sie der Aufklärung folgt und sie zur Norm erhebt, der auch und gerade die Überwindung der bürgerlichen Gesellschaft zu folgen habe. Sozialistische Gesellschaftsentwürfe sind charakterisiert durch Gleichheit, nicht durch Distanz. Die Gleichheit aber setzt rationale Organisation voraus, so einen sozialen und kulturellen Industrialismus, in dem HORKHEIMER und ADORNO gerade die Ursache des Übels sehen: „In der aufgeklärten Welt ist Mythologie in die Profanität eingegangen. Das von den Dämonen und ihren begrifflichen Abkömmlingen gründlich gereinigte Dasein nimmt in seiner blanken Natürlichkeit den numinosen Charakter an, den die Vorwelt den Dämonen zuschob. Unter dem Titel der brutalen Tatsachen wird das gesellschaftliche Unrecht, aus dem diese hervorgehen, heute so sicher als ein dem Zugriff sich ewig entziehendes geheiligt, wie der Medizinmann unter dem Schutze seiner Götter sakrosankt war. Nicht bloß mit der Entfremdung der Menschen von den beherrschten Objekten wird für die Herrschaft bezahlt: mit der Versachlichung des Geistes wurden die Beziehungen der Menschen selber verhext, auch die jedes einzelnen zu sich. Er schrumpft zum Knotenpunkt konventioneller Reaktionen und Funktionsweisen zusammen, die sachlich von ihm erwartet werden. Der Animismus hatte die Sache beseelt, der Industrialismus versachlicht die Seelen“ (HORKHEIMER/ADORNO 1947, S.41).
‚Industrialismus‘ ist aber nicht einfach die Folge von ‚Aufklärung‘, wie HORKHEIMER und ADORNO fälschlich annehmen. Eine solche Gleichung verlangt eine radikale Vereinfachung, die den historischen Tatbeständen nicht gerecht wird: Aufklärung ist Rationalisierung, das Paradigma dafür ist die mechanische Physik, Physik ist Gesetzeswissen, die Anwendung von Gesetzen führt zum Industrialismus, in ihm entfremdet der Mensch soweit, dass selbst seine Beziehungen industrialisiert werden. ‚Industrialismus‘ ist ein überragendes Thema der künstlerischen Avantgarde in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, und dies nicht nur zwischen Berlin und Moskau. Die Bilder, wie etwa eine russische Plakatierung von FRITZ LANGs Film ‚Metropolis‘ von 1926, zeigen gleichermaßen Faszination und Angst (vgl. ANTONOWA/MERKERT 1995, S.310). Die anonyme Großstadt schafft Freiheiten und ist eine Bedrohung, 60
sie bewältigt Angst durch überlegene Organisation, imponiert durch Wachstum und Höhe, scheint nach allen Seiten und mit allen Seiten verbunden und bedroht doch Freiheit und Individualität. Die sozialistische Prognose veranschaulicht ein anderes Filmplakat aus dem Jahre 1926 zu ALEXANDER RODTSCHENKOs ‚Panzerkreuzer Potemkin‘ (vgl. ebd., S.311). Angst wird durch Macht bearbeitet, im Vertrauen auf das letzte Gefecht. Hier erhält man unmittelbar eine Ahnung, dass und wie diese Ästhetik instrumentiert werden konnte für die politische Diktatur der dreißiger Jahre (vgl. TAYLOR/SPRING 1993). Darauf vor allem reagieren HORKHEIMER und ADORNO 1941 in Kalifornien unmittelbar vor dem Kriegseintritt der Vereinigten Staaten. Die ‚Dialektik der Aufklärung‘ bezieht sich nicht nur auf die amerikanische Kulturindustrie allein. Vielmehr impliziert sie auch und wesentlich eine radikale Kritik an der bolschewistischen Gesellschaft, die von vielen Intellektuellen der dreißiger Jahre mit dem Sozialismus und so der Zukunft der Gesellschaft überhaupt gleichgesetzt wurde. Der Kritik der bürgerlichen Entfremdung wurde so die Alternative genommen, weil nur noch ein Modell die sozialistische Utopie verkörperte und weil dieses Modell dem glich, was es abschaffen sollte, nämlich der ‚Versachlichung des Industrialismus‘, Diesem aber stellte die neue Sowjetunion nicht nur keine Alternative gegenüber, vielmehr überbot sie noch seine amerikanische Ausprägung. Nicht um die bessere Gesellschaft sollte es dort gehen, sondern um die effektivere Industrie. Die dreißiger Jahre, also die politische Erfahrung, die bei der ‚Dialektik der Aufklärung‘ vorausgesetzt werden muss, sind zudem von zwei radikalen Versuchen der Auflösung der bürgerlichen Gesellschaft gekennzeichnet, die beide gleichermaßen ROUSSEAUs Entfremdungstheorem ignorierten. Mindestens die Intellektuellen schienen nur noch die Wahl zu haben zwischen Bolschewismus auf der einen, Faschismus auf der anderen Seite. 1933 beteiligte sich der sowjetische Architekt BORIS MICHAILOVITCH JUOFAN am Wettbewerb für den Palast der Republik in Moskau (vgl. ANTONOWA/MERKERT 1995, S.348). Sein Entwurf treibt den Sozialismus in die gigantischen Höhen einer persönlichen Diktatur, die auf Industrieproduktion aufgebaut und von Massenorganisationen geprägt ist. Er erinnert an die Propagandabilder der Französischen Revolution, nur dass die Zitate des Klassischen ein wenig Jugendstilornat erhalten und eben Flugzeuge fliegen, jene, gegenüber dem Panzerkreuzer des Jahre 1917, wirklichen Symbole moderner Macht. Faschistische Massen hingegen werden anders inszeniert (vgl. ebd., S.353). Hier sind es nächtliche Aufmärsche, die die Führer aus dem Dunkel heraus ins Licht setzen und nicht einfach als die höchsten Wesen der Revolution darstellen. Aber, wie im Bolschewismus: Es sind eben Massen, die choreographisch bewegt wer61
den, und es sind Diktatoren, denen die Aufmärsche gelten. Man erkennt auch in den Idealisierungen der jeweiligen Systemwerte – Arbeit und Einsatz für das Ganze – kaum einen ästhetischen Unterschied, ausgenommen, dass Faschisten Männlichkeit und Weiblichkeit getrennt (oder nur familiär verbunden) inszenieren müssen (vgl. ebd., S.356/357)40. Der sozialistische Realismus ist kaum einen Deut anders als der völkische (vgl. ebd., S.403/405)41, und die Industriekultur wird in dem einen System so verherrlicht wie in dem anderen (vgl. ebd., S.419/420)42. In dieser Situation war es schwer, eine Alternative zu erkennen. Dieses gilt zumal, wenn zugleich die bürgerliche Gesellschaft mit einer kapitalistisch und konsumistisch missratenen Aufklärung gleichgesetzt wird. Damit schließt die Analyse von HORKHEIMER und ADORNO, welche geschrieben wurde unter dem Bann zweier Diktaturen, die je humane Fortschritte der Gesellschaft versperrten. Gesellschaft, das ist die eigentliche Botschaft, kann auch nach dem Ende der Diktaturen des 20. Jahrhunderts nicht bewegt werden, weil sich in ihr gar keine politischen Optionen mehr durchsetzen, welche die ‚bürgerliche Warenwirtschaft‘ außer Kraft setzen könnten. Die Versuche sind mit dem Faschismus auf der reaktionären und dem Bolschewismus auf der progressiven Seite gescheitert. Das zeigt gerade der Sieg der ‚bürgerlichen Warenwirtschaft‘, der 1941 nicht absehbar war, sich aber 1989 vollzog. Es gibt zu dieser Gesellschaft keine Alternative: „Das Wesen der Aufklärung ist die Alternative, deren Unausweichlichkeit die der Herrschaft ist. Die Menschen hatten immer zu wählen zwischen ihrer Unterwerfung unter Natur oder der Natur unter das Selbst. Mit der Ausbreitung der bürgerlichen Warenwirtschaft wird der dunkle Horizont des Mythos von der Sonne der kalkulierenden Vernunft aufgehellt, unter deren eisige Strahlen die Saat der neuen Barbarei heranreift. Unter dem Zwang der Herrschaft hat die menschliche Arbeit seit je vom Mythos weggeführt, in dessen Bannkreis sie unter der Herrschaft stets wieder geriet“ (HORKHEIMER/ADORNO 1947, S.45f.).
40 Die Abbildungen zeigen zum einen VERA MUCHINAs ‚Arbeiter und Kolchosbäuerin‘ (1936), zum anderen JOSEF THORAKs ‚Kameradschaft‘ (1937). Beide Bilder entstanden für die Pariser Weltausstellung von 1937. Die Ausstellung war eine Inszenierung des Wettbewerbs zwischen Bolschewismus und Faschismus. 41 Die beiden Abbildungen zeigen WASSILI SWAROGs, ‚I.S.Stalin und Mitglieder des Politbüros inmitten von Kindern im Gorki-Park‘ (1939); OTTO HOYERs, ‚Am Anfang war das Wort‘ (1937). 42 Die ersten drei Fotos zeigen GEORGI PETRUSSOWs ‚Flugzeug ANT-20 ‚Maxim Gorki‘ beim Flug‘ (1935); ANATOLI SKURICHINs, ‚Dampflok der Kommunistischen Internationale‘ (1931); Arkadi Schaichet, ‚Schnellzug‘ (1939). Die letzten Fotos zeigen HANS RETZLAFFs, Arbeitsmaid in Arbeitstracht‘ (um 1939); W. KOBIEROWSKIs, Gletscherstrasse ... ‘ (vor 1938); HANS RETZLAFFs: ‚Die Arbeitsmänner auf dem Weg zur Arbeit durch das Dünengelände‘ (um 1941).
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‚Herrschaft‘ wird wiederum dämonisch gebraucht, undifferenziert nach politischem System und verstanden als allgemeines Verhängnis: die ‚kalkulierende Vernunft‘ wird mit dem Kapitalismus gleichgesetzt, die ‚Unterwerfung‘ der Menschen unter die Natur ist eine Notwendigkeit ohne jeden Wandel, ihre Alternative, die Herrschaft des Menschen über die Natur, ist kein Fortschritt, sondern nur die Wiederholung des alten Fehlers. Das gilt generell und absolut, wobei ein großzügiges Schema der Weltgeschichte gleichsam den Rechtsgrund der Behauptung abgeben soll, die mehr oder weniger nur die Psychoanalyse für sich hat: „An den Wendestellen der westlichen Zivilisation, vom Uebergang zur olympischen Religion bis zu Renaissance, Reformation und bürgerlichem Atheismus, wann immer neue Völker und Schichten den Mythos entschiedener verdrängten, wurde die Furcht vor der unerfassten, drohenden Natur, Konsequenz von deren eigener Verstofflichung und Vergegenständlichung, zum animistischen Aberglauben herabgesetzt und die Beherrschung der Natur drinnen und draussen zum absoluten Lebenszweck gemacht. Ist am Ende Selbsterhaltung automatisiert, so wird die Vernunft von denen entlassen, die als Lenkerin der Produktion ihr Erbe antraten und sie nun an den Enterbten fürchten“ (ebd., S.45).
Alles das klingt überzeugend – aber nichts davon ist historisch haltbar. Die Furcht vor der drohenden Natur ist in der Aufklärung präsent, wie VOLTAIREs Erdbeben-Gedicht zeigt. Der animistische Aberglaube kann überwunden werden, ohne dass die Furcht vor dem Unfasslichen verschwindet. Solches aber geschieht in verschiedenen Epochen verschieden, sodass es nicht einheitliche Reaktionen an den ‚Wendestellen der westlichen Zivilisation‘ gibt, abgesehen von der Frage, was diese ‚Wendestellen‘ für sich genommen sein sollen. Aber wichtiger ist, dass ökonomische Rationalität nicht theoretische oder praktische Vernunft auflöst, aber auch nicht mit ihnen gleichgesetzt werden kann. Zudem ist die ‚Produktion‘ nur in der sozialistischen Propagandasprache eine Frage von Lenkung und Kommando; Selbsterhaltung kann daher nie ‚automatisiert‘ werden. Wenn etwas die moderne Gesellschaft auszeichnet, dann sind es die Risiken ihrer Systeme, nicht deren Automatisierung. Ein solches Bild ist FRITZ LANG nachempfunden ist, erfasst aber das Differenzierungsproblem der modernen Gesellschaften nicht. Aber ist die These deswegen falsch? Man muss die Behauptung einer ‚Dialektik der Aufklärung‘ von der Soziologie der Entfremdung unterscheiden, die HORKHEIMER und ADORNO bewusst nicht voneinander trennen. Die historische Aufklärung soll in das moderne Unheil führen. Dieser Gedanke überzeugt aber nur dann, wenn Wissenschaft zur Mechanik reduziert wird und die Gesellschaft als ein mechanisiertes System erscheint, während sowohl die Natur als auch die Gesellschaft hochbeweglich sind und einer puren Mechanik oder den faits bruts 63
widerstreiten. Moderne Gesellschaften sind gerade nicht dem Kommando von starren Gesetzen unterworfen, und vermutlich macht das ihre Gefährlichkeit aus. Man kann keine Prognosen geben bzw. man kann nur Prognosen geben. Unter dieser Prämisse aber sind Szenarien des grenzenlosen Untergangs nicht besser als solche des grenzenlosen Fortschritts, man kann sich immer nur entscheiden, nie aber hat man eine wirkliche Wahl. PETER BLUME, ein in Russland geborener Amerikaner, beobachtete 1932 als Guggenheim-Stipendiat in Rom die Folgen der faschistischen Revolution. Zwischen 1934 und 1937, nach Rückkehr in die Vereinigten Staaten, entstand eine große Impression der ewigen Stadt (vgl. HARTEN/SCHMIDT/SYRING 1987, S.233). Sie zeigt die richtige Prognose, den Tanz um die faschistischen ‚Werte‘ im Hintergrund. Im Vordergrund figurieren die Ruinen der klassischen Zitate und das erwartbare Elend, BENITO MUSSOLINI als lächerlicher ‚Jack-in-the-Box‘, mit Kopf aus Pappmaché, der nicht einmal den elenden Altar der neuen Götzen zu erreichen vermag. Diese Gesellschaft kann keinen Bestand haben, weil ihr ökonomische und politische Vernunft fehlt und sie rein aus Inszenierungen bestehen soll. Dass dieser Gesellschaft Vernunft fehlte, heißt aber nicht, dass Vernunft überall abhanden gekommen ist. Ebenso wenig kann man von den Grenzen der Aufklärung auf diese selbst schließen. Sie schlägt nicht einfach in Mythos zurück, wie nichts besser zeigt, als das Ende der beiden politischen Mythen des 20. Jahrhunderts. Davon zu unterscheiden ist die ‚Aufklärung‘, die sich immer nur selbst begrenzen kann. Es ist verfehlt, mit Verfahren der Bildung, des Lernens und der Kritik allgemeine Erlösungserwartungen zu verbinden. Soweit die politischen Diktaturen des 20. Jahrhunderts dies versucht haben, sind sie gerade durch Aufklärung widerlegt worden. HORKHEIMER und ADORNO schreiben keinen Mythos, sondern ein Buch der Aufklärung. Es entspricht ihrem Verfahren, dass man über die Aufklärung aufklären kann. Freilich ist es nicht zureichend, mit einer an HEGEL angelehnten Denkfigur auf das Gesamt der Aufklärung zu schließen. Dieses ist vor allem deshalb unzulässig, weil so sämtliche Differenzierungen von ‚Aufklärung‘ unterschlagen werden und die eigentliche Rezeptionsgeschichte gar nicht berührt wird. Aufklärung ist vor allem im Selbstverständnis von Intellektuellen ein Mythos, aber zugleich ein für die moderne Gesellschaft unverzichtbarer Lernprozess, der nicht einfach in sein Gegenteil umgeschlagen ist. Der Archipel Gulag und Auschwitz sind nicht die Folgen der Aufklärung, sondern ihre größte Herausforderung.
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Bildung – the formation of a genteel character? Monika Bothe-Scharf
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Einleitung
In einem Beitrag mit dem Titel ‚Aufklärung – Ein Tableau und drei Worte zu ihrer Zukunft insbesondere in der Pädagogik‘ konstatiert MICHAEL WINKLER eine Erfolgsgeschichte der Pädagogik, die jedoch auf ein rasches Ende zu gehe. Als ein wesentliches Problem der Pädagogik seit der realistischen Wendung in den 1960er Jahren benennt er die Tatsache, dass in der Phase ihrer Expansion aufgrund der disziplinären Ausweitung ohne ausreichenden Personalbestand nicht wenige in die wissenschaftliche Pädagogik eingewandert seien, die die Vorgeschichte dieser Disziplin nicht kennen. Da sie in anderen Disziplinen wie der Psychologie oder der Soziologie ausgebildet sind, „war und ist ihnen ein historisch und philosophisch aufgeklärter Blick auf die Gegenwart kaum vertraut“ (WINKLER 2004, S.162). Die hierdurch entstandene sozialwissenschaftliche Ausrichtung der Pädagogik gebe daher ihre bislang „noch bestehende Bindung an eine historische Tradition und die damit eingegangene Verpflichtung auch gegenüber den eigenen Reflexionsbeständen der Pädagogik auf“ (ebd.). Damit löse sie sich nicht nur von Begriffen und Theorien, wie sie in der Geschichte pädagogischer Reflexion verfügbar seien, sondern auch „von den Erfahrungen, die im Blick auf institutionelle wie pragmatische Zusammenhänge des Erziehens und Unterrichtens zugänglich werden“ (ebd.). Als Ergebnis sieht WINKLER eine auf eigentümliche Weise geschichts- und theorielos gewordene sozialwissenschaftliche Erziehungswissenschaft und stellt die Diagnose, „dass noch die elementaren Vorstellungen wie die von Erziehung und Unterricht als den Grundsachverhalten im Gegenstandsverständnis von Pädagogik zur Disposition gestellt wurden und werden“ (ebd., S.162f.). Diese Diagnose hält er für kaum übertrieben und führt aus, dass sich vielerorts Belege finden ließen, die von der „zunehmenden Vorherrschaft der soziologischen und entwicklungspsychologischen Zugänge bei der Beschreibung und Analyse pädagogischer Vorgänge bis hin zu deren radikaler Auflösung durch sozialkonstruktivistische Ansätze“ reichten (ebd., S.163). Der von WINKLER konstatierten Geschichtslosigkeit soll an dieser Stelle mit einer Erinnerung an die Zeit, in welcher der Begriff der Bildung Eingang in die
Pädagogik fand, entgegen gewirkt werden. Dabei geht es zum einen um einen Blick auf den Zusammenhang, in dem dieser Begriff in der Zeit der Aufklärung in die Literatur, die sich mit Erziehung befasste, eingegangen ist, zum anderen soll durch einen Blick auf den Urheber des Begriffs, den englischen Philosophen ANTHONY ASHLEY COOPER, den dritten Earl of SHAFTESBURY, versucht werden, diesen Begriff im Hinblick auf die Zeit seiner Entstehung mit Inhalt zu füllen. 2
Was bedeutete für Shaftesbury die Bildung eines ‚genteel character‘?
Die deutschen Begriffe ‚Bildung‘ und ‚bilden‘ gehen – soweit sie die Pädagogik betreffen – auf eine Übersetzung der englischen Begriffe formation, bzw. inward form und to form zurück. Diese finden sich bei SHAFTESBURY in seiner Schrift ‚Soliloquy or Advice to an Author‘ aus dem Jahre 1710 und wurden schon in der ersten Übersetzung 1738 durchgehend mit ‚Bildung‘ oder ‚bilden‘ übersetzt (vgl. BOLLENBECK 1996, S.115f.; LIEBSCH 2001, S.183). So heißt es zum Beispiel in einer Fußnote dieser Schrift: „It seems indeed somewhat improbable that, according to modern erudition and as science is now distributed, our ingenious and noble youths should obtain the full advantage of a just and liberal education by uniting the scholar part with that of the real gentleman and man of breeding. Academies for exercises, so useful to the public and essential in the formation of a genteel and liberal character, are unfortunately neglected. Letters are indeed banished, I know not where, in distant cloisters and unpractised cells, as our poet has it, confined to the commerce and mean ‘fellowship’ of ‘bearded boys’” (Shaftesbury 1999, S.148).
SHAFTESBURY hält es also – der Gelehrsamkeit seiner Zeit entsprechend und obwohl die Wissenschaften weitere Verbreitung gefunden haben – für unwahrscheinlich, dass die kreative und edle Jugend eine gerechte und aufgeschlossene Erziehung genießen kann, dadurch dass der gelehrte Anteil und der des echten Gentleman vereint werden. Höhere Schulen, die er als nützlich für die Öffentlichkeit und wesentlich für die Bildung eines vornehmen und aufgeschlossenen Charakters ansieht, würden unglücklicherweise vernachlässigt. Der gelehrte Teil der Erziehung umfasste zu seiner Zeit Sprachen, klassische und moderne Literatur und die aufblühenden Naturwissenschaften. Was aber verstand SHAFTESBURY unter einem echten Gentleman? 3
Das Gentleman-Ideal
In einer Zeit und Gesellschaft, in der das Bürgertum aufgrund wirtschaftlicher Erfolge immer selbstbewusster wurde, und gleichzeitig der Adel aufgrund 68
politischer Veränderungen immer mehr von seiner Vorrangstellung verlor, vereinigte der ideale Gentleman in sich sowohl bürgerliche als auch aristokratische Verhaltensnormen. Er bewegte sich in gehobenen Gesellschaftsschichten, musste belesen sein und neben ästhetischer Urteilsfähigkeit auch soziale und moralische Sensibilität besitzen. Wesentliche Elemente des Gentleman-Ideals waren benevolence – Wohlwollen, politeness – Höflichkeit, good breeding – eine „gute Kinderstube“ und simplicity – Schlichtheit und Natürlichkeit. Die Geisteshaltung der benevolence entwickelte sich in England zu einer der bedeutendsten Strömungen des 18. Jahrhunderts. Sie wurde maßgeblich von SHAFTESBURY propagiert und dominierte vor allem in der bürgerlichen Diskussion der manners. Während im 17. Jahrhundert gesellschaftliches Benehmen noch vorwiegend als auf äußere Eleganz und Kunstfertigkeit bedachte Etikette verstanden wurde, wollten die bürgerlichen manners auf der Grundlage von wohlwollender Vertrautheit und Herzlichkeit ein tieferes Verständnis für die Mitmenschen ermöglichen (vgl. BERGER 1978, S.195). Der schwierigste und umstrittenste Begriff ist in diesem Zusammenhang sicherlich jener der Höflichkeit, verweist er doch seiner Herkunft nach in den Bereich des Hofes, also des Adels, dessen Verhaltensideale vom aufstrebenden Bürgertum einerseits kritisch hinterfragt, andererseits zum Teil nachgeahmt, zum Teil umgedeutet wurden. Ursprünglich stammt der Begriff politeness aus der Welt der Juweliere und Steinmetze und bezeichnete das Schleifen und Polieren von rohen Edelsteinen oder Marmor zum Zwecke ihrer Veredelung. Von SHAFTESBURY wurde er in den philosophischen Diskurs eingebracht. Für ihn umfasste politeness alle Stärken einer verfeinerten Kultur: ihren leidenschaftlichen Sinn für den Verstand, ihre blühende Kunst und Literatur, ihr Selbstbewusstsein, ihre Achtung der Wahrheit, die Bedeutung intellektueller Kritik und, am wichtigsten, eine Wertschätzung der humanen Seite unseres Charakters (vgl. HERMAN 2003, S.72). Politeness wurde jedoch auch kritisch gesehen, so ist sie für BERNARD DE MANDEVILLE, den wichtigsten Gegenspieler SHAFTESBURYs, nur eine Form der „Schmeichelei, die der Befriedigung des Stolzes und der Selbstliebe einer korrupten Gattung dient“ (PHILLIPSON 1996, S.18). Seiner Meinung nach führt das Vertrauen in natürliches Wohlwollen und Tugend nur zu Heuchelei (vgl. ebd.). Eine kritischere Auseinandersetzung mit der Sprache der Höflichkeit fand auch in Schottland statt, denn die Schotten betrachteten die Höflichkeit „als Teil einer whig-bourgeoisen, englischen Ideologie, die die Schotten immer noch als kulturelle Vereinnahmung durch England empfinden“ (ebd.). Der Terminus good breeding ist im 18. Jahrhundert ein Schlüsselbegriff in der englischen Benimmliteratur. Zwar unterliegt er Bedeutungsschwankungen, aber im Wesentlichen greift er auf die good manners zurück. Dieser Begriff wird 69
jedoch um eine ethische Komponente ergänzt. Good breeding ist der sichtbare Ausdruck der menschlichen Gutmütigkeit. „Es ist die Kunst der gesellschaftlichen Etikette“. Diese ist zwar normativen Regeln äußeren Verhaltens unterworfen, mit denen das Ziel „Vergnügen“ erreicht werden kann, sie ist aber niemals von der „Herzensgüte und den davon ausstrahlenden Charakterwerten“ zu trennen. So warnt JOSEPH ADDISON in seinen Essays davor, die gesellschaftliche Etikette auf reine Äußerlichkeiten zu beschränken, denn good breeding wird ohne die korrespondierende moralische Einstellung „zu einer bloßen Maske, zur gesellschaftlichen Verstellung, die ähnlich wie die Hypokrisie als ausgesprochenes Laster einzuschätzen ist“. Die Gefahr, dass good breeding als rein äußerlich sichtbare Verhaltensform missverstanden werden könnte, sah ADDISON durch die Weiterentwicklung des Konversationsideals und damit auch des Gentleman-Ideals „von steifer Förmlichkeit zu ungezierter Natürlichkeit“ als erheblich verringert an (BERGER 1978, S.192f.). Äußere Manifestationen des good breeding und des gesunden Menschenverstandes (good sense) sind die bürgerlichen Ideale der Schlichtheit und Natürlichkeit – simplicity (vgl. ebd., S.193). In der bürgerlichen Konversation geht es nach Meinung RICHARD STEELEs nicht mehr um einen Konkurrenzkampf um die spektakulärste Formulierung, „sondern um einen auf Kommunikation bedachten Gedankenaustausch, der nach den Prinzipien der Klarheit und Einfachheit ausgerichtet ist“ (BERGER 1978, S.195). Ins Deutsche wurde good breeding von den Pietisten JOHANN SPALDING und CHRISTOPH OETINGER mit Selbstbildung übersetzt (vgl. LIEBSCH 2001, S.183). Zur Heranbildung eines genteel character genügte es also nach Auffassung SHAFTESBURYs keineswegs, sich mit Sprachen, Kunst, Literatur und Naturwissenschaften auseinanderzusetzen. Vielmehr gehörte zu ihm auch und zentral das ethische Moment der Sorge um die Mitmenschen. Die Entwicklung einer moralischen Haltung war mindestens genauso wichtig wie die Aneignung von Wissen und die Ausbildung eines guten Geschmacks. Dem Geschmack aber kam für ihn eine besondere Bedeutung zu. Er war kein Selbstzweck, sondern eher Mittel zum Zweck der Herausbildung einer moralischen Gesinnung. Wer war aber dieser dritte Earl of SHAFTESBURY, welche Art von Erziehung hatte er selbst genossen? 4
Shaftesbury und Locke
SHAFTESBURY lebte von 1661 bis 1713. Sein Großvater, der erste Earl of SHAFTESBURY, hatte JOHN LOCKE beauftragt, die Erziehung des jungen ANTHONY anzuleiten. Diese Erziehung war privilegiert, weil sie auf die „Heraus70
bildung von Individualität und Förderung der Selbstachtung“ angelegt, „im Praktischen wie im Theoretischen“ gewaltlos war und die intellektuellen Fähigkeiten des Zöglings förderte (BAUM 2001, S.43). Diese Ansprüche an Erziehung erscheinen heute selbstverständlich, waren aber im ausgehenden 17. Jahrhundert keineswegs gängig und auch danach noch lange nur für eine kleine Schicht üblich. Von 1683 bis 1685 besuchte SHAFTESBURY das berühmte Winchester College. Diese 1382 gegründete Public School war die erste Eliteschule in England und diente später bei der Gründung von Eton als Modell. Beide Schulen überstanden die Reformation wegen ihrer engen Beziehungen zu den Universitäten von Oxford und Cambridge (vgl. TREVELYAN 1976, S.66f). Winchester College besteht ebenso wie Eton noch heute. Von 1687 unternahm SHAFTESBURY die damals übliche Bildungsreise auf den Kontinent, bei der er sich der Musik, Malerei und Architektur widmete, sowie sich in literarischen Landschaftsbeschreibungen versuchte. Neben einer philosophischen Begabung prägten ihn „ein ausgesprochener Wille zur Unabhängigkeit“ und „die Liebe zur Kunst, vor allem zur Malerei und Literatur“ (BAUM 2001, S.43). Zwar hat sich SHAFTESBURY später in Fragen der Philosophie von seinem Lehrer LOCKE abgewandt, in Fragen der Erziehung ist der Einfluss LOCKEs jedoch deutlich. Aus dessen praktischer Tätigkeit als Tutor und Hauslehrer entstand die Schrift Some thoughts concerning education, mit der er sehr bewusst auf die Herausforderungen reagierte, die der gesellschaftliche Umbruch in Großbritannien mit sich brachte. Die Glorreiche Revolution, die Einschränkung der Macht der Monarchie durch die – ungeschriebene – Verfassung, der wirtschaftliche Erfolg und die ausgedehnten Handelsbeziehungen führten bei der neu entstandenen selbstbewussten Schicht der Kaufleute zu einer Verunsicherung in Fragen der Erziehung. Einige von ihnen wandten sich an LOCKE, dessen Erfolge als Erzieher bekannt waren, um von ihm zu erfahren, welche Erziehungsmethoden sie anwenden müssten, um ihre Kinder möglichst früh auf die neuen ökonomischen und gesellschaftlichen Bedingungen vorzubereiten (vgl. OVERHOFF 2009, S.32). Die Antwort, die LOCKE gibt, ist überraschend unaufgeregt. Er hält es nicht für erforderlich, Kinder frühzeitig für spezielle ökonomische Fragestellungen zu sensibilisieren. Auch sollten Eltern oder Lehrer ihre Schützlinge nicht unentwegt auf die Härten und Herausforderungen des späteren Lebens hinweisen, wenn sie sie zu fleißigen und strebsamen Schülern erziehen wollten. Denn solche ständigen Hinweise machten den Schülern das Lernen und den Unterricht zur Last oder unangenehmen Pflicht, die auch noch mit Druck und Strenge eingefordert werden müssten, sodass am Ende keine engagierten, sondern allenfalls stille Schüler ohne Energie produziert würden. LOCKEs Vorstellung von einem gelingenden Unterricht zielt vielmehr auf ein gelingendes und glückliches Leben, das 71
mehr umfasst als beruflichen Erfolg. Um dieses zu erreichen, sollten Kinder nicht mit unnötigen Zukunftssorgen belastet werden. Vielmehr sollte ihre natürliche Wissbegierde durch die Erzieher so sorgfältig wie möglich gepflegt werden. Dazu sei es wichtig, den kindlichen Appetit nach Wissen täglich neu zu befriedigen sowie das Vergnügen am Erkennen von Dingen wachzuhalten und zu fördern. Es geht ihm also darum, eine durch nichts getrübte Lust am Lernen zu wecken und das Lernen selbst als eine sinnvolle Beschäftigung schmackhaft zu machen. Dabei sollte nicht zu früh danach gefragt werden, wozu das Erlernte später einmal dienen könnte. Das Ziel des Unterrichts kann auch nicht sein, Kinder „alles lehren“ zu wollen, „was Menschen überhaupt wissen können“. Vielmehr sollten sie eine „Liebe zur Wissenschaft“ entwickeln, die sie in die Lage versetzt, allein zu immer umfassenderem Wissen zu kommen und dabei ihren Neigungen und Talenten gerecht zu werden und sich selbst zu vervollkommnen. Dann werde sich alles Weitere, auch der berufliche Erfolg, schon finden. Diese Gedanken entfaltet LOCKE nicht nur theoretisch, sondern er gibt auch zahlreiche konkrete Beispiele dafür, wie fröhliches, lustvolles Lernen aussehen könnte. In allen angeführten Beispielen kommt LOCKEs Auffassung zum Ausdruck, dass Lernen im Idealfall „vergnügliches Spiel und Kurzweil“ sein sollte. Das bedeutet jedoch nicht, dass Kinder sich nicht anstrengen müssten, denn auch das echte Spiel ist anstrengend, trotzdem lerne ein spielerisch unterwiesener Zögling leichter als ein Schüler, der zum Unterricht gezwungen werde, da Kinder „in dem, was wir Spiel nennen“ ihrem eigenen Erleben und Selbstverständnis nach „in Freiheit“ handeln und „freien Gebrauch von ihrer Anstrengung“ machen (vgl. Overhoff 2009, S.33ff. Anführungszeichen dort). 5
Selbstbildung
Da die Gedanken LOCKEs über Erziehung keine rein theoretischen Konstrukte, sondern aus seiner Erfahrung als Erzieher und Tutor destillierte Hinweise sind, kann man annehmen, dass auch SHAFTESBURY die Erziehung genossen hat, die sein Tutor beschrieben hat. Ein wesentlicher Aspekt ist dabei jener der Selbstbildung. LOCKE war der Überzeugung, dass Kinder von sich aus lernen wollen und dies bei entsprechenden Anregungen von außen auch tun (zur heutigen Diskussion über Selbstbildung vgl. DRIESCHNER in diesem Band). Wenn sie zum Beispiel spielerisch lesen gelernt hätten – die Methode dafür illustriert er sehr konkret –, dann wären sie am ehesten in der Lage, eine echte und dauerhafte „Liebe zum Buch“ zu entwickeln, welche die wichtigste Voraussetzung für weiteres Lernen im Erwachsenenalter sei (vgl. OVERHOFF 2009, S.35f).
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Die Gedanken, die sich LOCKE über Erziehung gemacht hat, zeigen, dass ihm daran gelegen war, Kinder so zum selbstständigen Lernen anzuregen, dass ihnen die Freude am Lernen erhalten bleibt und sie sich mit dieser Freude ihr Leben lang weiterbilden. Zum Erreichen dieses Ziels schlägt er die verschiedensten Methoden vor. SHAFTESBURY hingegen geht es bei seinen Überlegungen nicht so sehr um Methoden der Erziehung von Kindern, und den Wunsch nach lebenslangem Lernen setzt er voraus. Ihm geht es um die Bildung von Heranwachsenden oder auch Erwachsenen durch Verbesserung des Geschmacks als Voraussetzung für eine moralische Gesinnung und moralisches Handeln. Wenn die Bereitschaft zum Lernen als Voraussetzung zur Selbstbildung erst einmal gegeben ist, kann jeder Mensch seinen eigenen Geschmack und damit seinen genteel character weiterentwickeln. Die sehr stark von SHAFTESBURY beeinflussten Essayisten STEELE und ADDISON geben in ihren Zeitschriften vielfältige Hinweise für die Selbstbildung ihrer Leser. In Fragen des Geschmacks trauen sie ihren Lesern zu, dass sie diesen selbst weiterentwickeln. Sie gehen davon aus, dass der Geschmack schon in jedem einzelnen Menschen angelegt sei, er müsse aber durch ständige Übung entwickelt werden. Literarischer Geschmack ist ADDISON zufolge die Fähigkeit der Seele, das Schöne, das ein Autor schreibt, mit Vergnügen und die Fehler und Mängel mit Ablehnung wahrzunehmen. Um diesen Geschmack zu kultivieren, böte es sich an, regelmäßig zu den Werken der anerkannt besten Autoren zu greifen, Umgang in literarischen Kreisen zu pflegen und sich außerdem mit den besten antiken und modernen Kritiken zu beschäftigen (vgl. STÜRZER 1984, S.190). Zu diesem Zweck gaben die Autoren von moralischen Wochenschriften immer wieder Leselisten heraus, und es war bekannt, dass sich literarische Kreise in Kaffeehäusern – die auch als Penny-Universities bezeichnet wurden – zusammen fanden, wo auch bekannte Literaturkritiker anzutreffen waren. So hatte also jeder Bürger die Möglichkeit, sich durch Lektüre, im Gespräch mit anderen oder auch durch die Auseinandersetzung mit Werken der bildenden Kunst, selbst zu bilden. Jedoch war diese Möglichkeit längst nicht allen Einwohnern Großbritanniens gegeben. SHAFTESBURYs Leitbild des Gentlemans war immer noch sehr stark an aristokratischen Vorgaben ausgerichtet, obwohl es in allen Gesellschaftsschichten akzeptiert wurde. Diese Akzeptanz bedeutet jedoch nicht, dass es auch für alle Gesellschaftsschichten angestrebt wurde. Zwar hatten die religiösen Gesellschaften der Dissenters, die sich die Reformation of manners zum Ziel gesetzt hatten, in England die Gründung von Elementarschulen für die unteren Stände betrieben und auch bis Mitte des 18. Jahrhunderts die öffentliche Auseinandersetzung darüber dominiert, aber in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts wurde das Interesse daran zusehends geringer. Während die höhere Bildung ins Zentrum der Debatte der gebildeten Öffentlichkeit trat, nahmen 73
finanzielle Zuwendungen und Schulgründungen sowie auch literarisches Interesse an der elementary education der unteren Klassen mit einer Ausnahme ab. Diese Ausnahme war ADAM SMITH, der im fünften Buch seines Werkes über den Wohlstand der Nationen die Wichtigkeit der Bildungsinstitutionen herausstellte (vgl. SCHMITT/HORLACHER/TRÖHLER 2007, S.26f.). 6
Smiths Überlegungen zur Notwendigkeit von Volksbildung
Eine Überlegung SMITHs betrifft die durch die Industrialisierung bedingte Urbanisierung der Gesellschaft. Während der man of low condition in einer vorwiegend landwirtschaftlich geprägten Umgebung auf Grund des engen Zusammenlebens in dörflichen Gemeinschaften einen Ruf zu verlieren hat, entfällt dieser soziale Druck in urbanen Gesellschaften. Da die arbeitende Bevölkerung nach SMITHs Verständnis in der Anonymität großer Städte nicht mehr gesehen wird, fällt sie aus dem moralischen Selbstregulierungsprozess heraus. Diesen hatte er schon in einer früheren Untersuchung darauf zurückgeführt, dass der Mensch die Fähigkeit zur ,Sympathie’ hat. Die Relevanz der Sympathie liegt darin, dass andere Menschen die Handlung Einzelner und deren soziale Folgen unbeteiligt beobachten und mitfühlen, wenn diese sozial handeln. Diese Sympathie führt zur moralischen Beurteilung des Handelns. Aus dem Austausch, den öffentliche Beobachter vornehmen, entstehen dann die Normen der öffentlichen Moral, die stetig neu ausgehandelt werden. Wenn nun Menschen nicht mehr gesehen, also in der Anonymität einer Großstadt nicht mehr beachtet werden, fallen sie auch aus diesem moralischen Selbstregulierungsprozess heraus. Um dieses zu verhindern, fordert SMITH eine Volksbildung (vgl. SCHMITT/HORLACHER/TRÖHLER 2007, S.28). Bei dieser Volksbildung im Sinne SMITHs käme es nicht darauf an, Berufskenntnisse zu unterrichten oder das Volk in die große Ordnung der Nation einzupassen, zu sozialisieren oder zu disziplinieren. Vielmehr sollen diejenigen, die in den Städten nicht gesehen werden und in der Fabrik kaum etwas lernen, jene Sprache erlernen, welche die unbeteiligten Beobachter sprechen, wenn sie Normen aushandeln und die Ordnung festlegen, nach der sie leben wollen. Da diese Ordnung nicht fest und ein für alle Mal gegeben ist, wird sie in der Öffentlichkeit immer wieder neu rational ausgehandelt. Die Bildung des Volkes in den Grundkenntnissen, in Geschichte und in Wissenschaften sollte nach den Vorstellungen SMITHs nicht dazu dienen, eine feste Ordnung aufrecht zu erhalten. Vielmehr sollte durch sie die bürgerliche, rational-distanzierte Öffentlichkeit, die die Regeln für öffentliches Verhalten durch Aushandlung und Übereinstimmung bestimmt, erweitert werden. Volksbildung im Sinne SMITHs zielte 74
also auf Partizipation der unteren Schichten an diesem Prozess (vgl. SCHMITT/HORLACHER/TRÖHLER 2007, S.29). Hier geht SMITH in seinen Überlegungen also viel weiter als SHAFTESBURY, der als Aristokrat immer noch die Erziehung adliger Sprösslinge vor Augen hat, wenn er über die Bildung eines genteel character, also eines vornehmen Charakters nachdenkt. Zwar sind seine Überlegungen durch die Moralischen Wochenschriften einer breiteren bürgerlichen Öffentlichkeit zugänglich geworden und haben auch auf diese eingewirkt, seine Vorstellungen von der Kultivierung eines moralischen und ästhetischen Geschmacks, bei dem das Individuum nicht mehr auf die Anleitung durch Staat, Gesellschaft oder Religion angewiesen ist, setzt jedoch damals wie heute Muße voraus, die einer gesellschaftlichen Elite vorbehalten war und ist (vgl. ENGBERS 2001, S.12). Die so entstandene Spannung zwischen der Notwendigkeit einer Ausbildung, die es Menschen ermöglicht, ihren Lebensunterhalt zu verdienen, und der Möglichkeit einer Selbstbildung, die darüber hinaus darauf ausgerichtet ist, den Charakter und das moralische Bewusstsein von Menschen weiterzuentwickeln, ist bis heute nicht aufgelöst worden und bestimmt weiterhin die Diskussionen um die Bedeutung des Bildungsbegriffs. 7
Vorstellungen von Erziehung und Bildung im 18. Jahrhundert – relevant für das 21. Jahrhundert?
In seiner kürzlich erschienenen Schrift ‚Vom Glück, lernen zu dürfen – Für eine zweckfreie Bildung‘ macht JÜRGEN OVERHOFF in der derzeitigen Diskussion um Bildung eine Überbetonung der ökonomischen Bedeutung lebenslangen Lernens aus. Zwar sei diese Betonung wohl angesichts der wirtschaftlichen Lage nicht ganz falsch, sie klinge jedoch wenig verheißungsvoll, ja vielleicht sogar bedrohlich. Im Vordergrund stehe „die Last, nicht die Lust des Lernens“ (OVERHOFF 2009, S.12). Er stellt die Fragen, ob das Lernen seinem innersten Wesen nach tatsächlich eine Art Überlebenstraining sei, das notgedrungen absolviert werden müsse, um die wirtschaftliche Existenz zu sichern, und ob man wirklich gezwungenermaßen jeden Tag aufs Neue lernen müsse oder ob es nicht vielmehr ein Zeichen der persönlichen Freiheit und damit ein Privileg und großes Glück sei, lernen zu dürfen. Eine Möglichkeit für europäische und deutsche Bildungspolitiker sieht er darin, „den gegenwärtigen gesellschaftlichen und ökonomischen Wandel mit durchaus ähnlichen Entwicklungen der europäischen Geschichte zu vergleichen“ (ebd., S.13). Er verweist darauf, dass die Autoren des im Jahr 2000 von der Europäischen Kommission verabschiedeten Memorandums über Lebenslanges Lernen beiläufig erwähnen, dass „Europa heute einen Wandel erlebe, 75
dessen ‚Ausmaß‘ allenfalls mit dem der – Mitte des 18. Jahrhunderts einsetzenden – ‚industriellen Revolution‘ zu vergleichen“ sei (ebd., S.13). „Der Wunsch, effektiv, flexibel, wettbewerbsfähig und wirtschaftlich erfolgreich zu sein“ sei dem 18. Jahrhundert keineswegs fremd gewesen (ebd., S.14). Allerdings sei die Argumentation der „überzeugendsten Verfechter eines gesteigerten gesellschaftlichen Lernwillens“ damals eine völlig andere gewesen als die der Mehrheit der heutigen Bildungspolitiker (ebd.). Lernen war für die Aufklärer in erster Linie eine große Verheißung. Sie postulierten, dass „der Mensch nur durch beständige Weiterbildung dazu befähigt würde, die in ihm angelegten intellektuellen und emotionalen Möglichkeiten zur vollen Entfaltung zu bringen, sein Leben sinnvoll zu meistern und damit seiner Bestimmung gerecht zu werden: Erst als ein sich über seine Welt immer neu verständigender Lernender würde sich der Mensch seines Daseins so recht erfreuen können“ (ebd., S.14f.).
Aus diesem Grund rät OVERHOFF allen, die ein echtes Interesse daran haben, das Lernen und besonders lebenslanges Lernen als „ein für alle verbindliches gesellschaftliches Ziel zu deklarieren“, sich den wichtigsten Aufklärern des 18. Jahrhunderts zuzuwenden (ebd., S.17). Was die Freude am Lernen angeht, weist er besonders auf LOCKE hin; aber auch auf IMMANUEL KANT, welcher betonte, dass ein gewisser Zwang bisweilen nötig sei, um zu erreichen, dass die Menschen ihrer Pflicht zum Lernen nachkommen. Trotz dieses Zwangs stand für ihn außer Frage, dass das Lernen geistige Freuden bereit hielt (vgl. ebd., S.15f.). Es sei daran erinnert, dass LOCKE seine ‚Gedanken über Erziehung‘ vor mehr als dreihundert Jahren niedergeschrieben hat – die der Schrift vorangestellte Widmung ist auf den 7. März 1692 datiert (vgl. LOCKE 1980, S.6). Die Überlegungen SHAFTESBURYs und SMITHs stammen aus dem 18. Jahrhundert. Sind alle diese Gedanken deshalb überholt? Oder anders gefragt, sind die vielen ‚neuen‘ Ideen über Erziehung wirklich so neu? In der aktuellen Diskussion um die Individualisierung des Unterrichts, in der das Kind mit seinen Interessen, Begabungen und Fähigkeiten im Mittelpunkt stehen sollte, finden sich durchaus Parallelen zu den Gedanken LOCKEs. Jedoch ist Schulunterricht und Bildung unter heutigen Bedingungen sicher nicht vergleichbar mit dem Ideal von Muße in Privatunterricht und ausgedehnten Bildungsreisen für einen jungen Adligen im 17. oder 18. Jahrhundert. Was allerdings vergleichbar ist, ist die Aufgabe, die der persönlichen Bildung innerhalb des Projekts der Moderne zukommt, wie REINHARD UHLE betont. Die moderne Pädagogik hebt in diesem Zusammenhang die Eigenleistung der Person zur Persönlichkeitsstrukturierung hervor, entweder aufklärerisch als Anregung von Selbsttätigkeit, Selbstständigkeit und Mündigkeit oder romantisch als Anregung von ästhetisch geformter Innerlichkeit (vgl. UHLE 1993, S.82). 76
Entsprechend der Rekonstruktionen des Bildungsbegriffs von UHLE werden also bis heute Fragen aufgeworfen, die den Menschen in der Moderne genauso betreffen wie den Menschen in der Zeit der Aufklärung. Allerdings stellen sie sich umso mehr, als sie sich inzwischen von der Verknüpfung mit einer sozialen Trägerschicht gelöst haben. Insofern ist die Beschäftigung mit ihren eigenen Grundlagen nach wie vor Aufgabe der Bildungstheorie. Als gemeinsames Ziel von Bildung seit der Zeit der Aufklärung über die Weimarer Klassik, den Neuhumanismus und die Moderne bis hinein in die Gegenwart kann nach UHLE festgehalten werden: „Gemeinsam ist diesen Bildungsvorstellungen die Ablehnung von Entwicklung und Ausbildung des Menschen zu bloßer Brauchbarkeit und zu partikularer Lebensführung. Diese Vorstellungen beziehen sich nicht nur auf Selbstsozialisation, sondern auch auf Schulbildung. Über den Allgemeinbildungsauftrag von Schule als Aufgabe allgemeiner Menschenbildung (als Bildung zur Humanität) soll die Möglichkeit geboten werden, den werdenden Menschen nicht nur für bloße Zwecke und Funktionen eines bürgerlichen Erwerbslebens und eines gesellschaftlichen wie staatlichen Zusammenlebens, so wie es jeweils ist, zu vereinnahmen“ (UHLE 2006, S.50).
Bei allen Schwierigkeiten, die eine Übertragung der pädagogischen Ideen der Aufklärung, die nur auf einen kleinen Ausschnitt der Gesellschaft bezogen waren, in die Gegenwart mit sich bringt, und bei allen berechtigten Forderungen nach einer Schulbildung, die junge Menschen befähigt, den Anforderungen ihres späteren Berufslebens gerecht zu werden, dürfen ethische und ästhetische Aspekte nicht als überflüssig und überholt abgetan werden, wenn über Bildung nachgedacht wird. Literaturverzeichnis BAUM, ANGELICA (2001): Selbstgefühl und reflektierte Neigung. Ethik und Ästhetik bei Shaftesbury. Stuttgart-Bad Cannstadt: Fromann-Holzboog BERGER, DIETER A. (1978): Die Konversationskunst in England 1660 – 1740. München: Fink BOLLENBECK, GEORG (1996): Bildung und Kultur: Glanz und Elend eines deutschen Deutungsmusters, Frankfurt/Main: Suhrkamp ENGBERS, JAN (2001): Der ‚Moral-Sense‘ bei Gellert, Lessing und Wieland. Zur Rezeption von Shaftesbury und Hutcheson in Deutschland, Heidelberg: Winter HERMAN, ARTHUR (2003): The Scottish Enlightenment. The Scots' invention of the modern world. London: Fourth Estate LIEBSCH, DIMITRI (2001): Die Geburt der ästhetischen Bildung aus dem Körper der antiken Plastik. Zur Bildungssemantik im ästhetischen Diskurs zwischen 1750 und 1800, Hamburg: Meiner LOCKE, JOHN (1980): Gedanken über Erziehung, Stuttgart: Reclam OVERHOFF, JÜRGEN (2009): Vom Glück, lernen zu dürfen. Für eine zweckfreie Bildung, Stuttgart: Klett-Cotta
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PHILLIPSON, NICHOLAS (1996): „Die Schottische Aufklärung” in: Brühlmeier, Daniel (Hrsg.) (1996): Schottische Aufklärung „A Hotbed of Genius“, Berlin: Akademie Verlag SHAFTESBURY, ANTHONY A.C. OF (1999): Characteristics of men, manners, opinion, times. Ed. by Lawrence E. Klein. Cambridge [u.a.]: Cambridge University Press SCHMITT, HANNO/HORLACHER, REBEKKA/TRÖHLER, DANIEL (Hrsg.) (2007): Pädagogische Volksaufklärung im 18. Jahrhundert im europäischen Kontext. Rochow und Pestalozzi im Vergleich. Bern [u.a.]: Haupt STÜRZER, VOLKER (1984): Journalismus und Literatur im frühen 18. Jahrhundert. Die literarischen Beiträge in Tatler, Spectator und den anderen Blättern der Zeit. Frankfurt/Main [u.a.]: Lang TREVELYAN, GEORGE M. (1976): English Social History. Harmondsworth: Penguin UHLE, REINHARD (1993): Bildung in Moderne-Theorien. Weinheim: Deutscher Studien Verlag UHLE, REINHARD (2006): Wie viel Bildung braucht der Lehrer? In: FISCHER, ANDREAS et al.: Lehrerbildung – ein universitäres Kaleidoskop, Bielefeld: Bertelsmann, S.40-52 WINKLER, MICHAEL (2004): „Aufklärung – Ein Tableau und drei Worte zu ihrer Zukunft insbesondere in der Pädagogik“, in: HOPFNER, JOHANNA/DERS. (Hrsg.): Die aufgegebene Aufklärung Experimente pädagogischer Vernunft, Weinheim [u.a.]: Juventa, S.155-174
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Die Entwicklung des Deutungsmusters Bildung im Medium von Konversationslexika. Eine inhaltsanalytische Untersuchung1 Marten Kirschner
1
Einleitung
Unter dem erheblichen Einfluss ANTHONY SHAFTESBURYs auf die deutsche Aufklärungspädagogik wurde der Begriff der ‚Bildung‘ in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts zu einem wichtigen Terminus. Insbesondere FRIEDRICH GOTTLIEB KLOPSTOCKs religiös gespeiste Verwendung des Begriffs fand weit reichenden Anklang. Eine neue Stufe dieser Entwicklung wurde in den Jahren um 1800 erreicht. Vertreter der Spätaufklärung, der Frühromantik und insbesondere des Neuhumanismus wie WILHELM VON HUMBOLDT etablierten ‚Bildung‘ als den Zentralbegriff philosophischer Debatten. In den Mittelpunkt der Diskurse rückte in erster Linie ein Ideal von Bildung. Diese Diskussionen waren getragen von einem Reformoptimismus, der, bei allen Unterschieden im Einzelnen, die Erziehbarkeit des Menschen ebenso wie die Reformfähigkeit des Staates fraglos unterstellte. Besonders typisch für die Zeit war an HUMBOLDTs Überlegungen, dass diese die Vorstellung einer freien, dialektisch einander bereichernden Entfaltung von Menschen – von Bildung eben – erst im zweiten Schritt als verfassungsrechtliches, primär jedoch als individuelles Phänomen in den Blick nahmen. Für HUMBOLDT mit seinem Bildungsindividualismus war klar, dass Bildung und Freiheit unentrinnbar aufeinander bezogen seien; dementsprechend konzentrieren sich seine politischen Überlegungen zur Beförderung der Bildung darauf, ‚die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen‘ (vgl. HUMBOLDT [1792]/1978). Bis heute werden Positionen wie die HUMBOLDTs als paradigmatische immer wieder diskutiert (vgl. zuletzt: ERBEN 2009). REINHARD UHLE hat aus systematischer Perspektive auf die Unhintergehbarkeit solcher grundlegenden 1 Die nachfolgende Studie ist ein kleiner, herausgelöster Teilaspekt aus meiner Bachelor-Thesis über die Entwicklung des Bildungsbegriffs. Ihre repräsentativen Bedingungen sind daher nur theoretische; die Studie ist diskussions- und forschungsanregend gemeint. Eine vollständige Analyse aller relevanten Enzyklopädie- und Lexikonbestände konnte im begrenzten Rahmen eines solchen Einzelprojekts nicht geleistet werden.
Thematisierungen auch noch im Zeitalter der modernisierten Moderne hingewiesen (vgl. UHLE 1993). Solche Problematisierungen von ‚Bildung‘ sollen in diesem Aufsatz aber nicht weiter begriffsanalytisch diskutiert werden. Stattdessen soll die Entwicklung des Terminus ‚Bildung‘ im Sinne GEORG BOLLENBECKs als Ausdruck eines Deutungmusters verfolgt werden. BOLLENBECK spricht im Bezug auf den Bildungsbegriff für die Zeit seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert von dessen Leistungsfähigkeit zu einer „ideelle(n) Integration“. Deren enormer Einfluss ist durch die Möglichkeit der Sprache bedingt, „gesellschaftliche Verhältnisse zu aktualisieren, zu bestätigen und auszufüllen“ (BOLLENBECK 1994, S.193). Der große Erfolg des Begriffs ‚Bildung‘ verweist aus dieser Perspektive auf dessen Potenzial, gemeinsame Handlungen und Wissensbestände bestimmter Individuen zu koordinieren. Speziell bezieht sich BOLLENBECK bei dieser Annahme auf die Inklusion akademisch gebildeter Kreise, auf jene Beamten und Freiberufler insbesondere, die unter dem heuristischen Kompositum ‚Bildungsbürgertum‘ zusammengefasst werden (vgl. ebd., S.194f.; zur Diskussion um Bildungsbürgertum und Bildungsbürgerlichkeit vgl. CONZE 1985-1989). Im Zuge der historischen Entwicklung dieser sozial wie kulturell vergesellschafteten Figuration rekonstruiert BOLLENBECK ‚Bildung‘ auf symbolischer Ebene nicht länger als Begriff, sondern als integrativ wirksame Chiffre. Sein Deutungsmusteransatz geht zurück auf das Verständnis ROLF ARNOLDs. Dieser schreibt Deutungsmustern aus sozialkonstruktivistischer Perspektive eine gesellschaftliche Vermittlerfunktion, eine komplexe Strukturiertheit in systematischer wie hierarchischer Hinsicht sowie eine besondere Pragmatik des Alltagswissens zu (vgl. ARNOLD 1983, 1990). Deutungsmuster sind demnach „nicht lineares Ergebnis wissenschaftlicher Reflexion, sondern umfassen kollektive vor- und/oder nachwissenschaftliche … Bewusstseins-, Wissens- und Gefühlsbestände“ (GAUS 1998, S.32). Auch wenn der Neuhumanismus ‚Bildung‘ – wie auch ihre Komplementärbenennung ‚Kultur‘ – einst so emphatisch als Medium der Selbstverwirklichung proklamierte, blieben diese Benennungen in ihrer jeweiligen pragmatischen Verwendung über die Jahrhunderte seit 1800 „inhaltlich hochgradig unbestimmt“. Gerade diese Tatsache jedoch führte erst dazu, dass das Medium dieser Benennungen „sozial äußerst wirkungsvoll“ wurde. Die im vagen bleibende Benennung wurde selbst zu einem „kommunikativen Inhalt …, in dem sich eine neue bildungsbürgerliche Öffentlichkeit selbst spiegeln und damit als Einheit definieren konnte“ (ebd., S.34).
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2
Konversationslexika als Medien von Deutungsmustern
In dieser Darstellung soll der Versuch unternommen werden, anhand eines Beispiels die Angemessenheit einer Modellannahme auszuloten, ‚Bildung‘ als Deutungsmuster aufzufassen. Zu diesem Zweck wird hier einem der greifbarsten Medien bildungsbürgerlicher Kommunikation besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Ende des 18. Jahrhunderts entstand – nach dem Scheitern des französischen Großprojekts einer allumfassenden ‚Enzyklopädie‘, der neue Medientypus des Konversationslexikons (vgl. BACHLEITNER 2001, S.206f.). Mit dem Beginn der Moderne wurde offenbar, dass die immer weiter expandierende Komplexität der Erkenntnis- und Wissensstrukturen in zweierlei Hinsicht nicht mehr zu bearbeiten war. Einerseits war es – im Medium objektiver Kultur – nicht mehr möglich, alles Weltwissen widerspruchsfrei zusammenführen zu können. Andererseits war es – im Medium subjektiver Bildung – nicht mehr möglich, wissenschaftliche Forschungsergebnisse und individuelle tiefe Durchdringung miteinander zu vereinbaren (vgl. BOEHM 2000, S.102ff.). Die durch die Dynamik der Moderne einsetzende Notwendigkeit zu stetiger Ausdehnung der Darstellungsweiten und zur stetigen Aushebung der Darstellungstiefen ließ die großenzyklopädischen Werke anschwellen und verlängerte ihre Bearbeitungszeit dermaßen, dass ihr Anspruch scheiterte, ganz im aufklärerischen Sinne alles Weltwissen zu dokumentieren. Vor diesem Hintergrund wurde Anfang des 19. Jahrhunderts die Form des Konversationslexikons konzipiert. Da gebildete Bürger zum Zwecke ihrer (Selbst-)Verständigung Wissensfundamente zur Konversation – beispielsweise im Salon – suchten, gleichzeitig jedoch als Zeichen der Bildung und des Sozialstatus gehobene Schriftsprache anwenden wollten – beispielsweise im Briefverkehr –, vereinten die Konversationslexika mehrere Eigenschaften: Sie erschienen als für den individuellen Besitz und Gebrauch proportionierte Nachschlagreihen in Buchform. In ihrer zur Hand gehenden Reihenartigkeit, fassten sie die aktuell bedeutenden, kontroversen Begriffe und Themen übersichtlich und vom Umfang her angemessen zusammen. Die Zusammenfassungen sollten ebenso dem jeweiligen Verständnis des Zeitgeistes wie dem elaborierten Sprachniveau zur jeweiligen Zeit des Erscheinens gerecht werden. Auf der Basis dieser Faktoren sollten für die bildungsbürgerlichen Rezipienten eine zitier- bzw. paraphrasierbare Adaption der Inhalte möglich sein (vgl. hierzu ausführlich: SPREE 2000). Dementsprechend standen Konversationslexika als zentrale Medien bildungsbürgerlicher Vergesellschaftung vor der Aufgabe, die jeweilige Schnittmenge gemeinsamer Nenner eines geteilten Deutungshorizontes zu einem Artikel aufzubereiten. Der jeweilige Umgang von Konversationslexika mit dem Lemma ‚Bildung‘ kann also verstanden werden als konkret-anschaulich 81
gewordener, kristallin geronnener Ausdruck eines allgemeinen Verständnisses jenes Deutungsmusters, das als Vehikel zur Positionierung der eigenen Kulturidentität zu nutzen gedacht war. In einer Sequenz von Lexikonartikeln soll nachfolgend überprüft werden, wie sich musterhaft geteilte Deutungen von ‚Bildung‘ über den Zeitraum vom Aufkommen des Begriffs bis zum jetzigen Zeitpunkt inflationären Bildungsbegriffsgebrauchs entwickelt haben. 3
Lexikasequenz
Im Rahmen dieser Sequenzanalyse von Lexikonartikeln bietet es sich an, von ‚Meyers Konversations-Lexikon‘ als der am umfangreichsten zur Verfügung stehenden Quelle den Ausgangspunkt zu nehmen. JOSEPH MEYER, der Gründer des Bibliographischen Instituts, gab zwischen 1839 und 1855 das ‚Große Conversations-Lexikon für die gebildeten Stände‘ heraus. Dieses war mit 52 Bänden das größte deutsche Lexikon des 19. Jahrhunderts. Mit ihm wollte er eine breites, ‚gebildetes‘ Publikum und nicht lediglich bestimmte (fachlich interessierte) Zielgruppen ansprechen. Nach seinem Tod erschien die zweite Auflage unter dem Titel ‚Neues Konversations-Lexikon für alle Stände‘. Das regelmäßige Erscheinen neuer Auflagen wurde nur durch die beiden Weltkriege unterbrochen. Die Reihe wurde 1986 zugunsten der ‚Brockhaus Enzyklopädie‘ eingestellt, nachdem das Bibliographische Institut mit dem Brockhaus Verlag zum Bibliographischen Institut & F.A. Brockhaus fusioniert war (vgl. SARKOWSKI 1976, S.54ff. u. S.75f.; BIBLIOGRAPHISCHES INSTITUT 2009, online). Diese Entwicklung berücksichtigend, wurde der letzte Teil der nachfolgenden Untersuchungssequenz der ‚Brockhaus Enzyklopädie‘ entnommen. Als weiteres Werk wurde, um auch frühe Zeiträume des 18. Jahrhunderts abdecken zu können, das ‚Grosse vollständiges Universal-Lexicon Aller Wissenschafften und Künste‘ ausgewertet. Dieses Lexikon wurde in den Jahren 1732 bis 1754 von JOHANN HEINRICH ZEDLER herausgegeben. Es war das umfangreichste enzyklopädische Projekt des 18. Jahrhunderts und gleichzeitig eine der ersten nach dem Alphabet lemmatisierten Enzyklopädien in (nicht-lateinischer) Nationalsprache. Außerdem wurde das ‚Allgemeine Conversations-Lexicon für alle Stände‘ herangezogen, dessen dritter Band (‚Baumgarten bis Bzura‘) 1834 erschien (vgl. BAYRISCHE STAATSBIBLIOTHEK 2009, online). Diese zwei Berücksichtigungen ermöglichen es, die relevanten Zeiträume vor und während der idealistisch-neuhumanistischen Wende des Bildungsdenkens in den Analyseprozess mit einzubeziehen (vgl. REICHENBACH 2007, S.113ff.; TENORTH 2000, S.122ff.). Da die für die Lexikasequenz vorrangig genutzten Ausgaben von ‚Meyers Konversations-Lexikon‘ ursprünglich darauf abzielten, für das Gespräch zwi82
schen Bildungsbürgern anregendes Wissen in aufbereiteter Form bereit zu halten, ist eine floskelhafte Sprache anstatt einer differenzierten Darstellungsqualität kennzeichnend für die Lexikonartikel. Diese Floskelhaftigkeit bleibt bei den Lemmata bis ins 20. Jahrhundert deutlich erkennbar. Erst in dessen zweiten Hälfte erfolgt eine schrittweise Umstellung des Schreibduktus auf Sprachverwendungsformen, die den Ansprüchen wissenschaftlich objektiver Darstellung folgt. Die nachstehende Quellen-Analyse wird diese Wandlung belegen. Die Untersuchung fasst die das Deutungsmuster ‚Bildung‘ betreffenden Artikel aus zwölf Lexikonausgaben von 1733 bis 2006 in einer typisierenden Skala nominalstrukturiert zusammen und resümiert diese Zusammenfassungen abschließend. Eine solche typisierende Skalierung will Aussagen über ein Material treffen, „indem sie besonders markante Bedeutungsgegenstände“ herauszieht und genauer beschreibt (MAYRING 2008, S.90). Typisierungen dieser Art bergen immer das Risiko von Generalisierung und Deformation bestimmter Inhalte, da sie Uniformität oder Polaritäten unterstellen, die das Material so nicht wiedergibt. Als Vorteil dieses zur Methode der qualitativen Inhaltsanalyse zählenden Strukturierungsverfahrens gilt dagegen das Herausfiltern markanter Ausprägungen, die in einer Art idealtypischer Übersteigerung substanziellen Charakteristiken eines Materials ein stärkeres Gewicht verleihen, als es die Rezeption des gesamten Materials offenbaren würde. Hinsichtlich des Erkenntnisinteresses dieser Untersuchung habe ich nach einer ersten Lektüre aller Artikel fünf Typisierungsdimensionen bzw. Schwerpunktkategorien bestimmt:
Angabe von Quellen (siehe zweiter Absatz dieses Abschnitts) Naturwissenschaftliches vs. pädagogisches Verständnis von Bildung Bildung als ein unter die Praxis der Erziehung fallender Begriff Fremdgesteuerte vs. vom Individuum selbst gesteuerte Bildung Kritik am Bildungsverständnis zur Zeit der Artikelveröffentlichung
Um nicht zu stark vom Inhalt der verhältnismäßig kleinen Materialmenge abzuschweifen, habe ich jedem der chronologisch vorgestellten Inhaltsanalyseergebnisse (es wird jeweils das Erscheinungsjahr des Lexikonartikels gelistet; die vollständigen Angaben sind im Quellenverzeichnis aufzufinden) ein Ankerzitat pro Schwerpunktkategorie zur Seite gestellt.
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Tabelle 1: Angabe von Quellen 1733 1834 1845 / 58 (Artikel identisch) 1890 / 95 (Artikel identisch) 1904 1925 1936 1972
-
-
-
-
Ja Ja Ja
1981 2006
Ja Ja
PAULSEN, WILLMANN HITLER: ‚Mein Kampf‘, KERSCHENSTEINER, KRIECK 15 Quellen von HUMBOLDT über NIETZSCHE, SPRANGER, KERSCHENSTEINER, ADORNO bis hin zu zahlreichen 1972 wirkenden Geisteswissenschaftlern. Hinzu kommt der Aufsatz ‚Bildungsforschung – Aufgaben und Methoden‘ von HELLMUT BECKER, dem damaligen Direktor des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung 9 Quellen 18 Quellen; der Artikel ist als ‚Schlüsselbegriff‘ klassifiziert
Tabelle 2: Naturwissenschaftliches (Nat. Vers.) vs. pädagogisches Verständnis (Päd. Vers.) von Bildung 1733 1834 1845 / 58 1890 / 95
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Nat. Vers. Päd. Vers. Päd. / Nat. Vers. Päd. / Nat. Vers.
„Bildung, Formatio, hat bei den Medicis zweyerley Bedeutung …“ „… die Entwicklung des menschl. Geistes zur Selbstthätikeit.“ „Hauptsächlich aber wird Bildung dem Menschen zugeschrieben …“ „Bildung, dem ältern Sprachgebrauch nur in der eigentlichen Bedeutung von Gestaltung oder Gestalt (Bild) geläufig, wird in der neuern Sprachweise … vorwiegend im übertragenen Sinn von der … geistigen Entwicklung des Menschen gebraucht.“
1904 1925 1936
1972 / 81 (Artikel beinahe identisch) 2006
Päd. / Nat. Vers. Päd. Vers. Nat. / Päd. Vers.
Gleiche Formulierung wie 1890/95 „Grundbegriff der Erziehungswissenschaft“
Päd. Vers.
„Darüber hinaus ist aber das B.sziel des neuen Deutschland … die Herausbildung des rassisch einwandfrei geborenen deutschen Menschen mit all seinen Fähigkeiten und Kräften zur vollentwickelten willensstarken und charakterfesten Persönlichkeit im Rahmen der Volksgemeinschaft.“ „… sowohl der Prozeß, in dem der Mensch seine geistig-seel. Gestalt gewinnt, als auch diese selbst.“
Päd. Vers.
„… ein Grundbegriff insbes. der Philosophie und Pädagogik …“
Tabelle 3: Bildung als ein unter die Praxis der Erziehung fallender Begriff 1733 1834 1845 / 58
Ja
1890 / 95
Ja
1904 1925
Ja Ja
1936
Ja
1972 / 81 2006
-
„Diese Herausbildung geschieht mittelst der Erziehung …“ „… von der durch Erziehung und Unterricht bedingten geistigen Entwicklung des Menschen …“ Gleiche Formulierung wie 1890/95 „… seit dem 18. Jh. gebräuchlich 1) für die erziehende Tätigkeit, 2) für das Ziel oder Ergebnis derselben.“ „… spricht aber in diesem Sinne nicht von B., sondern von Erziehung …“ -
85
Tabelle 4: Fremdgesteuerte (Fremd) vs. vom Individuum selbst gesteuerte (Selbst) Bildung 1733 1834
Selbst
1845 / 58
Fremd
1890 / 95
Fremd
1904 1925
Fremd Fremd
1936
Fremd
1972 / 81
Fremd
2006
Selbst / Fremd
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„Aber es müssen sich viel glückliche Umstände vereinigen, um den Menschen zum Menschen zu machen, und seine Freiheit über die Nothwendigkeit siegen zu lassen … Diese Bildung muß Allen gemein werden, und dem Vergeistigungs-Prozesse, in welchem die Menschheit begriffen ist, eine entschiedene Richtung geben, um die frommen Wünsche der Weltbürger und Menschenfreunde zur glücklichen Erfüllung zu bringen.“ „… in diesem Sinne gibt der Mensch gewissermaßen den Stoff her, aus welchem etwas herausgebildet werden soll …“ „Daß unter B. sowohl die Thätigkeit des Bildens (Unterrichtens, Erziehens) als auch das Ergebnis dieser Thätigkeit verstanden werden kann …“ Gleiche Formulierung wie 1890/95 „… diejenige seelische Verfassung, die während der Jugendzeit durch planmäßige Übertragung von solchen Kulturgütern erzeugt wird, die dem Zweck der Erziehung … entsprechen.“ „… dies vermag nur der schöpferische und führerische große Erzieher …“ „Durch ein staatlich sanktioniertes Berechtigungswesen sicherte die Bürokratie das B.sprivileg der ‚höheren Stände‘. Bildung wird so zur ‚Qualifikation‘ und zum Vehikel des sozialen Aufstiegs.“ „Bildung steht für den Prozess der Selbstkonstruktion des Menschen im Lebenslauf …“ / „Bildung wird benutzt, um die Prinzipien der institutionellen Ordnung gesellschaftlich organisierter Lehr- und Lernprozesse von der Elementarbildung bis ins Erwachsenenalter vorzugeben.“
Tabelle 5: Kritik am Bildungsverständnis zur Zeit der Artikelveröffentlichung 1733 1834 1845 / 58 1890 / 95
Ja
1904 1925 1936
Ja Ja
1972
Ja
1981
Ja
2006
Ja
„Minder berechtigt ist die Unterscheidung zwischen materialer B. … und formaler B. …, da eigentlich ausschließlich die letztere den Namen B. beanspruchen und die erstere nur als Hilfsmittel der B. angesehen werden kann …“ „Sein Gebrauch schwankt noch heute …“ „Somit wird der Begriff der Bildung kritisch betrachtet von einer Zeit wie der heutigen, die das Ziel der Erziehung nicht in erster Linie in Verstandesschulung und Kenntniserwerb, sondern in Willensschulung und Charakterformung erblickt …“ „Das Wort ‚Bildung‘ ist zu einer historisch-ideolog. Reminiszenz verkümmert, die der Erkenntnis höchst komplexer anthropolog. Zusammenhange im Wege steht.“ „Die veränderten sozialen und polit. Verhältnisse haben zu Kritik an dem überkommenden B.sbegriff geführt, der den Erfordernissen einer Industriegesellschaft immer weniger gerecht wird.“ „… wird er auch heute nicht im Konsens bestimmt, sondern höchst kontrovers in seiner Sinnhaftigkeit und Bedeutung diskutiert.“
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4
Ergebnisse
Die Lexikasequenzanalyse bestätigt die zu Beginn (und von MONIKA BOTHESCHARF in diesem Band) angesprochenen historischen Entwicklungen zum Aufkommen des Bildungsbegriffs. Noch bevor SHAFTESBURY und KLOPSTOCK die Vokabel ‚Bildung‘ der (inneren) menschlichen Entwicklung zuordneten, galt diese als der Medizin und den Naturwissenschaften entlehnt. Hundert Jahre später, um 1830, lässt sich hingegen – entsprechend der von SHAFTESBURY (resp. von seiner deutschen Übersetzung) und KLOPSTOCK angestoßenen Auffassung – ‚Bildung‘ als eine pädagogisch konnotierte Benennung ausmachen. Von diesem Zeitpunkt an gibt es indessen eine ambivalente Charakterisierung von ‚Bildung‘. Einerseits wirkt eine alte Bedeutungszuweisung fort, welche der Biologie entnommen ist. Andererseits tritt immer stärker eine neuere Bedeutungszuweisung hinzu, welche auf pädagogische Zusammenhänge abzielt. Eine Zuspitzung der langfristigen Entwicklung im Medium des Konversationslexikons stellt die Periode der Reformpädagogik im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts dar. Diese war von, wenn auch poröser, politischer Demokratie begleitet. Im pädagogisch relevanten Zusammenhang brachte sie einerseits eine Rückbesinnung auf JEANJACQUES ROUSSEAUs Aufklärungspädagogik und rückte dabei die Werdung der Persönlichkeit verstärkt in den Vordergrund. Andererseits muss sie aber auch als Auffangbecken nationalistisch-kulturpessimistischer Strömungen gedeutet werden. In diesem Sinne wurde ‚Bildung‘ in dieser Zeit zum ersten Mal explizit als ‚Grundbegriff der Erziehungswissenschaft‘ benannt. Demgegenüber tendiert die Begriffsausdeutung zur Zeit des Nationalsozialismus wieder deutlich stärker in die andere Richtung. Diese zielt, im Kontext der Zeit, auf ein biologistisches sozialdarwinistisches Verständnis. Die Zurückdrängung der geistigen Dimension von ‚Bildung‘ zugunsten charakterlicher ‚Willensschulung‘ unter Berücksichtigung körperlicher Vervollkommnung spielt hierbei die zentrale Rolle. Eine neue Entwicklung zeigte sich erst nach den Entwicklungen der 1960er Jahre. Die im Anschluss vollzogene Etablierung einer Zuschreibung des Wortes ‚Bildung‘ als eines allein von den Sozialwissenschaften zu verhandelnden Terminus konnte sich erst zu einem Zeitpunkt durchsetzen, als sich in Deutschland auch eine Demokratie kontinuierlich durchgesetzt hatte. Ein paralleler Verlauf kollektiven Verständnisses ist der Typisierungsdimension von ‚Bildung‘ als Unterkategorie der Erziehungspraxis zu entnehmen. Von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum Ende der Erziehungsdiktatur im nationalsozialistischen Deutschland wird ‚Bildung‘ als Prozess- und Ergebnismuster des Erziehens und Unterrichtens gedeutet. Erst danach lockert sich in den Darstellungen diese Verkrustung von Aspekten der Bildung einerseits und Aspekten der Unterweisung andererseits wieder. Dies ist als Hinweis darauf zu 88
interpretieren, dass Bildung im Allgemeinverständnis erst seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts als etwas Dauerhaftes, Lebenslanges, den Lebenslauf Durchwanderndes und somit tendenziell Individuelles aufgefasst wird. Hier zeigt sich eine Abkehr: Die lange bestimmende Koppelung von ‚Bildung‘ und ‚Erziehung‘ wird gelockert. So ist seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in gewisser Weise eine Rückbesinnung auf den schon im Neuhumanismus einmal relevanten Aspekt der Selbstbestimmung, des Selbstlernens, der Selbstentfaltung zu erkennen. Sowohl der Artikel von 1834 als auch der von 2006 heben die Selbststeuerung als Weg und Ziel eines individuellen Bildungsprozesses hervor. Dass letztgenannter Artikel aber, im Gegensatz zu dem von 1834, zugleich auf die fremdgesteuerten Dimensionen von ‚Bildung‘ aufmerksam macht, deutet für die Gegenwart auf eine Diffusität des Deutungsmusters ‚Bildung‘ hin, welche den Versuch einer Systematik immer schwieriger macht. Analoge Erkenntnisse lässt ein Blick auf die in Lexika geäußerte Kritik erahnen. ‚Bildung‘ ist ein vielfältig ge- und benutzter Begriff, genauso differenziertanalytisch diskutiert wie politisch-populistisch verwendet, als bedeutungslos oder arrogant verschrien und dann wieder exzessiv gebraucht. Die Quellen-Analyse verdeutlicht, dass sich das Konzept der Lexika insbesondere seit den 1960/70er Jahren grundlegend gewandelt hat – vom Konversationslexikon hin zu einer Enzyklopädie mit wissenschaftlichem, faktenbasiertem Profil, das nicht länger sprachlich anregende Beschreibungen als Grundlage für kontrovers zu diskutierende Themen anbietet, sondern inhaltlich divergierende Positionen aneinander reiht. Die Sequenzanalyse der Lexika legt nahe, dass sich das einheitliche Deutungsmuster ‚Bildung‘ schon in der Zeit des Nationalsozialismus aufzulösen begann. Dieser Prozess hängt mit dem sozialgeschichtlich nachgewiesenen Untergang der Trägerschicht ‚Bildungsbürgertum‘ zusammen, die sich über dieses Deutungsmuster vergesellschaftete (vgl. CONZE 1985-1989). Schon der rassistisch-appellartig formulierte Artikel zum Bildungsbegriff aus dem Jahre 1936 nimmt von zuvor zentralen Positionen älterer Ausgaben Abschied. Später, in den 1960/70er Jahren, verbindet sich die sozialwissenschaftliche Neuorientierung umgekehrt mit einer expliziten Elitenkritik am Bildungsbegriff. Solche Ergebnisse sind Indizien dafür, dass ‚Bildung‘, entstanden als Deutungsmuster einer bildungsbürgerlichen Leistungselite, nicht mehr funktioniert. Diese Aussage gilt spätestens für den Zeitraum seit der Überwindung des europäischen Faschismus und der Etablierung einer ‚nivellierten Mittelstandsgesellschaft‘ – so der entsprechende Begriff HELMUT SCHELSKYs –, erst recht unter den Bedingungen einer Zwei-Drittel-Gesellschaft. Folglich lässt sich konstatieren, dass BOLLENBECKS Operationalisierung eines Bildungsdeutungsmusters keine Gültigkeit mehr besitzen kann. Die letzte 89
Ausgabe der ‚Brockhaus Enzyklopädie‘ von 2006 führt 21 mit dem Lemma ‚Bildung‘ verbundene Artikel – von ‚Bildungsbürgertum‘ bis ‚Bildungswesen‘ – auf. Sie entstammen den unterschiedlichsten Systemfeldern und weisen daher keine Trennschärfe auf. ‚Bildung‘ ist zum Container-Begriff geworden. Einerseits sind dabei wieder disziplinäre Bezüge erkennbar. So treten naturwissenschaftliche Begriffsverwendungen wieder in den Vordergrund (‚Bildungsdotter‘, ‚Bildungsgewebe‘, ‚Bildungsenthalpie‘, ‚Bildungswärme‘, etc.). Daneben stehen sozialwissenschaftliche und politikwissenschaftliche Begriffsverwendungen (,Bildungsgefälle‘, ‚Bildungssoziologie‘, ‚Bildungsgesamtplan‘ etc.). Daneben finden geisteswissenschaftliche Begriffsverwendungen ihren Platz (‚Bildungsroman‘, ‚Bildungssprache‘, etc.). Auch pädagogische Begriffsverwendungen treten noch auf (‚Bildungswesen‘, ‚Bildungsstandards‘, etc.). Andererseits aber sind alle diese Begriffe schon durch einen mehrperspektivischen Zugriff gekennzeichnet, der eben nicht mehr in einer Fachdisziplin alleine verortet ist (‚Bildungsökonomie‘, ‚Bildungsurlaub‘, ‚Bildungsforschung‘, ‚Bildungspolitik‘, etc.). So müssen diese Begriffsverwendungen als synkretistische Wortprodukte interpretiert werden, die gerade durch ihre Unbestimmtheit hohe Potenziale der Anschlussfähigkeit in alle möglichen Richtungen garantieren. Diese Anschlussfähigkeit zielt aber nicht mehr die soziale Inklusion einer Trägerschicht; sie markiert nicht einmal mehr eine disziplinäre Inklusion einer, ob geisteswissenschaftlich, ob sozialwissenschaftlich verstandenen, Pädagogik. Die mit der Vokabel ‚Bildung‘ verschmolzenen und in gegenwärtigen Enzyklopädien unter dem Lemma ‚Bildung‘ additiv gelisteten Wortproduktionen bieten eine Verwendungsfläche, die inzwischen nicht nur weit über pädagogische, sondern auch über sozialwissenschaftliche sowie naturwissenschaftliche Bereiche hinausragt. Sie ragt hinein in jede kulturell verankerte und reflektierte Gesellschaftsdimension und macht ‚Bildung‘ somit nicht länger deutbar. Quellenverzeichnis BAYRISCHE STAATSBIBLIOTHEK (2009): Johann Heinrich Zedlers Grosses und vollständiges Universallexicon aller Wissenschafften und Künste. URL: www.zedler-lexikon.de/index.html, (Stand 04.11.2009) BIBLIOGRAPHISCHES INSTITUT (Hrsg.) (1845): Das Große Conversations-Lexicon für die gebildeten Stände. Bd. 4: Beauforts - Bona pace. Hrsg. Joseph Meyer. Hildburghausen [u.a.]: Bibliographisches Institut, S.983 BIBLIOGRAPHISCHES INSTITUT (Hrsg.) (1858): Neues Konversation-Lexikon für alle Stände Hrsg. von Herrmann Julius Meyer. Bd. 3: Bayeux - Buchhaltung. Hildburghausen [u.a.]: Bibliographisches Institut, S.537 BIBLIOGRAPHISCHES INSTITUT (Hrsg.) (1890): Meyers Koversations-Lexikon. Bd. 2: Atlantis Blatthornkäfer. 4., gänzlich umgearb. Aufl. Leipzig [u.a.]: Bibliographisches Institut, S.947
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II.ȱȱ Positionsbestimmungenȱderȱ AllgemeinenȱPädagogikȱ/ȱ HistorischȬsystematischenȱ Erziehungswissenschaftȱ
Die philosophische Dimension der Pädagogik Klaus Prange
I. Die Pädagogik als akademische Disziplin ist eine späte Tochter der Philosophie. Noch bis weit in das 20. Jahrhundert waren die maßgebenden Pädagogik-Lehrer an den Universitäten im Hauptamt Philosophen, seltener Theologen, und legten auch Wert darauf, als Philosophen und Theologen zu gelten. Das gilt für EDUARD SPRANGER und THEODOR LITT, für OTTO FRIEDRICH BOLLNOW und EUGEN FINK. Anders die Fachvertreter an den Lehrerbildungsanstalten und, wie sie nach dem Kriege genannt wurden, an den Pädagogischen Hochschulen. Aber eben deshalb gehörten diese Nur-Pädagogen eher zum clerus minor der akademischen Welt, ganz unabhängig von ihrem fachlichen Rang. Als dann an den Universitäten eigene Professuren für Pädagogik eingerichtet wurden, rangierten die Pädagogen am unteren Ende in der Hierarchie der philosophischen Fakultäten, bis dieser Platz von den nachrückenden Sportwissenschaftlern eingenommen wurde. Das mögen inzwischen historische Betrachtungen sein, seitdem sich nun auch die Pädagogik unter dem neuen Namen der Erziehungswissenschaft in eigenen Fachbereichen organisiert und so die Orientierung an Philosophie als Leitdisziplin obsolet geworden ist. Bestenfalls in der Allgemeinen Pädagogik hat sich die Erinnerung an die philosophische Herkunft präsent gehalten; aber gerade deshalb hat sie als eine der erziehungswissenschaftlichen Disziplinen neben der Schul- und der Sozialpädagogik, vor allem aber gegenüber Bildungsforschung und Lernpsychologie einen prekären Stand. Dieser legt es nahe, sie zu den bedrohten Arten des akademischen Betriebs zu rechnen. Bei dieser vielleicht etwas vereinfachten Lagebeschreibung, stellt sich die Frage, welcher Sinn und welche Funktion der Allgemeinen Pädagogik in philosophischer Perspektive noch zukommt. Zunächst: Es ist alles andere als klar, in welchem Sinne die Pädagogik als akademische Disziplin philosophisch genannt werden kann. Dass sie einmal wie andere Wissenschaften aus der Philosophie hervorgegangen ist, reicht nicht aus, die philosophische Dimension eines Faches zu begründen, das inzwischen auch den Weg empirischer Forschung und zunehmender Differenzierung beschritten hat. Im Curriculum eines durchschnittlichen Pädagogikstudiums erscheinen eher
psychologische und soziologische Kenntnisse geeignet, das Phänomen der Erziehung angemessen zu erfassen. Demgegenüber erscheint es als beinahe schon nebensächlich, Zeit an die überlieferten Themen der Philosophie und ihre aktuellen Fragestellungen zu vergeuden. Hinzu kommt eine Schwierigkeit, die sich aus dem Zustand dessen ergibt, was unter dem Titel ‚Philosophie‘ erörtert und behandelt wird. Diese ist inzwischen selber zu einer reich differenzierten Disziplin von Spezialphilosophien geworden. Von daher wird es schwer, einen eindeutigen Anschlusspunkt zu finden, auf den sich die Pädagogik insgesamt oder eine ihrer Spezialdisziplinen beziehen könnten. In einem von ANNEMARIE PIEPER herausgegebenen Handbuch der ‚Philosophischen Disziplinen‘ finden sich allein 18 Gebiete und Bereiche aufgeführt, die einerseits herkömmliche Themen behandeln wie ‚Anthropologie‘, ‚Ethik‘, ‚Ästhetik‘ und ‚Erkenntnistheorie‘, aber auch akademische Neulinge wie die ‚feministische Philosophie‘ und die ‚Technikphilosophie‘ neben schon länger etablierten Bereichsphilosophien wie der ‚Sprachphilosophie‘, der ‚Naturphilosophie‘ und der ‚Rechtsphilosophie‘ (PIEPER 1998). Eine besondere ‚Erziehungsphilosophie‘ findet sich in diesem Handbuch zwar nicht, ließe sich aber leicht im Blick auf die angelsächsische philosophy of education ergänzen. Angesichts dieser Vielfalt sowohl auf Seiten der ‚Erziehungswissenschaften‘ wie auf Seiten der ‚Philosophien‘ mag die Frage nach der philosophischen Dimension der Pädagogik, oder entschiedener noch: nach der philosophischen Fundierung der Pädagogik, überholt erscheinen, auch wenn sie gelegentlich noch mit Emphase vorgetragen wird (vgl. KOCH 2002). Tatsächlich kann man sehen, dass als ‚philosophische Pädagogik‘ der mehr oder minder enge Anschluss an eine der großen Richtungen der philosophischen Überlieferung oder an einen ihren maßgebenden Repräsentanten verstanden und als Zeugnis einer philosophisch orientierten Pädagogik ausgegeben wird (vgl. REICHENBACH 2007). Ob es sich dabei um IMMANUEL KANT oder LUDWIG WITTGENSTEIN, MAURICE MERLEAU-PONTY oder andere Meisterdenker handelt, in allen Fällen sorgen der Rang und das Ansehen der Bezugsautoren dafür, dem pädagogischen Denken durch die Teilhabe an bedeutenden Theorieentwürfen eine Bedeutung zuzuspielen, die es offenbar aus sich selbst nicht zu gewinnen vermag. Entsprechend verhält es sich mit der Berufung auf ‚Phänomenologie‘ oder ‚Pragmatismus‘, auf ‚Kritische Theorie‘ oder neuerdings auf die sozialphilosophisch bedeutsame Systemtheorie. Sie tragen die Beweislast für pädagogische Argumente als Anwendungen und Folgerungen aus Großtheorien und Betrachtungsweisen, welche sich ihrerseits zunächst keinem spezifisch pädagogischen Grundgedanken verdanken. Vielmehr wird im Rahmen etablierter Antworten das ‚Pädagogische‘ herausgefiltert oder zur weiteren Behandlung an die Subdisziplinen der Erziehungswissenschaft, wenn nicht gleich an die ‚Praktiker‘ delegiert, die vor Ort zusehen 96
müssen, wie sie die großen Scheine der Theorie in die kleine Münze des Alltags einwechseln können. Der Sinn und die Leistung solcher Rezeptionen mag im Einzelnen umstritten sein. Nicht strittig dürfte aber das Bestreben sein, von anderen zu lernen und die Ergebnisse anderer Disziplinen zu beachten, seien sie empirisch fundiert wie die neuere neurologische Forschung, seien sie unter der alten Adresse der Philosophie oder einer ihrer neueren Spezialdisziplinen aufzufinden. Diese Rezeptionen gehören zu dem „wohltätigen Verkehr unter allen [Wissenschaften; K.P.]“, den JOHANN FRIEDRICH HERBART in der Einleitung zu seiner ‚Allgemeinen Pädagogik‘ ins Auge gefasst hat (HERBART 1989b, S.8). Die Frage ist aber, wie diese Rezeption erfolgt. Relevant ist, ob sich die Pädagogik als Subunternehmerin und Anhang anderer Disziplinen versteht oder ob sie das Wissen und die Wissensformen anderer Disziplinen systematisch und unter eigenen Prämissen verarbeitet. Im ersten Fall benutzt sie andere Theorien als Systemersatz und bewegt sich in der Botmäßigkeit von Fragen und Antworten, die sie nicht selbst entwickelt und ausgearbeitet hat. Im zweiten Fall hat sie ihre eigenen Fragen und einheimischen Begriffe zu artikulieren, um gewissermaßen verdauen zu können, was ihr aus anderen Wissensbezirken entgegenkommt und worauf sie dann unterscheidend, nicht folgsam und ihrer eigenen Sache entfremdet reagiert. Um diese Sache der Pädagogik soll es im Folgenden gehen, nicht darum, den pädagogischen Anhang philosophischer Positionen zu ermitteln oder etwa eine besondere Philosophie für Pädagogen zu formulieren, geschweige denn darum, den Bemerkungen und obiter dicta von Fachphilosophen über die Erziehung nachzuspüren. Der Gedanke ist vielmehr: Die Pädagogik ist philosophisch nur insoweit, als sie systematisch ist und es versteht, ihren Grundgedanken selbstständig zu fassen. Unter dieser Voraussetzung kann sie in ein freies und wechselseitig relevantes Gespräch sowohl mit anderen Disziplinen als auch mit der Philosophie insgesamt oder einzelnen ihrer Spezialthemen und Bereichsphilosophien treten. Das ist aber zunächst nur eine Forderung oder Behauptung. Das so Unterstellte versteht sich nicht von selbst, sondern bedarf eines Nachweises, dass es wirklich so etwas wie Systematische Pädagogik schon gibt oder zumindest geben kann, auch wenn die gegenwärtig vorherrschenden Fachinteressen das systematische Motiv nicht begünstigen, sei es, weil es für überflüssig angesehen, sei es, weil es für uneinlösbar gehalten wird. In der Tat lässt sich eine resolute Indifferenz, wenn nicht Abwehr gegenüber Bemühungen feststellen, die mit gesamtpädagogischem Anspruch auftreten, und zwar nicht nur in den Differenziellen Pädagogiken, sondern auch in der dafür eigentlich zuständigen Allgemeinen Pädagogik, die sozusagen als Platzhalter für das Systeminteresse fungiert. Dabei sind zwei Gedankenlinien erkennbar, deren Zusammenwirken geeignet ist, die ‚Allgemeine Pädagogik‘ selbst in Frage zu 97
stellen. Die erste kann sich auf das neo-positivistische Frageverbot stützen. Dieses lässt als Frage nur zu, worauf sich eine Antwort in Ausdrücken beobachtbaren und messbaren Verhaltens geben lässt. Die zweite Gedankenlinie besteht in der historischen Relativierung allgemeiner Antworten. Diese hat zur Folge, dass noch die aktuellen Erörterungen selbst wieder kontextualisiert und um ihren Wahrheitsanspruch gebracht werden. Reduziert auf die Geschichte der Erziehung und des Erziehungsdenkens einerseits und auf die Propädeutik forschungstechnischer Methoden andererseits verzichtet die Allgemeine Pädagogik darauf, systematisch zu sein, und beschränkt sich auf die Darstellung von pädagogischen und anderen Theorien. Sie begnügt sich gewissermaßen mit einem teils historisch orientierten, teils aktualitätsbezogenen Theoriensurfing, ohne sich selbst noch bündige Antworten zuzutrauen oder sie in Angriff zu nehmen. Positivismus und Historismus kommen darin überein, die philosophisch-systematische Dimension des pädagogischen Wissens zu diskreditieren. Wer dennoch daran festhält, ihr im pädagogischen Diskurs eine Stimme zu verschaffen, hat dann aber auch die Frage zu beantworten, ob es überhaupt möglich ist, dem pädagogischen Wissen eine systematische Form zu geben und worin diese besteht. II. Es ist eines, die Beliebigkeit der pädagogischen Raison zu bedauern, das Schwanken in den grundbegrifflichen Bestimmungen und die Beflissenheit, sich an andere anzuschließen. Es ist ein anderes, eine überzeugende Systematik oder, wie WILHELM FLITNER es genannt hat: einen spezifisch pädagogischen Grundgedankengang zu formulieren (vgl. FLITNER 1970). Immerhin gibt es neben dem von FLITNER selbst gelieferten Beispiel durchaus eindrucksvolle Belege für einen solchen Grundgedankengang in Schriften, die tatsächlich eine allgemeine, systematisch orientierte Pädagogik präsentieren. Aber es gibt auch gewichtige Gründe dafür, das Phänomen der Erziehung nur bedingt für theoriefähig und systematisierbar anzusehen. Dieses gilt deshalb, weil Lernen und Erziehen sich in einer unabsehbaren Vielfalt von Situationen und Lebenslagen zeigen, und insofern einen Individualitätsindex enthalten, der es zu verbieten scheint, ihre gemeinsame Struktur in einer überzeugenden Weise zu erfassen. Das dürfte damit zusammenhängen, dass uns das Erziehen nicht einfach in der Beobachtung, gewissermaßen von außen, gegeben ist, sondern zugleich auch von innen: unser eigenes Lernen und die Erfahrung der Erziehung spielen in den Begriff hinein, den wir uns von der Erziehung machen. Die Erziehung ist durch ihre Nähe verdeckt. Es gibt eine dem Erziehungsdenken eigentümliche Befangenheit und Verstrickung in biographische und zeitgeschichtliche Bin98
dungen, die es nahe legen, eher narrative Zeugnisse und vor allem auch Selbstzeugnisse für den angemessenen Ausdruck der Erfahrung der Erziehung anzusehen und zu würdigen (vgl. PRANGE 2002). Diese Ansicht macht sich auch darin bemerkbar, dass nach wie vor in der Ausbildung von Pädagogen der Rückgriff auf die erzählerisch vergegenwärtigte Erziehungserfahrung gang und gäbe ist, ob es sich nun um die Schulen der Reformpädagogik oder aus früherer Zeit um den Stanser Brief von JOHANN HEINRICH PESTALOZZI oder überhaupt um fiktionale Präsentationen nach dem Muster des ‚Emile‘ handelt. Das Erzählen steht für die Einheit des Begriffs ein, der dabei jedoch selbst nicht explizit wird und Anspruch auf allgemeine Geltung erheben kann. Erst auf der Ebene der Interpretation stellt sich eine größere, aber auch dann nur komparative Allgemeinheit her. Der Grund dafür ist, dass das Verhältnis zum Thema selbstreferenziell-zirkulär ist. Wenn wir über Erziehung, über Kindheit und Lernprozesse sprechen, sprechen wir zugleich immer auch über uns selbst. Dieses hat zur Folge, dass die ‚objektive‘ Beobachtung des Erzieherischen an die Vertreter anderer Disziplinen fällt, deren Ergebnissen dann nachgängig noch eine pädagogische Krone aufgesetzt wird. Diese Verstrickung der Erziehung in das ‚Leben‘ lässt sich auch noch anders fassen: Das Erziehen als die Form, wie wir auf das Lernen reagieren, erscheint nicht als ablösbare Handlung wie etwa die Praxis eines Arztes, der einen Patienten behandelt, oder eines Richters, der einen Streitfall entscheidet. Vielmehr ist das Lernen eingemischt in die immer schon laufende Lebenspraxis, vielfach unbeachtet und unbemerkt, sodass sich ein Begriff des Erziehens von zureichender Schärfe erst dann und dort hat gewinnen lassen, wo es eigens im Unterricht thematisiert und in Schulen organisiert wird. Das ‚Leben‘ aber lässt sich nicht wie eine Schule oder sonst eine Einrichtung auffassen, sodass die Systematisierung der Erziehung am Modell des Schulunterrichts nur um den Preis einer entschiedenen Reduktion der Erziehungswirklichkeit zu haben ist. Diesem Nachteil steht indes ein entschiedener Vorzug gegenüber. Die Erziehung kann unter den Limitationen des organisierten Unterrichts genauer in den Blick genommen werden. Das Lernen wird methodisch erschlossen; es zeigt sich im Verhältnis zu beobachtbaren Themen und beschreibbaren sozialen Konstellationen. Die Lehre von den Formen des Unterrichts hat so einen Leitfaden dafür geliefert, wie wir uns das Verhältnis von Lernen und Erziehen vorzustellen haben. Was immer gegen diese Orientierung am Unterrichtsmodell der Erziehung vorgetragen und als ‚Reform‘ ins Spiel gebracht werden mag, es ist noch im Gegenzug an der Didaktik des Unterrichts orientiert und bezieht seine Kraft aus deren Überbietung. Nur sind es dann andere Verfahrensweisen und andere Themen, und es sind andere Inszenierungen, die dabei vor Augen geführt und angewandt werden. Dass sie aber überhaupt formuliert werden können, verdan99
ken sie dem ersten Versuch, den Zirkel von Lebenspraxis und Lernen aufzulösen, indem Thema, Lernen und Lehren voneinander unterschieden und in ihrem Verhältnis zueinander bestimmt werden. In der Tat kann man sehen, dass sich die grundlegenden Konzepte und Paradigmen der Erziehung darauf zurückführen lassen, welchem Aspekt innerhalb der Trias von Thema, Lernen und Erziehen sie den Vorrang einräumen und wie von daher die anderen Aspekte der pädagogischen Inszenierungen bestimmt werden. So steht das schulpädagogische Modell dem familien- und sozialpädagogischen und beide dem lerntheoretisch-anthropologischem Modell gegenüber. Sie zeichnen jeweils vor, wie die erzieherischen Maßnahmen gedacht und von wem sie initiiert werden. Im ersten Falle sind es die Themen und der themenkompetente Magister, die die Führung haben, im zweiten Fall ist es die soziale Konstellation, im dritten die Selbstbewegung des Lernens, die den die Erziehung organisierenden Gesichtspunkt abgeben. Die triadische Struktur bleibt dabei unverändert. Sie macht die Varianten der pädagogischen Artikulation untereinander vergleichbar und erlaubt die Kompromisse und Übergänge, wie sie die unterschiedlichen Erziehungslagen erfordern. Wo das Lernen im sozialen Kontext einigermaßen problemlos gelingt, verstehen sich die Themen wie von selbst. Wo der soziale Kontext sich differenziert und problematisch wird, richtet sich das Interesse der Reflexion zuerst auf den thematischen Aspekt, meist unter dem Titel der ‚Bildung‘. Sobald aber beides in den Sog der generellen Selbstproblematisierung von Individuum und Gesellschaft gerät, erscheint das Lernen als Notanker der Besinnung auf Erziehung, von dem erwartet wird, die Maßgaben für das Erziehen zu bestimmen. Wie das im Einzelnen aussieht und welche Leitgedanken sich dabei herausbilden, ist Sache einer systematisch unterbauten Geschichte der Pädagogik und soll hier nicht weiter verfolgt zu werden. Wichtiger ist die Frage, wie sich das idealtypisch unterstellte Grundmodell der Erziehung begründen lässt. Das ist das eigene Thema der allgemeinen als systematische Pädagogik; es ist zugleich die Stelle, an der die philosophische Dimension der Pädagogik sich zeigt. Problemgeschichtlich gesehen lässt sich der Einsatz der systematischen Pädagogik dort beobachten, wo der Zirkel von Erziehungspraxis und Erziehungsreflexion sich endgültig aufgelöst hat und das Erfordernis einer Besinnung auf die Differenzen unterschiedlicher Pädagogiken sichtbar wurde. Der erste, der diese Aufgabe gesehen und eine Antwort gegeben hat, war HERBART. Nicht zufällig nennt er seine Abhandlung über die ‚Ästhetische Darstellung der Welt als Hauptgeschäft der Erziehung‘ eine ‚allgemeinpädagogische‘ und hat insofern das Muster vorgegeben, wie eine systematisch orientierte Pädagogik aussieht (vgl. HERBART 1989a).
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III. Im Einzelnen ist die Antwort HERBARTs nicht wiederholbar. Wohl aber zeigt sie, worauf eine systematisch begründete Pädagogik zu antworten hat. Es sind drei Aspekte, die dabei zusammengebracht werden: der ethische in Hinsicht auf die Aufgaben der Erziehung und der Erzieher – von HERBART Moralität als die „eine und ganze Aufgabe der Erziehung“ genannt (HERBART 1989a, S.259) –; der anthropologische Aspekt in Hinsicht auf die Verfassung der Lernenden - von HERBART Bildsamkeit genannt –; und der didaktisch-operative Aspekt in Hinsicht auf die Frage, wie beides koordiniert werden kann. Das Entscheidende und Lehrreiche an HERBARTs Vorschlag besteht nicht in seinen Aussagen über die einzelnen Hinsichten, nicht in seiner Psychologie und auch nicht in seiner Bestimmung des Erziehungsziels. Vielmehr besteht es darin, die Bedingungen der Möglichkeit ihrer Koordination zu untersuchen. Darin ist HERBARTs Pädagogik philosophisch, nicht etwa, weil er auch oder vornehmlich ‚Philosoph‘ gewesen ist und ‚philosophische Schriften‘ vorgelegt hat; oder deshalb, weil sich die Form seiner Überlegungen jenseits empirischer Bestätigungen bewegt. Philosophisch ist diese Frühschrift dadurch, dass sie den Grund pädagogischer Begründungen ins Auge fasst und damit im Blick auf das Phänomen der Erziehung einen pädagogischen Beitrag zur Ethik und zur Ästhetik erbringt. Was die Ethik angeht, so liegt der philosophische Ertrag darin, das kantische Konzept der transzendentalen Freiheit in Frage zu stellen. Hinsichtlich der Ästhetik liegt es im Aufweis, dass ihr im Gefüge der grundlegenden Fragestellungen eine zentrale Stellung zukommt: sie vermittelt zwischen dem reinen Gedanken und empirischen Gegebenheiten, zwischen Reflexion und Motivation, eine Einsicht, die sich genau daraus ergibt, dass die Ausbildung der Bildsamkeit im Prozess des Erziehens zum Thema gemacht wird. HERBARTs Einwände gegen KANT sind zugleich philosophisch und pädagogisch. Dabei handelt es sich aber nicht nur um eine zufällige, historisch-einmalige Koinzidenz des philosophischen mit dem pädagogischen Interesse. Vielmehr ergibt sich diese Koinzidenz daraus, dass in dem Grundmodell der Erziehungskomponenten die Fragestellungen enthalten sind, die ursprünglich der Philosophie angehören und in ihren Antworten den Lehrbestand ihrer Tradition bestimmt haben. Noch bei KANT erscheinen sie in den bekannten Fragen, die für jenen den Kern der philosophischen Reflexion über den Menschen ausmachen: 1. Was kann ich wissen 2. was soll ich tun? 3. was darf ich hoffen? (KANT 1781, A 805; 1787, B833).
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In diesen Fragen modernisiert KANT ein altes Schema der Grundfragen, indem er ihm gewissermaßen eine transzendentale Wendung gibt. Es sind die traditionellen Transzendentalien des Wahren, des Guten und des Schönen als der vollendeten Form, die sich ihrerseits in einer überlieferungsfesten Einteilung der Philosophie in ‚Physik‘, ‚Ethik‘ und ‚Logik‘ wiederfinden. Historisch geht diese Einteilung auf den Lehrbetrieb der aristotelischen Schule zurück; doch sie bringt dabei etwas zur Sprache, das nicht an den Ort der Hervorbringung gebunden ist. Worauf auch immer wir uns beziehen, es ist entweder das, was unser Verhältnis zu der Welt außer uns betrifft, oder das Verhältnis zu unseresgleichen oder das Verhältnis zu uns selbst. In einer noch aktuelleren Wendung hat DONALD DAVIDSON dieses Grundgefüge von Beziehungen als Dreiklang von ‚subjektiv, intersubjektiv und objektiv‘ formuliert und in den Fragen ausgedrückt, ‚was da draußen los ist‘ (objektiv), ‚was die anderen denken‘ (intersubjektiv) und ‚was ich selbst denke‘ (subjektiv) (vgl. DAVIDSON 2004). Offenbar handelt es sich bei diesen Fragen nicht um eine beliebige Ordnung, die nur noch historisch zu verorten und im Übrigen als überholt anzusehen ist. Vielmehr kann man sich klarmachen, dass mit diesen Fragen die prinzipiell möglichen Beziehungen umrissen sind, in denen wir uns bewegen. Da ist zum einen die Beziehung auf die ‚Welt‘ als Inbegriff dessen, was der Fall ist, zum anderen die Beziehung auf die anderen, mit denen wir diese Welt teilen, und schließlich die Beziehung auf uns selbst, in der die beiden anderen Beziehungen sich noch einmal wiederholen. Worauf auch immer wir uns beziehen, was immer uns betrifft und begegnet, es lässt sich auf diese Grundbezüge zurückführen und sich mit unterschiedlichen Akzentsetzungen darin ausdrücken. Das trifft für die von CHARLES SAUNDERS PEIRCE vorgeschlagene pragmatische Kategorienlehre der Erstheit, Zweitheit und Drittheit ebenso zu wie für die daraus abgeleitete semiotische Trias von Pragmatik, Semantik und Syntaktik. Gleichermaßen gilt es für die systemtheoretische Version der maßgebenden Unterscheidungen, durch die ein System sich erstens von seiner Umwelt, zweitens von anderen Systemen abhebt und wie es drittens sich selbstreferenziell organisiert. Weltbezug, Sozialbezug, Selbstbezug: in diesen drei Dimensionen artikuliert sich das Systeminteresse, und zwar unabhängig davon, auf welchen besonderen Bereich es sich bezieht. In der Tradition sind diese Dimensionen in einer christlich variierten Fassung als Fragen nach der Welt, nach dem Menschen und nach Gott unter dem Titel der metaphysica specialis thematisiert worden, überboten und gegründet in der Ontologie als metaphysica generalis, die nach dem Zusammenhang des Unterschiedenen fragt. In diesem Rahmen bewegen sich die Antworten darauf, was wir wissen, was wir sollen und wer wir sind. Eben weil es diesen Rahmen gibt, ist es auch möglich, zumindest die europäisch-abendländischen Antworten als ein zusammenhängendes Gespräch darzustellen und als eine Geschichte zu lesen. 102
Das gilt auch für den Alleszermalmer KANT, der für seine Kritik der Vernunft immer noch ein unabweisliches metaphysisches Bedürfnis in Anspruch genommen hat (KANT 1787, B21), doch mit dem Ergebnis, dass die Themen der speziellen Metaphysik als metaphysische der Kritik zum Opfer fallen und der empirischen Forschung Platz machen. Das ist die gleichermaßen destruktive und produktive Leistung KANTs. Sie ist möglich geworden, indem zugleich die nichtempirischen Bedingungen der Sachforschung aufgewiesen worden sind, und zwar als Reflexion auf die Formen von Anschauung und Denken, die aller empirischen Erkenntnis voraufgehen. Im Gedankenkreis dieser doppelten Leistung KANTs bewegt sich alles, was nach KANT intellektuell von Bedeutung ist. Er hat die Unersetzbarkeit der empirischen Forschung einerseits und der transzendentalen Vergewisserung ebendieser Empirie gezeigt. Dem ersten verdanken wir die Dekomposition und Ausdifferenzierung des gegenständlichen Wissens und dem zweiten die Thematisierung der Formen, unter denen dieses Wissen möglich ist. In der Pädagogik kommen beide Tendenzen zur Geltung: sie wird unvermeidlich philosophisch, wenn sie sich darauf besinnt, wie sie den Formgedanken mit den Bezügen auf Welt, auf die anderen und auf sich selbst zusammenbringt (vgl. PRANGE 2004). IV. Um diese These verständlich zu machen, ist noch einmal auf die oben schon angegebene Trias von Thema, Erziehen und Lernen zurückzukommen. Auf den ersten Blick sieht es so aus, als handle es sich hier in einer allgemeineren Fassung ‚nur‘ um das herkömmlich bekannte didaktische Dreieck von Lehrer, Schüler und Unterrichtsthema. Das ist nicht zu bestreiten und braucht auch nicht bestritten zu werden. Doch nicht richtig und zu kurz gegriffen ist die Ansicht, es gehe bei dieser Trias und dem didaktischen Dreieck um nicht mehr als eine nachgeordnete Formation zum Zwecke der didaktischen Instruktion, begrenzt auf schulischen Unterricht und insofern ungeeignet, den Reichtum und die Mannigfaltigkeit pädagogischer Beziehungen und Situationen auszuschöpfen. Tatsächlich verhält es sich umgekehrt. Das didaktische Dreieck hebt die die Erziehung kennzeichnende Struktur mit besonderer Klarheit hervor und zeigt, um welche Beziehungen es geht, wenn wir uns auf das Lernen anderer beziehen, und was wir dabei mindestens zu beachten haben. Anders gewendet: das didaktische Dreieck spiegelt den fundamentalen Zusammenhang des Welt-, Sozial- und Selbstbezugs und zeichnet die Operationen vor, durch die sich die Erziehung von anderen Praxen unterscheidet, unter anderem auch von der Reflexionspraxis der Philosophie. 103
Im Einzelnen bedeutet das: Wann und wo immer wir lernen, sei es durch andere oder mit anderen, sei es autodidaktisch für uns allein, wir lernen etwas. Das Lernen hat einen thematischen Pol, durch den der Weltbezug in Abhängigkeit davon artikuliert wird, wie wir uns zu uns selbst verhalten, sei es ausdrücklich reflexiv bei Vorhaben und Plänen, sei es unausdrücklich dann, wenn uns etwas zustößt oder sich unabweisbar in der Lebenserfahrung meldet. Was es nicht gibt, ist ‚das Lernen‘ an sich, auch dann nicht, wenn sich das Lernen darauf bezieht, wie gelernt wird und das Lernen gelernt werden soll. In diesem Grenzfall erscheint das Lernen als Thema, auf das sich das Lernen richtet. Er macht in besonders herausgehobener Weise deutlich, dass das Lernen prinzipiell den Bezug des Lernenden auf sich selbst voraussetzt. Wir können nicht für andere und an deren Stelle lernen; es ist unvertretbar individuell, auch dann, wenn wir mit anderen und von anderen lernen. Die Operation des Lernens verdankt sich dabei nicht einer vorgängigen Reflexion; sie ist vielmehr die Bedingung dafür, dass wir uns im Zuge der Anforderungen und Aufgaben, die die ‚Welt‘ an uns stellt, auf uns zurückwenden können und uns im Verhältnis dazu positionieren können. Kurz gefasst: Ohne Lernen kein Selbstbezug. Doch das Lernen ist nur eine notwendige, keine zureichende Bedingung für das Erziehen. Dabei haben wir es mit einer ganz anderen Beziehung und Operation zu tun, nämlich mit Kommunikation, in der wir uns auf das Lernen anderer beziehen, es stützen und fördern, aber auch begrenzen und im Grenzfall verhindern. Ob es sich um das Unterrichten oder das Ermahnen, um das Aufmerksammachen oder um das Missbilligen handelt, ob das erzieherische Handeln eingelagert ist in andere Tätigkeiten oder, wie etwa in der Strafe, als isolierte Maßnahme hervortritt: immer geht es um Operationen, durch die wir uns über Themen darauf beziehen, wie sich der Lernende im Einzelfall oder Gruppen von Lernenden zu diesen Themen und zu sich selbst verhalten. Kurz gefasst: ohne Weltbezug kein Thema und ohne Selbstbezug keine Adresse für das Erziehen. Was wir ‚Erziehung‘ nennen, ist insofern als ein Gefüge von Beziehungen zu verstehen, die sich in unterschiedlichen Operationen darstellen und in der je gegebenen Situation zusammenzuführen sind. Der Begriff der Erziehung, wie auch immer er konkret gebildet wird, hat diese Verhältnisse zu berücksichtigen, sei es, dass der Ausgang von den Themen oder im Blick auf die Lernvoraussetzungen gewählt wird, sei es, dass die Koordination der angegebenen Beziehungen selbst aufgegriffen und zum Leitfaden der Besinnung auf die Erziehung gemacht wird. In jedem Falle hat die Pädagogik als das Bewusstsein, das die Erziehung begleitet, prüft und selbst wieder anleitet, in sich die triadische Struktur von Welt-, Sozial- und Selbstbezug darzustellen, der sie sich verdankt. Geschieht es explizit, so ist sie ebendadurch philosophisch. Sie wiederholt unter dem Gesichtspunkt des Lernens und des Erziehens diejeni104
gen Dimensionen der Erfahrung, die in der ausdrücklich philosophischen Reflexion erstens als die Frage nach unserer Stellung zur Welt und dem, was wir von ihr wissen können, zweitens als die Frage nach unseren sozialen Verhältnissen und den Regeln, die dabei gelten sollen, und drittens als die Frage nach dem Verhältnis zu uns selbst entfaltet werden. Wie immer die Antworten dazu ausfallen, es sind Antworten auf die angegebenen Fragen und ihren Zusammenhang. Genau dies gilt auch für die Pädagogik, mit der Besonderheit, dass das angegebene Frageschema inhaltlich im Blick auf das Verhältnis von Lernen und Erziehen expliziert wird. Das bedeutet: die Antworten der Pädagogik sind Antworten auf die Frage, wie Welt-, Sozial- und Selbstbezug voneinander unterschieden und aufeinander bezogen werden können. Die Differenzen der Begriffs- und Theoriebildung stellen sich so gesehen als Differenzen und Variationen innerhalb eines Rahmens dar, der ihnen gegenüber invariant ist. Dadurch sind nicht nur in historisch beobachtender Einstellung Theorievergleiche möglich; wichtiger ist, dass dadurch ein Referenzsystem der Kritik gegeben ist und es möglich wird, die leitenden Begriffe der pädagogischen Diskussion zu prüfen und Vorschläge zu ihrer Revision zu machen. Mit dieser Funktion der internen Begriffsklärung, durch die der pädagogische Diskurs sich selbst organisiert und von anderen Diskursen und Praxen abhebt, geht eine andere Funktion einher, die gewissermaßen die Regelung der Außenbeziehungen betrifft. Indem die Pädagogik sich auf ihre eigenen Operationen besinnt und diese Besinnung der Form nach damit übereinstimmt, wie andere Praxen und Semantiken sich formieren, verfügt sie über ein Maß, wie sie das einarbeitet und berücksichtigt, was andere Disziplinen über die Welt, über soziale Beziehungen sowie darüber sagen, wie die Menschen sich zu sich selbst verhalten. Die Rezeption psychologischen und soziologischen, ethnographischen und geschichtlichen Wissens, aber auch die Rezeption der Ergebnisse der Wissenschaften, die für die Themen der Erziehung von Bedeutung sind, erfolgt unter den Bedingungen der pädagogischen Organisation des Welt-, Sozial- und Selbstbezugs, aber auch nur dann, wenn sie als diese Struktur gewusst und formuliert ist. Solange indes die Systembindung der Rezeption verkannt oder übersprungen wird, dürfte es dabei bleiben, dass zufällig und marktabhängig aufgegriffen wird, was die verschiedensten und unterschiedlichsten Wissenschaften an Resultaten anbieten. Nur wenn die Pädagogik pädagogisch rezipiert, das heißt: wenn sie selbstreferenziell auf das reagiert, was in ihrer akademischen und ihrer allgemeinen Umgebung sich ereignet, kann sie dazulernen und sich die Erkenntnisgewinne anderer Disziplinen zu eigen machen. Zusammengefasst ergibt sich daraus folgendes Ergebnis. Die philosophische Dimension der Pädagogik besteht weder darin, das ethische Vorwort zum sauren Geschäft des Erziehens und seiner empirischen Erforschung zu liefern, 105
noch darin, den bedürftigen Pädagogen eine Vorstellung vom Reichtum der ‚geistigen Welt‘ zu verschaffen. Ihre Bedeutung betrifft vielmehr erstens die Selbstorganisation und Identifizierung des pädagogischen Wissens und des darauf gegründeten Könnens. Insofern macht sie empirische Forschung in ihren verschiedenen Varianten überhaupt erst möglich und verortet diese im System der Pädagogik. Zweitens ermöglicht die philosophische Dimension der Pädagogik die Einarbeitung und den Anschluss an anderes Wissen, sei es empirisch gewonnen, sei es als Reflexionswissen. Damit ist sie erste Voraussetzung für die Möglichkeit einer Orientierung für die Erfahrung der Erziehung. Literaturverzeichnis DAVIDSON, DONALD (2004): Subjektiv, intersubjektiv, objektiv. Frankfurt/Main: Suhrkamp FLITNER, WILHELM (1970): Allgemeine Pädagogik. 13. Aufl. Stuttgart: Klett HERBART, JOHANN F. (1989a): Über die ästhetische Darstellung der Welt als das Hauptgeschäft der Erziehung. In: HERBART, JOHANN F.: Sämtliche Werke, Teil 1, hrsg. v. Karl Kehrbach u. Otto Flügel. Aalen: Scientia S.259-274 HERBART, JOHANN F. (1989b): Allgemeine Pädagogik aus dem Zweck der Erziehung abgeleitet. In: HERBART, JOHANN F.: Sämtliche Werke, Teil 2, hrsg. v. Karl Kehrbach u. Otto Flügel, Aalen: Scientia, S.1-139 KANT, IMMANUEL (1781): Kritik der reinen Vernunft. Riga: Hartknoch KANT, IMMANUEL (1787): Kritik der reinen Vernunft. 2. Aufl. Riga: Hartknoch KOCH, LUTZ (2002): Pädagogik als angewandte Philosophie. In: BÖHM, WINFRIED (Hrsg.): Pädagogik – wozu und für wen? Stuttgart: Klett-Cotta, S.138-156 PIEPER, ANNEMARIE (1998): Philosophische Disziplinen. Leipzig: Reclam (Reclam-Bibliothek; 1643) PRANGE, KLAUS (2000): Die Erfahrung der Erziehung. In: DERS.: Plädoyer für Erziehung. Baltmannsweiler: Schneider, S.29-77 PRANGE, KLAUS (2004): Form. In: BENNER, DIETRICH/OELKERS, JÜRGEN (Hrsg.): Historisches Wörterbuch der Pädagogik. Weinheim [u.a.]: Beltz, S.393-408 REICHENBACH, ROLAND (2007): Philosophie der Bildung und Erziehung. Eine Einführung. Stuttgart: Kohlhammer
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Von der Unentbehrlichkeit zur Entbehrlichkeit ,allgemeiner Wissenschaft‘ im Falle von Erziehung und Bildung Dietrich Hoffmann
I. Im Rahmen der von der Erziehungswissenschaftlichen Fakultät der Universität Göttingen veranstalteten ‚Steinhorster Gespräche‘ ist im Herbst 1997 die ,gegenwärtige Struktur der Erziehungswissenschaft‘ analysiert worden (HOFFMANN/ NEUMANN 1998a). In der Einleitung zu dem Dokumentationsband ist davon die Rede, dass dabei „die Entstehung und Entwicklung der Teildisziplinen … und ihr Verhältnis zur Allgemeinen Pädagogik sowie die Beziehungen der Subdisziplinen untereinander und – gegebenenfalls – [die; D.H.] zu den Nachbarwissenschaften“ reflektiert werden sollten (HOFFMANN/NEUMANN 1998b, S.8). In den Beiträgen wurde deutlich, dass der Erziehungswissenschaft im Ganzen die ‚integrierende Idee‘ fehlte, ‚inzwischen‘ muss man im Hinblick darauf sagen, dass jahrzehntelang die Geltung eines ,pädagogischen Grundgedankengangs‘ beschworen worden war. Freilich geschah dies überwiegend in der ‚Epoche‘ der Geisteswissenschaftlichen Pädagogik, d.h. zur Zeit paradigmatischer Eindimensionalität (vgl. u.a. FLITNER 1957, S.9), die von einer ‚pädagogischen Idee‘ getragen wurde, von der man annahm, dass sie sich in der Geschichte entfalte. Was sich seitdem ereignet hatte, habe ich seinerzeit in meinem einleitenden Beitrag unter dem Titel ‚Wie die Disziplin ihr Wissen strukturiert – und wie sie es strukturieren sollte‘ fast gänzlich im Dunkeln gelassen. Damals ging es mir – im Sinne des Programms des Symposiums – in der Hauptsache um die Beschreibung des Ist-Zustandes, und zwar in seiner Empirie. Dafür genügte der Hinweis auf die Verwendung des Plurals ,Erziehungswissenschaften‘ seit Beginn der 1990er Jahre (vgl. MACKE 1990, ROEDER 19901), verbunden mit dem auf die Existenz verschiedener ,Kommunikationsgemeinschaften‘ (vgl. TENORTH 1990, vgl. insgesamt HOFFMANN 1998, S.15f.). Ich bin dann zwar noch auf die Vorschläge von JÜRGEN OELKERS und HEINZ-ELMAR TENORTH im 27. Beiheft der Zeitschrift für Pädagogik aus dem gleichen Jahr eingegangen, mit denen sie 1 Allerdings schlägt PETER MARTIN ROEDER im Schluss seines Beitrages eine Volte rückwärts zum Singular (ROEDER 1990, S.668f.).
das Problem des ,pädagogischen Wissens‘ eingeführt hatten, da mir die klare Unterscheidung von ,Erklärungswissen‘ und ,Handlungswissen‘ daran unmittelbar anschlussfähig zu sein schien (vgl. DEWE et al. 1992, S.74). Diese Unterscheidung hat zur Konsequenz, dass eine Strukturierung des Wissens nach seiner ‚sozialen Geltung‘ als ‚Professionswissen‘ geeignet ist, zumindest eine relative Übersichtlichkeit zu schaffen.2 Freilich kommt dann alles darauf an, wie man ‚sozial‘ interpretiert. HERMANN GIESECKE hat vor Kurzem eingewendet, dass das erziehungswissenschaftliche Wissen immer mehr, statt in nachvollziehbar systematischer Weise geordnet, in ‚Lagertheorien‘ gegliedert vorgefunden wird. Schon die erwähnte Diagnose, nicht erst ihre Kritik, spricht dafür, dass einer Allgemeinen Pädagogik/Erziehungswissenschaft schrittweise die Grundlagen entzogen werden, wenn man darunter nicht eine vollkommen unabhängige, weder auf genau angegebene Gegenstände, Methoden und Aufgaben noch auf konkret bezeichnete Verwendungen gerichtete (Teil-)Disziplin, also etwas gänzlich Neues, verstehen will. Da dies nicht der Fall zu sein schien, bin ich darauf nicht weiter eingegangen.3 Dieses hole ich im Folgenden nach. In der Enzyklopädie Erziehungswissenschaft haben die Herausgeber des ersten Bandes, DIETER LENZEN und KLAUS MOLLENHAUER, augenscheinlich die nämlichen Schwierigkeiten gehabt, wenn auch aus einem anderen Grunde. Anfang der 1980er Jahre beruhigte sich der Streit um das ‚richtige‘ Paradigma der Erziehungswissenschaft zwar bereits, aber eine Gliederung nach Handlungsfeldern stand damals noch nicht zur Debatte. Da innerhalb des geplanten Abschnitts ‚Konzepte und Positionen der Erziehungswissenschaft‘ eine allgemeine Erziehungswissenschaft oder Pädagogik nicht behandelt werden konnte, wird diese (nur) im ersten Beitrag des Teils ‚Die historische Dimension von Erziehung und Bildung‘ erwähnt: Hier beschäftigt sich ULRICH HERRMANN mit der ‚Erziehung und Bildung in der Tradition Geisteswissenschaftlicher Pädagogik‘. Diese Traditionslinie galt den Beteiligten als die Vorgängerin aller
2 Ich übergehe, dass dies nicht zugleich bedeuten kann, dass in Studiengängen zu verfolgende ‚Studieninteressen‘ ausschlaggebend sein durften. Wo dies eintrat, obschon die Logik der Forschung und die Logik der Lehre nichts miteinander zu tun haben, sind ‚pädagogische‘ bzw. ,erziehungswissenschaftliche Wechselbälger‘ entstanden, „in denen Unvereinbares verbunden und Zusammenhängendes getrennt wurde“ (HOFFMANN 1998, S.26). Dieser Sachverhalt gibt einen Grund dafür ab, dass ich bisher uneingeschränkt für den Erhalt ‚allgemeiner Wissenschaft‘ eingetreten bin. Es müsste meiner Ansicht nach möglich sein, ‚abweichende‘ Meinungen auf eine ‚herrschende‘ zu beziehen, um zumindest Widersprüche zu erkennen und aufzulösen. Die Frage ist aber, ob sich die Bedingungen nicht derart geändert haben, dass eine solche Erwartung illusionär geworden ist. 3 Auf dem Symposium und in dem entsprechenden Buch hat sich REINHARD UHLE mit dem Problem beschäftigt (UHLE 1998). Ich komme weiter unten darauf zurück.
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anderen Paradigmen, die unter geschichtlicher Perspektive gerechterweise erwähnt werden musste4. Bei HERRMANN heißt es: „Gegenstand der Systematischen Pädagogik (gewöhnlich Theoretische oder Allgemeine Pädagogik genannt) ist die Bestimmung der Voraussetzungen von Erziehungs- und Bildungsvorgängen, von Lehr-, Lernund Sozialisationsprozessen, zum einen ausgehend von der Erziehungs- und Bildungsbedürftigkeit und -fähigkeit des Menschen … Zum anderen wird der zu Erziehende als zu vergesellschaftendes Subjekt betrachtet … Gegenstand … ist die Entwicklung einer umfassenden Theorie der Genese der Person als sittliches und des Individuums als vergesellschaftetes Subjekt und die dialektische Vermittlung beider …“ (HERRMANN 1995, S.29f., ähnlich TENORTH 1984, S.50; Hervorhebungen im Original). Nimmt man den Katalog der in der Definition genannten Aufgaben ernst, die ich nur verkürzt zitieren konnte, bleibt kein Zweifel möglich, dass die Allgemeine Pädagogik/Erziehungswissenschaft unabhängig von dem ,konventionellen‘ Rahmen5 sowohl quantitativ als auch qualitativ an Forschung und Lehre ebensolche Anforderungen stellt wie andere Subdiziplinen auch. Da jene die betreffenden Fragen nicht beantworten und die damit entdeckten Probleme nicht lösen können, ist evident, dass sie der Sache nach unentbehrlich ist, es sei denn, man kümmert sich nicht um die Grundlagen des Handelns und Denkens – und belässt es bei der Wahrnehmung der empirischen Elemente und Einzelheiten der ,Erziehungswirklichkeit‘ bzw. der pädagogischen Realität. Wenn man die Veröffentlichungen betrachtet, die unter den vielen Allgemeinen Pädagogiken seit ihrem ersten Erscheinen ,bedeutungsvoll‘ überdauert haben – und nimmt man die hinzu, deren Verschwinden von den einschlägigen Listen nicht der eigenen Schwäche, sondern der Stärke der jeweiligen Moden zu verdanken ist, entsprechen diese Schriften nicht nur der damit verbundenen theoretischen oder praktischen Intention, sondern erfüllen zugleich eine metatheoretische Funktion. 4 „Die Renaissance des Historischen verläuft nach einer Abklärung der Konzepte erziehungswissenschaftlicher Geschichtsschreibung“ (LENZEN/MOLLENHAUER 1995b, S.18). Dieser Hinweis kann so missverstanden werden, als sei die Historiographie eine isolierbare Intention der Geisteswissenschaftlichen Pädagogik, und nicht ihr wesentliches Motiv (DILTHEY o.J., S.15), nämlich die notwendige ‚Auffassung der historischen Schule‘. Das Missverständnis wird möglicherweise dadurch befördert, dass die Geisteswissenschaftliche Pädagogik im zweiten Abschnitt des Bandes von HANS THIERSCH noch einmal gesondert dargestellt wird. Auch ULRICH HERRMANN ist der Meinung, dass das betreffende Konzept bis heute nicht zurückgenommen wurde, zumal es einen ‚Reflexionshorizont‘ besitzt, „innerhalb dessen unterschiedliche Theoriekonzepte samt ihren methodologischen und praxisbezogenen Implikationen in ihrer Komplementarität erkennbar und kritisierbar werden“ (HERRMANN 1995, S.29). 5 Im Sinne der ,Vereinbarungen‘ paradigmatischer Art, von denen THOMAS S. KUHN spricht (KUHN 1976, S.186, 199), in allen möglichen Paradigmen (vgl. LENZEN/MOLLENHAUER 1995a Abschnitte B und C).
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JOHANN FRIEDRICH HERBART wollte mit seiner ‚Allgemeinen Pädagogik‘ von 1806, noch mehr aber wohl mit dem ,Umriss pädagogischer Vorlesungen‘ von 1841 eine Neubestimmung der Pädagogik und deren Absicherung durch die Erhebung zur Wissenschaft erreichen (MICHAEL 1987, S.64, bes. S.68). WILHELM DILTHEY beabsichtigte mit seiner Abhandlung ‚Über die Möglichkeit einer allgemeingültigen pädagogischen Wissenschaft‘ aus dem Jahre 1888, HERBARTs – aus seiner Sicht gescheiterten – Versuch durch einen im Sinne der ‚historischen Schule‘ zu ersetzen, da die Pädagogik „eine Wissenschaft im modernen Verstande noch gar nicht sei“ (DILTHEY o.J., S.16). Und WILHELM FLITNER legte 1950 eine „systematische Behandlung der pädagogischen Fragen“ vor, da „die Pädagogik“ nach seiner Auffassung „ihre selbständige Stellung unter den praktischen Geisteswissenschaften eingenommen“ und „ihren philosophischen Charakter wiedergefunden hat“, so dass sie „das Material der positiven Forschung in die philosophische Reflexion hineinnehmen und damit zugleich der erzieherischen Praxis dienen“ kann (FLITNER 1957, S.10, 15). Seine Allgemeine Pädagogik (weitere vgl. UHLE 1998, S.111) sollte die Teildisziplin wieder zur herrschenden erziehungswissenschaftlichen Richtung nach dem Stand von 1933 machen, der zur damaligen Zeit allerdings nur in Ostdeutschland wirklich gefährdet war. II. Schon ein Jahrzehnt später war die Lage eine völlig andere. Diese Tatsache ist auf drei Ebenen zu rekonstruieren: Erziehung und Bildung wurden nicht mehr nur als ,Erziehungswirklichkeit‘ in der Perspektive der Geisteswissenschaften, sondern auch aus dem Blickwinkel der Natur- und der Sozialwissenschaften wahrgenommen, außer Hermeneutik sind methodologisch Empirik und Kritik als Analyseinstrumente eingeführt worden (vgl. ROTH 1962). Vor allem aber wurde aus der singularen bzw. ‚monogenen‘ Pädagogik die plurale bzw. ,multiple‘ Erziehungswissenschaft, innerhalb derer die neuen Richtungen bzw. Paradigmen in alter Manier um die Vorherrschaft stritten (vgl. z.B. BREZINKA 1971, HOFFMANN 1980, auch noch KÖNIG/ZEDLER 1998). Niemand konnte damals mit gutem Gewissen eine Allgemeine Pädagogik verfassen, aber alle Positionen entfalteten metatheoretisch die Grundbegriffe und Theorien ihrer Konzepte bzw. solcher, denen sie zuneigten. Als Beispiele nenne ich nur WOLFGANG BREZINKAs ,Metatheorie der Erziehung‘ von 1978 (vgl. BREZINKA 1978), eigentlich die vierte Auflage der erwähnten Veröffentlichung von 1971, aber bereits mit der deutlichen Tendenz zur ,Praktischen Pädagogik‘ von 1986, die am ehesten als Allgemeine Pädagogik nach dem Gusto des Autors gelesen werden 110
kann, meine eigene ,Kritische Erziehungswissenschaft‘ (vgl. HOFFMANN 1978) und ECKARD KÖNIGs ,Erziehungswissenschaft als praktische Disziplin‘, vor allem im dritten Band seiner ,Theorie der Erziehungswissenschaft‘ (vgl. KÖNIG 1978). In den genannten Büchern6 werden im Wesentlichen die Punkte behandelt, die HERRMANN in seiner Definition des Gegenstandes der Allgemeinen Pädagogik aufzählt, genauer: jene, die nach der Eigenart des betreffenden Konzepts darin vorkommen können: BREZINKA lehnt den wissenschaftlichen Diskurs über Normen und Regeln ab, den KÖNIG ausführlich begründet – und ich selbst habe die bloße ,Rekonstruktion‘ der Gesellschaft durch die Sozialisation, die HERRMANN für notwendig hält7, als ,ideologisch‘ kritisiert8. Aus Göttinger Sicht ist erwähnenswert, dass HANS THIERSCH in einem Buch einer von MOLLENHAUER herausgegebenen Reihe im Jahre 1978 ,Die hermeneutisch-pragmatische Tradition der Erziehungswissenschaft‘, die er einst zusammen mit anderen 1968 zu Grabe getragen hatte (vgl. DAHMER/KLAFKI 1968), augenscheinlich WILHEIM FLITNER zuliebe zur ,Klammer‘ der Entwicklung von 1800 bis ,nach 1950‘ erklärt, wobei er diese Perspektive noch bis hin zur ,realistischen Wende‘ HEINRICH ROTHs weitet (vgl. THIERSCH 1978). Für mich ist dieses ein befremdlicher Vorgang, auf den ich mit meiner Einführung geantwortet habe (vgl. HOFFMANN 1980). Es liegt auf der Hand, dass die perspektivischen Darstellungen keine verbindende oder gar vereinheitlichende Wirkung haben konnten. Sie waren sozusagen ‚besondere‘ Pädagogiken – mit der Folge der Unübersichtlichkeit sowohl 6 Ich habe die vorliegende Auswahl getroffen, da die genannten Autoren sowohl Überblicke über alle zur damaligen Zeit erwähnenswerten ‚wissenschaftstheoretische Richtungen‘ vorgelegt haben (s.o.), als auch zu der von ihnen bevorzugten bzw. selbst vertretenen. Bei KÖNIG ist dieses Verhältnis besonders auffällig, da er die Richtungen im ersten Band bespricht, den zweiten den ‚Normen und ihrer Rechtfertigung‘ widmet und erst im dritten auf sein eigenes, an die ‚Erlanger Schule‘ der Philosophie anknüpfendes Konzept eingeht. Auch BREZINKA ist später noch einmal konkreter geworden – in Richtung auf eine ‚praktische‘ Allgemeine Pädagogik (BREZINKA 1986). Einer der Wenigen, die vergleichbare Texte der DDR-Pädagogik in ähnliche Überlegungen einbezogen haben, ist ROLF HUSCHKE-RHEIN (vgl. HUSCHKE-RHEIN 1984, S.37f.). Es versteht sich von selbst, dass die ‚Schulpädagogik‘ im anderen deutschen Staat, auf der der Schwerpunkt lag, einer ‚ideologischen‘ Absicherung z.B. durch Pädagogen der UdSSR (vgl. KOROLJOW/GMURMAN [1967] 1973), aber auch durch die Akademie der Pädagogischen Wissenschaften der DDR bedurfte (vgl. NEUNER 1973 bzw. 1989). Der zur Verfügung stehende Raum gestattet es mir nicht, darauf genauer einzugehen. 7 Aus den oben zitierten Arbeitsrichtungen ergibt sich für ULRICH HERRMANN als Aufgabe der Allgemeinen Pädagogik „die systematische Rekonstruktion und Verknüpfung aller wesentlichen Faktoren, Strukturen, Instanzen und Institutionen – seien es kulturelle Normen, wissenschaftliche Theorien, Personen(gruppen), schulische und außerschulische Einrichtungen –, die … pädagogisch intendiert, relevant oder bedingt sind“ (HERRMANN 1995, S.30, vgl. HOFFMANN 1998, S.23; Hervorhebungen im Original). 8 Ein Beispiel für den direkten Anspruch des Besonderen aufs Allgemeine sind KLAUS MOLLENHAUERs ,Theorien zum Erziehungsprozeß‘ von 1972, erschienen als Band 1 der Reihe ,Grundfragen der Erziehungswissenschaft‘.
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für die Erkenntnis- als auch für die Handlungsinteressen.9 Für diejenigen, die daran festhielten, dass die Pädagogik/Erziehungswissenschaft nicht nur die Theorie einer Praxis ist, sondern dass sie „als Theorie der Erziehung auch Besinnung auf die Gestaltung einer Praxis“ einschließt (ROTH 1962, S.484), war das nicht hinnehmbar. ROTH schlug deshalb vor, um dem in den Gegensätzen der Paradigmen begründeten Streit entgehen zu können, die Pädagogik/Erziehungswissenschaft als ‚Integrationswissenschaft‘ zu begreifen. Die Aufgabe der Pädagogik ist komplex; die historisch begründete Differenzierung der Einzelwissenschaften im Allgemeinen und die der Erziehungswissenschaft(en) im Besonderen stimmt mit keinem ihrer Probleme derart überein, dass durch sie geeignete Lösungen gleichsam linear abgeleitet werden können: „Pädagogik kann diese ihre Aufgabe nur in Kooperation einerseits mit den Wissenschaften vom Menschen, andererseits mit den Sachwissenschaften lösen“ (ebd.). Da diese insbesondere als Natur- und Sozialwissenschaften die Wirklichkeit aber jeweils unter ihren eigenen Erkenntnisinteressen analysieren, interpretieren und gegebenenfalls kritisieren, muss die Pädagogik die notwendige Integration der unterschiedlichen Perspektiven unter einer ,pädagogischen Fragestellung‘ vornehmen. Sie untersucht – exemplarisch gesprochen – „nicht primär die Natur des Menschen, wie sie ist, was Biologie und Psychologie tun, sondern sie fragt nach der Veränderlichkeit dieser Natur, nach der Kultivierbarkeit und Bildsamkeit des Menschen …“ (ebd., S.482)10; sie berücksichtigt die ,Entwicklungstatsache‘. Im Vorwort zum ersten Band seiner ‚Pädagogischen Anthropologie‘, der 1966 erschien, weist ROTH darauf hin, dass er diese „als eigenständigen pädagogischen Integrationsversuch der Wissenschaften vom Menschen unter der pädagogischen Fragestellung“ betrachtet (ROTH 1966, S.12). Eine so verstandene pädagogische Anthropologie dachte er als einen Zusammenhang, der zwar der Allgemeinen Pädagogik zugehöre, aber prinzipiell ausgliederungsfähig sei (vgl. ebd., S.11). Nach seiner Auffassung konnte eine Allgemeine Pädagogik nach Lage der Dinge in den 1960er Jahren nur noch so konzipiert sein. Die Tatsache, dass er für dieses Konzept einen ersten Band von etwa 500 und – fünf Jahre später, 1971 – einen zweiten mit 650 Seiten benötigte, zeigt allerdings, dass auch seine von ihm selber 1961 in seiner Antrittsvorlesung geforderte Vorgehensweise nicht zur Übersichtlichkeit der Pädagogik/Erziehungswissen9 S.o. auch ‚Erklärungs-‘ und ‚Handlungswissen‘. 10 Hinweise auf die Eigenart der ,pädagogischen Fragestellung‘, die wissenschaftstheoretisch betrachtet an die Stelle des ,pädagogischen Grundgedankengangs‘ tritt, der z.B. für WILHELM FLITNER für die (Allgemeine) Pädagogik und ihre Systematik konstitutiv ist, durchziehen die Äußerungen HEINRICH ROTHs bis in das Vorwort des 50. Bandes der Gutachten und Studien der Bildungskommission des Deutschen Bildungsrates zur ,Bildungsforschung‘ (ROTH/FRIEDRICH 1975, S.30), sind aber auch schon in früheren Veröffentlichungen (1958ff.) vorhanden (zur Darstellung der Erziehungswissenschaft als ‚Integrationswissenschaft‘ vgl. HOFFMANN 1980, S.132-142).
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schaft führen konnte (vgl. ROTH 1962).11 Dabei hat er selbst erhebliche Reduktions- und Transformationsleistungen erbracht. Jedoch war der Gegenstand ‚intern‘ nicht zu begrenzen, wie das von einer metatheoretischen Position her zumindest möglich gewesen wäre; ROTH musste alle ‚extern‘ verfügbaren Informationen auf ihre Möglichkeit der Integration hin überprüfen – und gegebenenfalls berücksichtigen. Und dabei hat er schließlich darauf verzichtet, die Thematik – wie er sagt – „mit einer Gesellschaftstheorie zu verbinden“ (ROTH 1976, S.65)12: der geplante dritte Band wurde nicht ausgeführt. Der Versuch ROTHs war konsequent, aber die Entwicklung ging über seine Anthropologie hinweg, gleichgültig, ob dies geschah, weil die Adressaten sie als Allgemeine Pädagogik lasen oder nicht. Ähnliche Bemühungen z.B. von KARL DIENELT und HELMUT DANNER hatten ebenfalls keinen Erfolg (vgl. DIENELT 1970, 1999; DANNER 1985).13 Jemand hätte sich das Konzept zu Eigen machen müssen, und zwar in der skizzierten Funktion. Genau das geschah nicht, da sich in den 1980er Jahren jenes Prinzip ,radikaler Pluralität‘ durchsetzte, das in einer ungefestigten Disziplin wie der Erziehungswissenschaft jeglichen, d.h. auch den vernünftigen Konventionalismus auflöste, ohne den Denk- bzw. Kommunikationsgemeinschaften nicht wirksam werden können (vgl. ROEDER 1990). Die sogenannte Postmoderne hub an. Wenn jede Form eines mehr oder weniger angestrengten Nachdenkens als ‚Schaffung von (relevantem) Wissen‘ gilt und Unübersichtlichkeit zum Wissenschaftsprinzip wird, ist Allgemeine Pädagogik – im geschilderten Sinne – nicht nur entbehrlich, sondern sogar störend (vgl. HOFFMANN/UHLE 1994). Paradox an diesem Vorgang war, dass die (teilweise) Verwissenschaftlichung der Ausbildung für die pädagogischen Berufe und die (oberflächliche) Pädagogisierung verschiedener Lebensbereiche weiterging, zugleich damit aber die Verantwortung der Theorie für die entsprechende Praxis – unter Berufung auf ein vorgeblich zwingendes Prinzip der Zweckfreiheit der
11 Dass es sich um ein umfassendes, bei Gelegenheit ausuferndes Gebiet handelt, ist nicht neu. Schon bei HERBART muss man genaugenommen die ‚Lehrbücher‘ zur Psychologie (zuerst 1816) und der Philosophie (in der dritten verbesserten Auflage 1834) hinzunehmen, bei FLITNER das ‚Selbstverständnis der Erziehungswissenschaft in der Gegenwart‘ (1957) und die ‚Europäische Gesittung‘ (1961), wenn man einen vollständigen Eindruck erhalten will (s.o.). Und auch bei DILTHEY sollte man die bei der Neuausgabe der ‚Pädagogischen Schriften‘ rekonstruierte ,Systematische Allgemeine Geisteswissenschaftliche Pädagogik‘ zu Rate ziehen (HERRMANN 1995, S.29), weil die sogenannte Allgemeingültigkeitsabhandlung lediglich einem Ausschnitt gewidmet ist. 12 Dies betrifft den nach HERRMANNs Definition ‚zweiten Teil‘ der Aufgabe: „Zum anderen wird der zu Erziehende als vergesellschaftetes Subjekt betrachtet …“ (HERRMANN 1995, S.30). 13 Auf die Länge der Zeit wurde die Pädagogische Anthropologie durch die Historische Anthropologie ersetzt, auf deren Eigenart ich hier nicht eingehen kann (beispielhaft WULF 1997). Der Vorgang ist aber bezeichnend für die ‚Normalisierung‘ der Erziehungswissenschaft, auf die ich weiter unten kurz zu sprechen komme.
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Wissenschaft – zurückgewiesen wurde (vgl. HOFFMANN 1992).14 Die daraus folgende ‚Entlastung‘ machte es möglich, auf die Verfolgung eines ‚pädagogischen Grundgedankengangs‘ oder einer ,pädagogischen Fragestellung‘ sowie auf die Verwicklung in das aufs Handeln gerichtete Denken von Hilfs- oder Nachbarwissenschaften zu verzichten. III. Vor knapp 20 Jahren veröffentlichten LUDGER HELM, HEINZ-ELMAR TENORTH, KLAUS-PETER HORN und EDWIN KEINER unter dem Titel ‚Autonomie und Heteronomie. Erziehungswissenschaft im historischen Prozeß‘ eine Untersuchung, deren Ergebnis für die Geltung des bzw. eines Allgemeinen in der Pädagogik/Erziehungswissenschaft aufschlussreich war – und nach der Lage der Dinge wohl auch heute noch sein müsste: „Die wissenschaftliche Pädagogik ist … in vielen Dimensionen nicht nur eine besondere, sondern auch noch eine fremdbestimmte Disziplin, sowohl in der Rekrutierung wie in der Ausbildung von anderen Fächern abhängig“ (HELM et al. 1990, S.45). Die Selbstrekrutierungsquote des Faches lag damals (und ab 1962) bei 11,4 Prozent, wird ein ‚hartes‘ Kriterium angelegt, und bei immer noch mageren 60,5 Prozent, wird ein ‚weiches‘ Analysekriterium angelegt (ebd., S.44f.). GERD MACKE hat zur gleichen Zeit untersucht, wie es sich mit dem ‚Gesamtgewicht‘ der Allgemeinen Pädagogik zu dem aller spezialisierten Teildisziplinen verhielt. Er fasst die Ergebnisse über vier Zeiträume von 1945 bis 1985 so zusammen: „Die Allgemeine Erziehungswissenschaft ist zwar über den gesamten Untersuchungszeitraum stärkste Teildisziplin, ihr Gewicht im Spektrum der Gesamtdisziplin ist jedoch kontinuierlich zurückgegangen, von einem Anteil von fast zwei Drittel auf
14 Das geschah, obschon die Wissenschaftlichkeit u.a. der (naturwissenschaftlichen) Medizin (Heilen), der geisteswissenschaftlichen Jurisprudenz (Rechten), der sozialwissenschaftlichen Politologie (Beraten) von niemandem in Zweifel gezogen wird, von den diversen Technikwissenschaften ganz abgesehen, die ihre Existenz überhaupt nur einem praktischen Interesse verdanken. EDWIN KEINER hat in seiner Untersuchung der Kommunikation innerhalb der Disziplin darauf hingewiesen, dass die Behandlung der Praxis durch Praktiker schon in den Jahren um 1960 auffällig nachlässt (KEINER 1999, S.161), da offenbar an ihrer Beteiligung kein Interesse mehr besteht. Entscheidend ist, dass trotz gegenteiliger Beteuerungen augenscheinlich zunächst niemand den entsprechenden Part übernimmt; erst „in der Phase personeller Expansion ist es insbesondere der publizierende akademische Mittelbau, der diesen Rahmen besetzt und sichert“ (ebd., S.259). Sein Fazit insgesamt: „Die Erziehungswissenschaft … entledigt sich der pädagogischen Profession und übt zugleich Distanz zu den Nachbarwissenschaften, um in dieser Differenz ihr disziplinäres … Profil ausbilden zu können“ (ebd.). Wie sollte sie auf diese Weise zu einer ‚integrativen Handlungswissenschaft‘ o.ä. werden?
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zuletzt weniger als ein Drittel15; d.h. die Allgemeine Erziehungswissenschaft hat im Verlauf der Entwicklung über die Hälfte ihres ursprünglichen Gewichts eingebüßt“ (MACKE 1990, S.63). Die Gewichte von ‚Allgemeinem‘ und ‚Spezialisiertem‘ sind vertauscht. PETER M. ROEDER vermutet unter Hinweis auf die Angaben von HELM et al., dass „in dem ungewöhnlich hohen Anteil von aus anderen Disziplinen rekrutiertem wissenschaftlichen Nachwuchs16… eine Schwächung der Identifikation mit der Erziehungswissenschaft als ganzer“ folgen könne, zumal die „unterschiedliche methodologische Orientierung von Erziehungswissenschaftlern … so weit fortgeschritten ist, daß man von Verständnisbarrieren sprechen muß“ (ROEDER 1990, S.658). REINHARD UHLE hat aus diesen und wohl auch aus anderen Gründen TENORTHs den historischen Wandel berücksichtigende Bemerkung aufgegriffen, die in Rede stehende ,Betriebseinheit‘ sei die der ,Spezialisten für das Allgemeine‘ (UHLE 1998, S.105, vgl. TENORTH 1984, S.62). UHLE geht sogar noch einen Schritt weiter: Er spricht von der Allgemeinem Pädagogik als von einem ,Restgebiet‘. Aus der Existenz der approbierten Spezialdisziplinen sei demnach zu folgern, dass die Allgemeine Pädagogik vieles gar nicht tun dürfe, so z.B. historisch oder vergleichend verfahren (s. Historische und Vergleichende Erziehungswissenschaft). Inzwischen hat sich die Lage – pessimistisch gedeutet – weiter verschärft. Wird die Deutsche Gesellschaft für Erziehungswissenschaft angeschaut, so gibt es zwar eine Sektion Allgemeine Erziehungswissenschaft. In dieser aber bestehen vier selbstständige Kommissionen, nämlich Bildungs- und Erziehungsphilosophie, Pädagogische Anthropologie, Wissenschaftsforschung und Erziehungswissenschaftliche Biographieforschung. Die Übereinstimmung mit der zitierten Definition bzw. Differenzierung von HERRMANN ist frappierend. Nach dem Selbstverständnis der für die Strukturierung Verantwortlichen aber wird das Restgebiet von denen gebildet, die nicht zur selbstständigen Sektion taugen oder nirgends sonst zuzuordnen sind. Hier sammelt sich sozusagen der ‚zusammengekehrte Rest‘ – unter der Führung der Philosophie. Ein Rückfall in die Zeit vor 1806?17 15 Exakt waren es 63 : 37% versus 23:73% „mit den größten Anteilen bei der Schulpädagogik (23%), bei den speziellen ‚Pädagogiken (18%), der Sozialpädagogik (über 8%) und der Vergleichenden Erziehungswissenschaft (knapp 8%) (MACKE 1990, S.62). Es versteht sich von selbst, dass daraus nicht geschlossen werden kann, alle zu den 73% Gehörigen seien an den Inhalten einer Allgemeinen Pädagogik als Abbreviatur eines Konzepts uninteressiert. KEINER erwähnt, dass die Schulpädagogik von den Vertretern außerschulischer erziehungswissenschaftlicher Bereiche häufig als ‚geheime Allgemeine Erziehungswissenschaft‘ betrachtet wird (KEINER 1999, S.180). 16 Je nach dem Anspruch liegt deren Anteil zwischen 55,6 und 70,4%. Man stelle sich das bei den oben erwähnten Medizinern und Juristen oder in Bezug auf irgendeine andere Wissenschaft vor. 17 Niemand hätte die Allgemeine Pädagogik früher ‚zerlegt‘. In dem Protokoll der konstituierenden Sitzung der Sektion ist festgehalten: „Alle vier Kommissionen verstanden sich nicht an ein spezielles Handlungsfeld angebunden“ (Erziehungswissenschaft 10 [1999]. H.20, S.71).
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UHLE weist in einer Aufzählung neuerer Veröffentlichungen zur Allgemeinen Erziehungswissenschaft darauf hin, dass inzwischen die Spezialisten die traditionellen Inhalte selbst behandeln, statt sie sich von den Generalisten vorgeben zu lassen (UHLE 1998, S.110). Aus meiner Sicht wäre dagegen nichts zu sagen, wenn sie sich dabei an Gemeinsames hielten oder Trennendes überwänden. Doch das geschieht nicht: sie fühlen sich im Ernstfall nicht an ein allgemeines Theoriefeld ‚angebunden‘ (s. Anmerkung 17). Die Gründe dafür liegen auf der Hand. Bei den einschlägigen Veröffentlichungen, denen man nur mit sorgfältiger Rezension gerecht werden könnte, zu der hier der Raum fehlt, handelt es sich meist um Lehrbücher, die auf den Anteil Allgemeiner Pädagogik in den diversen Studiengängen abgestellt sind, der – vorsichtig gesprochen – aus traditionellen Gründen darin festgelegt oder dafür empfohlen worden ist (vgl. bezüglich ihrer Festsetzung u.a. DEUTSCHE GESELLSCHAFT FÜR ERZIEHUNGSWISSENSCHAFT 2001, 2006, 2008): Grundlagen der Erziehungswissenschaft, Bedingungen von Bildung, Ausbildung und Erziehung, Bildungsforschung und Forschungsmethoden etc. Die Antworten, die in den betreffenden Einführungen gegeben werden, sind eher subjektiv als objektiv, eher pragmatisch als systematisch, da die Verfasser bereits zu den Generationen von Erziehungswissenschaftlern gehören, in deren Sozialisation die Allgemeine Pädagogik als disziplinäres Bewusstsein eine immer geringer werdende Rolle gespielt hat. Was auf dieser dürftigen Grundlage zustande kommt18, ist zum ‚Wissenschaftsbekenntnis‘ – in säkularer Analogie zum ‚Glaubensbekenntnis‘ versteht sich – wenig geeignet. Es kommt hinzu, dass einige dieser Bücher ihre Existenz offensichtlich einer ökonomischen Hoffnung sowohl der Autoren als auch der Verlage verdanken. Hinter ihnen steht wohl die Idee, man könne mit den auf die betreffenden Studienstandards – oder Standard-Studien, wie man will – abgestellten Texten jenes Geld verdienen, das die zwangsläufig immer kleineren Auflagen der Studientexte für die spezialisierten Studiengänge, die überall angezettelt werden, um die ,Profile‘ der Fakultäten bzw. Hochschulen ,zu schärfen‘, nicht einbringen können. Ich habe an anderer Stelle meine Bedenken gegen die Hoffnung einer Verbesserung des erziehungswissenschaftlichen Studiums durch ein Kerncurriculum vorgetragen (vgl. HOFFMANN 2005)19. Auch die Forderung nach einem Fortbestand der Allgemeinen Pädagogik hat nur dann einen Sinn, wenn es 18 Vieles erinnert an den Vorwurf THEODOR W. ADORNOs, die Pädagogen ergingen sich „mit Tiefsinn aus zweiter Hand über das Sein des Menschen“, den ROTH polemisch zitiert hat, um die Gegenposition deutlich zu machen (ROTH 1962, S.483). 19 Vgl. insbesondere den Abschnitt ,Von der „paradigmatischen Mehrdeutigkeit zur individualistischen Vieldeutigkeit‘“ in HOFFMANN 2005, S.174ff.
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einerseits Personen gibt, die sich angemessen und umfassend „mit wissenschaftstheoretischen und methodologischen Grundlagen der Erziehungswissenschaft, mit Fragen20 von Anthropologie, Sozialisation und Erziehung und mit den institutionellen Bedingungen und Voraussetzungen von Bildung und Erziehung“ sowie den Aspekten21 „der Problemgeschichte und des internationalen Vergleichs von Bildung und Erziehung“ auseinandersetzen können (KRÜGER 1996, S.310). Diese notwendige muss um eine hinreichende Bedingung ergänzt werden. Die so zu führende Auseinandersetzung muss, darüber hinaus, für die Adressaten – im handlungswissenschaftlichen Dreisprung von ErmittlungVermittlung-Verwendung – des entsprechenden Wissens bedeutsam sein. Wer aber solche Arbeit auf sich nimmt, der wird angesichts der einseitigen empirischen Forschungsorientierung von den Spezialisten nicht selten der Oberflächlichkeit verdächtigt. UHLE hat deshalb eine völlig neue Orientierung vorgeschlagen, und zwar im Anschluss an WOLFGANG WELSCH und wohl in Anlehnung an das überkommene akademische Prinzip des Zweifels. Er empfiehlt eine Ausrichtung am ,Widerstreit‘: Die Aufgabe, so schreibt er, „besteht … darin, Identifikationssysteme oder Konzepte zu analysieren – aber auch zu entwickeln –, die Theoriestringenz zeigen … Dies verlangt zugleich, innerhalb gewählter Konzepte Annahmen über Erziehung und Bildung zu entwickeln und konsequent zu Ende zu denken“ (UHLE 1998, S.114). Da es sich dabei genau genommen um das handelt, was HERBART, DILTHEY, FLITNER, ROTH – und viele Unbekannte davor, dazwischen und danach – getan haben, die damit der alten Funktion der Allgemeinen Pädagogik Rechnung trugen, halte ich den Vorschlag – mit Verlaub – für nicht ,neu‘ genug, um das bestehende Problem zu lösen. Diese Strategie hätte man wohl beibehalten, wenn sie weiterhin nützlich gewesen wäre. Könnte man sie erneuern, hülfe das vielleicht der Disziplin, aber wohl nicht den erwähnten Adressaten. Jedes gute Studium verunsichert seine Studierenden zunächst und demotiviert sie wegen der ständigen Präsenz des Zweifels – und es ist fraglich, ob die Studierenden sich mit der Belastung durch den andauernden Widerstreit abfinden würden. UHLE wendet selbst ein: „Inwieweit dieser Widerstreit aber noch in einem Verständnis von Pädagogik als Wissenschaft für die Profession von Interesse ist, darüber entscheidet die Frage, wie es gelingt, solche Konzepte auch als lebensbedeutsam und hilfreich aufzuzeigen …“ (ebd.). Da aber gerade der Zweifel und der Widerstreit die Modalitäten sind, die in den oben erwähnten Kompendien zu kurz kommen, und zwar wegen der fehlenden ‚umfassenden‘
20 Das ist eine auffällige Einschränkung. 21 Und dieser Begriff bedeutet ebenfalls eine solche.
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Kompetenzen, macht der Vorschlag die Sache nur noch schwieriger.22 Die sachgerechte Erfüllung der Aufgaben im Sinne der Definitionen von HERRMANN und HEINZ-HERMANN KRÜGER macht die Verwendung der genannten Kategorien bzw. Strategien ohnedies notwendig. IV. Ich möchte ebenfalls einen Vorschlag machen, der allerdings ein grundsätzliches Umdenken verlangt. Vertreterinnen und Vertreter der Pädagogik/Erziehungswissenschaft müssen sich eingestehen, dass die weitgehende Veränderung der Disziplin zu einer ‚normalen‘, d.h. auf Forschung gestützten und entsprechend differenzierten und spezialisierten Wissenschaft, in deren Praxis zu einer ‚Entpädagogisierung‘ geführt hat. Wir kritisieren zwar weiterhin und zu Recht die unzureichenden didaktischen und methodischen Zurüstungen anderer Wissenschaften, z.B. bei der Ausbildung von Lehrerinnen und Lehrern, aber wir verhalten uns bezüglich der eigenen Studieninhalte hochschuldidaktisch und hochschulmethodisch selbst nicht anders. Es gilt – wiederum ,zum Beispiel‘ – immer noch als genügend ,fortschrittlich‘, Studierende der verschiedenen Lehrämter an erziehungswissenschaftlichen Forschungsprojekten zu beteiligen, die weder etwas mit der Schule im Allgemeinen noch etwas mit der Schulform im Besonderen zu tun haben, in der sie später arbeiten wollen. Und man hält es immer noch für zulässig, in Lehrveranstaltungen über eng begrenzte Sachgebiete ‚widersprüchliches‘ Wissen zu präsentieren, ohne es auf die anzunehmenden Verwendungsinteressen hin zu reduzieren und zu transformieren, wie es in Bezug auf den Schulstoff selbstverständlich wäre. Die inzwischen grassierende Überbetonung der – oft belanglosen – empirischen Forschung als Synonym für Wissenschaft, die mit einer Abwertung der Allgemeinen Pädagogik einhergeht, könnte durch eine Aufwertung der nicht weniger legitimen Aufgaben der hermeneutischen bzw. der kritischen Forschung sowie einer der professionell durchdachten Vermittlung ausgeglichen werden. Dieses gilt zumal, als – wie HANNA KIPER unter Berufung auf GIESECKE schreibt –, die Erziehungswissenschaft bei dem „Versuch, eine … Disziplin unter vielen zu werden …, das Verständnis für ihre genuine Aufgabe … verliert“ und „eine Lücke hinterlässt, die von anderen – 22 Auch HEINZ-HERMANN KRÜGERs Anregung, die Allgemeine Pädagogik solle herausgefordert werden, „einen [neuen; D.H.] pädagogischen Grundgedankengang zu formulieren, der für die Konzeptualisierung des pädagogischen Gegenstandfeldes richtungsweisend [sei; D.H.] und der für alle speziellen Subdisziplinen Geltung beanspruchen kann“, ist wenig realistisch (KRÜGER 1996, S.315). Es kann nicht zweckmäßig sein, Probleme, die nicht existieren, ausdrücklich zu schaffen, um eine durch Spezialisierung ja nicht verschwundene, sondern vielmehr in ihr aufgehobene Teildisziplin zu retten.
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in unzureichender, problematischer Weise und ungeprüft – geschlossen wird“ (KIPER 2009, S.217). GIESECKE hat deshalb den ‚Zwischenhandel‘ als Aufgabe der Erziehungswissenschaft propagiert, und zwar der Sache nach seit 1969 in seiner ‚Einführung in die Pädagogik‘.23 Wörtlich heißt es da allerdings noch: „,Spezialisierung‘ … kann es sinnvollerweise nur als eine solche der einzelnen Wissenschaftler geben, die sich in bestimmte Probleme einarbeiten, da sie heute nicht mehr alles in gleichem Maße verstehen können. Erziehungswissenschaft aber kann es trotzdem heute nur als ‚allgemeine Pädagogik‘ geben, auf die hin die ,Spezialisten‘ … ihre Forschungen und Interpretationen formulieren“ (GIESECKE 1972, S.206).24 Er hat den Gedanken danach weiter verfolgt (GIESECKE 1979, 2000, S.222ff., 2005, S.104) und in der Frage konkretisiert25: „Was muss einer können und gelernt haben, wenn er eine Tätigkeit in einer pädagogischen Einrichtung beginnt?“ (GIESECKE 2005, S.105). Dazu bedarf es keiner Systematik, sondern nur einer Pragmatik, nämlich jener der Gemeinsamkeiten und der Unterschiede der Handlungsfelder, „etwa: Schule, Lehrer, Schüler, Unterricht, pädagogischer Bezug, Erziehung, Bildung, Sozialisation (und deren Scheitern). Diese Gegenstände waren vor allem von den ihnen immanenten Problemen und Widersprüchen aufzuklären. So verstandene Theorien würden den wissenschaftlichen Forschungsstand gleichsam ‚filtern‘ unter dem Gesichtspunkt ihrer eigenen strukturellen und insoweit eigenständigen Fragestellungen“ (ebd., S.104).26 Dieses Programm geht allerdings über einen bloßen ‚Zwischenhandel‘ hinaus. Es zielt auf eine Verständigung der Praxis über die Theorie ebenso wie der Theorie über die Praxis. Wenn diese als wissenschaftliche Leistung anerkannt würde, müsste man sie auch benennen. ‚Allgemeine Pädagogik‘ bezeichnete bis in die 1960er Jahre die Kriterien und Kategorien, die die Pädagogik zur Wissenschaft bzw. zur paradigmatischen Spielart einer solchen qualifizieren sollten. Derartiger ‚Vorgaben‘ bedarf die Erziehungswissenschaft nicht mehr, sodass die Allgemeine Pädagogik eine neue Funktion übernehmen kann. Vakant 23 Ich gestehe, dass mir diese Forderung lange Zeit suspekt zu sein schien, da ich ein Anhänger der konsequenten Verwissenschaftlichung der Pädagogik war. Erst die Folgen dieser Entwicklung und die schlüssige Zusammenfassung der Argumentation des Autors durch HANNA KIPER haben mich überzeugt. 24 Vergleiche mit Stellen, an denen der Autor auch die Nachbar- und Hilfswissenschaften einbezieht, zeigen, dass seine Position (synthetisch) bis auf die bei ihm nicht so benannte ,pädagogische Fragestellung‘ mit der ROTHs (integrativ) identisch ist, zumal er dessen Ziel einer ,Handlungsorientierung‘ teilt. Das Zitat findet sich auch bei KRÜGER 1996, S.303. 25 Der Kontext, in dem es geschieht, macht mehrere möglich; mir erscheint der zitierte Ansatz als günstigster. 26 Um nicht einen weiteren Diskurs zu entfachen, übergehe ich, dass HERMANN GIESECKE die Erziehungswissenschaft für diese Pädagogik (s.o.) ausdrücklich – und aus meiner Sicht folgerichtig – als ,Hilfswissenschaft wie andere Humanwissenschaften auch‘ bezeichnet.
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sind die sachgerechte Integration und Mediation und die fachgerechte Reduktion und Transformation. Wenn dergleichen bei anderen Disziplinen, die weniger ‚widersprüchlich‘ und nicht ausdrücklich handlungsorientiert sind, entbehrlich ist, mag man sie glücklich schätzen. Pädagogisch betrachtet aber ist es notwendig, mit Hilfe erziehungswissenschaftlicher Vergewisserung – notfalls ‚nachträglich‘ – zu prüfen, was mit dem Anspruch auf Richtigkeit oder gar Wahrheit an Meinungen und Überzeugungen veröffentlicht und verwendet wird. Mit einem naiven Zwischenhandel, bei dem alles verkauft und verwertet wird, was auf den ‚Markt‘ kommt, ist weder der Wissenschaft noch der Gesellschaft gedient. Literaturverzeichnis BERG, CHRISTA/HERRLITZ, HANS-GEORG/HORN, KLAUS-PETER (2004): Kleine Geschichte der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft. Eine Fachgesellschaft zwischen Wissenschaft und Politik. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften BREZINKA, WOLFGANG (1971): Von der Pädagogik zur Erziehungswissenschaft. Weinheim [u.a.]: Beltz BREZINKA, WOLFGANG (1978): Metatheorie der Erziehung. München: Ernst Reinhardt Verlag BREZINKA, WOLFGANG (1986): Erziehung in einer wertunsicheren Gesellschaft. Beiträge zur Praktischen Pädagogik. München [u.a.]: Reinhardt DAHMER, ILSE/KLAFKI, WOLFGANG (Hrsg.) (1968): Geisteswissenschaftliche Pädagogik am Ausgang ihrer Epoche – Erich Weniger. Weinheim [u.a.]: Beltz DANNER, HELMUT (1985): Verantwortung und Pädagogik. Anthropologische und ethische Untersuchungen zu einer sinnorientierten Pädagogik. 2. Aufl. Königstein/Ts.: Forum Academicum DEUTSCHE GESELLSCHAFT FÜR ERZIEHUNGSWISSENSCHAFT (2001): Empfehlungen für ein Kerncurriculum Erziehungswissenschaft. In: Erziehungswissenschaft 12(23): S.20-31 DEUTSCHE GESELLSCHAFT FÜR ERZIEHUNGSWISSENSCHAFT (2006): Personelle Mindestausstattung im Fach Erziehungswissenschaft. In: Erziehungswissenschaft 17(32): S.8-17 DEUTSCHE GESELLSCHAFT FÜR ERZIEHUNGSWISSENSCHAFT (2008): Kerncurriculum Erziehungswissenschaft. Empfehlungen der DGfE. Opladen [u.a.]: Budrich. (Erziehungswissenschaft. Mitteilungen der DGfE. Sonderband; 19) DEWE, BERND/FERCHHOFF, WILFRIED/RADTKE, FRANK-OLAF (1992): Das ,Professionswissen‘. In: DIES. (HRSG.): Erziehen als Profession. Zur Logik professionellen Handelns in pädagogischen Feldern. Opladen: Leske + Budrich, S.70-91 DIENELT, KARL (1970): Pädagogische Anthropologie. Wien [u.a.]: Österreichischer Bundesverlag DIENELT, KARL (1999): Pädagogische Anthropologie. Eine Wissenschaftstheorie. Köln [u.a.]: Böhlau DILTHEY, WILHELM (o.J.): Über die Möglichkeit einer allgemeingültigen pädagogischen Wissenschaft. Berlin [u.a.]: Beltz. (Kleine pädagogische Texte; 3) FLITNER, WILHELM (1957): Allgemeine Pädagogik. 4. Aufl. Stuttgart: Klett GIESECKE, HERMANN (1972): Einführung in die Pädagogik. 4. Aufl. Weinheim [u.a.]: Juventa GIESECKE, HERMANN (1979): Lob des Zwischenhandels – Überlegungen zum Verhältnis von Erziehungswissenschaft und pädagogischer Praxis. In: Neue Sammlung 19(5), S.489-501 GIESECKE, HERMANN (2000): Mein Leben ist lernen. Weinheim: Juventa GIESECKE, HERMANN (2005): Lob des Zwischenhandels 2. In: HOFFMANN, DIETRICH/GAUS, DETLEF/UHLE, REINHARD (Hrsg.) (2005): Pädagogische Theorien und pädagogische Praxis.
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Ungeliebtes Kind? Zur Rolle der Empirischen Pädagogik als Pädagogik Matthias von Saldern
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Einleitung
INGRID GOGLIN und HANS MERKENS beobachteten im Vorwort zur ‚Kleine[n] Geschichte der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft‘ das „beständige Ringen des Faches um den eigenen Ort und um Anerkennung im Konzert der wissenschaftlichen Disziplinen, die wiederkehrende Auseinandersetzung über das eigene Selbstverständnis“ (BERG 2004, S.7). Dies scheint nicht nur für die Erziehungswissenschaft als Ganze, sondern insbesondere auch für die Empirische Pädagogik innerhalb der Erziehungswissenschaft gültig zu sein. Die Empirische Pädagogik führt ein Nischendasein. Geht man von der Rezeption der Vorläufer der Empirischen Pädagogik aus, dann zeigt sich dies bereits deutlich: „Welch geringe Bedeutung diese Pädagogik für die einschlägige Historiographie und die disziplinierte Selbstdarstellung bis heute anscheinend hat, lässt sich aber nicht nur an iterierenden Formen der Reduktion ihrer Sozialgestalt, sondern auch daran sehen, dass sie gelegentlich in historischen Darstellungen samt ihrer Bezugsphilosophie ganz ignoriert wird ..., oder – sogar in systematischen Vergewisserungen ‚kritisch-rationaler Erziehungswissenschaft‘ – als Tradition gar nicht mehr vorkommt ... bzw. randständig plaziert wird“ (TENORTH 1989b, S.320). HORST WEISHAUPT vermutet eine Ursache: „Schon in der Zeit nach der Jahrhundertwende hatte sich die geisteswissenschaftliche Richtung bei der Besetzung der pädagogischen Lehrstühle an den Universitäten gegen die erfahrungswissenschaftliche durchgesetzt. … Dies mag die Ursache dafür sein, daß in den Darstellungen zur Geschichte der Pädagogik die erfahrungswissenschaftliche Tradition meist völlig unzureichend behandelt wird“ (WEISHAUPT 1992, S.60). Gemessen an der Zahl ihrer Vertreter scheint die Empirische Pädagogik ein eher randständiges Gebiet: „Ein Spezifikum der deutschsprachigen Pädagogik besteht darin, dass die Empiriker gegenüber den nichtempirisch arbeitenden Pädagogen deutlich in der Minderheit sind“ (DINTER 2001, S.117). Noch schärfer: „Zu fragen wäre also, ob die empirische Forschung überhaupt nennenswert an Raum innerhalb der Disziplin gewonnen hat“ (ROTHLAND, 2008).
Es fällt allerdings auch auf, dass die geisteswissenschaftliche Pädagogik stellenweise ebenso zu kämpfen hatte. So heißt es bereits in einem Gutachten der Deutschen Gesellschaft für Philosophie im Jahre 1953: Pädagogen brauchen kein Promotionsrecht, sie könnten in Philosophie oder Psychologie promovieren (SCHEUERL 1994, S.107). Auch später noch lehnte sich die Pädagogik an andere Wissenschaften an: „Wenden wir uns nach dieser Vorbesinnung dem Wissenschaftsgespräch der Pädagogik zu, so scheinen die Vertreter der pädagogischen Lehrstühle an den Universitäten die Zuordnung der Pädagogik zu ‚Philosophie und Nachbarwissenschaften‘ im wesentlichen zu bejahen“, so HANS SCHEUERL weiter. Im Weiteren beruft sich WILHELM RÖßLER auf WILHELM FLITNER, der den Wesenskern der Pädagogik in der philosophischen Anthropologie sehen würde (RÖßLER 1961, S.346). Gerade heute scheint auch die geisteswissenschaftliche Pädagogik, insofern sie sich eher philosophisch versteht, vor ganz anderen Herausforderungen zu stehen: „Dass der längst an den Rand der Stellenund Strukturpläne gedrängten philosophisch inspirierten Allgemeinen Pädagogik eine das Fach prägende Wirkung unterstellt wird, hat mehr Kampf- als Erkenntniswert“ (GRUSCHKA 2004, S.12). Vor dem Hintergrund der vermuteten prekären Lage dieser beiden Richtungen der Erziehungswissenschaft stellt sich die Frage, warum das Verhältnis gerade dieser beiden Ausprägungen von stellenweise beherzter Abneigung gekennzeichnet ist. Im Folgenden soll am Beispiel einiger Themen beziehungsweise Diskurse gezeigt werden, wie die Empirische Pädagogik verortet wird. Um das Ergebnis gleich vorwegzunehmen: Die Abgrenzung der Empirischen Pädagogik von den anderen Pädagogiken ist inhaltlich wie wissenschaftssystematisch nicht zu rechtfertigen. 2
Die Sprachlosigkeit der Empirischen Erziehungswissenschaft
Eine faire Behandlung der Empirischen Pädagogik durch die anderen Pädagogiken setzt voraus, dass die Vertreterinnen und Vertreter der Empirischen Pädagogik sich an diesem Diskurs aktiv beteiligen. Sie ist – und das muss man ihr selbst vorhalten – allerdings in mancherlei Hinsicht sprachlos geworden oder vielleicht immer schon gewesen. Debatten über Voraussetzungen und Methoden dieser erziehungswissenschaftlichen Richtung werden häufig von anderen geführt. Wenn man sich z.B. die Autorinnen und Autoren vergegenwärtigt, die etwas zur Metatheorie der Empirischen Erziehungswissenschaft publizieren, dann fällt auf, dass sich kaum ein Empiriker der eigenen Geschichte und den wissenschaftstheoretischen Voraussetzungen seiner Arbeit zuwendet. Dies hängt naturgemäß mit dem eigenen Forschungsinteresse zusammen, das sich eher der 124
Objektebene zuwendet. Das führt aber dazu, dass Empiriker die Beschreibung ihres Arbeitsfeldes nicht mitgestalten, sondern Anderen überlassen, die ihre Arbeitsweise häufig kaum kennen. Die Beobachtung der Beobachtung, wie man sie mit NIKLAS LUHMANN nennen kann, muss auch durch Empiriker erfolgen. Und dies ist auch notwendig, wenn man REINHARD UHLE folgen will: „Unabhängig allerdings von der Frage, ob Pädagogik als in Innovation oder Rekonstruktion engagiert anzusehen ist, verlangen die Bedingungen der Wünschbarkeit und der Erfüllbarkeit im Versprechen zweierlei: 1. Programmdiskussionen innerhalb von wissenschaftstheoretischen Richtungen der Pädagogik sind nicht als Streit um ‚Slogans‘ oder als Chaos von ‚Wenden‘ aufzufassen, sondern als notwendige Erörterungen der Wünschbarkeit von Zukünftigem. Als Fragen nach dem wünschbaren Sinn des Versprochenen sind sie unverzichtbar. 2. Der Rückgriff auf Traditionen und Wissensbestände von Programmen und Methoden ist nicht das Gegenteil von auf Zukunft gerichteten Tätigkeiten, sondern ein notwendiger Rekurs, um die Chance zu erhalten, das versprochene Futurische auch erfüllen zu können.“ (UHLE 1991, S.149)
MARC DEPAEPE geht davon aus, dass empirisch arbeitende Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler nicht über sich selbst schreiben sollten, weil sie von ihrer wissenschaftlichen Tätigkeit so sehr überzeugt seien, dass eine objektive Darstellung nicht möglich sei (vgl. DEPAEPE 1993). Die Frage, wer auf dem Richterstuhl für eine objektive Beschreibung sitzen darf, scheint hier für andere Richtungen der Pädagogik unwesentlich zu sein (vgl. TENORTH 1990). DEPAEPE formuliert mit seiner Haltung das alte Problem der Subjekt-Objekt-Trennung. Und dieses Problem gilt für alle Wissenschaftsbereiche, wenn sie über sich selbst schreiben müssen. Denn Beschreibung und Diskussion über unterschiedliche erziehungswissenschaftliche Paradigmen sind bisher teilweise dadurch gekennzeichnet, dass die Paradigmen gar nicht von Vertretern oder Vertreterinnen ihrer Zunft beschrieben werden. Ein Beispiel ist der Band 9 der ‚Beiträge zur Theorie und Geschichte der Erziehungswissenschaft‘. In diesem Sammelband werden unter anderem das empirische, das hermeneutische und das kritische Paradigma beschrieben. Während die letzten beiden Paradigmen von Vertretern ihrer Zunft bearbeitet werden, wird das empirische Paradigma von einem Historiker und einem Philosophen diskutiert: „Es würde kaum jemandem, der von der medizinischen Wissenschaft keine Ahnung hat, in den Sinn kommen, an einem Kongreß für Krebsforschung teilzunehmen und dort mitsprechen zu wollen. Auf pädagogischem Gebiet scheint dies, ähnlich wie in philosophischen Fragen, nicht so selbstverständlich zu sein. Vielmehr glaubt hier eigentlich jeder, mitreden zu dürfen und zu können, so daß auf Grund dieser Tatsache die Reaktion der exakten Wissenschaften nicht sonderlich überrascht“ (MÄRZ 1965). Vielleicht war es 125
über Jahre hinweg gesehen ein Fehler, dass empirisch arbeitende Erziehungswissenschaftler und Erziehungswissenschaftlerinnen sich in diesem Diskurs nicht beheimatet fühlten. Sie müssen sich aber vermehrt in die Selbstbeschreibung der eigenen Wissenschaft einbringen. Sonst kommt es zu Fremdbeurteilungen über Sachverhalte, wie z.B. zur Geschichte der Empirischen Pädagogik, die Empiriker ganz anders deuten würden. So wird z.B. WOLFGANG BREZINKA häufig der Empirischen Erziehungswissenschaft zugeordnet, obwohl er selbst keine einzige empirische Arbeit vorgelegt hat. Diese Zuordnung erfolgt nicht durch empirisch arbeitende Pädagogen, sondern meist eben von Vertretern der sog. Allgemeinen Pädagogik, die sich eine solche Kategorisierung erlauben. BREZINKA würde heute nicht einmal Mitglied der Arbeitsgemeinschaft empirische pädagogische Forschung (AEPF der DGfE) werden können. Etwas genauer arbeitet UHLE. Er schreibt: „Obschon es bereits im 18. Jahrhundert Ansätze zu einem empirischen Erziehungswissenschaftsverständnis gibt, erhält dieser Ansatz erst in diesem Jahrhundert als experimentelle Pädagogik (MEUMANN, LAY), Tatsachenforschung (PETERSEN), realistische Pädagogik (ROTH), empirisch-analytische Pädagogik (BREZINKA) besonderes Interesse“ (UHLE 2000, S.805). Immerhin unterscheidet UHLE hier zwischen dem Beitrag von HEINRICH ROTH und dem Beitrag von BREZINKA. Noch genauer wäre es, wenn man BREZINKA auf die Metaebene hieven könnte, denn die anderen genannten Personen oder Richtungen haben tatsächlich empirisch geforscht, während BREZINKA eher als Metatheoretiker einzuordnen ist.1 Man kann des Weiteren feststellen, dass die Empirische Erziehungswissenschaft von Vertretern der historischen Pädagogik anders behandelt wird als von den Vertretern anderer Teilpädagogiken. Ein Beispiel dafür ist ein Artikel von HEINZ-ELMAR TENORTH, der die unterschiedlichen Schulen und Richtungen der Erziehungswissenschaften darstellt (vgl. TENORTH 1997). Dabei werden in der Darstellung der hermeneutischen Pädagogik und aller weiteren Richtungen namhafte Personen benannt, die jeder Richtung jeweils zuzuordnen sind. Die empirische Erziehungswissenschaft hingegen scheint nicht durch bekannte Personen repräsentiert zu sein. Ein Blick in die Mitgliederliste der AEPF hätte hier weitergeholfen.2 Diese ungenauen Fremdbeschreibungen führen auch dazu, dass man die Empirische Erziehungswissenschaft gerne in die Nähe der Psychologe rückt. Historisch kann man tatsächlich nachweisen, dass die psychologische Pädagogik 1 Im Übrigen könnte man ihn auch einer philosophischen Pädagogik oder der normativen Pädagogik zuordnen. Gerade zum letzten Bereich hat er viel publiziert. 2 HEINZ-ELMAR TENORTH stellt sich andernorts allerdings gerade gegen die etwas plumpe Darstellung der Geschichte der Empirischen Pädagogik (vgl. TENORTH 1989b).
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des Jahres 1880 später zur pädagogischen Psychologie geworden ist: „Mit ‚experimenteller Pädagogik‘ meine ich den Versuch der Aufnahme naturwissenschaftlich akzentuierter Kinder- und Jugendpsychologie in die Wissenschaft von der Erziehung, nicht als Hilfswissenschaft, sondern als deren Kernbestand“ (UHLE 1991, S.143). Mit der Zuweisung der Empirischen Erziehungswissenschaft zur Psychologie wird allerdings übersehen, dass gerade in der Methodenentwicklung die Soziologie viel häufiger Referenz für die Erziehungswissenschaft war. Dies gilt insbesondere für statistische Verfahren, die Kontexteffekte berücksichtigen. 3
Zur Definition Empirischer Erziehungswissenschaft
Ein Teil dieser Darstellungs- und Wahrnehmungsprobleme ist sicherlich darauf zurückzuführen, dass immer noch unklar ist, was Empirische Pädagogik genau ist. Zuvorderst wäre zu klären, ob man in diesem Kontext den Begriff Pädagogik oder den Begriff Erziehungswissenschaft verwendet. Wenn man Pädagogik definiert als die Selbstreflexion des Praktikers über seine eigene Tätigkeit und Erziehungswissenschaft als (sozial-)wissenschaftliche Reflexion über das Erziehungsfeld, dann wird man nicht umhin kommen, zukünftig von Empirischer Erziehungswissenschaft, aber auch z.B. von Geisteswissenschaftlicher Erziehungswissenschaft zu schreiben. Darin sehen Vertreter der Allgemeinen Pädagogik aber durchaus Probleme: „Die Verstümmelung der Pädagogik, die darin besteht, daß Erziehungswissenschaft unter die Methoden der Sozialwissenschaft subsumiert wird“ (CLAUSSEN 1975, S.712). Hier wäre freilich zu fragen, was der Autor unter Sozialwissenschaft versteht und welche Methoden er ihr zuschreibt. Außerdem stellt sich immer noch die Frage, was eigentlich unter dem Begriff empirisch zu verstehen ist. Man kann dazu den definitorischen Rahmen sehr eng ziehen, z.B. auf der Basis des Kritischen Rationalismus, wie es WOLFGANG LEMPERT bereits 1967 getan hat: „‚Empirische Forschung‘ steht hier für alle Operationen, durch die Protokollsätze, die raumzeitliche Vorkommnisse beschreiben, gewonnen und ausgewertet werden“ (LEMPERT 1967, S.238). Diese Haltung ist nicht unumstritten, weil LEMPERT die Empirische Pädagogik mit dem Kritischen Rationalismus gleichsetzt: „Es ist hier nicht das Anliegen zu zeigen, dass die einfache Formel „empirische Erziehungswissenschaft = kritisch-rationale Erziehungswissenschaft“ eher ein (Selbst)-Missverständnis markiert als die wissenschaftstheoretische Orientierung der Empirischen Pädagogik kennzeichnet, weil sich kritisch-rationale Methodologie in der aktuellen Forschungspraxis kaum wiederfindet“ (DINTER 2001, S.114). Auf ähnliche Probleme stößt man allerdings auch, wenn man eine Metatheorie der Allgemeinen Pädagogik 127
skizzieren möchte: Sie definiert sich selbst als historisch, als philosophisch, als hermeneutisch, weniger als empirisch. Gerade wegen dieser erwünschten Allumfassendheit ist es aus heutiger Sicht unverständlich, warum die Empirische Pädagogik nicht integraler Bestandteil der Allgemeinen Pädagogik ist. Zur weiteren Eingrenzung der Zuschreibung ‚empirisch‘ kann man auch die Empfehlungen der AEPF, also der zuständigen Kommission der DGfE, aus dem Jahre 1975 heranziehen (vgl. ARBEITSGEMEINSCHAFT EMPIRISCHE PÄDAGOGISCHE FORSCHUNG 1976). Unter der Überschrift ‚Empirisch-methodische Ausbildung‘ wurden allerdings ausschließlich Inhalte empfohlen, die einer sog. quantitativen Methodenausbildung sehr nahe kommen. Qualitative Verfahren, die einen Bezug zur Realität suchen, sucht man vergebens. Wenn man so vorgeht, wird man schnell auf Fragen stoßen, die einer Beantwortung bedürfen: In diesem Sinne wäre z.B. Handlungsforschung oder Aktionsforschung nichtempirisch, obwohl dort auch mit empirisch erhobenen Daten gearbeitet wird, die dann allerdings auch in Aktionen einmünden. Die Grenze zwischen empirischen und nicht-empirischen Vorgehensweisen ist bisher noch nicht klar gezogen. 4
Unterschied zwischen empirischen und hermeneutischen Verfahren
Ein weiterer Indikator für die Notwendigkeit, zu Selbstbeschreibungen der Empirischen Pädagogik durch Empiriker beizutragen, ist die ständig wiederkehrende Behauptung, dass es einen Unterschied zwischen empirischen und hermeneutischen Verfahren gäbe. Auch hier scheint Abgrenzung oberste Motivation zu sein. Dieses Motiv äußert sich meistens in Diskussionen um die Frage, wie man qualitative von quantitativen Forschungsmethoden trennen könne. Bis heute werden in der Erziehungswissenschaft zumeist eher methodische oder theoretische Kategorien herangezogen, um die pädagogische Diskussion zu systematisieren: „In den letzten Jahren hat es sich in Texten zu Einführungen in die Pädagogik eingebürgert, von wissenschaftstheoretischen und methodologischen Differenzen her die Vielfalt von pädagogischen Reflexionen zu systematisieren, nicht von anthropologischen, ideengeschichtlichen oder anderen Gesichtspunkten ... Verstehende oder hermeneutische Pädagogik in verschiedenen Variationen geisteswissenschaftlicher, phänomenologischer, dialektischer, interpretativer etc. Orientierung wird in ihrer Frontstellung zu anderen Zugriffsweisen auf Erziehungswirklichkeit und ihren jeweiligen Besonderungen dargestellt“(UHLE 1989b, S.179).3 3 REINHARD UHLE selbst bleibt sich allerdings treu: Seine ‚Pädagogik des Verstehens‘ versteht er gerade nicht als erziehungswissenschaftliche Richtung, sondern als Begründungsform der Pädagogik (vgl. UHLE 1989a, S.7).
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Diese ganze Diskussion ist deshalb erstaunlich, weil es nämlich ein prominenter Vertreter der Allgemeinen Pädagogik war, der recht früh darauf hingewiesen hat, dass auch die Empirische Pädagogik nicht ohne hermeneutische Verfahren auskommt: „Ich bin auf diese verschiedenen sprachlichen Funktionen nur aus dem einem Grunde näher eingegangen, um zu zeigen, in welchem Ausmaß der empirische Forscher auf sprachliche und damit auf hermeneutische Leistungen angewiesen ist, wenn er Beobachtungen machen will, die seine theoretischen Konzepte bestätigen sollen. Die Präzision seiner Beobachtungen, Messungen, Experimente steht und fällt mit der Präzision seiner sprachlichen Instrumente. … Damit ist, ob die Empiriker das wahrhaben wollen oder nicht, die Hermeneutik selbst als empirische Methode beansprucht. Sie wird zu einem zentralen Problem des empirischen Erkenntnisinteresses. Und an der Frage, ob das hermeneutische Verfahren den strengen Forderungen des empiristischen Sinnkriteriums zu entsprechen vermag, wird es sich letztlich entscheiden, ob die Sozialwissenschaften und damit auch die Erziehungswissenschaft überhaupt als empirische Disziplinen im strengen Sinne möglich sind“ (LOCH 1967, S.462). Diese weitreichende Analyse scheint ebenso völlig in Vergessenheit geraten zu sein wie die folgende ausgleichende Feststellung von UHLE: „Interpretation, Deutung oder Verstehen von Unterrichtsdokumenten gelten auch für zunächst empirisch-analytisch orientierte Unterrichtswissenschaftler als legitime Verfahren in solchen Studien“ (UHLE 1983, S.173). Wer empirische Forschungsprozesse verantwortlich geleitet hat, kann also mit einer heute derartig polarisierenden künstlichen Dichotomie nicht umgehen, weil in der Forschungspraxis beide Verfahren untrennbar miteinander verbunden sind (vgl. SALDERN 1995). Der Kampf um dieses Anerkenntnis scheint allerdings bereits verloren: Zahlreiche Hand- und auch Lehrbücher grenzen sich durch den Begriff ‚qualitativ‘ im Titel klar ab. ‚Qualitativ‘ bedeutet aber nicht automatisch ‚nicht-empirisch‘ (siehe oben). Forscherinnen und Forscher, die sich dem sog. qualitativen Ansatz zuordnen, findet man allerdings nicht oder nur selten in der Mitgliederliste der AEPF. Die Abgrenzung läuft also trotz aller gegenteiligen Analysen munter weiter: „Die sog. ‚empirische Pädagogik‘ hat in der Vergangenheit fast alles getan, sich selbst zu desavouieren. Hier wurde und wird auf dem Hintergrund einer zum Teil erstaunlichen theoretischen Enthaltsamkeit in weiten Bereichen in ungebrochener Naivität mit Ratingskalen, Mittelwerten, Signifikanzen und – gemessen an der Komplexität anstehender Probleme – mit grobgeschneiderten Designs gearbeitet. Eine Koordination der Forschung findet faktisch nicht statt, Replikationsuntersuchungen sind meist nicht möglich, eine das Experiment vorbereitende phänomenologische Problemanalyse findet sich nur in Ausnahmefällen“ (WALTER 1979, S.308). 129
Aber die Wende scheint ja in Sicht: „Auch hier sind es die kommunikationsorientierten Sozialforscher, die das Zurückdrängen der klassisch-quantitativen Verfahren durch qualitative, im weiteren Sinne hermeneutisch-interpretative Verfahren begünstigen“ (HAFT/KORDES 1995, S.16f.). Und das sieht dann wie folgt aus: „Aber auch jene Minderheit von etwa 20 Prozent der ErziehungswissenschaftlerInnen, die sich einem quantitativ orientierten empirisch-analytischen Forschungsansatz verbunden fühlen, räumen konzeptionelle und methodische Schwächen der bislang durchgeführten Untersuchungen ein. Sie seien zumeist durch Theoriearmut gekennzeichnet und in ihren Fragestellungen zu sehr auf die Schule fixiert“ (KRÜGER 2000, S.330). Hier sei nur angemerkt, dass die Vertreter des sich selbst so bezeichnenden qualitativen Ansatzes bis heute keine Antwort auf die Probleme der Repräsentativität ihrer Untersuchungen gefunden haben. Auch ist die Fixierung auf Schule doch kein Methodenproblem. Und ausgerechnet dem quantitativen Ansatz Theoriearmut vorzuwerfen ist fast schon komisch, denn zum qualitativen Ansatz gehört auch die Grounded Theory, die von einer völligen Theorielosigkeit am Anfang des Forschungsprozesses ausgeht. Gegenüber der angedeuteten Auffassung, dass die nicht-empirische Pädagogik hinsichtlich ihrer Theoriebildung gehaltvoller sei, muss man skeptisch gegenüberstehen: „Die wissenschaftsgeschichtliche Verspätung, mit der die Pädagogik sich zu einer modernen Sozialwissenschaft zu entwickeln begann, erzeugte bei ihren Vertretern auch den Eindruck, dass nicht nur im Bereich empirischen Wissens, sondern auch im Bereich theoretischer Konstrukte vieles nachzuholen sei. Andere Wissenschaften – so schien es – waren immer schon einen oder mehrere Schritte weiter. Die letzten 20 Jahre unserer Diskussionen lesen sich in Teilen deshalb wie eine Kette immer neuer Rezeptionen, allzu häufig mit Hoffnung verbunden, nun erst werde die Pädagogik kritisch werden“ (MOLLENHAUER 1982, S.253f.). Diese ganze Entwicklung hat zwar nicht unbedingt zu einer Ordnung innerhalb der Pädagogik geführt, allerdings hat sie dazu beigetragen, die methodische Vielfalt innerhalb der Pädagogik zu erhöhen: Nach DIETRICH BENNER hat sich nämlich gezeigt, dass nicht das eine Paradigma das andere abgelöst hat, sondern, dass Forschungsmethoden konstitutiv für den Gegenstand wissenschaftlicher Erkenntnis sind. Die Integrationsbemühung zwischen empirisch-analytischer und historisch-hermeneutischer Forschung hätten zwar zu Logiken sozialwissenschaftlicher Forschung, aber nicht zu einer systematischen Pädagogik geführt4 4 „Zum ersteren treten nicht nur dem Studierenden ein verwirrendes Knäuel von einander durchdringenden Teilgebieten, von einander nicht ergänzenden und sich widersprechenden Ansätzen, Begriffen, Inhalten gegenüber, das sie meist selbst lösen müssen bei sehr unklaren Angaben über Umfang, Inhalt und Niveau der Anforderungen. Auch der Erziehungswissenschaftler kann Unbehagen empfinden, wenn es gilt, bei Prüfungen und Berufungen, bei der internen Organisations-
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(BENNER 1989, S.365). BENNER hat also schon früher die positive Entwicklung in der Methodendiskussion gesehen. So betrachtet ist der Rückzug auf ein qualitatives oder quantitatives Paradigma ein Rückfall. Warum dann noch diese fortgesetzte Stereotypisierung? Vielleicht kommt die deutsche Erziehungswissenschaft mit ihrer Vielfalt nicht zurecht. UHLE schreibt allein schon über seine Teildisziplin: „Zunächst kann Rezeptionsforschung darauf aufmerksam machen, dass spätestens seit Mitte des vorigen Jh. kein geisteswissenschaftlicher Forscher über sein näheres Gebiet den Markt lesend verfolgen kann“ (UHLE 1994, S.95). Diese Aussage kann man getrost auf jede Forscherin oder Forscher in den Erziehungswissenschaften generell erweitern. So bleibt die Haltung unversöhnlich und die Formulierung scharf: „Das imperialistische Paradigma führt zu einer Dominanz naturwissenschaftlicher, quantitativer Sichtweisen. Ich halte es für einen Irrtum anzunehmen, dass eine solche Sichtweise in der pädagogischen Praxis überwunden ist“ (MAROTZKI 1991, S.121). Und weiter: „In diesem Einführungsbuch in die Erziehungswissenschaft wird der Unterschied zwischen qualitativen und quantitativen Methoden auf schärfste Weise herausgearbeitet“ (MAROTZKI/ORTLEPP/NOHL 2006, S.173f.). Man glaubt immer noch, die eigene Position zu erhöhen, indem man eine andere abwertet. PETER MARTIN ROEDER stellte bereits vor einiger Zeit fest: „Eine weitere Trennungslinie ist durch die unterschiedliche methodologische Orientierung von Erziehungswissenschaftlern gesetzt. Hier ist die Spezialisierung teilweise so weit fortgeschritten, daß man von Verständnisbarrieren sprechen muß“ (ROEDER 1990, S.658). Und er scheint damit heute noch richtig zu liegen. Man kann es auch als eine Form der Ausgrenzung betrachten. Dies hemmt Kommunikation. Sinnvoll wäre es, unvoreingenommen zu agieren. So tun es z.B. DETLEF GAUS und UHLE, die auf Probleme der geisteswissenschaftlichen Pädagogik hinweisen und festhalten: „Daran anknüpfend wird die Prognosefähigkeit, die tatsächlich ein wesentlicher Vorteil empirischer Verfahren gegenüber verstehenden Verfahren ist, in den Mittelpunkt gerückt ...“ (GAUS/UHLE 2006, S.8). Diskussionsgegenstand, so ist den beiden zuzustimmen, sollten also die Gütekriterien von Forschung sein, nicht die Zuordnung ihrer Methoden in ein künstlich dichotomisierendes Kontinuum qualitativ-quantitativ. Nur so wird es gelingen können, Stereotypen abzubauen: „Weder ist der empirisch-analytische Forscher ein unbedarfter Positivist, der sich in schlichter Gewißheit seines Lebens und der Tatsachen erfreut und zugleich in lebengefährlicher Blindheit nicht sieht, was sich außerhalb seines umzäunten Wissenschaftsbetriebs abspielt – noch ist der Geisteswissenschaftler der traditionellen Hermeneutik ein und Ressourcenverteilung, beim Einordnen von Forschungsergebnissen und schließlich in Einführungsveranstaltungen systematische Kriterien anzuwenden“ (PASCHEN 1981, S.21).
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wohlmeinender Alles-Versteher mit leicht musealen Zügen, dem man nur vertrauen kann, wenn es darum geht, den ordentlichen Park der Geschichte unter freundlicher Führung zu durchwandeln. Und derjenige, der Kritik mit Emanzipation und Interesse verbindet, ist nicht schon dadurch vor den empirischen und hermeneutischen Positivisten ausgezeichnet, daß er ein Vokabular liefert, dessen Modernität wie selbstverständlich die Suggestion des Fortschrittlichen erzeugt“ (SCHÜTZ 1981, S.107f.). 5
Empirische Erziehungswissenschaft als Disziplin
Wenn man die unterschiedlichen Fremdbeschreibungen und Selbstbeschreibungen heranzieht, kann man vermuten, dass die Empirische Erziehungswissenschaft eine eigenständige Disziplin innerhalb der Erziehungswissenschaft ist. Man könnte nun weiter fragen, ob und ggfs. wie andere Nachbardisziplinen ihre empirisch arbeitenden Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler einordnen bzw. kategorisieren.Beim näheren Hinsehen fällt auf, dass es so etwas wie empirische Psychologie oder empirische Soziologie als ausgewiesene Teildisziplin nicht gibt. Auffällig ist, dass diese beiden Nachbarwissenschaften andere Grenzziehungen für ihr eigenes Tun innerhalb der eigenen Disziplin gefunden haben, die nicht auf der Ebene empirisch vs. nicht-empirisch zu finden sind. Allerdings haben die Psychologie wie auch die Soziologie erhebliche Veränderungen hinter sich. Die Entwicklung der Psychologie von einem eher metaphysischspekulativen System im Sinne von JOHANN FRIEDRICH HERBART hin zu einer ‚wissenschaftlichen‘ Psychologie ist insbesondere mit dem Namen WILHELM WUNDTs verbunden; seine Ansätze und deren Wirkungen sind in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts zu datieren. Dessen Neuorientierung drückte sich z.B. in seiner Begeisterung für das Experiment und insbesondere für die Statistik aus. „Das Bedauerlichste für die tatsächliche Geschichte der Psychologie: Alle diese vom jungen Wundt für wichtig erachteten Aspekte psychologischer Forschung sind entwickelt und ausgearbeitet worden, nur zum großen Teil außerhalb der Psychologie und, nicht selten, in Absetzung von und Ablehnung der Psychologie. Die nachfolgende Verselbständigung des Evolutionskonzepts hat zu einer Ethologie geführt, die sich ironischerweise auch Verhaltensforschung nennt. Die nachfolgende Vernachlässigung der historischen Dimension ist nach wie vor unbewältigt; nach dem Scheitern der ‚Verstehenden Psychologie‘ sind gegenwärtig historische Psychologie, kritische Psychologie, psycho-history entsprechende Versuche, z.T. wieder mit der Gefahr der Sezession. Die naturgeschichtlich arbeitende ‚Völkerpsychologie‘ hat eher auf Ethnologie, Kultur132
anthropologie, Ethnographie gewirkt als auf die Psychologie, incl. Sozialpsychologie. Die nachfolgende Vernachlässigung statistischer Erhebungstechniken zu demographischen Zwecken bzw. zur Bestimmung des „sozialen Zustandes“ eines Volkes hat der sich ja erst später entwickelnden Soziologie ein Hauptinstrument und einen zentralen und stattlichen Forschungsbereich eingebracht“ (GRAUMANN 1980, S.75f.). Aber auch gerade in der Soziologie wurde heftig über diese Fragen diskutiert, allerdings in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg: „Die Sozialforschung soll im wesentlichen empirische Forschung des sozialen Lebens sein, mit den folgenden drei Aufgaben: Erstens: die Erforschung der Ordnungsprobleme für das Zusammenleben der Menschen in der Gesellschaft, zweitens: die Analyse der Störungsfaktoren und ihrer Ursachen, vor allem in den kleinsten Einheiten: der Familie, der Gemeinde und den Betrieben. Drittens: die Erkenntnis von Mitteln und Wegen für Empfehlungen zur Beseitigung sozialer Störungen. Um das zu realisieren, muß die Sozialforschung vor allem drei Bedingungen erfüllen: 1. Sie muß den Mut zum Experiment haben und den empirischen Methoden den Vorzug geben ... [Diese Forderungen erweckten aber auch Ängste, sodass es zu; MvS] „Warnungen vor einer Hypotrophie der empirischen Forschung“ kam (NEULOH et al. 1983, S.73). Vielleicht sind ja Psychologie und Soziologie so weit von der Pädagogik entfernt, dass man hier die Empirie systematisch abgrenzen darf. Daher zurück zur Frage: Liegt denn nun im Falle der Empirischen Erziehungswissenschaft eine Disziplin vor oder nicht? Zur Beantwortung dieser Frage muss man auf Kriterien zurückgreifen, die sich bei LUDGER HELM bereits andeuten: „Konzeptionell und historiographisch wird der Disziplinbegriff also dadurch eingeführt, daß sich thematisch verselbständigtes und abgrenzbares Wissen seit dem späten Mittelalter auch sozial emanzipiert, und zwar tendenziell irreversibel, ohne die Rückkehr in den Schoß von Theologie oder Philosophie. ... Die Konstitution einer Disziplin ist vielmehr ein Prozeß sowohl der Ausdifferenzierung, gegenüber dem Alltagswissen, wie der Binnendifferenzierung, gegenüber bereits disziplinförmigem Wissen“ (HELM et al. 1990, S.30f.). Die damit notwendigen Beschreibungen der eigenen Disziplin wurden in der Soziologie bereits mehrfach angewendet: „Soziologische Theorie interpretiert die Binnendifferenzierung sozialer Kommunikationsnetze in thematisch spezifiziertere Untereinheiten unter dem Gesichtspunkt der damit erreichbaren Steigerung von Problembearbeitungskomplexitat. Wissenschaftssoziologische Analysen haben diese allgemeine Theoriefigur auf die Prozesse der Aus- und Binnendifferenzierung einzelwissenschaftlicher Arbeitsfelder oder Disziplinen übertragen, und zwar auf der Ebene der Modellbildung wie auf der Ebene empirischer Untersuchungen“ (SCHRIEWER, 1991, S.121). 133
Rein institutionell betrachtet kam es in der Erziehungswissenschaft nach deren sog. ‚Realistischer Wende‘ zügig zu weitreichenden Entwicklungen: „Die Aufnahme des ‚Arbeitskreises für empirische pädagogische Forschung‘ in die DGfE geht auf einen Vorstandsbeschluss vom 8./9.11.1968 zurück, in dem die Bereitschaft erklärt wurde, den Arbeitskreis ‚dem Status einer Kommission der Deutschen Gesellschaft gleichzusetzen‘ und die Aufnahme nicht daran zu binden, daß alle Mitglieder des Arbeitskreises auch Mitglieder der Deutschen Gesellschaft werden ... In der Reihenfolge der Kommissionsgründungen liegt die AEPF damit auf Platz 3“ (BERG 2004, S.41). Später gab es aber im Vorstand der DGfE kaum Empiriker (vgl. SALDERN 2010). Die Frage ist, ob derartige Konstitutionsprozesse einen Abschluss finden, besonders vor dem Hintergrund, dass neue Begriffe Konjunktur haben wie z.B. Bildungsforschung. Mit KLAUS-PETER HORN muss man skeptisch sein: „Eine allgemein anerkannte allgemeine oder systematische Pädagogik gibt es aber nicht, die Pluralität der Entwürfe ist vielmehr der Ausgangspunkt der Diskussion über die Möglichkeit und Notwendigkeit einer systematischen Pädagogik“ (HORN/WIGGER 1994, S.25). In der Inhomogenität liegen aber auch Gefahren: „Die Verwissenschaftlichung der Pädagogik in ausdifferenzierten Teildisziplinen scheint ihr Allgemeines pädagogisch uninteressant, und das pädagogisch Interessante nicht pädagogisch allgemein gemacht zu haben“ (PASCHEN 1998). Diesem Problem wird man sich verstärkt zuwenden müssen – gleichgültig, welcher Teildisziplin man sich zurechnet oder zugerechnet wird. Auf der Basis dieser Analyse könnte man von der These ausgehen, dass derartige Prozesse letztlich fließend sind und immer wieder Dynamiken der Aushandlung zu ihrer notwendigen Folge haben: „In ihrer Wirklichkeit ist jede wissenschaftliche Disziplin nämlich nicht die zeitlose Manifestation einer gültigen Idee, sondern das Ergebnis einer gesellschaftlichen Anstrengung; und auch die wissenschaftliche Pädagogik ist letztlich nur Produkt einer historisch gegebenen und sich verändernden erziehungswissenschaftlich-pädagogischen Kommunikation“ (TENORTH 1990, S.24). Gerade diese pädagogische Kommunikation ist es, die viel Aufwand darauf verwendet, die empirische Erziehungswissenschaft zu kritisieren. Die damit verbundenen Abgrenzungsversuche sind – wie bereits gezeigt – in anderen sozialwissenschaftlichen Disziplinen nicht mehr zu finden. Es mag ein Zeichen der Unreife der deutschen Erziehungswissenschaft und damit insbesondere der Allgemeinen Pädagogik sein, die Empirische Erziehungswissenschaft immer noch als solche zu benennen.
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Kritik an der Empirischen Pädagogik
Neben den genannten wissenschaftssystematischen Überlegungen und den eher psychologisch zu interpretierenden Abgrenzungsversuchen gibt es auch substanzielle inhaltliche Kontroversen. Diese Auseinandersetzungen mit der Empirischen Pädagogik haben eine lange Geschichte, die hier nicht vollständig wiedergegeben werden kann. Sie führte letztlich dazu, dass die Empirische Pädagogik nicht systematisch in das System der Pädagogik integriert wurde, sondern bis heute theoretisch und institutionell eher als ausgegrenzt zu bezeichnen ist. Häufig werden dabei Kriterien zur Beurteilung herangezogen, die für andere Wissenschaften in dieser Schärfe nicht Berücksichtigung finden. PETER VOGEL nennt z.B. vier Argumente, die gegen die empirische Erziehungswissenschaft sprechen sollen. Das erste Argument ist, dass mit der Bestimmung des Gegenstandes Erziehungswirklichkeit Vorentscheidungen einhergehen würden. Diese seien wiederum selbst nicht empirisch überprüfbar. Dieser Kritikpunkt geht deshalb ins Leere, weil dies für jede Art von Wissenschaft gilt. Zudem findet man in keinem Lehrbuch die Aussage, dass es in der Empirischen Erziehungswissenschaft keine Voraussetzungen für Forschung gibt. Man findet einen ähnlichen Gedanken bereits bei FLITNER: „Pädagogik wird dann wie Politik eine Wissenschaft der reinen Tatsachenforschung. Wenn das so möglich und sinnvoll wäre! Es ließe sich dann unmittelbar an die Tatsachenforschung anknüpfen, die seit Jahrzehnten in der Psychologie vorhanden ist und vielfach schon pädagogische Tatbestände zum Gegenstand hatte. Gegen die Tendenz ist nichts einzuwenden, wohl aber gegen eine unkritische Auffassung dieser Tendenz und dessen, was hier eine pädagogische Tatsache ist. Sie wird immer dadurch sichtbar, dass Teile des erzieherisch relevanten Geschehens aus ihren tieferen und weiteren Zusammenhängen isoliert werden. In dieser Abstraktion vollen und wirklichen Geschehens innerhalb des isolierten Raumes werden dann Reaktionen auf erzieherische Einwirkung beobachtet, beschrieben und verständlich gemacht“ (FLITNER 1964, S.138). Diese Kritik ist allerdings schon vor langer Zeit aufgegriffen worden und äußert sich z.B. durch den Nachweis der sog. Ökologischen Validität einer empirischen Untersuchung. In seinem zweiten Argument behauptete VOGEL, dass der Zögling zum Objekt technischer Manipulation würde. Im Kausalschema würden dem Zögling Handlungsmächtigkeit und Intentionalität abgesprochen werden. Dies übersieht, dass das Kausalschema natürlich auch interne Faktoren des Zöglings zum Gegenstand der Analyse machen kann. VOGEL steht mit seiner Haltung nicht allein. Er schließt hier nahtlos an die Kritik an der experimentellen Methode in den Erziehungswissenschaften an: „Im Handlungsvollzug muß der Lehrer auch den Zusammenhang mit einer internen Theorie der Bildung, mit Lernen und 135
Selbstorganisation herstellen. Ich halte es von Seiten der pädagogischen Theoriebildung aus für feige, wenn sie dieses komplizierte Geschäft dem Praktiker allein überläßt. Will sie dabei aber verantwortliche Hilfe leisten, kann sie nicht mit dem Experiment und der Erfahrung beginnen, sondern wie es eh und je die Theoriebildung getan hat: sie muß mit dem Denken anfangen“ (LASSAHN 1981, S.432). Denken ohne Fakten? Sein drittes Argument gegen die empirische Erziehungswissenschaft ist, dass diese pädagogisches Handeln nicht begründen könne. Hier trennt VOGEL nicht sauber zwischen Ursache (die man kennen muss, um Effekte zu erreichen) und Grund (für das eigene pädagogische Handeln). Auch diese Kritik greift deshalb nicht, weil niemand behaupten würde, dass normative Fragen durch die Ergebnisse von Empirie zu beantworten wären. Das Vermischen von Grund und Ursache findet sich aber auch schon bei EDUARD SPRANGER: „Der Wille zur Objektivität kann nicht soweit getrieben werden, dass überhaupt keine formende und gestaltende Seele mehr übrig bleibt“ (SPRANGER 1964, S.18). Diesen Satz schreibt ausgerechnet derjenige Pädagoge, der sich nach dem Zweiten Weltkrieg für eine erneute Einführung jenes gegliederten Schulsystems landauf-landab eingesetzt hat, welches sich bei und schon vor PISA als leistungsschwach und sozial hochselektiv erwiesen hat. Ein bisschen Empirie hätte diesen schweren Fehler vielleicht verhindern können.5 VOGELS viertes Argument ist, dass man Pädagogik als Wissenschaft durch empirische Methoden nicht begründen könne. Diese Aussage ist richtig, gilt aber für jede Pädagogik, z.B. auch die geisteswissenschaftliche (VOGEL 1989, S.432). Wissenschaften können grundsätzlich nicht auf Objektebene begründet werden. KARLHEINZ INGENKAMP, PETER S. JÄGER, HANNS PETILLON und BERNHARD WOLF weisen in ihrer direkten Antwort auf VOGEL zusammenfassend darauf hin, dass (der Theoretiker) VOGEL kein „zutreffendes Bild empirisch-analytischer Forschungspraxis“ zeichne (INGENKAMP et al. 1992, S.11f.). Ähnlich positioniert sich schon früher TENORTH: „Sowohl theoretisch wie politisch war nämlich die Praxis der empirisch-pädagogischen Forschung weitaus ambivalenter, auch selbstreflexiver und kritischer, als es viele ihrer Opponenten heute wahrhaben wollen“ (TENORTH, 1989a). Dennoch beobachtet auch TENORTH Probleme in und mit der Empirischen Pädagogik. Ihm zufolge „zerfällt die empirische Erziehungswissenschaft gerade5 „Mit ihrer hohen politischen, öffentlichen und universitären Akzeptanz setzten diese ‚philosophischen‘ Pädagogen sich erneut für das humanistische Gymnasium ein oder hielten etwa am dreigliedrigen Schulsystem fest. Litt allerdings war aufgrund der hohen Kompromittierung der akademischen Elite im NS skeptischer gegenüber der klassischen Bildung (wie auch Schmittlein, der ‚Erziehungsminister‘ der Französischen Besatzungszone), was sich bald in seinen Publikationen niederschlagen sollte“ (KERSTING 2008, S.76).
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zu in zwei Teile: in Programm und Praxis – die kaum etwas miteinander zu tun haben. Etwas genauer: die dem empirisch-analytischen Paradigma zurechenbaren Erziehungswissenschaftler bilden zwei Gruppen; einerseits die Programmatiker und (Wissenschafts-)Theoretiker, andererseits die empirisch arbeitenden Forschungspraktiker“ (DINTER 2001, S.115). Die aus dieser Trennung entstammende Schwierigkeit bestehe „in den Thesen, - dass es wohl ein Programm, aber kein ausgearbeitetes System der empirischen Erziehungswissenschaft gehe; - dass die vom Programm veranschlagte Wissenschaftstheorie grundsätzliche, also metatheoretische Mängel habe und Forschungspraxis nicht normieren könne; - dass sich die Forschungspraxis an den gängigen Statistik- und Methoden-Lehrbüchern orientiere, darin aber kein Programm spezifisch erziehungswissenschaftlicher Empirie zu erkennen sei. Der entscheidende Punkt der Bilanz TENORTHS ist der Hinweis auf die weitgehend unabhängig voneinander operierenden Funktionsgruppen der Programmatiker und Theoretiker ohne empirische Forschungspraxis auf der einen Seite und der praktischen Empiriker ohne Interesse an einer wissenschaftstheoretischen Grundlegung ihrer Forschungspraxis auf der anderen Seite“ (DINTER 2001, S.118). Dieser Analyse muss man uneingeschränkt zustimmen, wobei zu fragen ist, was eine ‚spezifische erziehungswissenschaftliche Empirie‘ sein soll. Einer der weiteren Kritikpunkte liegt in dem Vorwurf der Übernahme von Methoden aus Nachbarwissenschaften. Dies scheint der running gag in der Kritik an der Empirischen Erziehungswissenschaft zu sein: „Es ist eine bekannte Schwäche der Erziehungswissenschaft, daß sie sich bisher ausschließlich solcher empirischer Methoden bedient, die nicht aus dem Bereich der Erziehungswissenschaft stammen, sondern aus anderen Bereichen der Sozialwissenschaften übernommen werden“ (FAUSER/SCHWEITZER 1979, S.628). Diese Einschätzung geht davon aus, dass es überhaupt disziplinspezifische Methoden gibt. Dies darf bezweifelt werden. Methoden sind abhängig von den Fragen und Zielen von Forschung. Es geht aber weiter: „Die Pädagogik [hat sich; MvS] an solchen Wissenschaften orientiert, die in systematischer Erarbeitung von Tatsachen durch empirische Methoden einen Wirklichkeitsbereich des Menschen zu erhellen trachten. Solche Erfahrungswissenschaften sind die Anthropobiologie, die Medizin, die Ethnologie, die Geschichte, die Philologie, die Psychologie, die Sozialwissenschaften, die sich in der Ausrichtung auf die Wirklichkeit Mensch ineinander verschränken und die streng voneinander zu trennen nicht mehr gelingt.“ (MENZE 1966, S.27) Hier deutet sich bereits an, dass vielleicht nicht nur die Empirische Erziehungswissenschaft, sondern die gesamte Pädagogik von Übernahmen betroffen ist: „Es wird die Frage gestellt, ob die Pädagogik überhaupt eigene Methoden habe oder nicht vielmehr je nach Bedarf mit philosophischen, historischen, 137
psychologischen, soziologischen Methoden usw. arbeite“ (SCHEUERL 1994, S.108). Die Kritik an der Übernahme von Methoden ist also nicht haltbar, was schon früh zu differenzierteren Stellungnahmen führte: „Zwar hat sich die Erziehungswissenschaft, ausweislich ihrer Argumentationsstrukturen und Arbeitsweisen an die anderen Sozialwissenschaften angeglichen. Aber auch diese ‚realistische Erziehungswissenschaft‘, die wir also haben und nicht erst fordern müssen, ist in einem deutlichen Sinne Erziehungswissenschaft geblieben.“ (MÜLLER/TENORTH 1979, S.863) DINTER urteilt zusammenfassend: „Die Herabsetzung der Experimentellen Pädagogik durch die Geisteswissenschaftler in der Zeit um die und nach der Jahrhundertwende wiederholt sich bei der Renaissance empirischer Vorgehensweisen in der Erziehungswissenschaft in den 60er und 70er Jahren“ (DINTER 2001, S.121). Der Konflikt scheint damit aber noch nicht beendet. 7
Ein neues Konfliktfeld - Bildungsforschung
Versuche, die Empirische Erziehungswissenschaft zu kritisieren, setzen sich offenbar fort. Es ist in jüngster Zeit ein (alter) Begriff wieder belebt worden, der aktuell die Kritik auf sich zieht: die Bildungsforschung. Begriff und Ansatz der Bildungsforschung sind nicht neu, allerdings ist durch die vermehrte Umwidmung von Professorenstellen in der Bundesrepublik in Richtung auf ‚Empirische Bildungsforschung‘ die kritische Diskussion verstärkt worden. Bildungsforschung ist schon früh begründet worden: „Die Notwendigkeit exakterer Leistungsbeurteilungen nach einheitlichen, über den Rahmen der einzelnen Klasse oder Schule hinaus anwendbaren Maßstäben wird mit der weitergehenden Vereinheitlichung der Schule immer deutlicher hervortreten“ (HYLLA 1948). Die Argumente dagegen ziehen sich durch ein halbes Jahrhundert, wofür drei Beispiele stehen sollen: „Erziehungswissenschaft im Sinne der realwissenschaftlichen Konzeption ist eine restringierte Wissenschaft.“ ... „Angesichts der höchst komplexen Bedingungsgefüge pädagogischer Probleme, ihrer Abhängigkeit von der historisch- gesellschaftlichen Situation und der subjektiven Beeinflussung durch die betroffenen Personen, ist es kaum denkbar, die geforderte Überprüfung der Gesetze und die exakte Beschreibung der Randbedingungen unter experimentellen Versuchsbedingungen kontrollieren zu können.“ Und weiter: „...bleibt der gesamte Bereich bildungspolitischer Probleme praktisch außerhalb der erklärenden und technisch-prognostischen Möglichkeiten dieser Konzeption“ (ZENKE 1972, S.188). „Die empirische Bildungsforschung befindet sich noch in einem frühen Stadium ihrer Entwicklung. Einerseits unterliegt sie in ihrem Arbeitsstil und ihren Erwartungen noch immer in mancher Beziehung den Einflüssen der spekulativen pädagogischen Tradition, die die Dinge oft recht einfach erklärte. Andererseits lehnt sie sich in ihren Methoden noch zu sehr an
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Naturwissenschaft und Technik an, die sich meist mit leichter abgrenzbaren, klareren und weniger komplexen Strukturen befassen.“ (PETRI 1975). „Dass die Konjunktur wissenschaftlicher Paradigmen nicht notwendigerweise die Überlegenheit bestimmter Theorien, sondern eher die Marktkompetenz ihrer Vertreter dokumentiert, ist seit Kuhn unter Wissenschaftshistorikern bekannt. Die empirischen Methoden und Theorien der Erziehungswissenschaft sind in Deutschland häufig unterschätzt und manchmal auch überschätzt worden. Zurzeit erleben wir einen starken Bedeutungsgewinn dieser Forschung, der Erwartungen weckt, die vermutlich nicht erfüllt werden können“ (RAUIN 2004, S.48).
Die letztgenannte Unterstellung ist, wie oben gezeigt, typisch gewesen auch in der Kritik gegenüber der Empirischen Erziehungswissenschaft generell. Interessant an der Kritik zur Bildungsforschung ist allerdings das Bedeutsamwerden einer ganz neuen Perspektive. Erstmals rückt der Blick das Verhältnis von Staat und Forschung in den Mittelpunkt. In den 1970er und 1980er Jahren war das Verhältnis zwischen Bildungsforschung und Staat von einseitiger Abneigung gekennzeichnet: Der Staat konnte sich jahrzehntelang nichts daran gewöhnen, dass das größte soziale System – die Schule – systematisch erforscht und evaluiert wird. Insbesondere wurden immer wieder Datenschutzgründe vorgeschoben, worauf insbesondere INGENKAMP immer wieder hingewiesen hat (vgl. AVENARIUS/INGENKAMP/OTTO 1980). Auch wurden seitens der Administration international hochkarätig besetzte Tagungen zu überregionalen Lernerfolgsmessungen nicht wahrgenommen (vgl. INGENKAMP/SCHREIBER 1989). Inzwischen (genauer: seit der ersten PISA-Studie) hat sich das Verhältnis zwischen Staat und Bildungsforschung allerdings stark verändert. Es deutete sich bereits Ende des letzten Jahrhunderts an, dass dieses Verhältnis vielleicht sogar zu eng sein könnte: „Die empirisch-pädagogische Forschung wird innerhalb der Erziehungswissenschaft nicht selten mit dem zweifachen Vorwurf konfrontiert, in ihrem Ertrag praxisfern und technologisch sowie in ihrer politischen Funktion affirmativ und korrumpierbar zu sein“ (TENORTH 1989a). TENORTH stellte sich etwas später die Frage, ob sich die Erziehungswissenschaft „allein aus einer eigentümlichen Spannung, zwischen Staatsabhängigkeit und disziplinärer Autonomie, theoretischen Ambitionen und ideologischer Deformation, zwischen genuinem Forschungsanspruch und dem Status einer Legitimationswissenschaft angemessen beschreiben lässt.“ Diese Dichotomisierungen könnte man mit einiger Fantasie auch der Bildungsforschung am Anfang des dritten Jahrtausends auferlegen. TENORTH meinte damit nämlich die Beschreibung der Erziehungswissenschaft in der SBZ und DDR (TENORTH 1997, S.134). Die Rolle der Bildungsforschung scheint nach den bisherigen ersten Analysen irgendwo zwischen Nicht-Anerkennung – durch die ‚anderen‘ Pädagogiken – und Prostitution – gegenüber dem Staat – zu liegen. Der Gedanke an Prostitution liegt nahe, weil Empirische Bildungsforschung fast nur noch staatliche Aufträge erfüllt und so auf die Rolle eines politisch gesteuerten Datenlieferanten zurecht139
gestutzt worden ist. Der Gedanke der Nicht-Anerkennung drängt sich auf, weil die zahlreichen Stellen für Empirische Bildungsforschung kaum noch von Erziehungswissenschaftlern besetzt werden. Geschieht so etwas überhaupt noch, dann sind oftmals Berufungen von solchen zu beobachten, welche die notwendige Breite in erziehungswissenschaftlicher Theoriebildung nicht nachweisen können und somit hinter jenem Niveau zurückbleiben, das schon ROTH eingefordert hat. 8
Fazit
Zum Abschluss soll erneut einer der ‚Alten‘ zu Worte kommen: „Die theoretischen Konzepte falsifizierbar zu machen, das ist das sokratische Motiv, mit dem der Empirismus das hermeneutische Gespräch bereichert und durch das er die Hermeneutik praktisch macht. Das bedeutet für die Pädagogik: Nur wenn sie als hermeneutische Wissenschaft auch empirisch verfährt, kann sie zu einer pragmatischen Wissenschaft werden, d.h. zu einer Wissenschaft für eine Praxis. In ihrem ‚Selbstverständnis‘ als ‚hermeneutischpragmatische‘ Wissenschaft fehlt das Bindeglied der Empirie. Die Pädagogik muß eine ‚hermeneutisch-empirisch-pragmatische‘ Wissenschaft sein, oder sie wird überhaupt nicht sein.“ (LOCH, 1967)
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Pädagogische oder erziehungswissenschaftliche Historiographie? Skizze eines Vermittlungszusammenhangs im Anschluss an ideengeschichtliche Überlegungen von Quentin Skinner1 Marcus Erben „…jeder Mensch und jedes Volk braucht…eine gewisse Kenntnis der Vergangenheit, bald als monumentalische, bald als antiquarische, bald als kritische Historie: aber nicht wie eine Schaar von reinen, dem Leben nur zusehenden Denkern, nicht wie wissensgierige, durch Wissen allein zu befriedigende Einzelne, denen Vermehrung der Erkenntnis das Ziel selbst ist, sondern immer nur zum Zweck des Lebens und also auch unter der Herrschaft und obersten Führung dieses Zweckes.“ (Friedrich Nietzsche: Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben)
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Einleitung und Problemstellung
Von einer Einheitlichkeit ihrer wissenschaftstheoretischen und methodologischen Fundamente und Prämissen kann in der gegenwärtigen pädagogischen Geschichtsschreibung keine Rede sein (vgl. beispielhaft: TENORTH/BOEHME 1990; CASALE/TRÖHLER/OELKERS 2006; GAUS 2006). Einheitlichkeit ist aus wissenschaftssoziologischen Gründen nicht wünschbar und vor disziplingeschichtlichem Hintergrund nicht möglich. Wissenschaftssoziologisch ist sie nicht wünschbar, weil die durch Vielfalt der Methoden, Verfahren und Annahmen gekennzeichnete historische Erforschung von Erziehung und Bildung fortschreitend Wissen und Erkenntnis nicht nur für wissenschaftsimmanente, sondern auch für institutionelle Praxisansprüche methodisch generiert, durch spezifische Darstellungsformen aufbereitet und so durch Publikationen verfügbar macht. Disziplingeschichtlich ist sie nicht denkbar, weil die sich beschleunigende, von der ‚Moderne’ initiierte, seit den 1970er Jahren geradezu explosionsartige Ausdifferenzierung der Pädagogik/Erziehungswissenschaft in immer zahlreichere Subdisziplinen, Fachrichtungen und pädagogische Lehren und damit die Ausdifferenzierung ihrer Methoden, Verfahren, und Ansätze auch vor jenem Teilzweig der Allgemeinen Pädagogik nicht Halt macht, der sich mit dem 1 Dieser Aufsatz basiert auf Vorarbeiten für mein Dissertationsprojekt ‚Begriffswandel als Sprachhandlung: Der Beitrag Quentin Skinners zur Methodologie der Historischen Bildungsforschung. Zugleich ein Beitrag zu einer Kontroverse in der Historischen Pädagogik’ und stellt erstmals Argumentationsfiguren daraus der Fachöffentlichkeit vor.
historischen Werden pädagogischen Denkens und erzieherischen Handelns befasst und der üblicherweise unter dem Sammelbegriff Historische Pädagogik firmiert (vgl. KRÜGER 2002, S.308ff.; LENZEN 2004, S.48ff.). In seinem Aufsatz ‚Quo vadis – Pädagogik?’ hat WINFRIED BÖHM den virulenten Richtungsstreit innerhalb der Fachdisziplin Pädagogik anhand des Konflikts zwischen einer überwiegend ideengeschichtlich argumentierenden Geschichte der Pädagogik und einer sich vornehmlich an den Sozialwissenschaften orientierenden und deren Methoden übernehmenden erziehungswissenschaftlichen Historiographie innerhalb der Historischen Pädagogik in fantasiereichster Kriegsmetaphorik scharfsinnig konturiert und pointiert zusammengefasst (vgl. BÖHM 2005). Dieser Streit hat seinen Ursprung und Grund in dem von WOLFGANG BREZINKA Anfang der 1970er Jahre ausgerufenen Transformationspostulat in der Pädagogik. Es sollte sich in der Wende von einer philosophisch-praktischen Pädagogik zu einer empirisch-analytischen Erziehungswissenschaft verwirklichen, was auch tatsächlich geschah. In der Zwischenzeit sind, entgegen den Intentionen BREZINKAS, beide Wissenschaftstypen – befördert durch die von NIKLAS LUHMANN getroffene Unterscheidung und Scheidung von Erziehungssystem und Wissenschaftssystem – auseinandergefallen. Auf der einen Seite steht eine Pädagogik, die ihren Charakter als praktische Wissenschaft bewahren will und daher stets an ihre Urväter IMMANUEL KANT, JOHANN FRIEDRICH HERBART und FRIEDRICH DANIEL ERNST SCHLEIERMACHER erinnert. Auf der anderen Seite steht eine Erziehungswissenschaft, die ihren orientierenden Praxisbezug weitgehend ausklammert und sich der ‚reinen Forschung‘ widmet, denn nur diese sei Wissenschaft im szientistischen Sinn. Diese kommt aktuell im Gewand empirisch-psychologischer Bildungsforschung mit ihren kompetenzindizierenden Bildungsstandards und messenden Evaluationen vor allem bildungspolitisch wirkungsmächtig daher. Um sich von der Geschichte der Pädagogik scharf abzugrenzen, spricht die erziehungswissenschaftliche Historiographie jener dezidiert den Wissenschaftscharakter ab. Dabei engt sie simplifizierend den Begriff ‚Wissenschaft‘ auf ‚reine Forschung‘ ein. Während jene ‚pädagogisch‘, d.h. im Blick auf die Lehrerbildung moralisch erziehend sei, ist diese ‚wissenschaftlich‘, d.h. Forschung und damit den „dem Leben nur zusehenden Denkern“ (NIETZSCHE 2009, S.35) zugehörig. Die auf die Unterscheidung von Erziehung und Wissenschaft gegründete Trennung von Geschichte der Pädagogik einerseits und erziehungswissenschaftlicher Historiographie andererseits schließt erkenntnistheoretisch wie methodisch die Bewusstmachung eines möglichen Vermittlungsproblems beider Ansätze a priori aus. Die Frage, inwieweit erstere Wissenschaftscharakter besitzt und letzter Pädagogikcharakter annimmt, wird dabei – ob bewusst oder geflissentlich sei dahingestellt – ausgeblendet. Denn sie stellt sich erst gar nicht. 146
Sie zöge nämlich eine synthetisch-dialektische Begriffsarbeit nach sich und entlarvte somit die ideologisierende Gleichschaltung von Pädagogik (= Erziehung = moralische Belehrungswirkung) einerseits und Wissenschaft (= wertneutrale Forschung = Zweckungebundenheit) andererseits als bloße Scheinopposition. Die Arroganz einer Vermittlungsproblemverweigerung würde zur Anerkennung eines Vermittlungsproblembewusstseins weiterentwickelt. Ein solches Bewusstsein wäre Bedingung, um die Grabenkämpfe zwischen den beiden Parteien zu befrieden und einen produktiven Dialog in Gang zu bringen. Das aufgestellte dualistische Raster ist aus bildungspolitischen wie aus wissenschaftsethischen Gründen fragwürdig. Es entzieht sich der Infragestellung der durch die Erziehungswissenschaft erhobenen Definitionsmacht darüber, was wissenschaftlich sei und was nicht. Was Pädagogik jedoch als Wissenschaftscharakter ihrer Disziplin versteht, wird in der Engführung auf Alternativentscheidungen leichthin übergangen, weshalb sich im Effekt eine Erziehungswissenschaft ohne Pädagogik als „Holzweg erweisen könnte, also als ein Weg, der ins Nichts führt“ (BÖHM 2005, S.418). In der gegenwärtigen Methoden-Debatte der Historischen Bildungsforschung / erziehungswissenschaftlichen Historiographie scheint dieser Holzweg zementiert zu werden, wenn und sofern sie ihre methodologische Überlegungen an jenen der modernen Historiographie ausrichtet (vgl. LANGEWAND 1999; CASALE/TRÖHLER/OELKERS 2006). Ziel solcher Ausrichtung ist es, die pädagogische Geschichtsschreibung weniger als allgemeinpädagogische Subdisziplin zu festigen denn als thematische Spezialdisziplin der Geschichtswissenschaft einzugliedern. Zu Unrecht wird in der Einleitung von RITA CASALE der Aufsatz von BÖHM als Bekräftigung einer „national eingeengte[n], moralische[n] Bildungswirkung“ beurteilt (CASALE/TRÖHLER/OELKERS 2006, S.7). Dementsprechend wird BÖHMs instruktiver Vorschlag einer Synthese zwischen pädagogischer und erziehungswissenschaftlicher Historiographie schlichtweg ignoriert. Stattdessen wird unbeirrt an der trivialen Dichotomie Pädagogik und Wissenschaft festgehalten. In dieser Diskussion wird als Gewährsmann für eine geschichtswissenschaftliche Ausrichtung der pädagogischen Geschichtsschreibung häufig jener britischer Historiker und Politiktheoretiker genannt, der neben JOHN GREVILLE AGARD POCOCK das Gesicht der so genanten ‚Cambridge School’ der History of 2 Ideas (im Plural!) zeigt: QUENTIN SKINNER. Er übt auf die politische Ideenge2 Beide Autoren konzentrieren sich – so HARTMUT ROSA – auf zwei verschiedene, komplementäre Aspekte einer theoretischen Konzeption: „Während Pococks Studien die historische Rekonstruktion von in einzelnen Epochen der Geschichte dominierenden Paradigmen zum Ziel hat, untersucht Skinner die Umbrüche, Veränderungen und Rechtfertigungen dieser Paradigmen in Krisenzeiten“ (ROSA 1994, S.201).
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schichte großen und inspirierenden Einfluss aus. Seine Methode der Kontextualisierung von illokutionären Sprechakten in sprachkonventionell bzw. ideologisch dingfest zu machenden Diskurszusammenhängen wurde in der Historischen Bildungsforschung an mehreren Stellen bereits fruchtbar gemacht (vgl. zum Überblick: OVERHOFF 2004). So betont beispielsweise DANIEL TRÖHLER in seiner von POCOCKs und SKINNERs Methode der Kontextanalyse inspirierten Habilitationsschrift, dass JOHANN HEINRICH PESTALOZZIs politische Sprache der Pädagogik krisenintervenierende Antwort auf den Verfall klassischer republikanischer Tugenden wie Gemeinnützigkeit und Patriotismus war. Dieser Kontext war insbesondere während der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wirkmächtig, da in dieser Zeit die Züricher Gesellschaft mehr und mehr der Kommerzialisierung anheim fiel. PESTALOZZIs Pädagogik ist aus dieser Perspektive eine staatsbürgerlichrepublikanische zu nennen (vgl. TRÖHLER 2006). Hiermit korrigiert TRÖHLER in der dokumentarischen Qualität antiquarischer Historie ein an PESTALOZZIs ‚Methode‘ und ‚Elementarbildung‘ fixiertes Geschichtsbild des Schweizers, der über den bekannten, gleichwohl verdrehten, Slogan von ‚Kopf, Herz und Hand‘ sowie den von der ‚Wohnstubenpädagogik‘ zum verehrenswerten Vorbild ganzer Generationen von Erziehern geworden war. TRÖHLER argumentiert im Fahrwasser der „Dekonstruktion [pädagogischer] Mythen“ (TRÖHLER 2001, S.32) gegen eine angeblich hagiographische und idyllisierende „Pädagogisierung der pädagogischen Historiographie“, wie sie typisch für pädagogische Lehrbücher à la ALFRED REBLE sei (ebd., S.27). Mit den Methodologismen der Poststrukturalisten und der ‚Cambridge School‘ im Schlepptau plädiert er für eine veränderte, d.h. historisierende, entpädagogisierende und entmoralisierende pädagogische Geschichtsschreibung, die auch zu einer „neuen[n] Basis pädagogischer Theoriebildung“ werden solle (ebd., S.32). In Wirklichkeit betreibt die neue pädagogische Historiographie nicht Dekonstruktion, sondern Destruktion ihrer Klassiker. Solches tut sie beispielsweise, wenn sie das Konzept des pädagogischen Bezugs geisteswissenschaftlicher Pädagogik als romantisierend verunglimpft und dagegen das diffuse, pragmatistische Konzept einer im öffentlichen und staatlichen Auftrag stehenden Pädagogik stellt (vgl. ebd.). Dabei steht schon im Falle PESTALOZZIs außer Frage, dass er jenseits der zu Slogans geronnenen ‚ganzheitlicher Erziehung‘ und gesellschaftsferner ‚Wohnstubenpädagogik‘ bleibende Beiträge für jede pädagogische Theoriebildung geleistet hat. Solche grundlegenden Beiträge sind etwa in der dreifachen Bestimmung der anthropologischen Wurzel des Menschen als ‚Werk der Natur‘, ‚Werk der Gesellschaft‘ und ‚Werk seiner selbst‘ die biologisch-natürlichen, soziologisch-gesellschaftlichen und personal-ethischen Dimensionen von Entwicklung, Sozialisation und Erziehung zu erblicken. Auch 148
auf der Ebene pädagogischer Theoriebildung wird so das von der neuen Historiographie bekannte Muster der Schwarz-Weiß-Malerei prolongiert. Mit diesem Aufsatz soll dagegen eine pointierte These entfalten werden: Behauptet wird, dass sich SKINNERs methodologischer Ansatz für die pädagogische Ideengeschichtsschreibung gerade nicht als schroffe Abgrenzung von einer traditionellen zugunsten einer modernen Ideengeschichte instrumentalisieren lässt. Dieser Ansatz ist in seiner separatistischen Funktion kaum dazu geeignet, ein Schisma zwischen ‚alter‘ und ‚neuer‘ Ideengeschichte zu konstruieren. Vielmehr und demgegenüber bietet er sich selbst als dialogisches Moment eines Vermittlungszusammenhangs von pädagogischer und erziehungswissenschaftlicher Historiographie an. Die Antwort auf die Frage, wie dieser Vermittlungszusammenhang zwischen ideengeschichtlich orientierter ‚philosophischer‘ Pädagogik und ideengeschichtlich orientierter erziehungswissenschaftlicher Forschung zu denken ist, liegt dabei nicht in einer zur bloßen Begriffsopposition geronnenen Gegenüberstellung von ‚Erziehung‘ oder ‚Wissenschaft‘. Die Ant3 wort liegt – horrible ductu! – im Begriff der ‚Bildung‘! Nach einer kurzen Darstellung des wissenschaftlichen Profils SKINNERs soll zunächst das Motiv seiner Beschäftigung mit methodologischen Problemen der Geschichtsschreibung erhellt werden (Abschnitt 2). Danach geht es um die aus dieser Beschäftigung erwachsene Gegenüberstellung von traditioneller und neuer Ideengeschichte. Deren voneinander divergierenden grundlegenden Annahmen werden in Abschnitt 3 konturiert. Anschließend wird in Abschnitt 4 der sprachphilosophische und sprechakttheoretische Hintergrund von SKINNERs methodologischen Grundannahmen nach LUDWIG WITTGENSTEIN und JOHN LANGSHAW AUSTIN beleuchtet. Auf dieser Basis soll dann das genuin Neue an der so genannten ‚neuen‘ Ideengeschichte à la SKINNER aufgezeigt werden (Abschnitt 5). Diese Ausführungen nehmen sich zum Ziel, SKINNERs Methodik abstrakt zu formulieren und beispielhaft zu veranschaulichen. (Abschnitt 6). Die Darstellung insgesamt hat die Erfüllung eines Desiderats zum Ziel, nämlich „eine eingehende Auseinandersetzung mit seinen methodologischen und historiographischen Ar4 beiten“ (HEINZ/RUEHL 2009, S.285). Abschließend soll auf dieser Grundlage ein Vermittlungszusammenhang zwischen pädagogischer und erziehungswissen3 Ich bedanke mich an dieser Stelle ganz herzlich bei FRITHJOF GRELL. Ihm verdanke ich den entscheidenden Wink, subjektive Geschichte (historia rerum gestarum) sei Bildung und nicht Erziehung. Sein unveröffentlichter Habilitationsvortrag mit dem Titel ‚Braucht die Pädagogik noch Klassiker?‘ wirkte inspirierend für mein Dissertationsvorhaben. 4 Für die erste Übersetzungswelle der maßgeblichen Texte der ‚Cambridge School’ wird der Band von MARTIN MUSLOW und ANDREAS MAHLER bedeutsam sein, der bei Drucklegung vorliegenden Aufsatzes noch nicht erschienen und für Dezember 2009 angekündigt war (vgl. MUSLOW/MAHLER 2009).
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schaftlicher Historiographie in ideengeschichtlicher Absicht skizziert werden (Abschnitt 7). 2
Skinner zwischen ‚Textualismus‘ und ‚Kontextualismus‘
SKINNERs thematisches Profil kreist um seine drei wissenschaftlichen Schwerpunkte als Historiker, Methodologe und Politiktheoretiker (vgl. PALONEN 2004, S.61ff.). Insgesamt ist er im Zusammenhang der so genannten Intellectual History zu verorten. Diese betreibt eine der Geschichte der Philosophie und der History of Ideas engverwandte Variante der Ideengeschichte. Ihre Besonderheit ist, dass sie sich auf schriftliche Diskurse intellektueller Kontexte bezieht, in denen Personen Ideen (Gedanken) mit bestimmten Absichten argumentativ artikulieren und propagieren (vgl. LANDWEHR 2008, S.40ff.; SCHORN-SCHÜTTE 2007, S.559ff.; SKINNER 1985). SKINNER, lange Historiker in Cambridge, verteidigt einen strikt historischen Forschungsansatz. Er richtet sich gegen Philosophen idealistischer Provenienz, welche versuchen, (politische) Ideen in ein kohärentes System zu zwingen, statt diese zu historisieren. Als Methodologe nimmt er expliziten Bezug auf die Diskussionen über die sprachanalytische Philosophie im Anschluss an WITTGENSTEIN sowie auf die Sprechakttheorie AUSTINs. Als Theoretiker des Politischen untersucht er schließlich die politischen Theorien des Mittelalters im Übergang zur Neuzeit, in seinem zentralen Werk ‚The Foundations of Modern Political Thought‘ vor allem am Beispiel von NICCOLÒ MACHIAVELLI und THOMAS HOBBES (vgl. SKINNER 1978, 1996). SKINNERs Interesse an einer Methodologie zur Interpretation historischer Klassiker des politischen Denkens resultiert aus seiner Kritik an der Art, wie in Großbritannien der 1960er Jahre politische Ideengeschichte betrieben wurde: Seine „vehemente Kritik“ richtet sich gegen zwei konträr zueinander stehende, zur Orthodoxie verkommene Richtungen der Textinterpretation (HELLMUTH/ EHRENSTEIN 2001, S.153). Diese bezeichnet er dichotomisierend als ‚Textualismus‘ und ‚Kontextualismus‘. Prämisse der ‚textualistischen‘ Richtung war die Autonomie des Textes. Diese sei der Schlüssel zu seiner eigenen Bedeutung. Solche Textualität ist dem klassisch werkimmanenten Ansatz der Literaturwissenschaft, ebenso dem ideengeschichtlichen der Philosophiegeschichtsschreibung eigen. Prämisse der ‚kontextualistischen‘ Richtung war hingegen die Annahme eines Kontextes religiöser, politischer, ökonomischer und weiterer Fakten und Faktoren. Erst ein solcher Kontext bestimme die Bedeutung eines Textes. Eine solche Lesart ist etwa dem klassisch marxistischen Literaturansatz und dem Ansatz der Sozialge150
schichtsschreibung verwandt. Der ‚Textualismus‘ lässt sich wie folgt charakterisieren: „The whole point, it is characteristically said, of studying past works of philosophy (or literature) must be that they contain (in a favoured phrase) ‚timeless elements’, in the form of ‚universal ideas’, even a ‚dateless wisdom’ with ‚universal application’“ (SKINNER 1988, S.30). Über den ‚Kontextualismus’ lässt sich dagegen sagen: „If it is true that the relations between the context of any given statement (or any other action) and the statement itself do take the form, in this way, of a relation between antecedent causal conditions and their results, then it is clear that the independent life of ideas in history must be correspondingly in danger“ (ebd., S.58). Während also der ‚Textualismus‘ der Frage nachgeht, was ein Autor zu einer bleibenden Idee oder einem bleibenden Problem zu sagen hat, fragt der ‚Kontextualismus‘ nach den sozialen Faktoren, welche die Herausbildung bestimmter Ideen verursacht haben. Kritisch formuliert: Im einem Fall wird der Autor zum Kommentator überzeitlicher Ideen degradiert, im anderen zum Ausfluss sozialer Umfeldfaktoren. Wie allerdings PRESTON KING in seiner ausführlichen Auseinandersetzung mit SKINNERs Kritik am ‚Textualismus‘ und ‚Kontextualismus‘ gezeigt hat, ist die ausschließende Gegenüberstellung von ‚Text‘ und ‚Kontext‘ nicht sachlich begründet (KING 1983, S.290ff.). Vielmehr ist sie – so meine weitergehende These – funktional-rhetorischer Natur. Das Verständnis von Texten ist immer nur in der Ausbalancierung beider Dimensionen zu suchen, die jeweils schwerpunktmäßig betont und vertreten werden. Die Funktion von SKINNERs schismatisch idealtypisierender Kritik besteht meines Erachtens in der Verdeutlichung der Tatsache, dass und auf welche Weise beide Ansätze die gewichtige Position des individuellen Autors und seiner Intentionen ausblenden. Somit dient seine Kritik als Folie für die Legitimation seiner intentionalistischen Methodologie, die zwischen Text und Kontext angesiedelt ist, um der „Stimme des Verfassers im Verständnis eines Textes zu ihrer eigenen Berechtigung [zu] verhelfen“ (PALONEN 2004, S.71).
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Skinners ‚neue‘ Ideengeschichte und ihr Verhältnis zur ‚alten‘ Ideengeschichte
Das Aufgeben einer traditioneller Ideengeschichte geht bei SKINNER mit einer fundamentalen Überzeugung einher: „Die Überzeugung, die Leistung klassischer Autoren bestehe darin, Kommentare zu einem wohldefinierten Arsenal ‚grundlegender Begriffe’ zu liefern …[habe; M.E.] … zu einer Reihe von die Ideengeschichte schon allzu lange belastenden Verwirrungen und exegetischen Absurditäten geführt“ (SKINNER 2009, S.22). Diese Absurditäten gehen auf ein dieser Überzeugung zugrunde liegendes Dilemma (dilemma) zurück. Dieses leuchtet SKINNER wie folgt aus: Die Erscheinungsformen einer intellektuellen Aktivität sind Begriffsbildungen. Diese sind durch Familienähnlichkeiten (family resemblances) miteinander verbunden – der Rekurs auf WITTGENSTEINS Begriff der Familienähnlichkeit ist hier unübersehbar. Um die „Erscheinungsformen einer bestimmten intellektuellen Aktivität“, wie die Aktivitäten von Moral, Politik, Religion, Ästhetik, Pädagogik etc., zu erkennen und von jenen Erscheinungsformen anderer Aktivitäten abzugrenzen, müssen wir „einen Vorbegriff von dem haben, was wir zu finden erwarten“ (ebd., S.23). Diese von einem Forscher im Verlaufe seines Forscherlebens angeeigneten, weil einer Forschungstradition zugrunde liegenden Vorbegriffe oder – mit THOMAS S. KUHN – ‚Paradigmata‘ umgreifen im Blick auf bestimmte Forschungsprobleme und -methoden ein kohärentes System von Familienähnlichkeiten und Nachbildungen vorhandener Begriffe (vgl. KUHN 1976, S.57ff.). Sie determinieren wiederum das, was wir „‚tatsächlich‘“ im Text eines Autors finden – „selbst wenn der Betroffene nicht zustimmen würde oder gar nicht zustimmen könnte“ 5 (SKINNER 2009, S. 23). Diese erkenntnistheoretische Annahme postuliert die Unausweichlichkeit der ‚Priorität von Paradigmen‘, d.h. der Priorität von traditionsstiftenden Familienähnlichkeiten und Nachbildungen etablierter Leistungen innerhalb eines Bezugsystems vor breit und weithin akzeptierten Regeln und Annahmen einer Forschungsgemeinschaft, beim Verstehensprozess. Von ihr ausgehend, weist SKINNER seiner neuen Ideengeschichtsschreibung eine wesentlich bescheidenere Aufgabe zu. Diese gebe sich damit zufrieden, „den Wandel der Absichten und Konventionen aufzuzeigen“ (ebd.). Dieses allerdings sei eine wichtige Aufgabe. Denn dieser Wandel steht selbst im Zeichen eines Paradigmas jener ‚normalen Wissenschaften‘, in denen konventionell etablierte Leistungen eines Bezugssystems nicht mehr für die Lösung von wissenschaftlichen Rätseln 5 SKINNER reformuliert mit dem psychologischen Begriff der mentalen Prägung (mental set) die aus der transzendentalphilosophischen Hermeneutik bekannte Grunderkenntnis, dass jedem Verstehen als Bedingungsmöglichkeit Vor-Begriffe und Vor-Urteile vorausgehen.
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hinreichen, so dass es zu einem Wechsel, einem Bruch oder einer Veränderung des zuvor herrschenden Paradigmas kommt. Vor dem Hintergrund erneuerter erkenntnistheoretischer und wissenschaftstheoretischer Überlegungen ist deshalb die Hinwendung zum Paradigmenbegriff in der Ideengeschichte aus der Sicht SKINNERs unumgänglich. Die Untersuchung des kontingenten Wandels von auktorialen Intentionen und sprachlich-sozialen Konventionen ist somit das spezifische Instrumentarium seiner Ideengeschichtsschreibung. Deren Programmatik verbürgt einen kohärenztheoretischen Wahrheitsbegriff. Dieser weist „überzeitliche Weisheiten (dateless wisdoms)“ (CATLIN 1950, zitiert nach SKINNER 2009, S.21) in Gestalt „universaler Ideen (universal ideas)“ (BLUHM 1965; zit. nach ebd.) skeptisch zurück. Neue Ideengeschichtsschreibung will sich demgegenüber dem Ideal der Objektivität annähern. Hierzu versucht sie, Koordinaten einer kontextuell bestimmten, zeitgenössisch diskursiven „general social and intellectual matrix“ aufzufinden (SKINNER 1966, S.213; vgl. SKINNER 1978). In ihr sucht sie die Funktion einer Idee zu lokalisieren. Eine solche Programmatik grenzt sich entschieden von einer Geschichtsschreibung ab, bei der es sich „genau besehen gar nicht um Geschichtsschreibung, sondern um Mythen handelt“ (SKINNER 2009, S.24). Sie sitzt demnach in ihrer narrativ angelegten Struktur den erkenntnistheoretischen Fallstricken der Paradigmen kritiklos auf. Dadurch verfällt sie einer anachronistischen Fiktionalität, wie sie eben Kennzeichen von Mythen oder Geschichten (stories) ist. An dieser Stelle ist einzuwenden, dass es auch für bloß Geschichtsinteressierte mittlerweile eines zum Allgemeingut geworden ist: Jedwede Art von Geschichtsschreibung hat den zeitlich unüberbrückbaren Hiatus zwischen vergegenwärtigter Vergangenheit und vergangener Gegenwart hermeneutisch zu überbrücken. Hierdurch kommt Geschichtsschreibung zwangsläufig ein fiktionaler Charakter zu. Schon ROBIN GEORGE COLLINGWOOD und später HANSGEORG GADAMER weisen, wenn auch mit unterschiedlicher Aktzentsetzungen, auf die divinatorische Aufgabe des Interpreten hin. Diese liege darin, die Gedanken des Autors / Handelnden zu rekonstruieren bzw. deren in geistigen Objektivationen oder in Handlungen, Taten und Ereignissen gefassten Gedanken und Ideen subjektiv, in den Worten COLLINGWOODs ‚nachzudenken‘ (vgl. COLLINGWOOD 1955a; GADAMER 1986). Für COLLINGWOOD kann der hermeneutische Hiatus allein schon dadurch überbrückt werden, dass der Interpret das Denken der Vergangenheit in seinem eigenen Geiste nachvollziehen kann. Dieses gilt für ihn deshalb, weil Subjekt (Interpret) und Objekt (Autor) prinzipiell das Menschsein gemeinsam haben (vgl. COLLINGWOOD 1955a, S.226). Demgegenüber ist für GADAMER dieser Hiatus selbst Grenze und Bedingungsmöglichkeit von Verstehen: Es ist der durch das Überlieferungsgeschehen 153
gestiftete Erfahrungsraum des „wirkungsgeschichtlichen Bewusstseins“, in dem der Interpret unhintergehbar steht. Dieses ist in Form von Vor-Urteilen, Meinungen und Sinnzuschreibungen konstitutiv für jedes Verstehen. Das Überlieferungsgeschehen oder die Tradition, in welcher der Interpret steht, ist der Horizont, der in den gemeinten Sinn eines Textes hineinragt. Dessen Horizont (historische Identität) wiederum verschmilzt mit jenem des Interpreten (Horizontverschmelzung). „Der wirkliche Sinn eines Textes, wie er den Interpreten anspricht, hängt eben nicht vom Okkasionellen ab, das der Verfasser und sein ursprüngliches Publikum darstellen. Er geht zum mindesten nicht darin auf. Denn er ist immer auch durch die geschichtliche Situation des Interpreten mitbestimmt und damit durch das Ganze des objektiven Geschichtsganges“ (GADAMER 1986, S.301). SKINNER jedoch will diese hermeneutische Limitation nicht „zum Prinzip“ erheben, sondern fordert gemäß seinem strikt kontextanalytischen Programm konstruktiv, „daß wir gegen diese Begrenztheit mit all jenen Waffen kämpfen sollten, die von Historikern in ihrem Bemühungen um eine nicht-anachronistische Rekonstruktion der fremden mentalités früherer Epochen geschmiedet worden sind“ (SKINNER 2009, S.147). Dabei geht er so weit zu fordern, dass das Pradigmata „selbst aufgegeben“ werden solle, um einer „neue[n] und angemessenere[n] Interpretation der Geschichte“ Bahn zu brechen (ebd., S.31). Solches fordert er, obschon er – und hier tut sich ein eklatanter Widerspruch in seiner Argumentation auf – solche Paradigmata zuvor für „unvermeidlich“ erklärt (ebd., S.23). Dass SKINNER diesen Widerspruch in Kauf nimmt, ist seiner radikal an einem methodologisch-methodischen Erkenntnisinteresse ausgerichteten Argumentationsweise geschuldet. Diese nimmt zwar transzendentalhermeneutische Grundlagenreflexion zur Kenntnis. Sie lässt jene aber zugunsten eines auf ein methodisches Regelwerk zielenden methodologischen Programms fallen, „the context itself in the greatest detail“ zu beschreiben (SKINNER 1966, S.211). Solcher Anspruch setzt nämlich voraus, dass der Interpret, jenseits aller VorUrteile, als jemand aufgefasst wird, der außerhalb des untersuchten Gegenstands steht und damit eine Beobachterfunktion inne hat. Die Fiktionalität der ‚alten‘ historistischen Ideengeschichte ist insofern anachronistisch zu nennen. Demnach hat sie es versäumt, die Idee in ihrem Kontext zu historisieren. Stattdessen behandelte sie die ‚Idee‘ logisch wie eine überzeitliche Größe. Diese kann aufgrund ihres ahistorischen Charakters für die Lösung gegenwärtiger Probleme verwendet werden. SKINNER erblickt in der traditionellen Ideengeschichte eine zentrale Gefahr: In der Darbietungsform der Synopse werden „verstreute und eher zufällige Bemerkungen eines klassischen Theoretikers zu einer konsistenten ‚Lehre’ über die erwarteten Themen zusammengefasst“ (SKINNER 2009, S.25). Diese konsistente Lehre abstrahiert vom 154
denkenden Bewusstsein des Autors und seinen Intentionen und wird somit vergegenständlicht. Daher nimmt es nicht wunder, wenn sich eine solche Art von Geschichtsschreibung „auf Hinweise zu frühen ‚Vorwegnahmen‘ späterer Lehren und die Würdigung verschiedener Autoren im Hinblick auf ihre hellseherischen Fähigkeiten beschränkt“ oder der Frage nachgeht, ob eine Idee bei einem Autor ‚tatsächlich‘ auftauche oder nicht (ebd., S.29). SKINNER interessiert jedoch nicht, was ein Autor zu einer bestimmten Idee zu sagen hatte. Ihm geht es vielmehr um die Frage, was ein Autor mit dem, was er sagte, gemeint hat. Mit seinem methodischen Ansatz fragt er vielmehr nach angemessenen Verfahren, mit denen es gelingen kann, die Intention des Autors in einem historisch zu verortenden Diskurs aufzuspüren (vgl. SKINNER 1988, S.29). SKINNER grenzt sich explizit vom ideengeschichtlichen Ansatz von ARTHUR ONCKEN LOVEJOY ab, der als eigentlicher Begründer der ‚alten‘ Ideengeschichte gilt. LOVEJOY fokussiert eine reifizierte Elementaridee (unit idea). Diese will er „durch alle Bereiche der menschlichen Geschichte … verfolgen, in denen sie eine größere Rolle spielt“ (LOVEJOY 1993, S.26). Ideengeschichte ist demnach der Versuch einer historischen übergeordneten Synthese im Bannstrahl einer Elementaridee. Sie ist definitorisch „etwas, das enger und doch zugleich umfassender ist als Philosophiegeschichte“ (ebd., S.11). Sie ist insofern enger als Philosophiegeschichte, als sie „sich nur mit bestimmten geschichtlichen Faktoren“ beschäftigt (ebd., S.27). Ihr Gegenstand sind Denkformen, -weisen, motive, Gedanken und Triebkräfte. Diese so genannten Elementarideen werden in einer bestimmten Epoche wirksam. Ideengeschichte ist zugleich umfassender als Philosophiegeschichte, als diese geschichtlichen Faktoren gleichzeitig in normalerweise als getrennt angesehenen Bereichen des Geistesleben wirksam sind (ebd. S.27). LOVEJOY nennt als solche Bereiche des Geisteslebens Metaphysik, Religion, moderne Wissenschaftsgeschichte, Ästhetik, Moral und politische Strömungen (vgl. ebd. S.33). Methodisch geht die Ideengeschichte analytisch vor: „So bricht sie etwa bei der Behandlung der Geschichte philosophischer Theorien in die festgefügten Systeme ein und zerteilt sie für ihren eigenen Zweck in ihre Bestandteile, in das, was man ihre letzten gedanklichen Bestandteile, ihre Elementarideen nennen könnte“ (ebd. S.11). Ein Resultat der Ideengeschichte soll also sein, „daß die Originalität oder Eigenart der meisten philosophischen Systeme nicht in ihren gedanklichen Bestandteilen selbst, sondern in deren Anordnung und Verknüpfung liegt“ (ebd. S.11f.). Nicht die Qualität der gedanklichen Bestandteile eines philosophischen Systems ist maßgebend, sondern die ihrer Anordnung und Verknüpfung. Denn „in Wahrheit ist ... die Anzahl der eigenständigen und originellen philosophischen Gedanken oder Motive sehr begrenzt“ (ebd, S.12).
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Eine Elementaridee besteht dann lediglich aus einem „ausgesprochenen Satz oder ‚Prinzip‘ und aus einigen weiteren Sätzen, die aus dem ersten, ob wirklich oder angeblich, sei dahingestellt, folgen“ (ebd., S.25). Die Elementaridee der „großen Kette der Wesen“ besteht in dem erstmals bei PLATON formulierten „Prinzip der Fülle“ seiner Ideenlehre: Alles denkbar Mögliche muss auch wirklich werden. Anders ergäbe die Rede von einer autarken vollkommenen Ideenwelt keinen Sinn. Denn sie ist auf die reale Manifestation ihrer Ideale (Urbilder) angewiesen, in der sie sich erfüllt. Somit ergibt sich aus dem Seienden der Ideenwelt die Vielfalt des Daseinden im Universum. Diese Vielfalt konkretisiert sich einerseits in der Vorstellung einer „Anordnung aller Dinge in einer einzigen aufsteigenden Hierarchie der Vollkommenheit“ (ebd., S.77) und andererseits in der Vorstellung, dass „es zwischen zwei natürlichen Arten eine (denkmögliche) weitere Art gibt“ (ebd., S.76), die ihrerseits verwirklicht (erfüllt) werden muss, ad infinitum. Aus dem Prinzip der Fülle, der Idee aller Ideen, leiten sich deshalb die Sätze oder Prinzipien von der linearen Abstufung aller Wesen (von Gott bis zu den niedersten Tierarten) und von der Kontinuität dieser Fülle ab. Dieses platonische und von ARISTOTELES zur Reife gebrachte Prinzip und die aus ihm abgeleiteten Sätze verfolgt LOVEJOY durch die Ideengeschichte des abendländischen Denkens. Er spürt es dort auf, wo es seine historische Wirksamkeit entfaltete. Beispiele sind für ihn der Neuplatonismus, die Theologie und Kosmologie des Mittelalters, JOHN LOCKE, die Monadologie von GOTTFRIED WILHELM LEIBNIZ oder die Ontologie BARUCH SPINOZAs, die Ethik der ‚klugen Mittelmäßigkeit‘ der Aufklärung und schließlich die Klassiker und Romantiker FRIEDRICH VON SCHILLER, FRIEDRICH DANIEL ERNST SCHLEIERMACHER und FRIEDRICH VON SCHLEGEL, welche alle nur erdenklichen Erfassungen und Wiedergaben des Mannigfaltigen und der Möglichkeiten, insbesondere in Ästhetik und Poesie, beschwören und feiern. Für die Vermittlung von pädagogischer und erziehungswissenschaftlicher Historiographie in ideengeschichtlicher Absicht ist es aufschlussreich, dass BÖHMs ‚Geschichte der Pädagogik‘ ebenso mit einer solchen Elementaridee aufwartet. Diese nennt er die Idee der Pädagogik (im Singular): „Der Mensch ist jenes Wesen, das seine Bestimmung nicht von außen empfängt, sondern sich selber gibt und selber geben muss, um auf diese Weise zum authentischen Autor seiner eigenen Lebens- und Sinngeschichte zu werden“ (BÖHM 2004, S.10). Diese im Denken der griechischen Antike erstmals grundgelegte Idee der paideia verfolgt BÖHM in ihrer „‚schichtweise[n]‘ Anreicherung“ (ebd., S.8) von ‚Platon bis zur Gegenwart‘. Die metaphorische Rede von der schichtweisen Anreicherung ist typisch für die aus der biologischen Organologie entlehnte Vorstellung der Verfahrensweise traditioneller Ideengeschichte. Die historische Rekonstruktion der aus personalistischer Perspektive zu entfaltenden Idee der Pädagogik 156
sucht expliziten Anschluss an die History of Ideas à la LOVEJOY und andere diese Methode verwendenden Autoren wie GEORGE BOAS, JOHN PASSMORE, ISAIAH BERLIN und MORTIMER J. ADLER. Insofern verweist HEINZ-ELMAR TENORTH in seiner Rezension BÖHMs zu Recht darauf, dass dieser „die seit, wegen und nach Lovejoy inzwischen entfaltete historiographische Kritik der alten history of ideas“ ignoriere. „Die Pointe dieser Kritik bestand ja darin, dass die Idee selbst historisiert und kontextualisiert wurde, und zwar radikal, in ihrer Begründung und Form ebenso wie in ihrer Genese und Funktion, und die Cambridge School hat uns seit 30 Jahren demonstriert, warum es schwierig ist, so rigide den Kontext auszublenden, wie es hier geschieht“ (TENORTH 2005, S.737). Es ist an dieser Stelle zu vermerken, dass die Kritik an der ‚alten‘ Ideengeschichte nicht pauschal gefällt werden darf. Vielmehr muss sie bedingt eingeschränkt werden. Denn die ‚neue‘ Ideengeschichte entwickelte einen Ansatz weiter, der auch in LOVEJOYs Buch als eine Art, Ideengeschichte zu betreiben, theoretisch durchaus vorgestellt wird. Freilich aber wird sie von ihm nicht praktiziert. Es geht bei dieser Art um eine philosophische Semantik. Diese geht von der Vielfalt der Bedeutungen historischer Wörter und Begriffe aus. Solchen Wörtern und Begriffen wird allerdings „die Eigenschaft selbständig wirksamer geschichtlicher Kräfte“ zugeschrieben (vgl. LOVEJOY 1993, S.25). Diese historischen Kräfte werden durch den Gebrauch neuer, bisher jeweils unbeachteter Bedeutungsnuancen der Wörter und Begriffe in einer bestimmten Situation historisch entfesselt und wirksam. Dergestalt führen sie zu einem Wandel von Überzeugungen, Wertmaßstäben und Geschmäckern. Die ‚neue‘ Ideengeschichte strebt freilich dezidiert eine entscheidende Wende an: Diese unterstellte historische Wirksamkeit wird als nichts den Wörtern und Begriffen Immanentes angesehen. Vielmehr wird Wirksamkeit von bewussten Wesenheiten (Personen) initiiert. Diese auktoriale Wende, wie man den linguistic turn in der Geschichtswissenschaft ergänzend nennen könnte, wird zum Kristallisationspunkt der Kritik an jenem Modus jener der Entitätslogik verhaftenden Ideengeschichte zugespitzt, die von einer eindeutigen und eigenlogischen Elementaridee ausgeht. 4
Skinner zwischen Wittgenstein und Austin
Nach SKINNER darf in keinem Fall interpretatorischer Bemühungen die Einsicht ignoriert werden, „niemals [zu] behaupten, ein Akteuer (agent) habe etwas gemeint oder getan, das er selbst unter keinen Umständen als zutreffende Beschreibung dessen akzeptieren würde, was er gemeint oder getan hat“ (SKINNER 2009, S.48). Daraus folgt als Voraussetzung für ein „adäquates 157
Verständnis der in der Ideengeschichte untersuchten Texte … dass wir nicht nur die Bedeutung des Gesagten erläutern können, sondern auch das, was der jeweilige Autor gemeint haben könnte, indem er sagte, was er sagte“ (ebd., S.51). Hieraus erwächst für die Ideengeschichte die doppelte hermeneutische Aufgabe des Verstehens einer zweifachen Bedeutung von ‚Bedeutung‘. Diese gleich näher zu erläuternde Unterscheidung überträgt SKINNER auf die Ideengeschichte im Anschluss an seine Auseinandersetzung mit der sprachanalytischen Philosophie WITTGENSTEINs und der aus ihr indirekt hervorgegangenen Sprechakttheorie AUSTINs (vgl. zum Einfluss WITTGENSTEINs auf AUSTIN: HACKER 1997, S.185). SKINNER zielt auf eine Synthese der Einsichten WITTGENSTEINs zum Erfassen von Bedeutungen und der Einsichten AUSTINs zum Zusammenhang von Bedeutung und Gebrauch. In dieser Synthese sieht er „einen äußerst vielversprechenden hermeneutischen Ansatz … für die Ideengeschichte im besonderen wie für die Kulturwissenschaften im allgemeinen“ (ebd., S.64). SKINNER setzt in sprachanalytischer Tradition die Begriffe Bedeutung und Verstehen in ein korrelatives Verhältnis. Man muss die Bedeutung eines sprachlichen Ausdrucks (verstanden als Vorgang und Ergebnis einer sprachlichen Äußerung (utterance) kennen, um diesen zu verstehen. Der Begriff der Bedeutung ist allerdings selbst schillernd, komplex und mehrdeutig. Bedeutung ist, wie man in Anlehnung an AUGUSTINUS meinen könnte, nicht einfach der Gegenstand, den der sprachliche Ausdruck bezeichnet. Vielmehr umfasst sie ebenso seinen Gebrauch (use). Diese sowohl semantische als auch pragmatische Bedeutung von ‚Bedeutung‘ entfaltet WITTGENSTEIN wie folgt: „Kann denn aber nicht die Bedeutung eines Wortes, die ich verstehe, zum Sinn des Satzes, den ich verstehe, passen? Oder die Bedeutung eines Wortes zur Bedeutung eines andern? – Freilich, wenn die Bedeutung der Gebrauch ist, den wir vom Worte machen, dann hat es keinen Sinn, von so einem Passen zu reden. Nun verstehen wir aber die Bedeutung eines Wortes, wenn wir es hören, oder aussprechen; wir erfassen sie mit einem Schlage; und was wir so erfassen, ist doch etwas Anderes als der in der Zeit ausgedehnte ‚Gebrauch‘!“ (WITTGENSTEIN 1984, S.308).
Zwischen dem Erfassen des in unserer Vorstellung vergegenwärtigten Gegenstands bei der Äußerung eines Wortes und seinem Gebrauch besteht ein für die Bedeutung des Wortes konstitutiver Unterschied. Der Begriff Sprachspiel verdeutlicht in diesem Kontext, dass es verschiedene, durch explizite Regeln konventionell bestimmte Arten und Weisen gibt, wie Sprache gebraucht werden kann (z.B. als Behauptung, Frage, Befehl). Sprache ist eingebettet in eine umfassendere Lebensform. Diese macht den nichtsprachlichen Kontext von Sprache aus und ist dennoch gleichzeitig für ihre Bedeutung konstitutiv. Dass z.B. ein Ausruf wie ‚Platte!‘ als Befehl im Sinne von ‚Hol’ mir eine Platte‘ verstanden wird, hängt entschieden vom Kontext ab, in dem dieser Ausruf fällt, 158
also z.B. vom Wissen um das Verhältnis zwischen einem Altgesellen und einem Lehrling des Pflastererhandwerks. Die Bedeutung eines Wortes als seinen Gebrauch in der Sprache zu interpretieren, heißt für WITTGENSTEIN nichts anderes als mit diesem Wort etwas zu tun, also mit Sprache zu handeln. Da zwar nicht jedes Tun eine Handlung ist, aber jede Handlung ein Tun, gehören zu den begrifflich und sachlich geformten Bausteinen der intentionale und regelhafte bzw. konventionale Charakter von Handlungen, um sie als solche von einem beliebigen, versehentlichen Tun (z.B. Gähnen, Niesen etc.) abzugrenzen. AUSTIN versucht in seiner ‚Theorie der Sprechakte‘ WITTGENSTEINs Sprachspiel-These systematisch zu rekonstruieren. Ihn interessiert, was exakt es heißt, Sprache zu gebrauchen. Dabei räumt er Sprache grundlegend den Vorrang der Performanz ein. Dieses meint, dass mit einer Aussage, Behauptung etc. jederzeit eine performative Äußerung, mithin ein Sprech-Akt vollzogen wird: Indem wir etwas sagen, tun wir etwas. AUSTIN gibt die dichotomische Differenz zwischen konstativen und performativen Äußerungen, zwischen Sagen (wie aussagen und behaupten) und Tun (wie befehlen, warnen und heiraten) zugunsten der triadischen Unterscheidung von lokutionären, illokutionären und perlokutionären Akten auf. Alle drei Akte bezeichnen drei verschiedene Dimensionen des Gebrauchs von Sprache; dass man etwas sagt; indem man etwas sagt und dadurch, dass man etwas sagt. Übertragen auf das Beispiel gibt es drei Gebrauchsarten des rudimentären Satzes ‚Platte!‘. Ausgesprochen hätte er auch auswerden können als ‚Hol mir die Platte!‘. 1. Lokutionärer Akt: A sagt, dass B die Platte holen solle. 2. Illokutionärer Akt: Indem A sagt, dass B die Platte holen solle, befiehlt er. 3. Perlokutionärer Akt: Dadurch dass A sagt, dass B die Platte holen solle, bewirkt A Unwille, Verweigerung, Motivation etc. Während der lokutionäre Akt mit einer bestimmten sprachkonventionellen Phonetik, Morphematik und Grammatik die Tatsache beschreibt, dass B die Platte holen solle, und der Sprecher mit ihm etwas Bestimmtes (sense) über etwas Bestimmtes (reference) sagt, verleiht der Sprecher dem illokutionären Akt die Rolle oder Kraft (force) eines Befehls. Mit dieser Unterscheidung weist AUSTIN darauf hin, dass es völlig klar sein kann, was die Bedeutung (als sense und reference) eines Satzes oder Äußerung in einem neutralen Kontext sein kann, hier: dass von A gesagt wird, dass B die Platte holen solle; ohne dass klar ist, mit welcher Kraft sie vollzogen wird. Dementsprechend unterscheidet er zwischen der lokutionären Bedeutung einer sprachlichen Äußerung und ihrer illokutionären Kraft. Die Kraft von 2. ist ein Befehl. Sie ist das Instrument, um die Intention des Sprechers auszudrücken; die Intention 1. das Verständnis zu sichern (secure uptake), 2. mit Hilfe eines konventionellen Verfahrens (conventional procedure) einen konventionalen Effekt (conventional effect) zu erzielen und 3. zu einer Antwort herauszufordern (vgl. AUSTIN 1997, S. 133). In 159
einem spezifischen Kontext wird ein konventionaler Zusammenhang aus Sprachund Sozialkonventionen hergestellt, hier: im Rahmen von Bauarbeiten wird ein Befehl von A an B gerichtet. Die perlokutionäre Wirkung hingegen ist das, was beim Hörer kausal bewirkt wird: innere Einstellungen, wie Widerwille, Zustimmung, Vorbehalte etc., worüber der Sprecher, im Gegensatz zum illokutionären Akt, kaum Kontrolle hat. Es ist der illokutionäre Akt, dem AUSTIN überwiegend sein Interesse zuwendet, weil er seiner konventionalistischen Auffassung von Bedeutung beträchtlich nahe kommt. Dies wiederum grenzt ihn von WITTGENSTEIN ab, der von der Bedeutung als einen regelgeleiteten Zweck (s.o.) ein eher intentionalistisches Bedeutungsverständnis verficht. Hierzu ist zu sagen, dass weder WITTGENSTEIN ein reiner Intentionalist noch AUSTIN ein bloßer Konventionalist zu nennen ist. Vielmehr widmen sie sich verstärkt einem Aspekt der Bedeutungskonstitution von Sprache zu. SKINNER macht sich diese jeweilige Schwerpunktverlagerung zu nutze, indem er später auf Akte verweist, die verstanden werden, wenn man sie im Lichte des Wechselspiels von Intentionen und Konventionen untersucht. 5
Skinner zwischen Intentionen und Konventionen
Vor diesem sprachtheoretischen Hintergrund entfaltet SKINNER die Annahme einer doppelten hermeneutischen Aufgabe für das Verstehen der Texte der (politischen) Ideengeschichte. Er bewegt sich im Zuge dieses linguistic turn der politischen Ideengeschichte der ‚Cambridge School’ (vgl. IGGERS 1995). Dabei rückt für SKINNER der in der Hermeneutik GADAMERs stark vernachlässigte Begriff der Intention zum Herzstück seiner Methodologie auf: Er unterscheidet zwischen dem, was der Autor zu sagen beabsichtigte, und dem, was der Autor mit dem, was er sagte, beabsichtigte, indem er es sagte. Diese Unterscheidung basiert „on the fact that authors actually do things with words“ (BOUCHER 1985, S. 193). Die eine Absicht betrifft die semantische Ebene: Mit ‚Hol mir die Platte!‘ beabsichtigt A zu sagen, dass B die Platte holen solle. Die andere Absicht betrifft die auktoriale: Indem A sagt, dass B die Platte holen solle, befiehlt er. Was ein Autor also meinte, indem er etwas schrieb, ist seine Absicht. Die hieraus abgeleitete hermeneutische Herangehensweise ist einerseits das Erfassen und Verstehen dessen, was ein Autor sagte (Lokution) und dessen, was er mit dem, was er sagte, meinte (Illokution). Die Dimension der individuellen Mitteilung wird dadurch verstärkt exponiert: „Wir müssen auch herausfinden, was der Sprecher getan haben könnte, indem er sagte, was er sagte; was er also gemeint haben könnte, als er einen Satz mit einem ganz bestimmten Sinn (sense) und einer ganz bestimmten Bedeutung (reference) äußerte“ (SKINNER 2009, 160
S.65). Die Bedeutung eines Textes (im Sinne lokutionärer Bedeutung und illokutionärer Kraft) ist mutatis mutandis dann bekannt, wenn die semantische und die auktoriale Absicht des Autors verstanden sind (vgl. ebd. S. 9ff.). Aus diesem Grund unterscheidet SKINNER zwischen drei Dimensionen von Bedeutung (meaning), in denen sich die drei Gebrauchsarten von Sprache im Sinne AUSTINs reflektieren: Meaning (1): Bedeutung von Wörtern und Sätzen (Semantische Bedeutung). Meaning (2): Bedeutung für den Leser (Wirkungsbedeutung). Meaning (3): Bedeutung als Differenz zwischen Sagen und Meinen (Intendierte Bedeutung) Der dreidimensionale Bedeutungsbegriff zieht entsprechend drei hermeneutische Fragen nach sich, die sich für den Interpreten eines Textes ergeben: 1. 2. 3.
„What do the words mean, or what do certain specific words or sentences mean in this work?” 6 „What does this work mean to me?“ „What does the writer mean by what he says in this work?” (vgl. SKINNER 1988b, S.70; SKINNER 2007, S. 91ff.)
Um seinen Ansatz zur Rehabilitierung des Autors und des Aufspürens seiner Intentionen zu präzisieren, geht es SKINNER um die Klärung des Verhältnisses der sprachlichen Dimension der illokutionären Kraft (illocutionary force) zu der Fähigkeit des Sprechers, „sich diese Dimension zunutze zu machen, um die Art von Sprechakten – insbesondere illokutionäre Akte – auszuführen, an deren Bestimmung er vornehmlich interessiert ist“ (SKINNER 2009, S.66). Die Unterscheidung zwischen illokutionärem Akt und illokutionärer Kraft ist eine zwischen der Äußerung des Aktes und seines Vollzugs, der im Auffassen seiner Rolle bei einem Hörer besteht. Den notwendigen Bestandteil eines solchen Vollzugs erblickt SKINNER anders als AUSTIN überwiegend in den konventionellen Effekten, die der Sprecher mit seinem Sprechakt intendiert. Illokutionäre Akte betrachtet er strikt als Handlungen. Solche Handlungen sind mit einer willlentlichen und überlegten (deliberate) Absicht verknüpft, mit der ein illokutionärer Akt nicht nur einfach geäußert, sondern auch vollzogen wird. Diese Absicht tut sich in der illokutionären Kraft kund. Daher spricht SKINNER von 6 SKINNER vernachlässigt diese Bedeutungsdimension im Hinblick auf die Erfassung der AutorenIntention, weil klar sei „that the question of what a given work of litarary art may meant to a given reader can be settled quite independently of any consideration of what its creator may have intended.“ (SKINNER 1988, S.75) Die Interpretation von meaning (2) ist nicht kontextspezifisch wie meaning (3). Vielmehr sei ihre Interpretation „equivalent to appropriating it for our own purposes“ (SKINNER 2007, S.92). Applikationshermeneutische Tendenzen verstellen für SKINNER prinzipiell den Blick auf die Autoren-Intention.
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einer solchen Absicht als einer intendierten illokutionären Rolle (intended illocutionary force). Wenn die intendierte Bedeutung irgendeines Werks „in terms of its intended illocutionary force“ (SKINNER 1988b, S.76) rekonstruiert wird, dann ist diese Bedeutung (meaning 3.) eines Werks gleichbedeutend mit dem, was die Intention des Schreibers hätte sein können: „To gain ‚uptake‘ [Erfassen, Begreifen, Verstehen] of these intentions is equivalent to understanding the nature and arrange of the illocutionary acts which the writer may have been performing in writing in this particular way“ (ebd.). Der Autor tut etwas, indem er schreibt. Darin kommt jenes zum Ausdruck, was SKINNER als illokutionäre Intention bezeichnet. Was er beispielsweise tut, ist, „to attack or defend a particular line of argument, to criticize or contribute to a particular tradition of discourse, and so on. [Herv. M.E.]“ (ebd., S.76). Argumentative und diskursive Verben bezeichnen dieses intentionale Tun. Eine Bedeutung eines Werks ist, um im Beispiel zu bleiben, dass sein Autor intendierte, ein Argument anzugreifen oder zu verteidigen oder eine bestimmte Tradition eines Diskurses zu kritisieren oder zu ihr beizutragen. Das Werk mit diesen Verben als eine soziale Aktivität (social activity) zu charakterisieren, heißt seine Bedeutung als illokutionäre Kraft zu bestimmen. Indem der Autor diese oder jene Äußerung schrieb, tat er dieses (angreifen, verteidigen) oder jenes (kritisieren, beitragen). Die intendierte illokutionäre Kraft ist nichts der Aussage Äußerliches. Sie ist kein Motiv oder kausaler Beweggrund, etwas zu tun, sondern eine Intention, indem man etwas tut und damit integraler Bestandteil der Aussage selbst (vgl. auch SKINNER 1971, 1974). Die illokutionäre Kraft ist also ein sprachliches Mittel, mit der ein Sprecher seine Intention expliziert. Der illokutionäre Akt hingegen ist die Fähigkeit, sich dieses sprachlichen Mittels auch zu bedienen und seine Intention als solche kenntlich zu machen. „Das Verstehen von Texten setzt voraus, daß wir sowohl die beabsichtigte Bedeutung dieser Texte erfassen als auch das beabsichtige Verständnis dieser Bedeutung. Um einen Text zu verstehen, müssen wir also sowohl die Absicht verstehen, die verstanden werden sollte, als auch die Absicht, daß diese Absicht verstanden werden sollte, die der Text als intentionaler Akt der Mitteilung beinhalten muss“ (SKINNER 2009, S.60). Hiermit offeriert SKINNER einen komplexen Begriff von Intention. Dieser führt die Bedeutung auf eine Autoren-Bedeutung im Sinne der Post-Austinianer PAUL GRICE und PETER FREDERICK STRAWSON zurück (vgl. STRAWSON 1974). Es geht also um eine intendierte Bedeutung, die nicht allein auf eine konventionale eingeschränkt ist. Ein illokutionärer Akt, verstanden als „nicht-wesentlich konventionaler Akt“ (vgl. ebd.), braucht nicht, wie AUSTIN unterstellt hat, immer konventional zu sein, wenn er nur mit der offenkundigen und komplexen Intention vollzogen wurde. Solches ist etwa dann der Fall, wenn der Sprecher nicht nur den illo162
kutionären Akt vollzieht, sondern auch explizit macht, was er beabsichtigt. Performative Verben übernehmen diese Explizierung, indem sie angeben, mit welcher Kraft der illokutionäre Akt geäußert wurde. (‚Ich warne Dich, das Eis dort drüben ist dünn!‘) Ein Autor hat nicht nur irgendeine Absicht, sondern auch die Absicht, dass diese Absicht verstanden wird. Erst vor dem Hintergrund dieser Voraussetzung kann er auch als Autorität über seine Intentionen auftreten, die er innerhalb eines spezifischen Diskurszusammenhangs, -gefüges oder -netzes von Autoren repräsentiert und mit der er in dieses Diskursgeschehen eingreift. Daher insistiert SKINNER auf das Verstehen von Absichten und das Verstehen der Absicht, dass diese Absicht verstanden werden soll. SKINNER schränkt aber in Abgrenzung zu STRAWSON die Behauptung ein, dass eine Intention dann schon verstanden ist, wenn sie mit der notwendigen Offenkundigkeit und Komplexität vollzogen wird. Er betont jene Fälle, in denen die illokutionäre Kraft nichtoffenkundig (non-avowable) oder indirekt (oblique) zum Ausdruck kommt. So kann ein Akt ‚Das Eis dort drüben ist dünn‘ ohne performativen Zusatz als nichtoffenkundiger illokutionärer Akt (non-avowable illocutionary act) geäußert werden. Auch gibt es indirekte illokutionäre Akte (oblique illocutionary act). Deren Kräfte – andeuten (adumbrate), anspielen (allude) oder ignorieren (ignore) – können nicht auf eine performative Formulierung reduziert werden. Des Weiteren gibt es Akte, deren Explizierung paradoxe Ergebnisse zeitigen würden, nämlich die Zerstörung der Intention selbst (‚Hiermit verspotte ich dich.‘) (vgl. SKINNER 1983, S. 269ff.). Demnach müssen zwei wesentliche Komplexe zusammenkommen. Erst in ihrem Zusammenspiel wird geregelt, was in dieser bestimmen Situation als Warnung, Andeutung, Anspielung und Ignoranz zählt. Zum einen braucht es soziale Konventionen wie Lebens- und Handlungsformen, Einstellungen, Haltungen und Tätigkeiten. Zum anderen müssen Sprachkonventionen wie Vokabulare, Konzepte und Kriterien von Richtig/ Falsch gegeben sein. Diese Konventionen müssen nicht niedergeschrieben, vereinbart oder kodifiziert sein. Sie bilden sich vielmehr im Wandel der Sozialund Sprachgeschichte heraus. Erst auf ihrer Basis ist es möglich, einer Kommunikationssituation zwischen Sprecher und Hörer wechselseitig intuitiv folgen zu können. Damit ein Autor verstanden wird, kommt er nicht umhin, sich bestimmter sprachlich-sozialer Konventionen zu bedienen. Diese bilden zugleich den Horizont alles dessen, was er auch hätte sagen können: „[I]f S[peaker]’s speech act is also an act of social and linguistic innovation which S nevertheless intends or at least hopes will be understood, the act must necessarily, and for that reason, take the form of an extension or criticism of some existing attitude or project which is already convention-governed and understood. It seems a necessary truth that unless the innovation either takes such a form, or can be reduced to it, it will 163
stand no chance of being understood, and so can hardly count even as an intended act of communication“ [Herv. M.E.] (SKINNER 1983, S.279). SKINNERs Methodologie setzt an der Tatsache an, dass sprachliche Bedeutung zwischen Intention und Konvention konstituiert wird (vgl. weiterführend EICKER 2005). Zugleich aber lässt sie sich unter Berücksichtigung beider Pole idealiter als komplexe Intention oder regelgeleiteter Zweck näher differenzieren. Im ersten Extremfall ist die Bedeutung eines Satzes dann verstanden, wenn er mit der notwendigen komplexen Intention geäußert wurde. Im zweiten ist sie dann verstanden, wenn er den intendierten konventionellen Zweck erfüllt. Für illokutionäre Akte ist es jedoch typisch, dass in ihnen beide Dimensionen präsent sind: Intentionen und Konventionen. 6
Zwischen Ideologie (Sprache) und Praxis (Politik): Skinners Methode der Kontextanalyse
Für SKINNERs Methode des Aufspürens auktorialer Intention ist es unabdingbar, die konventionelle Sprache (ideology) eines Diskurses weitestmöglich zu erfassen. Es wird der linguistische oder ideologische Kontext (linguistic oder ideology context)7 eruiert, in dem die Ideen kursieren. „An ideology is a language of politics defined by its conventions and employed by a number of writers“ (TULLY 1988, S.9). Der ideologische Kontext ist weiter gefasst als der linguistische, dafür aber klar umgrenzt. Er ist „… the collection of texts written or used in the same period, addressed to the same or similar issues and sharing a number of conventions“ (ebd.). Eine konventionelle ideologische Sprache ist das, was eine Anzahl von Texten durch relevante sprachliche Gemeinplätze eint. Zu ihrem Corpus gehören „shared vocabulary, principles, assumptions, criteria for testing knowledge-claims, problems, conceptual distinctions and so on“ (ebd.). Ein Interpret, der die von einem Autorenkollektiv geteilten sprachliche Konventionen eines bestimmten Themas ignoriert, wird also weder die Absicht des Autors verstehen, noch dessen Absicht verstehen, das Verständnis dieser Absicht zu sichern. Denn nur mit Blick auf Konventionen lässt sich ausmachen, ob ein Autor diese angreift oder befürwortet, ablehnt oder unterstützt. Stimmt er 7 SKINNERs Methode fokussiert nicht nur einzelne klassische Texte. Vielmehr verortet sie diese im Rahmen abseitiger, weniger bekannter, zeitgenössischer Texte, wie Pamphlete, Streitschriften und Flugblätter, die einen eher ‚ideologischen‘ Charakter haben und daher den vorherrschenden normativen Vokabular unterliegen. Somit kommt diese Berücksichtung normalerweise als nichtklassisch betrachteter Texte seinem Anliegen zu pass, eine „history of ideologies“ in einem „ideological context“, eine politische Geschichte „with a genuinely historical charakter“ zu schreiben (SKINNER 1978, xi).
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gegen die Konventionen, indem er etwa einen Begriff oder ein Konzept oder eine zeitgenössische Vorstellung umdeutet, so hat man durch die Methode der diskursiven Kontextualisierung das erfasst, was SKINNER die Pointe (the point) nennt (SKINNER 1988b, S.61). Der Autor hat diese Sprachhandlung vollzogen, weil er eine herrschende konventionale Auffassung angriff. Dies ist eine – mit KARI PALONEN – „non-causal point-explanation“ der Sprachhandlung (PALONEN 2003, S.45). Diese tritt komplementär zum Verstehen, sodass die altbekannte Dichotomie von Erklären und Verstehen für SKINNER obsolet wird. Die zu erklärende Intention verhält sich zur Handlung nicht wie die externe Ursache zu einer internen Wirkung, weil die Intention Teil der Handlung selbst ist, die der Autor im Schreiben vollzieht. Zur deutlicheren Abgrenzung schlage ich deshalb vor, komplementär zum Begriff der auktorialen Intention, den Terminus der intrinsischen Intention zu verwenden. SKINNER nennt seine Methodik eine „intertextual approach“ (SKINNER 1988c, S.232). Er fasst sie wie folgt zusammen: „Im wesentlichen fordere ich, daß bei der Interpretation von Texten zunächst die Bedeutung der relevanten Äußerungen erfaßt wird [meaning (1)]; dann sollte sich der Interpret dem diskursiven Kontext dieser Äußerungen zuwenden, um zu bestimmen, in welcher Beziehung sie zu anderen Äußerungen zum selben Gegenstandsbereich stehen. Geling es ihm, diesen Kontext mit ausreichender Genauigkeit zu bestimmen, können wir schließlich daraus ablesen, was der jeweilige Sprecher oder Autor tat, indem er sagte, was er sagte [meaning (3)]“ (SKINNER 2009, S.79). Hat man eruiert, was ein Autor getan hat, indem er etwas schrieb, so bleibt die Frage nach dem Erklärungs-Grund, die Frage also nach dem: ‚Warum‘. „Wir müssen verstehen, warum jemand eine bestimmte Äußerung macht, wenn wir die Äußerung verstehen wollen“ (ebd., S.78). Dahinter steht die von COLLINGWOOD beschriebene Logik von Frage und Antwort. Diese stellt das Prinzip der ‚Gedankeneinheit‘ (unit of thought) der Aussagen-Logiken in Abrede. Nach jener Logik besteht das hermeneutische Anliegen nicht darin, die Bedeutung einer Aussage zu suchen, die in sich entweder falsch oder richtig ist. Vielmehr liegt die hermeneutische Aufgabe darin, jene Frage zu suchen, auf welche die Aussage/der Text die Antwort war. Eine Aussage hat nur dann Sinn bzw. ist richtig, wenn die bestimmte Frage verstanden wird, auf die sie die Antwort ist (vgl. COLLINGWOOD 1955, S.35). Zwei Aussagen, die sich scheinbar widersprechen, sind demnach zwei Antworten auf zwei bestimmte Fragen. Damit müssen auch widerstrebende Aussagen nicht unbedingt als widersprüchliche gedeutet werden. Zur Erläuterung: Die metaphysischen Aussagen ‚Die Welt ist Eines‘ und ‚Die Welt ist Vieles‘ sind logisch nicht widersprüchlich, weil und insofern sie auf verschiedene Fragen antworten. Die eine beantwortet die Frage: ‚Gibt es auf der Welt eine Art von Ding oder mehrere Arten von Ding? Die andere aber gibt 165
Antwort auf die Frage: ‚Gibt es auf der Welt ein Ding oder mehrere Dinge?‘ Diese Frage-Antwort-Logik ist ihrerseits COLLINGWOODs epistemologische Antwort auf die geschichtsphilosophische Frage, wie historische Erkenntnis möglich sei. Diese geht davon aus, dass sich die Lösungen für Probleme zu unterschiedlichen Zeiten voneinander unterscheiden. Dieses geschieht deshalb, weil sich mit den ständig sich wandelnden Problemen auch deren Lösungen wandeln. Wird diese Logik auf das Verstehen der Texte der Ideengeschichte übertragen, wird zunächst vorausgesetzt, dass Ideengeschichte keine „Geschichte verschiedener Antworten ist, die auf ein und dieselbe Frage gegeben wurde“ (ebd., S.62). Demgemäß werden die untersuchten Texte als in einer Kommunikationssituation aufgehoben betrachtet. In dieser stehen die argumentativen Äußerungen der Autoren nicht isoliert nebeneinander, sondern stehen „als Manöver, Positionierung oder Stellungnahme“ in Konfrontation oder Einklang zueinander (SKINNER 2009, S.78). In diesem Zueinanderstehen sind sie stets im Hinblick auf die in einer Zeit gesellschafts-politisch relevanten Fragen verknüpft: „Denn aus einem Text, der die Lösung eines Problems bietet, kann zugleich nachgewiesen werden, wie das Problem lautet, und die Tatsache, daß wir sein Problem identifizieren können, ist daher Beweis genug, daß es auch gelöst ist. Wir kennen also ein Problem nur dann wirklich, wenn wir von der Lösung her darauf zurückschließen“ (COLLINGWOOD 1955, S.69).
Darum reicht der allgemeine diskursiv-intellektuelle Kontext nicht aus. Er dient, wie eben gesehen, zum Aufspüren der intendierten illokutionären Kraft. Seine Rekonstruktion muss um einen zweiten, den sozialen, Kontext erweitert werden. Diesem weist SKINNER jedoch in ‚Bedeutung und Verstehen‘ zunächst eine nur sekundäre Rolle zu. Diese liegt in seiner Funktion für die nähere Bestimmung der in einer Gesellschaft vorherrschenden sozialen Konventionen: „Der soziale Kontext fungiert als grundlegender Bezugsrahmen (frame of reference), von dem her zu entscheiden ist, welche der konventionell möglichen Bedeutungen jemand überhaupt mitzuteilen beabsichtigt haben könnte“ (SKINNER 2009, S.61). Darüber hinaus aber ist er noch mehr. Diesen Surplus erläutert JAMES TULLY: Der soziale Kontext, genauer: der praktisch-politische Kontext „is the problematic political activity or ‚relevant characteristics‘ of the society the author addresses and to which the text is a response. Skinner believes that in advancing answers to questions of ideological debate the political theorist is responding to the political problems of the age“ (TULLY 1988, S.10). Es ist in der Zusammenführung des sprachlich-ideologischen Kontextes des „intertextual approach“ sowie des praktisch-politischen Kontextes des „historical approach“ (ebd., S.232) zu fragen, was 1. ein Autor getan hat, indem er einen Text schrieb und 2. was ein Autor getan hat, indem er einen Text schrieb im Verhältnis zu einer belegbaren und problematischen politischen Handlung, die den praktischen Kontext bildet. 166
Um diese Methode zu exemplifizieren, verweist SKINNER auf den Politiktheoretiker und –praktiker MACHIAVELLI. In dessen Abhandlung ‚Il Principe’/‚Der Fürst‘ findet sich folgende Sprachhandlung: „Daher muß ein Fürst, wenn er sich behaupten will, die Fähigkeit erlernen, nicht gut zu sein, und dies anwenden oder nicht anwenden, je nach dem Gebot der Stunde“ (MACHIAVELLI 2007, S.119). Es gibt zwei alternative Wahrheiten zu dieser Aussage. Entweder tauchte dieser zynische Ratschlag in den moralischen Abhandlungen der Renaissance-Zeit häufig auf, oder jemand hatte kaum jemals öffentlich einen solchen Ratschlag als Richtschnur (precept) für moralisches Verhalten eines Fürsten gegeben. SKINNER erläutert: „If the answer is the first alternative, the intended force of the utterance itself in the mind of the agent who uttered it can only have been to endorse or emphasize an accepted moral attitude... But if the answer is the second, the intended force of the utterance becomes more like that of rejecting] or repudiating an established moral commonplace“ (SKINNER 2009, S.61f.). Man kann sich für das Verständnis der Äußerung MACHIVALLIs weder einzig auf die wörtliche Bedeutung der Aussage noch allein auf den sozialen Kontext beziehen. Der erste Bezug ergäbe, dass MACHIAVELLI behauptete, ein Fürst habe nicht tugendhaft zu sein. Der zweite Ansatz würde behaupten, dass die Praktik der Gewalt ein in den italienischen Renaissance-Fürstentümern übliches Mittel der Machterhaltung war. Vielmehr gilt: „The further point which must still be grasped for any given statement is how, what was said, was meant, and thus what relations there may have been between various different statements even within the same general context“ (ebd., S.62). Nach SKINNER ist also im Rahmen des ideologisch-linguistischen Kontextes einen Blick auf das zu MACHIAVELLIs Zeit um 1513 verbreitete literarische Genre der humanistischen Fürstenspiegel zu werfen. Werden Texte dieser Gattung betrachtet, so wird in ihnen ein humanistisches Tugend-Ideal deutlich. Sie orientieren sich an den in der griechisch-römischen Antike formulierten Kardinaltugenden Gerechtigkeit, Klugheit, Tapferkeit und Mäßigkeit, ergänzen diese aber um die Fürstentugenden Freigebigkeit, Milde und Wahrhaftigkeit. Im Unterschied zu solchen Fürstenspiegeln lehnt MACHIAVELLI die Vorstellung ab, ein Fürst habe tugendhaft zu sein. Daraus ist aber noch nicht der interpretatorische Fehlschluss zu ziehen, MACHIAVELLI habe einer brutalen, rücksichtslosen Politik das Wort geredet. Zwar „unterstützt [er] die konventionelle Annahme, daß virtù der Name jener Sammlung von Eigenschaften ist, die einen Fürsten dazu befähigen, mit Fortuna ein Bündnis einzugehen und Ehre, Ruhm und Prestige zu erlangen. Aber er trennt die Bedeutung dieses Begriffs von jeder notwendigen Verbindung mit den Kardinal- und Fürstentugenden. Stattdessen argumentiert er, daß das definie167
rende Merkmal eines wahrhaft virtuoso Fürsten die Bereitwilligkeit ist, alles zu tun, was die Notwendigkeit verlangt, um seine Ziele zu erreichen – unabhängig davon, ob seine Handlungen niederträchtig oder tugendhaft sind. Auf diese Weise bezeichnet virtù schließlich genau die erforderliche Eigenschaft moralischer Flexibilität bei einem Fürsten…“ (SKINNER 1988a, S.69). Der Grund dieses Begriffswandels von Tugend wird aus dem praktischpolitischen Kontext erklärlich. Die Ausleuchtung dieses Hintergrundes macht klar, dass MACHIAVELLI den herrschenden MEDICI eine Legitimationsgrundlage verschaffen wollte. Es ging darum, gewalttätige Aktivitäten gegen spanische und französische Volksangehörige in ihrem Fürstentum zu legitimieren, damit diese aus dem Land getrieben werden (vgl. TULLY 1988, S.11). Die politische Pointe MACHIVAELLIs besteht somit darin, dass er, indem er einen konventionellen Begriff der Theorie der Fürstentugenden zugleich anerkannte und für seine Zwecke ablehnte, die politische Wirklichkeit veränderte. Diese durch Begriffserweiterung erfolgte kritische Umdeutung ermöglichte es ihm, praktisch in eine konkrete politisch-soziale Wirklichkeit einzugreifen. Diese Möglichkeit verdankte er seiner Veränderung des hinter dem Begriff stehenden Konzeptes von Tugend als moralischer Flexibilität. So ist ein reflexiver Verweisungszusammenhang zwischen politischer Theorie und politischer Praxis, zwischen politischem Text und sozialhistorischen Kontext, zwischen (politscher) Sprache und (politischer) Realität aufgezeigt. Nicht nur nimmt sozial-politische Wirklichkeit Einfluss auf politische Theorie. Vielmehr beeinflusst politische Theorie auch umgekehrt Wirklichkeit. Über Begriffswandel als Sprachhandlung nimmt sie Einfluss auf jene Wirklichkeit, die sie neu erzeugt: Politische Begriffe haben zugleich konstituierende und legitimierende Funktion für politische Praxis. Deren institutionelle Strukturen und Handlungenweisen werden durch veränderte Begriffsbedeutungen in einem neuen Lichte wahrgenommen und bewertet. (vgl. ROSA 1994, S.200; SKINNER 1988a, S.132). Indem MACHIAVELLI schrieb, ein Fürst seiner Zeit habe zu lernen, wann er nicht tugendhaft zu sein habe im Sinne des Tugend-Ideals, meinte er nicht, dass Fürsten Tugendideale überhaupt aufgeben sollten. Wohl aber insinuierte er, ein Fürst solle das rigoristische Tugend-Ideal aufgeben, sobald es die politische Notwendigkeit der Machterhaltung gebietet. Potenzielle Gewaltausübung erscheint vor diesem Hintergrund einer Umdeutung eines konventionellen Begriffs legitim. In dem Maße, in dem Gewalt tatsächlich vollzogen wird, wird sie zur Bestätigung des so etablierten Begriffsmusters. Die Pointe seiner Schrift verdankt sich einer indirekten Form oder Strategie (oblique strategy) des illokutionären Aktes. „There are thus two levels at which speech action can be identified – the conventional and the subversive, which is of course parasitic on the existence of the conventional, and which is of course itself then 168
liable itself to become conventional“ (HAMPSHER-MONK 1998, S.44f.). Diese zweidimensionale Sprach-Handlung ist der Redeweise der Ironie verwandt: Jemand sagt etwas (konventionell), meint aber (subversiv, innovativ) das Gegenteil oder etwas anderes (vgl. JAPP 1983, S.37). MACHIAVELLI meinte etwas anderes, als er sagte. In der hier vorgestellten ‚neuen‘ Ideengeschichte nach SKINNER wird die Idee als Sprachhandlung begründet, welche sich in Form eines illokutionären Aktes ausdrückt. Die Entstehung und Entwicklung von Ideen wird durch auktoriale Kritik und Erweiterung eines konventional bestimmten Begriffs oder Konzepts bewirkt. Diese Kritik und Erweiterung gilt es in von einem vom Interpreten historisch zu umreißenden Kontext zu erfassen. Nach Auffassung SKINNERs ist die Bedeutung eines historischen Satzes, Arguments oder Textes dann verstanden, wenn die Intention eines Autors in einem sprachlich-ideologischen und politisch-praktischen Kontext rekonstruiert wird. Als Agent/Akteur tut der Autor etwas mit seiner schriftlichen kontextabhängigen Äußerung oder Handlung. 7
‚Bildung‘ oder: Von der Aufgabe des Geschichtsschreibers und dem Wert (pädagogischer) Geschichtsschreibung
Begriffe und Konzepte sollen im Bezugsrahmen von Intentionen und Konventionen historisch identifiziert werden. Damit kommt dem Geschichtsschreiber eine doppelte Aufgabe zu. Einerseits sei der Historiker „so imbued with the concepts and conventions available to S[peaker] at t[ime](1) that he can elucidate not simply the question of how far (or whether) S’s utterance makes any sense at t(2) but can also explain what exact meaning and force S’s utterance of his utterance at t(1) must have registered.“ Andererseits scheint vor dem Hintergrund dieser Erklärung der intendierten Bedeutung „indispensabel that A should be capable of performing some act of translation of the concepts and conventions employed by S at t(1) into terms which are familiar at t(2) to A himself, not to mention others to whom A at t(2) may wish to comunicate his understanding“ (SKINNER 1983, S.280). Nach seiner eigenen bildenden Durchdringung gilt es für den Historiker, im kommunikativen Akt der Übersetzung die für ein zeitgenössisches Publikum fremden Intentionen und Konventionen verständlich zu machen. Hierfür sollte er über erfinderisches Gespür verfügen und die Fülle der Informationen im Griff haben (ebd., S.281). Aus dieser Charakterisierung der Aufgabe des Geschichtsschreibers lässt sich zugleich der Wert der Geschichtsschreibung ableiten. Jede Zeit muss eigene Lösungen für sich wandelnde Probleme generieren. Demnach aber kann für SKINNER der Wert der Geschichtsschreibung nicht darin liegen, 169
„[v]on der Geschichte des Denkens eine Lösung unserer unmittelbaren Probleme zu fordern“ (ebd., S.63). Den Wert des Geschichtsstudiums sieht SKINNER vielmehr in der Verdeutlichung der Kontingenz der Gegenwart (vgl. BELLMANN/EHRENSPECK 2006, S.253). SKINNERs Methodologie besticht insofern nicht nur durch ihren retrospektivischen Scharfsinn, sondern zudem durch ihre prospektivische Brisanz. So „besteht die ‚Relevanz‘ der beschriebenen ideengeschichtlichen Untersuchungen gerade darin, daß sie uns mit fremden Denk- und Lebensformen konfrontieren und es uns so ermöglichen, eine gewisse Distanz zu unseren eigenen Überzeugungen und Wertesystemen zu gewinnen“ (SKINNER 2009, S.88). Damit würden solche Untersuchungen unsere Bildungshorizonte erweitern: „Above all, we can hope to acquire a perspective from which to view our own form of life in a more self-critical way, enlarging our present horizons instead of fortifying local prejudices. It would be good to be able to refer at once to a long list of scholarly works from which it is possible to improve one’s education in just these ways“ (SKINNER 2007, S.125). Die Konfrontation mit fremden Denk- und Lebensformen führt zur Entfremdung von der unmittelbaren Gegenwart und zur kritischen Selbstreflexion. Solche Entfremdung ist für SKINNER ein konstitutives Moment von Bildungsprozessen. Idealtypisch kann er im Anschluss an WILHELM VON HUMBOLDT und THEODOR BALLAUFF wie folgt beschrieben werden: „Bildung meint den unabschließbaren wechselwirkend-zirkulären Prozess der selbsttätigen Auseinandersetzung des Menschen mit einer mit ihm nicht-identischen, mithin eigenständigen Welt, die ‚dem Eigensinn unsres Willens die Gesetze der Natur und die Beschlüsse des Schicksals entgegenstellt‘, in der Weise, dass er sich von seiner natürlichen Ich-Bezogenheit (Subjektivität) löst, auf Welt (Objektivität) als geistige und Du als personale Form übergeht, sich in ihr entfremdet, sich von ihr löst und bereichert auf einer höheren Stufe – Humboldt schreibt metaphorisch vom ‚erhellenden Licht‘ und von der ‚wohlthätigen Wärme‘, die ‚in sein Innres zurückstrale‘ – auf sich selbst zurücknimmt und dergestalt gehoben wiederum auf Welt und Du übergeht usw.“ (ERBEN 2009, S.428f.). Gerade dieser Bildungsgedanke aber wurde im kontextualisierenden Ansatz ‚dekonstruiert‘, historisiert und relativiert. Gerade in der bildenden Auseinandersetzung mit fremden Ordnungsentwürfen und Lebensformen der Vergangenheit aber können wir in Distanz und kritische Selbst-Reflexion zu unseren eigenen Ordnungsentwürfen treten, denen wir angesichts ihrer ummittelbaren Vertrautheit oftmals distanzlos und unreflektiert gegenüberstehen. „Die Aspekte der Vergangenheit … können es uns erlauben, von unseren eigenen Überzeugungen und den Begriffen, mit denen wir diese zum Ausdruck bringen, zurückzutreten; und sie können uns dazu zwingen, manchen unserer gegenwärtigen Überzeugungen im Lichte dieser erweiterten 170
Perspektiven zu überdenken, umzuformulieren oder gar … fallenzulassen…“ (SKINNER 2009, S.146). Umgekehrt entfremden wir uns von der Vergangenheit, weil das, mit dem wir konfrontiert werden, nicht wir selbst sind. Somit weist das Vergangene eben jene Widerständigkeit auf, die Konstituens von gelingender Bildung ist. Sich in diesem zirkulären Prozess historischer Bildung auf einer höheren Stufe auf sich selbst zurücknehmen würde nach SKINNER bedeuten, „zwischen dem, was notwendig ist, und dem was das kontingente Ergebnis unserer eigenen Formen des sozialen Zusammenleben ist“ zu unterscheiden. Dieses wiederum „bedeutet, einen Schlüssel zur Selbsterkenntnis in den Händen zu halten“ (ebd., S.63). Selbsterkenntnis wächst aus doppelter Entfremdung und Distanznahme von und zu Vergangenheit wie Gegenwart. Wenn Selbsterkenntnis dem wirkungsgeschichtlichen Bewusstsein entspringt, von dem GADAMER annimmt, es sei das Bewusstsein von Vergangenem bzw. von Tradition, dann bedeutet Selbsterkenntnis in der Erfahrung solcher Geschichtlichkeit, dass wir uns kraft eines fremden Diskurses aus unserem alten Selbst herausholen. Das Selbst kann sich dann nicht darauf beschränken, bloße Spiegelung gegenwärtiger Wirklichkeit zu sein. Daher ist es ein Trugschluss und eine Selbsttäuschung par excellence zu meinen, das gegenwärtige Vokabular, die gegenwärtige Moral und das gegenwärtige Urteil, mit denen wir unser Selbst zu konzeptualisieren versuchen, hätten einen privilegierteren Zugang zur Wirklichkeit als das vergangene Vokabular, die vergangene Moral und das vergangene Urteil. Daraus folgt, dass sich die Aufgabe des Historikers nicht darauf reduzieren lässt, den Horizont der Vergangenheit adäquat zu vermessen, ohne dabei Vergangenheit auf Gegenwart zu beziehen und beide miteinander zu verknüpfen. Die Gegenwart ist wiederum Wirkung oder Nachhall der Vergangenheit und bildet den Ausgangspunkt des fragenden Forschungsinteresses, das in Vergangenheit nach Erhellung und verbesserter Einsicht in unsere gegenwärtigen Standpunkte sucht (vgl. ebd., S.88). Will erziehungswissenschaftliche Historiographie weiterhin die pädagogischen Klassiker mit dem Verweis auf ihre – mit NIETZSCHE – ‚monumentalische Rezeptionsweise‘ kontextualisieren, um auf dem so planierten Boden der Tradition eine neue Basis pädagogischer Theoriebildung zu errichten, entzieht sie sich paradoxerweise selbst ihrer Legitimierung. Denn ohne pädagogische Theoriebildung mit historisch-systematischem Bewusstsein und Anspruch kein Begriff von Bildung. Ohne einen Begriff der Bildung aber gibt es keinen Begriff vom Wert der Geschichtsschreibung. Nur dieser aber kann Antworten auf die Sinnfrage bereit stellen, warum wir pädagogische bzw. erziehungswissenschaftliche Historiographie überhaupt betreiben. SKINNER hat mit seiner ideengeschichtlichen Methode und Untersuchungen diesen Wert darzulegen versucht, ohne ihn aber recht eigentlich begrifflich fassen zu können. Dieser aus 171
dem Bildungsbegriff sich erschließende Wert gilt indes für jene Geschichtsschreibung, die als ‚pädagogisch‘ verstanden wird. Hiermit erweist sich der Vermittlungszusammenhang zwischen pädagogischer und erziehungswissenschaftlicher Historiographie in ideengeschichtlicher Absicht als begründet. Erstens gilt festzuhalten, dass, wie eben angemerkt, die Bildungsfunktion der Geschichte auch für die als dekontextualisierend verunglimpfte Pädagogikgeschichtsschreibung gilt. Es sei, um diese Geltung und Gültigkeit zu erhärten, auf KARL VON RAUMERs ‚Geschichte der Pädagogik‘ verwiesen, in der sich die triviale Gegenüberstellung von ‚Erziehung‘ und ‚Wissenschaft‘ bereits in der Vorrede auflöst: „Wenn in dieser Geschichte Ideal und Methode so verschiedener Pädagogen geschildert werden, so drängt sich, besonders den praktischen Schulmännern, eine Vergleichung mit ihrer eignen Ansicht und Verfahrungsweise auf. Übereinstimmendes erfreut und giebt ein befriedigendes Gefühl, daß man das Rechte thue Abweichendes treibt zur Prüfung des Eignen wie des Fremden: eine Prüfung, deren Resultat entweder Beharren aus verschärfter Überzeugung oder Ändern ist. Ich gestehe gern, daß mich vorzüglich ein praktischer Zweck, wie ich ihn eben angedeutet, zu dieser Arbeit getrieben und bei derselben geleitet habe“ (RAUMER 1897, S.Vff.).
Hierin eine verklärende Belehrungsfunktion pädagogischer Klassiker für Erzieher und Lehrer zu entdecken, leuchtet nicht ein. Vielmehr ist hier eine aufklärende Bildungsaufgabe im Sinne historischer Bildung angesprochen. Der wissenschaftliche Grund für die Annahme, pädagogische Geschichtsschreibung habe praxisorientiert und -orientierend zu sein, rührt von der Annahme jener – mit SCHLEIERMACHER – Dignität der Praxis her, deren Dekonstruktionsversuche bislang – nach meinem Kenntnisstand – fehlgeschlagen sind. Zweitens unterbreitet SKINNER hinsichtlich der Ideengeschichte selbst einen Vermittlungsvorschlag. Er muss, vom Ansatz her, im Diskurs der Historischen Pädagogik berücksichtigt werden: „Der Dialog zwischen philosophischer Analyse und historischen Erkenntnissen eröffnet noch unausgelotete, aber vielversprechende Möglichkeiten. Das Verständnis vergangener Aussagen wirft Probleme auf, die zu Einsichten von weitreichendem, auch philosophischem Interesse führen könnten. So könnte etwa das Phänomen der begrifflichen Innovation oder die Frage nach dem Verhältnis zwischen den Veränderungen der Sprache und denen der Ideen zu den Themen gehören, die in einer strikt diachron ausgerichteten Untersuchung mit besonderem Gewinn zu bearbeiten wären“ (SKINNER 2009, S.61). Bisher scheint es jedoch so, dass die unter dem Vorzeichen der sprachlichen Wende in der Geschichtswissenschaft stehende Ideengeschichte der als ‚philosophisch‘ diskreditierten Bildungsgeschichte etwas zu sagen hat, nicht aber umgekehrt. Denn es zeugt seinerseits von philosophischer Blindheit, wenn SKINNER die Existenz der Idee in der Geschichte kategorisch abstreitet und sie 172
stattdessen in einem instrumentalistischen Mittel-Zweck-Nexus aufgehoben sieht: „Sobald wir erkennen, daß es keine festumrissene Idee gibt, zu der verschiedene Autoren beigetragen haben, sondern lediglich eine Vielzahl von Aussagen von einer Vielzahl verschiedener Akteure mit einer Vielzahl verschiedener Absichten, erkennen wir, daß es keine Geschichte einer solchen Idee gibt, die zu schreiben wäre. Es gib nur eine Geschichte ihrer verschiedenen Verwendungsweisen und der verschiedenen hinter ihnen stehenden Absichten“ (ebd., S.58). Per se bestreitet SKINNER zwar keineswegs, „daß es in der Geschichte der westlichen Moral-, Sozial- und politischen Philosophie lang anhaltende Kontinuitäten gibt“ (SKINNER 2009, S.59). Gleichzeitig aber legt er eine auf solche Kontinuitäten ausgerichtete Geschichtsschreibung ad acta, die doch gerade auf die begriffliche Schärfung einer einheitlichen Idee im Verlaufe ihrer Geschichte abzielte. Metaphorisch ausgedrückt: Der auf dem Baum der historischen Erkenntnis sitzende Historiker sägt am eben jenem Ast, der ihm eigentlich als erste Stufe zu höherer Erkenntnis dienen sollte. Gesetzt sei demgegenüber ein echtes Gespräch zwischen ‚philosophischer‘ und ‚historischer‘ Ideengeschichte. Dieser Gedanke sei übertragen auf die oben vorgestellte Kontroverse in der Historischen Pädagogik. Solches getan, muss umgekehrt für die historische Wissenschaft von der Erziehung dasjenige gelten, was im tumultuarischen Chaos der Vielfalt von Ideen, Konzepten und Sprechakten mitunter übersehen wird: dass nämlich Vielfalt Einheit und Vielzahl Einzahl voraussetzt, aufgrund derer es überhaupt erst Sinn macht von Vielfältigem und Vielzähligem zu sprechen. Daher kommt die Pädagogik nicht umhin, in ihrer pädagogischen Geschichtsschreibung eine historische Darstellung der conditio sine qua non, der Idee der Pädagogik zu unternehmen, so viel kritischer Gegenwind von geschichtswissenschaftlicher Warte ihr auch entgegenschlagen mag. „Diese Idee der Pädagogik“ – so VOLKER LADENTHIN – „muss es (auch für die Erziehungswissenschaften (Plural) also für jene Wissenschaften, die sich mit dem pädagogischen Problem (Singular) beschäftigen) im Singular geben, weil alle Mehrzahl von Ideen wiederum nach der einigenden Idee fragt, die diese Mehrzahl überhaupt als einander zugehörig erweisen kann. Differenz setzt Einheit voraus, angesichts derer man überhaupt von Differierendem sprechen kann“ (LADENTHIN 2005, S.105). Der hier vorgeschlagene Vermittlungszusammenhang zwischen ‚philosophisch‘ orientierter Geschichte der Pädagogik und ‚historisch‘ orientierter erziehungswissenschaftlicher Forschung in ideengeschichtlicher Absicht nobilitiert im Anschluss an SKINNER Bildung zum zentralen Moment und Medium beider Dimensionen. Er versteht sich nicht als romantisches Versöhnungs- und Harmonisierungsprojekt. Er bringt sich vielmehr in einem dialektisch-interaktiven Spannungsverhältnis zwischen den beiden Ansätzen zur Sprache. Der 173
historische Ansatz wird betrachtet als Regulativ des konstitutiv philosophischen; der philosophische Ansatz umgekehrt als Regulativ des konstitutiv historischen. Eine philosophisch orientierte pädagogische Historie erforscht die Kontinuität der pädagogischen Idee (im Singular) im Wandel der Zeit. Ihr wird eine historisch orientierte erziehungswissenschaftliche Forschung korrektiv und komplementär zur Seite gestellt, welche die Kontinuität des zeitlichen Wandels von pädagogischen Ideen (im Plural) untersucht – und vice verca. In Rahmen dieses dialektischen Zusammenhangs ist zu unterscheiden zwischen dem in einer eindeutigen Idee sich aussprechenden Gedanken und der von ihm unterschiedenen Sache. Auf der einen Seite wird die pädagogische Idee von der individuellen Selbstbestimmung des Menschen in sozialen Handlungskontexten im Hinblick auf die authentische Autorschaft seiner eigenen Lebens- und Sinngeschichte betrachtet. Diese Betrachtung findet ihr Gegenstück in der Untersuchung konkreter Erziehungswirklichkeit vielgestaltiger Phänomene, die einer solchen Idee nicht, nur zum Teil oder – coincidentia oppositorum – ganz entsprechen. Beispielsweise standen in der Epoche der Reformpädagogik des beginnenden vorigen Jahrhunderts im Zeichen einer allgemeinen Schulkritik primär die Eigengesetzlichkeit kindlicher Spontaneität und ihre Einbettung in funktionale Praxis- und Berufszusammenhänge im Vordergrund. Dieser Blickwinkel schlug sich institutionell in der Gründung alternativer Schulformen (z.B. Arbeitsschulen, Waldorfschulen) nieder. Damit wird zwar der individuellen Dimension der pädagogischen Idee Rechnung getragen, diese Dimension aber zugleich auf einen besonderen Bereich des sozialen Lebens (‚Gemeinschaft‘, Arbeit) eingeschränkt und somit um ihren Authentizitätscharakter verkürzt. Zwischen der eindeutigen Idee der Pädagogik und der Vorstellung oder Konzeption von Erziehung sowie ihrer konkreten Ausgestaltungsformen in der Erziehungswirklichkeit gibt es einen deutlich benennbaren Unterschied und beide stehen daher stets in einem nur in seltenen Fällen zur Deckung kommenden kontrafaktischen Spannungsverhältnis. Aus diesem Kontrafaktum aber ein unversöhnliches Gegenüber von pädagogischer Ideengeschichte einerseits und erziehungswissenschaftlicher Sozialgeschichte von Ideen8 andererseits zu destillieren bzw. letzterer ihre Legitimation abzustreiten, geht an einem gewichtigen Argument vorbei: Es muss eine pädagogische Idee geben, die sowohl ein konstitutives als auch regulatives Prinzip abgibt, erzieherische Praxis als Praxis sui generis zu bestimmen und zu leiten, ohne in ihr gänzlich aufzugehen. „Pädagogische Handlungen sind“ nach MICHAEL WINKLER „…jenseits von pädagogischen Sinnbestimmungen gar nicht
8 Aufgrund der Unterscheidung zwischen Gedanke und Sache bzw. der in einem Gedanken ausgesprochenen Idee und dem eine Sache bezeichnenden Begriff schlage ich vor, von einer Sozialgeschichte der Begriffe statt von einer der Ideen zu sprechen.
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als solche identifizierbar, damit auch nicht verfügbar, um Reflexion und Anschlusshandlungen möglich werden zu lassen“ (WINKLER 2001, S.81). Unabdingbar ist damit sowohl die Einsicht in die (wahrscheinliche) Idee oder Natur eines pädagogischen Grundgedankenganges. Ihn braucht es, um hieraus erzieherisches Handeln abzuleiten. Zugleich aber ist auch die Erkenntnis unabweisbar, dass in die Sachen praktischer Erziehung immer zeitlich kontingente Vorstellungen, Deutungsmuster9, Haltungen und Handlungen eingehen. Aus ihnen erst entwickeln sich unterschiedliche Gestaltungsformen und -normen des Sozialen (z.B. Erziehungsinstitutionen). Nimmt man daher den Unterschied zwischen einheitlicher Idee und kontingenter Sache ernst, dann kann man sich weder allein auf einen unbedingten Absolutheitsanspruch einer pädagogischen Idee berufen noch auf den Standpunkt zurückziehen, es gab hier und da diese und jene durch soziale Entwicklungen bedingte Anhäufung verschiedener Gebrauchsarten einer Idee, die dann doch eher unterschiedliche Vorstellungen, Deutungsmuster, Mentalitäten, Haltungen und Handlungen von Erziehung meinen. Der Vermittlungszusammenhang zwischen pädagogischer und erziehungswissenschaftlicher Historiographie wäre somit als wechselseitige Kenntnis- und Bezugnahme in Formen der Interaktion, Korrektur und Komplementarität vorzustellen. Diese dürfte die Autonomie beider Arten, pädagogische Ideengeschichte zu schreiben, nicht gefährden. Ein solcher Vermittlungszusammenhang nimmt die Möglichkeit von Gemeinsamkeiten statt (nur) von Unterschieden, von Bezugnahmen statt (nur) von Trennungen in den Blick. Eine adäquate, diesem Vermittlungszusammenhang Rechnung tragenden Darstellungsform einer ideenpädagogischer Geschichtsforschung, welche die Erforschung der Geschichte ebenso ‚der‘ pädagogischen Idee wie der ‚pädagogischen Ideen‘ in den Blick nimmt, steht allerdings noch aus. Damit trägt auch dieser Text den Zug einer nachträglichen Rechtfertigung einer noch zu schreibenden Geschichte der Pädagogik (vgl. BÖHM 1997). Man mag grosso modo einen solchen Vermittlungszusammenhang metatheoretisch schelten, wenn er nur zur Schärfung des eigenen Nachdenkens über 9 Dass Gegenstand Historischer Bildungsforschung weniger ‚Ideen‘ als vielmehr Deutungsmuster sind, zeigt sich schon in einer Zweideutigkeit, in welcher der Begriff des ‚Deutungsmusters‘ verwendet wird: In der historisch-empirischen Bildungsforschung, wie sie etwa von AXEL NATH betrieben wird, unterscheidet man in einem rein sozialgeschichtlichen Zugriff analytisch zwischen Deutungsmustern (Diskursen) und Situationsentwicklungen (Handlungsergebnissen). Beide werden in ‚Kommunikationssschleifen‘ reziprok aufeinander bezogen, um somit ‚Zyklen‘ in den ‚Langen Wellen des Bildungswachstums‘ beschreiben zu können. In einer kulturhistorischen Betrachtung von Bildung nach GEORG BOLLENBECK wird hingegen in einem begriffsgeschichtlichen Zugriff ‚Deutungsmuster‘ als Selbstbeschreibungsmodus für eine bestimme Sozialschicht verstanden. ‚Bildung‘ entstand demnach als ein spezifisches Deutungsmuster zur Selbstlegitimierung einer freischwebenden Intelligenz um 1800 (vgl. NATH/DARTENNE 2008; BOLLENBECK 1996).
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Sinn (Warum?), Zweck (Wozu?) Funktion (Welche Aufgabe?) und über die Adressaten pädagogischer Geschichtsschreibung dient. Der Sinn pädagogischer Geschichtsschreibung liegt in ihrem praktischen Zweck, für das Handeln der Erzieher und Lehrer in erzieherischer Praxis prinzipientheoretisches Orientierungswissen zu bieten. Aus diesem Grund bedarf es systematischer Pädagogik, welche, will sich erzieherische Praxis ihres historischen Grundes versichern, ohne Historie nicht auskommt – sei sie betrieben in einem Verbund „bald als monumentalische, bald als antiquarische, bald als kritische“ d.h. als im Medium der Bildung betriebene Historie (NIETZSCHE 2009, S.34). Gerade in diesen von NIETZSCHE offerierten drei Idealtypen der Geschichtsschreibung, die den drei menschlichen historischen Bedürfnissen nach Verehrung, nach Bewahrung und nach Zerstörung entsprechen, liegt jene Möglichkeit, über den beschränkten Horizont dezisionistischer Alternativentscheidungen hinauszuweisen und die Unterordnung der Geschichte unter das höchste Telos, den kulturellen Lebenszusammenhang, zu betonen, in dessen Dienst sie steht: historia est magistra vitae. Eine solche Reflexion der Reflexion (Reflexion 2. Grades) ebnet dem so geschulten historischen Bewusstsein jenen Weg, der in die geschichtliche Reflexion über Sinn, Zweck und Funktion von Erziehung und Bildung (Reflexion 1. Grades) im Horizont von Natur, Gesellschaft und Person mündet: in historische pädagogische Erkenntnis. Solch ein Nachdenken in einem zweifachen Sinn bezieht sich stets auf eine zu bewahrende vergangene Gegenwart, auf eine sich in personalen Monumenten vergegenwärtigende Vergangenheit sowie auf eine gegenwärtige Wirklichkeit, die den Richtspruch über Vergangenheit fällt, um sich von ihr zu distanzieren. Hieraus zieht ein solches Nachdenken Maßstäbe und Orientierung, um in Gestalt eines prospektiven Perspektivismus den Entwurf und die Gestaltung der (erzieherischen) Zukunft vorzudenken. Dieser nur in groben Zügen dargebotene und seiner breiteren Entfaltung noch harrende Vermittlungszusammenhang ist zwar kein Königsweg, aber zumindest kein Weg, der ins Nichts führt.
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III. Professionelleȱundȱinstitutionelleȱ BezugsfelderȱdesȱBildungsbegriffsȱ
Bildung als Selbstbildung oder Kompetenzentwicklung? Zur Ambivalenz von Kind- und Kontextorientierung in der frühpädagogischen Bildungsdebatte Elmar Drieschner
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Der elementarpädagogische Bildungsauftrag in der fachlichen Kontroverse
Die Geschichte der öffentlichen Kleinkinderziehung ist durch eine sukzessive, jedoch unter konjunkturellen Schwankungen verlaufende Akzentverschiebung von der nebenfamilialen Erziehungs- und Betreuungsfunktion zur eigenständigen Bildungsfunktion gekennzeichnet. Obgleich der Kindergarten in der Tradition FRIEDRICH FRÖBELs (1782-1852) seit jeher dem Gedanken der Bildung verpflichtet ist, standen die frühkindlichen Institutionen bis hinein in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts zwischen der ‚Kinderaufbewahrungs-’ und der ‚Bildungsfunktion’, wobei der Gedanke der familienergänzenden Betreuung dominant blieb und durch die rechtliche und organisatorische Zuordnung der Einrichtungen zum Bereich der Kinder- und Jugendhilfe verfestigt wurde (vgl. ERNING/NEUMANN/REYER 1987). In der Bildungsdiskussion der 1970er Jahre wurde die formale Anerkennung des Kindergartens1 als Elementarbereich des Bildungssystems erreicht. Die Ausgestaltung des Kindergartens als erste Stufe des Bildungssystems erweist sich jedoch aufgrund seiner traditionellen Trennung von der Grundschule (Primarbereich) faktisch als bis heute noch nicht hinreichend gelöste Aufgabe (vgl. REYER 2006). Im Jahre 1996 wurde der Bildungsauftrag von Kindertagesstätten im Kinder- und Jugendhilfegesetz (KJHG) als Teil der Aufgabentrias ‚Bildung, Betreuung und Erziehung’ verankert. Seither besteht eine zentrale theoretische und praktische Aufgabe der Elementarpädagogik darin, diesen im KJHG nicht näher definierten und konkretisierten Bildungsauftrag konzeptuell umzusetzen und mit Leben zu füllen. In der Folge entwickelte sich eine z.T. kontrovers geführte Fachdiskussion über das adäquate
1 In Anlehnung an HANS-GÜNTER ROßBACH wird der Begriff ‚Kindergarten’ gegenüber begrifflichen Äquivalenten wie ‚Kindertagesstätte’ präferiert, weil er in der Tradition FRIEDRICH WILHELM AUGUST FRÖBELs seit jeher als Ort elementarer Bildung verstanden wird (vgl. ROßBACH 2008, S.283).
Verständnis und die darauf bezogene Anregung und Förderung frühkindlicher Bildung. Diese Diskussion stößt zunehmend auf innerwissenschaftliches und gesamtgesellschaftliches Interesse, seitdem in den letzten Jahren die große Bedeutung früher Bildung für die gesamte Entwicklung des Menschen hervorgehoben wird. Diese neue Wertschätzung des frühen Lernens findet Ausdruck in pädagogischen und bildungspolitischen Programmformeln wie ‚Auf die ersten Jahre kommt es an!‘ oder ‚Bildung von Anfang an!‘ (vgl. zur Funktion solcher pädagogischer Slogans HOFFMANN/GAUS/UHLE 2007). In diesem Kontext ist als erstes auf die Expansion der Grundlagenforschungen zu frühkindlichen Bildungsprozessen zu verweisen. Dieses Forschungsfeld ist inter- und transdisziplinär strukturiert. Es umfasst derzeit u.a. Zugänge aus der Hirnforschung, Entwicklungspsychologie, Verhaltensforschung, Evolutionsbiologie, Wahrnehmungsforschung, Neugierforschung, Interessenforschung, Säuglings- und Kleinkindforschung, Bindungsforschung, Resilienzforschung, Kindheitsforschung und Sozialisationsforschung (vgl. FTHENAKIS 2003). Diese Forschungen liefern eine Fülle von Erkenntnissen über das Wissensprofil und die Kompetenzentwicklung von Kindern im vorschulischen Alter. Die große Fülle unterschiedlicher Forschungsergebnisse wird in einem neuen Bild vom Kind zusammengefasst. Es ist das Bild des kompetenten und wissbegierigen Kindes, das durch Formulierungen wie das ‚Kind als Wissenschaftler‘ bzw. ‚Forschergeist in Windeln‘ (GOPNIK/MELTZOFF/KUHL, 2006), ‚Kinder als Naturforscher‘ und ‚Erkenntniswesen‘ (ELSCHENBROICH 2005) sowie den Begriff des ‚kompetenten Säuglings‘ (DORNES 1994) zum Ausdruck gebracht wird. Frühe Bildung ist aus der Perspektive dieser Forschungen eine wichtige Aufgabe von Familie und Kindergarten, damit Kinder im vorschulischen Alter ihre genetisch privilegierten Lernpotenziale voll ausschöpfen können. Vom Forschungsansatz völlig unterschiedlich, in der Aussage sowie im öffentlich hervorgerufenen Interesse jedoch ähnlich, verweist auch die international vergleichende Schulforschung auf die besondere Bedeutung frühkindlicher Bildung. So indizieren die bisherigen Ergebnisse der Schulleistungsstudien die förderliche Wirkung eines verpflichtenden Kindergartenbesuchs auf die Entwicklung und damit auf die Bildungsbiographie von Kindern. So konnte etwa in den IGLU-Studien aus den Jahren 2001 und 2006 eindrücklich belegt werden, dass Kinder, die länger als ein Jahr in einem Kindergarten gefördert wurden, Kindern mit einer geringeren Kindergartenverweildauer in ihrer Lesekompetenz am Ende der vierten Klasse um bis zu einem Schuljahr überlegen sind (vgl. BOS et al. 2007). Bereits die erste PISA-Studie konnte bei 15-jährigen Jugendlichen, die als Kinder über einen längeren Zeitraum vorschulische Einrichtungen besucht hatten, bessere mathematische und naturwissenschaftliche Kompetenzen nachweisen (vgl. PRENZEL/HEIDEMEYER 2004, S.274f.). Diese positiven Effekte, 184
die in diversen weiteren Studien bestätigt wurden, gehen nach einer von HEINER RINDERMANN vorgelegten Metaanalyse darauf zurück, dass durch einen umfangreichen Kindergartenbesuch „neben schulischen Grundtechniken (Zuhören beim Vorlesen, Umgang mit Papier und Bleistift, Kenntnisse von Buchstaben und Zahlen, Beginn von Lesen, Schreiben und Rechnen) auch allgemeine kognitive Kompetenzen (über Puzzle, Vorlesen u.Ä. Stimulierung von Wahrnehmung, Abstraktion und Denken), Wissen (Vokabeln, Grammatik, Allgemeinbildung) und psychomotorische Fertigkeiten (Auge-Hand-Koordination) gefördert werden, umso mehr, je stärker der Bildungsauftrag im Kindergarten wahrgenommen wird. Noch deutlicher sind wahrscheinlich die Effekte auf Verhalten und Persönlichkeit bei Kindern und oft Eltern, etwa Regelmäßigkeit des Tagesablaufes, Sozialverhalten, ethisches Handeln usw. (allgemeines Regellernen), die für späteren Schulbesuch günstig sind“ (RINDERMANN 2008, S.19). In diesem Zusammenhang lassen sich auch kompensatorische Wirkungen einer frühen Förderung im Kindergarten gegenüber herkunftsbedingten Bildungsbenachteiligungen nachweisen (vgl. z.B. SCHÜTZ/WÖßMANN 2005). Der in internationaler Perspektive belegten positiven Wirkung des Kindergartenbesuchs steht das nur mittelmäßige Zeugnis gegenüber, welches Studien zur Bildungsqualität deutschen Kindergärten ausstellen. Demnach werden die Kindertageseinrichtungen weder den Bildungsbedürfnissen der Kinder noch den Bedürfnissen und Interessen der Erwachsenengesellschaft bezüglich einer frühen schulvorbereitenden Förderung gerecht. Der Erziehungsalltag erscheint nicht hinreichend durch die Anregung und Förderung von Bildungsprozessen gekennzeichnet. Vielmehr zieht sich das frühpädagogische Fachpersonal auf die Betreuung und Beschäftigung der Kinder zurück und räumt dem Freispiel einen großen Raum ein. Dieser laissez-faire Erziehungsstil widerspricht jedoch einer professionellen und konzeptionell geleiteten Gestaltung von Bildungskulturen, die alterstypische und individuelle Bildungsprozesse anregen (vgl. TIETZE 1998, TIETZE/ROßBACH/GRENNER 2007). Am Missverhältnis zwischen der frühen Lernfähigkeit des Kindes und der unzulänglichen Bildungsqualität der deutschen Kindergärten wird der enorme Reformbedarf dieser Stufe des Bildungssystems erkennbar. Obgleich Konsens über die frühe Lernfähigkeit des Kindes besteht, ist der gegenwärtige Fachdiskurs zur Umsetzung des elementarpädagogischen Bildungsauftrages durch eine kontroverse Diskussion über das angemessene Verständnis frühkindlicher Bildung entweder als Selbstbildung oder als Kompetenzentwicklung gekennzeichnet. Während der Selbstbildungsansatz ein kindorientiertes Verständnis von Bildung als Eigenkonstruktion von Wissen und Wirklichkeit vertritt, problematisiert der kompetenzorientierte Ansatz ein solches kindzentriertes Bildungsverständnis und hebt dagegen die soziale Prozesshaftigkeit und die Kontext185
gebundenheit von Bildung als Vorgang der Ko-Konstruktion hervor. Beide Positionen operieren demnach mit unterschiedlichen theoretischen Grundlegungen frühkindlicher Bildung sowie daran anschließenden heterogenen Auffassungen über pädagogische Aufgaben, Methoden und Interaktionsverhalten des pädagogischen Fachpersonals. Dieser heterogene, auf unterschiedliche Theorieansätze referierende Diskurs um Grundlagen und Aufgabenbestimmungen institutionalisierter Bildung, um Annahmen frühkindlicher Entwicklung sowie um Didaktik und Methodik vorschulischer Erziehung steht im Mittelpunkt dieses Beitrags. Im Folgenden werden seine Kernthesen herausgearbeitet (Abschnitte 2 und 3) und anschließend in den Kontext der allgemeinpädagogischen Reflexion über das Verhältnis des Gegenwartsbezugs und der Zukunftsbedeutung früher Bildung gestellt (Abschnitt 4). 2
Frühkindliche Bildung als Selbstbildung
2.1 Anregung der Selbsttätigkeit als erzieherisches Grundprinzip Zu den bekanntesten Vertretern der in der aktuellen Diskussion unter dem Sammelbegriff ‚Bildung als Selbstbildung‘ zusammengefassten Ansätze zur Weiterentwicklung der elementarpädagogischen Arbeit zählen u.a. die Frühpädagogen GERD E. SCHÄFER, LUDWIG LIEGLE, HANS-JOACHIM LAEWEN sowie der Pädagogische Anthropologe und Psychologe CHRISTIAN RITTELMEYER. Übereinstimmend knüpfen diese Autoren an eine für das pädagogische Denken in der Moderne grundlegende Einsicht an: Erziehung mit dem Anspruch der Förderung von Bildung ist nicht ohne die Selbsttätigkeit des Kindes denkbar. Dies wird an dem Zusammenhang von pädagogischem Handeln als Lernhilfe und dem Lernen bzw. Lernprozess gut sichtbar. Das Lernen ist eine Eigenaktivität des Kindes, die pädagogisch durch die Gestaltung einer Bildungsumwelt und die Anwendung von Methoden und Techniken des Lehrens und Erziehens angestoßen, nicht aber bewirkt werden kann. Das Kind muss selbst aktiv seine Potenziale verwirklichen. Es braucht dafür die Auseinandersetzung mit anderen, mit Welt, um sich entfalten zu können. Kinder wenden sich daher von Anfang an aktiv, explorativ und neugierig ihrer Umwelt zu, sind dabei aber auf erzieherische Begleitung und Hilfe angewiesen. In der Anthropologie wird das Kind daher seit der Aufklärung als selbsttätiges, lernbegieriges, zugleich aber auf erzieherische Anregungen angewiesenes Wesen gesehen (vgl. LASSAHN 1983). Da eine Lehrerin bzw. Erzieherin von der Eigentätigkeit, der Lernbereitschaft und dem Mitwirken der Kinder in ihrer Lerngruppe abhängig ist, wird die Anknüpfung an deren ‚Selbsttätigkeit‘ als konstitutive Bedingung von Erziehung 186
betrachtet. Erziehung ist demzufolge nicht nur fremdbestimmt als pädagogische Einwirkung und Lenkung durch Erzieherinnen und Erzieher zu verstehen, sondern zugleich als reflexive und eigenbestimmte Selbsterziehung der Kinder (vgl. RÖHNER 2004). In klassischer Wendung bringt DIETRICH BENNER diese Bisubjektivität des erzieherischen Handelns mit den ineinander verschränkten Prinzipien der Bildsamkeit und der Aufforderung zur Selbsttätigkeit zum Ausdruck. Bildsamkeit ist für BENNER ein universal gültiges, apriorisches Prinzip pädagogischer Praxis. Dieses Prinzip entfaltet er bezogen auf pädagogische Interaktionen relational als Anerkennung des Zu-Erziehenden als einen, „der an der Erlangung seiner humanen Bestimmtheit mitwirkt“. Die pädagogische Begegnung ist somit durch die wechselseitige Anerkennung „produktiver Freiheit“ gekennzeichnet. Diese Freiheit hat ihre Voraussetzung im Zugeständnis von Freiräumen, sie erschließt sich jedoch erst in der Aneignung durch die Heranwachsenden, indem sie selbsttätig denken und handeln. Erziehung hat folglich den Charakter der Aufforderung zur Selbsttätigkeit (BENNER 2001, S.71ff.). Im frühpädagogischen Selbstbildungsansatz spiegelt sich dieses allgemeine erzieherische Grundprinzip wieder. So schlägt z.B. LAEWEN vor, „Bildung im Sinne Humboldts als Selbst-Tätigkeit des Kindes zur Aneignung von Welt zu verstehen und Erziehung als Tätigkeit des Erwachsenen mit dem Ziel, alle Kräfte des Kindes dafür anzuregen“ (LAEWEN 2002, S.41). Da der Prozess der selbsttätigen Weltaneignung das zentrale Strukturmerkmal von Bildung darstellt, kann Erziehung mit LIEGLE auch als ‚Aufforderung zur Bildung‘ bestimmt werden (vgl. LIEGLE 2008). LIEGLE ist es mit Bezug auf die bildungstheoretische Tradition wichtig, dass der Begriff der (Selbst-)Bildung im Unterschied zu neueren funktionalen Äquivalenten wie Lernen und Kompetenzerwerb nicht nur die aktive Konstruktionsleistung des Individuums im Aufbau seines Bildes von Welt betont. ‚Bildung‘ steht darüber hinaus für Persönlichkeitsideale, die vor allem in der Entwicklung von Selbstreflexivität, Autonomie und Ich-Identität bei gleichzeitiger kritikfähiger Anpassung an gesellschaftliche Erwartungen bestehen, und übersteigt somit einen bloßen Erwerb von gesellschaftlich verwertbaren Kompetenzen (vgl. LIEGLE 2008, S. 96f.). Der Fokus auf zu vermittelnde Kompetenzen entspricht SCHÄFER zufolge einem Warenmodell von Lehren und Lernen, das Instruktion und nicht Selbstbildung in dem Mittelpunkt stellt (vgl. SCHÄFER 2007, S.16ff.). 2.2 Selbsttätigkeit als Strukturmerkmal frühkindlicher Bildungsprozesse Der traditionelle, in der (Früh-)Pädagogik richtungsweisend von JEAN-JAQUES ROUSSEAU, JOHANN HEINRICH PESTALOZZI, FRIEDRICH WILHELM AUGUST 187
FRÖBEL und MARIA MONTESSORI ausformulierte Grundgedanke, dass Erziehung auf den selbsttätigen Bildungsprozess des Kindes bezogen ist, steht im Zentrum der Ansätze, die unter dem Label ‚Bildung als Selbstbildung‘ firmieren. In Anlehnung an HANS-GÜNTER ROßBACH können sie jenem Typus von öffentlicher Kleinkinderziehung zugeordnet werden, der als ‚Kindergartentyp‘ bezeichnet wird. Dieser Erziehungstyp ist durch ein offenes Curriculum und einen ganzheitlichen, die Bedürfnisse des Kindes fokussierenden Erziehungs- und Bildungsansatz gekennzeichnet. Er unterscheidet sich somit vom so genannten ‚Vorschultyp‘, der eine Vorverlagerung schulförmigen Lernens in den elementarpädagogischen Bereich intendiert (vgl. ROßBACH 2008, S.312). Übereinstimmend wird im Selbstbildungsansatz davon ausgegangen, dass die Anknüpfung an die Selbsttätigkeit, in der die individuellen Interessen und Lernbedürfnisse der Kinder sichtbar werden, eine zentrale Gelingensvoraussetzung für das kooperative Handeln zwischen den Erzieherinnen und den Kindern zur Ermöglichung anschlussfähigen Lernens darstellt. Häufig zitiert wird in diesem Zusammenhang der programmatische Ausspruch HARTMUT VON HENTIGs, dass das „kleine Kind in ungleich höherem Maße sein eigener Lehrmeister (ist), als es später der Schüler sein wird [Hvhbg. im Original, E.D.]“ (HENTIG 2004, S.37). Entsprechend formuliert z.B. SCHÄFER: „Je früher [frühkindliche Bildungsprozesse, E.D.] ansetzen, desto mehr Spielraum müssen sie den individuellen Erfahrungswegen geben“ (SCHÄFER 2006, S.65). Die Annahme, frühkindliche Entwicklungsprozesse seien im Vergleich zu anderen Lebensaltern durch ein besonders hohes Maß an Selbsttätigkeit gekennzeichnet, wird im Spannungsfeld konstruktivistischer Theoriemodelle sowie neurobiologischer und entwicklungspsychologischer Forschungsbefunde begründet. Aus konstruktivistischer Sicht akzentuiert LIEGLE die Autopoiesis und Selbstorganisation von Erkenntnis- und Lernprozessen. Die aus dem Griechischen stammende Wortbildung Autopoiesis bezeichnet hier die Selbsterzeugung und Selbsterhaltung biologischer und psychischer Systeme, wobei anzumerken ist, dass das Konzept der Autopoiesis darüber hinaus auch auf soziale Systeme übertragbar ist (vgl. LUHMANN 1995, S.12). Autopoiesis bringt ein stark individualistisches Wirklichkeitsverständnis zum Ausdruck. Selbsttätigkeit (ich selbst = auto, bin tätig = poiesis) wird zum konstitutiven Merkmal alles Lebendigen erhoben; Bildung ist demnach ein Prozess der Selbstaneignung von Welt, durch den sich das Kind zugleich selbst hervorbringt. Aus diesem Grunde wird ein streng technologisches Erziehungsverständnis, das die prinzipielle ‚Machbarkeit‘ des Menschen durch Erziehung voraussetzt, zurückgewiesen und durch das Theorem der Selbstorganisation ersetzt. Autopoietische Systeme organisieren sich selbst und entziehen sich der direkten pädagogischen Einflussnahme (LIEGLE 2006, S.38; vgl. auch DRIESCHNER 2007a). Dementsprechend 188
bestimmt der konstruktivistische Pädagoge ROLF HUSCHKE-RHEIN Erziehung als „Hilfe zur Selbstorganisation“ (HUSCHKE-RHEIN 2003, S.26). Ebenfalls aus konstruktivistischer Sicht spezifiziert SCHÄFER, worin die besondere Individualität der autopoietischen Wirklichkeitskonstruktion von Kindern im vorschulischen Alter besteht. Ihr alterstypisch begrenzter Erfahrungsschatz bedingt, dass die mentalen Repräsentationen und Deutungen von Welt, welche die Grundlage für den weiteren Wissens- und Kompetenzerwerb bilden, bei Kindern in diesem Alter als ‚Kulturneulingen‘ weitaus individueller strukturiert sind als bei den älteren Schulkindern, die bereits über mehr akkumuliertes Weltwissen verfügen und sich sukzessive den kulturellen und intersubjektiv geteilten Erklärungs- und Deutungsmustern annähern (SCHÄFER 2006, S.65). Lernen wird in diesem Zusammenhang als Anschlusslernen vor dem Hintergrund unterschiedlicher Anlagen und Entwicklungstempi verstanden. Solches meint, dass ein aktiver Organismus in der Auseinandersetzung mit der Umwelt eigene Vorstellungen von Welt generiert und diese in Zuge neuer Erfahrungen ausdifferenziert. Aus der Partikularität der kindlichen Erfahrungen resultieren aber unterschiedliche Wege der kognitiven Entwicklung. Diese sollen im Kindergarten nicht durch schulförmiges Lernen behindert, sondern vielmehr durch die Schaffung von Spielräumen zur Selbsttätigkeit ermöglicht werden. Die Selbsttätigkeit des kleinen Kindes zeigt sich auch in seiner Eigeninitiativität im Aufbau seines Selbst-Weltbezuges, die Forschungsbefunde aus der Neurobiologie und der empirischen Säuglings- und Kleinkindforschung verdeutlichen (vgl. LIEGLE 2006, S.97f.). Durch die Analyse der Prozesse der Gehirnentwicklung konnte gezeigt werden, dass die entwicklungsphysiologische Angewiesenheit der höheren Hirnfunktionen auf Erfahrungsbildung eng korrespondiert mit der angeborenen Lernmotivation des kleinen Kindes. So sieht WOLF SINGER die wichtigste Botschaft der Hirnforschung für die Frühpädagogik darin, dass „das Gehirn eines jungen Menschen von sich aus aktiv an die Umwelt heran(tritt) und ... seine Fragen (stellt)“ (SINGER 1999; zit. nach LIEGLE 2006, S.98). Dies wird z.B. am Muttersprachenerwerb als selbstorganisiertem Lernprozess deutlich. RITTELMEYER hebt an diesem Punkt hervor, dass selbstgesuchte Erfahrungen neurophysiologisch dem natürlichen Explorationsbedürfnis des Kindes entsprechen. Sie regen die Entstehung neuer neuronaler Verbindungen besser an als von außen gesetzte pädagogische Lernziele, weil so an bestehende neuronale Verbindungen im Sinne des Anschlusslernens angeknüpft werden kann. Dies gilt insbesondere dann, wenn Erfahrungen leiblich mit positiven Gefühlen aufgeladen werden, wenn also ohne Angst und Druck gelernt wird. Daraus zieht RITTELMEYER die Schlussfolgerung, dass die „an konkreten und anschaulichen Beispielen eigentätig gefundene Regel“ bei „engagierter Aufmerksamkeit und Emotionalität zu Lernergebnissen führ(t), die sich langfristig einprägen“ 189
(RITTELMEYER 2002, S.107). In Übereinstimmung mit dieser neurophysiologischen These konnte in der empirischen Säuglings- und Kleinkindforschung durch direkte Beobachtung gezeigt werden, dass Säuglinge nach Maßgabe ihrer Erfahrungen und ihres Entwicklungsstandes aktiv Reize auswählen, evozieren oder ignorieren, weshalb auch hier von einem hohen Selbststeuerungsanteil ihrer Entwicklung ausgegangen wird (vgl. LARGO 2006, S.79; weiterführend vgl. GOPNIK/MELTZOFF/KUHL 2006). Dieses „implizite“ und „zufällige“ Lernen durch Spiel und Erkundung grenzt LIEGLE vom „intentionalen“ und „strategischen“ Lernen ab, das sich erst ab dem sechsten Lebensjahr herausbildet und zur Bezugsgröße des schulischen Lernens wird. Aufgrund der fehlenden kognitiven Voraussetzungen werden die pädagogischen Wirkungsmöglichkeiten einer Vorverlagerung intentionalen und strategischen Lernens in den Elementarbereich als gering erachtet (LIEGLE 2008, S.108). Da die frühkindliche Weltaneignung in der neueren Forschung insgesamt als aktive, lern- und reifungsgebundene Exploration von Welt beschrieben wird, bei der Kinder ihre Erfahrungen zu funktionalen Eigentheorien organisieren und diese im weiteren Lern- und Reifungsprozess verwerfen, modifizieren oder ausbauen (vgl. DRIESCHNER 2007b; FRIED 2008a), nehmen die Vertreter des Selbstbildungsansatzes an, dass die Wirkungen pädagogisch ermöglichter Bildungsprozesse dann am höchsten sind, wenn die Selbsttätigkeit des Kindes explizit wahrgenommen, aufgegriffen, unterstützt und kulturell herausgefordert wird (vgl. SCHÄFER 2008, S.125). Die Annäherung an soziale, sprachliche und kulturelle Konventionen verläuft demnach nicht systematisch und strukturiert, sondern in einem vom Kind ausgehenden eigeninitiativen, dynamischen und selbstreferenziell-rekursiven Prozess. 2.3 Das Spiel als Form des frühkindlichen Bildungsprozesses Forschungsbefunde, welche die Selbsttätigkeit als Wesensmerkmal der frühkindlichen Entwicklung ausweisen, werden in der Elementarpädagogik zum Bild vom Kind als Akteur seiner Entwicklung verdichtet. In diesem als Paradigma der neueren Kindheitsforschung geltenden Kindheitsbild treten tendenziell Reifungsprozesse sowie Umweltfaktoren, die zu einer Fremdsozialisation führen, gegenüber der Betonung der Selbstsozialisation, d.h. der selbstinitiierten, aktiven und selbstgesteuerten Auseinandersetzung des Kindes mit seiner materiellen und sozialen Umwelt, in den Hintergrund (vgl. GRIESE 2001). Wie SCHÄFER nachweist, wurde der Begriff vom Kind als Akteur seiner Entwicklung bereits Ende der 1970er Jahre von HANSJÖRG KAUTTER in die pädagogische Diskussion eingeführt. Er richtete sich gegen funktionsorientierte Trainingsprogramme, die 190
zu jener Zeit in der Vorschulpädagogik florierten und dem damals präferierten Bild der ‚Anleitungs- und Erziehungskindheit’ entsprachen. Der Begriff der Akteurskindheit steht dagegen bis heute für eine kindorientierte Perspektive in der Frühpädagogik, die ihre Wurzeln in der pädagogischen Aufforderung zur Selbsttätigkeit in der Aufklärung und der Reformpädagogik hat. Diese Perspektive wurde in den 1970er Jahren mit Bezug auf die Psychoanalyse und die Kognitionspsychologie JEAN PIAGETs neu formuliert und erfährt gegenwärtig eine aktuelle Legitimation und Fortentwicklung im Kontext konstruktivistischer, neurobiologischer, anthropologischer und entwicklungspsychologischer Forschungen und Theoriebildungen. Im aktuellen Diskurs wird dieses Bild des Kindes neben der Metapher des Akteurs auch durch andere Metaphern wie etwa ‚Kind als Wissenschaftler‘, ‚Forschergeist in Windeln‘, ‚Kinder als Naturforscher‘, als ‚Erkenntniswesen‘ oder ‚kleine Entdecker‘ sowie den Begriff des ‚kompetenten Säuglings‘ zum Ausdruck gebracht (vgl. DRIESCHNER 2007b). Die Kontinuität zwischen klassischen und aktuellen Ansätzen der so genannten kindorientierten Pädagogik wird darin gesehen, dass „die Tätigkeit des Kindes als wesentlicher Aspekt in das pädagogische Handeln“ einbezogen wird (SCHÄFER 2006, S.58). Auf diese Weise sollen die Erfahrungsweisen, das Erleben, Denken, Fühlen und Handeln der Kinder in den Mittelpunkt des pädagogischen Denkens und Handelns rücken. In der Ausrichtung am individuellen Tätigsein der Kinder sollen ihre besondere Lebenssituation, ihre Bedürfnisse und Interessen sowohl im Hinblick auf lebensphasenspezifische Besonderheiten als auch inter- und intrapersonelle Differenzen berücksichtigt werden. Für die frühpädagogische Forschung und Praxis ist daher die Frage zentral, worauf sich die Tätigkeit des Kindes richtet, genauer worin die spezifischen Bildungsaufgaben und -prozesse in der frühen Kindheit bestehen. Ausgehend von der Unterscheidung PIAGETs zwischen der invarianten Funktion des Bildungsprozesses, die in der Regulation des Verhältnisses zwischen Person und Umwelt besteht, und seinen lebensphasenspezifischen Strukturen geht LIEGLE dieser Frage nach. Mit Bezug auf Klassiker und aktuelle Fachvertreter der Frühpädagogik sieht er die Strukturmerkmale des frühkindlichen Bildungsprozesses (1) in der anschauungsbetonten, sinnes- und leibgebundenen bzw. sensomotorischen Erkenntnis (JOHANN HEINRICH CAMPE, PIAGET), (2) der Selbstentwicklung des Kindes durch freie Selbsttätigkeit (FRÖBEL, KARL GROOS) und (3) in der Persönlichkeitsentwicklung von einem emergierenden Selbsterleben zu eigenständigem Selbstempfinden, Intersubjektivität und symbolischem Weltbezug (MARTIN DORNES). Diese Strukturmerkmale kennzeichnen die Tätigkeitsformen des frühkindlichen Bildungsprozesses, die in der Literatur vor allem im Spielen, Gestalten, Bewegen, Konstruieren, Forschen und Entdecken gesehen werden. Herausgestellt wird immer wieder die besondere 191
Bildungsbedeutsamkeit des Spiels, das z.B. im „Orientierungsplan für Bildung und Erziehung für die baden-württembergischen Kindergärten als „die dem Kind eigene Art, sich mit seiner Umwelt auseinanderzusetzen, sie zu erforschen, zu begreifen, zu ‚erobern‘ “ beschrieben wird (MINISTERIUM FÜR KULTUS, JUGEND UND SPORT BW 2006, S.32ff.). Das Spiel wird hier nicht vom Lernen getrennt, sondern als originäre Form des kindlichen Bildungsprozesses betrachtet. Alle Formen der selbstinitiierten und selbstmotivierten Begegnung mit der Umwelt tragen Merkmale des Spielerischen. SCHÄFER zufolge gestaltet das Kind im Medium des Spiels eine besondere Form der Beziehung zur Welt, indem es sich mit Menschen und Dingen seiner realen Umwelt auseinandersetzt, zugleich aber die Wirklichkeit gemäß seiner Wünsche, Gedanken, Vorstellungen und auch magischen und animistischen Weltdeutungen überschreiten kann. Das Spiel bildet somit einen Schonraum im Sinne eines „Möglichkeitsbereich(s), in dem Kinder ihr Verhältnis zur Welt so balancieren können, dass ihre eigenen Erwartungen, Wünsche, Vorstellungen oder Wirklichkeitsentwürfe dabei nicht zu kurz kommen“ (SCHÄFER 2006, S.59). Wie LIEGLE erläutert, stellt das Spiel somit „einen auch sozial geschützten Rahmen dar, in dem die Kinder ein sehr persönliches Mischungsverhältnis zwischen Realität und Phantasie herstellen können und mit keinen realen Folgen rechnen müssen, wenn sie sich zu weit von der Realität entfernen“ (LIEGLE 2006). Die Bildungsbedeutsamkeit des Spiels kann in sozialer, kognitiver und emotionaler Hinsicht konkretisiert werden: Die bildenden Momente des Kinderspiels sieht RITTELMEYER vor allem in der Entwicklung der Fähigkeit zum sozialen Rollenhandeln, zum sozialen Verstehen, zu Empathie und Kreativität (vgl. RITTELMEYER 2002). INGRID PRAMLING SAMUELSSON betont die kognitiven Herausforderungen des Spiels: Kinder müssen im Gruppenspiel die Spielrollen, -gegenstände, -abläufe und -regeln miteinander in Beziehung setzen und so vieles kognitiv parallel verarbeiten und kommunikativ aushandeln. Das Spiel ist deshalb nicht nur eine Verarbeitung früherer Erfahrungen, sondern zugleich eine Interaktion, in der die Kinder neue Erfahrungen hervorbringen, die für ihren Bildungsprozess entscheidend sind. Als Beispiel berichtet PRAMLING von zwei Kindern im Alter von fünf und sechs Jahren, die in der Interaktion folgende Spielszene hervorgebracht haben: „Da sitzen die beiden, nachdem sie alle Schirme im Haus nach Farben und Mustern geordnet haben und mein dänisches Service aus dem Schrank genommen haben, und ‚machen Party’. Wir können nur beginnen, uns vorzustellen, wie ihre Dialoge und Verhandlungen ausgesehen hatten, als sie diese Situation geplant und produziert haben. Hat Frida etwa von Hjördis gelernt oder umgekehrt? Es war wohl das erste Mal, dass sie dieses spezifische Arrangement produziert hatten. Was haben sie miteinander erfunden? Wie kamen sie auf diese Idee und wie nahm sie Gestalt an? Obwohl wir dies nicht wissen, können wir sehen, wie kreativ sie waren.
192
Und sehr wahrscheinlich hatte es eine ,Als-Ob’-Dimension gegeben, und zwei aufmerksame Kinder haben sich von ihrem Denken in Möglichkeiten leiten lassen“ (PRAMLING 2009, S.40).
Diese Spielszene verdeutlicht das Bildungspotenzial des kindlichen Spiels. Spielend-lernende Kinder sind ein zentrales Bestimmungsmerkmal des eigenständigen, non-formalen Bildungsauftrags des Kindergartens, der spielerisch, offen und situativ an den Eigeninteressen der Kinder anknüpft. In der Schule wird hingegen stärker zwischen Spielen und Lernen getrennt. Die hier dominierende lernzielorientierte Didaktik fasst systematisch-curriculares Lernen in Unterrichtsstunden und -einheiten einerseits und implizites und zufälliges Lernen im Spiel anderseits als zwei weitgehend getrennte Erfahrungsbereiche auf. Daher sehen viele Erzieherinnen und Erzieher in Verschulungstendenzen des Kindergartens einen Verlust seines eigenständigen pädagogischen Profils (vgl. TEXTOR 2008). 2.4 Schaffung von Umwelten und Gelegenheitsstrukturen für frühkindliche Bildungsprozesse als erzieherische Kernaufgabe Eine eigenständige, systematische und vollständig wissenschaftlich fundierte Didaktik der frühen Kindheit ist aus dem Selbstbildungsansatz bisher nicht hervorgegangen. Begründet werden vielmehr Perspektiven und Prinzipien didaktischen Denkens, die ihren Bezugspunkt in Strukturmerkmalen und Tätigkeitsformen des frühkindlichen Bildungsprozesses finden. Diese konsequente Ausrichtung an der Selbstbildung des Kindes geht didaktisch einher mit einer grundsätzlichen Ablehnung instruktionslogischer Lehrformen sowie verbindlicher curricularer Fixierungen von Wissensinhalten und zu erwerbenden Kompetenzen. SCHÄFER erläutert am Beispiel der sensorischen und der sprachlichen Entwicklung, dass wichtige lebensphasenspezifische Bildungsprozesse von Kindern im vorschulischen Alter nicht der Instruktion bedürfen: „Man muss Kindern weder das Sehen, das Hören, die Körper- oder die emotionale Wahrnehmung, das Sprechen in einem differenzierten Sprachsystem ‚beibringen‘. Sie lernen es aufgrund ihrer Ausgangspotenziale im tatsächlichen Umgang mit ihrer sozialen und kulturellen Umwelt“ (SCHÄFER 2006, S.63). Daraus folgert SCHÄFER, dass „Kinder ... für ihre frühen Bildungsprozesse also keinen Unterricht in Krippe und Kindergarten [brauchen], sondern eine vielfältige und differenzierte Umwelt“ (ebd., S.65). Je mehr pädagogisch geplant und zur Verfügung gestellt werden muss, desto weniger können Kinder ihren eigenen Lernwegen folgen. Im Unterschied zu Formen direkter pädagogischer Einwirkung wird Erziehung hier non-direktiv als Gestaltung einer sozialen und materiellen Umwelt verstanden, die als Anregungspotenzial für kindliche 193
Selbstbildungsprozesse dient: „Erziehung entscheidet darüber, welchen Ausschnitt der Welt sich das Kind konstruierend aneignen kann“ (LAEWEN 2002, S.43). In diesem Sinne sprachen bereits FRÖBEL vom ‚zufälligen Unterricht‘, MONTESSORI von der ‚vorbereiteten Umgebung‘ und LORIS MAGALUZZI vom ‚Raum als drittem Erzieher‘. Ausgehend von der möglichst genauen wissenschaftlichen Kenntnis sowie der praktischen Beobachtung und Dokumentation der kindlichen Bedürfnisse und Explorationsbestrebungen wird intendiert, „frühund elementarpädagogische Umwelten so zu gestalten, dass diejenigen Lernbedingungen gewährleistet werden, die junge Kinder für ihre Wissensaneignung benötigen“ (FRIED 2008b, S.7). LIEGLE betont in diesem Zusammenhang besonders die reaktive Funktion dieser indirekten Form von Erziehung auf die Selbstentwicklung des Kindes: Die Pädagogik der frühen Kindheit „muss in Theorie und Praxis – in radikalerer Weise als die Pädagogik späterer Lebensalter – ihren Ausgangspunkt in der Umwelt des Kindes und deren Anpassung an die Signale, Fragen und Handlungen des Kindes suchen. Mehr und anders als in späteren Lebensaltern muss Erziehung verstanden und gestaltet werden als angemessene Reaktion auf die Tatsache der Selbstbildung und des Selbstunterrichts des Kindes in seinem Aufbau des Subjekt-Welt-Bezugs“ (LIEGLE 2006, S.99). Eine solche pädagogische Umwelt ist nach RITTELMEYER so zu gestalten, dass sie Kindern erlaubt, sich „möglichst vielseitig zu bilden, ihren sinnlichen Reichtum, ihre gedankliche Tiefe, ihre Urteilskraft, ihre ästhetischen Vermögen, ihr handwerkliches Können umfassend zu schulen“ (RITTELMEYER 2007, S.100f.). Bildung wird in diesem Zusammenhang als individueller biographischer Prozess verstanden, Kindergärten und Grundschulen schaffen Arrangements und Anregungen für vielfältige und selbsttätige Erfahrungen. Das klassische Bildungsideal der „vielfältigen Berührung des Individuums mit der Welt“ interpretiert RITTELMEYER bezogen auf die frühe Kindheit als Erschließung der Welt über „möglichst vielfältige sinnliche Erfahrungen“, die mit steigendem Alter des Kindes „zunehmend auch denkend ergriffen“ werden. Als Bildungsideal gilt ihm die „ästhetische Weltbetrachtung“ im Sinne FRIEDRICH VON SCHILLERs, in der „sinnliche Zuwendung zur Welt und geistige Tätigkeit zugleich tätig werden“ (ebd., S.107). Erziehungspraktisch stellt sich an dieser Stelle die Frage, wie eine solche bildungsförderliche soziale und materielle Umwelt in den Räumen und auf dem Außengelände des Kindergartens konkret gestaltet werden kann. Für diese Aufgabe kann der Selbstbildungsansatz den Erzieherinnen und Erziehern zwar kein gesichertes Anwendungswissen zur Verfügung stellen, möglich ist aber die Formulierung empirisch fundierter Leitlinien normativer pädagogischer Praxisentscheidungen (vgl. DRIESCHNER/ GAUS 2009). ‚Gute‘ Bildungsumwelten, die den kindlichen Forschergeist wecken und zur Selbsttätigkeit auffordern, werden in der Literatur allgemein als ‚vielfältig‘, 194
‚reichhaltig‘, ‚differenziert‘, ‚komplex‘ und ‚anregungsreich‘ beschrieben (vgl. z.B. SCHÄFER 2006, S65; LAEWEN 2002, S.50; ROMBERG 2002, S.21). Begründet werden diese allgemeinen Gütemerkmale vor allem mit Bezug auf konstruktivistische und neurobiologische Erkenntnisse zum Selbstbildungsprozess von Kindern (vgl. KLATTE 2007). Solches geschieht in einem komplexen Übersetzungsverhältnis zwischen empirischen Tatsachenbeschreibungen, empirisch fundierten möglichen Leitlinien normativer Praxisentscheidungen und konkret auszuhandelnden pädagogischen Handlungskonsequenzen. So begründet z.B. der Neurophysiologe WOLF SINGER die Schaffung von hinreichend anregenden Bildungsumwelten mit dem Befund, dass die Ausbildung der „funktionellen Architektur der Großhirnrinde ... in erheblichem Umfang durch Sinnessignale geprägt [wird], weshalb Kinder mit einem qua Geburt mitgegebenen Welterkundungsdrang aktiv Erfahrungen suchen“ (SINGER 2003, S.70). Wie Umwelten beschaffen sein sollen, die den Kindern geeignetes sinnlich zugängliches Material für ihre Weltkonstruktionen bereitstellen, fällt jedoch in den Bereich der von den Bildungsverantwortlichen auszuhandelnden pädagogischen Konsequenzen. Mit Bezug auf den Forschungsbefund, dass Sinnessignale vor allem dann strukturierend Einfluss auf die Entwicklung nehmen, wenn sie Folge aktiver Interaktionen mit der Umwelt sind, kann spezifiziert werden, dass die Bildungsumwelten Möglichkeiten zu komplexen Bewegungs- und Handlungserfahrungen bereitstellen sollen (vgl. ebd.). Welche Erfahrungen sich bei den einzelnen Kindern einer Einrichtung am günstigsten auswirken, kann mit Bezug auf allgemeine Forschungsergebnisse jedoch nicht gesichert ausgesagt werden. Dies ist vor allem darin begründet, dass sich SINGER zufolge Hirnstrukturen in je individuellen kritischen Phasen entwickeln, d.h. dass das Gehirn in verschiedenen Entwicklungszeiträumen unterschiedliche Informationen aus der Umwelt zur Optimierung seines Strukturaufbaus benötigt (vgl. ebd.). Um die pädagogische Umwelt so zu arrangieren, dass die Kinder die richtigen Anregungen zum richtigen Zeitpunkt erhalten, ist in der Praxis eine sorgfältige Beobachtung und angemessene Interpretation der Entwicklungsprozesse der einzelnen Kinder notwendig. Aus diesen grundlegenden Überlegungen wird deutlich, dass klar zwischen der Ebene wissenschaftlich generierter Erkenntnisse und der Ebene der wissenschaftlichen Grundlegung elementarpädagogischer Handlungsentscheidungen zu unterscheiden ist. Wie genau eine anregungsreiche Umwelt gestaltet werden kann, welche sinnlichen und interaktiven Erfahrungsmöglichkeiten sie beinhaltet, wie reichhaltig die Angebote und Anforderungen sein sollen und welche Strukturierungen geordnete, vertiefte Erfahrung in angemessenen Zeitrhythmen ermöglicht, kann nicht aus Forschungsbefunden abgeleitet werden: Dies fällt in den Bereich konsensuell auszuhandelnder Handlungsentscheidungen. Solche 195
Handlungsentscheidungen können wissenschaftlich begründet und reflektiert werden, sie sind jedoch auch zentral durch das Erfahrungswissen der Praktiker sowie durch das institutionelle, kontextuelle und personelle Bedingungsgefüge des Handelns beeinflusst. In diesem Sinne werden in den Modellkindergärten des am Berliner Forschungsinstitut Infans durchgeführten Projekts ‚Zum Bildungsauftrag von Kindertageseinrichtungen‘ auf der Basis wissenschaftlicher Erkenntnisse und praktischer Erprobungen Konzepte zur Gestaltung pädagogischer Räume entwickelt, in denen reichhaltige sensorische und psychomotorische Erfahrungsmöglichkeiten eine zentrale Rolle spielen. Positive Effekte auf die Entwicklung der Motorik und der körperbezogenen Sinne wurden z.B. durch die Schaffung von komplexen Bewegungsumwelten erzielt, in denen schiefe Ebenen, Podeste, Schaukeln, Werkräume, responsive Spielmittel sowie die Animation zu Tanz, Mimik, Pantomime etc. den kindlichen Bewegungsdrang herausfordern. Die visuelle und akustische Wahrnehmungsfähigkeit wird durch die Begegnung mit Kunst stimuliert. Darstellungen bildender Kunst, Fotographie, Architektur, klassische und moderne Musik etc. sind ein wichtiger Teil der Bildungsumwelt der Infans-Kindergärten (vgl. LAEWEN 2002, S.50). Darüber hinaus werden Freiräume für komplexe Aktivitäten geschaffen. Dies verdeutlicht JOHANNA ROMBERG am Beispiel des malerischen Gestaltens. Kinder gestalten nicht wie in der traditionellen Kindergartenpraxis zu vorgegebenen Themen mit vorgegebenem Material, sondern sie erhalten z.B. Töpfe mit Grundfarben mit dem offenen Impuls: Was fällt euch dazu ein? Was kann man mit diesen Farben machen?“ (ROMBERG 2002, S.26). Charakteristisch für die Infans-Kindergärten ist des Weiteren die besondere Sensibilität für die Bildungsbedeutsamkeit des kindlichen Spielens und Forschens. Beide Prozesse werden grundsätzlich unterstützt und es wird nur dann interveniert, wenn Kinder z.B. bestimmte Konflikte im Spiel noch nicht selbst regeln können oder Gefahren im spielerischen Experimentieren noch nicht einzuschätzen vermögen. Einige Beispiele können eine solche Wahrnehmung von kindlichen Bildungsprozessen recht gut veranschaulichen: Im Umwerfen von Bauklötzen wird weniger aggressives und erzieherisch zu unterbindendes Verhalten gesehen, als vielmehr eine selbstinitiierte Schulung des Wissens über Gravitation. Kinder, die in Pfützen herumstapfen, tun dies sicherlich aus unmittelbarer Freude an dieser Aktion und ihrer Wirkung, sie experimentieren aber zugleich mit dem Prinzip der Wasserverdrängung. Indem Kinder kreisförmig um Gegenstände oder Personen herumlaufen, entwickeln sie ihre Bewegungskoordination und Raumorientierung (vgl. ebd.). Am Beispiel einer Badezimmerüberschwemmung bringt auch DONATA ELSCHENBROICH diese pädagogische Wahrnehmung der Bedürfnisse und Interessen der Kinder einprägsam zum Ausdruck: „Wir hätten Schweinerei sagen können. Aber wir haben es Experiment genannt“ (ELSCHENBROICH 2005, S.34). 196
Die genannten Beispiele zeigen, dass gute pädagogische Umgebungen den Kindern so genannte „Gelegenheitsstrukturen“ (LIEGLE 2006, S.103) bzw. „Möglichkeitsspielräume“ (SCHÄFER 2006, S.76) für Bildungsprozesse eröffnen. Das gilt auch für die Einführung der Kinder in Symbolsysteme einschließlich der Schriftsprache sowie der Zahlen und Mengen (ebd. S.150). Zuförderst aber gilt dieses für die Gestaltung des Alltags. Dieser ist für SCHÄFER das „wahrscheinlich einflussreichste ‚pädagogische Angebot‘“ (ebd. 2006, S.75) [Hvhgb. im Original, E.D.]. Neben der sensiblen Wahrnehmung, Beschreibung, Dokumentation und Interpretation der kindlichen Bildungsprozesse besteht eine weitere erzieherische Aufgabe in ihrer entwicklungsangemessenen Verstärkung. LAEWEN spricht hier von den Fragen, Interessen und Themen der Kinder, die pädagogisch zu beantworten sind (vgl. LAEWEN 2002). So ließe sich z.B. auf das Entwicklungsthema ‚Erfahrungen mit der Gravitation‘ (s.o.) durch pädagogische Angebote zum Spielen mit Bällen (speziell mit Flummis) reagieren. Die oben angesprochene erzieherische Antwort auf die das Kind interessierenden Themen verdeutlicht den engen Zusammenhang zwischen der Gestaltung der dinglichen und der personalen Umwelt, genauer der ErzieherinKind-Interaktion, der eine Katalysatorwirkung für den frühkindlichen Bildungsprozess beigemessen wird. In diesem Kontext spielt das Konzept der Bindung im Selbstbildungsansatz eine wichtige Rolle. Die bekanntesten deutschen Bindungsforscher KARIN und KLAUS GROSSMANN definieren Bindung als „imaginäres Band, das in den Gefühlen einer Person verankert ist und das sie über Raum und Zeit hinweg an eine andere Person, die als stärker und weiser empfunden wird, bindet“ (GROSSMANN/GROSSMANN 2005, S.71). Die Erfahrung von Verbundenheit, psychischer Sicherheit und Orientierung, aber auch von Kompetenz und Autonomie, die Kinder in guten, sicheren Bindungsbeziehungen machen, wird als biologisch-psychisch-soziale Voraussetzung des kindlichen Selbstbildungsprozesses beschrieben (vgl. LIEGLE 2006, S. 40ff.; LIEGLE 2008, S.97; LAEWEN 2002, S.52ff.; BECKER-STOLL 2008). Die einschlägige Forschung hat gezeigt, dass Kinder nicht nur zu ihren Eltern, sondern auch zu ihren Erzieherinnen und Erziehern Bindungen aufbauen, die allerdings gegenüber den Bindungen mit den primären Bezugspersonen nachrangig sind (vgl. AHNERT 2007). Sicher gebundene Kinder zeigen ein aktives Erkundungsverhalten; sie vergewissern sich bei Unsicherheit und Überforderung der Unterstützung der Bindungsperson – wobei teils deren Präsenz im Interaktionsraum genügt – und entwickeln eine hohe Bereitschaft und Fähigkeit, zwischenmenschliche Beziehungen einzugehen (vgl. z.B. GROSSMANN/GROSSMANN 2005). Eine sichere Bindung bildet somit eine zentrale Voraussetzung dafür, dass Kinder die Gelegenheitsstrukturen und Möglichkeitsspielräume für Bildungsprozesse in einer pädagogischen Umgebung und in ihrem weiteren Leben auch tatsächlich wahrnehmen können. 197
Bindungen dienen aus evolutionsbiologischer Sicht der Lebenserhaltung, denn Bindungsbeziehungen gewährleisten Versorgung, Schutz und psychische Sicherheit. Die Bindungsbereitschaft des Kindes ist umweltstabil, die jeweilige Ausgestaltung der Bindung als ‚sicher‘ versus ‚unsicher‘ oder ‚desorganisiert‘ wird allerdings in Interaktionen mit den primären Bezugspersonen erlernt. Als gut belegt gilt der Befund, dass sich sichere Bindungen im Rahmen liebevoller und entwicklungsangemessener Interaktionen zwischen Kindern und ihren Bezugspersonen herausbilden. Personell hängen sie von der Feinfühligkeit, Responsivität, Bereitschaft zur Zuwendung und Beobachtungs- und Interaktionskompetenz der Bezugspersonen ab (vgl. BECKER-STOLL/TEXTOR 2007). Strukturell erfordern sie im Kindergarten einen möglichst niedrigen Betreuungsschlüssel, damit Raum und Zeit für individuelle und feinfühlige Zuwendung zu den einzelnen Kindern einer Gruppe gewährleistet ist (vgl. DOLLASE 2006, S.88). Das Konstrukt Feinfühligkeit (‚Sensitivität‘) umfasst das Verstehen der signalisierten Bindungs-, Sicherheits- und Autonomiebedürfnisse des Kindes, die realistische Deutung seiner Äußerungen sowie die Bereitschaft zu adäquaten und prompten Reaktionen. Spielfeinfühligkeit meint darüber hinaus die Unterstützung der kindlichen Neugier sowie die kind- und entwicklungsgemäße Kooperation bei der Bewältigung von Herausforderungen bei gleichzeitiger Vermeidung direkt eingreifender und vorwegnehmender Hilfe (vgl. HOPF 2005). Feinfühligkeit bildet somit eine zentrale Grundlage für ein Verständnis von Erziehung als Anpassung der Umwelt an die Bedürfnisse des Kindes. Die aus der Verarbeitung der Interaktionserfahrungen entstehende Bindung steht in einem engen Zusammenhang mit der Aktivierung oder Hemmung der kindlichen Motivation, aktiv einen Weltbezug herzustellen. Erst auf Basis einer sicheren Bindung kann das Explorationsverhalten des Kindes voll aktiviert werden und das Kind darüber zur Autonomie gelangen, weshalb Bindung eine zentrale Voraussetzung von Bildung darstellt. Hierzu äußert LIEGLE: „Die Neugierde des Kindes, sein Interesse, sein Lernen- und Begreifen-Wollen, seine Eroberung der Welt und seine Entwicklung von Kompetenzen – auch jener Kompetenzen, die in der viel diskutierten PISA-Studie erfasst worden sind –- , all dies hat seinen Boden, gewinnt seine Energie aus der grundlegenden Erfahrung von Verbundenheit und Autonomie [...] Die Bindungserfahrungen des Kindes und seine selbsttätigen Bildungsprozesse stehen in einem gar nicht auflösbaren Zusammenhang“ (LIEGLE 2006, S.93). Obgleich Erziehung im Selbstbildungsansatz grundsätzlich als Umweltgestaltung in Reaktion auf die Selbstbildung des Kindes verstanden wird, stellt LAEWEN ausgehend vom Konzept der Bindung einen dialektischen Zusammenhang zwischen den Prozessen der Konstruktion und Instruktion her, wobei der Selbststeuerung des Bildungsprozesses gegenüber der pädagogischen Lenkung 198
eine prinzipielle Priorität beigemessen wird. LAEWEN geht davon aus, dass frühpädagogische Fachkräfte als Bindungspersonen nicht nur auf die Entwicklungsthemen, Fragen und Interessen der Kinder reagieren, sondern per se auch Themen an die Kinder herantragen. Solchermaßen zugemutete Themen sollten für die Kinder bildungsbedeutsam sein und können z.B. durch das im Situationsansatz ausgearbeitete Verfahren der Situationsanalyse bestimmt werden. Ist ein zugemutetes Thema mit den Eigeninteressen des Kindes kompatibel, kann eine Erzieherin sicher sein, kraft der Bindung und des Lernens durch Nachahmung und Identifizierung die Aufmerksamkeit des Kindes zu erzielen (LAEWEN 2002, S.54). Da die Selbstbildung der jeweiligen Kinder einer Einrichtung die Leitlinie für zumutbare Themen darstellt, ist nach LAEWEN eine über die konkrete Einrichtung hinausgehende curriculare Fixierung von Themen und Lernzielen nicht zu empfehlen; offene Rahmen- und Orientierungspläne sind dagegen mit dem Selbstbildungsansatz kompatibel (vgl. z.B. SCHÄFER 2007). Bei der Themenerarbeitung werden dialogische Kooperationsformen befürwortet. Das bedeutet für LAEWEN, „dass die Antwort der Kinder auf die Zumutung in das weitere Gespräch zum Thema, seine weitere Bearbeitung eingehen muss, damit kein fruchtloser Monolog der zumutenden Erzieherin daraus wird. Denn dann käme es entweder zum Fassadenbau durch die Kinder, hinter denen sich ihre eigentlichen Interessen und Konstruktionsleistungen verbergen würden, zum Abbruch der Arbeit am Thema oder zu halbherzigen Initiativen aus Höflichkeit oder Zuneigung der Erzieherin gegenüber“ (ebd., S.58). 2.5 Anschlussfähige vorschulische und schulische Bildungsprozesse durch Anerkennung des eigenständigen elementarpädagogischen Bildungsauftrags RAINER DOLLASE verweist auf das grundsätzliche Dilemma, in dem sich die Frühpädagogik befindet: Einerseits wurde die frühe Lernfähigkeit des Kindes hinreichend belegt, andererseits gelingt es nicht, sie mit den Mitteln der Schulpädagogik angemessen zu fördern (DOLLASE 2006, S.92). Aus diesem Grund akzentuiert der Selbstbildungsansatz den eigenständigen, non-formalen Bildungs- und Erziehungsauftrag des Kindergartens als Elementarbereich des Bildungssystems. Dieser findet Umsetzung in einer alltagsnah und familienähnlich gestalteten Bildungsumgebung und orientiert sich an den lebensphasenspezifischen Strukturen und Formen frühkindlicher Bildungsprozesse, die vom schulförmigen Lernen differieren; eine Vorverlagerung schulischer Lernziele und Lernmethoden wird somit abgelehnt. Hierzu leisten die Vertreter des Selbstbildungsansatzes z.B. folgende Stellungnahmen: „Es ist zumindest kurz199
schlüssig, aus dieser frühen Empfänglichkeit von kleinen Kindern für Lernprozesse allgemein zu schließen, Kinder müssten früher und gezielter lernen“ (SCHÄFER 2006, S.65). „Es wird vielmehr erwartet, dass eine entwicklungsangemessene Unterstützung und Anregung der Bildungsprozesse einen kontinuierlichen Übergang zu den schulischen Lernanforderungen gewährleistet“ (LIEGLE 2006, S.143). Daran ist folgende bildungsoptimistische Einschätzung geknüpft: „Wenn der Kindergarten seinen eigenständigen Bildungs- und Erziehungsauftrag angemessen wahrnimmt – und zwar dadurch, dass er die Bildungsprozesse der Kinder entwicklungsangemessen (d.h. insbesondere mit Betonung von Spiel und Kreativität) unterstützt und anregt, herausfordert und individuell fördert (und dies in enger Partnerschaft mit den Familien der Kinder) –, dann kann prinzipiell jedes Kind die Voraussetzungen dafür erwerben, mit Lust und entwickelten Fähigkeiten in das schulische Lernen einzutreten“ (ebd., S.149). Vor diesem Hintergrund sieht LIEGLE die Chance einer Verbindung zwischen Kindergarten und Schuleingangsstufe in der reziproken Kenntnis und Anerkennung der unterschiedlichen institutionsspezifischen Bildungskulturen und Didaktiken. Auf der Basis eines solchen Verständigungshorizonts können Verbindungen der beiden Bildungsorte erprobt werden. Dabei ist es wichtig, einerseits das eigenständige Bildungspotenzial der beiden Institutionen sowie andererseits mögliche Formen des Zusammenspiels in den Blick zu nehmen. In diesem Prozess kann sich die Grundschule gegenüber elementarpädagogischen Prinzipien öffnen und Schulanfänger verstärkt ausgehend von ihrer Selbsttätigkeit fördern. Eine wichtige Aufgabe des Kindergartens ist wiederum, Wert auf die Anschlussfähigkeit der Bildungsinhalte zu legen, ohne schulische Lehr-Lernformen vorwegzunehmen. Insgesamt setzen Kindergärten und Grundschulen ihre eigenständigen Bildungsaufträge altersgerecht auf je eigene Weise um und verstehen die Schulfähigkeit des Kindes als gemeinsame Förder- und Entwicklungsaufgabe. 3
Frühkindliche Bildung als Ko-Konstruktion und Kompetenzentwicklung
3.1 Kontexte des Bildungsprozesses als zentrale Bezugsgrößen der Frühpädagogik Das Verständnis von Bildung als Ko-Konstruktion und Kompetenzentwicklung ist der Ausgangspunkt eines sich international abzeichnenden Trends in der Frühpädagogik, vorschulische Bildungsprozesse zum Gegenstand systematischer curricularer und didaktischer Planungen zu erheben und so dem Modus schulförmigen Lernens anzunähern (vgl. KONRAD 2009, S.2). Daher kann diese 200
Konzeptualisierung frühkindlicher Bildung, die im Folgenden abgekürzt als kompetenzorientierter Ansatz bezeichnet wird, mit Bezug auf ROßBACH dem ‚Vorschultyp’ zugeordnet werden, der traditionell vor allem im angloamerikanischen Raum und in Frankreich vorherrscht (ROßBACH 2008, S.285). Dieses Bildungskonzept wurde in Deutschland in Anlehnung an internationale Entwicklungen unter der Leitung von WASSILOS F. FTHENAKIS am Staatsinstitut für Frühpädagogik in München theoretisch entwickelt, praktisch konzeptualisiert und dem Bayerischen und Hessischen Bildungsplan zugrunde gelegt (vgl. z.B. FTHENAKIS/OBERHUEMER 2004; FTHENAKIS 2003, GISBERT 2003). FTHENAKIS grenzt sich hierbei klar vom ‚Instruktionsverdikt‘ des Selbstbildungsansatzes ab: „Wir begreifen Bildung nicht, wie bislang, als Selbstbildung, wonach sich das Kind allein durch Eigenaktivität die Welt aneignet. Ein solches Bildungsverständnis Piaget‘scher Tradition eignet sich kaum für eine moderne Konzeption von Bildung“ (FTHENAKIS 2004a, S.15). FTHENAKIS geht es darum, diesen kindzentrierten – und dem historisch-kulturell-sozialen Kontext enthobenen – Fokus der traditionellen Frühpädagogik im Hinblick auf die gesellschaftlichen Kontexte des Bildungsgeschehens neu zu orientieren. Der enge Fokus auf das Individuum vernachlässige die sozialen Prozesse des Bildungsgeschehens, Bildung müsse vielmehr in ihrer jeweiligen situativen und gesellschaftlichen Einbettung betrachtet werden (vgl. FTHENAKIS 2004b, S. 3; 2004c, S.390). KRISTIN GISBERT, eine ehemalige Mitarbeiterin von FTHENAKIS am Münchener Staatsinstitut, fordert daher, Bildung auf die „heutige Gesellschaft mit ihren spezifischen Möglichkeiten und Anforderungen“ auszurichten, „die sich im Wesentlichen unter Stichwörtern wie ‚Postmoderne’ und ‚Wissensgesellschaft’ prägnant zusammenfassen lassen“ (GISBERT 2003, S.86). Aus diesem Grund konzentriert sich der kompetenzorientierte Ansatz auf die vom gegenwärtigen und zukünftigen Leben an das Kind gestellten Anforderungen und „legt besonderen Wert auf den Erwerb von Basiskompetenzen wie lernmethodischen Kompetenzen, Resilienz als Fähigkeit, sich belastenden Lebenssituationen effektiv anzupassen, und Transitionskompetenz als Fähigkeit zur Bewältigung der in Übergangssituationen gestellten Anforderungen“ (ROßBACH 2008, S.312). So sollten die Kinder z.B. durch die Vermittlung lernmethodischer Kompetenzen auf das Leben in einer Gesellschaft vorbereitet werden, in der das lebenslange Lernen angesichts beschleunigter gesellschaftlicher Transformationsprozesse immer mehr an Bedeutung gewinne. Hinter dem Versuch, den Bildungsprozess auf den Kontext auszurichten, steht im Kern die bereits von HEINRICH ROTH vertretende Einsicht, dass nicht nur die pädagogische Situation als Arrangement von Erzieherin und Kind, von pädagogischer Umgebung und Lerngegenständen in den Bildungsprozess eingehen, sondern dass dieser mindestens ebenso durch die Handlungsbedingungen 201
in der Institution, familiäre Hintergründen der Kinder, bildungspolitische Rahmenvorgaben, gesamtgesellschaftliche Einflussgrößen, kulturelle Bezugsnormen und anthropologische Voraussetzungen bedingt ist. Erst diese Gesamtheit ergibt das Kontextgefüge des Bildungsprozesses (ROTH 1966, S.71ff., S.91ff.). Obgleich der kompetenzorientierte Ansatz keine mit den Ansprüchen ROTHs vergleichbare Systematik der Kontextebenen des Bildungsprozesses entwickelt, lassen sich mindestens drei Ebenen voneinander unterscheiden, die als zentrale Kontexte frühkindlicher Bildung betrachtet werden: die Ebene der pädagogischen Situation, der gesellschaftlich-kulturellen Einflussgrößen und Bezugsnormen sowie der institutionellen und bildungspolitischen Rahmenvorgaben. Anhand dieser Ebenen können die theoretischen Hintergründe des kompetenzorientierten Bildungsansatzes dargestellt werden. Sie bestehen im Wesentlichen aus einer Kombination sozialkonstruktivistischer Interaktionstheorien, postmoderner Kindheits- und Gesellschaftstheorien und bildungswissenschaftlicher Kompetenzkonzepte (vgl. REICHERT-GARSCHHAMMER 2009). Dieser insgesamt mehr heuristisch als wissenschaftstheoretisch-systematisch angelegte Theorieverbund wird in den folgenden Überlegungen und Thesen konkretisiert. 3.2 Bildung als sozialer Prozess der Ko-Konstruktion Auf der Ebene der pädagogischen Situation wird das konstruktivistische Verständnis von Selbstbildung durch ein sozialkonstruktivistisches Konzept von Bildung als Ko-Konstruktion ersetzt (vgl. REICHERT-GARSCHHAMMER 2009, S.154). Je nach theoretischem Blickwinkel kann der soziale Konstruktivismus entweder als Teil des konstruktivistischen Paradigmas oder als eigenständiger Ansatz betrachtet werden. Einerseits stimmt er mit anderen konstruktivistischen Ansätzen in der grundlegenden These der Konstruktivität von Wissen und Wirklichkeit überein. Andererseits wird Wirklichkeit jedoch nicht, wie z.B. im radikalen, systemtheoretischen oder entwicklungspsychologischen Konstruktivismus nach PIAGET, auf den sich der Selbstbildungsansatz bezieht, als Hervorbringung autopoietischer, geschlossen operierender bzw. auf Äquilibration ausgerichteter psychischer Systeme verstanden, sondern als soziale Konstruktionsleistung. Dies führt KENNETH GERGEN zur klaren Abgrenzung der Ansätze, auf die auch der kompetenzorientierte Ansatz rekurriert: „Für Konstruktivistinnen und Konstruktivisten ist der Prozess der Konstruktion der Welt ein psychologischer; er spielt sich ‚im Kopf‘ ab. Für Sozialkonstruktionistinnen und -konstruktionisten ist dagegen das, was wir für real halten, eine Folge sozialer Beziehungen“ (GERGEN 2002; zit. nach AMELN 2004, S.184). Im Mittelpunkt des Interesses steht daher die kontextuelle, kulturelle und sozialhistorische Einbettung und Genese der 202
Erklärungs-, Deutungs-, Begründungs- und Verhaltensmuster, mit denen Menschen sich selbst beschreiben, ihre Umwelt wahrnehmen und sich zu dieser in Beziehung setzen. Solche in sozialen Bezügen und Interaktionen hervorgebrachten Bedeutungssysteme nutzt das Individuum für seinen Aufbau als Person. Da es diese sozialen Bedeutungssysteme mit konstituiert, wird in der sozialkonstruktivistischen Soziologie die Reziprozität zwischen Individuum und Gesellschaft hervorgehoben: „Society, conceptualized as a web of symbolic interaction, creates the person; but it is persons who through interaction create society. Thus society and person are reciprocally related in a most fundamental way: They prepose one another in that neither exists except in relation to the other“ (STRYKER/STATHAM 1985, S.314; vgl. auch BERGER/LUCKMANN 1969). Im Rahmen dieses Denkmodells wird aus psychologischer Sicht der Einfluss sozialer Prozesse auf die Entwicklung des Menschen genauer betrachtet. Bereits LEV WYGOTSKI stellte die sozialen Ursprünge des Denkens und Sprechens in der geistigen Entwicklung des Individuums heraus (vgl. WYGOTSKI 1977). Wie GISBERT zeigt, wird der soziale Einfluss in der neueren Diskussion z.T. als so gewichtig erachtet, dass Kognition als ‚kollaborativer Prozess‘ (BARBARA ROGOFF) und die kognitive Entwicklung als ‚Entstehung des sozial vermittelten Geistes‘ (KATHERINE NELSON) beschrieben wird: „Die Bedeutung der Dinge entsteht dieser Auffassung zufolge in einem ko-konstruktiven Prozess der Interaktion, und individuelle Bedeutung wird aus sozialer Übereinkunft abgeleitet“ (GISBERT 2003, S.88). Diese Position widerspricht der gängigen psychologischen Sicht, dass Wissen und psychische Dispositionen im Individuum lokalisierbar sind und aus dessen Verhalten und sprachlichen Äußerungen erschlossen werden können. GERGEN geht sogar so weit, eine „zweite oder geheime Ebene von ‚Bewusstsein’, die, wiewohl unvollkommen, auszuleuchten wäre“ neben den kulturellen Bedeutungssystemen zu negieren. Er vertritt die provokative These, dass sich „die Sprache des Sich-Selbst-Verstehens ... nicht aus dem spezifischen Charakter des individuellen Selbst entwickelt, sondern aus Metaphern, bildlichen Ausdrücken, Sprachfiguren und anderen Konventionen des kommunalen Diskurses“ (GERGEN 1991, 1985; zit. nach AMELN 2004, S.181). Die Wirklichkeit des Einzelnen ist dieser Auffassung zufolge vollständig durch den sich historisch und kulturell herausbildenden Diskurs geprägt, wobei der Einzelne wiederum als Ko-Konstrukteur dieses Diskurses betrachtet wird. Aus systemtheoretischer Sicht ist an dieser Theorieanlage die Verwischung der Grenzen zwischen psychischen und sozialen Systemen, zwischen Individualität und Sozialität problematisch, weil individuelles Bewusstsein und soziale Kommunikation mit unterschiedlichen Medien, Funktionslogiken und Codierungen operieren. Erst auf der Grundlage einer klaren Systemunterscheidung kann das Wechselspiel zwischen Individuum und Gesellschaft, das ja der Gegenstand des 203
Sozialkonstruktivismus sein soll, trennscharf beschrieben und analysiert werden. Aus systemtheoretischer Sicht wird dieses Wechselspiel dadurch konstituiert, dass sich psychische und soziale Systeme reziprok ihre Komplexität für ihren eigenen Strukturaufbau zur Verfügung stellen (vgl. LUHMANN 1984) – eine Vorstellung, die aus der Sicht des Individuums dem traditionalen Verständnis von Bildung als Strukturaufbau der Person in aktiver und produktiver Auseinandersetzung mit seiner Umwelt entspricht. Mit Bezug auf den sozialkonstruktivistischen Gedanken der Ko-Konstruktion hebt FTHENAKIS die Bedeutung des sozialen Vermittlungsprozesses, die interaktive Konstruktion von Sinn und Bedeutung und mithin die kontextuelle Eingebundenheit des aktiv handelnden Lerners hervor: „Im Sozialkonstruktivismus wird das Kind als von Geburt an in soziale Beziehungen eingebettet betrachtet. Lernen und Wissenskonstruktion werden als interaktionaler und kokonstruktiver Prozess aufgefasst.“ Daraus ergibt sich für die pädagogische Interaktion, dass „Kinder und Pädagogen … als aktive Ko-Konstrukteure von Wissen und Kultur und als Bürger mit Rechten, Pflichten und Möglichkeiten verstanden [werden]“ (FTHENAKIS 2004b, S.3). Bildung wird in diesem Sinn als sozialer Interaktionsprozess begriffen, der durch das gemeinsame Handeln der Kinder, der Eltern, der Erzieherinnen und Erzieher und anderer erwachsener Bezugspersonen konstituiert ist. Die Interaktion ist gerahmt durch den soziokulturellen Kontext sowie die individuellen Lebensbezüge, die die Kinder und die Erwachsenen in die pädagogische Situation einbringen. Das entsprechende Bild des Kindes ist das des „Co-constructor of Knowledge, Identity and Culture“ (DAHLBERG/MOSS/PENCE 1999, S.50). Dieser Begriff wurde von GUNILLA DAHLBERG, PETER MOSS und ALAN PENCE in die internationale frühpädagogische Diskussion eingebracht und basiert auf folgender sozialkonstruktivistischer Grundthese: „Learning is a cooperative and communicative activity, in which children construct knowledge, make meaning of the world, together with adults and, equally important, other children: that is why we emphasize that the young child as learner is an active co-constructor“ (ebd.). Im Unterschied zum Selbstbildungsansatz vertritt der frühpädagogische Sozialkonstruktivismus somit in erster Line die Sozialität des kindlichen Bildungsprozesses, wobei die Eigenaktivität des Kindes vorausgesetzt wird (vgl. KONRAD 2009, S.12). EVA REICHERT-GARSCHHAMMER vom Münchener Staatsinstitut für Frühpädagogik sieht in diesem Bildungsansatz das Potenzial, den Gegensatz der Lernkulturen im Kindergarten und in der Grundschule – hier ‚Selbstbildung‘ dort ‚Wissensvermittlung‘ – zu überwinden, der in Zeiten der didaktischen und organisatorischen Verzahnung der beiden Institutionen von Erziehung und Bildung nicht mehr tragfähig sei (REICHERT-GARSCHHAMMER 2009, S.154). Vielmehr gehe es darum, Bildung als gemeinsame und wechselseitige Bewegung des 204
Lehrens und Lernens neu zu konzeptualisieren, um die traditionale Trennung zwischen ‚Selbstbildung als Eigentätigkeit des Kindes’ und ‚Erziehung als Aufforderung zur Bildung‘ zu überwinden. Nicht nur die Kinder, auch die Erwachsenen begreifen sich als Lernende: „Ko-Konstruktion bedeutet Lernen durch Zusammenarbeit und erfordert die Bildung lernender Gemeinschaften von Kindern und Erwachsenen, die sich durch gemeinsames Lernen stetig weiterentwickeln. Das gemeinsame Erforschen von Bedeutungen ist wichtiger als der Erwerb von Fakten“ (ebd., S.163). Für die Qualität dieses Interaktionsprozesses kommt den Erwachsenen eine besondere Moderatorenrolle und Steuerungsfunktion zu. Als wichtigste Moderationstechniken und -methoden werden ‚Kindern zuhören‘, ‚Kindern Fragen stellen‘ sowie ‚Lernprozesse visualisieren und dokumentieren‘ genannt, um diese gemeinsam zu reflektieren und weiterzuentwickeln (ebd.). Für hier anschließende Fragen einer darauf aufbauenden frühkindlichen Didaktik ist es entscheidend, dass die soziale Interaktion entwicklungs- und kompetenzfördernd gestaltet wird. Im Unterschied zur eigenaktiven, aber gleichsam solitär erscheinenden kindlichen Exploration, Entdeckung und Aneignung der Welt im Selbstbildungsansatz argumentiert REICHERT-GARSCHHAMMER noch einmal für die in allen Aspekten soziale Konstitution des Bildungsprozesses, in der Kinder in der Kommunikation mit ihren erwachsenen Bezugspersonen und anderen Kindern ihre Wirklichkeit hervorbringen: „Vor allem die soziale Interaktion bewirkt eine stärkere Förderung der Kinder in ihrer geistigen, sprachlichen und sozialen Entwicklung. In Lerngemeinschaften mit Erwachsenen und anderen Kindern lernt das Kind, gemeinsam Probleme zu lösen, die Bedeutung von Dingen und Prozessen gemeinsam zu erforschen und miteinander zu diskutieren und zu verhandeln“ (ebd., S.154). Im Unterschied zum kindzentrierten Fokus der konstruktivistischen Bildungstheorien lässt der sozialkonstruktivistische Bezugsrahmen den Gedanken einer systematischen Förderung der Kinder sowie die Angabe konkreter Bildungsziele in Form zu erwerbender Kompetenzen eher zu (vgl. BECKER-STOLL 2008, S. 116). 3.3 Postmodernismus als philosophische Bezugstheorie für frühe Bildung Das sozialkonstruktivistische Verständnis von Bildung als Ko-Konstruktion im kompetenzorientierten Ansatz wird auf der Ebene des gesellschaftlichen und kulturellen Kontextes des Bildungsprozesses mit postmodernen Theorieperspektiven auf das Leben und Aufwachsen von Kindern in der modernisierten Gesellschaft verbunden (vgl. z.B. GISBERT 2003; FTHENAKIS 2003). Als leitbildgebend für den internationalen frühpädagogischen Diskurs im Allgemeinen und den deutschen kompetenzorientierten Ansatz im Besonderen sieht FRANZ-MICHAEL 205
KONRAD das von DAHLBERG, MOSS und PENCE bereits im Jahre 1999 verfasste Buch „Beyond Quality in Early Childhood Education and Care: Postmodern Perspectives“ (vgl. DAHLBERG/MOSS/PENCE 1999, KONRAD 2009, S.9). Die Zusammenführung sozialkonstruktivistischer und postmoderner Theorieansätze ist in erster Linie daran zu erkennen, dass die Autoren das oben beschriebene Kindheitskonzept des ‚Co-constructor of Knowledge, Identity and Culture‘ als postmodernes Kindheitsbild ausweisen. Zunächst ist zu konstatieren, dass ‚Postmoderne‘ und ‚Postmodernisierung‘ uneinheitliche Begriffe mit unterschiedlicher Verwendung sind. In Abhängigkeit vom jeweiligen Theoriekontext, in dem diese Begriffe fallen, wird unter Postmoderne ein Zustand der Moderne, eine Gesellschaftsform nach der Moderne oder eine Theorie der Moderne verstanden. Postmoderne-Reflexionen richten ihren Fokus vor allem auf die kulturellen und personalen Folgen des Strukturwandels der Moderne, der durch beschleunigte Prozesse der Individualisierung, Pluralisierung, Differenzierung und Enttraditionalisierung gekennzeichnet ist. Auf der Ebene kulturphilosophischer Reflexionen artikuliert sich im Begriff Postmoderne das Empfinden, dass die in der Aufklärung wurzelnde Vision von Gesellschaft ihr Ende erreicht hat. Die schwedische Frühpädagogin DAHLBERG bezeichnet diese Vision im Anschluss an Jürgen HABERMAS als das ‚Projekt der Moderne‘ und charakterisiert dies durch die Zielvorstellung „kontinuierlicher und linearer Fortschritt, Gewissheit und Universalität, die Entdeckung von ‚nachweisbaren’ Wahrheiten durch die Anwendung von ‚objektiven‘ wissenschaftlichen Methoden“ (DAHLBERG 2004, S.13; vgl. auch DAHLBERG/MOSS/PENCE 1999, S.19ff.). DAHLBERG und DAHLBERG, MOSS und PENCE beziehen sich auf die postmodernen Denker FRANÇOIS LYOTARD und MICHEL FOUCAULT (vgl. DAHLBERG 2004; DAHLBERG/MOSS/PENCE 1999). Generell schließen Postmodernisten an Varianten moderner Selbstkritik von so unterschiedlichen Theoretikern wie FRIEDRICH NIETZSCHE, SIGMUND FREUD, JACQUES LACAN oder THEODOR W. ADORNO an, radikalisieren diese Kritik aber insofern, als sie zentrale Begriffe und Reflexionskategorien wie Individuum, Subjekt, Objektivität und Utopie, an denen Modernisten noch festhielten, nicht mehr akzeptieren. So konstatiert z.B. LYOTARD: „Die Postmoderne ist keine neue Epoche, sondern das Redigieren einiger Charakterzüge, die die Moderne für sich in Anspruch genommen hat, vor allem aber ihre Anmaßung, die ganze Menschheit durch die Wissenschaft und die Technik zu emanzipieren. Doch dieses Redigieren ist, wie gesagt, schon seit langem in der Moderne selbst am Werk“ (LYOTARD 1989, S.68). In seiner Kritik an den Einheitsperspektiven der modernen Erfahrungswissenschaft weist LYOTARD die Paradigmen der Moderne, er nennt explizit die Dialektik des Geistes, die Hermeneutik des Sinns und die Emanzipation des Subjekts, als ‚große Erzählungen‘ zurück. In seinem Hauptwerk ‚Das postmoderne Wissen‘ ver206
deutlicht er, dass Pluralität im Zuge wissenschaftlicher Ausdifferenzierung zum Grundprinzip von Wissenschaft wurde. Angesichts der Pluralisierung von Wissensformen kann es für LYOTARD keine Metadiskurse mehr geben, die den Sinn einzelner Wissensbestände bestimmen und diese untereinander zu universellen Bedeutungseinheiten verbinden, sondern nur gleichberechtigt nebeneinander bestehende Wissens- und Sinnsysteme, die jeweils entsprechend ihren Eigenregeln und Ansprüchen in ihren Differenzen wahrgenommen werden müssen (LYOTARD 1986; in Bezug auf Pluralismus in der Erziehungswissenschaft vgl. UHLE/HOFFMANN 1994). Wie WOLFGANG WELSCH im Anschluss an LYOTARD erläutert, kennzeichnen „Pluralität und Dissens [...] – in heutiger naturwissenschaftlicher ebenso wie geisteswissenschaftlicher Sicht – die Grundstruktur von Wirklichkeit. Diese ist nicht homogen, sondern heterogen, nicht harmonisch, sondern dramatisch, nicht einheitlich, sondern divers verfasst“ (WELSCH 1988, S.33). Heterogenität und Differenz werden im postmodernen Wissen begrüßt: „Die Postmoderne bejaht den Übergang in die Pluralität und bewertet ihn positiv, sie erprobt den Gedanken, dass Vielheit vielleicht eine Glücksgestalt sein könnte. Dieser Wechsel von Einheitssehnsucht zum Vielheitsplädoyer ist die einschneidendste der Veränderungen im Übergang von Moderne zu Postmoderne.“ (WELSCH 1987, S.26). Auf dieses postmoderne Wissenschafts- und Wirklichkeitsverständnis, das Ungewissheit, Komplexität, Diversität, Multiperspektivität und Relativität betont, beziehen sich DAHLBERG/MOSS/PENCE (1999) und im Anschluss FTHENAKIS (2003) und GISBERT (2003). Dieser Gedankengang erweist sich als außerordentlich kompatibel mit dem sozialkonstruktivistischen Verständnis von Bildung als Ko-Konstruktion, denn in der gemeinsamen Akzentuierung der kulturellen Relativität von Wissen und Wirklichkeit zeigt sich eine grundsätzliche Affinität zwischen sozialkonstruktivistischem und postmodernem Denken. Denn die im Sozialkonstruktivismus vertretene These, dass Wirklichkeit als soziales Konstrukt in Interaktionen herausgebildet wird, entspricht der postmodernen Vorstellung von der Pluralität, Vielfältigkeit sowie räumlicher und zeitlicher Gebundenheit des Wissens in Gesellschaften im Zeitalter der Modernisierung und des Reflexivwerdens der Moderne, weshalb GISBERT auch vom „postmodernen Konstruktivismus“ spricht (GISBERT 2003, S.89). In der frühpädagogischen Rezeption erfüllen Postmoderne-Reflexionen eine Doppelfunktion als wissenschaftstheoretische und zeitdiagnostische Legitimation für eine frühe systematische Bildung von Kindern im vorschulischen Alter. Aus wissenschaftstheoretischer Perspektive dient das postmoderne Wissenschaftsverständnis vor allem als Bezugsgröße für die Kritik an der klassischen wie auch an der neueren experimentellen Entwicklungspsychologie, die Daten, Theorien, Modelle und Stufenkonzepte liefern, auf die sich dann eine ‚kindzentrierte‘ Früh207
pädagogik auszurichten habe. In ihrer Argumentation beziehen sich DAHLBERG/ MOSS/PENCE auf die Machtanalysen FOUCAULTs, um zu zeigen, dass mit Bezug auf naturalistische, dekontextualisierte und z.T. normativ gewandte Theorien aus der Entwicklungspsychologie und Pädagogik ein schematisiertes Bild vom Kind gezeichnet werde. Macht, so die Grundannahme, werde hier insofern ausgeübt, als Individualität keine Berücksichtigung finde, indem die ‚wirklichen‘ Kinder in ihren vielfältigen Lebenskontexten unter abstrakte und an statistischen Mittelwerten orientierte entwicklungslogische Gesetzmäßigkeiten subsumiert werden. Dieses schematisierte Bild (‚abstract map‘), das sich vor allem in Stadien- und Stufentheorien der kindlichen Entwicklung widerspiegele, entspreche gleichzeitig dem Bild des „armen Kindes“, das in adultomorpher Terminologie als defizitär und von den Erwachsenen isoliert beschrieben werde (DAHLBERG/ MOSS/PENCE 1999, S.35ff.). In verkürzter und einseitiger Rezeption nennt GISBERT als Beispiele das „unschuldige Kind bei J.J. Rousseau“, „das Kind ohne sozialen und kulturellen Kontext bei J. Piaget“ und auch das „sich selbst bildende Kind von Laewen und Schäfer“ (GISBERT 2003, S.88). Unter erstaunlicher Ausblendung des neuen Verständnisses vom Kind als Akteur seiner Entwicklung, das gerade auch durch die moderne Entwicklungspsychologie mitkonstituiert wurde (vgl. Abschnitt 2), entwickeln DAHLBERG/ MOSS/PENCE in Anlehnung an den Reggio-Pädagogen MAGALUZZI das postmoderne Verständnis des ‚reichen Kindes‘, das in eine Vielfalt von Beziehungen in verschiedenen Kontexten eingebunden ist. „Our image of children no longer considers them as isolated and egocentric, does not see them only engaged in action with objects, does not emphasize only the cognitive aspects, does not belittle feelings or what is not logical and does not consider with ambiguity the role of the affective domain. Instead our image of the child is rich in potential, strong, powerful, competent and, most of all, connected to adults and other children“ (MALAGUZZI 1993; zit. nach DAHLBERG/MOSS/PENCE 1999, S.48). Eine solche Konstruktion reicher und kompetenter Kinder ist für DAHLBERG/ MOSS/PENCE eine produktive Basis für pädagogisches Handeln: „The rich child produces other riches. If you have a rich child in front of you, you become a rich pedagogue and you have rich parents, but if you have a poor child, you become a poor pedagogue and you have poor parents” (ebd., S.50). Die offensichtliche Differenz des Denkens, Fühlens und Handelns von Kindern und Erwachsenen wird in diesem Ansatz nicht ausgeklammert, sondern neu gedeutet. Anders als bei PIAGET wird sie nicht auf strukturell unterschiedliche Stadien der kognitiven Entwicklung zurückgeführt, sondern auf die Differenz des Erfahrungsschatzes zwischen Kindern und Erwachsenen. Mit der Dekonstruktion der strukturellen Differenz zwischen dem Weltbild des Kindes und der Weltsicht des Erwachsenen sowie durch das Bild des reichen, in vielfältigen Beziehungen einge208
bundenen Kindes wird ein Legitimationshorizont eröffnet, mit dem es möglich ist, eine Pädagogisierung der frühen Kindheit im Sinne einer Vorverlagerung systematischen Lernens in den Elementarbereich zu begründen (vgl. die Analyse von KONRAD 2009, S.12). Aus zeitdiagnostischer Sicht findet der Topos ‚Postmoderne‘ Verwendung, um frühkindliche Bildungsprozesse auf unsere Gegenwartsgesellschaft mit ihren spezifischen Herausforderungen und Anforderungsstrukturen auszurichten. Der Akzent wird somit auf den Zukunftsbezug des frühkindlichen Lernens gesetzt und nicht so sehr auf dessen anthropologischen Sinn, der dagegen im Selbstbildungsansatz im Zentrum des pädagogischen Denkens steht. Der Übergang von der Moderne zur Postmoderne zeigt sich für FTHENAKIS in einem beschleunigten Transformationsprozess, der die Lebenswelten aller Lebensalter, gesellschaftlicher Schichten und Milieus betrifft. Neue Anforderungen an die Individuen zeigen sich in diesem Prozess u.a. im Umgang mit kultureller Diversität, sozialer Komplexität, Diskontinuität, Verlusterfahrungen und schnellen Veränderungen. In dieser Welt, in der sich das Leben aus soziokulturell prädeterminierten Bahnen mehr und mehr herauslöst, ist das Individuum in besonderer Weise auf sich selbst zurückverwiesen. Es muss sein Leben ‚in die eigenen Hände‘ nehmen. FTHENAKIS zufolge sollen Kinder bereits im Elementarbereich Kompetenzen erwerben, die sie auf die veränderten gesellschaftlichen Anforderungsstrukturen vorbereiten. Mit Bezug auf internationale Curricula nennt er als wichtige Bereiche des frühkindlichen Kompetenzerwerbs u.a. ‚interkulturelle Kompetenz‘, ‚Fremdsprachenkompetenz‘; ‚geschlechtsspezifische Kompetenz‘ (FTHENAKIS 2003). GISBERT betont im Hinblick auf die vermehrte Wissensproduktion, die Flexibilitätserwartungen im Erwerbsleben und den gesellschaftlichen Imperativ zu lebenslangem Lernen die besondere Bedeutung des Erwerbs lernmethodischer Kompetenz (vgl. GISBERT 2004). Zu den gegenwartsdiagnostisch begründeten Anforderungen an das frühkindliche Lernen gehört auch der Erwerb von Resilienz und Transitionskompetenz, um Unsicherheiten, Umbrüchen und Diskontinuitäten schon früh Stand halten zu können. 3.4 Bildung als zielgerichteter Prozess des Kompetenzerwerbs Im Vorigen wurde bereits erkennbar, dass der kompetenzorientierte Ansatz klarere Vorstellungen über Bildungsziele entwickelt als der Selbstbildungsansatz. Während GISBERT als Vertreterin des kompetenzorientierten Ansatzes fordert, auch im Kindergarten „Lernziele klar zu definieren und Erfahrungsbereiche einzugrenzen, die einer Evaluation unterzogen werden können“ (GISBERT 2003, S.84), akzentuiert der Selbstbildungsansatz die ‚Offenheit‘, ‚Dynamik‘ und ‚He209
terogenität‘ von Bildungsprozessen so stark, dass jeglicher Versuch einer ‚Verplanung‘ der Kindheit als illegitim erscheinen muss. Auf Basis sozialkonstruktivistischer und postmoderner Theoriebezüge wird das Verständnis von Bildung als Selbstbildung zugunsten einer Perspektive auf die Ko-Konstruktivität des Lernens abgelehnt, die nicht Erziehung und Bildung voneinander trennt, sondern die Erziehenden mit in die Bildungsdefinition integriert und ihnen somit auch größere pädagogische Interventions- und Gestaltungsmöglichkeiten zuspricht. Für den frühpädagogischen Diskurs bisher ungewohnt, sollen hier die im Prozess der Ko-Konstruktion zu erreichenden Bildungsziele als Kompetenzen ausgedrückt und curricular ausgewiesen werden: „Ein kompetenzorientierter Bildungsansatz, dem ein weites, ganzheitliches Verständnis von Allgemeinbildung zugrunde liegt, ... stellt die Entwicklung von Basiskompetenzen und Werthaltungen in den Mittelpunkt und verknüpft diese mit dem Erwerb von Basiswissen“ (REICHERT-GARSCHHAMMER 2009, S.155). Damit wird das in der gegenwärtigen Schulpädagogik vertretene Verständnis von Bildung als Kompetenzerwerb auf den frühpädagogischen Bereich übertragen. Die Verknüpfung von Sozialkonstruktivismus und Postmoderne mit Konzepten und Modellen von Kompetenz ist allerdings theoretisch fragwürdig: Das postmoderne Verständnis von Bildung als interaktivem, ko-konstruktivem und je nach beteiligten Personen verschiedenartigem Prozess erscheint als nicht hinreichend geeignet, um auf Seiten der Frühpädagogik in die Debatte des Planens und Evaluierens von Bildungsgängen einzusteigen, weil diese nicht vom Paradigma der Ko-Konstruktion, sondern der Instruktion ausgeht (vgl. KONRAD 2009, S.14; SCHÄFER 2007, S.49f.). Unter Ausklammerung dieses Problems schließt der kompetenzorientierte Ansatz an neuere Modelle und Instrumente der Bildungssystementwicklung an, die bisher vor allem im schulischen Bereich implementiert wurden. Sie sind gekennzeichnet durch die Verknüpfung von Kompetenzorientierung und Standardisierung in der Entwicklung der Bildungsqualität und können als Reaktion auf unbefriedigende TIMSS- und PISA-Ergebnisse und bildungspolitische Impulse der OECD betrachtet werden. Zentral in diesem Zusammenhang ist der Grundsatzbeschluss der Kultusministerkonferenz aus dem Jahre 2002, „für ausgewählte Schnittstellen der allgemeinbildenden Schularten Bildungsstandards zu erarbeiten, diese als verbindliche Vorgaben für die schulische Arbeit in den Ländern einzuführen und ihr Einhalten von den Ländern überprüfen zu lassen“ (MANNSFELD 2004, S.297). Mit diesem Reformprogramm soll trotz der Kulturhoheit der Länder die bundesweite Einheitlichkeit und Vergleichbarkeit der schulischen Bildungsqualität gestärkt und gesichert werden. Die Bildungsstandards dienen der Klärung und Präzisierung der verbindlichen Ziele schulischen Lernens und liegen seit dem Schuljahr 2005/2006 für die Kernfächer der meisten Schulformen vor. Sie definieren, welche fachbezogenen Kompetenzen 210
Schülerinnen und Schüler bis zum Ende bestimmter Jahrgangsstufen erworben haben sollen, und werden auf der Ebene der Länder durch Kerncurricula bzw. Bildungspläne konkretisiert (vgl. DRIESCHNER 2009). Dieses Programm zur Entwicklung der Bildungsqualität wird bereits ansatzweise auf den Elementarbereich übertragen, auch wenn die Diskussion hier noch nicht so weitreichend geklärt und systematisiert ist wie in der Schulpädagogik. Die bildungspolitische Vorgabe ist der „Gemeinsame Rahmen der Länder für die frühe Bildung in Kindertageseinrichtungen“, der im Jahre 2004 von der Jugendund der Kultusministerkonferenz gemeinsam beschlossen wurde. Mit diesem Dokument verpflichten sich die Länder, elementarpädagogische Bildungs- und Erziehungspläne oder auch bildungsstufenübergreifende Pläne für Kinder bis zum 10. Lebensjahr zu erarbeiten, um anschlussfähiges Lernen zwischen Kindergarten und Grundschule zu ermöglichen. Die inzwischen vorliegenden Pläne erfüllen – wie auch die schulischen Bildungsstandards und Kerncurricula – eine Doppelfunktion als pädagogische Orientierungshilfe und bildungspolitisches Steuerungsinstrument (vgl. NAGEL 2009, S.13). Auch wenn die elementarpädagogischen Bildungspläne offener gehalten sind und zwischen den Ländern stärker differieren, ist auch hier die politische Absicht zentral, die bisher weitestgehende „Deregulierung des Bildungs- und Erziehungsauftrages“ zu überwinden, wobei allerdings keine Standardisierung im engeren Sinne, sondern eine verbindliche Orientierung der pädagogischen Arbeit intendiert ist, die vor Ort Raum für methodische Vielfalt, Adaptivität und Kreativität lässt (FTHENAKIS 2004b, S.4). DETLEF DISKOWSKI sieht die zentrale Innovation der Bildungspläne insgesamt im eingeleiteten Abschied von der Unverbindlichkeit, der in der Tendenz auf eine formale Homogenisierung der Bildungsarbeit im System der Kindertageseinrichtungen zulaufen soll (vgl. DISKOWSKI 2008). Die in den Ländern erarbeiteten Bildungspläne unterscheiden sich jedoch im Grad ihrer curricularen Verbindlichkeit; je nach dem, ob sie auf dem Selbstbildungsansatz oder dem kompetenzorientierten Ansatz beruhen. Während die dem Selbstbildungsansatz verpflichtete nordrheinwestfälische Bildungsvereinbarung ein Beispiel für ein offenes Curriculum ist, das konsequent von der Selbsttätigkeit und dem Forschergeist des Kindes ausgeht, beschreibt der kompetenzorientierte Bayerische Bildungs- und Erziehungsplan verbindliche Lernwege und zu erreichende Lernziele. Die Tatsache, dass mit dem kompetenzorientierten Paradigma eine partielle Vorverlagerung des curricular strukturierten, systematischen Lernens in den Elementarbereich erfolgt, wird u.a. an der gemeinsamen Zielsetzung des Bayerischen Bildungs- und Erziehungsplans für den Elementarbereich und der schulischen Bildungsstandards sichtbar. Beide stellen die Stärkung der Basiskompetenzen als Leitziel heraus. Während die Bildungsstandards aufgrund der 211
Fächerorientierung schulischen Lernens fachspezifische Basiskompetenzen wie Lese- und Schreibkompetenz, mathematische und naturwissenschaftliche Kompetenz fokussieren, versteht der Bayerische Bildungsplan Basiskompetenzen angesichts der Alltags- und Projektorientierung elementarpädagogischen Lernens umfassender als „grundlegende Fertigkeiten und Persönlichkeitsmerkmale, die das Kind befähigen, mit anderen Kindern und Erwachsenen zu kommunizieren und zu kooperieren und sich mit seiner dinglichen Umwelt auseinanderzusetzen. Zu stärken sind jene Basiskompetenzen, die sich auf die individuelle Autonomie und die soziale Mitverantwortung beziehen sowie auf das Lernen lernen und den Umgang mit Veränderungen und Belastungen (Resilienz)“ (REICHERT-GARSCHHAMMER 2009, S.156). Trotz des Unterschieds in der Weite des Kompetenzbegriffs ist das Leitbild beider Dokumente ein auf die ‚PISA-Studie’ und den angloamerikanischen ‚Literacy-Diskurs‘ zurückführbares funktional-pragmatisches Bildungsverständnis, das die gesellschaftliche Bedeutung, Anwendbarkeit und Anschlussfähigkeit der vorschulisch oder schulisch erworbenen Kompetenzen in den Fokus stellt. Das Gliederungsprinzip besteht in beiden Fällen im Ausweis von Kompetenzbereichen. Der Bayerische Bildungsplan unterscheidet hier individuumsbezogene, soziale und lernmethodische Bereiche, denen dann jeweils einzelne Kompetenzen zugeordnet sind. Darüber hinaus spielen u.a. Resilienz, Transitionskompetenz sowie interkulturelle, religiöse, sprachliche, mathematische, naturwissenschaftliche, ästhetische, musikalische und mediale Kompetenz eine signifikante Rolle. 3.5 Anschlussfähige vorschulische und schulische Bildungsprozesse durch Vorverlagerung systematischen und zielorientierten Lernens in den Elementarbereich Eine gängige Kritik an der Kindergartenpädagogik im Allgemeinen und am Selbstbildungsansatz im Besonderen betrifft das Kinderspiel. Die untrennbare Verknüpfung von Spielen und Lernen in kindlichen Bildungsprozessen wird auch zwar auch von Kritikern grundsätzlich anerkannt, dennoch wird den Selbstbildungspotenzialen des Kinderspiels nicht hinreichend vertraut (vgl. ELSCHENBROICH 2007). In diesem Sinne ist auch das Statement der derzeitigen Bundesministerin für Bildung und Forschung ANNETTE SCHAVAN zu verstehen, das die Intention zur Vorverlagerung zielexpliziten und systematischen Lernens in den Elementarbereich formuliert: „Lange Zeit herrschte die Auffassung vor, Bildung‘ beginne in der Schule, der Kindergarten sei zum Spielen da. Das hat sich geändert. Heute verstehen wir den Kindergarten als Lernort, alle Bundesländer haben entsprechende Bildungspläne erlassen“ (SCHAVAN 2007, S.35). In 212
diesem Zusammenhang war im Vorigen vom Bayerischen Bildungs- und Erziehungsplan die Rede, der analog zu schulischen Bildungsstandards Kompetenzbereiche bzw. Kompetenzen ausweist, die die Kinder erwerben sollen. Der Erwerb lernmethodischer Kompetenz ist ein prototypisches Beispiel für eine politisch erwünschte und formulierte Verschulungstendenz, die vom kompetenzorientierten Ansatz ausgeht. Mit Blick auf die Zukunftsbedeutung des Lernens steht für FTHENAKIS fest, dass „nicht nur Wissenserwerb gefragt sei, sondern darüber hinaus Lernkompetenz und andere Metakompetenzen, auf die das Bildungssystem die Kinder bislang nur unzureichend vorbereitet habe“ (FTHENAKIS 2004b, S.2). „Ziel ist es, dem Kind die Kompetenz zu vermitteln, Wissen zu organisieren, es zur Lösung komplexer Problemsituationen einzusetzen und seine Erkenntnisse auch sozial zu verantworten“ (ebd., S.5). Kinder sollen ein reflexives Bewusstsein ihres eigenen Lernens erwerben, indem die pädagogische Interaktion so gestaltet wird, dass Kindern (eigene) Lernprozesse bewusst werden und elementare Lerntechniken eingeübt werden können. So ist es das Anliegen von GISBERT, lernmethodische Kompetenz in der Elementarpädagogik ausgehend von einem metakognitiven Ansatz zu vermitteln. „Dieser zielt darauf ab, das Bewusstsein der Kinder für ihre Lernprozesse durch soziale Lernarrangements zu fördern und ihnen auf diese Weise zum einen die zu vermittelnden Inhalte effektiv nahe zu bringen und zum anderen ihre Fähigkeit zu lernen zu erhöhen (GISBERT 2003, S.79; 2004). GISBERT überträgt damit ein Lernmodell, das bisher vor allem für ältere Schülerinnen und Schüler sowie für Erwachsene entwickelt wurde, auf den elementarpädagogischen Bereich. Als Legitimationshintergrund dieser Übertragung fungiert das so genannte Bild des ‚reichen Kindes‘ der ‚Postmoderne‘, das durch die Dekonstruktion der strukturellen Differenz zwischen der Weltaneignung und dem Weltbild von Kindern und Erwachsenen gekennzeichnet ist (vgl. Abschnitt 3, Abs. 3). In der modernen Anthropologie des Kindes werden dagegen entwicklungspsychologisch die anschauende und sinnesbezogene Erkenntnis und didaktisch gerade die Ausklammerung des Erwerbs von Metakompetenzen vertreten. Deutlich wird, dass hinter der postmodernen Abwendung von der modernen Anthropologie des Kindes das Kalkül steht, den Erwerb basaler und gesellschaftlich funktionaler Kompetenzen so früh wie möglich beginnen zu lassen. In diesem Prozess wird das moderierte und strukturierte Lernen (systematische Lernen) aus dem Primarbereich in den Elementarbereich vorverlagert und tritt hier neben das selbstinitiierte, zufällige und implizite Lernen der Kinder durch Spiel und Erkundung.
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Schlussbemerkung
Beide hier vorgestellten Bildungsprogramme gehen von der gleichen Grundfrage aus: Wie lässt sich angesichts der frühen genetisch privilegierten Lern-, Handlungs- und Interaktionskompetenz von Kindern frühkindliche Bildung theoretisch verstehen und praktisch fördern? Gemeinsam ist dem Selbstbildungsund dem kompetenzorientierten Ansatz, das Kind als aktiven Gestalter seines Bildungsprozesses in den Mittelpunkt zu stellen. Konsens besteht ebenfalls in der Wahrnehmung des Kindes als einzigartige Persönlichkeit, die das Bedürfnis hat, sich als geborgen und kompetent zu erleben. Unterschiede zwischen den Ansätzen zeigen sich dagegen in ihrer theoretischen Grundlegung. Einem konstruktivistisch und bindungstheoretisch fundierten Selbstbildungsbegriff steht ein sozialkonstruktivistisches Verständnis von Bildung als Ko-Konstruktion gegenüber. Die Trennung zwischen Bildung als ‚Selbstbildung‘ und Erziehung als ‚Anregung der Selbsttätigkeit‘ wird im kompetenzorientierten Ansatz in einem Verständnis von Bildung als sozialer Interaktion aufgehoben. Die von der Selbsttätigkeit des Kindes ausgehende Perspektive des Selbstbildungsansatzes findet ihr Gegenstück in der Kontextualisierung des frühkindlichen Bildungsprozesses in der pluralen, komplexen und diskontinuierlichen Struktur der postmodernen Gesellschaft. Dem entspricht der Gegensatz zwischen dem Bild des Kindes als eigenständiger Akteur seiner Entwicklung und dem postmodernen Verständnis des Kindes als Ko-Konstrukteur, der sein Wissen und seine Wirklichkeit erst in der Interaktion mit anderen hervorbringt. Der zentrale bildungstheoretische Unterschied, der aus diesen heterogenen Bezugstheorien hervorgeht, betrifft die Frage der Bildungsziele. Aus der Perspektive des Selbstbildungsansatzes werden Strukturmerkmale, Tätigkeitsformen und Ziele der frühkindlichen Bildung historisch und kulturell dekontextualisiert aus dem anthropologisch gefassten Sinn frühkindlichen Lernens und den Bedürfnissen von Kindern abgeleitet. Der kompetenzorientierte Ansatz fokussiert dagegen primär den Zukunftsbezug des frühen Lernens und leitet aus den vermuteten Anforderungsstrukturen der zukünftigen Gesellschaft Basiskompetenzen ab, die eine Grundlage für das lebenslange Lernen bilden sollen. Am Unterschied zwischen Bindung als anthropologischem Bedürfnis und Resilienz als Kompetenz kann diese Differenz noch einmal sichtbar gemacht werden: Der Selbstbildungsansatz hebt die Sicherheits-, Bindungs- und Geborgenheitsbedürfnisse von Kindern als bio-psycho-soziale Voraussetzung von Bildung hervor, der kompetenzorientierte Ansatz akzentuiert indessen die Bedeutung von Resilienz als Basiskompetenz für den Umgang mit Unsicherheit und Diskontinuität in der pluralisierten Gesellschaft. Um ein weiteres Beispiel zu nennen: Das Spiel gilt im Selbstbildungsansatz als Ausdrucksform des kind214
lichen Lebens in seiner Gegenwart, in der Logik des kompetenzorientierten Ansatzes kann es hingegen zum gezielten Erwerb zukünftig als notwendig erachteter Kompetenzen funktionalisiert werden. Die kontroverse Frage über das angemessene Verständnis und die Förderung frühkindlicher Bildung wurde meines Wissens noch nicht außerhalb der Grenzen der Elementarpädagogik thematisiert und von Vertretern der Allgemeinen Pädagogik aufgegriffen. Dies ist erstaunlich, denn die Frage nach dem Gegenwarts- und dem Zukunftsbezug des Lernens, die die Vertreter des Selbstbildungs- und des kompetenzorientierten Ansatzes trennt, ist eine Grundfrage allgemeinpädagogischer Reflexion, der bereits FRIEDRICH DANIEL ERNST SCHLEIERMACHER und in der Folge die Vertreter des Geisteswissenschaftlichen Pädagogik nachgingen. In seinen Vorlesungen über Pädagogik stellt SCHLEIERMACHER die erziehungsethische Grundfrage, ob die Gegenwart des Kindes für dessen Zukunft aufgeopfert werden darf. Da der Zukunftsbezug konstitutiv für Erziehung ist, kommt SCHLEIERMACHER zu folgender dialektischer Vermittlung: „Die Lebenstätigkeit, die ihre Beziehung auf die Zukunft hat, muß zugleich auch ihre Befriedigung in der Gegenwart haben; so muß auch jeder pädagogische Moment, der als solcher seine Beziehung auf die Zukunft hat, zugleich auch Befriedigung sein für den Menschen, wie er gerade ist“ (SCHLEIERMACHER 1826 [1957], S.48). In der Geisteswissenschaftlichen Pädagogik wurde diese Frage mit derjenigen nach dem Status der Pädagogik als autonome Wissenschaft verknüpft. Pädagogik erlangt demnach Autonomie, indem sie gegenüber anderen Kulturbereichen, die ihre Interessen auf Heranwachsende richten, die entwicklungsbedingten Eigenrechte der Heranwachsenden vertritt und sich zu deren Anwalt macht. Dabei ist die nicht hintergehbare Ambivalenz zwischen dem individuellen und dem gesellschaftlichen Aspekt von Erziehung zu beachten. HERMAN NOHL prägte in diesem Zusammenhang den Ausdruck der Grundantinomie des pädagogischen Lebens, d.h. der Spannung zwischen der Orientierung am Recht des Kindes auf Selbstbildung und der gesellschaftlichen Funktion von Erziehung. Den Prüfstein aller gesellschaftlichen Anforderungen an den Erwerb funktionaler Kompetenzen durch Heranwachsende bilden die entwicklungsbedingten Eigenrechte der Kinder (NOHL 1978). Dieser Antinomie folgend stellt ANDREAS FLITNER folgenden Anspruch an die dialektische Vermittlung zwischen der Gegenwart des Kindes und der Vorbereitung auf seine Zukunft in der Gesellschaft als Erwachsener: „Da sich die gesellschaftlichen Verhältnisse und mit ihnen die Lebensbedingungen der Kinder wie der Erziehenden weiter rapide verändern, ist immer wieder ‚Reform‘ gefordert: Antwort auf die Modernisierungsprozesse, nicht nur als Zustimmung oder Widerspruch, sondern als Suche nach neuen Möglichkeiten der Erziehungsarbeit, Suche nach einer Sphäre,
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die den Kindern bekömmlich ist und die ihnen den Weg in die komplexe Welt der Erwachsenen erleichtert“ (FLITNER 2001, S.265). In Sinne einer reflexion engagée könnte die Allgemeine Pädagogik in der frühpädagogischen Bildungsdebatte die Aufmerksamkeit für diese nicht zu vergessende Antinomie schärfen. Sie könnte somit Versuche einer Vermittlung zwischen Selbstbildung und dem Erwerb funktionaler Kompetenzen erarbeiten. Als Ansatzpunkt für allgemeinpädagogische Beiträge zu dieser Debatte soll abschließend die Frage nach dem Sinn des Spiels vorschlagen werden. Das Besondere des Spiels besteht darin, dass es per se sowohl den Gegenwarts- als auch den Zukunftsaspekt umfasst: Es „erfüllt die Gegenwart des Kindes bei sich und in der Welt, bereitet aber gleichzeitig – ungewollt und unbewusst – Zukunft vor, indem es – unter anderem – der Einübung von körperlichen und geistigen Funktionen dient“ (LIEGLE 2006, S.97). Wenn eine erfüllte Gegenwart zugleich die beste Voraussetzung für eine glückliche Zukunft ist, dann kann eine Vermittlung zwischen Bildung als Selbstbildung und Kompetenzerwerb z.B. durch den Rückbezug auf den FRÖBELschen Gedanken der Spielpflege angestrebt werden. Diese ist durch die gelenkte Anregung der Selbsttätigkeit des Kindes gekennzeichnet und kann somit zwischen der Spontaneität und Eigeninitiativität sowie der Planung und der sozialen Konstruktivität von Bildungsprozessen vermitteln. Literaturverzeichnis AHNERT, LIESELOTTE (2007): Von der Mutter-Kind- zur Erzieherinnen-Kind-Bindung? In: BECKERSTOLL, FABIENNE/TEXTOR, MARTIN (Hrsg.): Die Erzieherin-Kind-Beziehung. Zentrum von Bildung und Erziehung. Berlin [u.a.]: Cornelsen Scriptor, S.31-41 AMELN, FALKO VON (2004): Konstruktivismus. Tübingen [u.a.]: Francke BECKER-STOLL, FABIENNE (2008): Welche Bildung brauchen Kinder? In: THOLE, WERNER et al. (Hrsg.): Bildung und Kindheit. Pädagogik der Frühen Kindheit in Wissenschaft und Lehre. Opladen [u.a.]: Budrich, S.115-124 BECKER-STOLL, FABIENNE/TEXTOR, MARTIN (Hrsg.) (2007): Die Erzieherin-Kind-Beziehung. Zentrum von Bildung und Erziehung. Berlin [u.a.]: Cornelsen Scriptor BENNER, DIETRICH (2001): Allgemeine Pädagogik. Eine systematisch-problemgeschichtliche Einführung in die Grundstruktur pädagogischen Denkens und Handelns. 4. Aufl. Weinheim [u.a.]: Juventa BERGER, PETER L./LUCKMANN, THOMAS (1969): Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie. Frankfurt/Main: Fischer BOS, WILFRIED et al. (Hrsg.) (2007): IGLU 2006. Lesekompetenzen von Grundschulkindern in Deutschland im internationalen Vergleich. Münster: Waxmann DAHLBERG, GUNILLA (2004): Kinder und Pädagogen als Co-Konstrukteure von Wissen und Kultur. Frühpädagogik in postmoderner Perspektive. In: FTHENAKIS, WASSILOS E./OBERHUEMER, PAMELA (Hrsg.): Frühpädagogik international. Bildungsqualität im Blickpunkt. VS Verlag für Sozialwissenschaften, S.13-30
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Lernen in Konzeptionen der Allgemeinen Didaktik. Eine kritische Analyse Hanna Kiper
1
Einleitung
Lehrerinnen und Lehrer erwerben im Kontext von Studium und Referendariat Wissen über didaktische Konzeptionen, die ihnen beim Beobachten von Unterricht und bei seiner Planung, Durchführung und Reflexion Hilfen geben sollen. In jüngster Zeit wird der eigentlich selbstverständliche Anspruch neu formuliert, dass Unterricht lernwirksam sein soll. Der Fokus der Aufmerksamkeit wird auf die Frage gerichtet, ob Lernen durch den Unterricht induziert wird. Von daher stellt sich die Aufgabe, sich zunächst mit dem Lernen auseinanderzusetzen, um dann nach seiner Konzeptionalisierung in verschiedenen didaktischen Modellen zu fragen. 2
Lernen
In verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen findet eine Auseinandersetzung mit Lernen statt. In den Biowissenschaften wird der Fokus der Aufmerksamkeit auf die Prozesse im Gehirn gerichtet; man versucht, Lernen auf ein materiales Substrat im Gehirn zurückzuführen. Die Auffassung vom Lernen in der Psychologie lässt sich grob unterscheiden in einen behavioristischen, kognitivistischen und konstruktivistischen Diskurs. Im Behaviorismus wird das Lernen im Kontext von Reiz-Reaktions-Ketten beschrieben. Im Kognitivismus wird Lernen als Informationsverarbeitungsprozess, im Konstruktivismus als eigentätiges Konstruieren von Wissensstrukturen verstanden. CHRISTINE SCHWARZER und PETRA BUCHWALD stellen die grundlegenden Annahmen zu Lerntheorien zusammen, die von mir, als erste Skizze, hier übernommen werden:
Tabelle 1: Grundlegende Annahmen zu Lerntheorien (vgl. SCHWARZER/BUCHWALD 2007, S.219) Wissen ist Paradigma Lernsetting Lehrer ist Lehrstrategie
Lernziel
Behaviorismus Input-OutputRelation Reiz-Reaktion Darbietung Vermittler Verstärken, löschen
Kognitivismus Interner Verarbeitungsprozess Problemlösung Dialog Anleiter Instruieren, vorstrukturieren, vormachen
Erinnern, wiedererkennen
Problem lösen, verstehen
Konstruktivismus selbstaktiv konstruiert Konstruktion Interaktion Moderator, Trainer Kooperieren; Wissen als Rohmaterial vorbereiten Reflektierend handeln; ausdenken
Die Frage nach dem Lernbegriff in der Pädagogik verweist auf eine umfangreiche und z.T. nicht genügend aufgearbeitete und kritisch reflektierte Tradition. Der Fokus richtet sich auf die Inhalte des Lernens, auf die Frage, wie sich die Lernenden als Subjekte durch das Lernen verändern oder verändert werden und wie sie in ein verändertes Verhältnis zur Welt treten (Bildung), den Zeitraum und Raum des Lernens, seine Modalitäten und seine Modi (vgl. GÖHLICH/ WULF/ZIRFAS 2007, S.7). Während in der Psychologie Lernen als Veränderung des Verhaltens verstanden wird, richtet sich das Interesse der Pädagogen auf die Veränderung von Wahrnehmung-, Denk- und Handlungsstrukturen, auf Bewusstseinsstrukturen, Intentionalitäten und Erkenntnisse (vgl. ebd., S.13). Nach dieser Perspektive sind derzeit folgende Varianten des Lernens in der pädagogischen Diskussion: Tabelle 2: Pädagogische Vorstellungen vom Lernen (vgl. GÖHLICH/WULF/ZIRFAß 2007) Bereich des Lernens
222
Aspekte des Lernens Theorie Kontemplation Verifikation
Teilgebiete des Lernens in den Bereichen
Orte des Lernens
Lernprozesse
Schule
Kognitive Prozesse, Reflexive Prozesse, Lernen aus Erfahrungen, Aufnehmen,
KönnenLernen LebenLernen
LernenLernen
Praxis Poeisis Mimesis Techné Biographisches Lernen soziales Lernen kulturelles Lernen
Werkstätten Sportstätten Labore Ateliers Überlebensbefähigung Lebensbefähigung Lebensbewältigung Biographisches Lernen Lebenskunst
Verknüpfen, Behalten, Analysieren Synthetisieren Versuchen Üben Handeln Experimentieren
Erfahrung Erinnerung Reflexion
MICHAEL GÖHLICH, CHRISTOPH WULF und JÖRG ZIRFAß zeichnen das sich verändernde Verständnis vom Lernen im Kontext der Geschichte pädagogischen Denkens nach. Ihre Überlegungen verweisen darauf, dass die Pädagogik einen eigenen, weit gefassten Lernbegriff hat. Als Problem zeigt sich jedoch, dass – mit Blick auf die Texte der Klassiker der Pädagogik und ihre Rezeption – z.T. ein Verständnis von Lernen transportiert wird, das – mit Blick auf die heutigen Erkenntnisse aus Psychologie und Pädagogik – unhaltbar erscheint. Gleichwohl werden sie im Kontext der Vermittlung pädagogischer Gedanken und ihrer Rezeption angeeignet, ohne sie kritisch zu hinterfragen (vgl. AEBLI 1963). Von SOKRATES inspiriert ist die Idee des Lernens als Erinnerung (DQDPQHVLV) und des Lernens als Aufklärungsprozess des eigenen Wissens. Von HUGO VON ST. VIKTOR beeinflusst stellt sich Lernen als Lesen dar, wobei es auf die richtige Reihenfolge der Lektüre und die Differenzierung der Textsorten ankommt. Von COMENIUS mit beeinflusst ist ein sensualistisch-spiritualistisch inspiriertes Lernmodell. Lernen als Gewöhnung findet sich bei JOHN LOCKE. Lernen, ermöglicht durch die Gestalten einer Umgebung, die dann ein Lernen nach eigenen Wünschen ermöglicht, geht auf JEAN JACQUES ROUSSEAU zurück. In der Reformpädagogik findet sich die Konzeption eines Lernens aus Erfahrung etwa bei JOHN DEWEY. Bei MARIA MONTESSORI erscheint Lernen als etwas Äußeres, 223
das einem inneren Bauplan nur nachfolgt; in einer solchen Auffassung zeigt sich das Extrem einer Perspektive, die nur mehr bildungs- und nicht mehr lerntheoretisch ausgerichtet ist. Angesichts dieser vielfältigen Vorstellungen von Lernen stellt sich die Aufgabe, hier – im Sinne eines Verständnisses von Pädagogik als Zwischenhandel – Klärungsprozesse vorzunehmen (vgl. GIESECKE 2000, S.222). Welcher Lernbegriff ist für Lehrerinnen und Lehrer sinnvoll? In jüngster Zeit hat, aus der Perspektive der analytischen Philosophie, ROBERT KREITZ eine Theorie pädagogischen Handelns vorgelegt. Hier entfaltet er auch einen tragfähigen Lernbegriff, dem ich mich anschließe. Lernen bezeichnet keinen – nicht zu beobachtenden – Prozess, der irgendwo ‚in uns‘ stattfindet, sondern „eine relationale Eigenschaft (…), über die wir verfügen, nachdem wir bestimmte Erfahrungen gemacht haben und durch sie in die Lage versetzt wurden, bestimmte Dinge zu tun. Lernen bezeichnet zudem das, was wir dafür tun, um solche Eigenschaften zu erwerben“ (KREITZ 2008, S.12). Von daher müssen Lehrkräfte durch pädagogisches Handeln – Lehren – darauf hin wirken, dass Rezipienten Lernhandlungen vollziehen. Lernen richtet sich dabei auf den Erwerb von Kenntnissen, Wissen und Können (vgl. ebd., S.16f.). Pädagogische Handlungen setzen gezielt „an den Lernhandlungen verhindernden Faktoren an, um die Adressaten zum Lernen zu befähigen. Typischerweise sind dies Aktivitäten des Zeigens, des Vorführens oder Erklärens, die mit nach nachvollziehbaren Handlungen des Adressaten verknüpft sind“ (ebd., S.17). Schülerinnen und Schüler werden durch Lehrkräfte in die Lage versetzt, etwas zu lernen, indem sie etwas dafür tun. Lernen ist insofern durchaus beobachtbar. „Wenn man Lernen als Handeln versteht, dann interessiert weniger die Modellierung innerer Prozesse (seien sie nun psychischer oder neuronaler Art), sondern das, was man dafür tun kann, dass man etwas lernt. Zunächst heißt dies festzustellen, dass man etwas nicht weiß, kennt oder kann (Diagnose). Im zweiten Schritt geht es darum, sich mit den Dingen zu beschäftigen, durch die man etwas lernt, also Erfahrungen mit ihnen zu machen, ihre Eigenschaften festzustellen und sie anhand dieser Eigenschaften einzuordnen bzw. mit ihnen auf verschiedene Weise umzugehen und dabei zugleich zu beobachten, was man tut und was dabei geschieht (Elaboration). In einem dritten Schritt geht es darum, das auf diese Weise erworbene Verständnis, die Dinge als Dinge bestimmter Art anzusehen und mit ihnen auf bestimmte Weise umgehen zu könne, auch anzuwenden (Applikation). Diese dritte Phase ist deshalb notwendig, weil das einmal Erarbeitete in uns nicht stabil in Form von Informationen gespeichert wird, sondern bei Nichtgebrauch wieder verloren geht“ (ebd., S.262).
Lernfähigkeit ist daher Resultat pädagogischen Handelns. Die Lehrperson muss daran interessiert sein, Schülerinnen und Schülern zu zeigen, wie sie die zum Lernen erforderlichen Lernhandlungen durchführen können (vgl. ebd., S.261). „Eine pädagogische Akteurin ermöglicht dem Adressaten ihres Tuns, eine der Lernhandlungen durchzuführen, durch die er lernen kann, was er lernen möchte, indem sie durch ihr Tun den imperienden Faktor außer Kraft setzt, der den 224
Adressaten daran hindert, eben dieser Lernhandlung durchzuführen. Der Adressat macht dadurch eine Erfahrung, die er verwenden kann, um Lernhandlungen dieser Art auch ohne Unterstützung durch eine pädagogische Akteurin zu vollziehen“ (ebd., S.262). KREITZ nennt als widerständigen Faktoren gegen das Ausführen von Lernhandlungen sachliche Gegebenheiten, äußere Umstände oder konkurrierende Wünsche, das Fehlen von praktischem Wissen, das Nichtverfügen über handlungssteuernde Muster, körperliche Beeinträchtigungen und Faktoren, die die Handlungskontrolle untergraben (vgl. ebd., S.263). Er lehnt einen Lernbegriff ab, der sich auf Prozesse im Gehirn bezieht; dieser sei zur Fundierung von Lehr- und Lernprozessen und für pädagogisches Handeln ungeeignet. 3
Didaktische Modelle
Im Begriff des didaktischen Modells wird sowohl ein Bezug zum Unterricht und seinen Faktoren als auch zur Unterrichtsplanung der Lehrperson hergestellt. FRIEDRICH W. KRON hat die Vielzahl der didaktischen Modelle nach den ihnen zugrunde liegenden Leitbegriffen ‚Bildung‘, ‚Interaktion‘ und ‚Lernen‘ unterschieden. Im Folgenden soll geprüft werden, welche jeweiligen Vorstellungen vom Lernen den didaktischen Modellen eingeschrieben sind. Es geht also weniger um die Frage, welche beiläufigen Lernprozesse (z.B. durch Lernen am Modell) durch Unterricht organisiert werden (obwohl das für die Gestaltung von Unterricht und Schule als förderlichen Sozialisationsmilieus bedeutsam ist), sondern darum, welche Lernhandlungen zur Aneignung von Wissen und zum Aufbau von Können im Rahmen verschiedener didaktischer Modelle in den Blick genommen werden. Ich möchte im Folgenden kurz je ein didaktisches Modell vorstellen, das auf je einem der genannten Leitbegriffe (Bildung, Interaktion, Lernen) basiert. Auf dieser Basis frage ich nach der Vorstellung von Lernen in der Bildungstheoretischen Didaktik, der Kommunikativen Didaktik und der Lerntheoretischen Didaktik. Anschließend setze ich mich mit neueren Ansätzen auseinander, die vorgeben, dem Lernen verpflichtet zu sein, und stelle die Vorstellung über Lernen in der Konstruktivistischen Didaktik und in der Neurodidaktik vor. Ich ende mit einer Auseinandersetzung mit Überlegungen in Konzeptionen einer Psychologischen Didaktik und gehe hier besonders auf FRANZ E. WEINERT und HANS AEBLI ein. Nach einem Verweis auf eigene Arbeiten, die den Versuch der Integration verschiedener Überlegungen darstellen, schließe ich mit einem Hinweis auf die didaktischen Herausforderungen der Gegenwart.
225
3.1 Bildungstheoretische Didaktik Der Begriff Bildung beruht auf umfassenden Überlegungen über das Verhältnis des Menschen zur Welt. „Das Zentrum des Bildungsbegriffs ist durch die Einzigartigkeit des Menschen bezeichnet. Der Mensch wird dabei in seiner bildenden Tätigkeit, d.h. in seiner Auseinandersetzung mit der ihn umgebenden kulturellen Wertwelt gesehen. Das Ziel dieser individuellen geistigen Tätigkeit liegt in der wertvollen Persönlichkeit“ (KRON 1994, S.119). Ein bildender Unterricht zielt darauf, Menschen durch die Begegnung mit wertvollen Kulturgütern in einen kulturellen Vermittlungsprozess zu stellen, in welchem sie sich zu wertvollen Persönlichkeiten heranbilden. Im Mittelpunkt des Bildungsprozesses steht Sinnverstehen, das sich nicht nur an den vorgegebenen Kulturgütern orientiert, sondern auch an deren Sinnstruktur, die auf ein höchstes Gut (z.B. Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, Gerechtigkeit, Demokratie) bezogen ist. Der Mensch soll zu einer besonderen und unverwechselbaren Persönlichkeit werden, die prinzipienorientiert denkt und handelt (vgl. ebd.). Die bildungstheoretische Didaktik von WOLFGANG KLAFKI (geb. 1927) zielt auf die bildungstheoretisch begründete Auswahl der Lernstoffe. Der Grundgedanke in KLAFKIs Schrift ‚Didaktische Analyse als Kern der Unterrichtsvorbereitung‘ (1958) besteht darin, das Heben des Bildungsgehaltes der Lehrgegenstände als relevanten Teil der Unterrichtsvorbereitung zu begreifen. KLAFKI knüpft an OTTO WILLMANNs ‚Didaktik als Bildungslehre‘ (1882) und GEORG KERSCHENSTEINERs ‚Theorie der Bildung‘ (1926) an. Gegenüber deren Objektivismus geht KLAFKI mit HERMAN NOHL und ERICH WENIGER davon aus, „dass eine doppelte Relativität für das Wesen der Bildungsinhalte bzw. ihrer Bildungsgehalte oder Bildungswerte geradezu konstitutiv ist: Was ein Bildungsinhalt sei oder worin sein Bildungsgehalt oder Bildungswert liege, das kann erstens nur im Blick auf bestimmte Kinder und Jugendliche gesagt werden, die gebildet werden sollen, und zweitens nur im Blick auf eine bestimmte, geschichtlich-geistige Situation, mit der ihr zugehörigen Vergangenheit und der vor ihr sich öffnenden Zukunft“ (KLAFKI 1969, S.11f.). Kernstück der Anleitung zur didaktischen Analyse sind fünf Fragen mit dazugehörenden Unterfragen: „I. Welchen größeren bzw. welchen allgemeinen Sinn- oder Sachzusammenhang vertritt und erschließt dieser Inhalt? Welches Urphänomen oder Grundprinzip, welches Gesetz, Kriterium, Problem, welche Methode, Technik oder Haltung lässt sich in der Auseinandersetzung mit ihm ‚exemplarisch‘ erfassen? (...) II. Welche Bedeutung hat der betreffende Inhalt bzw. die an diesem Thema zu gewinnende Erfahrung, Erkenntnis, Fähigkeit oder Fertigkeit bereits im geistigen Leben der Kinder meiner Klasse, welche Bedeutung sollte er – vom pädagogischen Gesichtspunkt aus gesehen – haben? (...) III. Worin liegt die Bedeutung des Themas für die Zukunft der Kinder?
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IV. Welches ist die Struktur des (durch die Fragen I und II und III in die spezifisch pädagogische Sicht gerückten) Inhaltes? (...) V. Welches sind die besonderen Fälle, Phänomene, Situationen, Versuche, in oder an denen die Struktur des jeweiligen Inhaltes den Kindern dieser Bildungsstufe, dieser Klasse interessant, frag-würdig, zugänglich, begreiflich, ‚anschaulich‘ werden kann? (...)“ (ebd., S.15ff.)
An die didaktische Analyse schließt sich die methodische Vorbereitung des Unterrichts an. Diese umfasst folgende Aspekte: 1. Die Gliederung des Unterrichts in Abschnitte oder Phasen oder Stufen 2. Die Wahl der Unterrichts-, Arbeits-, Spiel-, Übungs-, Wiederholungsformen 3. Der Einsatz von Hilfsmitteln (Lehr- und Lern- bzw. Arbeitsmitteln) 4. Die Sicherung der organisatorischen Voraussetzungen des Unterrichts (vgl. ebd., S.23) Betrachtet man die Akzentsetzung in der didaktischen Analyse, geht es KLAFKI um die begründete Auswahl der Bildungsinhalte und um die Rekonstruktion ihres geistigen Gehalts. In seinen Überlegungen kommt ein Nachdenken über das Lernen aus psychologischer Perspektive nicht vor. Es wird mit Blick auf die Struktur des Inhalts, mit Blick auf die Wahl der Lern- und Arbeitsmittel und mit Blick auf die Gliederung des Unterrichts in Abschnitte, Phasen oder Stufen indirekt mitgedacht, ohne dass aber Überlegungen zum Lernen explizit aufgenommen würden. Die Grenzen dieses Ansatzes werden von HEINRICH ROTH und AEBLI markiert. ROTH fragt in seinem Aufsatz ‚Die Kunst der rechten Vorbereitung‘ danach, was eine Lehrkraft zur Vorbereitung ihres Unterrichts leisten muss, und stellt heraus, dass sie nicht nur den Stoff beherrschen, sondern zu ihm in ein eigenständiges Verhältnis treten muss. Neben der Erfassung des sachlichen Gehalts müsse sie – durch pädagogische Besinnung – das eigentlich Bildsame des Gegenstandes erschließen (ROTH 1967, S.120f.). Über KLAFKIs Überlegungen hinausgehend aber fordert ROTH eine psychologische Besinnung auf der Grundlage der Schülerkenntnis; sie soll dabei helfen, positive Anknüpfungspunkte zwischen dem Lerner und dem Gegenstand zu finden; dabei sei die spezifische Verstehensfähigkeit einer Altersstufe zu berücksichtigen. ROTH erwartet, dass die Lehrkraft die Stationen auf dem Weg zum Ziel aufzufinden vermag. Das Untergliedern des Ziels in Teilziele sei abhängig von der Eigenart und Logik des Gegenstandes und der Eigenart und Logik jeder Behandlungsstufe im Verlauf des Unterrichts. Nach ROTH benötigt die Lehrperson Fachkenntnisse, sie muss nach der Bildsamkeit der Inhalte fragen und überlegen, wie der Inhalt verstanden und gelernt werden kann. Nach AEBLI müssen Lehrpersonen nicht nur darüber nachdenken müssen, „wie die Schüler einen Stoff ‚kennen‘, sondern auch wie sie ihn lernen“ (AEBLI 1963, S.15). Im Gegensatz zur herkömmlichen Didaktik muss die wissenschaftliche Didaktik „aus der psychologischen Kenntnis der Vor227
gänge geistiger Formung“ diejenigen methodischen Maßnahmen ableiten, welche für die Entwicklung der Lernprozesse am besten geeignet sind (vgl. ebd.). Die Bedeutung der bildungstheoretischen Didaktik liegt in der bildungstheoretischen Auswahl und Reflexion der Inhalte; sie gibt nur begrenzte Hinweise zu den Lernprozessen, die ermöglichen, diese Inhalte anzueignen. Die Bildungsgangdidaktik im Sine von MEINERT A. MEYER und UWE HERICKS, die von manchen als Fortsetzung der Anliegen KLAFKIs verstanden wird, basiert auf dem Kernanliegen einer Subjektivierung der Idee des Bildungsgangs. Während mit Blick auf verschiedene Schulformen Bildungsgänge unterschieden werden, die unter einer bildenden Perspektive Inhalte begründet auswählen, um dem Individuum zu ermöglichen, über den Weg eines Durchlaufens dieses Bildungsgangs das gesellschaftlich und individuell erforderliche Wissen und Können zu erwerben, wird auf der Basis schulkritischer Überlegungen eine Subjektivierung eingeleitet. Es erfolgt eine Abwendung vom objektiven Bildungsgang und eine Hinwendung zu den Lernenden, ihren Entwicklungsaufgaben und persönlichen Bildungsprozessen. Zwar taucht in den Überlegungen der Autoren der Begriff der Lernerbiographie und der Lernprozesse auf; sie werden jedoch nicht auf das Wissen und Können bezogen, das eine Generation an die nächste weitergeben will. Der Begriff der Bildungsgangdidaktik verdeckt, dass hier keine Bildungsgänge mehr antizipiert werden, sondern eher auf informelle Lernprozesse gesetzt wird. Diese Didaktik löst sich von der Aufgabe, Inhalte auszuwählen, zu begründen, zu strukturieren und Lernwege zum Aneignen dieser Inhalte anzugeben. Es wird darauf gesetzt, dass die Lernenden in ihren Biographien zum richtigen Zeitpunkt sich selbst die Sachverhalte erschließen. Die Aufgabe der Didaktiker wird auf die Rekonstruktion dieser Prozesse oder auf deren Begleitung beschränkt. Lehren und Lernen wird einseitig zugunsten der Lerner aufgelöst, wobei das, was gelernt werden muss, nicht markiert, angeleitet und überprüft wird. 3.2 Kommunikative Didaktik Der Begriff Interaktion bezeichnet die wechselseitige Bedingtheit sozialen Verhaltens, wobei Personen sich durch Kommunikation bzw. Verständigung gegenseitig beeinflussen. Ihr Verhalten wird als Ergebnis ihrer Interaktionen begriffen. Wird der Begriff Interaktion in didaktischen Modellen verwandt, so wird die grundsätzliche Einbindung des Menschen in soziale Beziehungen herausgestellt. Versteht man Unterricht als Interaktionsprozess, geht es um den sinnverstehenden „Austausch von kulturellen Bedeutungen“. Unterricht wird als gegenseitiger
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Verständigungsprozess begriffen, der entsprechend zu gestalten ist (KRON 1994, S.21). Die kommunikative Didaktik akzentuiert Interaktion und Kommunikation. In ihrer Schrift ‚Menschliche Kommunikation. Formen, Störungen, Paradoxien‘ von 1969 stellen PAUL WATZLAWICK, JANET B. BEAVIN und DON D. JACKSON dar, dass „Kommunikation“ nicht nur als Bezeichnung eines Wissensgebietes, sondern als Name für eine „noch nicht näher begrenzte Verhaltenseinheit“ gefasst werden muss (WATZLAWICK/BEAVIN/JACKSON 1990, S.50). Kommunikation geschieht nicht nur mit Worten, sondern ist an paralinguistische Phänomene (wie z.B. Tonfall, Schnelligkeit oder Langsamkeit der Sprache, Pausen, Lachen und Seufzen), Körperhaltungen, Ausdrucksbewegungen (Körpersprache) gebunden. KARL-HERMANN SCHÄFER und KLAUS SCHALLER beschreiben in ihrem Band ‚Kritische Erziehungswissenschaft und kommunikative Didaktik‘ Unterricht als ´“kommunikativ-soziale Realität“ (SCHÄFER/ SCHALLER 1971, S.125). Der Unterrichtsprozess wird als edukativ-kommunikativer Vollzug sozialer Handlungen verstanden, bei denen – über Kommunikationsprozesse – die Inhaltsdimension und die soziale Beziehungsdimension vermittelt werden. Da Unterricht keine ‚person-to-person‘-Kommunikation sei, müsse ein Gruppenmodell entwickelt werden. „Die Gruppenmitglieder erscheinen als Kommunikatoren bzw. als Kommunikanten, die über die Sprache als Kommunikationsmedium durch Informationsprozesse auf der Grundlage einer Gruppensituation spezifische Kommunikationswirkungen erzielen (...)“ (ebd., S.126). Die Didaktiker entwickeln die Kategorie der ‚Klassengruppe‘ und verstehen darunter die Tatsache, dass sich Lehrer und Schüler auf der Basis der Gleichheit um das gruppieren, was im Unterricht verhandelt wird. „Im Blick auf die Sachgerechtigkeit der zu verhandelnden Inhalte sind Lehrer und Schüler gleich, d.h. sie unterstehen gemeinsam den Regeln der zu bearbeitenden Aufgabenfelder“ (ebd., S.144). Sie arbeiten das Besondere an der unterrichtlichen Kommunikation heraus: „Von der inhaltlichen Seite her erweisen sich kommunikative Handlungen als Informationsprozesse, welche Sachverhalte und einzelne Sachzusammenhänge der Unterrichtsfächer in den kommunikativen Ver-Handlungsprozess der Klassengruppe einbringen. Die Fächer wiederum werden inhaltlich durch curriculare Entscheidungen konturiert und gefüllt … Die kommunikativen Handlungen aller Kommunikationsteilnehmer bauen eine Beziehungswirklichkeit von besonderer Art auf, die (...) ein komplementäres bzw. symmetrischer Interaktionsgefüge darstellt“ (SCHÄFER/SCHALLER 1971, S.129f., 153). In diesem didaktischen Ansatz kommt Lernen nur indirekt vor. Das Lehren wird auf ein Informieren verkürzt, das Lernen auf ein Aneignen von Informationen. Die kommunikative Didaktik macht darauf aufmerksam, dass im Unterricht interagiert und kommuniziert wird und dass die Qualität der Beziehungen zwischen den Schüler/innen untereinander und zwischen Lehrkräften 229
und Schülerinnen und Schülern für die Atmosphäre und vielleicht auch für Fragen der Angstfreiheit im Lernprozess bedeutsam ist. Jedoch gelingt es nicht, die Gestaltung der Interaktions- und Kommunikationsprozesse auf die Beförderung der Lernhandlungen durch die Schülerschaft rückzubeziehen. Ein Gefälle im Wissen und Können (und die darin eingeschriebene Verantwortung der älteren für die jüngere Generation im Kontext pädagogischer Interaktion) wird geleugnet; die Aufgabe der Lehrperson, Lernhandlungen der Schüler/innen auszulösen, negiert. Die Beziehungen werden als symmetrisch angelegte gedacht, Interaktions- und Kommunikationsbeiträge erscheinen als potenziell gleichberechtigt. Eine fachliche Auseinandersetzung mit der Sache, ihre fachliche Vorstrukturierung scheint ebenso überflüssig wie ein Nachdenken über Lernwege der Schüler/innen zur Förderung der Auseinandersetzung mit der Sache. Das Nachdenken über Unterricht als Interaktions- und Kommunikationsprozess führt zu einer Erweiterung verschiedener didaktischer Modelle, so z.B. zu den Überlegungen der Hamburger Didaktik nach WOLFGANG SCHULZ, zur kommunikativen Didaktik RAINER WINKELs sowie generell zu didaktischen Diskussionen von Störungen im Unterricht und derer Prävention bzw. Bearbeitung. In jüngster Zeit werden erneut Überlegungen zur Interaktion und Kommunikation im Unterricht mit Fragen der Möglichkeit einer Beförderung des Lernens verknüpft. Mit Blick auf die Aufgabe der Lehrpersonen wird auf die Bedeutung des gemeinsamen Herstellens (Ko-Produktion), des Abstimmens von Handlungen aufeinander (Koordination) und des Berücksichtigens der Wünsche und Bedürfnisse anderer (Kooperation) bedacht. Auch pädagogisches Handeln mit dem Ziel, Lernhandlungen beim Adressaten auszulösen, erfolgt im Rahmen pädagogischer Kooperationen. In Modellen zum kooperativen Lernen wird gezeigt, inwiefern Lernhandlungen der Schüler durch gegenseitiges Erklären, Abfragen, Feedback-Geben befördert werden und welche Bedingungen dafür gegeben sein müssen. Darüber hinaus wird gefragt, wie Interaktion und Kommunikation für beiläufige und gezielte soziale Lernprozesse im Rahmen der Schule (z.B. beim Erlernen von Klassengesprächen für fachliches Lernen, für das Klären von Konflikten oder für das Aushandeln von Interessen) genutzt werden können (vgl. KIPER/MISCHKE 2008). Das Fördern von Kompetenzen zur Selbststeuerung, zur Interaktion und Kommunikation wird mit dem Erarbeiten fachlicher Kompetenzen gezielt verknüpft. In diesen Programmen werden die dabei relevanten Lernprozesse genau durchdacht.
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3.3 Lerntheoretische Didaktik Die Berliner Didaktik, auch lerntheoretische Didaktik oder Strukturmodell der Didaktik genannt, wurde auf dem Hintergrund einer veränderten Organisation der Lehrerbildung an der damaligen Pädagogischen Hochschule Berlin 1962 erstmals publizistisch vorgestellt. In einem praktischen Halbjahr zwischen dem dritten und dem fünften Semester sollte durch Hospitationen, Unterrichtsanalysen und eigene Unterrichtsversuche eine Verbindung von Theorie und Praxis im Studium ermöglicht werden. Das entwickelte didaktische Modell hatte den Zweck, Unterrichtsanalysen und eigene praktische Unterrichtsversuche der Studierenden anzuleiten. Das Berliner Modell der Didaktik sollte darüber hinaus einen Beitrag zur Erkenntnis des Unterrichts leisten. Das Modell vom Unterricht sollte so angelegt sein, „daß es eine wertfreie theoretische Betrachtung von Unterricht auf kategorial-analytischer Grundlage ermöglicht“ (HEIMANN/OTTO/ SCHULZ 1968, S.9). Dabei wurde das Modell aus der Perspektive der Lehrkräfte konzipiert, die im Unterricht handeln müssen. Betrachtet man das Phänomen Unterricht, so tritt eine spezifische formale Struktur hervor, in der mindestens sechs Momente in ihrem Zusammenwirken Unterricht als absichtsvoll pädagogisches Geschehen konstituieren. „Die pädagogischen Intentionen (Absichten), die Themen des Unterricht (Inhalte, Gegenstände), mit denen die Absichten verfolgt werden, die Methoden (Verfahren), die zur Bewältigung von Intentionen und Themen dienen sollen, schließlich die Medien (Mittel) der Verständigung zwischen den am Unterricht Beteiligten über Absichten, Gegenstände und Verfahren sind Sinnstrukturmomente, über deren Auswahl der Unterrichtende (...) entscheiden müssen" (SCHULZ 1968, 23). Tabelle 3: Die Strukturmomente von Unterricht (vgl. SCHULZ 1968, S.23): Anthropogene Voraussetzungen
Intentionalität Thematik Methodik Medienwahl
Sozial-kulturelle Voraussetzungen
Die Strukturanalyse vermittelt ein Gesamtbild des gegebenen Unterrichts und hilft als Beschreibungsmodell dabei, Ordnung in Eindrücke zu bringen. In der Berliner Didaktik wird davon ausgegangen, dass die Intention des Unterrichts darauf gerichtet ist, Lernprozesse in der kognitiven, emotionalen oder pragmatischen Dimension anzuregen und zu steuern (vgl. SCHULZ 1968, 27).
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Tabelle 4: Die Zieldimensionen von Unterricht (vgl. SCHULZ 1968, S.27): Qualitätsstufe Anbahnung Entfaltung Gestaltung
Kognitive Dimension Kenntnis Erkenntnis Überzeugung
Pragmatische Dimension Fähigkeit Fertigkeit Gewohnheit
Emotionale Dimension Anmutung Erlebnis Gesinnung
Neben die theoretische Erfassung des Unterrichts durch die Beschreibung der elementaren Strukturen (Strukturanalyse) soll eine Faktorenanalyse treten. Hier geht es darum, die anthropogenen und sozial-kulturellen Voraussetzungen des Unterrichts zu erfassen. In diesem didaktischen Modell wird Lernen nicht nur als kognitives Lernen gefasst, sondern mit Blick auf weitere Dimensionen ausdifferenziert. Dabei werden, mit Blick auf die Qualität der Erkenntnis, der Handlungsfähigkeit und des emotionalen Erlebens resp. Verarbeitens, verschiedene Qualitätsstufen unterschieden. Die Erweiterungen der Berliner Didaktik zur Hamburger Didaktik geschahen ohne Weiterführung der Überlegungen zum Lernen und unter starker Akzentuierung der Interaktion und Kommunikation im Unterricht. 3.4 Konstruktivistische Didaktik In verschiedenen Überlegungen zu einer konstruktivistischen Didaktik wird, vor dem Hintergrund von Kritik an Wissenschaft, Bildungsvorstellungen und am Schulsystem, nur noch auf das Individuum gesetzt. Es soll befähigt werden, sich mit Wissens- und Bildungsstoffen seiner Wahl eigenständig auseinanderzusetzen und sich diese zu erschließen. Anknüpfend an reformpädagogische Überlegungen wird darauf abgehoben, dass Wirklichkeit erfunden wird (Konstruktion), dass sie entdeckt wird (Rekonstruktion) und dass sie, weil sie auch anders sein könnte, enttarnt wird (Dekonstruktion). Es wird daher auf Erfahren, Ausprobieren, Experimentieren, zirkuläres Fragen, Beobachten, Prüfen, Erkunden gesetzt (vgl. REICH 1996). EDMUND KÖSEL und HELIUS SCHERER begreifen den Wissenserwerb als aktiven, selbstgesteuerten, konstruktiven, situativen und sozialen Prozess und wenden ihre Aufmerksamkeit dem Lernenden, seiner Biographie, seinem jeweiligen Milieu zu (vgl. KÖSEL/SCHERER 1996, S.105). Sie interessiert, wie die Lernenden Lern-Gestalten in ihrer Lebensgeschichte entfalten und diese in konkreten Situationen inmitten einer organisierten LernUmwelt im Hier und Jetzt konstruieren (ebd., S.111). Sie untersuchen, in welchem Wertsystem, aus welchen Gewohnheiten und innerhalb welcher Postu232
lats-Hierarchien Handlungsimperative organisiert werden. Sie fragen nach den Skripts, den geheimen Lebensplänen der Kinder und deren Vortheorien. In KERSTEN REICHs Vorschlägen wird das anzueignende Wissen, die Sache, schließlich gar nicht mehr benannt. Es gibt auch keine Prüfprozesse, um festzustellen, ob ein angemessenes Verständnis von einem Sachverhalt aufgebaut wurde. Lernen, als individuelles Lernen verstanden, zeigt sich in Aktivitäten. Ob Wissen und Können angeeignet wird, wird nicht geprüft. Was gelernt wird, scheint weniger bedeutsam. Ethischen und normativen Fragen kommt in diesen Ansätzen kaum mehr Bedeutung mehr zu. Die von GABI REINMANN-ROTHMEIER und HEINZ MANDL formulierten Prinzipien sollen beim Organisieren des Lernens von Individuen oder kleinen Gruppen beachtet werden (vgl. REINMANNROTHMEIER/MANDL 2001). Wie die komplizierte Vermittlung zwischen der Auswahl eines Bildungsstoffes, seiner fachlichen Strukturierung und dem Weg zur Aneignung des Wissens aussehen könnte, wird nicht bedacht. 3.5 Neurodidaktik In den letzten Jahren gibt es vielfältige Versuche, die Aufmerksamkeit von den Lernhandlungen der Schülerinnen und Schüler sowie den pädagogischen Handlungen der Lehrkraft, die diese auslösen, stimulieren und unterstützen, auf Prozesse im Gehirn zu lenken. Darauf basierend sollen Vorschläge für das Lernen entwickelt werden. Den biologischen Grundlagen von Entwicklung, Lernen und Verhalten kommt Aufmerksamkeit zu. Während renommierte Forscher darauf aufmerksam machen, dass aus der bisherigen Gehirnforschung nur bedingt weiterreichende Erkenntnisse für das Lehren und Lernen gewonnen werden können (vgl. STERN 2004, SCHUMACHER 2006), versuchen andere, ihre Annahmen über Lehren und Lernen mit den Ergebnissen der Gehirnforschung in Verbindung zu bringen oder gar aus diesen abzuleiten. RALPH SCHUMACHER zeigt, dass, mit Blick auf das Lernen, eine physikalische, eine funktionale und eine intentionale Ebene zu unterscheiden sind. Welche Ebene gewählt wird, um etwas zu untersuchen, ist nur mit Blick auf die Erklärungsziele sinnvoll zu entscheiden (vgl. SCHUMACHER 2009, S.125). Er zeigt, dass es verschiedenstufige Zustände gibt, die zueinander in einer Relation stehen; bei Beschreibungen sind die jeweiligen Erklärungsebenen zu unterscheiden. Weitergehend weist er darauf hin, dass bei den Erklärungen „mit den Begriffen der jeweils höheren Erklärungsebene“ zu beginnen ist (ebd., S.126). Hat man angemessene psychologische Begriffe von bestimmten Phänomenen, kann nach den neuronalen Korrelaten gefragt werden; umgekehrt lassen sich kognitionswissenschaftliche oder pädagogische Konzepte nicht auf neurophysiologische Begriffe 233
reduzieren. „Da kognitive Prozesse stets durch entsprechende Vorgänge im menschlichen Gehirn realisiert werden, lassen sich im Rahmen neurophysiologischer Untersuchungen Erklärungen (…) entwickeln, die in kognitionswissenschaftlicher und pädagogischer Hinsicht relevant sind“ (ebd., S.127). Dazu zählt SCHUMACHER neurophysiologische Erklärungen für entwicklungsspezifische kognitive Defizite, für kognitive Leistungsstörungen und ihre verschiedenen Ursachen. SCHUMACHER zeigt, dass neurophysiologische Untersuchungen hilfreich sein können, weil mit ihnen Ursachen für Phänomene herausgefunden werden können, die auf der Verhaltensebene nicht beobachtbar sind und erkannt werden können. Mit Blick auf die Gestaltung des normalen Schulunterrichts können durch Gehirnforschung jedoch keine Hinweise gewonnen werden. SCHUMACHER verdeutlicht, dass der Schulunterricht, der Wissen in Bereichen vermitteln muss, in denen kein privilegiertes Lernen stattfindet, eher auf die Wissensvoraussetzungen und auf die Vermittlung einer gut organisierten Wissensbasis abheben muss (vgl. ebd., S.131). Für didaktische Überlegungen ist dabei die Unterscheidung von privilegiertem und nicht privilegiertem Lernen bedeutsam. „Privilegiertes Lernen liegt dann vor, wenn durch biologische Entwicklungsprogramme festgelegt ist, durch welche Umweltbedingungen bestimmte Lernprozesse ausgelöst werden, und auf welche Weise diese Lernprozesse anschließend ablaufen. Das Sprechen sowie viele motorische Fähigkeiten wie das aufrechte Gehen werden auf diese Weise erlernt. Beim nichtprivilegierten Lernen hingegen ist nicht biologisch festgelegt, welche Faktoren bestimmte Lernprozesse auslösen und wie diese Lernprozesse ablaufen. Das nicht-privilegierte Lernen betrifft alle Inhalte und Fähigkeiten, um deren Vermittlung es im Schulunterricht geht – wie zum Beispiel Lesen, Schreiben und Mathematik. Auf den Erwerb dieser Fähigkeiten hat die Evolution unser Gehirn nämlich nicht vorbereiten können (…)“ (ebd., S.130).
Mit Blick auf diese Unterscheidung geht es um das Erfassen der Voraussetzungen für erfolgreiches nicht-privilegiertes Lernen, z.B. um Wissensvoraussetzungen, um den Aufbau einer gut organisierten Wissensbasis. Von daher besteht zum gegenwärtigen Zeitpunkt die Aufgabe der Lehrkräfte im Nachdenken darüber, wie sie Lernhandlungen von Schüler/innen befördern können. Nur im Einzelfall können medizinische Untersuchungen über neuronale Prozesse dazu verhelfen, aus den möglichen und denkbaren Interventionen die jeweils passenden auszuwählen. Von daher kann zumindest zur Zeit keine Didaktik auf der Basis neurokognitiver Forschungen allein entwickelt werden.
234
3.6 Unterrichtstheoretische Überlegungen auf lernpsychologischer Grundlage EWALD TERHART, der schon früher in einem viel beachteten Aufsatz das Verhältnis von Allgemeiner Didaktik und Lehr-Lernforschung diskutiert (vgl. TERHART 2005), stellt in jüngster Zeit die Lehr-Lernforschung der Allgemeinen Didaktik gegenüber. Abhebend auf die Notwendigkeit, dass Didaktik immer Antworten auf die Frage nach der Begründung von Inhaltsauswahlen bieten muss, dass sie wertbezogene Fragen klären und Handlungsmöglichkeiten der Lehrkraft antizipierend entwerfen muss, sowie basierend auf einer Gegenüberstellung von Forschung und Handeln, Labor und Unterricht, betont er die Grenzen einer nur psychologisch basierten Didaktik (vgl. TERHART 2009). Dabei verkennt er die Tatsache, dass zumindest von einigen Autoren, zu denen ich ROTH, WEINERT und AEBLI zähle, bedeutsame Beiträge zu einer Theorie des Unterrichts und zum Lehren und Lernen im Kontext von Unterricht geleistet wurden. Während WEINERT ein komplexes Modell für den Unterricht entwarf, zeigte AEBLI, wie – aufsetzend auf einer fachlichen Strukturierung der Inhalte – über die je spezifischen Lernprozesse nachgedacht werden muss, um diese Inhalte angemessen zu lehren und zu lernen. 3.6.1 Überlegungen von Franz Emanuel Weinert Lernpsychologische Überlegungen wurden in den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts kritisch auf ihre Relevanz für das Lernen im Kontext von Unterricht in der Schule überprüft. Im Gegensatz zu Laborexperimenten zum individuellen Lernen, seinen Erfolgsbedingungen und Effekten, betont WEINERT (1930-2001), dass es in der Schule um langfristige, komplizierte, didaktische gesteuerte Lernvorgänge gehe (vgl. WEINERT 1974, S.660). Durch die Kenntnis der Gesetzmäßigkeiten des menschlichen Lernens sei nicht automatisch eine Kenntnis über die Bereitstellung und Optimierung von Lernbedingungen vorhanden. Eine Theorie des Unterrichts habe diejenigen Erfahrungen zu bestimmen, die im Individuum Voraussetzungen zum Lernen schaffe. Sie müsse festlegen, wie ein größerer Wissensbereich strukturiert werde, müsse die einzelnen Schritte definieren, in denen ein Wissensstoff am effektivsten gelernt wird, und Arten und Bedingungen der Bekräftigung des Lernens festlegen. Empirische Lehr-Lern-Forschung sei nicht automatisch unterrichtsrelevant. Die Komplexität des Unterrichts werde oftmals nicht hinreichend erfasst, dagegen würden Bedingungs- und Wirkungs-Zusammenhänge vorschnell vereinfacht (vgl. ebd., S.746). WEINERT betont, dass es notwendig sei, sich mit komplexeren Formen des Lernens (z.B. Begriffsbildung, Problemlösen) und mit dem Auf- und 235
Ausbau kognitiver Strukturen durch den Lernenden als aktivem Wesen, das Informationen aufnimmt, verarbeitet und anwendet, zu beschäftigen (vgl. ebd., S.661). WEINERT verweist auf das komplexe Wechselverhältnis zwischen Didaktik und Lernpsychologie. „Lehren stellt in gewisser Hinsicht immer einen Vermittlungsversuch zwischen der Struktur des zu lernenden Gegenstandes und der jeweiligen Struktur des Lernenden bzw. des Lernens dar“ (ebd., S.800). Lehren und Lernen unter institutionellen Bedingungen unterscheidet er von individuellem Lernen durch einen Einzellerner, das sich für bestimmte Inhalte interessiert und in diesem Interesse Unterstützung erfährt. Lehren und Lernen in einer Schulklasse, in der festgelegte Wissensbestände erworben werden sollen, ist demgegenüber völlig anders zu bedenken. Ein Wissensbereich ist fachlich zu strukturieren, ebenso sind, über diese fachliche Strukturierung hinaus, effektive Lernwege zur Aneignung dieses Wissens zu bedenken. Das fundierte psychologische Wissen über Lernen, z.B. als Lernen am Modell oder durch Verstärkung, ist für Lernen in der Schule furchtbar zu machen. WEINERT verweist auf anspruchsvolle Formen des Lernens wie Begriffsbildungsprozesse oder Problemlösen und legte ein Modell für die Planung von Unterricht mit dem Ziel der Verbesserung der Instruktion vor. In diesem versucht er, die relevanten Prozesse zur Überwindung der Soll-Ist-Differenz zu denken. Heutige Überlegungen für einen Unterricht, der sich dem Ziel des Kompetenzaufbaus verschreibt, können an diese Überlegungen anknüpfen (vgl. auch KIPER 2008). 3.6.2 Psychologische Didaktik von Hans Aebli AEBLI (1923-1990) führt in seiner Psychologischer Didaktik, im Jahr 1963 in deutscher Sprache erschien, eine differenzierte Auseinandersetzung mit didaktischen Traditionen vor. Er zeigt, dass vielfach Aussagen über den Unterricht auf unzureichenden Überlegungen über Lernen basieren. Er plädiert für einen Unterricht, der auf das Entwickeln des Denkens setzt, z.B. durch das Stellen von Aufgaben zum Anleiten der kindlichen Such- und Forschungsprozesse, für problemorientiertes Arbeiten, für das Gestalten von fortschreitenden Verinnerlichungsprozessen und für die „operatorische Übung“ (AEBLI 1963, S.110). Er denkt über basale Lernprozesse wie Begriffsbildung, Handeln, Operieren und Problemlösen nach und sucht nach einem Vorgehen im Unterricht, das auf die jeweils zu organisierenden Lernprozesse abgestimmt ist. Er fundiert seine didaktischen Überlegungen mit Blick auf die jeweiligen kognitiven Operationen, die erforderlich sind. AEBLI interessiert sich daher nicht nur dafür, wie Lehrkräfte Lernhandlungen bei ihren Schülern auslösen können. Er versucht, unter Analyse der fachlichen Struktur des Inhalts, das Wissensgebiet anzugeben, das Schülerin236
nen und Schüler kennen müssen, und sich Rechenschaft über die Art der Lernhandlungen zu geben, die jeweils geboten sind, damit Inhalte erschlossen werden können. Heutige Überlegungen zu den Operationen, die bei der Bearbeitung von Lernaufgaben bedeutsam sind, schließen daran an. AEBLI fragt nach der Lernhandlung, die jeweils notwendig ist, um sich Wissen anzueignen. Er präzisiert seine Überlegungen für den Erwerb von Wissen durch Begriffsbildungsprozesse, für den Aufbau von Handlungskompetenzen, für geistiges Handeln (Operieren) und für das Problemlösen. Er richtete mit seinen Überlegungen das Nachdenken darauf, dass Unterricht nicht nur mit Blick auf Oberflächenmerkmale zu planen, durchzuführen und zu analysieren ist. Er lenkt die Aufmerksamkeit demgegenüber auf die Denkoperationen, die durch die Schülerinnen und Schüler zu vollziehen sind. In ihrer Betonung liegt für ihn das Fundament für Erkenntnisse über die Notwendigkeit, nicht nur darüber nachzudenken, was sich an der Oberfläche des Unterrichts, auf der Sichtstruktur abspielt, sondern vielmehr die Tiefenstruktur des Unterrichts in den Blick zu nehmen. Diese Überlegungen werden von FRITZ OSER und FRANZ BAERISWYL weiterführt. „Distinctions should be made especially between (a) creating conditions for concrete activities of students, which we call the visible or sight structure of lesson, and (b) creating conditions for inner, non-visible constructive activities, namely, the learning process itself or the mental operations that refer to the deep structure of learning (basic-model). (…) A choreography of teaching, therefore, is composed of the planning and processing of teaching (sight structure) and of the planning und processing of the learning process (basis-model) in the classroom”. (OSER/BAERISWYL 2001, S.1032).
Nach OSER und BAERISWYL geht es darum, das Nachdenken über die geplanten und aufeinander folgenden Schritte beim Unterrichten mit einem Nachdenken über die jeweiligen Lernprozesse der Schülerinnen und Schüler, die induziert werden sollen, zu verbinden. Als Basismodelle des Lernens nennen sie u.a. erfahrungsbezogenes und entdeckendes Lernen, problemlösendes Lernen, Begriffsund Konzeptbildung, Lernen von Strategien, soziales Lernen und Werteerziehung. An diesen Überlegungen knüpfen HANNA KIPER und WOLFGANG MISCHKE mit ihrer Integrativen Didaktik an (vgl. KIPER/MISCHKE 2004, 2006, 2009). Sie stellen heraus, dass es neben der bildungstheoretischen gegründeten Auswahl der Bildungsinhalte und derer fachlichen Strukturierung, neben einer Angabe der aufzubauenden Kompetenzen zentral darum geht, Lernwege zum Aufbau dieser Kompetenzen zu antizipieren und diese durch geeignete Lernarrangements zu befördern. Notwendig dafür ist eine Lernstrukturanalyse, die mit Blick auf die fachlichen Inhalte und mit Blick auf die Eigenschaften der Schüler/innen passende Lernwege konzipiert. Für eine Präzision des Lehrens und Lernens hilft der Bezug auf Basismodelle des Lernens, deren Durchdenken dazu führt, Unterricht angemessener zu planen, durchzuführen und auszuwerten. Die 237
erforderliche Kompetenz der Lehrkräfte besteht darin, auf der Basis einer fachlichen Strukturierung der Inhalte Aufgaben zu bedenken, die ein Inhaltsgebiet abdecken, und dabei die Lernprozesse anzustoßen, die für die Aneignung dieser fachlichen Inhalte bedeutsam sind, und dabei relevante Basismodelle des Lernens zum Tragen zu bringen. 4
Ein neues Nachdenken über Lernen
Die Formulierung von Bildungsstandards durch die KMK sowie die Erarbeitung von Kerncurricula oder Kernlehrplänen in den einzelnen Bundesländern hat eine neue Diskussion um die Orientierung des Unterrichts begründet. Es wird darauf gesetzt, dass eine solide Wissensbasis durch schulischen Unterricht zu vermitteln ist. Über die Schuljahre hinweg soll ein Wissensaufbau stattfinden. Dabei wird verdeutlicht, dass Kompetenzen in verschiedenen Anforderungsbereichen (Reproduktion des Wissens, Interpretieren, Anwenden und Beurteilen/Bewerten) erforderlich sind. In diesem Zusammenhang wird nach der Lernwirksamkeit des Unterrichts gefragt. Darüber hinaus wird nicht nur darauf gesetzt, dass Ziele für den Unterricht formuliert, sondern dass überprüft wird, ob diese Ziele auch erreicht werden. Der Überprüfung der Wirksamkeit der Bildungsgänge durch vergleichende Schulleistungsstudien und evtl. auch durch Abschlussprüfungen am Ende des jeweiligen Bildungsgangs sowie der Überprüfung der Wirksamkeit von Lehr-Lernprozessen in der Schule (Vergleichsarbeiten) kommt daher zunehmend Bedeutung zu (vgl. MAIER 2009). In diesem Kontext werden vorliegende Modelle über Unterricht auf ihre Angemessenheit kritisch überprüft. In den Modellen zur Angebotsnutzung von HELMUT FEND und ANDREAS HELMKE wird verdeutlicht, von welchen Faktoren Schulleistungen abhängig sind (vgl. FEND 1998, HELMKE 2003). Andere Modelle von Unterricht, die mit Blick auf das Lehrerhandeln entwickelt wurden, werden daraufhin befragt, ob sie die Komplexität jener Unterrichtsfaktoren abbilden, die im Unterricht zu bedenken sind. Die Benennung von Merkmalen für lernwirksamen Unterricht reicht nicht aus. Eine Unterrichtstheorie muss ein angemessenes Modell über Unterricht geben und relevante Faktoren des Unterrichts benennen. Mit Blick auf die geforderte Planungs- und Handlungskompetenz der Lehrkräfte, um Unterricht zu beobachten, zu planen, durchzuführen, zu analysieren und zu evaluieren, werden theoretisch vollständige Modelle gefordert. Dieses gilt auch, um erfolgreich die Bedingungen für das Unterrichten herzustellen (Klassenmanagement) und jene Lernhandlungen der Schülerinnen und Schüler zu initiieren, die für den Erwerb von Wissen und Können erforderlich sind. 238
Ein Unterricht, der dazu beitragen will, die gewünschten Kompetenzen der Lernenden aufzubauen, muss also Lehrkräfte befähigen, Kompetenzmodelle zu entwerfen oder vorliegende zu durchdenken. Lehrerinnen und Lehrer müssen überlegen können, durch welche Sorte von Aufgaben erfasst werden kann, ob diese Kompetenzen nach dem Unterricht vorhanden sind, sowie sodann dazu diagnostisch relevante (Prüf-)Aufgaben entwerfen. Sie müssen mit Blick auf das Ziel des Unterrichts Lernprozesse antizipieren, also Wege zum Aufbau dieser Kompetenzen durchdenken. Dazu ist der Lernweg in denkbare Teilschritte zu untergliedern und festzulegen. Nur so können Lehrkräfte sehen, ob die Schüler tatsächlich erfolgreiche Lernhandlungen durchführen, welche zum gewünschten Ergebnis führen. Dieses gelingt durch die Konstruktion geeigneter Lernaufgaben und das Durchdenken der Operationen, die anhand dieser Lernaufgaben vollzogen werden sollen. Die geplanten Lernhandlungen sind durch geeignete Lernarrangements zu initiieren. In diesem Prozess spielen Lernaufgaben eine besondere Rolle, die auf der Grundlage einer psychologischen Aufgabenanalyse zu konstruieren sind. Die Lehrkraft muss also ein Verständnis über die zu organisierenden Lernprozesse haben und die erforderlichen Lehrprozesse auf diese abstimmen (vgl. KIPER/ MISCHKE 2006, 2009). Unterricht zu planen, durchzuführen und – mit Blick auf das Erreichen der gesetzten Ziele – zu evaluieren ist eine komplizierte Angelegenheit. Lehrer haben dabei die Aufgabe, die relevanten Lernhandlungen der Schülerinnen und Schüler zu initiieren. Dabei reicht es nicht aus, Schülerinnen und Schüler zu aktivieren sowie als Indikator für erfolgreiches Lernen den Grad der Aktivierung zu wählen (Schüler malen, basteln, kleben, diskutieren, tragen vor). Ob erfolgreich gelernt wurde, kann nur durch diagnostisch relevante Prüfaufgaben festgestellt werden, die darauf verweisen, ob eine (vorher nicht vorhandene) Kompetenz aufgebaut wurde. Mit Blick auf den Lehr- und Lernprozess sind Lernmaterialien und Lernaufgaben bereitzustellen, die es ermöglichen, die notwendigen Lernprozesse auszulösen. Je nach erforderlichem Basismodell des Lernens sind auf dieser Basis Denkoperationen durch Lernaufgaben auszulösen. Literaturverzeichnis AEBLI, HANS (1963): Psychologische Didaktik. Stuttgart: Klett AEBLI, HANS (1967): Grundformen des Lehrens. 4. Aufl. Stuttgart: Klett AEBLI, HANS (1997): Grundlagen des Lehrens. Eine allgemeine Didaktik auf psychologischer Grundlage. 4. Aufl. Stuttgart: Klett-Cotta AEBLI, HANS (2001): Zwölf Grundformen des Lehrens. Eine allgemeine Didaktik auf psychologischer Grundlage. Medien und Inhalte, didaktische Kommunikation, der Lernzyklus. 11. Aufl. Stuttgart: Klett-Cotta
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Öffentlichkeit, Schulbildung und Professionalität von Lehrkräften. Zur kommunikationstheoretischen Neubegründung der Lehrerprofessionalität1 Shinji Nobira
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Einleitung
Seit der Mitte 1990er Jahre ist in Japan die so genannte dritte Bildungsreform auf den Weg gebracht worden.2 Diese Reform ist durch Merkmale des Neoliberalismus – Liberalisierung und Diversifikation der Schulbildung – einerseits, zugleich aber auch durch Merkmale eines Neobürokratismus – Verstärkung der staatlichen Kontrolle über Schule und Lehrer durch staatliche Institutionen, die als Antwort auf die Forderung der Bevölkerung nach Liberalisierung und Diversifikation inszeniert wird – andererseits charakterisiert. Das Bildungsgrundgesetz wurde, 60 Jahre nach seiner Erstverabschiedung, zum ersten Mal revidiert. Diese Revision weist in typischer Weise diese beiden Merkmale auf: So wurde z.B. in Artikel 17 des neuen Grundgesetzes als Verpflichtung festgelegt, einen Basisplan zur Förderung der Bildung – nach zweckrationalem Prinzip – zu entwerfen. In Artikel 2 wurde zugleich aber auch die Förderung der patriotischen Gesinnung als eines der zentralen Bildungsziele bestimmt. An dieser Stelle sei zur Erläuterung ein kurzer Überblick zur Bildungsgeschichte Japans seit dem zweiten Weltkrieg eingefügt. Von der Mitte der 1950er bis zu der Mitte der 1970er Jahre hatte Japan ein hohes Wirtschaftswachstum. Zeitgleich erfolgten eine Expansion des Schulsystems und eine Erhöhung der schulischen Bildungsniveaus.3 Das Bildungsniveau der Bevölkerung wurde ana1 Dieser Beitrag ist eine überarbeitete Fassung eines Aufsatzes, der erstmalig im ‚Japanese Journal of Educational Research 75 (2008), H.4 veröffentlicht wurde. 2 Im Mittelpunkt der ersten japanischen Bildungsreform steht die Gründung des modernen staatlichen Schulsystems nach der Meiji-Restauration (1868), die zweite bezieht sich auf die demokratische Erneuerung des Schulsystems nach dem zweiten Weltkrieg (1945). Die Entwicklung des japanischen Bildungssystems und mithin des pädagogischen Diskurses vom Ende des zweiten Wertkrieges bis Ende 1990er Jahre wird ausführlich von Yasuo Imai (1997) dargestellt. 3 Der Anteil der Schüler, die nach Beendigung der obligatorischen Mittelschule in die ‚High School’ wechseln, steigt von 43,5% im Jahre 1950 auf mehr als 90% im Jahre 1974.
log zu ihrem Lebensniveau deutlich gesteigert. Schulbildung wurde für beinahe alle zum grundlegenden Kapital gelingender Biographiegestaltung. Seither kam es jedoch mit weiter steigendem Wohlstandsniveau zur Pluralisierung von Wertvorstellungen, die auch den Bildungsbereich betraf. Die bisher einheitlich organisierte Schulbildung geriet in die Kritik, unterdrückerisch gegen die Individualität der Kinder ausgerichtet zu sein. In der Folge kamen Forderungen zur Diversifikation und Liberalisierung der Schulbildung auf. Gleichzeitig wurden in den 1970er und 1980er Jahren problematische Verhaltensweisen von Kindern wie schulische Gewalt, Mobbing, Schulabsenz, Aufweichungen der Schul- und Klassenregeln zu einem immer drängenderen sozialen Problem. Im Effekt setzte sich die Meinung durch, dass Bildungsreformen notwendig und unentbehrlich seien.4 In der Folge wurde z.B. die Budgetpolitik für die Schulen geändert. Statt der gleichmäßigen Verteilung des Budgets auf alle Schulen wurde allmählich eine Verteilung nach dem Prioritätsprinzip, Gelder unter Konkurrenzgesichtspunkten an Schulen zu vergeben, eingeführt. Die ökonomische Globalisierung drängte die Regierung dazu, nicht mehr unterschiedslos alle schulischen Angebote gleich auszustatten. Stattdessen wurde auf die Ausbildung einer Elite gesetzt, die fähig sein sollte, die Nation in der globalen Konkurrenz zu vertreten. Diese Politik wurde dem unter Slogan ‚kindgemäße Individualität‘ vorangetrieben. Wesentlicher Motor dieser Liberalisierung des Bildungssystems war der 1984 gegründete ‚temporäre Bildungsrat‘. Er wurde nicht mehr vom Kultusministerium, sondern direkt vom Kabinett eingesetzt. In den 1990er Jahren wurde diese neoliberale Bildungsreform noch einmal beschleunigt. In einer Atmosphäre des gesellschaftlichen Stillstands in Folge einer lang andauernden Wirtschaftskrise wurde ihre Legitimation neonational überhöht. Ihre Durchsetzung erschien als Antwort auf die Aufforderung des Volkes zur Überwindung der nationalen Krise.5 Auch im Bereich der Lehrerausbildung wurden verschiedene Reformen durchgeführt, die in dieser Abhandlung thematisiert werden sollen. Generell sind mit den beschriebenen Veränderungen die Forderungen von Eltern an Lehrer einerseits und die Inhalte der Lehrerarbeit andererseits immer vielfältiger geworden. Immer unklarer wurde in diesem Prozess die Diskussion über die Frage, was den Kern der Professionalität von Lehrern ausmacht. Dabei wurde ein 4 In der öffentlichen Wahrnehmung wird die wachsende Zahl verhaltensauffälliger Kinder immer noch fälschlicherweise auf einen Mangel an Disziplin und nicht auf den gestiegenen Leistungs- und Erwartungsdruck im Bildungssystem zurückgeführt. Dieser führt fast immer zu einem dergestaltigen Teufelskreis, dass pädagogische Interventionen so immer häufiger an den Stellen angesetzt werden, an denen sie eigentlich beseitigt werden sollten. 5 Aktuelle Bildungsreformmaßnahmen werden zumeist nicht national einheitlich, sondern je nach Bedarf regional verschieden eingeführt. Das gilt z.B. für die Einführung der freien Wahl der Grundund Mittelschule und für Bewertungssysteme von Schulen und Lehrkräften.
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grundsätzliches Problem deutlich: Generell wird es einerseits für wünschenswert erachtet, dass die Hürde zwischen Professionals und Laien sinke. In diesem Sinne geht es um die Abschwächung der Monopole professionellen Wissens auf die Deutung sozialer Problemlagen. Andereseits aber geht es um die bedarfsgerechte Anpassung der Ausbildungsniveaus von Professionals, um den Anforderungen und stetig wachsenden Bedarfen, die Laien an Professionals zur Problemlösung richten, noch gerecht werden zu können. Gerade Lehrer werden von diesen divergierenden Bedarfen stark in Anspruch genommen. Die unklaren Anforderungen an ihre Professionalität können ein Faktor der Verschlechterung der Bildungsqualität werden. Die Fragen sind also: Welches Verständnis der Professionalität von Lehrern ist im Angesicht verschiedener Forderungen von Eltern einerseits und dem öffentlichem Bildungsauftrag andererseits das angemessene? Worin begründet sich in der Gegenwart die professionelle Autonomie des Lehrers gegenüber staatlicher Kontrolle? Anhand der gegenwärtigen Diskussion um Öffentlichkeit und Schulbildung vor dem Hintergrund der Veränderung des Begriffs von Schulbildung, wie sie durch die sich gesellschaftlich immer mehr verbreitende Vorstellung von Bildung als privatwirtschaftlichem Gut verursacht wird, wird im Folgenden eine Erörterung der Frage nach zentralen Dimensionen von Lehrerprofessionalität versucht. Zuerst wird die ambivalente Tendenz der gegenwärtigen japanischen Lehrerpolitik im Spannungsfeld von Professionalisierung und Deprofessionalisierung untersucht (2). Sodann werden die Diskussionen um Öffentlichkeit und Schulbildung rekonstruiert. Dabei wird der Stellenwert des Lehrers in jedem vorgestellten Verständnis von Öffentlichkeit untersucht. Dieser Abschnitt hat das Ziel, die Lehrerprofessionalität im Hinblick auf die Diskussionen um schulische Öffentlichkeitsverständnisse neu zu begründen (3). Zum Abschluss wird die Lehrerprofessionalität systematisch durch Rückbezug auf die Freiheit von Kindern einerseits und die Freiheit von Bildung und Erziehung als Elternrecht andererseits genauer erörtert (4). 2
Professionalisierung und Deprofessionalisierung des Lehrerberufs
2.1 Ambivalenz im politischen Umgang mit dem Lehrerberuf In der gegenwärtigen japanischen Bildungspolitik ist eine Ambivalenz zu erkennen: Einerseits geht es um die Stärkung der Lehrerprofessionalität, andererseits um ihre Schwächung. KAZUAKI MARUYAMA hat die politischen Maßnahmen zur Ausbildung und Berufstätigkeit von Lehrern seit den 1980er Jahren aus professsionssoziologischer Perspektive untersucht. Er kommt zu einem wider245
sprüchlichen Ergebnis. Einerseits wurde in der Phase der Lehrerausbildung die Lehrerprofessionalität formal, im Sinne einer Verlängerung ihrer akademischen Ausbildung, gestärkt.6 Andererseits wurde in der Phase der Lehrerberufstätigkeit die Professionalität inhaltlich, was Fragen der Besoldung, Lehrerfortbildung und verwaltungsförmigen Eingebundenheit angeht, eingeschränkt, insofern eine Zunahme externer Eingriffe die Tendenz zur Deprofessionalisierung der Berufsausübung gefördert hat (MARUYAMA 2006, S.187f.). Beispiele für die Stärkung der Lehrerprofessionalität im Bereich der Lehrerausbildung sind etwa die stufenweise Konzentrierung des für die Lehramtsstudiengänge an staatlichen Universitäten zuständigen Lehrpersonals,7 die Einführung einer neuen Art der schulischen Lehrberechtigung für Inhaber eines Magisterabschlusses (1988) sowie die Neuerrichtung von ‚Graduate Schools of Teacher Education’ (2008). Für die Phase der ‚Lehrerberufstätigkeit‘ werden im Gegensatz dazu Aspekte der Deprofessionalisierung von Lehrern deutlich. Solche sind etwa die Ausgabe von befristeten ‚Sondergenehmigungen‘ für den Lehrerberuf an Personen, die keinen lehrerbildenden Studiengang absolviert haben, oder die Möglichkeit der Berufung zum Schulleiter ohne vorherige entsprechende schulische Berufserfahrung (2000). Unter dem Aspekt der Besoldung sticht insbesondere die Abschaffung eines hierarchisch nach Dienstalter gegliederten Besoldungssystems ins Auge. Dieses soll, so wird in ersten Diskussionen deutlich, zukünftig durch ein System ‚leistungsgerechter Bezahlung‘ ersetzt werden (2007). Unter dem Aspekt der Lehrerfortbildung sind diverse relevante staatliche Regulierungseingriffe zu nennen: Verankert wurden die gesetzliche Verpflichtung für Berufsanfänger im Lehrerberuf, sich fortzubilden (1988), die Verpflichtung zum Nachweis von Fortbildungen – einschließlich von Arbeitserfahrungen außerhalb der Schule – für Lehrer, die 10 Jahre im Schulsystem tätig sind (2002), sowie das faktische Verbot von selbstständig und freiwillig durchgeführten Fortbildungen von Lehrern während ihrer Ferienzeit durch Einführung eines Zertifizierungssystems für Fortbildungen (2002). Generell zielt die Entwicklung auf eine immer wieder neu zu zertifizierende Lehrerlaubnis: Lehrer sollen darauf verpflichtet werden, in einem Turnus von 10 Jahren jeweils bestimmte Fortbildungskurse erfolgreich zu absolvieren. Von der erfolgreichen Teilnahme soll das erneute staatliche Testat professioneller, staatlich anerkannter, zum Schuldienst befähigender und berechtigender Lehrbefähigung abhängen 6 Es gibt in Japan drei Qualifikationsniveaus der schulischen Lehrberechtigung, die mit einem zweioder vierjährigen Lehrerbildungsprogramm oder mit Abschluss eines pädagogischen Magisterstudiums erworben werden können. Die Unterschiedlichkeit der Lehrberechtigung hat jedoch keine Auswirkungen auf die spätere Unterrichtstätigkeit oder Bezahlung. 7 An den staatlichen Universitäten Japans sank das für die Lehrerausbildung zuständige Personal von 20.100 Personen im Jahre 1987 auf 9.770 im Jahre 2000.
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(2009). Unter dem Aspekt der verwaltungsförmigen Eingliederung fallen insbesondere zwei Aspekte ins Auge: Zum einen wurden gesetzliche Vorgaben geschaffen, welche die dienstliche Versetzung von als unfähig erachteten Lehrern ermöglichen (2002), zum anderen wird am Aufbau eines Systems zur Förderung der Entwicklung einer umfassenden Lehrerevaluation gearbeitet (seit 2003). In diesen ambivalenten Reformen der Grundlagen des Lehrerberufs werden die divergierenden Aspekte einer zugleich neoliberalen als auch neobürokratischen Politik unmittelbar deutlich. Es kam im Effekt zu einer Schwächung der professionellen Autonomie einerseits insbesondere gegenüber den Forderungen von Eltern und Gemeinden, andererseits durch die verstärkte staatliche Kontrolle über die Standards von Berufsausbildung und -ausübung. 2.2 Generelle Tendenzen der Deprofessionalisierung Die eben vorgestellte Ambivalenz ist unter insbesondere vier Aspekten in einen generellen Kontext einzuordnen, der in professionssoziologischer Hinsicht zu betrachten ist. Festzuhalten ist zunächst, dass das klassische Berufsmuster der Professionssoziologie nicht mehr greift. Traditionell wurden für eine kriteriumsorientierte Professionalisierungsforschung immer klassische freie Berufe wie Ärzte oder Rechtsanwälte herangezogen. Diese Perspektive verweist insbesondere auf die amerikanischen Zustände des 19. Jahrhunderts. Tatsächlich sind im Zuge der wachsenden Komplexität von Gesellschaften akademisch ausgebildete Expertenberufe aber mehr und mehr als Dienstleistungsberufe in abhängig organisierten Beschäftigungsverhältnissen von Angestellten oder Beamten organisiert. Zum anderen geht die klassische Professionssoziologie von einem deutlich hierarchischen Wissens-, Verstehens- und Könnensgefälle zwischen Professionals und Laien aus. Aus beiden Aspekte zusammen ergibt sich in der klassischen Professionstheorie die Annahme einer doppelten Autonomie: Professionals sind als Selbstständige autonom gegenüber der staatlichen Obrigkeit und als Experten autonom gegenüber den Weltdeutungen ihrer Klientel (SHINDO 1994, S.212f.). Diese Annahmen werden jedoch in der Gegenwart mehr und mehr hinfällig. Als angestellte Experten haben Professionals in der überwiegenden Mehrzahl ihre Autonomie in einem Binnenverhältnis zu ihren Dienstherrn und Arbeitgebern verloren. Zugleich führen die generelle Erhöhung des schulischen Bildungsniveaus und die rasante Entwicklung der Informationstechnologie dazu, dass sich die Wissensgefälle zwischen Professionals und Laien relativ verringern, wodurch die kritisch-distanzierte Perspektive der Laien auf die Autorität der Professionals zunimmt. Die professionelle Leistung, der bisher mit Vertrauen auf Seiten der 247
Laien begegnet wurde – eine Grundkategorie professioneller Fallbearbeitung –, wird so mehr und mehr mit skeptischem Blick überwacht. Die Abnahme des Vertrauens gegenüber Professionals wird unter dem Begriff des ‚Principle of Informed Consent’ diskutiert; typische empirische Belege lassen sich aus der Zunahme von Prozessen wegen ärztlicher Behandlungsfehler oder juristischer Fehlberatung ableiten. Insgesamt ist also professionssoziologisch davon auszugehen, dass Professionals in der Gegenwart einem doppelten Veränderungsprozess ausgesetzt sind: Einerseits ist eine Proletarisierung ihres Sozialstatus durch die wachsende Einbindung in hierarchische Arbeits- und Entscheidungsstrukturen zu konstatieren, die andererseits mit einer Deprofessionalisierung ihrer autonomen Tätigkeitsausübung einher geht. 2.3 Lehrer als Semiprofessionals Nach wie vor ist in der Professionssoziologie umstritten, ob und inwieweit Lehrer überhaupt im gleichen Sinne wie Ärzte und Juristen als Professionals aufgefasst werden können. Im kriterienorientierten Ansatz gelten sechs Merkmale als gemeinhin anerkannte Bedingungen dafür, einen Beruf als Profession zu betrachten (vgl. NAGOSHI 1986, S.67): 1) klar abgegrenzte Arbeitsbereiche und ausschließliche Beschäftigung mit gesellschaftlich unentbehrlicher Tätigkeit, 2) theoretisch begründete hochqualifizierte Fachkenntnisse auf der Basis einer langfristigen akademischen Ausbildung, 3) hochgradige Autonomie der Beschäftigungsverhältnisse nach außen und Selbständigkeit der Arbeitsverantwortlichkeit nach innen, 4) öffentliche Relevanz der Tätigkeitsausübung, die über eine persönliche Vorteilserheischung hinaus dem öffentlichen Gemeinwohl dient, 5) Vorhandensein von berufsständischen Fachvereinigungen, die auf kooperativer Basis die fachlichen und ethischen Standards der Berufsausübung erhalten und entwickeln, sowie 6) strenge und ausschließende Befähigungsprüfungen für den Berufszutritt durch den Staat oder/und die entsprechenden berufsständischen Fachvereinigungen. Die Gesamtheit dieser Merkmale meint einen Idealtypus im Sinne MAX WEBERs. Tatsächlich gibt es keinen Beruf, der alle diese Merkmale zugleich erfüllt. Wohl aber gibt es Berufe, die viele dieser Kriterien mehr oder weniger erfüllen. Wenn der Lehrerberuf im Hinblick auf diese Merkmale betrachtet wird, so fällt unmittelbar auf, dass für ihn nur die Kriterien ‚gesellschaftlich unentbehrliche Tätigkeit‘ und ‚Aufgabenorientierung am öffentlichen Gemeinwohl als Hauptzweck der Tätigkeit‘ unbedingt konstitutiv sind, alle anderen Kriterien hingegen nicht. So wird mit einigem Recht darauf hingewiesen, dass der Lehrerberuf, schon bevor er überhaupt den übergreifenden Prozessen der Deprofessionalisierung ausgesetzt wird, gleich von 248
Beginn an nie zu einer Profession herangereift sei (vgl. NAGOSHI 1986, S.68ff., MARUYAMA 2006, S.182). Trotz dieses professionssoziologischen Einwands ist aus systematischer Perspektive nicht zu negieren, dass es eigene spezifische Professionalitätsanforderungen an den Lehrerberufs gibt, wie sie in diesem Aufsatz untersucht werden sollen. 2.4 Verstärkung eines Konsumentenbewusstseins auf Seiten der Bevölkerung Die politischen Rahmensetzungen zur Veränderungen des Lehrerberufs (s.o.) haben, trotz der Senkung des Gefälles zwischen Professionals und Laien, nicht zu verstärkter Kommunikation und Zusammenarbeit geführt. Vielmehr fördern sie eine Art Konsumentenbewusstsein der Öffentlichkeit gegenüber der Lehrerschaft. Besonders gravierend ist dabei, dass die öffentlichen und die privaten Anforderungen an den Lehrerberuf immer weiter divergieren. Im Effekt allerdings wird der Lehrerberuf in der derzeitigen japanischen Öffentlichkeit als ein Dienstleistungsberuf angesehen. Als Folge des neuen Dienstleistungsparadigmas zeigen sich bei Lehrern deutliche Anzeichen von Überlastungs- und Burnout-Phänomenen.8
8 Eine vom japanischen Kultusministerium im Jahre 2006 in Auftrag gegebene Untersuchung über die Berufs- und Selbstwahrnehmung von Lehrkräften zeigte u.a., dass sich Schulleiter und deren Stellvertreter mehr durch den ‚Umgang mit Eltern bzw. Parents-Teachers-Association’ belastet fühlen als normale Lehrer. Laut den Umfragewerten nimmt der Umgang mit den Eltern nur den 10. Rang in der Belastungsskala ein und gehört somit nicht zu den Hauptursachen von Stress und Burnout. Da die Konsumentenhaltung von Eltern und Schülern zunimmt, ist anzunehmen, dass die diesbezügliche Belastung der Lehrer zukünftig steigen wird. Dies wird jetzt schon daran erkennbar, dass viele Lehrer jene Aussagen ankreuzen, die etwa lauteten: „auch nach Dienstsschluss in der Schule arbeiten“, „Das Arbeitspensum hat zugenommen“ oder „oft schulische Arbeit zu Hause erledigen“. Tabelle1: 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10.
Zeitliche und seelische Belastungsfaktoren von Lehrern (Mehrfachnennungen möglich)
Zensurenvergabe (36.0%) Unterrichtsvorbereitung (30.7%) Disziplinierung einzelner Schüler (24.6%) Schulaktivitäten (23.2%) Verwaltungsaufgaben / Zeugnisse schreiben (22.6%) Führung der Clubaktivitäten (20.7%) Sitzungen (17.6%) Zusammenarbeit mit der Schulleitung (13.9%) Klassenmanagement (11.8%) Umgang mit Eltern bzw. Parents-Teachers-Association (11.6%)
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SAWAKO YUFU stellt fest, dass das öffentliche Ansehen der Lehrer infolge des allgemein angestiegenen Bildungsniveaus der Eltern gesunken ist. Diese Tendenz ist bemerkenswert, auch wenn nach dem Ergebnis des ‚national survey of social stratification and social mobility‘ – einer angesehen berufssoziologischen Langzeitforschung, die seit 1955 im Abstand von jeweils 10 Jahren immer wieder durchgeführt wird – das Ansehen des Lehrerberufs immer noch etwas über dem Durchschnittsniveau im Vergleich der Berufsreputationen in Japan rangiert (YUFU 2007, S.65f.). Einzeluntersuchungen am Beispiel einer mittelgroßen Stadt konnten die Tendenz eines verstärkten Konsumentenbewusstseins von Eltern gegenüber Lehrern und Schule bestätigen. Eltern zeigen aktives Interesse, solange es um leicht in der Privatsphäre zu konsumierende Dinge geht. Zustimmend wurden Aussagen wie ‚Ich lese oft die Mitteilungsblätter der Klasse/Schule‘ oder ‚Ich besuche oft die Schule am Tag der offenen Tür‘ notiert. Neutral oder sogar deutlich negativ wurden hingegen Aussagen wie ‚Ich nehme an einer Versammlung des Klassen-/Schulelternrates teil‘ oder ‚Ich übernehme eine Position im Klassen-/Schulelternrat‘ notiert. Als Generaltendenz zeigt sich, dass Eltern Schulbildung für eine ‚zu benutzende Quelle‘ und Lehrer für ‚Dienstleister‘ halten, welche die Anforderungen von Eltern ‚abarbeiten‘. Eltern im heutigen Japan „erheben Ansprüche gegenüber Schule und Lehrern, sie arbeiten aber nicht mit Schulen und Lehrern zusammen” (ebd., S.71f.). HIROAKI TSUCHIYA untersucht, wie Schulen mit solchen Forderungen und Vorstellungen von Eltern umgehen. Er kommt zu dem Ergebnis, dass sich die Kommunikation zwischen Schulen und Eltern zumeist nicht auf eine öffentliche regulierte Zusammenarbeit bei der Lösung von Problemen und der Beantwortung von Fragen richtet, sondern vielmehr auf individuell ausgehandelte Einzelfalllösungen. Im Umgang mit Reklamationen verhält sich eine Firma als Kundendienstleistungsgeberin für Konsumenten als Kundendienstleistungsnehmer. Die Beziehung ist eine durch die Kategorie Konsum vermittelte. Die Beziehung zwischen Schulen und Eltern ist zu einer genau solchen kommerziellen Beziehung geworden, in der Bildung als Dienstleistung vermittelt wird (TSUCHIYA 2008, S.143). 2.5 Begründung der Lehrerpolitik durch ein zweckrationales Erziehungsverständnis In paradoxer Weise wurden in Japan die den Lehrerberuf deprofessionalisierenden politischen Maßnahmen mit Hilfe bildungspolitischer Slogans als Vorgaben zur Verbesserung der Lehrerprofessionalität verkauft (zur Funktion solcher Slogans UHLE 2001). Es wird behauptet, über sie Vertrauen in und Respekt für 250
die Leistungen des Berufsstandes sowohl bei den Eltern als auch beim Staat zurückgewinnen zu können. In dieser Kommunikationsstrategie kommt ein zweckrationales, mechanistisches Erziehungsverständnis zum Ausdruck. Im Bericht des zentralen Bildungsrates ‚Über die zukünftige Lehrerausbildung und die Zulassung zum Lehrerberuf‘ (2006), in dem das System einer rollierenden, immer wieder neu zu erwerbenden Lehrerlaubnis entwickelt wird, werden die neuen gesetzlichen Vorgaben für die Lehramtsberufe wie folgt begründet: „Durch das System der Erneuerung, [...] wird das Vertrauen der Eltern und der Öffentlichkeit in die öffentliche Schule auf ein festes Fundament gestellt. [...] Mittels dieses Systems ist eine Erhöhung der Lehrerprofessionalität zu erwarten.“ Systematisch betrachtet, können die das professionelle Verhältnis begründenden Kategorien Vertrauen und Respekt aber nicht einseitig nur von der Klientenseite aufgebaut werden. Es besteht die Gefahr, dass bei immer weiter absinkendem Status der Dienstleistungsanbieter im Binnenverhältnis des Dienstleistungsbezuges immer maßlosere und unerfüllbarere Erwartungen an die Aufgabenerfüllung gestellt werden. Auch ganz pragmatische Bedenken können nicht ohne weiteres beiseite geschoben werden. Ob und inwieweit zukünftig die Teilnahme an einem dreißigstündigen Fortbildungskurs alle 10 Jahre positive Effekte auf die Erhöhung professioneller Handlungskompetenz von Lehrern haben wird, während Lehrer schon jetzt täglich und zu vielfältigen Themen Fortbildungsangebote nutzen, ob das systematische Drohen mit dem Erlöschen der Lehrbefugnis und des Stellenverlustes wirklich dem Sozialstaus eines als professionell zu verstehenden Berufes angemessen ist, erscheint mehr als fraglich. Der Bericht hingegen betont einzig, dass die permanente Anstrengung der Lehrer zur Erhöhung ihrer Professionalität und zum Erwerb von Vertrauen und Respekt bei Eltern und Staat führt. So wird in Japan die Generallinie einer Bildungspolitik konsequent weiter verfolgt, die eine klare staatliche Setzung von Erziehungszielen und eine strikte Durchführung stetiger Schul- und Lehrerevaluationen fordert, wie sie auf der Basis der klar gesetzten Unterrichtsziele konzipiert werden. Im Bericht des zentralen Bildungsrates ‚Schaffung einer obligatorischen Bildung in neuer Zeit‘ (2005) werden neben der staatlichen Vorgabe von Erziehungs- und Unterrichtszielen weitere Maßnahmen wie die Definition einer obligatorischen Schulzeit sowie die Erweiterung der Kompetenzen einer eigenverantwortlichen Schule im Kontext eines neuen Leitbildes von der anzustrebenden Autonomie der Schule vorgeschlagen. Im Jahre 2006 wurden, daran anschließend, die ‚Leitlinien der Schulevaluation‘ verabschiedet. Hier wurden insbesondere drei Zwecke der Schulevaluation genannt: 1) Feststellung, ob und wieweit die vorgegebenen Ziele der Schule erreicht wurden, und Überprüfeng, ob und wieweit die darauf gerichteten Anstrengungen der Schule angemessen waren, 2) Förderung ver251
trauensbildender Maßnahmen des Bildungssystems, wie sie insbesondere durch die Bekanntgabe der Ergebnisse der Schulevaluationen an Eltern und Kommunen mit dem Ziel eines öffentlichen Verständnisses und Wissensbestandes über den Leistungsstand der Schule zugänglich gemacht wird, sowie 3) Die Einhaltung und Verbesserung der aus staatlichen Zielvorgaben definierten Qualität von Standards der Schulbildung auf der Basis der Ergebnisse dieser fortgesetzten Evaluationen. Solche Politik offenbart ein zweckrationales Erziehungsverständnis: Erziehung wird als zielorientierte Poiesis vorgestellt. Zu Grunde liegt ein Modell, nach dem Kinder von Lehrern wie Tonklumpen geformt oder ihre Kompetenzen wie Bausteine eines Spielkastens zu einem Gebäude zusammengesetzt werden können. Dabei wird die möglichst effektive Zielerreichung als wünschenswertes Ziel des Unterrichtsprozesses verstanden. Die Verantwortung dafür, ob die Zielerreichung gelingt oder nicht, wird vornehmlich den Lehrern zugeschrieben. Dieses Erziehungsverständnis wird von den Eltern wie vom Staat unterstützt.9 Das zentrale Ergebnis von Forschungen des japanischen Kultusministeriums (2006) über die bildungspolitischen Wünsche und Erwartungen von Eltern besteht darin, diese Einschätzung zu bestätigen. Eltern fordern, dass „unfähige oder problematische Lehrer [...] sanktioniert werden oder Gehaltsabzug bekommen (sollen)“. Das hat zur Folge, dass „das Besoldungssystem der Lehrer nicht nach Dienstalter, sondern nach Leistungsfähigkeit ausgestaltet sein (soll)“. 3
Begründungdiskurse über Lehrerprofessionalität am Beispiel der gegenwärtigen Diskussion um Öffentlichkeit und Schulbildung
In der japanischen Schulpädagogik ist das Thema Lehrerprofessionalität in der Vergangenheit immer wieder unterschiedlich diskutiert worden. Zu Beginn der Diskussion, in den 1960er und 1970er Jahren, ging es insbesondere um den Aufbau eines konzeptionell gegliederten Ausbildungssystems sowie um die Festlegung inhaltlicher Eckpunkte und curricularer Grundelemente der Lehrerausbildung. In den 1980er Jahren wurde unter diesem Label insbesondere die Wirkung professionsorientierender Ausbildungsinhalte auf tatsächliche professionelle Kenntnisse der beruflichen Praxis untersucht (IMAZU 1996, S.44f.). Seit den 1980er Jahren wurde verstärkt schulkritisch über Schule und Lehrer aus der kritischen Sicht von Eltern und Öffentlichkeit geschrieben. Die Professio9 Die übergreifende Aufgabe schulisch organisierter Bildung, die innere Freiheit des Kindes zu bilden, vollzieht sich nicht durch einseitige pädagogische Einwirkung, sondern erwächst im Rahmen der Interaktion zwischen Lehrer und Kindern. Um Erziehung und Unterricht als interaktiven Prozess zu gestalten, bedarf es zudem der Zusammenarbeit mit den Eltern und den Gemeinden.
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nalisierungsbestrebungen der Lehrer gerieten in den Verdacht, dass sie nur einer Art autoritären Selbsterhaltungsdranges folgten. Insgesamt hat der Diskurs über Lehrerprofessionalität Wandlungen von einer systematischen über eine institutionelle, dann handlungsorientierte und schließlich zu einer gesellschaftskritischen Perspektive durchgemacht. In der Gegenwart hat die Frage nach der Professionalität des Lehrers mit dem gesellschaftlichen und politischen Hintergrund, der im vorigen Abschnitt aufgearbeitet worden ist, eine drängende neue Bedeutung bekommen. Lehrerprofessionalität kann nicht nur durch Kompetenzen in Fachdidaktik und Klassenmanagement konstituiert sein. Für den Lehrer als Professional muss eine sowohl autonome als auch gesellschaftliche Rolle systematisiert werden. Deren Kern muss darin begründet sein, die richtige Entwicklung von Kindern durch Schulbildung gegen falsche Einmischung von Laien und Politik zu schützen. Zugleich muss beachtet werden, dass der Lehrer, wie alle Professionals, im 21. Jahrhundert nicht mehr in einem autoritär definierten Machtverhältnis vor dem Laien stehen kann. Es ist demnach die Frage zu stellen, wie in diesem Sinne Lehrerprofessionalität systematisch begründet werden kann. Im folgenden Abschnitt wird dieser Frage im Kontext der gegenwärtigen Diskussion um Öffentlichkeit und Schulbildung nachgegangen. Der Schulbildung wird allgemein eine Doppelfunktion zugesprochen, die innere Freiheit der einzelnen Kinder zu bilden und zugleich durch die Überlieferung der kulturellen Wissensbestände, Fähigkeiten und Fertigkeiten eine gewordene und errungene Ordnung der Gesellschaft aufrechtzuhalten. Das Leben des Einzelnen in der Gesellschaft ist erst durch den Erwerb der kulturell überlieferten Kenntnisse möglich. Daher ist es eine wichtige Aufgabe, die verschiedenen Wünsche der einzelnen Eltern an die Bildung ihrer Kinder auf der einen Seite und gemeinsame Kenntnisse, die für die soziale Integration erforderlich sind, auf der anderen Seite in der Schulbildung miteinander zu vermitteln. Wie lässt sich eine solche als öffentlich zu bezeichnende Schulbildung begründen? Wer ist dafür zuständig, die Arten und Vorgehensweisen der öffentlichen Schulbildung festzusetzen? In der aktuellen japanischen Diskussion werden vier verschiedene Verständnisse von öffentlicher Schulbildung unterschieden: 3.1 Staatliches Öffentlichkeitsverständnis Solange das Parlament eine Institution ist, welche die verschiedenen Meinungen innerhalb einer Nation repräsentiert, hat der Staat bzw. seine Verwaltung das Recht, die Inhalte und Strukturen der Schulbildung festzulegen. Dieses Verständnis von öffentlicher Schulbildung kann als staatliches Öffentlichkeitsverständnis 253
bezeichnet werden. Im Allgemeinen wird die staatliche Schule mit der öffentlichen Bildung identifiziert. Aber die Lage der Repräsentanten im Parlament reflektiert und repräsentiert von Fall zu Fall nicht immer völlig die Meinungsverhältnisse in der Nation. Somit erfüllen die Beschlüsse des Parlaments mitunter nicht den Anspruch der Öffentlichkeit. Was die Schulbildung betrifft, so hat nach AKIRA HIROSAWA das staatliche Öffentlichkeitsverständnis folgende Schwächen: 1) Bildung ist eine individuelle Tätigkeit, in der Kinder sich selbst als Personen entfalten und eigene Wertvorstellungen entwickeln. Der Staat soll daher nicht auf den Aufbau der inneren Wertvorstellungen des Einzelnen Einfluss nehmen. Deshalb müssen auch in der Schulbildung das Eigenrecht des Kindes und seine Freiheit gegenüber der Macht des Staates gesichert werden. 2) Schulische Bildung bezieht sich auf den Erwerb wissenschaftlich gesicherten Wissens. Da wissenschaftliche Wahrheit keine parlamentarisch zu verhandelnde Größe ist, muss schulische Bildung bis zu einem gewissen Grad unabhängig von staatlicher Bestimmung autonom entwickelt werden. 3) In Abhängigkeit der heterogenen Entwicklungsstände und Lernvoraussetzungen der einzelnen Kinder ist der Einsatz adaptiver Unterrichtsstoffe und -methoden notwendig. Diese können nicht durch parlamentarische Beschlüsse national einheitlich vorgegeben werden, sondern sind im alltäglichen Umgang des Lehrers mit den Kindern in pädagogischer Freiheit zu entwickeln (vgl. HIROSAWA 1992, S.47f.). 3.2 Marktwirtschaftliches Öffentlichkeitsverständnis Im staatlichen Öffentlichkeitsverständnis, das in der Phase des Wohlfahrtsstaats geprägt wurde, werden die Einheitlichkeit der Schulbildung und die aktive Einflussnahme des Staates betont. Im Unterschied dazu entwickelt sich der Staat in der Phase gegenwärtiger Nachwohlfahrtsstaatlichkeit zum ‚Qualitätssicherungsstaat‘. Im Wohlfahrtsstaat bietet der Staat selbst die öffentliche Versorgung an, und die Bürger befinden sich in der Rolle von Empfängern sozialstaatlicher Leistungen. Im Unterschied dazu werden im ‚Qualitätssicherungsstaat’ ökonomische Steuerungsmodelle auch in Bereiche wie Gesundheit, Soziale Hilfe und Bildung eingeführt. In der Folge beschränkt sich der Staat auf die Beaufsichtigung der Anbieter von Bildungs- und Sozialdienstleistungen, wobei er allerdings immer noch großen Einfluss auf die Bestimmung des Inhalts und Niveaus der Bildungs- und Sozialdienstleistungen behält (OTA 2004, S.3). Von der Einführung von Marktstrukturen und staatlicher Qualitätssicherung wird erwartet, dass die Qualität der öffentlichen Schulbildung gesichert und gesteigert wird. Gerade für die neoliberalen Bildungsreformen im gegenwärtigen Japan ist dieses Verständnis zentral bedeutsam. 254
An diesem marktorientierten Öffentlichkeitsverständnis wird mittlerweile verstärkt Kritik geübt. So betont z.B. HIDENORI FUJITA: 1) Schulbildung ist im Unterschied zu einer normalen ‚Ware‘ kein fertiges Produkt, das nach Wunsch gewählt, gekauft und verkauft werden kann. Durch Schulbildung sollen sich Kinder zu gesellschaftlich handlungsfähigen Subjekten entwickeln. Schulbildung ist somit ein ko-konstruktiver Prozess in geteilter Verantwortung von Kindern, Eltern, Lehrern, Gemeinde und staatlicher Schulaufsicht. 2) Die Schulauswahl ist von der Fähigkeit, vom Bildungsstand und vom sozioökonomischen Hintergrund der Eltern abhängig und bringt eine problematische Teilung in ‚gute‘ und ‚schlechte‘ Schulen hervor. 3) Die staatliche Regelschule hat die Aufgabe, allen Kindern eine gemeinsame und vergleichbare Basisausbildung zu garantieren, die für das Leben als Bürger nötig ist und zugleich ein Menschenrecht darstellt. Die Idee der freien nachfrageorientierten Schulauswahl passt mit diesem Grundsatz nicht zusammen (FUJITA 2000, S.83ff.). Die Einführung ökonomischer Strukturen in das Bildungssystem könnte zwar partiell zu einer Verbesserung der schulischen Bildungsqualität führen. Das Markprinzip basiert jedoch auf der problematischen Vorstellung, dass die Kenntnisse, Fähigkeiten und Fertigkeiten, die in der Schulbildung erworben werden, das private Eigentum der Kinder seien. Die gesellschaftliche, solidaritätsbildende Funktion der Schulbildung wird dagegen nicht genug berücksichtigt. Dies kann so weit führen, dass sich Lehrer als Dienstleister an den Wünschen, Erwartungen und Forderungen von Kindern und Eltern als Klienten auszurichten haben. Die populären Forderungen von schulpädagogischen Laien widersprechen jedoch nicht selten einem professionellen Verständnis von schulischer Bildungsarbeit. 3.3 Bürgerliches Öffentlichkeitsverständnis Gegenwärtig wird in Japan einer neuer Versuch der Schulreform diskutiert, bei dem die Eltern und die Kommunen nicht einfach die Rolle von passiven Empfängern einer Dienstleistung einnehmen, sondern als aktiv beteiligte Akteure an der Leitung der öffentlichen Schule teilnehmen. Nach dem zweiten Weltkrieg durften in Japan nur drei Instanzen eine Schule errichten und leiten: der Staat (staatliche Schule), die Provinzialverwaltung (normale öffentliche Schule) und die Schulkörperschaft (private Schule). Seit 2004 wurde im Kontext einer Politik der Abschwächung staatlicher Kontrolle eine vierte Instanz für die Leitung öffentlicher Schulen gestattet. Es handelt sich um sogenannte Schulleitungskomitees, die sich aus Eltern- und Gemeindevertretern zusammensetzten und eng mit der Provinzialverwaltung kooperieren. Schulen, die von einem solchen Komitee geleitet werden, werden ‚community schools‘ genannt. Das dement255
sprechende Öffentlichkeitsverständnis betont den positiven Beitrag der Eltern und der Gemeinden als Trägern bürgerlicher Öffentlichkeit. Diese Art der Schulorganisation kann als ‚öffentlich‘ bezeichnet werden, insofern 1) die Schulen gemeinsam von den Eltern und den Kommunen getragen werden, 2) die Bildungsziele der Schulen, anders als bei einigen privaten Schulen, mit den Bildungszielen öffentlicher Schulen übereinstimmen und 3) die Schulen, ebenfalls im Unterschied zu privaten Schulen, durch öffentliche Gelder finanziert wird. Allerdings kann dieses bürgerliche Öffentlichkeitsverständnis auf der praktischen Ebene ebensolche Probleme mit sich bringen wie das oben erläuterte marktradikale Öffentlichkeitsverständnis. HIDEAKI OKATANI hat diesen schulreformerischen Ansatz untersucht. Er kommt zu dem Ergebnis, dass im Interessenausgleich zwischen Eltern und Kommunen einerseits auch die Verständigung zwischen Lehrern und Eltern optimiert werden konnte. Dieses habe eine partielle Auflösung erstarrter schulischer Routinen bewirkt. Andererseits konstatiert er aber auch u.a. folgende Schwierigkeiten: 1) Nur wenige Eltern nehmen tatsächlich am Schulleben und der Schulentwicklung teil, die Mehrheit zeigt kein Interesse an einer Beteiligung. 2) Des Öfteren ist die Elternbeteiligung nur durch ‚oberflächliches Mitmachen‘ gekennzeichnet. Dieses führt nicht zu einer tatsächlichen Verbesserung der Qualität des Schullebens, wird jedoch gern als ein Ausdruck verbesserter Zusammenarbeit ausgegeben. 3) Die Eltern und die Kommunen sind nicht gewohnt, komplizierte Bildungs- und Erziehungsvorgänge in der Schule sorgfältig zu interpretieren. Zudem üben sie leichtfertig Kritik an der Schule, wenn ihnen die Prozesse oder Ergebnisse nicht gefallen. Aus diesem Grunde kann es überaus problematisch sein, wenn sich die Schulentwicklung am Laienurteil von Eltern und Kommunen ausrichtet. Es fehlt eine fachliche Instanz, die zwischen Schule, Eltern und Gemeinde vermittelt (OKATANI 2008, S.93ff.). Außerdem ist zu fragen, ob und inwieweit ein solches Schulorganisationsmodell tatsächlich zu dauerhaft postiven Effekten für die Entwicklung der anderen normalen öffentlichen Schulen führen wird. Werden solche nicht zu beobachten sein, wird diesem Modell eher eine lokal beschränkte, aber keine für das Bildungssystem als Ganzes relevante Bedeutung zukommen. 3.4 Nationales Öffentlichkeitsverständnis TERUHISA HORIO hat seit den 1970er Jahren ein schulisches Öffentlichkeitsverständnis vertreten, das nicht durch das institutionalisierte System des Parlamentes, sondern durch die Zusammenarbeit zwischen Lehrern, Eltern und Gemeinde begründet wird. In ihm ist das Moment der Schulauswahl nicht enthalten. HORIO begründet seinen Ansatz wie folgt: Das Recht des Kindes auf 256
Bildung gehört zu den Menschenrechten. Es ist zudem ein Menschenrecht, das für die Verwirklichung weiterer Menschenrechte grundlegend ist. Dieses Recht zu erfüllen obliegt zuvorderst der Freiheit und der Verantwortung der Eltern. So ist die Bildung und Erziehung der Kinder in erster Linie eine Familienaufgabe. Wenn jedoch Bildung und Erziehung der Kinder den Eltern allein überlassen werden, kann es zum Missbrauch des Elternrechts und mithin zu einem Mangel und Ungleichgewicht der Bildungschancen kommen. Deshalb ist eine öffentliche Bildung erforderlich, die als organisierte Form der Zusammenführung der Elternverantwortung zu verstehen ist. Die Öffentlichkeit der Schulbildung wird dadurch begründet, dass diese Aufgabe der Eltern als gesellschaftliche Aufgabe zusammengeführt und organisiert wird. Die Bildungsverwaltung hat nicht in erster Linie das Recht, Ziele und Inhalte der öffentlichen Schulbildung festzulegen. Wohl aber hat sie nach diesem Verständnis die Verantwortung, optimale Rahmenbedingungen der Schulbildung zu gewährleisten, um das Recht der Kinder auf Bildung zu garantieren. Die Legitimation des Lehrerberufs besteht nach dieser Modellannahme darin, dass die Lehrer im Auftrag der Eltern das Recht der Kinder auf Bildung professionell erfüllen. Diese Logik soll, im Unterschied zum bürgerlichen Öffentlichkeitsverständnis, nicht für einen besonderen Bezirk, sondern für alle öffentlichen Schulen gelten. Es wird angenommen, dass alle Eltern rechtlich und verantwortlich an der Herstellung der Schulbildung teilnehmen. Dieses Modell betont die gestaltende Rolle der ‚Nation‘, die als etwas Anderes verstanden wird als der ‚Staat‘ (vgl. HORIO 1988). Tatsächlich übt HORIO mit diesem Modell Kritik am staatlichen Öffentlichkeitsverständnis der Schulbildung. Er versucht, zentriert um das Bildungsrecht der Kinder und die Freiheit und Verantwortung der Eltern für die Bildung und Erziehung ihrer Kinder, die Öffentlichkeit der Schulbildung anders als jenes zu begründen. Sein Verständnis hat zur Voraussetzung, dass die verschiedenen Ansprüche der Eltern an die Bildung ihrer Kinder zu einheitlichen Zielen und Inhalten harmonisch zusammengefasst werden können. Entsprechend verlangt er von professionellen Lehrern ebendiese Integrationsleistung. Auch gegen diesen Ansatz sind in der japanischen Diskussion u.a. folgende Einwände vorgebracht worden: 1) Die erzieherischen Rechte und Freiheiten von Eltern und Lehrern werden zu stark hervorgehoben und mit der nicht zu vergessenen Verantwortung des Staates in der parlamentarischen Demokratie polarisiert. 2) Die Position von Eltern und Lehrern werden unter völliger Ausblendung möglicher Konflikte als prinzipiell ausgleichbar gehalten (FUJITA 2005, S.74).
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3.5 Begründungsformen der Lehrerprofessionalität Die vorgestellten Öffentlichkeitsverständnisse unterscheiden sich zentral hinsichtlich der Frage, ob sie eher für Einheitlichkeit oder für Pluralität der Schulbildung votieren. Sie unterscheiden sich ferner in der Bestimmung des Verhältnisses von Eltern, Lehrkräften sowie kommunaler und gesamtstaatlicher Schulaufsicht. Damit ergeben sich auch Unterschiede im Verständnis von Lehrerprofessionalität und professionell-pädagogischem Handeln. Im staatlichen Öffentlichkeitsverständnis wird der Lehrer als ‚technischer Experte‘ gedeutet. Es wird von ihm erwartet, gemäß den vom Staat vorab bestimmten Bildungszielen und -inhalten effektiv zu unterrichten. Dabei wird ihm nur ein geringes Maß an pädagogischer Freiheit unterstellt. Diese liegt, konkret, darin, Lernziele und Bildungsinhalte vor Ort auf die Wirklichkeit der Kinder und der Schule zu beziehen. Im marktorientierten Öffentlichkeitsverständnis erscheint der Lehrer dagegen als ‘Bildungsanbieter‘, der seine Dienstleistungen an den Erwartungen, Wünschen und Forderungen der Eltern und der Kommune ausrichten muss. Eigenständige pädagogische Entscheidungen hat er zurückzustellen, sobald sie von jenen, die seine Kunden sind, nicht gewünscht werden. Nur im nationalen Öffentlichkeitsverständnis wird der Lehrer als autonomer Professional gesehen. Hier wird von der Freiheit und Autonomie des Lehrers ausgegangen. Nach diesem Modell ist es seine Aufgabe, mit den Forderungen von Staat und Eltern diskursiv umzugehen, sie professionell zu transformieren und so umzusetzen, dass das Recht des Kindes auf Bildung garantiert ist. Ein weiterer Fokus ist zu setzen. Schulische Curricula versuchen immer die Vermittlung eines Vergangenheits-, Gegenwarts- und Zukunftsbezuges. Die vergangenheitsbezogene Orientierung an kulturellen und geistigen Traditionen ist zu vermitteln mit dem Blick auf die gegenwärtigen und die vermuteten zukünftigen Lebensanforderungen in Staat und Gesellschaft. Die Inhalte und Ziele schulischer Bildung sind jedoch nicht nur von der Erwachsenengesellschaft festzulegen, da Bildung immer zugleich auch Selbstbildung des Kindes mit dem Ziel zukünftiger Selbstbestimmung ist. Vor diesem Gesamthintergrund ist Bildungspolitik so zu gestalten, dass allen Kindern die gleiche Chance zum Lernen und zur Entwicklung ihrer Anlagen zukommt. Die Autonomie und Freiheit des Lehrers besteht darin, Forderungen des Staates und der Gesellschaft an die schulische Bildung nicht technokratisch umzusetzen, sondern in kritischer Distanz zu reflektieren, auf ihren Geltungsanspruch zu prüfen und auf dem Hintergrund der Bedingungen der Praxis zu rekontextualisieren. In einem solchen diskursiven Umgang mit staatlichen und institutionellen Vorgaben sind sowohl die Stimmen der Kinder als auch wissenschaftliche Erkenntnisse mit zu berücksichtigen. Für die 258
Öffentlichkeit der Schulbildung, die die Gegenwart und die Zukunft der Gesellschaft und des Kindes berücksichtigt und die verschiedenen gesellschaftlichen Interessen zusammenführt, ist die Professionalität des Lehrers in diesem diskursiven Sinne unentbehrlich. 4
Professionalität des Lehrers und Freiheit in der Bildung
Die obige Argumentation kann hinsichtlich der Frage problematisiert werden, ob die professionelle Autonomie des Lehrers per se einen Vorrang vor dem Willen der Bevölkerung oder staatlichen Vorgaben habe. Wer würde bezweifeln, dass auch Forderungen von Eltern, Kommunen oder dem Staat legitim sein können und mehr als nur privatistischen oder partikularistischen Interessen entspringen? Ob einer Anforderung von Eltern an das Schulsystem eine öffentliche Bedeutung zukommt, kann erst im Diskurs geklärt werden. Von daher darf sie nicht von vornherein abgewertet werden.10 Ausgehend von dieser Problemlage, wird im Folgenden die Professionalität des Lehrers im Verhältnis zur Freiheit des Kindes sowie im Verhältnis zur Freiheit der Eltern in allen Fragen von Bildung und Erziehung thematisiert. 4.1 Lehrerprofessionalität und Freiheit des Kindes Ein einseitiges Bild vom Lehrer als Wissensvermittler, der Kenntnisse und Fähigkeiten an unreife und unmündige Kinder verabreicht, ist pädagogisch indiskutabel. Es unterstellt nicht nur eine nicht haltbare Linearität von Lehren und Lernen, die zuletzt vom modernen Konstruktivismus ebenso wie von der Hirnforschung falsifiziert wurde. Es lässt auch das bildungsphilosophische Legitimationsproblem außer Acht, dass sich Kinder zu freien Persönlichkeiten mit kritischer Urteilskraft entwickeln sollen. Die Frage, wie die Vermittlung von Kenntnissen und Fähigkeiten legitimiert werden kann, ist kompliziert. Im Folgenden wird daher die Frage nach dem Verhältnis der Autoriät des Lehrers und der Freiheit der Kinder aufgegriffen.
10 Die Frage der kompensatorischen Politik zum Ausgleich von Bildungschancen sei an dieser Stelle ausgeklammert.
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4.1.1 Moderne Schule und Lehrerautorität Der Ursprung der Lehrerautorität in der modernen Schule wird von MASASHI TAKAHASHI wie folgt rekonstruiert: Im mitlebenden Meister-Lehrling-Verhältnis vormoderner Gesellschaftsordnungen richtete sich das Lebensziel des Lehrlings quasi automatisch in die gleiche Richtung wie das Lebensziels des Meisters. Die Beziehung zwischen Meister und Zögling war eine auf Tradierung ausgerichtete Generationenbeziehung im gleichen Arbeitsbereich. Aus seinem größeren Erfahrungsschatz resultierte die Autoriät des Meisters. Im Gegensatz dazu müssen Schüler in der modernen Schule abstrakte Kenntnisse und Fähigkeiten erwerben, die mit dem späteren Leben nicht in einem unmittelbaren Zusammenhang stehen. Anders als dem Meister kommt dem Lehrer somit keine per se in der Lebenswelt verankerte Autorität zu. In modernen Gesellschaften werden Konzepte gelingenden Lebens kontingent. Anders als der vormoderne Meister braucht der Lehrer daher eine unterstützende Legitimationsbasis seiner Praxis. Solche Unterstützung wurde einerseits technologisch in der Erziehungstechnik gesucht, mit der die Lernmotivation des Schülers hervorgerufen werden soll. Andererseits wurde sie weltanschaulich im Mythos des individuellen und gesellschaftlichen Fortschritts verankert, der durch Schulbildung erreicht werde. Der Gedanke der Perfektibilität des Menschen und, in seiner Folge, der Gesellschaft wurde jedoch mit der Modernisierung der Moderne brüchig. In der Postmoderne wurde deshalb der eigentliche Machtcharakter der modernen Schule sichtbar. Er zeigt sich u.a. darin, dass das Kind nurmehr als ‚Schüler‘ behandelt wird, dem Schulwissen einseitig ‚beigebracht‘ werden soll (vgl. TAKAHASHI 1998). So betrachtet, hat eine zeitgemäße Autorität des Lehrers ihren Ursprung nicht in dessen Persönlichkeit, sondern eher in der Struktur des modernen Schulsystems. Mit der Entwicklung des Bildungssystems wurde nach TAKAHASHI die Transformation der Kommunikation zwischen dem Lehrer als Erwachsenem und dem Kind erforderlich. Nur so konnte die funktionale Gefahr minimert werden, dass die Professionalität des Lehrers autoritär wird. In diesem Prozess wurde aus dem Kind der Schüler. Für das erzieherische Verhältnis in der Schule wurde stillschweigend vorausgesetzt, dass der Schüler das vom Lehrer gelehrte Schulwissen einseitig aufnehme. Obgleich Dialog und Kritik im Unterricht empfohlen wurden, waren sie niemals vorrangiges Ziel, immer aber wichtiges Mittel, damit der Schüler das vom Lehrer gesetzte Ziel erreicht. Diese Form der LehrerSchüler-Interaktion kann als eine vorherbestimmte Kommunikation ohne Bezug auf das ‚Andere‘ beschrieben werden. Dagegen schlägt TAKAHASHI vor, das erzieherische Verhältnis und die Kommunikation mit dem Kind unter Berücksichtigung des Anderen zu begreifen: „Die Lehrer müssen Worte haben, die ‚das Andere’ berühren. Die Lehrer müssen den Unterschied erwägen, der demgegen260
über darin liegt, dass sie selber den Kindern zu verstehen geben, und dass die Kinder selber ihnen zuhören. Das ist keine Angelegenheit von Erziehungstechniken, sondern eher eine Sache der Beziehung” (TAKAHASHI 1998, S.230). Aufgrund dieser Argumente wird eine kommunikative Beziehung als Basiselement der nicht-autoritären Professionalität des Lehrers gefordert. 4.1.2 Die Freiheit des Kindes als Black Box Wie aber kann eine so begriffene Vorstellung von der Aufgabe der Schulbildung, die Freiheit des Kindes zu bilden, konkretisiert werden? AKIO MYADERA diskutiert, ausgehend von der Frage nach Bildungsgerechtigkeit als Möglichkeit der Entfaltung von Kompetenzen, dass der Begriff der ‚Kompetenz‘ von zwei Seiten betrachtet werden muss. Einerseits ist seine inhärente Entwicklungslogik, andererseits aber ist auch seine gesellschaftliche Funktionslogik zu betrachten. Demnach „ist Kompetenz auf der einen Seite nicht fest angeboren, sondern kann entwickelt werden. Auf der anderen Seite wird eine Kompetenz erst im gesellschaftlich-kulturellen-sozialen Kontext wirksam“ (MIYADERA 2006, S.159). So betrachtet wird klar, dass die Frage nach dem Verfügen über eine Kompetenz für sich allein wenig relevant ist. Die Diskussion wird erst dann interessant, wenn der gesellschaftliche Nutzen und die materiellen Güter, die mit Hilfe dieser Kompetenz erarbeitet werden, allein für eine Art Eigentum, eine Art Besitz dieser Kompetenz gehalten werden (ebd., S.159ff.). An dieser Stelle stellt sich die Frage nach dem Verhältnis zwischen der erzieherischen Wirkung von Erwachsenen und der Kompetenzentwicklung von Kindern. Auf der einen Seite ist bildnerisches und erzieherisches Handeln in der Schule immer ein Tun mit dem Ziel, die Fähigkeiten des Kindes zu entwickeln. Allerdings wird erst im Nachhinein klar, ob und welche Fähigkeiten die Schüler latent haben. Außerdem ist es schwierig zu unterscheiden, ob die Fähigkeiten der Schüler auf die Einwirkung von Erwachsenen zurückgehen oder auf das naturwüchsige Aufblühen eines angeborenen Talents in der Wechselwirkung mit der Umgebung. Die Freiheit und die Kompetenzen des Kindes bilden insgesamt gewissermaßen eine Black Box. Die komplizierte Wechselwirkung zwischen absichtlicher Einwirkung von Erwachsenen, absichtlicher Verstärkung von Kindern, unbewußtem Aufblühen angeborener Talente und unbewussten Einflüssen der Umgebung kann niemals vollständig begriffen werden. Vorausgesetzt werden kann aber, dass der erzieherischen Einwirkung eine wichtige Rolle beigemessen werden muss. Einwirkung ist jedoch nicht mit Unterdrückung zu verwechseln. Erzieherische Einwirkung von Lehrern gilt im pädagogischen Denken als legitim, solange sie der Selbstständigkeitsentwicklung des Kindes dient. 261
In diesem Zusammenhang kann die Antwort auf die Frage, was dann mögliche Bildungsziele im Horizont der Freiheit des Kindes sein könnten, nur in der öffentlichen Diskussion (unter Umständen einschließlich der Kinder selbst) entschieden werden. Die professionelle Autonomie des Lehrers darf vor dem Hintergrund dieser Grundfrage nie zur Willkür entarten. Zugleich aber gilt auch umgekehrt: Eine verantwortliche Setzung von Zielen für die Freiheit des Kindes kann nie nur aus ihrem dem Moment verhafteten Willen oder aus den Absichten seiner Eltern bestimmt werden. Auch die besondere Gegenwarts-Zukunfts-Relation, welche in Bezug auf die Diskussion der Freiheit und der Kompetenzen des Kindes von besonderer Bedeutung ist, verlangt der Lehrerprofessionalität eine besondere kommunikative Kompetenz ab. 4.2 Lehrerprofessionalität und Freiheit der Eltern bei der Gestaltung von Bildung und Erziehung An dieser Stelle ist zur nächsten Frage voranzugehen, wie der Gegensatz zwischen den notwendigen Forderungen einer professionellen Autonomie des Lehrers einerseits und den berechtigten Forderungen von Eltern als Dienstleistungsabnehmern im Bildungssystem andererseits überwunden werden kann. Einen Hinweis zur Beantwortung dieser Frage gibt die These vom ‚Vorrang des Betroffenen‘, die von MASASHI NAKANISHI und CHIZUKO UENO aus sozialkonstruktivistischer Sicht aufgestellt wurde (vgl. NAKANISHI/UENO 2003). Der Begriff des ‚Vorrangs des Betroffenen‘ wird synonym mit dem Topos ‚Recht auf Selbstbestimmung‘ verwandt. Die These vom ‚Vorrang des Betroffenen‘ geht davon aus, dass sozial unterprivilegierte Gruppen – z.B. Kinder, Frauen, alte Menschen, Behinderte, Minoritäten – häufig ihrer eigenen Stimme von sozial einflussreicheren Gruppen beraubt wurden. Somit sind sie sozial ausgegrenzt. Ihre Problematik und ihre Lebensschicksale sind nicht primär biologisch, sondern vielmehr sozial durch die geltenden soziokulturellen Regeln und Konstruktionen konstituiert. Demnach sind z.B. Behinderte nicht an sich behindert, sondern werden in einem bestimmten gesellschaftlich-kulturellen Kontext behindert. Aus dieser Perspektive folgt die prinzipielle Möglichkeit jederzeitiger gesellschaftlicher Zustandsänderungen, sofern und sobald sich kulturelle Konstruktionen und soziale Regeln des Zusammenlebens ändern (NAKANISHI/UENO 2003, S.9). ‚Vorrang‘ wird aus dieser Sicht gesellschaftlich hervorgebracht und darf nicht den einzelnen Personen zugeschrieben werden. Das Bewusstsein der
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Betreffenden für diese soziokulturelle Bedingtheit der Konstruktion ihrer Lage ist der erste Schritt zur Veränderung.11 Der Gedanke des ‚Vorrangs des Betroffenen‘ zielt aus machttheoretischer und -kritischer Perspektive gegen den Einfluss von Professionals auf und deren Deutungshoheit über die Betroffenen. Auch gegen diese Sichtweise gibt es wiederum Gegenargumente: Die Selbstbestimmung des Laien sei willkürlich und subjektiv, weshalb das wissenschaftlich fundierte Urteil der Professionals ihnen einen verobjektivierten Deutungs- und Handlungsrahmen für ihre Situation anbiete. Dieses Argument bedeutet allerdings, wiederum anders gesehen, die Negierung wirklicher und wahrer Erfahrung des Betroffenen im Namen eines Objektivismus, wie er u.a. in der Überformung der Alltagssprache durch die Fachsprache der Professionals sichtbar wird. Der ‚Vorrang des Betroffenen‘ hält uneingeschränkt am Recht auf Selbstbestimmung fest. Er stellt daher an Professionals die Forderung, auf das, was nur der Betreffende weiß, zu hören. Einen ‚Vorrang der Betroffenen‘ einzufordern meint also in Bezug auf die Klientel etwas völlig anders als eine Konsumentenposition, die vom Professional eine Dienstleistung erwartet. Es scheint zunächst, als ob diese Position um den Betroffenen zentriert ist. Allerdings erhält und verstärkt diese Haltung nur die asymmetrische Beziehung zwischen Professional und Betroffenem: “Man wird zu einem Betroffenen, indem man das eigene Problem durchschaut und sich des eigenen Bedarfs klar bewusst wird. Zum Betroffenen zu werden heißt also, die eigene Macht zu verstärken“ (ebd., S.196f.). Für den Betroffenen ist es daher erforderlich zu lernen, den eigenen Bedarf richtig einschätzen zu können und sich mit anderen Betroffenen zu solidarisieren. Damit allerdings werden Professionals nicht unnötig. Professionalität erweist sich im Konzept eines ‚Vorrangs des Betroffenen‘ in der „kommunikativen Kompetenz für die Verständigung über den Bedarf der Betroffenen“ (ebd., S.182).12 Als professionelle Handlungsaufgabe ergibt sich daraus, die Probleme des Betroffenen anzuhören, auf seine Bedürfnisse flexibel zu reagieren, optimale Distanz in der Beziehung aufrechtzuhalten, ungebührliche Zumutung klar zu verweigern. Ziel so verstandenen professionellen Tuns ist es, zu einer Versorgungsqualität in Bezug auf das
11 Dieser Gedanke zielt auf gesellschaftliche Umgestaltung und entspricht aus institutioneller Perspektive einer radikalen Demokratie, die über die am Mehrheitsprinzip ausgerichtete Demokratie hinausgeht (vgl. NAKANISHI/UENO 2003, S.17). 12 Ähnlich wird Professionalität in der ‚Narrativen Therapie‘ von HARLENE ANDERSON und HAROLD GOOLISHIAN als ‚Not-Knowing‘ bestimmt (vgl. ANDERSON/GOOLISHIAN 1992). ‚NotKnowing’ bedeutet, immer im Prozess der Verständigung zu bleiben, und problematisiert den Gedanken der Deutungshoheit von Professionals über die Lebensprobleme ihrer Klienten. Dieser Ansatz zielt im Kern auf das Lernen des Klienten im Gespräch mit dem Therapeuten, seine Lebensgeschichte anders als bisher zu erzählen, um durch dieses Reframing seine Probleme zu lösen.
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anstehende Problem zu kommen als Laien, wie Freunde, Familienangehörige, etc. es leiten könnten (ebd., S.183). Die Diskussion um den ‚Vorrangs des Betroffenen‘ wird hauptsächlich am Beispiel der Emanzipationsbewegung der Menschen mit Behinderung geführt. Aber auch für den Bildungsbereich ist sie relevant. Als Beispiele seien etwa schulabsente Kinder genannt: In dieser Perspektive werden sie von den für sie zuständigen Professionals ihrer Stimme und ihres selbständigen Lebens beraubt. Im Laufe der Zeit, betrachtet man die Schulabsenz und ihre ‚Behandlung‘ im langen historischen Prozess, verändert sich der gesamte gesellschaftliche Zusammenhang, zurren die Grenzen zusammen, innerhalb derer entsprechende Kinder überhaupt noch ihre eigene Deutung der (schulischen) Wirklichkeit entfalten können (vgl. ebd., S.202). Diesen Ansatz strikt verfolgend, muss der Blick auf das Kind als ‚Betroffenen‘ Vorrang haben vor dem Blick auf seine Eltern, die lediglich seine Vertreter sind. Was allerdings die Beziehung der Betroffenen zu den Lehrern betrifft, so kann diese Beziehung fast mit der Beziehung der Eltern zu den Lehrern verglichen werden. Das Elternrecht auf Bildung und Erziehung des Kindes liegt also eben nicht in einer Konsumentenposition, dasjenige von der Schule zu fordern, was die Eltern sich von ihr wünschen, sondern in deren stellvertretenden Position für die Selbständigkeit der Betroffenen, der Kinder. Demnach bestimmt sich Lehrerprofessionalität zentral dadurch, den Kinder zuzuhören, ihre latenten Kompetenzen im Zusammenhang mit den gesellschaftlichen und kulturellen Forderungen zu durchschauen und ihnen zu ermöglichen, ihre Fähigkeiten in Zusammenarbeit mit Eltern, mit Kommune, mit Staat zu entwickeln. Um solche Prozesse zu gestalten und zu entwickeln, braucht es für Betroffene wie für Professionals jeweils einen Lernprozess. Auch Schulbildung ist ein Prozess, der immer erst, immer neu entsteht. Er wächst in der Zusammenarbeit von unvollendeten und reifenden, ‚sich bildenden‘ Kindern mit ebenso unvollendeten und reifenden, ‚sich bildenden‘ Eltern und, nicht zuletzt, auch unvollendeten und reifenden, ‚sich bildenden‘ Lehrern. Diese prinzipielle Nichtabgeschlossenheit und Nichtabschließbarkeit einer prozessual verstandenen Schulbildung fordert Bescheidenheit, Vertrauen und Zusammenarbeit von Lehrern, Schülern und Eltern. 5
Schluss – von der öffentlichen Kommunikation unterstützte Schulbildung
In diesem Aufsatz wurde eine Neubestimmung der Lehrerprofessionalität versucht. Als professionelles Kernmoment des Lehrers wurde seine kommunikative Fähigkeit im Zusammenhang mit gegenwärtigen Diskussionen um Öffentlichkeit 264
der Schulbildung herausgearbeitet. Schulbildung ist ein stetiger Prozess, der durch Kommunikation zwischen Lehrern und Kindern, zwischen Lehrern und Eltern, zwischen Lehren und Kommune immer wieder in Prozessen der Kommunikation und Zusammenarbeit auf unterschiedlichsten Ebenen neu konstituiert werden muss. Festzuhalten ist allerdings, dass gegenwärtig eine Vorstellung von Schulbildung den öffentlichen Diskurs dominiert, welche schulische Angebote als Dienstleistung, sowie mit ihrer Hilfe erlernte Kenntnisse, Fähigkeiten und Fertigkeiten als privates Gut missversteht. Die Komplexität von Bildungsprozessen wird weder von Eltern noch von Kommunen in ihrer ganzen Breite und Tiefe verstanden. In der neoliberalistischen Tendenz der Gesellschaft werden Lehrer und Eltern, ebenso einzelne Eltern untereinander, als voneinander isolierte Einzelwesen angenommen. Unter dem Geltungsbereich dieses Paradigmas ist es schwer, Verständigung und Solidalität zwischen den beiden Gruppen herzustellen. Auch der Lehrer selbst ist in diesem Zusammenhang als ‚Betroffener‘ zu verstehen. Ihm fehlt es an Mitteln und Möglichkeiten, seine Sicht auf Schulbildung an Gesellschaft und Politik zu kommunizieren. Gegenwärtig ist ein bildungspolitischer Zustand erkennbar, der keine Gelassenheit und Nachsicht ermöglicht, Spielräume und Alternativen in und zu gesellschaftlichen Zuständen auszuloten. Dementsprechend ist die Bildungspolitik gegenwärtig in der Pflicht, weiteren Forderungen nach Liberalisierung und Diversifikation der Schulbildung nicht mehr nachzugeben. Vielmehr ist es ihre Aufgabe, die Rolle der Schulbildung für die gesellschaftliche Integration anzuerkennen und eine gesellschaftliche Verständigung über die Professionalität des Lehrerberufs zu fördern. Konkret ist eine Bildungspolitik zu fordern, welche das gemeinsame und wirksame Gespräch zwischen Lehrern, Eltern und Kommunen unterstützt. Ein Ergebnis einer Studie des japanischen Kultusministeriums zum Elternbewusstsein (2006) macht Mut. Gezeigt werden konnte, dass, je häufiger Eltern die Schule besuchen, desto mehr Vertrauen in die Lehrer und Zufriedenheit mit der Schule aufkeimt.13
13 Siehe dazu die nachfolgende Tabelle. Die Punktwerte bilden den Durchschnitt der fünf Antwortabstufungen von „ich stimme nicht zu“ (1 Punkt) bis zu „ich stimme voll zu“ (5 Punkte). Dieses Ergebnis kann auch so gelesen werden, dass die Eltern, die von vornherein den Lehrern vertrauen, öfter die Schule besuchen.
265
Pädagogische Forschungen über Lehrerprofessionalität werden heute in Japan, wie schon oben erwähnt, zumeist im Hinblick auf die Handlungskompetenzen von Lehrern geleistet. Eine der in Japan einflussreichsten Theorien zur Lehrerprofessionalität stammt von MANABU SATO, der sich u.a. auf DONALD SCHÖN bezieht (vgl. SCHÖN 1983). In seinem Konzept des ‚reflexiven Praktikers‘ wird die Basis aller Lehrerprofesionalität im Zusammenspiel von praktischer Erkenntnis und reflexiver Kompetenz gesehen (SATO 1997, S.62). Zum Abschluss sei noch einmal darauf verwiesen, dass die Kompetenz zu solchen reflexiven Überlegungen und Erkenntnisse im Kern nicht monologisch, sondern dialogisch strukturiert ist.14 Es ist auch bemerkenswert, dass im Konzept des reflexiven Praktikers der Lehrer als ‚Vermittler‘ charakterisiert ist. Kernaufgabe des Lehrers ist sein Vermittlungsauftrag. Er ist der Vermittler, der zwischen Individuum und Gesellschaft, zwischen Kinder und Stoff, zwischen Schule und Eltern, zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft etc. dialogisch vermittelt (vgl. ebd., S.12). Im Prozess der Schulbildung ebenso wie im Prozess der Bildungspolitik, welche diese Schulbildung bestimmt, muss ein öffentlicher Raum für kommunikative Aushandlungsprozesse eingebettet werden.
Tabelle 2: Häufigkeit des Schulbesuchs und Vertrauen/Zufriedenheit der Eltern Häufigkeit des Schulbesuchs
Lehrer sind vertrauenswürdig Ich bin zufrieden mit den Lehrern
Keine
etwa einmal pro Jahr
etwa 3-6 Mal pro Jahr
etwa einmal pro Monat
mehr als zweimal pro Monat
2.87
2.97
3.18
3.37
3.39
2.92
2.88
3.05
3.25
3.20
14 Reflexive Erkenntnis besteht nach SATO aus folgenden fünf Momenten: 1) Erkenntnis im Handlungsprozess, 2) Reflexion im Handlungsprozess, 3) Dialog mit der Situation, 4) Reflexion der Erkenntnis und Reflexion im Handlungsprozess, 5) Dialog mit der reflektierten Situation (vgl. SATO 1997, S.62).
266
Literaturverzeichnis ANDERSON, HARLENE/GOOLISHIAN, HAROLD (1992): The Client is the Expert. A Not-Knowing Approach to Therapy. In: MCNAMEE, SHEILA/GERGEN, KENNETH J. (eds.): Therapy as Social Construction. London [u.a]: Sage, pp.25-39 FUJITA, HIDENORI (2000): Shimin Shakai to Kyoiku (Civil Society and Education). Yokohama: Seori FUJITA, HIDENORI (2005): Gimu Kyoiku wo Toinaosu (Rethinking of Compulsory Education). Tokyo: Chikuma. HIROSAWA, AKIRA (1992): The Public Nature of Education. In: Public Law Review, 54, pp.45-60 HORIO, TERUHISA (1988): Educational Thought and Ideology in Modern Japan. Tokyo: University of Tokyo Press IMAI, YASUO (1997): Auf der Suche nach der vermissten Öffentlichkeit. Diskussionen in der japanischen Pädagogik der Nachkriegszeit. In: KRÜGER, HEINZ-HERRMANN/OLBERTZ, JAN H. (Hrsg.): Bildung zwischen Staat und Markt. Opladen: Leske + Budrich, S.179-204 IMAZU, KOJIRO (1996): Hendo Shakai no Kyoshi Kyoiku (Teacher Education in a Changing Society). Nagoya: Nagoya U.P MARUYAMA, KAZUAKI (2006): Deprofessionalization of Teachers in Japan. Change of Teacher Policy and Teachers Union after 1980. In: The Annual Reports of the Graduate School of Education, Tohoku University, Japan. 55(1), pp.181-196 MIYADERA, AKIO (2006): Kyoiku no Bunpairon. Kohsei na Noryoku Kaihatsu towa Nanika (Distribution of Education. Equity in the Development of Potentialities), Tokyo: Keiso NAGOSHI, KIYOKA (1986): Consciousness and Actual Situation of Professionalization of Teachers. In: ICHIKAWA, SHOGO (ed.): Reconsideration of Discussion about Teacher as Professionals. Tokyo: Kyoiku Kaihatsu Kenkyusho, pp.67-96 NAKANISHI, MASASHI/UENO, CHIZUKO (2003): Tojisha Shuken (The Hegemony of the Person Concerned). Tokyo: Iwanami OKATANI, HIDEAKI (2008): Shimin teki Kokyosei tono Taiwa (Dialog with the Public Citizen). In: OGASAWARA, MICHIO (ed.): Kyoiku teki Shiko no Saho 1 (Techné of Pedagogical Thinking 1). Tokyo: Fukumura, pp.87-97 OTA, NAOKO (2004): New Roles and Responsibilities of the State. Quality Assurance State Education Policy in England. In: Japanese Journal of Educational Research. 71(1), pp.1-14 SATO, MANABU (1997): Kyoshi to iu Aporia. Hansei teki Jissen he (Teacher as Aporia. Toward Reflective Practice). Yokohama: Seori SCHÖN, DONALD A. (1983): The Reflective Practitioner. How Professionals Think in Action. London: Temple Smith SHINDO, YUZO (1994): Transfiguration of Professionals. Doctors and Lawyers. In: The Sociology of Law, 46, pp.211-216 TAKAHASHI, MASASHI (1998): Kyoshi no motsu Kenryoku wo kangaeru (Rethinking of Power of Teachers). In: Iwanami Koza Gendai no Kyoiku (Iwanami Lectures Modern Education), 6, pp.215-234 TSUCHIYA, HIROAKI (2008): School as public/private Sphere. In: The Sociology of Law, 68, pp.136148 Uhle, Reinhard (2001): Diskurse über Bildung in der Sprache von Management-Wissenschaft. In: Hoffmann, Dietrich/Maack-Rheinländer, Kathrin (Hrsg.): Ökonomisierung der Bildung. Die Pädagogik unter den Zwängen des „Marktes“. Weinheim [u.a.]: Beltz, S.65-77 YUFU, SAWAKO (2007): Tenkanki no Kyoshi (Teachers in the Times of Change). Tokyo: The Society for the Promotion of the University of the Air
267
Professionswissen als Zentrum der Diskurse über Lehrerbildung1 Karl Neumann
1
Lehrerbildung unter dem Paradigma der Kompetenz- und Standardorientierung
Nachdem die Notwendigkeit einer deutlichen Qualitätssteigerung der Lehrerbildung hinsichtlich ihrer Inhalte, institutionellen Struktur und Wirksamkeit durch die Ergebnisse der internationalen Leistungsvergleichsuntersuchungen, insbesondere die TIMMS- und PISA-Studien, noch einmal nachdrücklich bestätigt wurde, ist das pädagogische und bildungspolitische Dauerthema einer Reform der Lehrerbildung (in allen ihren Formen und Phasen) seit dem Jahre 2000 immer stärker in den Vordergrund der bildungswissenschaftlichen Forschung gerückt. In der Bundesrepublik Deutschland geschah dieses vor allem auch in Folge der Tatsache, dass der traditionelle Diskurs über die Verbesserung der Qualität von Unterricht, Schule und Lehrerbildung sich in den letzten Jahrzehnten weit geöffnet hat für die Ergebnisse der breit ausgefächerten einschlägigen internationalen Diskussion (vgl. TERHART 2000, 2002; RICHARDSON 2002; SHULMAN 2006; UHLE 2006). Von entscheidender Bedeutung war dabei die Rezeption der theoretischen und praktischen Modellierung des Ausbildungsprozesses in Schule und Hochschule nach den Konzepten der Kompetenzund Standardorientierung von Lehr-/Lernprozessen, mit weitreichenden Auswirkungen auf die laufenden Diskussionen der Professions- und Expertiseforschung. Zentrale Fragen rücken damit in den Mittelpunkt der Diskussion: Wie kann das Konstrukt ‚Professionalität im Lehrberuf‘ theoretisch und empirisch angemessen gefasst werden? Welches sind die Kernaufgaben von Lehrkräften? Welche 1 Der vorliegende Beitrag ist im Kontext des gemeinsamen Forschungsprojekts ‚Strategien zur Verbesserung praxisorientierter Professionalität von LehrerInnen‘ (2007–2010) zwischen der Joint Graduate School (Ph.D.-Program) der Universitäten Hyogo, Naruto, Joetsu, Okayama und dem Institut für Erziehungswissenschaft, Abteilung Schulpädagogik und Allgemeine Didaktik, der TU Braunschweig entstanden. Die vorgestellte Argumentation verdankt REINHARD UHLEs Aufsatz ‚Bildungsstandards und Verstehenskompetenz‘ zahlreiche Anregungen (vgl. UHLE 2006). In diesem Text wird nicht explizit auf diesen Bezug eingegangen, weil UHLEs Aufsatz insbesondere auf die Analyse der Qualität von Bildungsstandards im schulischen Curriculum fokussiert ist.
Voraussetzungen sind notwendig, diese Aufgaben zu meistern, und woran lässt sich die erfolgreiche Bewältigung dieser Aufgaben festmachen? Wie lassen sich die Dimensionen des Erwerbs dieser Professionalität festlegen? (vgl. BAUMERT/ KUNTER 2006; TENORTH 2006). Ein Meilenstein auf dem Weg zur Beantwortung dieser Fragen ist in der deutschen Diskussion der von EWALD TERHART zusammengefasste Bericht ‚Perspektiven der Lehrerbildung in Deutschland‘, der schwerpunktmäßig die Traditionslinie der Lehrerbildungsdiskussion seit dem ‚Strukturplan für das Bildungswesen‘ von 1970 in ihrer ganzen Breite aufnimmt, ohne dabei ausdrücklich auf die internationale Entwicklung der Professionalitätsdebatte hinzuweisen (vgl. TERHART 2000). Deren impliziter Einfluss lässt sich aber unschwer nachvollziehen bzw. einbeziehen, vor allem im Hinblick auf das international wohl einflussreichste Standardmodell: Dieses ist das in den USA vom NATIONAL BOARD FOR PROFESSIONAL TEACHING STANDARDS (NBPTS) entwickelte und vom INTERSTATE NEW TEACHER ASSESSMENT AND SUPPORT (INTASC) seit 1987 kontinuierlich akkreditierte Standardmodell (vgl. DARLINGHAMMOND 2002, S.751ff., insb. S.763ff.). Im NBPTS-Modell werden insbesondere folgende Kernstandards formuliert: x Lehrer sind der optimalen Förderung des Lernprozesses jedes individuellen Schülers verpflichtet. x Lehrer verfügen über ausgeprägte Fachkompetenz und fachdidaktische Kompetenz. x Lehrer verfügen über ausgeprägte Methodenkompetenz und differenzierte Fähigkeiten der Leistungsbeurteilung und -förderung. x Lehrer sind reflektierende Praxisexperten, die aus Erfahrung und Forschung regelmäßig ihre Expertise selbst lernend erweitern. x Lehrer sind Mitglieder lernender Gemeinschaften, die mit Eltern und Mitgliedern ihrer Kommunen kollaborieren und aktiv um die Entwicklung ihrer Schulen bemüht sind. Die um diese professionellen Standards aggregierten und in einer Vielzahl der amerikanischen Bundesstaaten in unterschiedlichen Formen der Akkreditierung evaluierten (Teil-)Standards und Kompetenzbereiche erscheinen in hohem Maße geeignet, ein praxisadäquates Leitbild professionalisierter Lehrertätigkeit abzugeben. Leitend ist dabei „eine realistische Perspektive hinsichtlich der Möglichkeiten des Lehrerberufs sowie ein konsequenter Pragmatismus bei der Neugestaltung der Lehrerbildung“ (TERHART 2000, S.9f.).
270
LEE S. SHULMAN, der diese Richtung der amerikanischen Professionsdebatte maßgeblich mitbestimmt hat, hat die von mir hier als quasi konvergent charakterisierten Modelle auch in ein allgemein gültiges Professionsmodell eingeordnet: „All professions are characterized by the following attributes: the obligations of service to others, as in a ‚calling’; understanding of a scholary or theoretical kind; a domain of skilled performance or practice; the exercise of judgment under conditions of unavoidable uncertainty; the need for learning from experience as theory and practice interact; and a professional community to monitor quality and aggregate (SHULMAN 1998, S.516)
knowledge.”
Um die Komplexität guter, d.h. gelingender und wirksamer, Praxis in Schule und Unterricht auf der Anspruchsebene professioneller Tätigkeit erfolgreich bewältigen zu können, bedarf es des Zusammenspiels von Ethos und Kompetenz (vgl. NODDINGS 1999, 2002). Dieses bildet sich nicht allein aus Wissen heraus aus, sondern entfaltet sich immer erst über die Verarbeitung von Erfahrung. Die professionelle Kompetenz des ‚Teaching-in-Context‘ (vgl. SCHOENFELD 1998) verlangt den Aufbau und Erwerb von Mustern oder Schemata der Handlungsorientierung, „die ihren eigenen Wert haben und die man weder als Routinen schlecht reden darf noch als Wissen unterkomplex bestimmen sollte“ (TENORTH 2006, S.590). Erst die Relationierung unterschiedlicher Formen von Wissen und Können führt zur ‚Weisheit der Praxis‘ des Experten (vgl. SHULMAN 2006). Kompetenzen müssen im Hinblick auf das Gesamtgefüge professioneller Basisaufgaben beschrieben werden: „für Unterricht und die Organisation von Lerngelegenheiten, für die Diagnose und Beurteilung von Leistungen der Lernenden (und das setzt nicht nur psychologische Diagnostik, sondern auch Fachkompetenz voraus, z.B. die Konstruktion guter Aufgaben), die Fähigkeit zur kollegialen Arbeit und zur Entwicklung der Schule als System, die Wahrnehmung der Möglichkeiten, mit anderen Experten im Feld zu kommunizieren, also zu wissen, was jenseits der eigenen Kompetenz und des Kerngeschäfts liegt“ (TENORTH 2006, 592). Nur so entgeht man der „in der Standard- und in der Professionalisierungs-Debatte oft bewusst vorgenommenen Ausblendung aller nicht planbaren und nicht rationalen Determinanten des Handelns“ (MAYR 2006, S.161). Ein zentraler Aspekt professioneller Handlungskompetenz ist nicht technischer Natur, sondern auf Fallverstehen in der jeweiligen Handlungssituation angewiesen (vgl. WAHL 1991; BROMME 2004). Gleichwohl ist der Mainstream des deutschen wie des internationalen Diskurses zur Lehrerbildung in den Bildungswissenschaften ebenso wie in der Bildungspolitik schwerpunktmäßig kompetenz- und standardorientiert. Diese Tatsache wird besonders an dem die Diskussionslage in voller Breite 271
integrierenden Entwurf eines heuristischen Modells professioneller Handlungskompetenz deutlich, wie es von JÜRGEN BAUMERT und MAREIKE KUNTER ausgearbeitet worden ist (vgl. BAUMERT/KUNTER 2006). Zwar beziehen beide die Fülle der Literatur zur Spezifität des ‚reflective practitioner‘ ausdrücklich mit ein (vgl. hierzu: SCHÖN 1983). Im Kern aber konzentrieren sie sich auf die direkte Kompatibilität ihres Modells mit der von FRANZ EMANUEL WEINERT in seiner OECD-Expertise entwickelten Konzeption einer allgemeinen psychologischen Handlungskompetenz: „The theoretical construct of action competence comprehensively combines those intellectual abilities, content-specific knowledge, cognitive skills, domain-specific strategies, routines and subroutines, motivational tendencies, volitional control systems, personal value orientations, and social behaviors into a complex system. Together, this system specifies the prerequisites required to fulfill the demands of a particular professional position (…)” (WEINERT 2001, S.51). Für die Lehrerbildung hat dies zur Konsequenz, dass alle Formen kognitiver Repräsentation bzw. Repräsentationsmöglichkeiten in den Vordergrund des Interesses theoretischer Modellierung und empirischer Überprüfung gerückt werden. Die von SHULMAN seit 1986 in verschiedenen Arbeiten entwickelte Typologie professioneller Wissensformen bildet dabei einen zentralen Bezugspunkt. SHULMAN unterscheidet auf der ersten Ebene allgemeines pädagogisches Wissen (general pedagogical knowledge), Fachwissen (subject-matter content knowledge), fachdidaktisches Wissen (pedagogical content knowledge) und Wissen über das Fachcurriculum (curriculum knowledge). Diese Wissenstopologie erweitert er auf der zweiten Ebene um die Bereiche Psychologie des Lernens (knowledge of learners), Organisationswissen (knowledge of educational context) sowie erziehungsphilosophisches, bildungstheoretisches und bildungshistorisches Wissen (vgl. SHULMAN 1987). Diese Kernkompetenzbereiche sind in der Folgezeit ergänzt worden um die Facetten des Organisationswissens und Beratungswissens, auf das Professionelle in der Kommunikation mit Laien angewiesen sind (vgl. FRIED 2002; BROMME/RAMBOW 2001). Auf dieser Grundlage generieren BAUMERT und KUNTER das in Abbildung 1 grafisch aufbereitete Modell professioneller Handlungskompetenz und der ihm zugeordneten Wissensformen: Auf der Basis der aktuellen Forschungslage, insbesondere in der Expertiseforschung, lassen sich die Wissenstypen und ihre mentalen Repräsentationsformen in die folgenden Dimensionen weiter aufgliedern (vgl. BAUMERT/ KUNTER 2006, S.483):
272
Abbildung 1:
Modell der professionellen Handlungskompetenz und des Professionswissens von Lehrerinnen und Lehrern (vgl. BAUMERT/KUNTER 2006, S.482):
Motivationale Orientierungen Überzeugungen/ Werthaltungen Professionswissen
Wissens bereiche (Wissen u. Können)
Pädagogisches Wissen
Fachwissen
Selbstregulative Fähigkeiten
Fachdidakt. Wissen
Organisationswissen
Beratungswissen
Wissens facetten
x x x
x x
Professionelles Wissen ist domänenspezifisch und ausbildungs- bzw. trainingsabhängig. Expertenwissen ist sehr gut vernetzt und hierarchisch organisiert. In professionellen Domänen ist Expertenwissen um Schlüsselkonzepte und eine begrenzte Zahl von Ereignisschemata arrangiert, an die Einzelfälle, episodische Einheiten oder Sequenzen von Episoden (Skripts) angedockt sind. Professionelles Expertenwissen integriert Kontexte und erlaubt variantenreicheres ‚opportunistisches Verhalten‘. Basisprozeduren sind automatisiert, aber gleichwohl flexibel an die spezifischen Bedingungen des Einzelfalles und des Kontextes adaptierbar (vgl. HATANO/INAGAKI 1986).
273
2
Professionelle Handlungskompetenz von Lehrern aus der Sicht der analytischen Handlungstheorie und der Systemtheorie
Die in der vorangehenden Typologie als konstitutiv für professionelles Lehrerhandeln aufgeführten Dimensionen sind offensichtlich kognitionspsychologisch rekonstruiert, um das Theorie-Praxis-Problem als Wissen-Können-Problem theoretisch explizieren zu können. ‚Praxis‘ ist nach diesem Paradigma ein Sammelbegriff für Prozeduren des Wahrnehmens, Beurteilens, Denkens bzw. Reflektierens im Kontext konkreter Aktivität, die ihre Grundlage in bestimmten Dispositionen haben. ‚Theorie‘, vor allem in Gestalt formal-akademischen Wissens, fungiert als Sammelbezeichnung für alle Sprachformen, insbesondere die mental propositional repräsentierten und in semantischen Netzwerken beschriebenen, die als potenzielle Steuerungsinstrumente oder Instruktionen für diese Prozeduren Anwendung finden. Es wird konzediert, dass weite Bereiche des Lehrerhandels, vor allem, wenn es um kommunikatives Handeln im Kontext der Schulklasse oder der Schule geht, auf praktischem Wissen und Können (knowledge in action) beruhen. Erfahrungsbasiert, auf konkrete Situationen bezogen, manifestiert sich dieses Wissen als Können des Experten. Aus kognitionspsychologischer Sicht bleibt dieses Wissen im schnellen Handlungsvollzug i.d.R. zwar implizit, im praktischen Diskurs aber prinzipiell „durch die Urteilskraft des professionell Lehrenden rechtsfertigungsfähig“ (BAUMERT/ KUNTER 2006, S.483). Damit wird grundsätzlich auf ein Modell von Handlungsrationalität rekurriert, das der für das Handlungsfeld der pädagogischer Praxis immer wieder konstatierten „Nicht-Algorithmizität“ nur eingeschränkt gerecht werden dürfte (TERHART 2000, S.88). Nach diesem kognitionstheoretischen Modell droht Handeln tendenziell zur abhängigen Größe einer im Prinzip bestimmbaren und an wissenschaftliche Theorien grundsätzlich anschlussfähigen Wissensbasis reduziert zu werden. Vor allem GEORG HANS NEUWEG hat deswegen einen Paradigmenwechsel zur Erfassung der Funktionsweise des impliziten Wissens im Handeln von Lehrerinnen und Lehrern angemahnt. Er argumentiert im Rückgriff auf den ‚tacit knowing approach‘, der seine philosophischen Grundlagen aus GILBERT RYLEs analytischer Handlungstheorie und der um das tacit-knowing-Konzept zentrierten Erkenntnis- und Wissenstheorie MICHAEL POLANYIs bezieht. Beide stellen das Konstrukt eines handlungsleitenden Wissens gewissermaßen ‚hinter‘ dem Können grundsätzlich in Frage (vgl. NEUWEG 2001, 2002). Die analytische Handlungstheorie nimmt konsequent Abschied vom kognitionstheoretischen Deliberationsmodell und schlägt stattdessen vor, „Intelligenzzuschreibungen an Verhalten ausschließlich an (wiederholt demonstrierte) Ausführungsqualitäten zu binden, nicht an mentale Vorläufer- oder Begleitakte. Intelligent ist Verhalten 274
dann, wenn es als zielgerichtet, planvoll, wissensgeleitet, erfolgreich beschrieben werden kann – und zwar ganz unabhängig davon, ob sich vor oder neben ihm Prozesse des Zielbildens, des Planens, oder des Erinnerns von Wissen abspielen“ (NEUWEG 2002, S.11f.). Die ‚Grammatik‘ intuitiv improvisierenden Handelns als Normalfall expertenmäßigen Könnens lässt sich vergleichen mit der von JÜRGEN FRESE geprägten Figur des ‚Sprechens als Metapher für Handeln‘ vergleichen. „Denn Sprechen lässt sich weder als Ausdruck zaudernden Deliberierens fassen noch als unflexibles, geistloses Verhalten, ist vielmehr selbst Denken und nicht seine Wirkung“ (NEUWEG 2002, S.12). Nach der Programmatik der Kognitionspsychologie wird intelligentes Verhalten, wie es sich im Können des Experten äußert, instrumentalistisch auf Schemata, Ziel- Bedingungen, Maßnahme-Einheiten, Produktionsregeln, mentalen Landkarten u.ä. abgebildet, gleichsam als interpretierende Wissenszuschreibung durch eine dritte Person. Der Könner hingegen ist nicht in der Lage, bzw. muss zumindest nicht in der Lage sein, sein Urteilen und Handeln in der Matrix von Regeln abzubilden. „In einer instrumentalistischen Interpretation dienen Explikationen der ‚Wissensbasis‘ nur der Verhaltensbeschreibung, -erklärung und -vorhersage durch die dritte Person; die einzige objektive Existenzform dieses Wissens ist aber das Handeln selbst“ (ebd., S.14). Man muss bei der Interpretation handlungsleitenden Wissens den Kategorienfehler beachten, der darin liegt, dass propositionale Formulierungen immer instrumentalistische Konstruktionen sind, die nicht ohne weiteres realistisch interpretiert werden dürfen. Dieses Problem macht NEUWEG am Beispiel des Radfahrens deutlich: „Obwohl Radfahrer keine Regeln erinnern müssen, um ihr Gleichgewicht zu halten, kann der Physiker die von ihnen befolgten Regeln explizieren: Sie halten das Gleichgewicht, indem sie jeden auftretenden Neigungswinkel kompensieren durch eine Lenkbewegung in die Richtung des Ungleichgewichts, wobei der Radius der damit beschriebenen Kurve dem Quadrat der Geschwindigkeit dividiert durch den Neigungswinkel entspricht. Niemand würde aber behaupten wollen, der Radfahrer habe diese Regel unbewusst im Kopf und man müsse sie einem Anfänger vermitteln, damit dieser sie dann ‚prozedualisieren‘ könne. Es ist klar, dass diese Regel keinerlei psychologische Qualität besitzt – so wie auch niemand behaupten würde, dass Planeten die newtonschen Gesetze berechnen, wenn sie um die Sonne kreisen (auch wenn sie ihnen sicher folgen)“ (NEUWEG 2002, 15).
Nach dem tacit-knowing-approach ist Experten-Können eher als Kunst und implizites Wissen denn als nicht formalisierbares Wissen fassbar. „Das TheoriePraxis-Problem ist in dieser Perspektive kein Theorie-Theorie-Problem, es ist ein Problem der Transformation von Wissen in Können und umgekehrt“ (ebd., S.17). Deswegen muss in der Lehrerbildung „ein Lernen in Expertenkulturen und insbesondere in Meister-Lehrling-Beziehungen“ konstitutiver Bestandteil sein, wie sie z.B. der Ansatz einer ‚cognitive apprenticeship‘ oder das Verfahren 275
einer ‚kommunikativen Praxisbewältigung in Gruppen‘ bieten (vgl. SCHÖN 1987, WAHL 1991, S.187ff.). Mit dem systemtheoretisch inspirierten Plädoyer, das pädagogische Professionswissen in das Zentrum der Lehrerbildungskommunikation zu rücken, kommt LILIAN FRIED im Ergebnis zu ähnlichen Schlussfolgerungen hinsichtlich der Reform der Lehrerbildung wie NEUWEG (vgl. FRIED 2003). Ihr konzeptioneller Rahmen für die Analyse der Funktion impliziten Wissenschaftswissens ist allerdings eher im kognitionspsychologischen Modellrahmen angesiedelt als im Kontext der Radikalität des tacit-knowing-approach. Auch nach ihrem Ansatz bietet Wissenschaftswissen keine unmittelbaren Steuerungsgrundlagen für unterrichtliches Handeln. Denn das unter dem Wahrheitspostulat generierte Wissen versagt unter „der besonderen Aufforderung, … Situationsdeutungen, wenn nicht Handlungsanleitungen zu vermitteln, weil es kein situationsreifes Kennen und Können für die Praxis abzuwerfen“ vermag (LUHMANN/SCHORR 1981, S.7ff.). Die Zentralperspektive der Erforschung pädagogischen Professionswissen sollten deswegen „situationssensitive Heuristiken“ bilden, in denen das „Kopplungswissen“, wie es aus dem den Experten verfügbarem multidimensionalen Konglomerat unterschiedlicher Wissensformen emergiert, nutzbar gemacht wird. In der ‚Handlungsgrammatik‘ des Kopplungswissens sind nach FRIED das Technologie- und das Interaktionswissen von besonderer Bedeutung, weil beide, in unterschiedlichen Systemen generiert und durch unterschiedliche Eigenschaften charakterisiert, insbesondere in der Form interaktionsrelevanten Kopplungswissens, die „Weisheit“ des Experten-Lehrers in typischer Weise zu strukturieren scheinen. „Insofern stellt das interaktionale Kopplungswissen von pädagogischen Professionellen eine Art Spiegel dar, in dem die an der Lehrerbildung beteiligten Systeme nachvollziehen können, wieweit ihr Wissen für die Berufsausübung fruchtbar gemacht werden kann. Nicht zuletzt könnte das Wissenschaftssystem in diesem Spiegel studieren, welche seiner Wissensangebote überhaupt koppelungsfähig sind und welche nicht“ (FRIED 2003, S.115). In einer von FRIED durchgeführten Explorationsstudie bei Lehrerinnen und Lehrern sowie Schulleiterinnen und Schulleitern verschiedener Schularten zu deren Präferenzen von Angeboten für die Lehrfortbildung zielen die meisten Wünsche darauf, mehr Wissen im Sinne von Kopplungswissen darüber zu erhalten, „wie man sich welcher Wissensbestände bedient, um – idealtypisch gedachte – Situationen des Berufs gut bewältigen zu können.“ Dabei steht Technologiewissen im Vordergrund. Daneben wollen sich die Befragten „durchaus auch mit selbst produziertem Kopplungswissen, also Interaktionswissen, beschäftigen“ (ebd. S.117). Z.B. möchte man „Beratungskonzepte an Fallbeispielen erproben“ (ebd., S.121). Insgesamt zeigte sich, „dass pädagogische Professionelle insbesondere an Kopplungswissen interessiert sind. Dabei stehen 276
ihnen grundsätzlich zwei Formen zur Verfügung, nämlich das im Wissenschaftssystem produzierte und in der Lehrerbildung vermittelte Technologiewissen und das in der Praxis generierte und in der Lehrerbildung weitgehend ausgegrenzte Interaktionswissen“ (ebd., S.124). Dieses Ergebnis entspricht in mehrfacher Hinsicht den Überlegungen HEINZ-ELMAR TENORTHs zur Relevanz von Technologiewissen. Diese hat er unter dem Stichwort „Pädagogik als paradoxe Technologie“ subsumiert (TENORTH 2006, S.587ff.). Pädagogische Experten wünschen sich ein beschreibbares Handlungsrepertoire, das die, wie ANNEDORE PRENGEL sie nennt, ‚Herstellung guter Ordnung‘ in Unterricht und Schule ermöglicht, „die prozessfähig macht, die ergebnisbezogene Arbeit ermöglicht, die es erlaubt, die Lerngeschichten zu konstruieren, die jede Lerngruppe für sich aufbaut, ohne den Kontakt zu den allgemeinen Zielen zu verlieren.“ Dies geschieht in einer „spezifischen Steuerungstechnik“, die „eher reaktiv als interventionsorientiert“ abläuft, jedenfalls so, dass die Beweislast für die Strukturierung der Prozesse nicht allein oder primär auf Personen, gar allein auf den lehrenden Akteur, abgeladen wird, sondern die Vorzüge der Organisation genutzt werden, z.B. Sozialformen oder die Struktur von Aufgaben“ (ebd., S.588). 3
Konsequenzen für den institutionellen Aufbau der Lehrerbildung
Die dargestellten Diskussionsansätze stimmen in der erklärten Absicht überein, dass die Exploration des Verhältnisses von pädagogischem Professionswissen und pädagogischer Professionalität weit stärker als bisher in das Zentrum der Reformdebatte, vor allem der bildungswissenschaftlichen Forschung treten sollte (vgl. FRIED 2003, S.124). Weitgehende Übereinstimmung gibt es auch hinsichtlich der Folgerung, Lehrerbildung „als eine übergreifende berufsbiografische Aufgabe zu betrachten“ (TERHART 2000, S.20). Für die Ausbildung an der Universität bedeutet dies, insbesondere in dem in der Bundesrepublik Deutschland etablierten System der dreiphasigen Lehrerbildung, Abschied zu nehmen von „einer szientistischen Allmachtsphantasie, die Gefahr läuft, den Kunstfertigkeitscharakter von Lehrerexpertise zu verkennen“ (NEUWEG 2002, S.20). Die Universität kann nicht vorwegnehmen, was nur langfristige Berufserfahrung leisten kann. Die akademische (Erst-)Ausbildung verliert deswegen aber keineswegs an Bedeutung. Denn das expertentypische handlungsleitende implizite Wissen erschöpft sich nicht im „know how“, sondern dürfte „in hohem Maße theorieimprägniert“, also auch von explizit angeeignetem (wissenschaftlichem) Wissen geprägt sein (vgl. NEUWEG 2002, S.22). Diese Tatsache wird relevant vor allem an den 277
Grenzen, an denen der Normalrahmen der Situationsbewältigung gesprengt wird. „In den dann einsetzenden Reflexionsprozessen ist Wissenschaftswissen bedeutsam als Generator von Alternativen zu den subjektiven Theorien, zu denen der Experte qua Reflexion vorstößt. Implizites Wissen nämlich ist immer auch implizites Vorurteil, implizite Ignoranz und implizite Blindheit“ (ebd.). Der für die Universität typische wissenschaftliche Denkstil, die Praxis der Wahrheitssuche, des präzisen Denkens und Argumentierens, die durch akademisches Wissen eröffnete bildungstheoretische Reflexion erst schaffen die Voraussetzungen für den Blick über den Tellerrand der Klassenzimmer- und Schulerfahrung hinaus. Die besondere Chance hochschulischer Ausbildung liegt also im Aufbau reflexiver Kompetenz, „weil diese immer ein Stück weit auch und gerade in Distanz zur Praxis erworben werden muss“ (ebd., S.23). Wenn heute weithin von der Voraussetzung ausgegangen wird, dass professionelles Lehrerhandeln wesentlich gesteuert wird durch Professionswissen als implizites Wissen, wäre grundsätzlich denkbar, dass die universitäre Ausbildung, basiert auf „eine[r] Explizitdefinition der Begriffe oder Schemata des Experten“ (NEUWEG 2002, S.18), im Sinne flächendeckender Fallstudiencurricula im Sinne eines Projektstudiums reformiert werden könnte. FRED A. J. KORTHAGEN und JOS KESSELS haben im Rückgriff auf die Gestalttheorie an der Universität Utrecht in den Niederlanden für die Lehrerbildung ein entsprechendes Curriculum entwickelt und berichten auch über hervorragende Evaluationsergebnisse (vgl. KORTHAGEN/KESSELS 1999). Allerdings ist mir nicht bekannt, dass dieses Modell andernorts ausdrücklich aufgegriffen oder adaptiert worden wäre. Die Vor- und Nachteile einer solchen Lösung bedürften in jedem Falle sorgfältiger Prüfung, insbesondere im Hinblick auf die Leistungsfähigkeit und Beharrungskraft des fachdisziplinär organisierten Wissenschaftssystems. Insofern erscheint es realistischer, den jeweils in langer Tradition gewachsenen nationalen Modellen der Lehrerbildung den Vorzug zu geben, wie es z.B. in der Bundesrepublik Deutschland diskursleitend vor allem von TERHART in den unter seiner Federführung für die Kultusministerkonferenz der Bundesländer zusammengestellten Expertisen geschehen ist (vgl. TERHART 2000, 2002). Dieses hätte den gewichtigen Vorteil, dass diese Modellierung direkt anschließt an die curricularen Komponenten der Lehrerbildung, wie sie international in allen Ländern in der einen oder anderen Weise unterschieden werden (Unterrichtsfächer, Didaktik der Fächer, Pädagogik/Erziehungswissenschaft und praktische Schulstudien sowie Schul- und Unterrichtsentwicklung) und eine berufsbiographische Perspektive der Kompetenzentwicklung vorsehen. Nach diesem Modell ist professionelles Wissen, vor allem Können (knowledge in action) weniger ein Thema der universitären Erstausbildung als vielmehr ein Entwicklungsziel, das in voller Entfaltung erst in den nachfolgenden Berufs278
phasen, einem Referendariat (wie in der Bundesrepublik Deutschland), einer Novizenphase und durch kontinuierliche Lehrerfortbildung erreicht wird (vgl. BAUMERT/KUNTER 2006, S.479). Wesentliche Elemente für eine erfolgreiche Umsetzung des Modells lägen in der Etablierung einer Lernkultur der ‚cognitive apprenticeship‘, z.B. durch die Bereitstellung von Coaches und die gemeinsame Reflexion von Erfahrung in kleinen, kollegialen Gruppen. „Wenn die These von der fallartig-holistischen Wissensrepräsentation erfahrener Lehrer richtig ist, dann muss es vor allem [in der Lehrerfortbildung; K.N.] darum gehen, unmittelbar an berufspraktischen Fällen der Teilnehmer zu arbeiten, Übergeneralisierungen von Erfahrungen aufzubrechen und ein hinreichend differenziertes Fallrepertoire zu entwickeln“ (NEUWEG 2002, S.26). Die Neukonzeption der BA- und MA-Studiengänge der Joint Graduate School der Universitäten Hyogo, Joetsu, Naruto und Okayama, insbesondere der Universität Hyogo für ein ‚concurrent curriculum‘ dürfte vor diesem Hintergrund eine geeignete Basis für eine ergiebige komparative Reformdiskussion bieten. Für die universitäre Ausbildung bleibt abschließend darauf hinzuweisen, dass die Hochschuldidaktik in aller Regel die bereitstehenden Möglichkeiten einer kompetenztheoretischen Orientierung am Aufbau eines professionellen Wissens und Könnens bei weitem noch nicht ausgeschöpft hat. Im Rahmen des viel beschworenen ‚Shift from Teaching to Learning‘ muss dafür Sorge getragen werden, dass sich die Aufnahme von Wissen in und mit den Lernenden, nicht bloß an den Lernenden vollzieht (vgl. KOCH-PRIEWE/KOLBE/WILDT 2004). Die hochschulische Didaktik ist selbst eine Praxis, der Hochschullehrende ist selber ein Modell, an dem unvermeidlich gelernt wird (vgl. NEUMANN 2006). Literaturverzeichnis ALLEMANN-GHIONDA, CRISTINA/TERHART, EWALD (Hrsg.) (2006): Kompetenzen und Kompetenzentwicklung von Lehrerinnen und Lehrern. Ausbildung und Beruf. Weinheim [u.a.]: Beltz. (ZfPäd. Beiheft; 51) BAUMERT, JÜRGEN (2002): Deutschland im internationalen Bildungsvergleich. In: KILIUS, NELSON/KLUGE, JÜRGEN/REISCH, LINDA (Hrsg.): Die Zukunft der Bildung. Frankfurt/Main: Suhrkamp, S.100-150 BAUMERT, JÜRGEN/KUNTER, MAREIKE (2006): Stichwort: Professionelle Kompetenz von Lehrkräften. In: Zeitschrift für Erziehungswissenschaft 9(4), S.469-520 BAUMERT, JÜRGEN/LEHMANN, RAINER H./LEHRKE, MANFRED (1997): TIMSS – Mathematischnaturwissenschaftlicher Unterricht im internationalen Bereich. Deskriptive Befunde. Opladen: Leske + Budrich BAUMERT, JÜRGEN et al. (Hrsg.) (2001): PISA 2000. Basiskompetenzen von Schülerinnen und Schülern im internationalen Vergleich. Opladen: Leske + Budrich
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Subjektorientierte (offene) Kinder- und Jugendarbeit als Bildungsarbeit. Möglichkeiten und Grenzen allgemeinpädagogischer Reflexions- und Begründungsformen außerschulischer Bildungsarbeit Michael Bosselmann / Hannah Denker
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Einleitung
Derzeit wird Bildung häufig politisch unter dem Gesichtspunkt der Ausschöpfung von Humanressourcen diskutiert, nicht aber als Selbstbildungsprozess oder als zentrale Grunddimension einer demokratischen Gesellschaft (vgl. SCHERR 2003, 2008). Offene Kinder- und Jugendarbeit bzw. außerschulische Bildungsarbeit kann auf Grund ihrer Prinzipien (Freiwilligkeit, Selbstorganisation, Unterstellung von Selbstbildsamkeit) als eine der prädestinierten Formen für emanzipatorische Kinder- und Jugendbildung Geltung beanspruchen. Diese Aussage gilt, sofern sie sich auf ein Bildungsverständnis einigt, das von zwei Extrempolen Abstand hält: Es darf weder auf eine individual-personalistische Engführung fixiert bleiben noch als bildungsökonomische Spielwiese eines kognitiv-kompetenzorientierten Schulsystems missverstanden werden (vgl. MERTEN 2008, S.42). Um beide Extreme zu vermeiden, ist es nach wie vor sinnvoll, sich auf ein allgemeinpädagogisches Verständnis von Bildung zu besinnen, das beim Bildungssubjekt und den bildenden Momenten in einer Erziehungsbeziehung ansetzt (vgl. UHLE 2003, 2009). Allerdings muss der Bildungsbegriff zwischen diesen Polen auch weit genug ausgelegt werden. Nur so können die chaotischen Bildungsmomente der Subjekte berücksichtigt werden. Andererseits muss der Bildungsbegriff aber auch konkret genug gefasst werden. Nur so kann er, über ein gelingendes Mischungsverhältnis von qualitativen und quantitativen Methoden, durch erziehungswissenschaftliche Forschung zur Abbildung gebracht werden (vgl. BOCK 2008). Mit diesen Eingrenzungen ist das Ziel des vorliegenden Artikels umrissen: Es sollen ein emanzipatorisch-subjektorientiertes Bildungsverständnis auf der Basis von Theorietraditionen der Allgemeinen Pädagogik entwickelt und erste
Überlegungen zu seiner qualitativen Darstellung skizziert werden. Ausgegangen wird dabei von der These, dass die Grundstrukturen spezieller Pädagogiken – wie beispielsweise der offenen Kinder- und Jugendarbeit – mit Hilfe einer Konkretisierung des Bildungsbegriffs, der durch die Allgemeine Pädagogik grundgelegt wird, trennscharf profiliert werden können. Darauf Bezug nehmend, soll abschließend zur Klärung der Grundstrukturen und Eigenständigkeit der offenen Kinder- und Jugendarbeit als spezieller Pädagogik die aktuelle Situation der hochschulischen Qualifikation für diesen Bereich erörtert werden. Dieses geschieht deshalb, weil die optionale Reichweite eines eigenständigen Bildungsverständnisses bzw. -begriffes immer auch zentral durch die konkreten Rahmenbedingungen der bildungswissenschaftlichen Studienmöglichkeiten bestimmt ist (vgl. THOLE 2005; THOLE/WEGENER/KÜSTER 2005). Der vorliegende Artikel nähert sich diesen Zielen im Kontext einer Begriffsbestimmung von ‚Bildung‘ im allgemein-pädagogischen Diskurs (2) und präzisiert bzw. konkretisiert dieses Bildungsverständnis für die offene Kinderund Jugendarbeit (3). Schließlich wird diese bildungstheoretische und bildungspraktische Suchbewegung in einem Arbeitsauftrag für und mit der allgemeinen Pädagogik zusammengeführt (4). Mit diesem Abschluss wird – metaphorisch gesprochen – versucht, den Bildungsbegriff in der erziehungswissenschaftlichen Landschaft neu zu vermessen. 2
Bildung im allgemein-pädagogischen Diskurs
Aktuell steht das Bildungssystem auf der Tagesordnung der erziehungswissenschaftlichen und vor allem politischen Debatten. Solches geschieht nicht zum ersten Mal, dieses Mal aber mit neuen Grundfragen. Die internationalen PISAStudien und die bundesinternen Ländervergleichsstudien PISA-E haben das ‚Land der Dichter und Denker‘ schwer verunsichert (vgl. THOLE/LINDNER/ WEBER 2003, S.7; RAUSCHENBACH /OTTO 2008, S.9; SCHERR 2003, S.90). WERNER THOLE konstatiert: „Kaum noch eine Debatte scheint ohne die Hinweise auf die PISA-Studie auszukommen“ (vgl. THOLE /LINDNER /WEBER 2003, S.7). Allerdings weist ALBERT SCHERR nachdrücklich – und zu Recht – darauf hin, dass ‚Bildung‘ in dieser Art öffentlicher Debatten wiederkehrend unter dem Gesichtspunkt der „Ausschöpfung der Humanressourcen“ (SCHERR 2003, S.94) bzw. in Verbindung mit bildungsökonomisch konturierten Diskursen thematisiert wird (vgl. SCHERR 2008, S.168). Die Debatten um die Beschäftigungsfähigkeit dehnen sich über Begriffe wie ‚Schlüsselqualifikationen‘ in Bereiche aus, die traditionell eher der Persönlichkeitsbildung zugeordnet wurden (vgl. SCHERR 2003, S.95). Der Schule wird – so scheint es – nicht mehr zugetraut, arbeits284
marktrelevante Qualifikationen wie Kooperations- und Kommunikationsfähigkeit, Eigeninitiative und selbstverantwortetes Lernen hinreichend zu fördern. „Anstrengungen zur Ausschöpfung der Humanressourcen sollen, polemisch formuliert, nicht erst mit dem Eintritt in die Schule ansetzen und auch nicht mit dem Ende des Unterrichts eingestellt werden“ (SCHERR 2003, S.96). Insbesondere jenes – vermeintliche oder tatsächliche – Nicht-Können, Inkompetent-Sein, Versagen des Bildungssystems vor den Forderungen lebenslangen, selbstverantworteten Lernens von Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen wird in den politischen Debatten im Anschluss an PISA wie ein Mantra wiederholt. Die offene Kinder- und Jugendarbeit hingegen hat genau umgekehrt von jeher die Aufgabe, das in den Blick zu nehmen, was junge Menschen können, worin sie kompetent sind, vor allem, was sie wollen – nicht aber das, was alles nicht funktioniert (vgl. BOCK 2008, S.104; STURZENHECKER 2008, S.148). Im Hinblick auf die offene Kinder- und Jugendarbeit wird deshalb der Fokus weniger auf das Gesamtergebnis von PISA, TIMSS und anderen Lernstanduntersuchungen gerichtet. Vielmehr findet Beachtung, dass das deutsche Schulsystem die Leistungsunterschiede zwischen Kindern/Jugendlichen nicht nur nicht reduziert, sondern eher noch verstärkt, und dass die Möglichkeit, das Herkunftsmilieu über einen sozialen Aufstieg via formale Abschlüsse zu verlassen, als sehr begrenzt betrachtet werden muss (vgl. UHLE 2008, S.48; MERTEN 2008, S.50, RAUSCHENBACH/OTTO 2008, S.12). Es scheint daher naheliegend, die empirisch nachweisbaren zunehmenden schichtspezifischen Differenzen in außerschulischen Bedingungen zu suchen (vgl. RAUSCHENBACH/OTTO 2008, S.16). Wenn die schulexternen Sozialräume von Kindern und Jugendlichen im Hinblick auf deren Bildungsprozesse keine Bedeutung hätten, dann könnte die unterrichtsunabhängige Variable ‚soziale Herkunft‘ keinen so fortwährenden Einfluss auf die Leistungsunterschiede zeitigen (vgl. ebd., S.17). Aus den internationalen Forschungs- und Diskussionsergebnissen lässt sich insgesamt ableiten, dass informelle Bildungsräume, die sich aus Familie, Nachbarschaft, Arbeit und Freizeit ergeben können, wichtiger als bisher angenommen sind (vgl. SCHERR 2003, S.91). Es muss zumindest theoretisch in Betracht gezogen werden, dass neben Schule und Familie noch andere externe Faktoren „als Verstärker von positiven oder negativen Bildungsverläufen wirken können“ (RAUSCHENBACH /OTTO 2008, S.17). Vor diesem Hintergrund kommt ROLAND MERTEN zu dem Ergebnis, dass der verkürzende und verkürzte Blick auf ‚Bildung‘ als ‚Schulbildung‘ aufgebrochen werden und der Blick für außerschulische Bildungskontexte geschärft werden muss (vgl. MERTEN 2008, S.56). Man kann kritisch feststellen, dass das formale Bildungswesen in Deutschland nicht in der Lage zu sein scheint, Bildung als eigensinnigen Prozess einer individuellen Lebensführung 285
sowie als gelingendes Hineinwachsen in eine (eigene) Kultur und Gemeinschaft zu begleiten (vgl. MÜLLER 2003, S.237). SCHERR konnotiert die derzeitige Bildungsdebatte noch eine Spur schärfer, wenn er den permanenten Verweis auf die „Wissens- und Informationsgesellschaft“ in einer globalisierten Gesellschaft als nahezu bildungsfeindlich brandmarkt, denn es wird „kaum über den Bildungsbedarf einer demokratischen Gesellschaft diskutiert“. Er verweist auf die „Erosionsprozesse der Demokratie“ (ebd.), deren Bedrohung er vorwiegend in autoritären Entwicklungen vermutet (vgl. SCHERR 2008, S.168f.). „Auch die PISA-Studien interessieren sich für die Lesekompetenz, die mathematischen und naturwissenschaftliche, nicht aber für die politische und menschenrechtliche Grundbildung von SchülerInnen“ (SCHERR 2008, S.172). Selbstverständlich ist das Verstehen von Texten – auch solchen politischer Natur – eine notwendige, aber eben doch noch keine hinreichende Bedingung von politischer Meinungsbildung. Noch in der erziehungswissenschaftlichen Diskussion der 1990er Jahre ist der Bildungsbegriff als Grundbegriff diskutiert und nicht auf seine Qualifizierungs-, Disziplinierungs- und Selektionsfunktionen reduziert worden (vgl. SCHERR 2003, S.90). Ein Problem der aktuellen Thematisierung von ‚Bildung‘ in einem formalisierten Bildungssystem liegt demgegenüber darin, dass eine Verkürzung der Operationalisierung von ‚Bildung‘ auf eine Gleichung ‚Bildung = formaler Abschluss‘ Bildungsprozesse in gesellschaftliche Zwangsprozesse umzuwandeln vermag. Diese können als Mittel zum Zweck und zur Selbstdarstellung missbraucht und dadurch für gesellschaftliche Anpassungsprozesse genutzt werden, ohne dass sie zur Selbstentfaltung oder gar zur Selbstbildung führen (vgl. MÜLLER 2003, S.236). DETLEF GAUS und REINHARD UHLE verdeutlichen diesen Unterschied zwischen Bildung als Zwangsbildung und Bildung als selbstreferenziellem Akt mit der Metapher eines Gastessens: Bildung verstanden als Selbstbildung muss ein Angebot sein – wie ein gutdurchdachtes geselliges Gastmahl –, wohingegen Bildung als Zwang eher vergleichbar mit der Zwangsernährung von Anorektikern ist (vgl. GAUS/UHLE 2009, S.23f.). Daher ist THOLE in seiner Forderung zu unterstützen, dass der Bildungsbegriff – im Kontext von Kinder- und Jugendarbeit – von zweckrationalen Färbungen und Implikationen zu reinigen sei (vgl. THOLE 2003, S.252). Der derzeitige Hauptvorwurf an den bildungspraktischen Diskurs ist eben diese Engführung des Bildungsbegriffs auf die Institution Schule (vgl. SCHERR 2003, S.91; THOLE /LINDNER /WEBER 2003; S.7, SCHERR 2008, S.167). Die außerschulische Kinder- und Jugendbildung kommt im derzeitigen Diskurs über notwendige Reformen des Bildungssystems kaum vor (vgl. ebd.; MERTEN 2008, S.41). Kurioserweise wird der Kinder- und Jugendarbeit offenkundig kein eigenständiges bildendes Moment zugestanden (vgl. SCHERR 2003, S.91). Diese Tatsache ist umso erstaunlicher, als sich die politischen, aber auch die fach286
wissenschaftlichen Debatten der ‚Bildungsforschung‘ doch explizit auf eben den normativ besetzten und mehrdeutig-schillernden Begriff der ‚Bildung‘ beziehen. ‚Bildungsforschern‘ sollte bekannt sein, dass schon ein ‚Bildungstheoretiker‘ des 19. Jahrhunderts, WILHELM DILTHEY nämlich, den Bildungsbegriff nicht als einen auf schulische Sozialisation begrenzten erläutert hat: „Ja in gewissem Sinne ist Bildung, das Wort im höchsten Verstande genommen, die Funktion aller Institutionen [sic!] der menschlichen Gesellschaft, da sie alle schließlich, Individuen ihre höchste Gestaltung zu geben, mitwirken“ (DILTHEY zit. in UHLE 2003, S.71f.). Ebenso wenig, wie die notwendige institutionelle Weite in den Blick einer angemessenen Reformdebatte genommen wird, wird die personale Tiefe diskutiert, die ebenfalls schon seit langem als konstitutives Moment aller Bildungsprozesse bekannt ist. Im allgemeinpädagogischen Verständnis von (Selbst-)Bildungsprozessen besteht ein bildendes Moment in einer besonderen Erziehungsbeziehung zwischen Erzieher-Erwachsenem und jungem Menschen (vgl. UHLE 2003, S.72; GAUS/UHLE 2009, S.24). In dieser grundlegenden Dyade sieht die geisteswissenschaftliche Pädagogik in der Nachfolge DILTHEYs die „Mikrostruktur des Erziehungsfeldes“ abgebildet (UHLE 2003, S.66). Ob es sich bei den erwachsenen Personen um Lehrkräfte, Pädagogen oder um (andere) vernunftbegabte Wesen handelt, ist zunächst nicht festgelegt. Darüber hinaus sollte es – spätestens seit TALCOTT PARSONS – als pädagogisches Allgemeingut gelten, dass Schule als Institution keinen Sozialzusammenhang herstellt, in der demokratische Grundprinzipien erlebt werden können. Vielmehr werden hier eher subtile Formen des Umgangs mit Hierarchien, Konkurrenzprinzipien und Anpassungsmechanismen wirksam (vgl. SCHERR 2008, S.175). An dieser in der institutionellen Logik des Bildungssystems eingeschriebenen Tatsache kann auch der sich immer wiederholende Ruf nach ‚neuen Lehr-Lernkulturen‘ nicht grundlegend etwas ändern (vgl. ARNOLD/SCHÜßLER 1998, S.7ff; FEGEBANK 2004, S.117f; WINTER 2004, S.10). Selbst der Schulpädagoge WOLFGANG KLAFKI betont, dass fachspezifische Didaktik darauf angewiesen sei, außerschulische didaktische Konzepte in ihre Überlegungen mit einzubeziehen (vgl. KLAFKI 1995, S.93f.). Im Gegensatz zu schulischen Kontexten ist die außerschulische Kinder- und Jugendbildung geradezu prädestiniert, Formen der demokratischen Selbstorganisation zu erproben. Ihr Kernprinzip ist das der Freiwilligkeit. Somit ist sie notwendigerweise darauf angelegt, gerade keine starre Festlegung von Zielen, Programmen und/oder Curricula zu vollziehen. Die Eigenart ihrer Organisationsförmigkeit liegt darin, dass sie damit nicht auf die Durchsetzung hierarchisch strukturierter Organisationsmacht pochen muss (vgl. SCHERR 2008, S.175; STURZENHECKER 2008, S.152). 287
Der politische Diskurs um den derzeitigen ‚Bildungsnotstand‘ ist bisher ausgesprochen kognitiv und kompetenzorientiert ausgerichtet und bleibt meistenteils in der Betrachtung des Feldes formalisierter Bildung stecken (vgl. RAUSCHENBACH/OTTO 2008, S.11). Bisher gibt es in dieser Debatte, anders als im ‚Lissabon-Prozess‘ gefordert, kaum systematische Rückbezüge auf den längst bestehenden professionell gestalteten Bereich von Bildungsräumen für informelle Bildungsprozesse. Diese bieten Möglichkeiten von, in und mit Peergroups zum eigenständigen Umgang mit Medien, mit Kultur, mit Politik und Gesellschaft etc.; sie fördern eigenständige Verarbeitungsweisen eines immer stärker kommerzialisierten Alltags, wie sie formelle Bildungsinstitutionen kaum anbieten können (vgl. STURZENHECKER 2008, S.155). Auffällig ist aber demgegenüber, dass die außerschulische Kinder- und Jugendarbeit von der Politik wie vom institutionalisierten Bildungssystem bisher vor allem als Betreuung – oder noch provokanter: als Kontrolle – von sozialen Problemfällen des Schulalltags betrachtet, nicht aber als gleichberechtigte Partnerin bei der Begleitung von gelingenden Bildungsbemühungen junger Menschen wahrgenommen wird (vgl. RAUSCHENBACH/OTTO 2008, S.14). Offene Kinder- und Jugendarbeit läuft bei dieser Zuschreibung Gefahr, „künftig nicht länger als ein eigenständiger Bereich mit eigenen pädagogischen Prinzipien anerkannt“ zu werden (SCHERR 2003, S.92). So bleibt die Rolle nicht-schulischer Lernorte und Bildungsangebote für informelle Bildungsprozesse durch außerschulische Akteure in der derzeitigen Debatte bestenfalls diffus (vgl. RAUSCHENBACH/OTTO 2008, S.11). Wenn überhaupt, wird der offenen Kinder- und Jugendarbeit in diesem dominanten Verständnis die Funktion als Handlangerin anderer Bildungs- und, nicht zuletzt, anderer Ordnungsinstanzen zugeschrieben. Besonders kritisch sieht BENEDICT STURZENHECKER in diesem Zusammenhang die aktuelle Orientierung an Präventionsprogrammen. Eine solche Orientierung aber bedeutet eine völlig Abkehr von der „positiven Unterstellung der Bildsamkeit“ und macht Kindheit und Jugend zu potenziellen Risikofaktoren von Entwicklung. „Statt zu Subjekten von Bildung werden Jugendliche so tendenziell zu Patienten, also zu Menschen, die über ein negatives Merkmal bestimmt werden, das es institutionell zu beseitigen oder zu verhindern gilt“ (STURZENHECKER 2008, S.154). Aus bildungstheoretisch fundierter Sicht hingegen hat außerschulische Kinder- und Jugendarbeit demgegenüber genau umgekehrt die Aufgabe, Abweichungen nicht nur als Devianz, sondern immer auch als einen Versuch von Selbstbestimmung zu verstehen (vgl. ebd.). Einen weiteren Gedanken führt BURKHARD MÜLLER ein. Er wirft die Frage auf, ob und inwieweit das im derzeitigen Bildungsdiskurs dominante Ideal der ‚selbstverantworteten‘ ‚Selbstbestimmung‘ des ‚Selbstlerners‘ nicht durch die Erinnerung an den Auftrag der sozialen Unterstützung ergänzt werden muss (vgl. 288
zum Erziehungsziel ‚Selbständigkeit‘: DRIESCHNER 2007). MÜLLER weist auf den Widerspruch hin, der darin liegt, dass die Suche nach einer autonomen Geschlechtsidentität unter ‚Bildung‘ subsumiert werden darf, nicht aber die Unterstützung beim Durchhalten eines Jobs. Oder vice versa: Die Jobqualifikation sei Bildungsarbeit, die eigenständige Organisation eines ‚Newcomer-Wettbewerbs‘ von und für Jugendliche sei es nicht (vgl. MÜLLER 2003, S.238). Alle bis hierher angeführten Problematisierungen zeigen die Notwendigkeit der Verdeutlichung, wie und mit welchen Mitteln, Formen und inhaltlichen Angeboten offene Kinder- und Jugendarbeit Bildungsprozesse zu unterstützen vermag (vgl. THOLE/LINDNER/W EBER 2003, S.7). Diese Aufgabe beinhaltet auch eine fachinterne Auseinandersetzung mit dem strukturimanenten Problem der Kinder- und Jugendhilfe. Diese muss sich in dem permanenten Spannungsverhältnis zwischen der Ausrichtung an jugendkulturellen Abgrenzungs- und Autonomiebestrebungen einerseits und staatlich-politischen Aufgabenzuweisungen andererseits bewegen. Es besteht die Gefahr, dass in einer permanenten Orientierung an allen gerade aktuellen Strömungen des jeweiligen ‚Zeitgeistes‘ die Grenzen zwischen Kinder- und Jugendarbeit und problemorientierter Jugendhilfe verschwinden könnten (vgl. SCHERR 2003, S.87f.). An dieser Stelle sei ausdrücklich der Position von SCHERR gefolgt. Er plädiert für ein Verständnis von offener Kinder- und Jugendarbeit als subjektorientierter Bildungspraxis. In diesem Zusammenhang kritisiert er ein verkürztes Bildungsverständnis, das Kinder- und Jugendarbeit als Zulieferin von Qualifizierungen für den Arbeitsmarkt versteht. Für ihn ist offene Kinder- und Jugendarbeit dazu aufgefordert, ihren eigenständigen Bildungsauftrag zu bestimmen. Er hält an einem Verständnis von Kinder- und Jugendarbeit als emanzipatorischer Bildungspraxis fest. Dabei ist er aber um Neubestimmungen und Aktualisierungen im Kontext einer subjektorientierten Jugendarbeit bemüht. An der derzeitigen Bildungsdebatte kritisiert er, dass in, für und mit der Kinder- und Jugendarbeit nicht konzeptuell-inhaltliche Überlegungen zur sinnhaften Konturierung des Bildungsbegriffs in der Tradition idealistisch-neuhumanistischer und kritischer Bildungstheorien die Grundlage der Diskussion bilden. Vielmehr konstatiert er, dass anstelle einer ernsthaften Bildungsdebatte die Modedebatte um die Probleme eines kaum kalkulierbaren ‚Wissensveraltens‘ in einer ‚Wissensgesellschaft‘, um große ‚Informationsfluten‘ in einer ‚Informationsgesellschaft‘ kreist (vgl. SCHERR 2003, S.88ff.). Begibt man sich auf den Leim solcher Diskussionen, so sind Autonomie und Mündigkeit der Kinder- und Jugendlichen ferne, unbekannte Ziele. Vielmehr geht es hier um die Befähigung zur angepassten Erfüllung normativer Anforderungen der Gesellschaft (vgl. SCHERR 2003, S.90, S.95). Das Ironische an dieser Mode ist, dass niemand so genau weiß, was denn die ‚Wissensgesellschaft‘ eigentlich ist – und erst recht 289
kann niemand so genau benennen, wie denn deren Anforderungen wohl genau aussehen bzw. aussehen werden bzw. aussehen könnten. Gemeinhin wird gefordert, dass die verschiedenen Handlungsfelder der Kinder- und Jugendarbeit sich mit Blick auf ihre eigene Theorie und Praxis auf einen greifbaren Begriff von Bildung verständigen müssen (vgl. SCHERR 2003, S.92, RAUSCHENBACH/OTTO 2008, S.11;27). Im Fachdiskurs herrscht eine grundsätzliche Einigkeit darüber vor, dass die offene Kinder- und Jugendarbeit von einem erweiterten Bildungsbegriff ausgehen muss. Dieser muss kommunikative, soziale und praktische Kompetenzen umfassen (vgl. RAUSCHENBACH/ OTTO 2008, S.23). Ein solcher Bildungsbegriff beinhaltet vor allem die doppelte Aufforderung, „Bildung als Persönlichkeitsentwicklung zu begreifen und allgemeine Bildungsideale nicht auszuklammern“ (UHLE 2008, S.48). Über diesen Minimalkonsens hinaus fehlt es der außerschulischen Kinder- und Jugendbildung allerdings „an einer überzeugenden theoretischen Grundlegung und an einem tragfähigen Selbstverständnis“ (THOLE 2003, S.247). THOMAS RAUSCHENBACH s und HANS-UWE OTTOs Forderung, die verschiedenen Dimensionen von Bildung in ein neues, integriertes Bildungskonzept zu überführen und damit auch die eingespielten Arbeitsteilungen und Spezialisierungen pädagogischer Handlungsfelder neu zu ordnen, zum Teil auch zu überwinden, kann umgekehrt auch als eine zentrale Aufgabenstellung auch und gerade für den gegenwärtigen allgemeinpädagogischen Fachdiskurs gelesen werden (vgl. RAUSCHENBACH/OTTO 2008, S.27). Wird diese Aufgabe nicht ernst genommen, dann könnte sich HARTMUT VON HENTIGs Ausruf, dass sich „in der öffentlichen Diskussion … nur bildungspolitische Ladenhüter“ wiederfinden, als traurige Wahrheit herausstellen (HENTIG, zit. n. MERTEN 2008, S.41). KARIN BOCK fordert in diesem Zusammenhang eine dergestaltige Diskussion um ‚Bildung‘, welche, die Weite des gesamten Feldes berücksichtigend, zwei wesentlichen Aspekten Rechnung trägt: 1. Das Subjekt und seine Bildungsprozesse müssen definitorisch (wieder) ins Zentrum gerückt werden (vgl. BOCK 2008, S.93). Hierfür bietet der subjektorientierte Bildungsbegriff SCHERRs Hinweise. Er schlägt vor, (offene) Kinderund Jugendarbeit theoretisch und konzeptuell als subjektorientierte Bildungspraxis zu modellieren (vgl. SCHERR 2008, S.167). Der Bildungsanspruch einer so konzeptualisierten offenen Kinder- und Jugendarbeit an die Mädchen und Jungen, an die jungen Frauen und Männer ist sehr hoch. S CHERR selber räumt ein, dass ein großer Teil derer, die Angebote der Kinder- und Jugendarbeit nutzen, mit den Anforderungen der alltäglichen (Über-)Lebenspraxis und den tagtäglichen Konflikten in Familie, Schule und beruflichen Kontexten sowie mit der Gestaltung ihrer „Patchwork Identitäten“ stark beansprucht sind (KEUPP et al. 2008, S.27). Auch wenn Pauschalisierungen immer problematisch sind, so 290
kann wohl tatsächlich gelten, „dass nur ein geringer Teil gegenwärtiger Jugendlicher bereit und in der Lage ist, eigene Zeit und eigene Energien für die Auseinandersetzung mit den Formen und Inhalten einer Politik zu verwenden, von der nicht erwartet ist, dass sie Substanzielles zur Verbesserung der eigenen aktuellen Lebenssituation beiträgt“ (SCHERR 2008, S.171). Und dennoch: SCHERR hält an diesem hohen, hehren, subjektorientiert-emanzipatorischen Bildungsanspruch fest. Er kann nicht anders, da er die Unhintergehbarkeit des „pädagogischen Imperativ der Moderne“ (UHLE 1995, S.25), Kindern und Jugendlichen eine selbstbestimmte, mündige Lebensführung und Lebensgestaltung zu ermöglichen, noch erinnert (vgl. SCHERR 2008, S.172). Er lässt in diesem Zusammenhang keinen Zweifel an der Notwendigkeit einer politischen Bildung, die Jugendliche dazu befähigt, den gesellschaftlichen Zusammenhang ihrer eigenen Situation zu begreifen. Eine demokratisch organisierte Gesellschaft setzt Bürger voraus, welche die Strukturen und Dynamiken von politischen Entscheidungen verstehen und in der Lage dazu sind, sich ein begründetes Urteil zu bilden sowie ihre politischen Überzeugungen und Interessen deutlich zu machen. „Adornos Formel von der ‚Erziehung zur Mündigkeit‘ verweist insofern auf eine immer noch aktuelle Bestimmung zentraler Bildungsaufgaben“ (vgl. SCHERR 2008, S.173). 2. BOCK erinnert daran, dass empirisch handhabbare Operationalisierungen des Bildungsbegriffs entwickelt werden müssen. Der Bildungsbegriff darf nicht nur in den Höhen und Weiten theoretischer Spekulationen stecken bleiben, er darf nicht allein ein „intellektueller Reflexionsrahmen“ bleiben (BOCK 2008, S.93). Zur Umsetzung dieser Forderung bietet sich etwa das bildungstheoretische Koordinatensystem an, wie es RAUSCHENBACH und OTTO entwerfen. Dieses Modell formuliert idealiter einen Weg, der von einem ‚theoretische Reflexionsrahmen‘ über qualitative Explorationsstudien bis hin zu ‚außerschulischen Bildungsindikatoren’ zurück in den ‚theoretischen Reflexionsrahmen’ einer Allgemeinen Pädagogik führt (vgl. RAUSCHENBACH/OTTO 2008). Ähnlich postuliert THOLE, dass der professionelle Arbeitsbereich offener Kinder- und Jugendarbeit „nicht nur theoretisch zu begründen und praktisch zu realisieren, sondern empirisch abzusichern“ sei. In der Ausweitung explorativer, qualitativquantitativer Studien, deren Ergebnisse dann wieder in bildungstheoretische Überlegungen und Veränderungen münden, sieht er die Chance, das Profil der verschiedenen pädagogischen Handlungsfelder in der Kinder- und Jugendarbeit „theoretisch prägnanter zu beschreiben und praktisch profilierter zu realisieren“ (THOLE 2003, S.260).
291
3
Dimensionen von Bildung in der (offenen) Kinder- und Jugendarbeit
Die gesellschaftskritischen Diskussionen der 1970er Jahre haben dem Bildungsbegriff mit ihren Vorwürfen aufgeladen, jener sei normativ und affirmativ, trage zur gesellschaftlichen Distinktion bei und sei ausschließlich auf die Verwertungsdimension von ‚höherer‘ Bildung ausgerichtet, gehörig zugesetzt (vgl. MÜLLER 2003, S.235; MEYER/MEYER 2007, S.94; BOCK 2008, S.91). Scheinbar wertneutraler wird in den gegenwärtig dominanten bildungspolitischen Diskursen lieber von Kompetenzen gesprochen. Ob dieser Begriff weniger zu gesellschaftlicher Distinktion beitragen wird, sei dahingestellt. Dennoch muss BOCK kritisch feststellen: „Obwohl der Bildungsbegriff (s)einen Platz im Kanon der ‚zentralen Grundbegriffe‘ Allgemeiner Pädagogik bzw. der Erziehungswissenschaft nach wie vor behaupten kann, ist gegenwärtig keine eindeutige Begriffsbestimmung von Bildung in Sicht, mit der sich ‚unbeschwert‘ arbeiten ließe“ (BOCK 2008, S.91). Wird dennoch der Bildungsbegriff mit UHLE als zentraler Grundbegriff der Allgemeinen Pädagogik akzeptiert, dann ist festzuhalten, dass er auf drei Säulen ruht: der Aufklärung, dem Neuhumanismus-Idealismus und der Gesellschaftskritik (vgl. UHLE 2007; UHLE 2008). MÜLLER erinnert daran, dass – historisch betrachtet – die Kinder- und Jugendarbeit in ihren Anfängen deutlich am „Kern der klassischen Bildungstheorie“ orientiert war, also an IMMANUEL KANT, WILLHELM VON HUMBOLDT, FRIEDRICH DANIEL ERNST SCHLEIERMACHER „und andere(n) Meisterdenkern“ (MÜLLER 2003, S.235). Dementsprechend benennt er es als Desideratum, sich auf dieses differenzierte Theoriefundament zu besinnen. In systematischer Hinsicht zeichnet sich der so grundierte Bildungsbegriff in Abgrenzung zum Erziehungsbegriff dadurch aus, dass er nicht beim Erzieher, sondern beim sich bildenden Subjekt ansetzt (vgl. KOLLER 2004, S.71). Bildung wird in allen entsprechenden Diskussionen als etwas von Erziehungszielen und praktiken deutlich Differentes konzipiert (vgl. MÜLLER 2003, S.235). HUMBOLDT sieht den Zweck des Menschen bekanntlich darin, zur ‚höchsten und proportionierlichsten Bildung seiner Kräfte zu einem Ganzen‘ zu gelangen. Bildung in diesem anspruchsvollen Sinne beinhaltet die Entfaltung aller menschlichen Kräfte. Neben der Kompetenzentwicklung von Verstandeskräften geht es mindestens ebenso um die Höherentwicklung der Fähigkeiten und Fertigkeiten von Phantasie, von sinnlicher Anschauung und Wahrnehmung, von Kreativität (vgl. KOLLER 2004., S.77). Für S CHERR ist es demgemäß nur folgerichtig, dass ein Bildungsdenken, welches die umfassenden, eigentätigen und eigensinnigen Entwicklungen individueller Fähigkeiten in ästhetischer, sozialer, moralischer, politischer, naturwissenschaftlicher etc. Hinsicht unter der regulativen Idee der Selbst-Bildung fasst, immer schon das Bildungsverständnis der Kinder- und 292
Jugendarbeit geprägt hat – und auch weiterhin prägen muss (SCHERR 2003, S.92). HUMBOLDT, zur Erinnerung, versteht Bildung als ‚Verknüpfung unseres Ichs mit der Welt zu der allgemeinsten, regesten und freiesten Wechselwirkung‘. Freiheit stellte für HUMBOLDT eine grundlegende Bedingung für Bildung dar. Mit ‚rege‘ betont er gleichzeitig die Doppelseitigkeit von Bildung: Sowohl dem Ich als auch der Welt kommen je aktive Rollen zu (vgl. KOLLER 2004, S.84). In dieser regen, freien und allgemeinen Wechselwirkung kommt für HUMBOLDT der Sprache als ‚bildende[m] Organ der Gedanken‘ eine besondere Bedeutung zu. Jedes Sprachsystem stellt eine eigene Ansicht der Welt dar (vgl. ebd., S.85; BOCK 2008, S.94). Poetisch gewendet: „Sprache ist sowohl Ausdruck eines fremden Geistes als auch Brücke zu einem fremden Geist“ (BIERI 2007, S.44). Zu erinnern ist daran, dass ‚Sprache‘ im Sinne HUMBOLDTs ein weit gefasster Begriff ist, der im Kern jeden Dialog zwischen Menschen beinhaltet, welcher von echtem Einlassen auf fremde Weltsichten geprägt ist (vgl. KOLLER 2004, S.87). Dieses gilt auch und erst recht für die bildende Begegnung zwischen Heranwachsenden und Erwachsenen ebenso wie für diejenige von Kindern und Jugendlichen untereinander. Im Kern also ist eines zu bewahren: Alle ‚Meisterdenker‘ des klassischen Bildungsdenkenes konzipierten Bildung als Antwort auf die Frage, „wie Einzelne im umfassenden Sinn ihre Fähigkeiten entfalten und in der Gesellschaft zur Geltung bringen können, wie sie zu selbstverantwortlichen Autoren der eigenen Biographie werden können“ (MÜLLER 2003, S.235). Auf die Frage nach der zentralen Aufgabe einer Allgemeinen Pädagogik in der Gegenwart betrachtet es UHLE als deren zentrale Aufgabe, „Annahmen über Erziehung und Bildung zu entwickeln und konsequent zu Ende zu denken“ (UHLE 1998, S.114). Dabei ist der Pluralität von Bildungstheorien in der Gegenwart Rechnung zu tragen. Zwar müsse nach wie vor der Anspruch auf verallgemeinerbare Allgemeingültigkeit erhoben werden, zugleich aber müsse gleichsam der Mut vorhanden sein, in einen – mit WOLFGANG WELSCH – „Widerstreit der Konzeptionen“ einzutreten (WELSCH, zit. n UHLE 1998, S.114). In einem permanenten Diskurs über theoretische Konzeptionen sind diese wieder und wieder sowohl theoretisch als auch praktisch zu legitimieren. In der offenen Kinder- und Jugendarbeit ist diese Diskussion um den Bildungsbegriff mit konjunkturellen Schwankungen immer wieder zu erkennen. Insbesondere die Teilgebiete der Jugendkulturarbeit und der politischen Jugendbildung haben sich immer wieder am Bildungsbegriff orientiert. „Dabei reicht die Palette der Bildungsangebote in der Praxis vom ‚zur Verfügung stellen‘ von Räumen bis hin zu Kooperationsprojekten mit und in der Schule“ (RAUSCHENBACH /OTTO 2008, S.19). Auch THOLE (2003, S. 253) bestätigt, dass mit dem Rückbezug der offenen Kinder- und Jugendarbeit auf den Bildungsbegriff keineswegs ein neues Leitbild aus dem Hut gezaubert wird. Vielmehr wird 293
lediglich eine theoretisch-konzeptuelle Orientierung der 1960er Jahre reaktiviert, die zwischenzeitlich in der „Abstellkammer“ der Diskurse gelandet war (THOLE 2003, S.253). In diesem Zusammenhang warnt er davor, in der Dynamik der gegenwärtigen Bildungsdebatte denselben Fehler des Vergessens in Bezug auf andere Zieldimensionen offener Kinder und Jugendarbeit zu wiederholen (vgl. ebd., S.261). Andererseits ist jedoch auch darauf zu achten, von rein historischen Bildungszitaten des Bildungsbegriffs Abstand zu wahren. RAUSCHENBACH und OTTO verweisen dementsprechend auf die Notwendigkeit, von einer affirmativlegitimierenden Rhetorik des ‚Immer-Schon‘ weg und zu einer sowohl inhaltlichen als auch handlungsleitenden Auseinandersetzung voranzuschreiten. Die zum Slogan geronnenen Versatzstücke der ‚Ganzheitlichkeit‘ des idealistischen Bildungsdenkens oder des ‚Lernens mit Kopf, Herz und Hand‘ nach einem völlig verkürzten und verfälschten Bild JOHANN HEINRICH PESTALOZZIs müssen wieder in ihrem philosophischen, theoretischen und empirischen Zusammenhang gesetzt werden. Nur solches wäre angemessen, soll eine tatsächlich angemessene Operationalisierung für ein tragfähiges Bildungsverständnis der offenen Kinder- und Jugendarbeit gelingen können (vgl. RAUSCHENBACH/OTTO 2008, S.19f.). Subjektbildung, Identitätsfindung, die Fähigkeit zu einer selbstbestimmten Lebensführung, Beziehungskompetenz, Solidarität und Gemeinsinn sowie die Fähigkeit zur Übernahme sozialer Verantwortung sind relevante Zieldimensionen von außerschulischer Kinder- und Jugendbildung. Diese müssen allgemeinpädagogisch fundiert werden, damit sie, was notwendig ist, für eine systematisierte offene Kinder- und Jugendarbeit fruchtbar gemacht werden können. Zu einer solchen allgemeinpädagogischen Fundierung gehört als zentrale Aufgabe auch die Konkretisierung und Operationalisierung des Leitgedankens Bildung für die jeweiligen Dimensionen der Kinder- und Jugendarbeit. „Diesbezüglich ist nicht [nur; MB/HD] theoretisch angeleitete Phantasie, sondern sind auch praktische Experimente gefragt“ (SCHERR 2003, S.100). B OCK erkennt im klassisch-neuhumanistischen Bildungsideal zwei zentrale Gedanken, die im Rahmen außerschulischer Kinder- und Jugendbildung aufzunehmen sind: Bildung wird hier zum einen verstanden als „Prozess der andauernden Welterweiterung“. Bei diesem handelt es sich um einen „ausschließlich subjektiven Prozess“, der sich identitätstheoretisch verorten lässt (BOCK 2008, S.95). Bildung folgt zum anderen dem „pädagogischen Imperativ der Moderne“ (UHLE 1995, S.25ff.). Sie zielt auf Mündigkeit sowie moralische und politische Urteilsfähigkeit (vgl. KLAFKI 1995, S.96; SCHERR 2003, S.90; HENTIG 2007, S.94f.). Sie ist damit für die „Autonomie von Menschen unhintergehbar“ (STURZENHECKER 2008, S.155). Dementsprechend müssen Selbstbildungsprozesse von Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen unter der 294
Bedingung von Freiheit oder zumindest radikaler Freiwilligkeit konzipiert und unterstützt werden (vgl. MÜLLER 2003, S.236; STURZENHECKER 2008, S.150). MÜLLER versteht die unterschiedlichen Konzepte und Theorien der Kinder- und Jugendarbeit als Versuche, diesen bildenden Freiraum zu (er)schaffen (vgl. MÜLLER 2003, S.236). Unter Bezugnahme auf das „epochenwirksame gesellschaftliche Programm von Jürgen Habermas“ ist Selbst- und Mitbestimmung seit langem zum höchsten, normativen Bildungsziel aufgestiegen (MEYER/MEYER 2007, S.91; vgl. KLAFKI 2007, S.19ff.). SCHERR bestimmt Selbst- und Mitbestimmung als Formen der politischen Bildung, welche die Teilnahme an Prozessen der politischen Willensbildung, Entscheidungsfindung und Interessenartikulation – modern gesprochen ‚Demokratiekompetenz‘ – beinhalten (vgl. SCHERR 2008, S.167f.). Ähnlich erkennt MÜLLER im Ziel der Förderung von Selbstbestimmung und eigensinniger Weltaneignung den kleinsten gemeinsamen Nenner aller Ansätze von Kinder- und Jugendarbeit (vgl. MÜLLER 2003, S.236). Allerdings darf, trotz aller Demokratiebeteuerungen, politischer Gegenwind gegen die Umsetzung eines solchen Bildungsverständnisses für die Kinder- und Jugendarbeit vorausgesagt werden, „weil die Gesellschaft an über sich selbst bestimmenden jungen Menschen wenig Freude“ haben wird (ebd., S.235). Trotz und wegen dieser Tatsache sollte klar sein, dass es spezifischer und großer Anstrengungen aller Institutionen bedarf, Jugendliche zur Inanspruchnahme ihres demokratischen Grundrechts bzw. ihrer demokratischen Pflichten zu veranlassen. Es ist aber ebenso notwendig, jungen Menschen reale politische Partizipationschancen zu eröffnen, die eben ihre Problem- und Interessenlagen berücksichtigen. (vgl. ebd., S.241). „Denn es wäre zweifellos verfehlt, politisches Desinteresse und Misstrauen in die etablierte Politik nur als Folge von Wissensund Informationsdefiziten und nicht auch als Folge tatsächlicher Defizite der politischen Repräsentation und Kommunikationen zu interpretieren“ (SCHERR 2008, S.174). Zudem sind in diesem Feld viele weitere Variablen zu beachten, die einer den Bildungsbegriff nur in Sonntagsreden verwendenden Kinder- und Jugendarbeit in den Weg treten. So weist beispielsweise SCHERR auf das darin liegende Paradox hin, dass ein Großteil der jungen Menschen mit Migrationshintergrund ohne deutsche Staatsangehörigkeit auch formell nicht über zentrale politische Teilhaberechte verfügt. Diese jungen Menschen, das gesamte politische und soziale Feld unreflektiert lassend, unter direktem Rekurs auf einen ‚klassischen‘ Bildungsbegriff politisch ‚bilden‘, zur Mitwirkung ‚motivieren‘ zu wollen, wäre nicht nur Unsinn, sondern zynisch (SCHERR 2008, S.173). Also bleibt es um so mehr und erst recht Aufgabe, dieses abstrakte und schwer greifbare Bildungsziel der mündigen Selbstbestimmung auf der Grundlage bildungstheoretischer Überlegungen für die offene Kinder- und Jugendarbeit 295
zu konkretisieren. RAUSCHENBACH und OTTO unternehmen den Versuch, das Bildungsziel Mündigkeit in folgende vier Zieldimensionen zu überführen:
296
1. Sie sehen ein zentrales Element von Bildung als Mündigkeit in der kulturellen Reproduktion, d.h. in den Möglichkeiten und Fähigkeiten zu Aneignungsprozessen von objektivierter Kultur. Eine Gesellschaft, die den Transfer kultureller Güter beruflichen Spezialisierungsprozessen überlässt, läuft Gefahr, einer „schleichenden Verödung ganzer Gebiete integrativen Lernens“ Vorschub zu leisten (RAUSCHENBACH/OTTO 2008, S.21). 2. Sie sehen ein weiteres zentrales Moment in der materiellen Reproduktion, welche sie nicht auf reine Existenzsicherung reduziert wissen wollen. Werden Bildungsprozesse einzig und allein den auf kognitive Kompetenzen ausgerichteten Strukturen im Schulsystem überlassen, besteht die Gefahr, eben gerade diejenigen Kompetenzen nicht zu erwerben, welche über eine rein finanzielle Existenzsicherung hinaus zur Bewältigung der dinglichen Lebensführung notwendig sind (vgl. ebd.). Aufgrund seiner spezifischen Struktur und Funktion steht das institutionalisierte Schulsystem– provokant formuliert – vor der Gefahr, gegen seinen eigenen Auftrag lebensuntauglich machen zu können bzw. Entfremdungsprozessen Vorschub zu leisten. SCHERR ergänzt in diesem Zusammenhang, dass Kinder- und Jugendarbeit einen weit gefassten Bildungsauftrag vertreten muss, der über die engen Grenzen ökonomischer Nützlichkeit und operationalisierbarer Verwertbarkeit hinausgeht (vgl. SCHERR 2003, S.97). 3. Sie sehen als weiteres zentrales Moment die Dimension der sozialen Integration. SCHERR spricht, ähnliches meinend, von ‚Demokratiekompetenz‘ (vgl. RAUSCHENBACH/OTTO 2008, S.22; SCHERR 2003, 2008). Notwendig ist die aktiv-partizipative Auseinandersetzung mit der gegebenen Gesellschaft und der Aneignung eines politischen Selbstverständnisses. 4. Schließlich nennen sie die genuin in der (offenen) Kinder- und Jugendarbeit verankerte Zieldimension der Persönlichkeitsentwicklung. Hierzu gehören einerseits ‚soziales Lernen‘ als dialogische Fähigkeit, sich auf seine soziale Umwelt, auf sein Gegenüber einzulassen und dabei auch Verantwortung für andere zu übernehmen, sowie andererseits ‚subjektives‘ bzw. ‚selbstreflexives Lernen‘ als Fähigkeit, mit sich selbst und seiner Entwicklung in ein kritisch-produktives Verhältnis treten zu können (vgl. RAUSCHENBACH/OTTO 2008, S.22). Damit ist ein Koordinatensystem für eine emanzipatorische Kinder- und Jugendbildung aufgezeigt, in dessen Rahmen konkrete Bildungsprojekte und Versuche (offener) Kinder- und Jugendarbeit vollzogen werden könnten.
Abbildung 1:
Koordinatensystem einer emanzipatorischen Jugendbildung (nach RAUSCHENBACH/OTTO 2008) soziale Integration
kulturelle Reproduktion
materielle Reproduktion
Persönlichkeitsbildung Diese Grunddimensionen von Bildungsbegleitung in der (offenen) Kinder- und Jugendarbeit knüpfen an die Theorientraditionen und Diskursrekonstruktionen der Allgemeinen Pädagogik an. Somit lässt sich von ihnen ausgehend ein autonomer Bildungsbegriff der (offenen) Kinder- und Jugendarbeit entwickeln, auf dessen Grundlage jener Widerstreit der Konzeptionen möglich wird, den UHLE fordert. Diese Grunddimensionen sind mit den Bildungszielen des subjektorientierten Jugendbildungsprogramms nach SCHERR zu verknüpfen (vgl. SCHERR 2003, S.98). Dieses betrachtet ‚Jugend‘ als eine Lebensphase, welche die Chance wie die Aufgabe beinhaltet, sich aus generationeller Differenz in Distanz zur Lebenspraxis anderer Generationen zu setzen und sich somit auf den Weg zu einem eigenständigen Lebensentwurf zu machen (vgl. ebd.; vgl. STURZENHECKER 2008, S.147). Zur Subjektbildung in diesem Prozess gehören wiederum vier Dimensionen:
1. Es geht um Subjekt-Werdung. Dazu gehören u.a. Handlungs-, Sprachund reflexive Kompetenzen, Fähigkeiten, Fertigkeiten sowie Selbstwirksamkeitserwartungen. 2. Es geht um Selbstachtung. Dazu gehören grundlegende Selbstkonzepte, die sich als Ergebnisse von gelingenden Prozessen sozialer Anerkennung entfalten können. 297
3. Es geht um Selbstbewusstsein. Dazu gehört zentral die je spezifische Entfaltung einer die Pole balancierenden Form zugleich individueller wie sozialer Identität. 4. Es geht um Selbstbestimmung. Dazu gehört die eigensinnige und eigenverantwortliche Lebensgestaltung in Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Möglichkeiten und Zwängen.
Generell geht es SCHERR also um Subjektivität als Form von Selbstbewusstseins- und Selbstbestimmungsfähigkeit des Individuums, welches somit über eigenständige und eigensinnige Wahrnehmungs-, Sprach-, Handlungs- und Urteilsfähigkeit verfügt (vgl. SCHERR 2003, S.93). Wie ein solches Individualitätsbewusstsein aus bildungstheoretischer Perspektive zu definieren ist, erläutert UHLE: „Individualitätsbewusstsein ist die Vorstellung von einem ‚Ich bin wie kein anderer‘, d.h. von Andersheit, und diese Andersheit ist – als Lebensaufgabe aufgefasst – auszubilden und von anderen zu respektieren“ (UHLE 1995, S.49). Mithin geht es in dieser Diskussion um die nicht von Natur aus verwirklichte, gleichwohl von der Idee her gegebene Möglichkeit des Individuums, angemessene Spielräume und Anregungen zu erhalten und zu entfalten, die „einen begründeten und verantworteten Lebensentwurf“ (SCHERR 2003, S.93) ermöglichen und dabei helfen, sich nicht vom „postideologischen Schlaraffenland“ (ANDERS zit. n. THOLE 2003, S.251) einlullen zu lassen. Für UHLE gehört in diesen Komplex die Fähigkeit, sich selbst mit den Augen eines Anderen sehen zu können sowie in verschiedenen sozialen Situationen gleichzeitig umschalten zu können, aber auch die Stärke, sich selbst gleich zu bleiben, „um nicht wie ein Chamäleon einmal in Bezug zu diesem Menschen dieses Ich zu sein und einmal in Bezug zu jenem Menschen und Situationen jenes Ich zu sein“ (UHLE 1995, S.49). Solches Selbstbewusstsein, solche Identität ‚ist‘ nicht einfach. Es ist eingebunden in lebenslange Prozesse der Entwicklung, die bildungstheoretisch als immer wieder neue Suche nach einem signifikanten Anderen zu beschreiben ist, der die eigene Welt ein Stück weit mitzutragen imstande ist. UHLEs Bild des sich Bildenden als das eines Seiltänzers, der eigenständig auf einem dünnen Band zwischen Eigensinn und Anpassung balanciert, dringend aber ein (soziales) Netz unter sich wissen muss, um auch Pirouetten wagen zu können und zu wollen, kann, in der Metapher des Netzes, als Aufgabenbeschreibung von (offenen) Kinder- und Jugendarbeit übernommen werden (vgl. ebd., S.50). Kinder- und Jugendliche sollen befähigt werden, die „ambivalente Ortlosigkeit des Individuums“ zu bewältigen (ebd.). Weniger bildhaft formuliert SCHERR: Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene müssen bei der Suche nach tragfähigen Lebensentwürfen unterstützt werden. Dabei referiert er nicht 298
ausschließlich auf Kinder und Jugendliche, die entsprechend der Individualisierungsthese als ‚Biographiebastler‘ charakterisiert werden (vgl. auch KEUPP 2006, S.64ff.). Vielmehr geht es ihm auch und gerade um jene Jugendlichen, die sich stark an die Vorgaben ihrer Herkunftsfamilie anlehnen (vgl. SCHERR 2003, S. 93). Aufgabe von Subjektbildung ist es, die „emotionale Tiefendimension“ von Kindern und Jugendlichen freizulegen und diese darin zu unterstützen „Ohnmachtserfahrungen“ zu überwinden (SCHERR 2003, S.99). Am Beispiel bedeutet solches etwa, hinter der manipulativ-konsumistischen Verfremdung subkultureller Körperinszenierungen die Momente echter Phantasiekraft zu entdecken. Offene Kinder- und Jugendarbeit hat die schwierige, aber lohnenende Aufgabe, solche zweiten Schichten zu erkennen und das darin enthaltene Potenzial an Sinnlichkeit, Sensibilität und Kreativität gemeinsam mit den Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsene zu verstehen (vgl. STURZENHECKER 2008, S.150f.). Dabei sind sowohl manifeste Wünsche als auch latente Interessen und Sinnstrukturen der jungen Menschen zu suchen und gemeinsam mit ihnen zu versprachlichen (vgl. ebd., S.152). Um dies leisten zu können, müssen die pädagogischen Fachkräfte über Deutungsschemata bzw. ein „hypothetisches Reservoir von Horizonten des Denkens“ verfügen (UHLE 2006, S.221). Neben dem theoretischen Hintergrund von ‚Bildung‘ ist damit insbesondere systematische Deutungskompetenz auf der Basis methodisch fundierten Verstehens eine Grundkategorie pädagogischer Professionalität (vgl. UHLE 1978, 2002, S. 99ff; GAUS/UHLE 2006, S.9f.). In der pädagogischen Beziehung ist Verstehen immer mit einer parteilichen Bewertung verknüpft, „die mit dem Eintreten für die ‚Mündigkeit‘ oder für das Ich-Ideal des Einzelnen und von Kindern generell umschrieben“ werden kann (vgl. UHLE 2006, S.219). Allerdings gilt insbesondere für diese gemeinsame Entdeckungsreise von Erwachsenen und Heranwachsenden, dass es ein endgültiges Verstehen niemals geben kann (vgl. ebd., S.221). Vielmehr geht es in der pädagogischen Beziehung um ‚koexistenzielles Verstehen‘, ein vertrauensvolles MiteinanderLeben, welches sich aus dauerhaften Kontakten, Gemeinsamkeiten und verlässlichen Beziehungen ergeben kann. Eine solche Beziehung dient der Steigerung des Interesses an dialogischer Kommunikation in ihrem professionell gestaltetem Versuch, die Gedanken, Gefühle und Einsichten des jeweiligen Anderen nachzuvollziehen sowie komplementäre Kommunikationsmuster zu vermeiden (vgl. UHLE 2006, S.225). Der Grundsatz, junge Menschen zu einer selbstbestimmten Lebenspraxis zu führen, hat ihren Traditionsursprung in der geisteswissenschaftlichen Pädagogik. So besteht bereits für HERMAN NOHL das erklärte Ziel eines gelingenden pädagogischen Verhältnisses darin, dass „der Mensch mündig wird“. Das pädago299
gische Verhältnis ist grundiert in dem „Ziel, sich selbst überflüssig zu machen“ (NOHL 1933, S.21). NOHLs Hintergrund ist das nicht unproblematische Konstrukt der ‚Erziehungswirklichkeit‘, das ihm als Ausgangspunkt für seine allgemeine Theorie der Bildung dient. Grundlage seines Bildungsbegriffs ist DILTHEYs Konzept, nach dem Bildung zu verstehen ist als eine „planmäßige Tätigkeit, durch welche Erwachsene das Seelenleben von Heranwachsenden zu bilden suchen“ (DILTHEY, zit. n. UHLE 2003, S.69). Modern formuliert, fordert SCHERR die ältere Generation auf, sich ihrer Vorbildfunktion (wieder) bewusst zu werden. Sie hat die Aufgabe, ein Gegengewicht zu massenmedial verkauften InstantPhilosophien darzustellen, auf dass Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene in ihrer Auseinandersetzung mit der älteren Generation eine „kritische Urteilsfähigkeit“ ausbilden können und sich nicht von „Utopielieferanten“ blenden lassen (SCHERR 2003, S.98). Freilich ist diese pädagogisch nach wie vor beliebte Verwendung des Generationenbegriffs im Anschluss an SCHLEIERMACHER für die Gegenwart nicht unproblematisch. Sowohl das klassisch-neuhumanistische Bildungsdenken als auch Bildungstheorien der geisteswissenschaftlichen Tradition von NOHL bis selbst noch zu KLAUS MOLLENHAUER gehen von einer Differenz zwischen den Generationen hinsichtlich des Wissens und des Noch-Nicht-Wissens, des Schonin-Kultur-Stehens und des Noch-vor-Kultur-Stehens aus. Von einer so verstandenen Unterschiedlichkeit der Generationen kann aber heute nicht mehr ausgegangen werden. „So haben sich die Lebensphasen verändert, was für Jugendliche zu späterem Einstieg in selbstverantwortete Tätigkeiten führt, zu längeren Aufenthalten in Ausbildungseinrichtungen mit höheren Abschlüssen, die gleichzeitig inflationär wirken, so dass es zu Nicht-Passungen zwischen Abschluss und Berufstätigkeit und zu Unterbrechungen sowie Warteschleifen kommt“ (UHLE 1995, S.19). THOLE selbst spricht in diesem Zusammenhang von der Entkopplung der Übergangsphasen vom Jugend- zum Erwachsenenalter. Er verweist darauf, dass diese Separierung von Lebensabschnitten nicht mehr auf die – bereits verlängerte – Phase der Postadoleszenz reduziert werden kann. „Biographische Moratorien werden nicht mehr ausschließlich in der Jugendzeit für alle Zeiten abgefeiert“ (THOLE 2003, S.254). Aus dieser Feststellung leitet sich die professionstheoretisch relevante Frage ab, wie pädagogische Professionals das Dilemma zu lösen gedenken, dass sie selbst z.T. von denselben Bildungsanlässen wie die durch sie zu begleitenden Kinder und Jugendlichen betroffen sind (vgl. ebd.). Das Bildungsziel (politischer) Mündigkeit scheint also – im wahrsten Sinne des Wortes - eine „Projektgemeinschaft“ zu verlangen (UHLE 2006, S.226; ebenso GAUS/UHLE 2009, S.24). So oder so: Soll also die generationelle Vorbildaufgabe noch zur bildungstheoretischen Grundierung taugen können, so muss an die Allgemeine Pädagogik der Arbeitsauftrag 300
ergehen, die bereits erkannte Diffusion generationaler Unterschiede durch theoretischen Weiterentwicklungen aufzuarbeiten. Ein weiteres Problem für die offene Kinder- und Jugendarbeit stellt die grundlegende Differenz zwischen ‚Erziehung‘ und ‚Bildung‘ dar. Sie ist im Spannungsfeld zwischen Anpassungszwängen an gesellschaftliche Normen einerseits und individueller (Bildungs-) Freiheit andererseits platziert. Auch dieses pädagogische Grundproblem ist nicht neu (vgl. KOLLER 2004, S.71; UHLE 2007, 2008). Es ist aber insbesondere in der offenen Kinder- und Jugendarbeit nach wie vor ein drängendes Problem, das theoretischer und konzeptioneller Lösungsangebote bedarf. Bildung als ergebnisoffener Prozess kann in ihrem Feld einerseits als erfolgreiche Subjekt-Bildung wirken, gleichzeitig aber andererseits Erziehungszielen diametral entgegen stehen (vgl. SCHERR 2003, S.90). Die bis hierher gemachten Ausführungen zu einer bildungstheoretischen Grundierung offener Kinder- und Jugendarbeit können wie folgt zusammengefasst und veranschaulicht werden. ‚Bildung‘ als Selbstbestimmung kann im Koordinatensystem von RAUSCHENBACH und OTTO auf der y-Achse, also zwischen ‚sozialer Integration‘ und ‚Persönlichkeitsbildung‘ gesehen werden. Auf der x-Achse kann sie als Teil der materiellen Reproduktion gelesen werden. Demgegenüber sind SCHERRs Ausführungen zur Subjekt-Werdung eher in Richtung Persönlichkeitsbildung auf der x-Achse einzuordnen ist (siehe Abb. 2). Damit kommen die bis hierher gemachten Ausführungen dem Bildungsbegriff von B OCK nahe: Sie beschreibt „Bildungsprozesse als Wandlungsprozesse …, die sowohl dramatische als auch nicht-dramatische“ Entwicklungen beinhalten können (BOCK 2008, S.98). Sie enthalten „Momente bzw. Formen des Chaotischen“ (ebd. S.100). BOCK ist der Ansicht, dass somit „die ‚verschlungenen Wege‘ von Welt- und Selbstsicht vor dem Hintergrund von (sozial-)geschichtlichen Prozessen subjektbezogen in den Blick geraten“ können (ebd.). Wie Ironie mutet es an, dass die Autorin ein ‚Ordnungsschema‘ für diese chaotischen Bildungsprozesse aufstellt, indem sie von alltäglichen, geronnen Erfahrungen, über Lebensentwürfe erschütternde Ereignisse bis hin zu neuen Sinnstrukturen und damit zur Entstehung modifizierter Ordnungs- und Sinnstrukturen schreitet (vgl. BOCK 2008, S.100ff.). Dieses chaotische Bildungsmoment kann graphisch schwerlich abgebildet werden, wäre in der Abbildung 2 wohl am ehesten auf der y-Achse zu verorten.
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Abbildung 2:
Erweitertes Koordinatensystem einer subjektorientiertemanzipatorischen Jugendbildung (nach RAUSCHENBACH/OTTO 2008 und SCHERR 2003) soziale Integration
Selbstachtung
kulturelle Reproduktion
Selbstbestimmung
materielle Reproduktion
SubjektWerdung Persönlichkeitsbildung
Das spezifische institutionelle Potenzial (offener) Kinder- und Jugendarbeit liegt nach STURZENHECKER darin, sich über eigene Bildungsthemen auf genau diese chaotischen Bildungsprozesse einlassen oder sie gar ermöglichen zu können (vgl. STURZENHECKER 2008, S.157). Diese chaotischen Bildungsmomente können über die Differenz informeller Bildung in Abgrenzung zu formaler, aber auch zu nonformaler Bildung verdeutlicht werden (vgl. BOCK 2008, S.100). Sie sind das Spezifikum und der Hauptgegenstand einer offenen Kinder- und Jugendarbeit. Diese muss ihre Bildungsansprüche eben gerade nicht in ein Curriculum gießen und kann den Prozesscharakter von Bildung in den Mittelpunkt rücken. Subjektorientierte Bildungsarbeit geht aber über den (individualbiographischen) Aspekt von Bildung hinaus, wie BOCK ihn skizziert. Sie zielt vielmehr auf selbstbestimmte Handlungsfähigkeit im Kontext von Gesellschaft und Kultur. Diese erst ermöglicht es Kindern, Jugendlichen und junge Erwachsenen, jenseits von pädagogischer Bevormundung eigene Projekte zu entwickeln und zu realisieren (vgl. S CHERR 2003, S.99). Damit steht pädagogische Professionalität vor einem weiteren Grunddilemma. Sie muss, wie schon es NOHL formulierte, beachten, dass sie dem Zögling dort „nicht ‚zu nahe tritt‘, wo [sie; MB/HD] ihn steigern“ möchte (N OHL 1933, S.24). Zu beachten ist also immer die selbstkritische Frage, ob und wann eine dergestaltige pädagogische Bevormundung entstehen könnte, welche die 302
Autonomiespielräume der Klientel unnötig verkleinern würde (vgl. STURZENHECKER 2008, S.158). Zieldimension von (offener) Kinder- und Jugendarbeit muss die moralisch-ethische Autonomie sein, welche die Klientel einerseits vor der Willkür Anderer, auch der pädagogischen Professionals, schützt und andererseits doch in einer verpflichtenden Beziehung zu Anderen gedacht wird (vgl. UHLE 1995, S.56). Das von STURZENHECKER dargelegte Grundproblem der Unterstützung von Selbstbestimmung liegt, nach wie vor, in dem Paradox begründet, dass „Selbstbestimmung nur selbsttätig errungen werden kann“ (vgl. STURZENHECKER (2008, S.158). In der offenen Kinder- und Jugendarbeit wird dieser Widerspruch dadurch bearbeitet, dass Kindern- und Jugendlichen kontrafaktisch die noch zu erringende Autonomie zugestanden wird. Als Basisbedingungen für die Entwicklung von Selbstachtung, Selbstbestimmung und Subjekt-Werdung gelten im derzeitigen sozialpädagogischen Diskurs die Anerkennungsmodi Recht und Solidarität (vgl. z.B. SCHERR 2008; STURZENHECKER 2008, S.237ff.). Im bildungstheoretischen Diskurs werden diese mit der – von pädagogischer Forschung noch weiter zu problematisierenden – Grunddimension Liebe verknüpft (vgl. z.B. GAUS/UHLE 2002; UHLE 2007; GAUS/UHLE 2009) (vgl. Abb. 3). Solche abstrakt formulierten Anerkennungsmodi können im Kontext offener Kinder- und Jugendarbeit u.a. in der Bereitstellung von Ressourcen wie Raum, Zeit, physikalische Wärme, sozialer Wärme und Nähe, im Angebot von gleichen Beteiligungsrechte der Einzelnen und der gemeinsamen Gestaltung des sozialen Ortes realisiert werden. In öffentlichen Konfliktinszenierungen und Aushandlungsprozessen um Ansprüche auf Anerkennung können sich bildende Momente entfalten (vgl. STURZENHECKER 2008, S.161f.). Mit einer solchen Konkretisierung verknüpft STURZEN HECKER den Bildungsansatz von SCHERR mit dem bildungstheoretischen Konfliktansatz von MÜLLER (vgl. STURZENHECKER 2008, S.149; SCHERR 1997; MÜLLER 1996). Bei ihnen allen erkennt er die linkshegelianische Tradition AXEL HONNETHs wieder, individuelle wie soziale Entwicklungsprozesse als ‚Kampf um Anerkennung‘ zu deuten. „Anerkennung ist ein Gegenbegriff zur herrschaftlichen Unterwerfung von Individuen unter ihnen fremde Zwecke, zu ihrer bloßen Benutzung und Instrumentalisierung, zur Verletzung ihrer Würde und Integrität“ (SCHERR 1997, S.53, zit. n. STURZENHECKER 2008, S.149). Die offene Kinder- und Jugendarbeit ist aufgrund ihres diskursiven Charakters besonders geeignet, Spielräume für solche Kämpfe um Anerkennung zu ermöglichen. Dieser Optionsraum für einen solchen Bildungsanspruch wird in der Praxis selten aufgenommen. Empirisch beobachtbar sind eher Praxisformen der Betreuung, anpasserischen Kooperation, Prävention und konsumeristischen Dienstleistungsorientierung (vgl. ebd. S.153). Nur in Konflikt- und Aushandlungssituationen aber könnten Kinder und Jugendliche Konzepte und Praxen 303
Selbstbestimmung entwerfen und einklagen, also „quasi reine Formen der demokratischen Auseinandersetzung“ und Konsensbildung auf begrenztem Terrain erproben (SCHERR 2008, S.175; vgl. STURZENHECKER 2008, S.158). Gelingen der offenen Kinder- und Jugendarbeit solche konfliktgeladenen Kompromissbildungen ohne Ausgrenzungen der Schwierigen, dann darf sie sich als erfolgreiche Agentur für Bildung verstehen (vgl. MÜLLER 2003, S.242). Abbildung 3:
Bildungskoordinaten (offener) Kinder- und Jugendarbeit (angelehnt an RAUSCHENBACH/OTTO 2008; SCHERR 2003, 2008 und STING/STURZENHECKER 2005 sowie STURZENHECKER 2008) soziale Integration
Selbstachtung Anerken-
Selbstbestimmung -nungsmodi
kulturelle Reproduktion
materielle Reproduktion
Subjekt-Werdung
Persönlichkeitsbildung
ULRICH DEINET verbindet den oben erläuterten subjektorientierten Bildungsgedanken SCHERRs mit dem Aneignungskonzept der kulturhistorischen Schule im Anschluss an ALEXEJ NICOLAJEVITCH LEONTJEV. Demgemäß sieht er in der „Gestaltung der Jugendarbeit als ‚Aneignungsraum‘ ein jugendpolitisches Mandat zur Revitalisierung öffentlicher Räume“ (DEINET 2003, S.213). DEINET möchte bildende Augenblicke in der schöpferischen Auseinandersetzung mit der materiellen und symbolischen Welt in Form von permanenten Raum- und Situationsveränderungen ermöglichen. Zentrale Dimension einer Bildung des Subjekts ist für ihn der soziale Raum. Solche Bildungsprozesse im Sozialraum 304
können durch dessen vorhandene sozialstrukturelle Bedingungen gefördert oder auch eingeschränkt werden. DEINET konkretisiert also subjektorientierte, emanzipatorische Kinder- und Jugendbildung mit Hilfe des Aneignungsbegriffs. Diesen macht er anschaulich fassbar, u.a. durch die Gestaltung von Räumen mit Symbolen, durch Inszenierungen im öffentlichen Raum, durch Veränderungen vorgegebener Situationen und Arrangements. Über solche Formgebungsimpulse sieht er die Möglichkeit, die informeller Bildungsprozesse anregen zu können (vgl. ebd., S.216.). Der Raum wird somit durch seine Veränderbarkeit und die in ihm mögliche Konfrontation mit alternativen Welten ein eigener Bildungsraum für informelle Lernprozesse (vgl. ebd., S. 218). Für diesen Gedanken findet DEINET eine knappe Formel: „Aneignung braucht Anregung“ (ebd.). Auch dieses Raumaneignungskonzept DEINETS sei ebenfalls in das System von Koordinaten von Bildung in der (offenen) Kinder- und Jugendarbeit übertragen: Abbildung 4:
Bildungskoordinaten offener Kinder- und Jugendarbeit, um die Dimension sozialer Raum erweitert
soziale Integration
Selbstachtung
sozialer Raum der außerschulischen Kinderund Jugendarbeit
Anerken Selbstbestimmung -nungsmodi
kulturelle Reproduktion
materielle Reproduktion
Subjekt-Werdung
Persönlichkeitsbildung
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Freilich dürfen die besonderen Möglichkeiten der offenen Kinder- und Jugendarbeit nicht zerstört werden, indem ihr das Mehrdeutige, das Spielerische genommen wird. Sie hat den Auftrag und die Chance zu Bildung „in Freiheit zur Freiheit“ (KENTLER 1964, zit. n. MÜLLER 2003, S.243). Sie kann eine Probebühne für die Erfahrung bieten, „wie es sich anfühlt, sich daneben zu benehmen“. Professionell gestaltete (offene) Kinder- und Jugendarbeit hat „Sympathie für die Unreife“ (MÜLLER 2003, S.244). Eine solche Argumentation meint keine Legitimation eines beliebigen ‚anything goes‘. Vielmehr verlangt sie im Gegenteil auch und gerade methodische Phantasie bei der Gestaltung und empirische Klarheit bei der Evaluation von Bildungsanlässen, um die Prozesshaftigkeit von Bildung – auch in deren chaotischen Momenten – nachweislich abbilden zu können (vgl. THOLE 2003, S.261). In diesen Bereich professionell zu beherrschender Verfahren gehört neben der, schon angesprochenen, Rückbesinnung auf originär pädagogische Verfahren des Verstehens, die Beherrschung und sinnvolle Anwendung qualitativer wie quantitativer Forschungsverfahren, sei es z.B. in Form inhaltsanalytischer Techniken, sei es in Form statistischer Auswertungen (vgl. MAYRING 2008; BORTZ 2005). Nur die sichere Beherrschung solcher methodischer Grundlagen ermöglicht fundierte Praxis und die reflexive Rückführung ihrer Ergebnisse in die Diskurse allgemeinpädagogischer Theoriebildung. Es steht somit die Forderung nach einer neuen Konzeption von – mit PETER PETERSEN – pädagogischer Tatsachenforschung zur Umsetzung an, welche simplifizierender MainstreamEmpirie, die mit Zahlenkolonnen einzuschüchtern weiß, Paroli zu bieten weiß. 4
Legitimation spezieller Pädagogiken durch den Bildungsbegriff – ein Arbeitsauftrag
Wenn die (offene) Kinder- und Jugendarbeit sich auf ein Bildungsverständnis wie das hier vorgelegte einigen kann, dann kann als Ergebnis festgehalten werden: Die zentrale Dimensionen von Bildung liegt in der kulturellen Reproduktion, materiellen Reproduktion und Persönlichkeitsbildung (vgl. RAUSCHENBACH /OTTO 2008). Bildung ist über die Förderung von Selbstachtung, Selbstbestimmung und Subjekt-Werdung zu charakterisieren (vgl. SCHERR 2003, 2008). Bildung bedarf einer Basis der Anerkennungsmodi Recht, Solidarität und Liebe. Bildungsarbeit bietet systematische und professionelle Hilfestellung für entsprechende Bildungsprozesse, wofür sie gegebene und eventuell erweiterte Aneignungsräume gestaltet und bereitstellt (vgl. DEINET 2003). Wenn diese Grundsätze als gemeinsame Basis anerkannt werden, dann darf die (offene) Kinder- und Jugendarbeit mit Recht fordern, als gleichberechtigte Partnerin 306
neben anderen Bildungsinstitutionen einen wichtigen Beitrag für Bildungsprozesse von Kindern- und Jugendlichen zu leisten (vgl. RAUSCHENBACH /OTTO 2008). In diesem Falle muss sie ihren Bildungsanspruch nicht mehr verstecken (vgl. MÜLLER 2003, S.236). Es bleibt aber, nach wie vor und in der Gegenwart mehr denn je, unbedingt notwendig, diese (möglichen) Bildungsprozesse auch empirisch abzubilden. Auch hier gilt dieselbe Maxime wie für den traditionsstarken Bildungsbegriff: Es bestehen bereits eine ganze Reihe von Verfahren, die auch ‚chaotischen Bildungsprozesse‘ in der (offenen) Kinder- und Jugendarbeit abbilden oder doch zumindest empirisch nachdrücklich aufzeigen können (vgl. BOCK 2008). Hinzuweisen ist hier etwa auf hermeneutische Verfahren (Stichwort: Deutungskompetenz von pädagogischen Fachkräften) auf der Basis von Texttranskriptionen oder auf inhaltsanalytische Verfahren von Interviews, nicht weniger aber auch auf quantitative Erhebungen mittels Fragebögen in interdisziplinären Teams (vgl. UHLE 1978; UHLE 2002; MAYRING 2008; SCHELTEN 1997). Forschungsmethodologisch muss die theoretische Itemkonstruktion von Fragebögen dringend weiter bearbeitet werden. Auch gut dokumentierte und konsensuell validierte Beobachtungsmethoden müssen hinsichtlich ihrer Funktionen zu empirischen Wirksamkeitsnachweisen weiter entwickelt werden. Auf Seiten der professionellen Praktiker ist es umgekehrt dringend erforderlich, dass die Mitarbeiter in der Kinder- und Jugendarbeit eine höhere Affinität als bisher zu den fachwissenschaftlichen Diskursen insbesondere allgemeinpädagogischer Theorietradition sowie zu den Methoden der erziehungs- und sozialwissenschaftlichen Forschung entwickeln. Nur so werden sie sich auch noch in Zukunft jene (sozial-)pädagogischen Fachkenntnisse erarbeiten können, die bezüglich informeller Bildungsprozesse im Kinder- und Jugendalter unabdingbare wissenschaftlich-theoretische Grundlage professioneller Handlungskompetenz sind (vgl. THOLE 2005, S.199). In diesem Zusammenhang ist es unabdingbar, die strukturellen Rahmenbedingungen der hochschulischen Qualifikation zu verbessern. CLAUDIA WEGENER kommt bei der Auswertung von derzeit gültigen Studien- und Prüfungsordnungen für das Feld der Kinder- und Jugendarbeit zu dem Ergebnis, „dass eine wissenschaftlich und theoretisch fundierte Qualifikation für die Handlungsfelder der Kinder- und Jugendarbeit nur in unzureichender Form gewährleistet“ ist (WEGENER 2005, S.45, vgl. S.15ff.). ERNST-UWE KÜSTER verweist diesbezüglich auf eine kaum konturierte fachliche Identität der Kinder- und Jugendarbeit. Eine solche wäre jedoch die unabdingbare Grundlage einer eindeutigen Verortung der (offenen) Kinder- und Jugendarbeit im Kontext des Bildungssystems. Erst sie könnte ein eigenständiges Profil und damit einen eigenständigen Beitrag für die Weiterentwicklung des Bildungsverständnisses ermög307
lichen (vgl. KÜSTER 2005, S.67). Solange ein Bewusstsein für diese Fragen nicht in das Planungshandeln bei der Konzeption bildungswissenschaftlicher Studienangebote einfließt, ist keine einschneidende Verbesserung der erwartbaren Qualifikationslage und der zu unterstellenden Kompetenzniveaus pädagogischer Professionals im Feld informeller Bildungsangebote zu erwarten. Die genannten Punkte wären also notwendige Bedingungen, damit die (offene) Kinder- und Jugendarbeit nicht weiter als stille Reserve für andere Bildungsinstitutionen herhalten muss, sondern einen tatsächlich eigenständigen relevanten Anteil an Bildungsimpulsen bieten könnte. Die Ausgangsthese, dass mit Hilfe allgemeinpädagogischer Theorietraditionen die Grundstrukturen spezieller Pädagogiken – hier die der (offenen) Kinder- und Jugendarbeit – hinreichend legitimiert werden können, kann allerdings erst dann als abschließend beantwortet gelten, wenn die Allgemeine Pädagogik selbst zentrale Fragestellungen mit Problembewusstsein weiter entwickelt. In diesen Forderungskomplex gehören etwa Untersuchungen zu Verschiebungen im generationalen Verhältnis oder Auseinandersetzungen mit Fragen zur Selbstbildsamkeit. Zudem muss eine Versöhnung und weitergehende Verzahnung von quantitativen und qualitativen Forschungsmethoden und Wissenschaftsverständnissen erreicht werden. Wenn die Allgemeine Pädagogik einerseits nicht nachlässt, weiterhin die Bedeutung theoretischer Durchdringung zu betonen, andererseits aber zugleich auch ihre Angst vor Zahlen reduziert, so ist es möglich, dass sie auch in Zukunft eigene empirische Nachweise und eigene theoretische Legitimationen ihrer etwas anderen Bedeutung erbringen kann, als es die derzeit dominanten empirischdeskriptiven Studien wie PISA & Co vermögen. Literaturverzeichnis BIERI, P ETER (2007): Wie wollen wir leben? In: ZEIT Magazin Leben, Nr. 52 vom 19.12. 2007, S.44-45 BOCK , K ARIN (2008): Einwürfe zum Bildungsbegriff. Fragen für die Kinder- und Jugendhilfeforschung. In: OTTO, HANS-UWE/RAUSCHENBACH, THOMAS (Hrsg.): Die andere Seite der Bildung. Zum Verhältnis von formellen und informellen Bildungsprozessen. 2. Aufl. Wiesbaden: VS Verlag Sozialwissenschaften, S.91-105 BORTZ , J ÜRGEN (2005): Statistik für Human- und Sozialwissenschaftler. 6.Aufl. Heidelberg: Springer D EINET , U LRICH (2003): Regionale Lebenswelten als Ausgangspunkt einer aneignungs- und bildungsorientierten Jugendarbeit. In: LINDNER, WERNER/THOLE, WERNER/WEBER, JOCHEN (Hrsg.): Kinder- und Jugendarbeit als Bildungsprojekt. Opladen: Leske + Buderich, S.213-225 DRIESCHNER , ELMAR (2007) Erziehungsziel "Selbstständigkeit". Grundlagen, Theorien und Probleme eines Leitbildes der Pädagogik. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften F EGEBANK , BARBARA (2004): Eine Neue Lern-Lehr-Kultur in der beruflichen Bildung. In: FEGEBANK, BARBARA/ SCHANZ, HEINRICH: Arbeit-Beruf-Bildung in Berufsfeldern mit
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Zu welchem Zweck studiert man Erziehungs- und Bildungstheorien? Zur Lehrgestalt der Allgemeinen Pädagogik in modularisierten Studiengängen Peter Vogel
Ein Internet-Spaziergang durch die erziehungswissenschaftlichen Lehrangebote an deutschen Hochschulstandorten zeigt – bei allen Unterschieden – eine gewisse Übereinstimmung in der Grundstruktur: Den jeweils am Profil des Abschlusses oder des Studienschwerpunktes orientierten Spezifikationen ist ein allgemeiner Teil vorgelagert, in dem es um ‚Einführungen‘, ‚Grundlagen‘ und ‚Grundbegriffe‘ geht. Ein stets vorhandenes Element dieses Einführungs- oder Grundlagenteils ist – auf verschiedenen Niveaus der Differenzierung – ein Bereich, ein Modul oder wenigstens eine Pflichtveranstaltung, in der es um ‚klassische Bildungstheorie‘, um Angebote zu Epochen der pädagogischen Ideengeschichte (Aufklärungspädagogik, Neuhumanismus, Reformpädagogik etc.) oder um einzelne ‚Klassiker‘ des Faches (PLATON, JOHANN AMOS COMENIUS, JEAN-JACQUES ROUSSEAU, IMMANUEL KANT, JOHANN FRIEDRICH HERBART, etc.) geht. Das spricht zunächst für eine innerdisziplinäre Tradition: Wer Erziehungswissenschaft studiert – gleich, ob im Rahmen der Lehrerbildung oder in einem erziehungswissenschaftlichen Hauptfachstudium –, muss sich mit Erziehungs- und Bildungstheorien auseinandersetzen, die offenbar zum Kernbestand des erziehungswissenschaftlichen Wissens gehören. Dieser – wenig überraschende – Befund wird durch einen Blick auf das ‚offizielle‘ Kerncurriculum Erziehungswissenschaft der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft bestätigt: In den verschiedenen von der DGfE erarbeiteten Versionen eines Kerncurriculums seit 2001 zählen Erziehung und Bildung (neben anderen) zu den erziehungswissenschaftlichen Grundbegriffen, die obligatorisch in der ersten Grundeinheit (‚Grundlagen der Erziehungswissenschaft‘) zu behandeln sind (vgl. DGfE 2001, 2004, 2008). Erziehungs- und Bildungstheorien zählen also zum Kernbestand des erziehungswissenschaftlichen Studiums, sowohl in der Praxis der Lehrangebotskonstruktion, welche das Studium steuern soll, als auch in der Selbstverständigung der Zunft über den Kern ihres Studiums.
Bei näherer Betrachtung der Bandbreite der Angebote (Begriffe, Epochen, Probleme, klassische und moderne Autoren) stellen sich dann doch Fragen ein: ‚Bildung‘ oder ‚Erziehung‘ als Grundbegriffe scheinen in der Praxis der universitären Ausbildung nicht ohne Rückgriff auf klassische Erziehungs- und Bildungstheorien behandelbar zu sein. Das dementsprechende Angebot aber ist einerseits breit und andererseits heterogen. Es sind offensichtlich nicht einzelne Autoren, die den Kernbestand des Faches im Sinne eines obligatorischen Kanons definieren in dem Sinne, dass kein Student an PLATON, KANT und HERBART vorbei käme. Wenn man weder Beliebigkeit noch die Verfangenheit der jeweiligen Lehrenden in der eigenen wissenschaftlichen Sozialisation unterstellen möchte, dann können es also nicht die einzelnen Autoren sein, die diesen Kern des Faches ausmachen. Vielmehr muss dieser Kern wohl in dem verborgen liegen, was man an der Beschäftigung mit den Theorien dieser Autoren lernt – und die Frage ist, was das im Detail ist. Nun kann man diese Frage einfach als unakademisch zurückweisen, man kann sich aber auch wenigstens versuchsweise darauf einlassen. Im Folgenden wird versucht zu zeigen, warum diese Frage nicht nur interessant, sondern vor dem Hintergrund der aktuellen Studienreform geradezu brisant ist. 1
Herausforderung Modularisierung
Die Ablösung der konventionellen Magister -, Diplom- und Lehramtsstudiengänge durch Bachelor- und Masterstudiengänge im Rahmen des ‚BolognaProzesses‘ hat neben vielen anderen Neuerungen die Konsequenz, dass die Studienverläufe kleinschrittiger und nach formalen Vorgaben geplant werden müssen; das Instrument dafür heißt Modularisierung. Dass man Lernanforderungen nach Kreditpunkten portioniert, die wiederum studentischem Arbeitsaufwand (‚workload‘) entsprechen, ist nicht der Kern der Innovation. Die eigentliche Herausforderung besteht in der Erwartung, dass die Logik der curricularen Feinplanung von Kompetenzen ausgeht, die mit Hilfe der Inhalte erworben und deren Erwerb auch geprüft werden soll. Die neue Begründungslogik wird aus der bekannten Definition im Programmtext der BUND-LÄNDER-KOMMISSION FÜR BILDUNGSPLANUNG UND FORSCHUNGSFÖRDERUNG (BLK) aus dem Jahr 2002 deutlich: „Modularisierung im Studium bedeutet zunächst eine Neuorganisation der Studienstruktur. Dabei werden Lehrveranstaltungen wie Vorlesungen, Übungen, Praktika, Exkursionen oder Seminare zu thematischen Einheiten, den Modulen, zusammengefasst. Maßgeblich für die Zusammensetzung eines Moduls ist die Teilqualifikation, die durch das Absolvieren dieses Moduls erlangt werden soll. Über den organisatorischen 312
Aspekt hinaus geht es also darum, sich auf einen Perspektivwechsel einzulassen, weg vom traditionellen Ansatz ‚Welche Lehrinhalte will ich vermitteln?‘ (InputOrientierung) hin zur Frage, ‚Welche Kompetenzen sollen das Ergebnis von Lern- und Bildungsprozessen sein?‘ (Output-Orientierung)“ (BUND-LÄNDERKOMMISSION FÜR BILDUNGSPLANUNG UND FORSCHUNGSFÖRDERUNG 2002, S.4). Modularisierung impliziert also nicht nur das Sortieren der Lehrinhalte in handliche Module, sondern auch den einigermaßen radikalen Perspektivwechsel von der Input- zur Outputorientierung. Der Rationalitätsgewinn des neuen Denkmodells wird unter anderem in der Überprüfung von traditionellen, vielleicht aber längst dysfunktional gewordenen Lehrinhalten gesehen. Solches geschieht durchaus mit der Perspektive, dass manche dieser Inhalte künftig entbehrlich sind. Die überkommenen Inhalte müssen sich dem Kriterium stellen, dass sie zur Erreichung eines Qualifikationsziels (des einzelnen Moduls) beitragen: „Modularisierung erfordert ein Umdenken vom ‚Fach‘ zur funktionalen Einheit ‚Modul‘ und zwingt so zu einer grundlegenden Neustrukturierung der zu vermittelnden Studieninhalte. Die Lehrenden eines Moduls sollten sich auf das für das Qualifikationsziel des Moduls Wesentliche beschränken, was zumindest in der Umstellungsphase schwer fallen kann. Auch die Prüfungsanforderungen müssen sich am neuen Modul und nicht am alten Fach orientieren“ (vgl. ebd., S.8). Die BLK lässt offen, was mit Kompetenzen genau gemeint ist. Die Engführung auf ‚professionelle Kompetenzen‘ für den späteren Beruf ist keinesfalls zwingend (obwohl es oft so diskutiert wird). Im Folgenden wird unter ‚Kompetenzen‘ im Zusammenhang mit Modularisierung der Einfachheit halber das verstanden, was Studierende im und nach dem Studium wissen oder können, von dem sie vor Aufnahme des Studiums nicht wussten und nichts konnten1. Wir halten fest: Im Rahmen der Umstellung auf Module wird eine andere Art der Legitimation von Studieninhalten verlangt. Dieser müssen sich auch die überkommenen und quasi selbstverständlichen Themen der Erziehungs- und Bildungstheorien stellen. Vor dem Hintergrund des nicht nur aus Anlass von ‚Bildungsstreiks‘ geäußerten Generalverdachts, dass bei der Bologna-Reform die alten Inhalte nur komprimiert, aber nicht durchforstet und auf Kompetenzen bezogen worden sind, besteht die Gefahr, dass Erziehungs- und Bildungstheorien gewissermaßen bei der nächsten ‚Entrümpelungsaktion‘ – schon ist von der ‚Reform der Reform‘ die Rede – verloren gehen. Es ist also nicht nur von akademischem Interesse, wenn man der Frage nachgeht, welche Effekte man bei den Studierenden von der Beschäftigung mit diesen Theorien eigentlich erwartet.
1 Zum Problem von Input- bzw. Output-Standards im erziehungswissenschaftlichen Studium vgl. weiterführend VOGEL 2009.
313
Im Folgenden wird ein Modell vorgestellt, das einerseits die Frage nach den angestrebten Effekten behandelt, andererseits – wenn man der vorgeschlagenen Antwort folgen möchte – das wissenschaftsdidaktische Setting beschreibt, das daraus folgt. 2
Die Rolle von Erziehungs- und Bildungstheorien im Studium
Erziehungs- und Bildungstheorien sind ein bestimmter Theorietypus, der für die Erziehungswissenschaft endemisch ist. Dieser stellt gewissermaßen die Urform pädagogisch-wissenschaftlicher Theoriebildung2 dar: ein Handlungszusammenhang (im Folgenden ‚pädagogisches Handlungssystem‘ genannt) sowohl im Bereich der Anbahnung von Haltungen (Erziehung) als auch im Bereich der Anbahnung von Wissen über die Welt und Relationen zur Welt (Bildung) wird normiert (was ist das Ziel?), konfiguriert (was führt zum Ziel? Was gehört dazu?) und legitimiert. Die Theoriegeschichte der Pädagogik/Erziehungswissenschaft ist einerseits das Archiv dieser Versuche. Andererseits ist offensichtlich, dass der gegenwärtige öffentliche Diskurs über Erziehung und Bildung – von der ‚Super-Nanny‘ über Ganztagsschulen bis zur Frage der Zukunft der akademischen Bildung in den Zeiten von Bologna – bestimmt wird von expliziten oder impliziten Erziehungs- oder Bildungstheorien. Demnach und noch darüber hinaus haben wir gute Gründe für die Annahme, dass diese aktuellen Theorien oder Theoreme mit Denkfiguren argumentieren, die aus dem oben genannten Archiv stammen. Dabei muss den Protagonisten solcher Debatten nicht einmal bewusst sein, womit sie eigentlich argumentieren und welchen Prämissen ihre Argumente ihre Überzeugungskraft verdanken. Dieser Umstand ergibt sich zwanglos daraus, dass das aktuelle theoretische Inventar vorläufiger Endpunkt einer Vorgeschichte von Ideen und Begriffen ist; es gibt kein Konzept, keinen Begriff, kein Theorem, das nicht an historisch frühere Konzepte, Begriffe, Theoreme anknüpft. a. b.
Wenn man also ‚klassische‘ Erziehungs- und Bildungstheorien weder als Bestand an kanonisierten heiligen Schriften behandelt, aus denen man immer etwas lernen kann, wenn man sie entsprechend auslegt, noch als antiquarisches Erbe, das man aus Gründen der Traditionspflege und der Identitätskonstruktion von Generation zu Generation weitergibt,
2 Die Frage, welche Bedeutung ihnen innerhalb der gegenwärtigen Erziehungswissenschaft zukommt, ist durch den Hinweis auf die Tradition noch nicht beantwortet, und dass es diesen Theorietyp nur in der Erziehungswissenschaft gibt, ist auch ein eher ambivalentes Charakteristikum.
314
c.
d.
sondern sie epistemologisch nutzt, d. h. als Denkmodelle, mit denen schon einmal Erziehung und Bildung konzipiert wurden und die möglicherweise den gegenwärtigen Diskurs über Erziehung und Bildung beeinflussen (ohne dass wir uns dessen immer bewusst seien müssen), dann liefert die Auseinandersetzung mit Erziehungs- und Bildungstheorien einerseits ein Inventar von Denkfiguren für den aktuellen Diskurs und leistet andererseits einen Beitrag zur Selbstaufklärung über diesen Diskurs.
Wenn Erziehungs- und Bildungstheorien diese orientierende Funktion haben sollen, dann hat das Konsequenzen für ihre Behandlung in der akademischen Lehre: Hauptzweck ist in diesem Falle das Herausarbeiten der jeweiligen Argumentationslogik, ihrer Leistung und ihrer Prämissen. Nicht oder zumindest nicht in erster Linie geht es hingegen um die Beschäftigung mit der Vielfalt jeweiliger pädagogischer Handlungssysteme. Um die wissenschaftsdidaktischen Konsequenzen aus dieser Zielbestimmung diskutieren zu können, kann eine Vergewisserung über die Bestandteile von Erziehungs- und Bildungstheorien hilfreich sein. Ausgangspunkt ist dabei ein heuristisches Modell zur formalen Beschreibung von Erziehungs- und Bildungstheorien im Rahmen akademischer Lehre. 3
Heuristisches Modell Erziehungs- und Bildungstheorien
Pädagogische Handlungssysteme verweisen auf pädagogische Theorien. Diese begründen einerseits die Elemente der Handlungssysteme sowie deren Zusammenhang und legitimieren sie andererseits. Pädagogische Theorien wiederum verweisen ihrerseits wiederum auf grundlegende (philosophische) Annahmen über den Menschen und sein Verhältnis zur materiellen und sozialen Welt. Dieser Zusammenhang kann graphisch veranschaulicht werden:
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Tabelle 1: Verweisungssystem pädagogischer Studien
A Philosophie Menschenbildannahmen
E Explizite oder implizite Aussagen über die Pädagogik als Wissenschaft
B Pädagogische Theorie
D Zeit- und sozialgeschichtlicher Kontext
C Pädagogische Handlungssysteme (einschließlich pädagogischer Arrangements / Settings)
Feld A: Alle Erziehungs- und Bildungstheorien arbeiten explizit oder implizit mit Annahmen über den Menschen, sein Verhältnis zur Welt, seine Erkenntnismöglichkeiten, seine moralische Verfasstheit, den Zweck seines Daseins usw. In der Regel beziehen sich pädagogische Theorien auf elaborierte philosophische oder theologische Theorien oder auf dominierende ‚Weltanschauungen‘. In manchen Fällen – so z.B. bei GEORG WILHELM FRIEDRICH HEGEL oder MAURICE MERLEAU-PONTY – sind die pädagogischen Theorien gewissermaßen nur das Ergebnis von Nebeneffekten, die sich aus einer philosophischen Theorie ergeben. Eine dritte Gruppe bilden schließlich – wie z.B. bei MARIA MONTESSORI – Theorien, die ihre Grundannahmen nicht explizieren, weshalb sich solche Modellannahmen erst durch analytische Anstrengung erschließen. Feld B: Die im engeren Sinne pädagogische Theorie enthält die Beschreibungen der pädagogischen Aufgabe, Problemdefinitionen und Legitimationsfiguren pädagogischen Handelns (einschließlich normativer Überzeugungen und empirischer Annahmen über Handlungseffekte). Die Argumentationsfiguren sind unterschiedlich sorgfältig begründet und unterschiedlich stringent miteinander verknüpft. Die Begrifflichkeit folgt in vielen Fällen einerseits der eigenen (pädagogischen) Tradition – so z.B. in Begriffen wie ‚Bildung‘, ‚Lernen‘, ‚Huma-
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nität‘, ‚Erzieher-Zögling-Verhältnis‘, ‚pädagogische Autorität‘, etc. –, ihre Bedeutung ist andererseits abhängig von den philosophischen Referenztheorien. Feld C: Die pädagogischen Handlungssysteme enthalten das diagnostische Instrumentarium und die Handlungsregeln für pädagogische Interventionen. So umfassen sie z.B. Regeln für den disziplinierenden Umgang mit widersetzlichen Zöglingen, Regeln für die didaktische Aufbereitung eines bestimmten Gegenstandes für eine bestimmte Gruppe von Lernenden, etc. Hierher gehören auch die Regeln für die Konstruktion pädagogisch förderlicher oder notwendiger Arrangements. Solche sind z.B. Regeln für die Einrichtung eines Kindergartens oder den Tagesablauf und die Organisation eines Lehrplans für das Fach Deutsch in der gymnasialen Oberstufe oder Bedingungen für den Erfolg von Bildungsreisen, etc. Feld D: Das Verständnis der pädagogischen Theorien und ihrer philosophischen Referenzen ist gelegentlich auf eine zeit- und sozialgeschichtliche Einordnung angewiesen: Soll etwa die konkrete Umsetzung der Bildungstheorie WILHELM VON HUMBOLTs in Plänen zur Bildungsreform nachvollzogen werden können, so setzt solches Informationen zur preußischen Geschichte ebenso voraus wie Kenntnisse über die historische Bildungsrealität in Preußen, die zur Reformierung anstand. Feld E: Erziehungs- und Bildungstheorien enthalten manchmal Aussagen über die Aufgaben und die theoretische Konstitution einer wissenschaftlichen Pädagogik/Erziehungswissenschaft. Explizit gilt solches z.B. für KANT, für die Aufklärungspädagogen, für JOHANN HEINRICH PESTALOZZI oder für HERBART. In solche Begründungs- und Verweisungszusammenhänge des Faches ist systematisch einzuführen. Die Erfahrung zeigt zweierlei. Zum einen ist deutlich, dass die Zuordnung einzelner Theoreme zu den Feldern B oder A nicht immer trennscharf möglich ist. Zum anderen ist zu vergegenwärtigen, dass bei unterschiedlichen Theorien die einzelnen Felder unterschiedlich ‚besetzt‘ sein dürften: Es gibt Erziehungsund Bildungstheorien – wie z.B. die von MONTESSORI –, bei denen der Schwerpunkt auf dem Handlungssystem liegt, die pädagogische Theorie fragmentarisch ist und der philosophische Hintergrund nicht thematisiert wird. Es gibt zugleich aber auch Erziehungs- und Bildungstheorien – wie z.B. die von THEODOR WIESENGRUND ADORNO oder HEGEL –, bei denen eine dezidierte, aber eher skizzenhaft ausgearbeitete pädagogische Theorie aus einer elaborierten Philosophie folgt, während den Urheber das Handlungssystem nicht wirklich interessiert.
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Wissenschaftsdidaktische Überlegungen
Es ist grundsätzlich möglich, wenn auch in unserer akademischen Tradition etwas ungewohnt, bei der Seminarplanung und -gestaltung von den Effekten auszugehen, die man bei den Studierenden erreichen will. Wenn durch Prüfung diese Effekte evaluiert werden sollen, ist es heuristisch nicht verkehrt, sich anhand der Überlegungen zu den Kompetenzen, die ja auch Gegenstand der Prüfungen sein sollen, Gedanken über das zu machen, was man mit der Behandlung eines Themas eigentlich erreichen will. Damit würde eine Hinwendung zu Output-Standards berücksichtigt. Wenn man Erziehungs- und Bildungstheorien epistemologisch nutzen will, so stehen die Denkfiguren, die Problemdefinitionen, die Argumentationslogiken im Vordergrund. Welchen Weg man allerdings zu ihrer Erschließung im Seminar wählt, wird je nach Theorie und Dozent unterschiedlich sein: Man kann ein pädagogisches Theorem an Hand der Umsetzung im pädagogischen Handlungssystem erklären oder als Ableitung aus übergeordneten philosophischen Vorgaben erläutern. Man kann vom Handlungssystem ausgehend den Rest erschließen. Man kann vom philosophischen Anliegen aus die pädagogische Theorie rekonstruieren und selbst Konsequenzen für pädagogischen Handlungssysteme entwerfen (z.B.: wie müsste der Gymnasialunterricht gestaltet werden, wenn keine Halb-Gebildeten entstehen sollen?), etc. Die wissenschaftsdidaktischen Entscheidungen müssen sich an der Klientel und ihren Voraussetzungen und Vorkenntnissen, an deren Anknüpfungsmöglichkeiten an aktuelle Problemlagen, an der Materiallage und ggf. an den eigenen Arbeitsschwerpunkten orientieren. Wenn sich Seminargestaltung und Prüfung an der epistemologischen Funktion der Erziehungs- und Bildungstheorien orientieren sollen, dann muss die Rekonstruktion der Denkfiguren und ihrer immanenten Logik ergänzt werden. Es muss Gegenstand der Veranstaltungen sein, die Gesichtspunkte ‚epistemologischer Leistung‘, wo es möglich ist, um die Dimension der Kritik, der kritischen Diskussion dieser Ansätze zu ergänzen. Solches ist immer möglich. Die Frage nach der epistemologischen Leistung einer Lehrveranstaltung zielt auf die Beurteilung des Versuchs, die pädagogischen Denkfiguren auf den aktuellen Diskurs bzw. auf aktuelle Problemlagen zu beziehen. Diese Aufgabe lässt sich am Besten durch Beispiele erklären:
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‚Wie müsste man Bildungsprozesse organisieren bzw. womit müsste man rechnen, wenn PLATON mit der Annahme einer primären Einnistung der Menschen in der Höhle seiner Lebenswelt recht hatte?‘; ‚Wäre die heutige Universität in ihrer aktuellen Verfasstheit im Sinne PLATONs eigentlich Teil der Höhle oder Teil der Oberwelt?‘;
‚Kann man PLATONs Entwurf eines Bildungsgangs als Modell für die Bildung aller Menschen nutzen oder ist es ein Elitenkonzept?‘ (Nirgendwo steht im Höhlengleichnis, dass man die Höhle komplett räumen soll – andererseits steht auch nichts davon im Text, dass man es nicht tun soll); ‚Wäre HUMBOLDT heute ein Verfechter eines grundständigen humanistischen Gymnasiums in einem typendifferenzierten Bildungssystem oder Befürworter einer Gesamtschule als einzigem Schultyp?‘; ‚Wäre nach ADORNO eine Gesellschaft möglich, in der es keine Halbgebildeten gibt und wie müsste sie aussehen?‘; ‚Ist das heutige Bildungssystem eher nach aufklärungspädagogischen oder eher nach neuhumanistischen Prinzipien organisiert?‘; ‚Wie geht unser heutiges Bildungssystem mit dem Spannungsverhältnis von ‚Brauchbarkeit’ und ‚Vollkommenheit’ als pädagogischen Zielen um?‘; ‚Spielt ROUSSEAUs Unterscheidung zwischen dem tatsächlichen Verhalten von (gesellschaftlich verdorbenen) Kindern und dem, was Kinder ‚eigentlich‘ wollen (wenn sie nicht gesellschaftlichen Einflüssen ausgesetzt wären), im pädagogischen Diskurs heute noch irgendwo eine Rolle?‘; ‚Kann man PESTALOZZIs Konzept vom ‚Hausglück des Volkes‘ und seine Bedeutung für gelingende Erziehung mit Hilfe aktueller Theorien reformulieren?‘; ‚Kann HERMAN NOHLs Definition des ‚Pädagogischen Bezugs‘ die Basis für professionelles Lehrerhandeln abgeben?‘; etc.
Die Diskussion solcher Fragen im Seminar macht deutlich, worin der Sinn der Beschäftigung mit ‚klassischen‘ Erziehungs- und Bildungstheorien besteht. Sie konfrontieren uns mit Problemdefinitionen und Lösungsmodellen. Diese sind geeignet, die Selbstverständlichkeit unserer gegenwärtigen Problemdefinitionen und Lösungsmodelle in Frage zu stellen. In einer Prüfung können die Kandidaten zeigen, dass sie den Kern der Theorien verstanden haben und mit den Denkfiguren umgehen können. Kritische Diskussion3 bedeutet – im Seminar wie in der Prüfung – eine Analyse und Diskussion der Prämissen, welche – offen oder versteckt – die Bedingungen für die Plausibilität der pädagogischen Theorie sind („die Theorie geht nur auf, wenn man unterstellt, dass…“). Es geht nicht darum, die Theorie oder ihre Prämissen zu widerlegen, indem man ein eigenes Modell oder eigene Grundüberzeugungen dagegen setzt4. Solches würde nämlich voraussetzen, dass
3 Dieses Verständnis von ‚Kritik‘ ist stark geprägt von meiner wissenschaftlichen Sozialisation im Umfeld der ‚Transzendentalkritischen Pädagogik‘ und möglicherweise nicht alternativlos. 4 In der Terminologie der Transzendentalkritischen Pädagogik wäre das ‚dogmatische‘ Kritik.
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man die Prämissen des eigenen Gegenmodells im Griff hat, was nach Lage des Theorierahmens jeder denkbaren Erziehungs- und Bildungstheorie unmöglich sein dürfte. Es genügt, zu zeigen, welchen Annahmen die kritisierte Theorie ihre Plausibilität verdankt5 und was es für Folgen für die Theorie hat, wenn man diese Prämissen nicht teilt oder von anderen Prämissen ausgeht. 5
Zusammenfassung
Die Beschäftigung mit Erziehungs- und Bildungstheorien ist traditioneller und obligatorischer Bestandteil erziehungswissenschaftlicher Studien, unabhängig vom angestrebten Berufsziel. Allerdings ist kein fester Bestand (im Sinne eines Kanons) an Theorien oder Autoren auszumachen. Offensichtlich wird schon immer unterstellt, dass man an Theorien oder Autoren etwas über Erziehungs- und Bildungstheorien lernt und die Auswahl der Theorien oder Autoren – im Rahmen der Theoriegeschicht der Pädagogik/Erziehungswissenschaft – relativ beliebig ist6. Im Hinblick auf das Modularisierungsproblem bedeutet das zugleich, dass es in der Lehr-Tradition der Erziehungswissenschaft so etwas gibt wie eine implizierte Output-Orientierung: die Reflexion aus Anlass eines Lerngegenstandes ist das Ziel der Auseinandersetzung, nicht aber – oder zumindest doch nicht primär oder gar ausschließlich – der Gegenstand selbst7. Wenn eine solche implizite Output-Orientierung in pädagogischen Studiengängen immer schon zu unterstellen ist, so ist es zwanglos möglich, der neuen, durch die Modularisierung induzierten Legitimationslogik zu entsprechen. Möglicherweise tritt sogar ein Rationalisierungsgewinn im Sinne einer ‚vernünftigeren‘ Lehrveranstaltungs- und Studiengangsplanung ein. Dieser Effekt könnte sich dann einstellen, wenn man bei der Auswahl der Seminarthemen oder -texte von dem ausgeht, was die Studierenden tatsächlich lernen sollen im Sinne der Effekte, die man sich in der Auseinandersetzung mit den Texten erhofft. Eben in
5 In der Terminologie der Transzendentalkritischen Pädagogik wäre das ‚immanente‘ Kritik. 6 Ich bezweifle, dass sich auch nur ein Hochschullehrer der Allgemeinen Erziehungswissenschaft im eigenen Studium mit allen Theorien und Autoren beschäftigt hat, die z.B. bei ANDREAS DÖRPINGHAUS, ANDREAS POENITSCH und LOTHAR WIGGER aufgeführt sind (vgl. DÖRPINGHAUS/ POENITSCH/ WIGGER 2006). 7 Diese Argumentation hat mindestens eine gewisse Ähnlichkeit mit der Problemkonfiguration der ‚klassischen‘ Bildungstheoretischen Didaktik unter dem Aspekt der ‚Kategorialen Bildung‘. Dieses zeigt, dass der traditionelle Bestand an bildungstheoretischen Denkfiguren einerseits in der Tat in aktuellen Diskussionen wiederzufinden ist, andererseits aber von der Prämisse ausgeht, dass es beim Hochschulstudium um ‚Bildung‘ geht.
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dieser Ausrichtung an einer offenen Diskussion um den anzustrebenden ‚Kompetenzerwerb‘ liegt der positive Aspekt der derzeitigen Studienreformprozesse. Zu welchem Zweck also studiert man Erziehungs- und Bildungstheorien, wenn man den Zweck in der Sprache eines Kompetenzprofils beschreibt? Nach erfolgreichem Durchlaufen eines pädagogischen Studiums haben
die Studierenden begriffen, dass pädagogische Handlungssysteme grundsätzlich auf pädagogischen Theorien und diese wiederum auf philosophische Menschenbildannahmen verweisen. Sie können diesen Zusammenhang an mehreren Beispielen erklären. Insbesondere können sie erläutern, wie theoretische Vorentscheidungen/begriffliche Festlegungen die pädagogischen Handlungssysteme beeinflussen; die Studierenden können an Beispielen zeigen, wie historisch überkommene begriffliche Differenzierungen den gegenwärtigen pädagogischen Diskurs bzw. gegenwärtige pädagogische Handlungssysteme beeinflussen; die Studierenden sind in der Lage, aktuelle pädagogische Handlungssysteme im Hinblick auf begriffliche Vorentscheidung zu analysieren und diese Vorentscheidungen kritisch zu diskutieren.
Die Begründung, warum diese Kompetenzen im erziehungswissenschaftlichen Studium unerlässlich sind, ist verhältnismäßig trivial: Jedes pädagogische Handlungssystem, vom Konzept eines Kindergartens über die Organisation von Bildungssystemen bis zur Gestaltung einer Unterrichtsstunde oder der Implementation eines neuen Studienmodells beruht auf erziehungs- oder bildungstheoretischen Prämissen und deren philosophischen Grundlagen. Mit diesen Grundlagen und Hintergründen wissenschaftlich-rational umgehen zu können, ist die Bedingung sowohl für ein gelingendes erziehungswissenschaftliches Studium als auch für eine anspruchsvolle pädagogische Berufstätigkeit. Diesen Zusammenhang auszublenden würde in beiden Bereichen absichtliche Verdummung bedeuten. Einschränkend ist darauf hinzuweisen, dass diese Kompetenzen lediglich ein Minimum beschreiben. Seine Erfüllung kann und muss man erwarten, wenn man Studierende nötigt, sich mit Erziehungs- und Bildungstheorien zu beschäftigen. Dass sie – wenn es gut geht – diese Themen so bearbeiten, bis sie Abenteuer in ihrem eigenen Kopf erleben, sich bei einem Autor festbeißen und ihn weiter studieren oder sich mit entstandenen kognitiven Dissonanzen nicht zufrieden geben, sondern selbstständig an einer Lösung arbeiten, ist freilich jener Bereich des Studiums, der sich jeder wissenschaftsdidaktischer Planung entzieht. Allerdings kann man ihn als Lehrender immer wieder anzuregen versuchen – auch nach Bologna. 321
Literaturverzeichnis BUND-LÄNDER-KOMMISSION FÜR BILDUNGSPLANUNG UND FORSCHUNGSFÖRDERUNG (2002): Modularisierung in Hochschulen. Handreichung zur Modularisierung und Einführung von Bachelor- und Master-Studiengängen (Materialien zur Bildungsplanung und zur Forschungsförderung; 101), Bonn: BLK DEUTSCHE GESELLSCHAFT FÜR ERZIEHUNGSWISSENSCHAFT (2001): Empfehlungen für ein Kerncurriculum Erziehungswissenschaft. In: Erziehungswissenschaft 12(23), S.20-3 DEUTSCHE GESELLSCHAFT FÜR ERZIEHUNGSWISSENSCHAFT (2004): Kerncurriculum für das Hauptfachstudium Erziehungswissenschaft. In: Erziehungswissenschaft 15(29), S.84-88 DEUTSCHE GESELLSCHAFT FÜR ERZIEHUNGSWISSENSCHAFT (2008): Kerncurriculum Erziehungswissenschaft (Sonderband der Zeitschrift Erziehungswissenschaft), Opladen [u.a.]: Budrich DÖRPINGHAUS, ANDREAS/POENITSCH, ANDREA /WIGGER, LOTHAR (2006): Einführung in die Theorie der Bildung. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft VOGEL, PETER (2009): Standardisierung von Studium und Lehre – Kanonisierung von Wissen? In: BILSTEIN, JOHANNES/ECARIUS, JUTTA (Hrsg.): Standardisierung – Kanonisierung. Erziehungswissenschaftliche Reflexionen. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S.285-298
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Konzepte zum Bildungsauftrag der Hochschule. Zur historischen und systematischen Rekonstruktion eines Topos zwischen bildungstheoretischen Intentionen und hochschulorganisatorischen Funktionen Detlef Gaus
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Einleitung
Seit etwa 100 Jahren hat ein Diskurs über einen angeblichen Bildungsauftrag der Hochschule immer wieder Konjunktur. Gerade in der Gegenwart wird wieder verstärkt über dieses Thema diskutiert. Auffällig ist hierbei, dass es sich weniger um einen akademischen Fachdiskurs als vielmehr um einen akademischen Jargon handelt. REINHARD UHLE hat sich in den letzten Jahren verstärkt mit solchen Verarbeitungsformen von Jargons, Slogans und Signets beschäftigt (vgl. UHLE 2001; HOFFMANN/GAUS/UHLE 2007) und dabei herausgearbeitet, in welchem Maße solche Schlagwortsetzungen den Fachdiskurs bestimmen. Eine Rekonstruktion dieser Debatte kann ihren Ausgang nehmen vom Signet der Humboldtschen Universität. Wie mit keinem anderen Slogan ist sie mit der Vorstellung einer Einheit von akademischer Forschung und Bildung unter dem verbindenden Dach der Hochschule verknüpft. Die aktuelle Forschung thematisiert, dass es sich bei diesem Signet für eine Bildungshochschule nicht um ein historisches Faktum, sondern um eine historisierende Erfindung handelt, die im Verlauf des 20. Jahrhunderts in unterschiedlichen Kontexten unterschiedlichen Konjunkturen folgte (vgl. HUMBOLDT 1809/1959; SPRANGER 1909, 1910, GERHARDT/MEHRING/RINDERT 1999; ASH 1999; MÜLLER 2000; VOM BRUCH 2001, PALETSCHEK 2001, 2002, 2006). Diese Perspektive ergänzend, sollen in dieser Abhandlung drei typische, pädagogisch grundierte Konzepte zu einer ‚Bildungshochschule‘ vorgestellt werden. Diese präsentieren in ihrer Zeit jeweils paradigmatische Ideen zur organisatorischen Umsetzung dieses Signets in Studienreformpläne. Vorgestellt werden das Konzept der Bildnerhochschule nach EDUARD SPRANGER aus dem Jahre 1920, der Versuch einer Neukonzeptionierung des Studium generale durch den OBERAUDORFER KREIS [OAK] in den 1950er Jahren und das Modell eines College von HARTMUT VON HENTIG in der Mitte der 1960er Jahre. Nach einem
Abschnitt der Systematisierung sollen diese zum Abschluss mit gegenwärtigen Konzepten und Entwicklungen abgeglichen werden, die nicht mehr pädagogischer Reflexion entstammen. Ziel ist es, auf diesem Wege zu einer kritischen Perspektive auf den Zustand hochschulischer ‚Bildung‘ jenseits pädagogischer Theoriebildung zu gelangen. 2
Eduard Spranger: Die ‚Bildnerhochschule‘
Die 1920er Jahre wurden in akademischen Kreisen als Periode einer Krise erlebt. Dabei brachten sie für einige Fächer, wie etwa für die Pädagogik, die institutionelle Durchsetzung als Disziplin. Dennoch war und blieb die Krisenwahrnehmung, gerade unter den Geisteswissenschaftlern, nach dem Zerfall der alten Ordnung und vor dem Angesicht einer wachsenden Überfüllungskrise der Hochschulen, das dominante Deutungsmuster (vgl. GAUS 2008). Diese Zeit war institutionengeschichtlich durch eine immer weiter gehende Ausdifferenzierung von fachspezifischen Hochschultypen gekennzeichnet (vgl. TITZE 1989, S.209). Gegenläufig zu diesem Prozess wurde auf der Deutungsebene das Signet ‚Humboldt‘ nach einer ersten Phase seiner Entwicklung diskursiv genutzt, um einen einheitlichen Bildungsauftrag der Hochschule zu beschwören. Typischer Vertreter dieses Deutungsmusters war der Orientalist CARL HEINRICH BECKER, preußischer Kultusminister: „Vom Wesen der deutschen Universität kann man nur mit ehrfürchtiger Scheu sprechen… Wenn wir von Universität sprechen… steht klar und deutlich ein Idealbild vor der Seele, eine Art Gralsburg der reinen Wissenschaft. Ihre Ritter vollziehen einen heiligen Dienst“ (BECKER 1925, S.1). Zur selben Zeit argumentierten Soziologen wie etwa RENÉ KÖNIG und insbesondere MAX SCHELER für das Anerkenntnis einer radikalen Reformnotwendigkeit der Universität. SCHELER kam zu dem Ergebnis, dass ein universalistisch-universitäres Konzept nicht mehr funktionieren könne, insofern der Unterschied zwischen ‚Funktions-‘ und ‚Bildungswissen‘ unüberbrückbar geworden sei (vgl. SCHELER 1925). Vor diesem Hintergrund sei es Realitätsanerkenntnis, die Umorganisation von Hochschulen zu wissenschaftlich basierten Berufsfachschulen zu betreiben (vgl. SCHELER 1926, S.496ff.). BECKER aber wollte sich dieser Einsicht nicht stellen: ‚Positivismus, Rationalismus, Naturwissenschaft und Technik‘ hätten ein idealistisches Verhältnis zum ‚Leben‘ verstellt. Diesen Prozess umzukehren, bedürfe es in den Hochschulen eines Angebots für die Jugend, das gerade die nicht rationalen Dimensionen der Weltaneignung, die Sehnsucht nach Bindung in Gemeinschaft und ganzheitliche Sinnangebote in einem übergeordneten Bildungsangebot zusammenfasse (vgl. BECKER 1925, S.22, 25). 324
Mit seiner theoretischen Legitimationsarbeit war SPRANGER der wichtigste Kampfgenosse BECKERs. Auffällig in ihrer beider vielfältigen Publikationen ist ein grundsätzlicher Dreiklang. Zum einen wurde unter dem Signet einer ‚Humboldtschen Universität‘ die gesamte moderne Hochschulentwicklung mit ihrer Differenzierung der Disziplinen, Fächer und Hochschultypen als Verfallsgeschichte unter dem Aspekt des Verlustes von Einheit interpretiert. Zum zweiten wurde gar nicht alleine auf WILHELM VON HUMBOLDT rekurriert. SPRANGERs Hineinnehmen lebensphilosophischer Annahmen in der von UHLE aufgearbeiteten Tradition WILHELM DILTHEYs in der kulturkritischen Lesart der Reformpädagogik bedeutete eine neue Akzentuierung des Signets Humboldt (vgl. UHLE 2003). War es bei der Etablierung dieses Signets um 1900 vorrangig um die Einheit der Wissenschaft als Auftrag und Gegenstand der Hochschule gegangen, so rückte in dieser Phase der Gedanke einer sinn- und einheitsstiftenden Bildung als Hochschulaufgabe immer stärker in den Blick. Damit im Zusammenhang stand drittens eine spezifische disziplingeschichtliche Situation der Pädagogik in der Weimarer Republik. Aus seinen eigenen Berufungserfahrungen wusste der als Philosoph eher eklektisch eingeschätzte, im politischen Beratungsgeschäft aber ausgewiesene SPRANGER, wie sehr die Verbindung von Pädagogik und Bildungsberatung auf der Basis einer philosophisch-theoretischen Position inzwischen gefragt war (vgl. GERHARDT/MEHRING/RINDERT 1999, S.230f.). Gerade ihm war, wie BERNHARD SCHWENK herausgearbeitet hat, bewusst, dass sich die Pädagogik nicht auf die Lehrerausbildung beschränken durfte, wollte sie dauerhaft aus dem Status einer prekären Disziplin heraustreten. Die Diskussion eines Bildungsauftrages eines geisteswissenschaftlich dominierten Hochschulwesens stellte für ihn so auch und gerade einen wesentlichen Baustein der Disziplinentwicklung dar (vgl. SCHWENK 1977). Bezüglich der Universitäten und Technischen Hochschulen entstanden außer einzelnen Versuchen, ein Studium generale für Hörer aller Fakultäten einzurichten, aus der Forderung nach einer stärkeren Bildungsausrichtung der Hochschulen kaum konkrete Projekte. Die Diskursebene blieb von der Institutionenebene entkoppelt. Es entstand aber in Preußen mit der Pädagogischen Akademie ein neuer Hochschultyp, den SPRANGER von vorne herein von ihrem Bildungsauftrag her konzipiert wissen wollte. Sie sollte für ihn eine Bildnerhochschule werden (vgl. SPRANGER 1920). SPRANGERs Konzept wurde nicht eins zu eins umgesetzt. Es ist aber insofern bedeutsam, als hier erstmalig ein tatsächlich bildungstheoretisch fundiertes Konzept für eine an einem Bildungsauftrag orientierte Hochschule vorgestellt wurde. Im ersten Teil seiner Abhandlung analysiert SPRANGER, welchen Bildungswert Studieninhalte überhaupt haben können, sofern sie nicht einem unmittelbaren expertenorientierten Ausbildungsverständnis unterworfen sind. Er 325
entwickelt hierfür ein Klassifikationssystem intellektueller, technisch-ökonomischer, ästhetischer, gesellschaftlicher und religiöser Bildungswerte (vgl. SPRANGER 1920, S.7ff.). So von den Ergebnissen der Wissenschaft als objektiven Kulturgütern ausgehend, geht es ihm im nächsten Schritt im Gegenzug darum, eine spezifisch pädagogische Perspektive auf den subjektiven Bildungsgang der Studierenden zu entwickeln. So ist ihm der Studierenden Bildsamkeit jene zentrale Kategorie, von der eine pädagogisch grundierte Analyse ausgehen muss. Daran anschließend verweist er darauf, dass eine zielbewusste Persönlichkeitsbildung weitestgehende Folgen für die gesamte Struktur der hochschulischen Curricula und Organisation haben muss. Sie hat sich nicht mehr nur der disziplinären Ordnung der Sachlogik, sondern der entwicklungspsychologischen Ordnung der Individuallogik zu unterwerfen. Eine Bildungshochschule ist somit nicht ohne die Didaktisierung des Studiums zu erreichen (vgl. ebd., S.20ff.). Zum anderen verweist er implizit auf die grundlegende Annahme seiner ‚Lebensformen‘ zurück. Er unterstellt, gerade in Bezug auf die Lehrerbildung, unterschiedliche charakterologische ‚Typen‘ von Studierenden (vgl. GAUS 2007). Aufgabe von Hochschule sei die Identifikation, Auswahl und typgemäße Ansprache und Förderung von Studenten. Aus dieser auf die Person bezogenen Sicht ergibt sich für SPRANGER eine über die organisatorische hinausgehende Perspektive: Ein Professor an einer Bildungshochschule darf sich niemals nur als Wissenschaftler, sondern muss sich immer als Hochschullehrer, mehr noch als Bildner verstehen (vgl. SPRANGER 1920, S.26). In solchen Positionen zeigt sich generell die zeitgenössische Problematik aller Geisteswissenschaften, insbesondere die eines prekär situierten Faches wie der Pädagogik, auf der einen Seite von Statusverlust bedroht zu sein, auf der anderen Seite aber Statuserhalt und -ausbau immer wieder legitimieren zu wollen. Die Position des ‚Bildners‘ weist den Geisteswissenschaftlern eine hochschulinterne Rolle zu, die über diejenige der naturwissenschaftlich ausgerichteten ‚Techniker‘ hinausweist (vgl. PALETSCHEK 2000, S.194). SPRANGER betont das Kernproblem bei der Konstruktion einer Bildungshochschule. Er erläutert, dass und wie die Lebensgebiete der reinen Wissenschaft, der angewandt technischen Fächer und der biographischen Aufgabe, sich zu bilden, unterschiedlichen, jeweils eigenen Strukturlogiken gehorchen. Geht es im einen Falle um die Unterordnung der Erkenntnisinhalte unter die Sachlogik der Erkenntnisgewinnung, so geht es im anderen Falle um die Unterordnung der zu erkennenden Gegenstände unter die Verwertungslogik der Nützlichkeit, im dritten Falle aber um die Unterordnung aller Logik unter die Sinnfrage, unter Normen „wertvoller Gestaltung“ (SPRANGER 1920, S.27). Unter dem Primat gelingender SUD[LV ist vorgegebene Zielgröße immer die angemessene Relationierung dieser drei Aspekte. Praxis ist für SPRANGER nicht angewandte 326
Wissenschaft, keine Untergruppierung angewandter sozialer Technologie. In antiker Tradition hält er daran fest, dass sie nur aus einer eigenen Art selbst- und weltverantwortlicher Vernunft wachsen kann; diese ist für ihn, so KLAUS GIEL, eine Art „kulturschaffende Potenz“ (vgl. GIEL 1983, S.27). Historisch unabweisbar aber ist das nicht mehr rückholbare Auseinandertreten der drei Aspekte Wissenschaft, Technik und auf SUD[LV zielender Bildung. Die daraus resultierende Bildungsaufgabe sei vom sich bildenden Studierenden selber zu leisten; Hochschule kann diesen Bildungsweg ihrer Studierenden nur zu unterstützen versuchen. Hier aber vollführt SPRANGER eine argumentative Volte für seine junge Disziplin. Er hält, darin eher an PLATON als an HUMBOLDT gemahnend, daran fest, dass Wissenschaft Voraussetzung der Bildung zu sein habe – HSLVWHPH diene der VRSKLD (vgl. BOEHM 2000, S.91ff.). Um den im immer dynamischeren Auseinandertreten der Kulturbereiche in der Moderne scheinbar unbegehbar gewordenen Weg zur SKLORVRSKLD noch beschreiten zu können, braucht der sich Bildende den Platonischen „Erzieher“, den Bildner. Und dieser Bildner wiederum braucht im 20. Jahrhundert die akademische Pädagogik: „Die theoretische Pädagogik ist wissenschaftliche Durchleuchtung der Erziehung als eines eigentümlichen Kulturvorganges“ (SPRANGER 1920, S.30). Die allgemeine Pädagogik ist für SPRANGER so am allerwenigsten Berufswissenschaft, wie ihre organisatorische Zuordnung zur Lehrerbildung es insinuiert. Vielmehr ist sie ihm eine Metadisziplin, die nachgerade zur Königsdisziplin der Geisteswissenschaften taugt. Sie betreibt philosophisch-historische Grundlagenforschung über Sinn, Zweck und Logik von Bildung und Erziehung, sie ist Kunstlehre und somit der Ästhetik verwandt, sie ist eine technische Disziplin, insofern sie das Wissen um die rechte Gestaltung der (akademischen) Bildungsmöglichkeiten zur Verfügung stellt und sie ist selber Bildungslehre, welche gelingende Praxis reflektiert (vgl. ebd., S.31). Insofern bewahrt sie noch am ehesten jenes Ideal einer Einheitswissenschaft, von der die Platonische Akademie einst ihren Ausgang nahm. Ihre Aufgabe ist für SPRANGER eine Art Kultivierung sozialer, insbesondere die Bildsamkeit des Menschen in den Blick nehmender, SUD[LV. Gerade solche Kultivierungsleistung sieht er verloren gegangen im Prozess der Ausdifferenzierung moderner Wissenschaft und Technik sowohl auf der Ebene von Grundlagenforschung als auch auf der Ebene der angewandt-technischen Wissenschaften (vgl. GIEL 1983, S.27). Auf der Basis dieser von seiner Anthropologie der Lebensformen wie von seiner Wissenschaftstheorie der Pädagogik ausgehenden Vorüberlegungen entfaltet SPRANGER sein Konzept der „Bildnerhochschule“ (SPRANGER 1920, S.40). Erproben will er es im Rahmen des Aufbaus der Pädagogischen Akademien. Bemerkenswert ist dabei, dass er hier nicht an das zeittypische Argument der 327
Bildungsbeschränkung für Volksschullehrer anschließt, sondern im Gegenteil den Bildungsgedanken als Aufgabe von Hochschule gestärkt wissen möchte. SPRANGERs Kulturkritik zeigt sich als Institutionenkritik. Die Universitäten und Technischen Hochschulen haben, so argumentiert er, ihren Bildungsauftrag verraten. Ihn zu beleben, braucht es eine Hochschule neuen Typs. Die anstehende Akademisierung der Lehrerausbildung ist ihm eher tagespolitisch-akzidentieller Anlass als Urgrund seiner Überlegungen. Ihm geht es viel grundsätzlicher um ein neues Hochschulkonzept, um „die Loslösung von dem Ideal des überwiegend theoretischen Menschen, [um] das Bekenntnis zu dem Ideal eines lebensoffenen, auch in seinen schöpferischen Kräften entwickelten Menschen“ (SPRANGER 1920, S.52). Die Universität ist für ihn zu dieser Aufgabe nicht mehr fähig. Ausgangspunkt seiner Überlegungen ist seine Charakterologie, wonach eine solche Hochschule den Typus des ‚sozialen Menschen‘ ansprechen soll (vgl. GAUS 2007, S.120f.). „Derjenige, der andere bilden soll, muß zunächst selbst ein gebildeter und geformter Mensch sein“ (SPRANGER 1920, S.42). Im ersten Schritt stellt er fest, dass ein Studium an einer solchen Hochschule unter einer Prämisse und unter drei Zwängen steht. Prämisse ist, dass der Student die Möglichkeit habe, sich selber zu bilden. Erster Bildungsinhalt ist die aktive Gestaltung der eigenen Biographie. Darüber hinaus aber steht diese Hochschule als Lehrer ausbildende im Hinblick auf deren späteres Berufsfeld unter dem Zwang materialer Bildung, einem prinzipiell enzyklopädischen Bildungsauftrag genügen zu müssen. Drittens steht sie unter dem Zwang, solche Studierende aufnehmen zu müssen, die eben kein vertieftes wissenschaftliches Interesse und – hier unterstellt SPRANGERs konservative Charakterologie soziale Ungleichheit als Begabung – keine traditionell gymnasiale Vorbildung genossen haben. Viertens schließlich steht sie unter dem Zwang, ihr Studium in einem Dreijahreskurs einschließlich Praktika organisieren zu müssen. Diese vier Aspekte müssen im Curriculum und in der Studienstruktur miteinander vereint werden (vgl. ebd., S.44ff.). SPRANGERs curriculare Logik geht aus von der Idee individueller Bildungszentren. Ausgehend von der Annahme, dass unterschiedliche Typen von Studienanfängern eher mit „hochentwickelter psychologischer Erlebnisanschauung“ oder „mit lebhafter sinnlicher Anschauung“ die Welt entdecken, muss Studium diesen zunächst „Stoff“ für ihre Entwicklung bieten. Obligatorisch habe eine einführende „Fachverbindung Deutsch und Geschichte“ oder aber „Mathematik und Naturwissenschaften“ zu sein (ebd., S.48). Diese Inhalte spiegeln einerseits die typenspezifische Bildungsaspiration und repräsentieren andererseits zentrale Dimensionen der gewachsenen Kultur. Mit dieser Position steht SPRANGER implizit am ehesten in der curricularen Tradition des ISOKRATES, der in seinem Curriculum als erster die wissenschaftspropädeutische Funktion und bildungstheoretische Aspiration sprachlicher Schulung einerseits und mathematischer Ausbil328
dung andererseits reflektiert hat. Dieser Gedanke hat noch das Konzept der septem artes liberales der mittelalterlichen Universität bestimmt. Zugleich aber aktualisiert SPRANGER diese aus langer Tradition gewachsene Vorstellung, insofern er zeitgenössisch hinzufügt, dass „[e]igentliche Fachkenntnisse … der Studierende … trotz seines Abituriums“ nicht mehr mitbringe (ebd., S.49). Dementsprechend hat dieser sprachlich-historische bzw. mathematischnaturwissenschaftliche Wahlpflichtbereich für ihn zudem einen dezidiert kompensatorischen Charakter in Hinblick auf die damalige Ausweitung von Hochschulzugangsberechtigungen, zu seiner Zeit insbesondere durch die ‚Deutsche Oberschule‘. Dieser Wahlpflichtbereich sollte nach SPRANGER in den ersten beiden Studienjahren insgesamt 8 SWS ausmachen. Weitere 4 SWS möchte er für alle Studierenden verbindlich für die „Pädagogik auf philosophischer Grundlage“ vorhalten (ebd.). Bemerkenswert ist, dass er in diesem curricularen Teil seiner Ausführungen die Emphase über die Pädagogik als Leitwissenschaft aus dem ersten Teil seiner Abhandlung nicht wieder aufnimmt. Er diskutiert sie hier nicht in Hinsicht auf ihren Bildungswert, sondern, entgegen seiner eigentlichen Absicht, als Professionswissenschaft. Dieser scheinbare Widerspruch wird von ihm auf organisatorischer Ebene aufgehoben. Hier möchte er die Pädagogik als wissenschaftliche Grundlagendisziplin, im Gegensatz zu der eher auf Praxisschulung zielenden Ausbildung in den Fächern, innerhalb einer vor- und herausgehobenen „Wissenschaftlichen Abteilung“ verankert wissen (ebd., S.50). Aufzuheben ist dieser scheinbare Widerspruch auch, wenn bedacht wird, wie sehr die Pädagogik damals noch in ihren disziplinären Anfängen steckte. In ihren 4 SWS möchte SPRANGER die Geschichte der Philosophie, der Pädagogik und der Schulorganisation, die Logik, die Psychologie einschließlich der Psychologie des Kindes- und Jugendalters und der experimentellen Didaktik, die Ethik und die Kulturphilosophie untergebracht wissen. Um diese 12 SWS eines verpflichtenden Bildungsstudiums herum möchte SPRANGER weitere 8 SWS für einen weiteren Wahlpflichtbereich reservieren. Eine historisch-sprachliche, eine naturwissenschaftliche oder eine technischkünstlerische Perspektive sollen gewählt werden (vgl. ebd., S.51f.). Einen besonderen Bildungswert sieht er darin, in diesen Wahlpflichtbereichen eine große Breite von Inhalten mit einer großen Breite hochschuldidaktischer Methoden zu verknüpfen. So stellt er sich inhaltliche Angebote von der Geschichte bis zum Erlernen einer Fremdsprache, von der Mathematik bis zur Sternenschau, von der Buchführung bis zum Gesangsunterricht vor. Dieser Gedanke weist einerseits weit zurück in die Geschichte des gelehrten Unterrichts: Er knüpft an die Tradition der Sprach- und Exercitienmeister an, welche bis zu den Bildungsreformen des frühen 19. Jahrhunderts an Ritterakademien, gelehrten Schulen und 329
Universitäten tätig waren Zugleich aber knüpft er auch an damals aktuellen Positionen der Reformpädagogik an. Es sollen für die Hochschule völlig neue Arbeitsformen angewendet werden, die er von GEORG KERSCHENSTEINER und GUSTAV WYNEKEN entlehnt: Von der Arbeitsgemeinschaft bis zum Basteln, von der Exkursion bis zur Ausstellung, vom Praxisprojekt bis zum künstlerischen Tun. Sie sollen Erfahrungsräume für ein an Erträge menschlicher Kulturtätigkeit zurückgebundenes reflektiertes Leben in sozialer Verantwortung bieten. Dementsprechend habe eine Bildungshochschule eine ganz neue organisatorische Struktur zu entfalten. Es bräuchte hierfür eine eigene technischkünstlerische Abteilung mit Studios, Ateliers, Werkstätten, Werkbühnen, Musikräumen, Kabinetten, etc. (vgl. GIEL 1983, S.28f.). Hochschulorganisatorisch bedeutet ein solches Modell einen entscheidenden Bruch mit akademischer Tradition. Es kann nur funktionieren, wenn es in einen festen Studienplan gegossen wird. Ganze Wochentage wären für das Bildungsstudium freizuhalten, jedes Semester wären Blöcke für entsprechende Lehrveranstaltungen vorzuhalten. Konkret sieht das Studienmodell im ersten Semester 4 SWS Pädagogik, im zweiten Semester 8 SWS Fachverbindung und im dritten und vierten Semester je 4 SWS erweiternde Wahlpflichtperspektive vor (vgl. ebd., S.53). Werden diese Vorschläge im Gesamt angeschaut, so zeigen sie sich inspiriert von der spezifischen Sprangerschen Pädagogik auf der Basis seiner Theorie der Lebensformen. Im Größeren versuchen sie, Strukturmomente des ISOKRATES, konzeptionelle Momente PLATONs und Gemeinschaftsimpulse der Jugendbewegung zusammenzuführen. Als Pädagoge geht es SPRANGER darum, sein Fach zunächst organisatorisch zur Leitdisziplin aller Entwicklungen eines Bildungsstudiums zu machen. Wie unter einem Brennglas zeigt sich bereits hier die Kernproblematik der Idee eines Bildungsstudiums: Es geht kapazitär zu Lasten der fachlich-disziplinären Ausbildungsinhalte und steht konzeptionell quer zu einer Institutionenlogik, die ihren ersten Bezugspunkt in der Logik der Wissenschaften finden muss. SPRANGER kann diese Probleme nur lösen, indem er den Bildungsauftrag nicht der Universität, sondern einer eigenen, neuen Hochschulart zuschreibt, welche zudem nicht mit Promotions- und Habilitationsrecht ausgestattet ist. Selbst innerhalb dieser Hochschule muss er die bildende Abteilung als eine gesonderte gegenüber den Abteilungen der Fachstudien begreifen. Wird dieser Unterbau eines Bildungsstudiums um die eigentlichen Fachstudien der angehenden Lehrer erweitert, so zeigt sich unmittelbar als Problem die „ungesunde Stoffüberlastung“ (ebd.). Diesem sei nur zu begegnen durch den Gedanken des exemplarischen Lernens des Studierenden, „daß er selbst arbeiten und denken könne“ (ebd.). Zugleich aber soll dieses exemplarische Lernen, da330
mit es nicht idiosynkratrisch werde, eingebunden sein in einen Gemeinschaftsgeist. Im gemeinschaftlichen Arbeiten am konkreten Gegenstand soll jener Gefahr einer Entmaterialisierung entgegengetreten werden, die mit einem Konzept einzig des ‚Lernens des Lernens‘ verbunden ist. Eben deshalb ist SPRANGER die Einführung neuer Lehr-Lernformen an der neuen Hochschule so wichtig: „Etwas vom Hauch der gesunden Jugendbewegung gehört in sie hinein; denn in ihr liegt ursprünglicher Erziehungsdrang, der zugleich Selbstbildung und Fremdbildung will, der ewige Eros zum geistigen Lebendigsein und zum Schöpfertum der Werte“ (ebd., S.57). Zum Abschluss wird das Vorbild der Hochschulidee benannt: „Diese jedenfalls würde ihren Geist von Plato herleiten“ (ebd., S.58). Mit diesem Rückbezug auf einen Bildungstheoretiker weit vor HUMBOLDT offenbart SPRANGER die Grenzen seines Modells einer Bildungshochschule. Das Modell basiert auf seiner konservativen Bildungstheorie, in deren Rahmen alleine es anschlussfähig ist. Einen einheitlichen systematischen Begriff von Bildung aber, der über synkretistische Deutungsmuster bildungsbürgerlicher Trägerschichten hinausging, wie ihn MARTEN KIRSCHNER in diesem Band erläutert, hat es in dieser Form nicht gegeben. Wer nicht an SPRANGERs bildungstheoretische Überlegungen auf der Basis seiner ‚Lebensformen‘ anknüpft, der kann auch dieses Organisationsmodell einer ‚Bildnerhochschule‘ nicht übernehmen. Des Weiteren berücksichtigt dieses Modell nicht die Realität der Wissenschaften in ihren historisch-dynamischen Logiken. Es zielt nicht zurück auf die Fachlichkeit disziplinären und professionellen Wissens, das in seiner Realität spätestens seit dem 19. Jahrhundert immer ein fragmentiertes ist. Mit dieser Tatsache haben Studierende an einer zeitadäquaten Hochschule umgehen zu lernen. Dieses Konzept hingegen zielt auf einen „übergreifenden gesellschaftlichen und kulturellen Zusammenhang“ voraus, in dem zukünftige Absolventen „Handlungsspielräume nicht auf die Vermittlung fachlich sortierten Wissens beschränkt“ sehen sollen (GIEL 1983, S.32). Das Konzept der Bildnerhochschule krankt auf der organisatorischen Ebene zudem von vorne herein an zwei weiteren Punkten. SPRANGER selber hat immer wieder betont, dass das am Ideal der Wissenschaft orientierte Konzept der Universität sich an der Gliederung der Fächer und Disziplinen ausrichten muss. Die Bildungshochschule hingegen wird von ihm entlang einer anderen organisatorischen Dreigliederung konzipiert. Da ist zum einen eine wissenschaftliche Abteilung, in die die Pädagogik als zentrale Leitdisziplin gehört. Sie vertritt ein konservativ-romantisches Konzept einer in der Realität längst überholten Einheitswissenschaft. Da ist zum anderen eine technisch-künstlerische Abteilung. Sie ist wesentlich hochschuldidaktisch aus dem Arbeitsschulgedanken der Werkgemeinschaft abzuleiten. Erst an dritter Stelle stehen die Fachabteilungen, welche die berufswissenschaftlichen Aspekte des Studiums abdecken. Universität und Bildungshochschule erweisen 331
sich so für SPRANGER selber in letzter Konsequenz als nicht mehr rückholbar getrennte Modelle zur Hochschulentwicklung. Nicht zufällig diskutiert er an keiner Stelle Forschungsaufgaben dieses neuen Hochschultyps oder Möglichkeiten, Studierende in Forschung mit einzubeziehen. 3
Oberaudorfer Kreis: Die Ausweitung des Studium generale zum Bildungsstudium
Vorschläge zur an einem Bildungsideal orientierten Umgestaltung des Studiums bestimmten insbesondere die Debatten der späten 1940er und frühen 1950er Jahre. Nach der Befreiung vom Nationalsozialismus wurden in allen Besatzungszonen zunächst die Universitätsverfassungen der Weimarer Zeit wieder in ihr Recht gesetzt. Eine defensiv konservative Form der Vergangenheitsbewältigung wurde dominant (vgl. HAMMERSTEIN 2001, S.469). Auf der Deutungsebene korrelierte mit dieser Entwicklung eine Redeweise von einer anzustrebenden ‚Wiedergeburt‘ des Abendlandes. Der Rekurs bezog sich auf den Wertekanon der griechischen Antike und des Christentums. Wie zu keiner Zeit zuvor und danach wurde in der Konsequenz unter dem Signet ‚Humboldt‘ eine Bildungsaufgabe der Hochschule betont. Diese wurde nicht mehr nur, wie von SPRANGER, in Bezug auf eine neu zu gründende Bildnerhochschule, sondern gerade in Hinblick auf die Universität diskutiert. Nur der humanistisch Gebildete, nicht der realistisch ausgebildete Wissenschaftler sei in der Lage gewesen, den Verführungen des Nationalsozialismus zu widerstehen – eine Selbstdeutung, die mit der Realität der Geisteswissenschaftler in der Nazi-Zeit nichts zu tun hatte. Dieser Entschuldungsstrategie entsprechend, wurde einer imaginierten neuhumanistischen Bildungshochschule das Wort geredet, in der ‚Bildung‘ zukünftiger Eliten zu leisten sei. Nur, wenn die Hochschule zurückkehre zu einem Bildungskosmos gebildeter Umgangsformen mit Bildungswissen, nur, wenn sie die Spezialisierung der modernen Fachwissenschaften zugunsten eines Ethos der Gemeinschaft überwinde, sei der Aufbau einer neuen sozialen Elite denkbar – so der kleinste gemeinsame Nenner der Denk- und Redeweisen nach 1945 (vgl. PALETSCHEK 2006, S.243f.). Sprechender Ausdruck dieser Entwicklung war das sog. ‚Blaue Gutachten‘ von 1948. In Auftrag gegeben in der Britischen Besatzungszone, ging eine Expertenkommission weithin beachtet und rezipiert daran, Reformvorschläge für die Ausgestaltung anstehender Hochschulreformen auszuarbeiten. Ein Zitat aus diesem ‚Blauen Gutachten‘ wurde zum geflügelten Wort: Die deutsche Universität sei Ausdruck einer „im Kern gesunden Tradition“ (STUDIENAUSSCHUSS 1948, S.3). Alle Verstrickungen im Nationalsozialismus seien zu bedauern, 332
würden aber diesen ‚gesunden Kern‘ nicht betreffen. Wenn Kritik zu üben sei, dann an der Emanzipation der Technischen Hochschulen zu rein fachwissenschaftlich-disziplinär ausgerichteten Anstalten. Kulturkritisch wurden „die dämonischen Kräfte der Technik“ beschworen, die es wieder einzufangen und „wieder in den geistigen Aufbau des Abendlandes im humanistischen Sinne“ einzugliedern gelte. Gerade dafür sei es notwendig, die behauptete Tradition der Bildungshochschule für die Zukunft zu stärken, sie bleibe als Ideal umso mehr gefordert und sei somit als Idee weiter zu stärken (ebd., S.7). Diese Grundposition des Blauen Gutachtens knüpfte an die Diskussionen der 1920er Jahre an, verknüpfte sie allerdings mit einer ersten Rezeption des englischamerikanischen College-Systems. Mit dieser einflussreichen, von der britischen Besatzungsmacht gestützten Position war insbesondere in den Westzonen und der sich konstituierenden Bundesrepublik eine Generallinie der weiteren Diskussionen und Eingriffsversuche vorgegeben. NORBERT KLUGE hebt hervor, dass in den 1950er Jahren Hochschulreform nicht als grundlegend administrative, strukturelle, organisatorische oder soziale Aufgabe begriffen wurde. Die sich abzeichnende Umstellung auf den Studienbetrieb der Massenuniversität und der absehbare Fachkräftemangel wurden nicht in den Blick genommen. Stattdessen verharrte die Diskussion auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner, Konzepte für ein Interdisziplinarität berücksichtigendes Studium generale zu entwickeln (KLUGE 1988, S.I). Auf der Institutionenebene wurde dieses insbesondere an den süddeutschen Universitäten umzusetzen versucht. Hierbei spielten nicht nur bildungstheoretische und wissenschaftsprogrammatische Setzungen, sondern auch ganz pragmatische Aspekte eine Rolle: Die Studierenden hatten ihre Hochschulzugangsberechtigung oftmals um das Kriegsende herum erworben, ihre akademischen Eingangsvoraussetzungen waren mehrheitlich eher als ungenügend zu beurteilen. Pragmatisch übernahm das Studium generale so notgedrungen Funktionen der abiturführenden Oberstufe (vgl. PALETSCHEK 2006, S.245). Bemerkenswert ist, dass der Zweifel an der Aussage-, Leistungs- und Prognosefähigkeit von Hochschulzugangsberechtigungen, wie schon bei SPRANGER, als untergründiges Thema durchlief. Die Diskussionen der späten 1940er und 1950er Jahre wurden in informellen Gremien, Gesprächskreisen, Kommissionen und auf Tagungen geführt. Um 1950 war ein Gremium, in dem Konzepte zur Universität als Bildungshochschule besonders weit entwickelt wurden, der OAK. Der OAK entstand 1950 im Umfeld der in der britischen Besatzungszone gegründeten GEW. Ziel war es, so MANFRED HEINEMANN, die GEW, die im Wesentlichen immer noch nur Interessenvertretung der Volksschullehrerschaft war, mit universitären Hochschullehrern und akademischen Pädagogen sowie deren Interessen in Verbindung zu bringen und so den bildungspolitischen Einfluss zu stärken (vgl. 333
HEINEMANN 1996, S.1, 5). Die jährlichen Gespräche führten Personen zusammen, die in mindestens dreierlei Hinsicht untypisch für die Professorenschaft der Nachkriegszeit waren. Zum einen standen viele von ihnen der SPD und der Gewerkschaftsbewegung nahe. Zum zweiten waren zahlreiche von ihnen PH-Professoren. Zum dritten spiegelte sich in der Zusammensetzung der Gesprächskreise noch einmal die ältere Professionsgeschichte der 20er Jahre wieder. Bemerkenswert zahlreiche Diskutanten kamen aus dem reformpädagogischen Milieu, hatten zum Teil noch die ältere Aufstiegsbiographie der Volksschullehrer mit nachgelagertem Studium hinter sich gebracht und waren in eher randständigen Bereichen des akademischen Betriebs tätig. Gerade in der Anfangsphase aber waren vielfältige Verbindungen nicht nur zum DGB, sondern auch zum ‚Blauen Gutachten‘, zum ‚Hofgeismarer Kreis‘, zur Westdeutschen Rektorenkonferenz, in die Kultusministerien der Länder, in den Bundestag und zur UNESCO durchaus gegeben (vgl. HEINEMANN 1996, S.4). Aufgrund dieses Einflusses seien die Konzepte des OAK hier genauer betrachtet. Im Mittelpunkt der Tagungen von 1950 bis 1952 stand die selbstgestellte Aufgabe, Konzepte für ein Studium generale zu entwickeln. In den Folgejahren stand der Versuch an, das erarbeitete Konzept mit Vorschlägen zur Reform von Prüfungsordnungen, hier insbesondere für die Lehramtsstudiengänge, zu verbinden. Zur Tagung von 1956 ist kein Material mehr auffindbar, jedoch ist bemerkenswert, dass die damals verabschiedeten programmatischen Grundgedanken entscheidenden Einfluss auf die programmatische Erweiterung der GEW hatten. Die „dritte wesentliche Aufgabe“ von Hochschulen sei, so postulierte die GEW, neben Forschung und Lehre „die überfachliche Bildung der Persönlichkeit“ (Gemeinsamer Geschäftsbericht der Arbeitsgemeinschaft Deutscher Lehrerverbände 1956/58, S.10ff.; zit. in: HEINEMANN 1996, S.7; Hervorhbg. im Original). Hiermit war der Höhepunkt der Wirksamkeit des OAK erreicht. Vom Ende der 1950er Jahre an rückten andere Diskussionsthemen und andere Diskussionsgremien in den Vordergrund. 1957 sollte der ‚Wissenschaftsrat‘ begründet werden, der von dann an die Diskussionen immer mehr bündeln sollte. Aber auch er brauchte noch bis 1966, bis seine Empfehlungen politische Breitenwirkungen entfalten sollten (vgl. WISSENSCHAFTSRAT 1966). Zeitgleich sollte die Politisierung der Studentenbewegung voranschreiten. Der OAK stellte im akademischen Jahr 1967/68 seine Arbeit ein. Die Diskussionen der Jahre 1950 bis 1954 kreisten um den weitestgehenden Anspruch, eine „funktionelle Reform“ zu planen: Sie forderten „von der Hochschule die Übernahme einer neuen Aufgabe neben den bisherigen der Forschung und Lehre: Die überfachliche Erziehung der Persönlichkeit oder die erzieherische Menschenformung“ (Dok.2.2 in HEINEMANN 1996, S.20, Hvhbg. im Orig.). Diesen totalen Anspruch erkennt heutige Lesart noch in totalitärer Nähe 334
zu damals gerade vergangenen Zeiten. Zugleich sprechen antiinstitutioneller Reflex und elitäres Sendungsbewusstsein aus den Dokumenten: Die Teilnehmer der Diskussionen „waren nicht als Delegierte von Institutionen, sondern als Persönlichkeiten des akademischen Lebens geladen… Sie trafen sich nicht so sehr als akademische Bürger, sondern … als Europäische Kulturpolitiker… Sie spürten deutlich, daß die Hochschulen sich von dem Geschehen der Zeit zu sehr abgesondert hatten aus Sorge um die Gefährdung der bisherigen ineinander verwobenen Aufgaben: Forschung und Lehre“ (ebd., S.21). Diesen aber musste, so ihre Überzeugung, durch die Teilnehmer das Konzept einer machtvollen Erziehung zur gebildeten Persönlichkeit entgegen gestellt werden. Wie eine erwachsene, autonome ‚gebildete Persönlichkeit‘ ‚erzogen‘ werden kann, diese Frage sollte Pädagogen spätestens seit FRIEDRICH DANIEL ERNST SCHLEIERMACHER rätseln lassen. Die Diskutanten hingegen protokollierten ihr Selbstverständnis lieber neoplatonisch: Herausgehobene Berufe „dürfen nicht von Menschen ausgeübt werden, die nur Spezialisten sind, sondern von solchen, denen in der Zeit des Reifens und der Vorbereitung auf ihren Fachberuf die höhere Verantwortung jedes öffentlichen Berufes für die Gesamtformung ihres Volkes im Sinne der Menschenrechte und Menschenpflichten in Fleisch und Blut übergegangen ist“ (ebd.). Wieder geht es, wie bei SPRANGER, um die Bildungshochschule als Bildnerhochschule. Noch radikaler aber als bei ihm, der sich auf die Ausbildung niederrangiger Volksschullehrer beschränken wollte, wird hier diese Annahme auf eine unterstellte Gesamtheit akademischer Elite übertragen. Als zentrale Auffassung bezüglich der Universität galt: „In Oberaudorf 1950 herrschte die Überzeugung, daß die Hochschule das zentrale Volksbildungsinstitut (sic!) werden muß“ (ebd.). Vor Augen stand eine neue Akademie, deren Ideal sich dem heutigen Leser in die nationalkonservativ-völkische Tradition der ‚jüngeren Richtung‘ der Volksbildungsbewegung in der Weimarer Republik einreiht, aus welcher heraus EDUARD BRENNER 1930 seine Broschüre mit dem zum Slogan gewordenen Titel ‚Volksbildung als Volkbildung‘ veröffentlicht hatte. Um 1950 allerdings verstanden die mehrheitlich gewerkschaftlich und sozialdemokratisch orientierten Teilnehmer selbst sich wohl explizit in der Tradition des Wandervogels und eines an WYNEKEN orientierten Ideals der lernenden Arbeitsgemeinschaft als Zelle einer diffus romantisch-ökologisch verstandenen Volksgemeinschaft (vgl. IG Metall 2005, Bl.39). Wie eng diese zwei Gesichter des reformpädagogischen Erbes allerdings zusammen hängen, ist von der Bildungshistoriographie inzwischen hinlänglich erforscht. Expressis verbis schloss der OAK nicht an SPRANGERs für die Lehrerausbildung entwickelte Konzept der Bildnerhochschule, sondern an den vorsichtigeren Reformexperimenten in den Universitäten der 1920er Jahre an. Der 335
Kerngedanke wurde in der sog. ‚Oberaudorfer Erklärung‘ von 1950 formuliert: Die aus der Weimarer Zeit stammende Idee eines allgemeinbildenden Studium generale sei aufzunehmen, aber konsequent weiterzuentwickeln. Sie habe zu einem verpflichtenden Studienangebot mit Bildungsaspiration ausgebaut zu werden. Für dieses Studienprogramm habe zu gelten: „Die Arbeitsgebiete gliedern sich in zwei Gruppen: 1. Das allgemeine Welt- und Menschenbild. 2. Der soziale, politische und rechtliche Bereich. Der erste Arbeitsbereich umfaßt: Die geisteswissenschaftlichen und künstlerischen Bezirke, Die naturwissenschaftlichen und technischen Bezirke. Technik und Naturwissenschaft sind im ‚Studium Generale‘ in ihrer Wirkung auf den Menschen und die Gesellschaft zu behandeln. Der zweite Arbeitsbereich erstrebt die Erziehung (sic!) des Studenten zum politisch, sozial und rechtlich denkenden Menschen. Seine wesentlichen Veranstaltungen sind obligatorisch. Beide Bereiche wollen die für die Umwelt aufgeschlossene Persönlichkeit, die sich ihrer Verantwortung gegenüber der Gemeinschaft (sic!) bewußt ist. In beiden Bereichen steht der Mensch und seine sittliche Verpflichtung im Mittelpunkt. Dabei ist von der gegenwärtigen Situation des deutschen und europäischen Menschen auszugehen“ (Dok.3.1. in HEINEMANN 1996, S.44).
Diese grundlegende Annahme hatte Folgen für die organisatorische und curriculare Struktur von Hochschulen, die auf den Tagungen von 1950 bis 1954 expliziert wurden. Klar war, wie für SPRANGER, dass hiermit eine Aufgabe formuliert war, die zu einer Änderung der institutionellen Architektur führen musste. Hier wurde für alle Hochschulen die Errichtung eines eigenständigen, von einem ordentlichen Professor geleiteten und mit Assistenturen und Dozenturen ausgestatteten „Institut[s] für das Studium Generale“ gefordert (ebd., S.44f.). Ebenso klar war, dass eine reibungslose Implementierung in den Studienalltag einer ausgebauten Hochschule nicht möglich sein würde. Dementsprechend wurde gefordert, diesem Institut einen „Wochentag vom gesamten sonstigen Unterrichtsbetrieb aller sonstigen Fakultäten freizuhalten“. Klar war weiterhin, dass der Erziehungsauftrag nur umgesetzt werden konnte, wenn sein Studienangebot nicht auf das erste Semester beschränkt bliebe, sondern sich verpflichtend „über die gesamte Studienzeit“ erstreckt. Ein weiteres Argument war gegenüber SPRANGER neu: Klar war, dass für ein Gelingen dieses Modells die Akzeptanz der Studierenden von entscheidender Bedeutung sein würde. Dementsprechend musste es „in enger Verbindung mit den Organen der studentischen Selbstverwaltung aufgebaut werden“, auf dass diese es „selbst als eigene verpflichtende Aufgabe betrachtet“. Es musste einerseits prüfungsrelevant und studienverpflichtend sein, sollte aber andererseits nicht als lästig zu absolvierendes Prüfungsfach organisiert sein. In der impliziten Tradition der Reform336
pädagogik und WYNEKENs wurde, ähnlich wie von SPRANGER, postuliert, dass es in den Veranstaltungsformen von „Arbeitsgemeinschaften, Diskussionen, Studentenfora, Besichtigungen und Studienreisen“ zu organisieren sei (ebd., S.45). Diese hätten nicht nur einen intellektuellen, sondern auch einen sozialen und einen musischen Ton in den Studierenden zum Klingen zu bringen (vgl. Dok.4.2 in: HEINEMANN 1996, S.257). Auf den Folgetagungen rückten curriculare Fragen in den Mittelpunkt. Klar war, dass ein zusätzlicher verpflichtender Studienstrang neben dem Hauptfachstudium die Gefahr in sich trug, zu einer Stoffüberfülle des Studiums zu führen. Dementsprechend wurden, strukturell analog zu SPRANGERs ‚Bildungszentren‘, ‚Modellstoffe‘ für sog. ‚Zentralprobleme‘ entwickelt. So wurde etwa das ‚Arbeitsgebiet 1a – Allgemeines Weltbild‘ operationalisiert in Hinblick auf das Zentralproblem: „Der Mensch der Gegenwart und Gott“. Das ‚Arbeitsgebiet 1b – Allgemeines Menschenbild‘ wurde operationalisiert hinsichtlich des Modellstoffs: „Das Menschenbild im sozialen Kampf des 19ten und 20ten Jahrhunderts“. Jedes Zentralproblem wurde sodann in mögliche Kursthemen operationalisiert: Zum Problem Weltbild – Mensch und Gott wurde z.B. ausgearbeitet: „Konfession und Religion; autonom und religiös fundierte Moral; Staat und Kirche; Politik und Kirche; Wissenschaftsmoral und religiöse Moral“ (Dok.3.3 in HEINEMANN 1996, S.49f., in diesem Dokument weitere Beispiele für Lehrplanarbeit). Dieses deduktive Vorgehen eines bildungstheoretisch begründeten Curriculums hatte einen anderen Akzent als bei SPRANGER, insofern es zwei Aspekte miteinander verknüpfen sollte: Einerseits sollten die Studienangebote mit dem Fachstudium, im Beispiel des Theologen, des Philosophen, des Staatswissenschaftlers, des Ingenieurs, zu verzahnen sein. Gleichzeitig aber sollte, wie für SPRANGER, eine überfachliche, persönlichkeitsbildende Bildungsperspektive im Studienangebot sichergestellt sein: „Eine solche Behandlung führt den Studenten weit über sein Fach hinaus in kulturelle Regionen, die für sein späteres Leben als Gemeinschaftsmensch (sic!) von entscheidender Bedeutung sind“ (ebd). Auf diesem einmal eingeschlagenen Weg wurden aber mehrere Probleme schnell deutlich: Auf den Tagungen von 1952 und 1953 scherten die anwesenden Mediziner und Juristen aus. Sie beharrten darauf, dass ein fachwissenschaftliches Studium nicht zuerst einer transdisziplinären Bildungsperspektive folgen dürfe, sondern curricular zuallererst eine disziplinäre Fachperspektive verfolgen müsse. Sie legten zu Recht den Finger in die akademische Wunde: Neben Wissenschaft, Forschung und akademischer Ausbildung eine ‚Bildungsaufgabe‘ der Hochschule in curricular-organisatorischer Hinsicht zu konstruieren, ist kapazitär nicht folgenlos für das Kerngeschäft moderner Hochschulen. Einigkeit war 337
lediglich in der Bestimmung der Problemlage zu erzielen: Studiengänge mit mehr als zwei ‚Fächern‘ würden zu einer Stoffüberlastung des Studiums führen. Eine umfassende wissenschaftliche Einführung sei nur mehr in einem Hauptfach zu leisten. Zugleich und dagegen aber bestand ebenso Einigkeit darüber, dass wiederum ein so verstandenes Fachstudium die Hochschule zur Fachschule, zur beruflichen Ausbildungsstätte für Experten mache. Dieses Anerkenntnis aber stand wiederum der Idee einer Bildungshochschule entgegen (vgl. Dok.4.2 in HEINEMANN 1996, S.254). Die Planungen für Modellstudienpläne wurden trotz dieser offensichtlichen Widersprüche fortgesetzt. In den Jahren 1954 bis 1956 wurde insbesondere im Hinblick auf die Fächer der philosophischen Fakultät weiter diskutiert. Dabei wurde auch in diesem Bereich schnell deutlich, dass eine Studienplanreform ohne Reform der Prüfungsordnungen nicht möglich sein würde. Es erwies sich als unumgänglich, den enzyklopädischen Anspruch eines disziplinären Fachstudiums aufzugeben. Das Studium generale sollte also folgerichtig auch methodisch und hochschuldidaktisch in das gesamte Fachstudium hineingreifen: „Die Übernahme der Schwerpunktmethode aus dem St[udium] G[enerale] in die Methode vieler fachlicher Darbietungen wurde empfohlen. Eine Überwindung der historisierenden und mechanisch-systematischen Darstellungsweise ist durch diese Methode möglich“ (Dok.2.2 in HEINEMANN 1996., S.28). ‚Schwerpunktmethode‘ meinte die exemplarische Behandlung von Inhalten im Hinblick auf den formalen Aspekt der Aneignung von Inhalten, modern gesprochen, ‚das Lernen zu lernen‘ durch ‚exemplarisches Lernen‘. Wieder aber stand man vor demselben Problem wie SPRANGER: Ein solch rein formaler Bildungsbegriff alleine hätte dem materialen Bildungsverständnis der Hochschule als höchstem Bildungsort der Volksgemeinschaft widersprochen. Es wurde vom OAK allerdings ein anderer argumentativer Ausweg gesucht als in SPRANGERs Modell der schaffenden Arbeitsgemeinschaft. Dieser wurde am Beispiel einer Reform der Prüfungen für das höhere Lehramt diskutiert: „Einseitige Betonung des positivistischen und historisierenden Standpunktes gefährdet die von uns geforderte echte Bildung… Der traditionelle Begriff ‚Allgemeinbildung‘ im Sinne oberflächlicher Wissensanhäufung, die nach einer veralteten Auffassung die Bildung des Menschen ausmachen, hat mit dem Begriff Studium Generale nichts zu tun“ (Dok.3.3. in HEINEMANN 1996, S.54f.; Hvhbg. i. Orig.). Hier offenbart sich noch in den 1950er Jahren die auf FRIEDRICH NIETZSCHE zurückgehende Historismus-Kritik über den ‚Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben‘. In seiner Folge wird hier implizit an das nationalkonservative Konzept des ‚Dritten Humanismus‘ nach FRIEDRICH JAEGER angeknüpft. Für dessen Lesart einer geisteswissenschaftlichen Bildungstheorie war wiederum SPRANGER relevant, der diesen Begriff 1921 erstmals 338
verwendet hatte (vgl. FOLLAK 2005, S.128ff.; SPRANGER 1922, S.20ff.). JAEGERs Ziel war eine handlungsauffordernde, Richtung und Orientierung in orientierungsloser Zeit gebende Anverwandlung. Es ging ihm nicht um den Anspruch strikter Wissenschaftlichkeit, sondern vielmehr um den Anspruch, aus dem Vorbild der großen Geschichte ein Mut machendes und Kraft spendendes Bildungsprogramm zu entwickeln. Im Kern erhob JAEGER hier NIETZSCHEs analytische Kategorie der ‚monumentalischen Geschichtsauffassung‘ zum Bildungskonzept geisteswissenschaftlicher Studien. „Gemeinschaft, Idee, Elite, Gefühl“ waren dabei jene Aspekte, die geeignet waren, im Rahmen einer neu aufzubauenden Volksgemeinschaft zum Ausgangspunkt und Vorbild genommen zu werden (FOLLAK 2005, S.137). Wiederum in ähnlicher Weise wie SPRANGER stimmten die im OAK versammelten Pädagogen gerade bezüglich des in den Studiengängen für das Höhere Lehramt verpflichtenden Paedagogicums und Philosophicums für eine Neufassung ihrer curricularen Stellung in dieser impliziten Tradition. Organisatorisch wollten sie die Pädagogik aufgewertet wissen: Es müsste die Pädagogik „überall ein selbständiges Pflichtfach der Hauptprüfung werden“ (Dok.4.2 in HEINEMANN 1996, S.255, Hvhbg. i. Orig.). Gleichzeitig aber sollte die Pädagogik, so beschlossen die in reformpädagogischer Tradition Initiierten, nicht mehr fachlich-disziplinäres, also nach damaligem Verständnis bildungsphilosophisches, historisch-systematisches Wissen und Können zum Gegenstand haben. Pädagogik, ebenso wie die Philosophie, sollten nach ihren Vorstellungen im Studium generale aufgehen. So kam der OAK, jenseits didaktischer Unterschiede, konzeptionell auf dieselbe Ausweichlösung, auf die schon SPRANGER verfallen war: Pädagogik und Philosophie sollten nicht analytisch, sondern synkretistisch verfahren. Sie sollten nicht wissenschaftliche Erkenntnis, sondern Bildungserfahrung in den Mittelpunkt stellen. Sie sollten monumentalistisch, weil präsentistisch arbeiten. Sie sollten unmittelbar dem Auftrag der ‚Persönlichkeitsbildung‘ einer Elite der ‚Gemeinschaft‘ dienen. Drängende Fragestellungen der Gegenwart sollten die Suche nach großen Vorbildern anregen, die ihrerseits geeignet waren, Mut, Kraft und Zuversicht zu spenden (vgl. Dok.2.2 in HEINEMANN 1996, S.28). Wie schon von SPRANGER, wurde der Pädagogik in diesen Vorstellungen zur Curriculumreform keine bildungswissenschaftliche, sondern eine bildnerische Funktion zugesprochen. Diese Art von Applikationshermeneutik hat ALFRED LANGEWAND zu Recht als einen der disziplinären Todesengel einer historisch-systematischen Pädagogik ausgemacht (vgl. LANGEWAND 1999). Hier erhofften sich Pädagogen eine zentrale Stellung als Fachleute für Bildung, insofern sie ihr Fach als zentralen Anker eines Konzepts von Bildungsstudium sahen. Sie berücksichtigten dabei aber nicht, dass die Pädagogik mit dieser Positionierung von einer eigenen 339
wissenschaftlichen Akzentuierung Abstand nehmen musste. Praktische Bildungsarbeit ist etwas anderes als akademisch-bildungswissenschaftliches Arbeiten. Letztlich bedeutete dieses Konzept in einer wissenschaftsorientierten Moderne für die Pädagogik die randständige Existenz als postkonfessionelle Anbieterin eines Bildungsreligionsersatzes. Das Paradox dieser Positionierung wurde von den Diskutanten dabei nicht bedacht: In der Platonischen Tradition der Akademie, der hier immer noch implizit nachgefolgt wurde, wäre die vollendete SKLORVRSKLD als Krönung der Wissenschaft zu denken. Genau umgekehrt aber wurde hier versucht, die Bildung als Propädeutikum der Wissenschaft zu organisieren. Geradezu folgerichtig erscheint im Nachhinein eine Anekdote aus der Endphase der OAK: Von 1965 an wurden keine PH-Kollegen mehr nach Oberaudorf geladen (vgl. HEINEMANN 1996, S.11). 1969 war es mit dem OAK als Ganzem vorbei. 4
Hartmut von Hentig: Das College
Mit der Konstituierung des Wissenschaftsrates und des Deutschen Bildungsrates verlor der OAK jede Bedeutung und Berechtigung. Das Diskussionsklima wandelte sich grundlegend. Mit den Empfehlungen des Wissenschaftsrates von 1966 war eine neue Richtung gewiesen, die in den nachfolgenden Papieren wie etwa denen der Bundesassistentenkonferenz, dem ‚Kreuznacher Hochschulkonzept‘ von 1968, dem ‚Bergneustädter Gesamthochschulplan‘ von 1970, etc. immer wieder bestätigt wurde. Es ging jetzt um eine gesamtstaatliche Bildungsplanung, in der Hochschulen als Teil eines gestuften wissenschaftsorientierten Bildungssystems verstanden wurden. Bildungsorientierte CurriculaDiskussionen verloren an Bedeutung. Praxis wurde jetzt, im Gegensatz zu SPRANGER, als ‚verwissenschaftlichte‘ begriffen. Demokratisierung der Hochschule, Abschaffung der Ordinarienuniversität alter Ordnung, Berücksichtigung sich differenzierender Zugangsqualifikationen, Praxisbezug, gestufte berufsqualifizierende Diplom-Abschlüsse wurden in dieser Konstitutionsphase der modernen Massenuniversität die zentralen bestimmenden Themen (vgl. KLUGE 1988, S.8, 11). Festzustellen ist eine Modernisierung des Diskurses, die in direkter Korrelation zu der Modernisierung des Bildungs- und Hochschulsystems wie der Gesellschaft und Kultur als Ganzer stand. Die Schlacken der reformpädagogischen Tradition und nationalkonservativen Redeweisen der 1920er Jahre wurden beiseitegeschoben. Mitten in der Umbruchphase aber entwickelte HARTMUT VON HENTIG noch einmal einen Vorschlag in dieser Tradition. Sein Konzept habe ich an anderer Stelle rekonstruiert, so dass hier
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eine ausführliche Darstellung unterbleiben kann (vgl. GAUS 2009). Nur die wesentlichen Aspekte seien hier zusammengefasst. HENTIG stellte sein Konzept eines College im Jahre 1965 vor. Das Signet ‚Humboldt‘ hatte in jenen Jahren an Glanz verloren, sodass HENTIG diesen Verweis unterließ und seine Vorstellung einer neuen Studieneingangsstufe in die Tradition der mittelalterlichen facultas artium stellte (vgl. HENTIG 1966, 1968, 1969b). Seine Gedanken gingen später in seine Planungen zur Kollegstufe an der Universität Bielefeld ein (vgl. HENTIG 1967). Bemerkenswert ist, dass und wie HENTIG noch einmal Anleihen bei der Tradition der Reformpädagogik macht, sich zugleich aber von den Bezugsideen SPRANGERs und des OAK weit entfernt hat. Nach seiner eigenen Aussage sind seine Positionen vielmehr als Auseinandersetzung mit WILHELM FLITNER zu verstehen, der vor dem Hintergrund einer eigenständigen Lebensform-Theorie letztmalig den Versuch einer bildungstheoretischen Begründung höherer Bildung unternommen hatte (vgl. FLITNER 1959). Nach HENTIGs Ideal sollte mit dem Ende der 11. Klasse von allen allgemeinbildenden Schulen eine „Abgangsbescheinigung“ ausgesprochen werden, die als allgemeinbildender Schulabschluss für alle Berufswege und beruflich bildenden Schul- und Fachhochschulwege berechtigt (HENTIG 1966, S.48). Einzig die universitären Studien im engeren verlangen einen weiteren Vorbereitungskursus. Um für diesen Zeit zu schaffen, verzichten die Universitäten auf das erste Fachstudienjahr. Somit wird im Zeitraum der ehemaligen Jahrgangsklassen 12 und 13 sowie der ersten beiden Semester des ersten Studienjahres ein dreijähriger Zyklus frei. Dieser Zyklus möge an ‚Colleges‘ entwickelt werden. Colleges seien den Universitäten angegliedert, ihr Lehrpersonal setze sich aus Schulpädagogen und Hochschullehrern zusammen, perspektivisch seien neue Qualifikationswege für Lehrende in diesen Einrichtungen zu entwickeln. Das College habe einen expliziten Bildungsauftrag. Um diesen zu verwirklichen, habe das College einem spezifischen neuen Strukturmodell zu folgen: HENTIGs Studienmodell sieht eine erste grundlegende Gliederung in „Hauptveranstaltungen“ und „Ergänzungsveranstaltungen“ vor (HENTIG 1966, S.50). Zum Hauptveranstaltungsblock des College, also zu dem, was SPRANGER ‚Bildungszentren‘ und der OAK ‚Zentralprobleme‘ nennen, gehören demnach für ihn zwei Stränge. Zum einen habe der Student frei nach „Neigung und/oder Begabung“ zwei „Leistungsfächer“ bzw. „Wahlleistungsfächer“ zu wählen (ebd.). In diesen lerne er typische Gegenstände einer Disziplin, der in der Moderne faktischen Gliederungseinheit von Wissenschaft, kennen, vor allem aber werde er im Sinne eines Propädeutikums insbesondere in je spezifische methodische Herangehensweisen des wissenschaftlich-systematischen Umgangs mit Welt eingeführt. Mit dieser 341
Position erweist HENTIG, anders als SPRANGER und der OAK, zunächst seine Reverenz vor der unabweisbar gewordenen Logik einer verwissenschaftlichten Moderne. Zugleich aber beharrt auch er auf einem Punkt, der ebenso von den vorgenannten vertreten wird: Eines dieser Leistungsfächer habe ein sprachliches zu sein, um die grundlegende Dimension des Menschen als sprachliches Wesen angemessen ausprägen zu können. Sprache ist für ihn „das erste und allgemeinste Abstraktionssystem des Menschen und damit ein Urmodell der menschlichen Tätigkeit“ (HENTIG 1967, S.24). Für dieses Propädeutikum sieht HENTIG nur einen Studienanteil von 40 Prozent vor. Weitere 10 Prozent möchte er für einen so genannten ‚Gesamtunterricht‘ reserviert wissen. Wieder also geht der Blick zurück in die Reformpädagogik, dieses Mal allerdings nicht zu KERSCHENSTEINER oder WYNEKEN, sondern zur Volksschuldidaktik im Sinne des ‚Gebundenen‘ bzw. ‚Projektorientierten Gesamtunterrichts‘ der Leipziger Richtung (vgl. hierzu: ALBERT 1928, KRAMP 1961, PEHNKE 1998). Wichtig sind HENTIG hier insbesondere die ‚Projekte‘. HENTIG selber stellt sich zudem mit dieser Auswahl didaktischer Modelle der reformpädagogischen Ära explizit in die Tradition der „Odenwaldschule“ (HENTIG 1966, S.51). Tatsächlich soll der Gesamtunterricht mehr als nur 10 Prozent der Studien ausmachen, insofern er, ähnlich wie im Konzept des OAK, berechtigt und beauftragt ist, in die Fachstudien hineinzugreifen. Dementsprechend haben die in ihm zu entwickelnden Arbeitsaufträge und Projekte „wenigstens ein Viertel der gesamten Stundenzahl“ aller Studien auszumachen (HENTIG 1966, S.50). Dieser projektorientierte Gesamtunterricht, der zwar nur 10 Prozent der Studienorganisation, de facto aber mindestens ein Viertel der Studienzeit ausmache, diene durch die Verbindung zweier Aspekte der Bildung: Einerseits mache der Student in ihm die Erfahrung der Einheitlichkeit der Wissenschaft, andererseits die der Gemeinschaft. Die von HENTIG an anderer Stelle aus seinem Bildungsverständnis operationalisierten Lernziele einer allgemeinbildenden Schule werden hier auch auf das College übertragen (vgl. HENTIG 1969a, S.17ff.). Im Gesamtunterricht sollen Projekte ausgegeben werden, welche die Studierenden einerseits dazu anregen, die Vielfalt ihrer Fächer- und Methodenperspektiven aufeinander zu beziehen und so, über die Vielheit der wissenschaftlichen Methoden in den Disziplinen hinausgreifend, die Einheit der Wissenschaft als eines methodisch angelegten, angeleiteten und strukturierten Nachdenkens über Welt und Umgangs mit Welt zu erfahren. Mit diesem Gedanken schließt er an JOHANN HEINRICH PESTALOZZIs Elementarmethode an. Wie PESTALOZZI in seiner Adaption der Erkenntnisphilosophie IMMANUEL KANTs von den Grundeinheiten der Erkenntnis ‚Form, Zahl und Wort‘ ausging, präzisiert HENTIG in die grundlegende Dimension aller „Erfahrung“, die zuallererst in der „Abstraktion an Sprache, Zahl, Symbol“ erfolge (HENTIG 1967, S.87). 342
Darüber hinaus führt auch für HENTIG, wie schon für SPRANGER, die Erfahrung der Zusammenarbeit in Projekten, die schließlich in Studien- oder Konferenzwochen zur Darstellung kommen sollen, zur Erfahrung von Gemeinschaft in Verantwortung. Über Disziplingrenzen hinweg seien gemeinschaftlich gelöste Probleme das pädagogisch zentrale Moment eines gelingenden akademischen Lebens in Verantwortung. Im Kern erfüllt sich für HENTIG der Bildungsauftrag des Colleges insbesondere in der Idee dieses handlungsorientierten Gesamtunterrichts. Dieser Pflichtblock macht bis zu 65 Prozent eines Studiums am College aus. Die verbleibenden 35 Prozent seien sogenannten „Ergänzungsveranstaltungen“ gewidmet (HENTIG 1966, S.50ff.). Diese entsprechen dem, was SPRANGER den ‚weiteren Wahlpflichtbereich‘ genannt hat. Ihr Gesamt ist als Komplementärstudium vorzustellen, in dem in verbindlichen Blöcken aus einem Wahlpflichtangebot des Colleges Veranstaltungen zu verschiedenen Perspektiven des Umgangs mit Welt zu wählen sind. HENTIG sieht sechs Perspektiven vor. Zum einen möchte er Studenten des Colleges zur Teilnahme an Arbeitsgemeinschaften zwingen, um die Gemeinschaft der Studenten zu stärken und deren Studium humanistisch und handlungsorientiert zu fundieren. Neben diesem erziehungsideologisch bestimmten Gemeinschaftsmodul sieht er fünf Fachperspektiven vor: Studenten sollen sich einlassen auf politische, sprachliche, naturwissenschaftliche, künstlerisch-ästhetische sowie körperlich-sportliche Perspektiven des Umgangs mit und des Seins in Welt. Diese Perspektiven des Komplementärstudiums sind nicht als Fachstudien auszugestalten, sondern haben als Studium generale den Bildungsauftrag der vorgängigen Schule implizit fortzusetzen. Sie sollen jedem Studenten ermöglichen, sich selbst als Zoon Politicon in seinen Bezügen zu „general semantics“, in seiner Verwiesenheit auf die Methoden von „general science“, in seinen Dimensionen der Aisthesis und der Körperlichkeit zu erleben und zu reflektieren (HENTIG 1967, S.24). Pädagogik als fachlich-disziplinärer Grundlagenbereich eines um ‚Bildung‘ sich gruppierenden Studiums spielt bei HENTIG allerdings keine Rolle mehr. Die hinter dem Strukturmodell liegende Grundauffassung wird schon in HENTIGs Göttinger Antrittsvorlesung deutlich. HENTIG forderte dort keine ‚Verwissenschaftlichung‘, sondern eine ‚Repädagogisierung der Pädagogik‘. In explizitem Bezug auf und in klarer Abgrenzung von den Göttingern JOHANN FRIEDRICH HERBART und HERMAN NOHL erklärte er Gegenüberstellungen von Theorie und Praxis, von Theorie und Empirie, von philosophischer Theorie und Wirklichkeit in den Blick nehmender Forschung für falsch und überholt. Stattdessen entwarf er dort das Programm einer WKHRULD, die nicht dialektisch, sondern integrativ eine kommunikativ vermittelte Einheit aus pädagogischem Ethos entwickeln könne (vgl. HENTIG 1969b, S.230ff.). Ethos statt disziplinärem Erkenntnis343
interesse: Mit diesem spätromantischen Ansatz tat HENTIG nichts weniger, als die gesamte Realgeschichte der Wissenschaften zu negieren, zumindest aber, sie für umkehrbar zu erklären. Er bot damit aber auch die Interpretationsfolie, auf der das Konzept der College-Gemeinschaft zu verstehen ist, die sich durch Projekte in Verantwortung formt. Entsprechend diesem Gedanken einer romantischen Umformung der Wissenschaften ist das Komplementärstudium antidisziplinär zu verstehen. HENTIG erläutert, dass für ihn ein Verständnis von Methoden als Zurichtungen von, für und in Disziplinen nicht akzeptabel ist. Vielmehr versteht er PHWKRGRV – schon die Postmoderne vorausahnend – gerade umgekehrt als den Weg, geschlossene Ordnungen des Wissens zu durchbrechen und zur Grunderfahrung offener Prozesse des Umgangs mit Selbst und Welt zurückzukehren (vgl. HENTIG 1969b, S.13). 5
Zusammenschau: Konstitutive Elemente pädagogischer Konzepte einer Bildungshochschule im 20. Jahrhundert
Werden die drei historisch vorgestellten Konzepte systematisch verglichen, so fallen konstitutive Gemeinsamkeiten über die Zeit auf. Alle Konzepte sind auf einem kulturkritisch-konservativen Fundament gegründet. Die Ausdifferenzierung von Wissenschaft in Disziplinen und die immer weiter hervortretende spezialisierte Ausbildungsfunktion von Hochschulen wird nicht als strukturlogische Modernisierung, sondern als Verfall eines geordneten und gegliederten Kulturhorizonts begriffen. Alle Konzepte vertrauen nicht auf die Aussagekraft von Hochschulzugangsberechtigungen. Sie interpretieren, gegen die Institutionengeschichte des deutschen Bildungssystems, die Sicherstellung von Studierfähigkeit als Aufgabe der aufnehmenden Hochschule, nicht der abgebenden Schule. Sie unterstellen eine mangelnde Studierfähigkeit der Absolventen. Aus der historischen Bildungsforschung ist bekannt, dass dieser Topos, wird auf seine Trägerschichten geschaut, in den etablierten Kreisen des Bildungsbürgertums verortet ist, die jede neue Öffnungswelle des Bildungssystems als Bedrohung des eigenen Status erfahren. Alle Konzepte mit Ausnahme dessen von HENTIG in den modernisierungsfreudigen 1960er Jahren ziehen das Signet Humboldt heran, jenes inkarnierte Adelsprädikat der Bildungswissenschaften, um ihre Kulturkritik zu legitimieren. Ein tatsächlicher Bezug auf HUMBOLDT, oder weiter, systematischer: auf die tragenden Ideen zur Hochschulmodernisierung im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert, ist allerdings weder historisch noch systematisch gegeben. Lieber tritt man den durch sie begünstigten Modernisierungskräften in den Weg. Wo die 344
Konzepte konkret werden, gehen sie tatsächlich weit hinter HUMBOLDT zurück. Sie rekurrieren auf die Akademie PLATONs, die septem artes liberales in der Nachfolge von ISOKRATES, das Studium generale der mittelalterlichen Universität, schließlich auf die englisch-amerikanische College-Tradition, die ihrerseits wiederum ihren Ursprung in den mittelalterlichen Kollegien hat. Alle Konzepte gruppieren sich in ihrer tatsächlichen Argumentation um den Zentralbegriff der Persönlichkeit. Dass ‚Professionalität‘ als Komplementärbegriff zur von allen abgelehnten Ausdifferenzierung der Disziplinen keine Rolle spielt, ist nicht verwunderlich. Bemerkenswerter ist schon, dass auch der Begriff der ‚Individualität‘, der für den tatsächlichen historischen HUMBOLDT im Zentrum stand, keine Rolle spielt. Zielperspektive ist vielmehr eine ‚humanistisch gebildete Persönlichkeit‘. Diese soll in der Einheit eines personalen Identitätskerns zusammenhalten, was in der Entwicklung der Kultur nicht rückholbar überwunden ist. Der Persönlichkeitsbegriff, der hier gemeint ist, steht nicht in der Tradition KANTs und FRIEDRICH VON SCHILLERs. In deren Tradition meint Persönlichkeit das Vermögen zur freien sittlichen Selbstbestimmung. In der hier vorliegenden Verwendungsweise geht der Begriff der ‚Persönlichkeit‘ hingegen zurück auf kulturreaktionäre Debatten der 1920er Jahre, die ihrerseits wiederum an insbesondere staatsrechtlichen und theologischen Konzepten der Romantik anknüpfen. Persönlichkeit meint in dieser Tradition ein Ich in Gemeinschaft. Das Begriffspaar Persönlichkeit und Gemeinschaft war in diesem Diskurs als der reaktionäre Widerpart der Diskussion um Individuum und Gesellschaft – oder, mit SCHLEIERMACHER und HUMBOLDT – Individuum in Geselligkeit – zu erkennen. In den 1920er Jahren wurde dieser Aspekt der Gliedhaftigkeit des Menschen in einem kulturellen Gesamt vor den verschiedensten Horizonten diskutiert. Immer war es ein Abwehrdiskurs: Die Jurisprudenz beklagte das Vordringen des Naturrechts gegenüber dem ‚germanischen‘ Sittenrecht, die Staatsrechtslehre die voluntaristische Auffassung des selbstgewählten Aufbaus sozialer Bezüge gegenüber dem existenziellen Verbundensein in einer ‚Volksgemeinschaft‘, die Theologie die protestantische Idee der Verantwortung des Einzelnen vor Gott ohne den, katholischen, Umweg über die ‚una sancta ecclesia‘, etc. Insbesondere in der Pädagogik bündelte sich dieser Diskurs. Dieses Thema beschäftigte nicht nur die Hochschulkritik. In der Schulpädagogik zog sich dieses Thema von WILHELM REIN und OTTO WILLMANN bis hin insbesondere zu PETER PETERSEN. In der Sozialpädagogik bestimmte es die Debatte in der Nachfolge von PAUL NATORP. In der Volksbildungsbewegung war es insbesondere im Hohenrodter Bund um FLITNER verwurzelt. Immer ging es im Effekt darum, das die Moderne leitende Prinzip der Vertragsfreiheit durch ein anleitendes Prinzip der Erziehung abzulösen. Im Gegensatz zu der liberalen Grundannahme, dass 345
Individuen als Subjekte ihren Willen in zweckerfüllenden Kooperationen vergesellschaften, wurde in dieser romantisch-konservativen Tradition davon ausgegangen, dass die Gemeinschaft den Einzelnen durch Erziehung dazu anleitet, als Persönlichkeit in eigener Verantwortung dem Gemeinschaftsguten in sinnerfüllenden Sollensvorgaben gerecht werden zu wollen. Es geht also nicht um Freiheit des Individuums vor dem Sozialen, sondern um Freiheit der Persönlichkeit für das Soziale, im Medium des Sozialen. In diesen Phantasmagorien pädagogischer Provinz, auch gar pädagogischer Provinzialität, offenbart sich zugleich der kompensatorische Größenwahn von Angehörigen einer randständigen Disziplin. Der Machtrausch des Erziehungsstaates macht den Erzieher noch einmal zum Philosophenkönig. Dementsprechend fordern alle Konzepte ein bildungswissenschaftliches Integrationsstudium. Den Bildungswissenschaften, der Pädagogik als ihrem disziplinären Kerne insbesondere, wird dabei, gegen die Realität moderner Disziplinentwicklungen, keine analytisch-theoretische, sondern eine synkretistisch-bildende Funktion zugewiesen. In dieser wird der historisch offenbar gewordene Unterschied von Bildung und Wissenschaft zuzudecken versucht. Bildungswissenschaften sollen in diesem Konzept nicht Funktionszusammenhänge und Sachlogiken erforschen, nicht reflektieren und nicht kritisieren, sondern anleiten, führen, orientieren und zur Besinnung aufhelfen. Im recht eigentlichen Sinne der Moderne werden sie hier nicht als Wissenschaften, sondern als säkularisierte Pastorallehre verstanden. Alle Modelle sind, wo es an konkrete Umsetzungsvorstellungen geht, stark an der Reformpädagogik orientiert. Insbesondere Arbeitsschulgedanke und Projektmethoden stehen dominant im Fokus des Interesses. Dieses ist auch verständlich. Die abendländische Tradition des Nachdenkens über akademische Ausbildung kreiste um die Frage von Werten, aber nicht um die von Werken. Erst die von allen Diskutanten kulturkritisch mit dem Bild der Technischen Hochschule versehene Modernisierung der Ausbildungs- und Qualifizierungsfunktion von Hochschulen seit dem 19. Jahrhundert veränderte diese Tatsache grundlegend. Weder die Platonische Akademie noch das Aristotelische Lyceion, noch die Initiation in Wissenskreise in der Isokratischen Tradition der septem artes liberales, noch die Thomistische Universität, noch die Reformuniversität um 1800 stellten das Produkt akademischer Arbeit in den Mittelpunkt. Bildung und Wissenschaft wurden, von PLATON und ARISTOTELES bis zu SCHLEIERMACHER und HUMBOLDT, bei allen Unterschieden in der Konzeption, in einer strukturellen Hinsicht gleich begriffen: In dieser europäischen Tradition werden sie als gesellig-symphilosophierende verstanden. Das Werk, das Produkt akademischer Ausbildung, spielte keine Rolle. Mit der Durchsetzung der standardisierten Ausbildungsfunktion der Hochschule in einem gestuften und genormten
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Bildungs- und Wissenschaftssystem in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts änderte sich die Realentwicklung eigendynamisch von der Diskursentwicklung. Die hier beispielhaft vorgestellten Modelle stehen vor dem grundlegenden Problem, diesen Wandel abzulehnen, ihn aber nicht negieren zu können. Die Vorstellungswelt eines alles überformenden Ethos ist an der Realität zerbrochen. Schon SCHLEIERMACHER hatte darauf hingewiesen, dass und wie sich gesellschaftliche Systeme ausdifferenzieren und um Zentralwerte gruppieren: Die Ästhetik um die Schönheit, die Theologie um das Gute, die Wissenschaft um das Wahre. Das Wahre, Gute und Schöne, das PLATON einst als Einheit durch die einheits- und sinnrekonstruierende SKLORVRSKLD schauen wollte, ist zerbrochen. Genau diese Tatsache aber, dass Wissenschaft nur und nur mehr allein der Wahrheit dient, dass zudem seit dem 19. Jahrhundert die Ausbildung in Techniken der rationalen Weltbeherrschung zum Aufgabenspektrum der Hochschule hinzutritt, die dem Kriterium der Zweckmäßigkeit unterworfen ist, lässt der Bildung keinen systematischen Platz mehr an der Hochschule. Wollte sie ihren Anspruch aus einem in unbekannte Fernen gerückten Guten herleiten, müsste sie hypertroph oder esoterisch erscheinen. Am deutlichsten berücksichtigt diese Tatsache der radikal relativistische Ansatz HENTIGs, der schon auf die Verwissenschaftlichungsprozesse der 1960er Jahre reagieren muss. Wo aber ein Bildungsanspruch sich nicht mehr auf einen übergeordneten Ethos beziehen kann, muss er systematisch auf Eros ausweichen. Der pädagogische Eros der charismatisch grundierten Gemeinschaft von Lehrenden und Lernenden wird, so die Hoffnung in allen vorgestellten Beispielen, zum schaffenden Eros der Arbeitsgemeinschaft. Diese Gemeinschaft soll ‚brennen‘ in der heroisch angegangenen Tat. Aus dem Eros der Tat, vollbracht in der Gemeinschaft des ‚schaffendes Schulvolks‘, wie ADOLF REICHWEIN es genannt hat, wächst, so die gemeinsame Hoffnung aller Ansätze, ein gruppenbezogener Ethos, der geeignet ist, die auseinanderstrebenden Wertorientierungen von Wissenschaft, Technik und Bildung zu überwinden. Der Arbeitsprozess am konkreten Gegenstand verlangt, so die traditionelle Position KERSCHENSTEINERs, einen Ethos eigener Art, der die Zentralwerte der Wahrheit, der Richtigkeit, der Schönheit, des Guten, der Zweckmäßigkeit, etc., überformt. Die Zielperspektive auf das Gelingen des konkreten Produkts soll außerdem dabei helfen, das systematische Problem aller Konzepte, ‚das Lernen zu lernen‘, zu überwinden, welches darin liegt, dass Lernen nur mehr entmaterialisiert gedacht werden kann. Gerade solche Entmaterialisierung aber ist ein unüberwindlicher Widerspruch zu einem Rückbezug auf klassisches Bildungsdenken, nach welchem Bildung als die freieste Wechselwirkung von Ich, Du und Welt aufzufassen ist. Das In-der-Welt-sein von Bildungsprozessen, die unentrinnbare Fremdheit, Verschlingung und wechselseitige Anverwandlung von subjektivem Bildungsstreben und objektiver 347
Kulturgestalt kann so systematisch nicht abgebildet werden. Insofern ist nur zu verständlich, dass alle Ansätze darauf beharren müssen, das Studienziel der ‚gebildeten Persönlichkeit‘ als ‚humanistisch und handlungsorientiert‘ zu behaupten. Nur auf diesem Wege ist es möglich, die Platonischen Anklänge in allen Konzepten, welche historisch einer vergangenen Aera der Zivilisationsgeschichte zuzuordnen sind, systematisch dennoch weiterhin einsetzen zu wollen. Dieses ist der tiefere Grund, weshalb alle Modelle mit der nach Fächern gegliederten Organisationsstruktur universitärer Tradition brechen wollen. Nur in einer Akademie in der gewandelten Gestalt einer reformpädagogisch inspirierten Arbeitsschule ist diese Rückkoppelung von Eros auf Ethos möglich. Im Gegensatz zum Ursprung bei PLATON aber, der den Eros als Ausdruck des Ethos versteht, wird hier der Eros zum Mittel des Ethos. Damit sind alle diese Modelle letztendlich grundgelegt im schlammigen Untergrund eines circulus vitiosus von Reformpädagogik und Lebensreformbewegung. Ein neuer Mensch schaffe den Aufbau einer sozial und kulturell neuen Welt – eine sozial und kulturell neue Welt erschaffe den neuen Menschen. Vor diesem Hintergrund zeigt sich aber umso mehr die Begrenztheit dieser Modelle: Auch sie können nicht umhin, für jede Art neu-alter Akademie deren Organisationsförmigkeit als factum brutum anzuerkennen. Sie negieren systematisch, was sie historisch ausblenden. Die Einschreibung einer polizeylichen Logik war seit der Zeit um 1800 eine der wesentlichsten Grundlagen für den Erfolg der Hochschulentwicklung (vgl. DÖRPINGHAUS 2009, S.3). Einen Eros der Tat inszenieren zu wollen, ist an keiner Akademie mehr im rauschhaften Erleben wie in der Jugendbewegung oder im Landerziehungsheim zu organisieren. Wo die Modelle konkret werden, werden sie deshalb, bei allen sonstigen theoretischen und ideologischen Differenzierungen, erstaunlich gleichförmig: Sie alle fordern eine Studieneingangsstufe, die mit nachlassender Stundenzahl das weitere Fachstudium begleiten soll. Sie alle verlangen einen Kern sprachlichphilosophisch-historischer Schulung als Kern dieses Eingangsstudiums. Sie alle verlangen eine zweite Kernperspektive, welche diese erste ergänzt und zugleich propädeutisch für die Fachstudien ist. Sie verlangen schließlich, für die studienbegleitenden Veranstaltungen in den höheren Semestern, Komplementärperspektiven, die sich um Zentralperspektiven und Zentralwerte unterschiedlicher Bereiche wie Wissenschaft, Technik, Ästhetik gruppieren. Sie alle formulieren exakte Studienplan-Vorgaben, deren Verschulungsgrad ein traditionelles Universitätsstudium ausschließt, die zugleich aber, diese nicht aufzulösende Paradoxie wird nicht diskutiert, auch den erotischen Rausch verhindern. Sie alle müssen konzedieren, dass alle diese Maßnahmen zu einer neuen, verwaltungsförmigen Logik der Studiengangplanung und -organisation führen werden.
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In diesem letztgenannten Punkt wird ein Grundproblem allgemeinpädagogischer Theoriearbeit deutlich, das auch über die aufgezeigten Beispiele hinaus zu verallgemeinern ist (aus anderen Perspektiven kommen in diesem Band KLAUS PRANGE und MARCUS ERBEN zu ähnlichen Problemdiskussionen): Allgemeine Pädagogik bearbeitet Probleme gelingender Praxis. Konkrete Bildungsarbeit aber bearbeitet Schwierigkeiten organisatorischer Anpassung von und in Institutionen. Alle vorgestellten Konzepte haben in ihrem Kern einen antiinstitutionellen Impuls. Erst durch ihn entfalten sie ihre theoretische Kraft. Ebenso wenig aber, wie Institutionen des Bildungsbereichs und Praxen bildender Anverwandlung ineinander aufgehen, können Bearbeitung von bildungstheoretischen Problemen eins zu eins dabei aufhelfen, Schwierigkeiten der organisationsförmigen Bildungsplanung einer Lösung zuzuführen. So ist es kein Zufall, sondern dem logischen Bruch zwischen beiden Bereichen geschuldet, dass eine der Praxis verpflichtete philosophisch orientierte Bildungstheorie keine unmittelbar praktische Orientierung für die Entwicklung von Bildungsorganisationen bereit stellen kann. 6
Die Gegenwart
Im Jahre 2009 jährte sich zum 200. Male die Gründung der Berliner Universität. Wieder einmal hat das Signet ‚Humboldt‘ Konjunktur, wieder einmal werden Konzepte zur Entfaltung einer Bildungshochschule beschworen. Dieses Mal allerdings ist einiges anders: Zum einen werden, anders als zu Zeiten jener hier vorgestellten Modelle, diese tatsächlich umgesetzt. Zum anderen spielt die Pädagogik hierbei keine Rolle mehr. Sie ist vielmehr von den Personalentwicklungskonzepten der Betriebswirtschaftslehre abgelöst worden. So nimmt es nicht wunder, dass insbesondere Wirtschaftsfachhochschulen die vorgestellten Modelle aufnehmen. In der konkreten Umsetzung im Detail orientieren sie sich insbesondere am relativistischen Konzept HENTIGs. Die Pfade, auf denen dessen zu den Apokryphen gehörenden Vorstellungen den Weg in die Organisationsreform der Hochschulreformer gefunden haben, harren noch der Entdeckung durch die historische Bildungsforschung. Die Konzeptanlehnung aber ist evident. Diese Behauptung sei an nur drei Beispielen illustriert, die einem Reader der STIFTUNG MERCATOR und des STIFTERVERBANDs FÜR DIE DEUTSCHE WISSENSCHAFT entnommen sind (STIFTUNG/STIFTERVERBAND [2008]). Weitere Einrichtungen, etwa die Universität Erfurt im staatlichen Bereich oder im privaten Sektor die Universität Witten-Herdecke, die Zeppelin-University Friedrichshafen
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oder die Jacobs-University Bremen sowie zahlreiche Wirtschaftsfachhochschulen könnten ebenso vorgestellt werden. Ausgewählt seien die Bucerius-Law-School Hamburg [BLS], die Hochschule St. Gallen [HSG] sowie die ‚Leuphana‘, früher Universität Lüneburg. Diese Auswahl ist begründet durch ein Symposion, das auf Veranlassung der ZEIT-Stiftung im Jahre 2003 federführend von Verantwortlichen der BLS, der HSG und der TU Hamburg-Harburg in St. Gallen durchgeführt wurde. Zusammengetragen und mit verbindender Klammer versehen wurden die Beiträge von SASCHA SPOUN zu einem Band mit dem Titel ‚Studienziel Persönlichkeit‘ (vgl. SPOUN/WUNDERLICH 2006). SPOUN, seinerzeit Dozent an der HSG, ist inzwischen als Präsident an die ‚Leuphana‘ gewechselt. Die von ihm propagierten Auffassungen werden seither kontinuierlich von den ZEIT-Redakteuren UWE JEAN HEUSER und JAN MARTIN WIARDA einerseits im Wirtschafts-, insbesondere aber im Chancenteil der ZEIT publizistisch unterstützt. Die BLS ist eine private Hochschule mit rechtswissenschaftlichem Studienangebot. Von der ZEIT-Stiftung getragen, versteht sie sich als Stachel im Fleisch der traditionellen Juristen-Ausbildung. Verbindlicher Bestandteil ihres grundständigen Bachelor-Angebots ist das Studium generale. Hierzu heißt es auf der Website: „Das Studium generale der Bucerius Law School vermittelt den Studierenden fachübergreifende Kompetenzen, die ihren Bildungshorizont erweitern und ihre Persönlichkeitsentwicklung fördern. In Ergänzung zum juristischen Fachstudium bietet es den Studierenden ein breites Orientierungswissen und trägt zum Erwerb überfachlicher Schlüsselqualifikationen bei. Das Studium generale fördert die Ausbildung (sic!) leistungsorientierter, ganzheitlich gebildeter Persönlichkeiten (sic!), die sich durch Handlungskompetenz und besonderes Verantwortungsbewusstsein auszeichnen“ (BLS 2009). Den Werbern sei nachgesehen, dass sie den Unterschied von ‚Bildung‘ und ‚Ausbildung‘, von ‚Kompetenzen‘ und ‚Schlüsselqualifikationen‘ nicht kennen. Wesentlich ist hier: Es geht der BLS um ‚Bildung‘ als ‚Persönlichkeitsentwicklung‘ zu ‚Handlungskompetenz‘. Zur Verwirklichung dieser Ziele wird ein Komplementärstudium zu verschiedenen Perspektiven angeboten: Neben einem übergreifenden Modul ‚Soft Skills‘ sind einführende, nicht fachwissenschaftlich, sondern ‚bildend‘ verstandene Angebote zu ‚Geschichte, Philosophie & Gesellschaft‘, ‚Wirtschaft, Politik & Internationale Beziehungen‘, ‚Kunst & Kultur‘ sowie ‚Natur & Technik‘ zu studieren. Weiter heißt es in der Eigenwerbung der BLS: „Darüber hinaus umfasst das Angebot des Studium generale auch Lehrveranstaltungen zur musikalischen Praxis für Chor und Orchester. Die Studierenden gestalten durch thematische Vorschläge und die Organisation eigener Veranstaltungen das Programm des Studium generale aktiv mit“ (ebd.).
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Die HSG erklärt auf ihrer Website über den Einstieg in das BachelorStudium: „Das Studienmodell der Universität St. Gallen ist einzigartig. ... Ziel ist die fachliche als auch die persönliche Entwicklung der Studierenden, ihre Bildung im humanistischen Sinne“ (HSG 2009). An dieser Website sei den Werbern die Erklärung der Einzigartigkeit nachgesehen, denn auch hier wird wieder postuliert, ein Studium der Studieneingangsstufe diene der ‚Bildung‘, welche ‚persönliche Entwicklung‘ ‚im humanistischen Sinne‘ sei. Dieses Ziel zu erreichen, wird ein hier international ‚Assessment-Stufe‘ heißendes Studium generale abverlangt, welches etwa 25 Prozent der Studieneingangsstufe ausmacht. Das Komplementärstudium heißt hier ‚Kontextstudium‘, meint aber ansonsten das Gleiche wie an der BLS. Allerdings schwebt es in noch größerer begrifflicher Unschärfe als dort, insofern es ‚Handlungskompetenz‘, ‚Reflexionskompetenz‘ und ‚Kulturelle Kompetenz‘ zu vermitteln verspricht. Die ‚Leuphana‘ bietet auf ihrer von der Werbeagentur SCHOLZ&FRIENDS konzeptionierten Website die Wiederholung des angeblich Nie-Dagewesenen und verspricht das nun schon Altbekannte (vgl. zur Marketing-Strategie KELLER/SEYFARTH 2008): Eine ‚Leuphana‘ ist eine ‚Hochschule eigenen Typs‘. Sie biete eine „echte Innovation“, nämlich eine „einzigartige Bildungsperspektive“ der „Förderung der Persönlichkeit“. Allerdings, so ist hier zu konzedieren, wird hier die organisationelle Umsetzung dieses Marketing-Slogans sehr viel radikaler vorangetrieben als an den anderen genannten Beispielen. Anders als jene ist sie eine staatliche Universität mit breitem Fächerspektrum. An ihr ist der derzeit radikalste Umbau einer öffentlichen Hochschule in der Bundesrepublik zu beobachten. Hier finden insbesondere HENTIGs Vorstellungen eine Umsetzung im Maßstab 1 zu 1. Die frühere Universität Lüneburg wurde inzwischen in Einheiten zerlegt. Im Kern der Hochschule steht ein neues College. Das College umfasst sämtliche Undergraduate-Studies. Im College gibt es keine Fachabschlüsse mehr, sondern nur mehr einen einzigen integrierten ‚LeuphanaBachelor‘. Der Leuphana-Bachelor kennt zwei Fachperspektiven (‚Major‘ und ‚Minor‘ – diese Wortwahl kommt aus St. Gallen), die aufgrund ihrer Enge und Begrenztheit weder Umfang noch Tiefe eines echten Fachstudiums haben, sondern nur ein Hineinschnuppern in disziplinäre Fachlichkeit erlauben. Im Falle des Minor machen sie nur noch ein Sechstel, im Falle des Major ein Drittel des Studiums aus. Dieses bedeutet, umgerechnet auf ein auf sechs Semester angelegtes Bachelorstudium, ein Fachstudium des Umfangs von gerade einmal noch einem bzw. zwei Studiensemestern. Stattdessen aber macht alleine ein Drittel des Studiums ein „Leuphana-Semester“ aus, das eine „echte Gemeinschaftsaufgabe“ sei, sowie ein darauf aufbauendes „Komplementärstudium“, in dessen Rahmen sechs sogenannte „Perspektiven“ unter den Labels „Methoden und Modelle“, „Sprache und Kultur“ „Technik und Natur“, „Verstehen und Ver351
ändern“, „Kunst und Ästhetik“ sowie „Projekte und Praxis“ zu studieren sind. Wie im Original, ist das mit HENTIG als ‚general semantics‘ zu bezeichnende sprach- und kulturkritische Modul erste Verpflichtung. Wie in allen vorgestellten Konzepten wird behauptet, dass unity in diversity hergestellt werde, dass das Leben zu lernen und das Lernen zu lernen identisch sei, dass Erziehung zur Gemeinschaft Hochschulaufgabe sei, kurz, dass das Studium „humanistisch, nachhaltig (dieses Label kannten die Vorväter allerdings noch nicht) und handlungsorientiert“ sei (LEUPHANA COLLEGE; LEUPHANA LEUPHANA 2009). Insgesamt, so verwundert es nicht, wird über das übergreifende Signet kontinuierlich ‚kommuniziert‘, dass hier ein ‚Humboldtsches Universitätsideal‘ neu belebt werde. Bemerkenswert ist, dass und wie in der Gegenwart ein Thema der Bildungstheorie zu einem konkreten und relevanten Arbeitsgebiet von Bildungsreform wird. Hier wurde nur auf drei Beispiele von neuerdings vielen Hochschulen die Aufmerksamkeit gelenkt. Die Frage nach dem möglichen Erfolg solcher Versuche sei hier nicht gestellt; 200 Jahre Wissenschafts(system)entwicklung geben die Antwort vor. Die Frage sei an dieser Stelle auch nicht auf die ideologischen Hintergründe solcher Neurezeptionen kulturkritischer Modelle ausgerechnet durch Hochschulen gerichtet, deren Wirtschaftsnähe viele ihrer Gegner dazu verleitet, sie als ‚neoliberale‘ Vorzeigeeinrichtungen darzustellen (vgl. hierzu etwa: RHEINLÄNDER 2007). Die Frage sei an dieser Stelle auch nicht darauf gerichtet, in welch bemerkenswerter Weise in diesen Studienkonzepten dem Bildungsbegriff der Kompetenzbegriff analogisiert wird, wobei dieser Analogieschluss zugleich auch noch eine sehr spezifische und analysierenswerte Verbindung mit dem Modell des ‚Symbolanalytischen Wissensarbeiters‘ eingeht (vgl. BORMANN/GREGERSEN 2007; HÖHNE 2007). Die Frage sei an dieser Stelle auch nicht aus der verzweifelten Perspektive einer systematischen Bildungstheorie dazu gestellt, wie es nur möglich sein kann, dass solche Umkehrung des Bildungsbegriffs zu einem Slogan für Maßnahmen kompletter Verdummung gelingen kann (vgl. zuletzt: DÖRPINGHAUS 2009). Abschließend sei vielmehr der Blick auf ein Staunenswertes gerichtet. Zum ersten Mal in der neueren Hochschulgeschichte werden Konzepte einer ‚Bildungshochschule‘ umzusetzen versucht – aber die Pädagogik ist nicht mehr dabei. Nicht nur ist zu beobachten, dass der Aufschwung solcher ‚Hochschulen neuen Typs‘ auf der Institutionenebene parallel läuft mit der Zurückstufung der Erziehungswissenschaft von dem innerhochschulischen Status einer Disziplin zu dem einer Zulieferin in einem ‚bildungswissenschaftlichen Professionalisierungsbereich‘ der Lehramtsausbildung. Dieses alleine wäre schon bemerkenswert genug. Zu erinnern ist an den Anfang der geschilderten Entwicklung. Schon SPRANGER hatte vor acht Jahrzehnten erkannt, welche Gefahren für die Disziplin 352
von einer solchen Positionierung ausgehen. Im hier rekonstruierten Zusammenhang ist aber mindestens ebenso bemerkenswert, dass eine philosophischtheoretische Pädagogik, im Zentrum der ‚Bildungswissenschaften‘ stehend, als Erfinderin solcher Konzepte nicht mehr gefragt wird. Vielmehr wird sie bestenfalls noch genommen, benutzt und missbraucht, nach ihrer Vergewaltigung, wie zum Hohn ihrer Erniedrigung, auf das Podest der schönen Stichwortgeberin gestellt. Als Partnerin aber wird sie nirgend gesehen. So geschieht es etwa, dass der Rektor der BLS, KARSTEN SCHMIDT, in schönster reformpädagogischer Jargon-Tradition zunächst einmal von seinen Studierenden jenes „brennen“ verlangt – wenigstens so lange, bis sie den hochdotierten Job in der Tasche haben – und dann zu seiner Art der Apotheose des Faches anhebt: „Und ein bisschen pädagogische Erziehung darf schon sein“ (RANNIKO/KIPP 2009, S.2). Difficile est satiram non scribere. Bemerkenswert, bei solchen Enthüllungen des Verständnishorizontes aber auch wiederum durchaus folgerichtig ist, dass die Erziehungswissenschaft nicht einmal mehr zum Fächerspektrum der dieses Konzept verfolgenden Hochschulen gehört. So ist ein paradoxes Resultat der Disziplin- und Hochschulentwicklung zu notieren: 80 Jahre nach SPRANGER steht die Pädagogik genau da, wo er ihre Gefahr erkannt hatte: Die Bildungswissenschaften sind nur noch Zuliefererinnen für die Lehrerbildung. Auf dem Weg aber, der ihm als Ausweg vorschwebte, werden sie noch weniger gebraucht – was Bildungshochschule ist, definieren heute andere. Das Konzept ist von Betriebswirten übernommen worden. Pädagogische Begründungsformen sind zu marketingstrategischen Begrüßungsformeln mutiert. Während auf der Ebene des Jargons Werbeagenturen das Erbe der Pädagogik angetreten haben, sind auf der Ebene der Umsetzung Fachleute der Organisationsentwicklung an ihre Stelle getreten. Es lässt sich also, so ist als Resultat dieses nur beispielhaft vorgestellten Bereichs Hochschule festzuhalten, heute trefflich über ‚Bildung‘, ihre Legitimations- und ihre Organisationsformen sprechen, ohne einstige Fachleute für diesen Begriff noch heranzuziehen. Die Sachstandanalyse ergibt, dass die Wirtschaftswissenschaften der Pädagogik ihren einst einheimischen Begriff abspenstig gemacht haben. Eben ist darauf hingewiesen worden, dass die Probleme der Praxis bearbeitende Bildungstheorie und die des Schwierigkeiten der institutionellen Organisationsförmigkeit bearbeitenden Bildungsmanagements systematisch nicht vermittelbar sind. Insofern ist es unmittelbar einleuchtend, dass der auf Organisationsanpassungen schielende Blickwinkel der Bildungsreformer in letztgenannten Beispielen die Frage theoretischer Bezugsperspektiven generös ausblenden kann.
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UHLE hat darüber hinaus ein weiteres Problem erkannt. Schon im Jahre 2001 hat er die These vertreten, dass erziehungswissenschaftliche Redeweisen über Bildung in der Gefahr stehen, „Erfüllungsgehilfen des organisations- und managementwissenschaftlichen“ Jargons zu werden, insofern die Pädagogik es versäumt hat, „Standards eines erziehungswissenschaftlichen Redens“ zu entwickeln (UHLE 2001, S.65). Dieses Defizit sieht er auf mehreren Ebenen. Zum einen musste Pädagogik sich davon verabschieden, klare Sinn- und Zielvorgaben machen zu wollen. Jenes Konzept der Praxisorientierung, wie es insbesondere die geisteswissenschaftliche Pädagogik bestimmt hatte, ist in Zeiten durchgehend institutionalisierter Organisationsförmigkeit von Bildung und Erziehung überholt. Zudem gilt: Will sie Wissenschaft auf der Höhe der Zeit sein, kann sie nicht mehr, wie es noch SPRANGER tat, normative Vorgaben zum Bildungsbegriff erbringen, sondern bestenfalls noch vorkommende Bildungsbegriffe historisch rekonstruieren und systematisch aufhellen. Damit aber taugt sie nicht einmal mehr als Legitimationsdisziplin. Und noch schärfer wird das Problem von UHLE gesehen: „Pädagogik als Denkform wird eigentlich von organisationswissenschaftlichen Ansätzen gar nicht benötigt, hat [sic] sie doch mit dem Selbst-Optimierungsgedanken ein eigenes Erziehungs- und Bildungskonzept“ (ebd., S.70). Wenn Managementlehren überhaupt noch auf eine Art pädagogischen Jargons Wert legen, so interessieren sie sich aber nach Beobachtung von UHLE ausgerechnet für die hermeneutisch-geisteswissenschaftliche Tradition, der auch die hier vorgestellten Modelle entstammen. Ohne deren theoretisch-philosophischen Kontexte noch zu kennen, wird an zentrale Momente wie diejenigen der ‚Bildsamkeit‘ oder der ‚Steigerungsfähigkeit‘ angeschlossen, insofern diese kulturgesättigter klingen als der Werbeslogan von der stetigen ‚Innovation‘, der mit ihrer Verwendung eigentlich gemeint ist. Gerade in dieser Verkürzung, organisatorische Modelle aus dem Steinbruch der Bildungsgeschichte zu entnehmen, ihre theoretischen Grundlagen – und vor allem: deren systematischen Probleme – aber unberücksichtigt zu lassen, offenbart sich der Mechanismus, der pädagogisches Denken in diesem Diskurs überhaupt noch anschlussfähig macht. So finden noch einmal die ‚Persönlichkeit‘ als Label für den multifunktional einsetzbaren Absolventen, die ‚Gemeinschaft‘ als Label für das Team, die ‚Begeisterung‘ als Label für die Arbeitsmotivation, etc. Verwendung (vgl. ebd., S.71). Welche Optionen hat Pädagogik im Zeitalter dominanter ökonomischer, jenseits pädagogischer, Theoriebildung, mit dieser Tatsache umzugehen? UHLE rät dazu, die ganze Härte der Realität nicht aus dem Blick zu verlieren. Eines sei niemals zu vergessen: „Eigentlich jedoch werden im managementwissenschaftlichen Wissen pädagogisch-ideenhistorische Wissensbestände nicht einmal mehr als Steinbruch benötigt“ (ebd., S.71). Wenn diese dennoch zu Zeiten, wie 354
in den aufgezeigten Beispielen, herangezogen werden, dann, so UHLE, weil es um Visionen geht. Visionen aber sind das letzte, das die nach der Codierung Effektivität/Nicht-Effektivität arbeitenden Wirtschaftswissenschaften nicht operationalisieren können. Diese arbeiten Prozesse ab, geben aber keine Zielvorgaben vor. Die nicht durch unmittelbare Marktrationalität, sondern durch politisch-ideologische Ziele bestimmten Bildungsorganisationen bedürfen eines verschleiernden Jargons, der diese systematische Schwachstelle ökonomisierter Bildung und Erziehung nicht nur verdeckt, sondern sogar adelt. Hier alleine bleibt eine Leerstelle managementwissenschaftlicher Konzeptentwicklung, für welche die Sprachspiele vergangener Theorie-Konstruktionen der Pädagogik taugen. Modelle wie die hier vorgestellten sind für UHLE erklärungsstark, aber orientierungsschwach (vgl. ebd., S.75). Insofern erscheinen sie als gut geeignet, für Managementkonzepte neuer ‚Bildungshochschulen‘ verwendet zu werden. Das Problem ist am hier diskutierten Beispiel deutlich geworden: Wer eigentlich ist jene Instanz, die Hochschulen einen Auftrag zur ‚Bildung‘ erteilt? In der geisteswissenschaftlichen Tradition, auch noch in der Tradition einer Pädagogik der Kritischen Theorie, ist diese Instanz eine außergesellschaftliche, erst recht eine außerhalb des Marktes stehende historisch wissende und kritisch bewusste Vernunft. Genau diese Größe aber steht der Betriebswirtschaftslehre nicht zur Verfügung. Die historischen Beispiele leiteten den angeblichen Bildungsauftrag vor allen Organisationsmodellen aus einer, wenn auch problematischen, so dann doch philosophischen Perspektive ab. Die aktuellen Beispiele versuchen, ihn, in die Zukunft hinein, als neue Marktperspektive für bereits entwickelte Organisationsmodelle von liberal arts colleges zu implementieren. Die Probleme jener Praxis, die Bildungstheorie meint, sind historisch gewordene, die Schwierigkeiten der Anpassung institutioneller Organisationen, welche Bildungsmanagement meint, sind die Zukunft zwingen wollende. Das Bildungsmanagement hat ein in Kerneuropa neues Modell von Hochschule auf den Markt geworfen und braucht nun einen Überbau, um es auf eben diesem Markt zu platzieren. Zugleich aber kann es sich systematisch, seinem Herkommen aus der Betriebswirtschaftslehre gemäß, nicht auf die pädagogische Begründungsform einer externen Bezugsgröße außerhalb eines Marktes für Hochschulen einlassen. So bleibt nur, pädagogische Begründungsformen zu verwenden, sie aber gleichzeitig zu entschärfen, indem sie in die Sloganhaftigkeit von Begrüßungsformeln gezwängt werden. In diesem Spannungsfeld ergeben sich zwei Möglichkeiten für die Pädagogik. So oder so wird ihre Existenz prekär bleiben. Sie kann stetig versuchen, sich als Stichwortlieferantin anzudienen, auf dass die Tatsache ihrer eigentlichen Überflüssigkeit noch das eine oder andere Mal übersehen werde. Sie entscheidet sich so für eine Existenzweise im Dienste des Dekorums, wohl wissend, dass 355
dieses den eigentlichen Entscheidungsfeldern immer akzidentiell bleibt. Sie trägt dazu bei, dass die Realität die Satire überholt. Ihre andere Möglichkeit ist, sich mit einem trotzigen Dennoch auf ihre disziplinäre Aufgabe zu besinnen, historisch und systematisch, theoretisch und empirisch Fragen von Bildung und Erziehung unter Hinblick auf die HSLVWHPH als eigenständige Wissenschaft zu betrachten. Sie wird damit, außerhalb des Reservats der Lehrerbildung, zum randständigen Orchideenfach. Immerhin aber bleibt sie Wissenschaft. Es sei mahnend an UHLEs Resümee erinnert: Eine Pädagogik, die den Versuch aufgibt, ihre eigenen Fragestellungen mit eigenen Methoden und in einer eigenen Fachsprache zu untersuchen, hat gegenüber einem von Managementlehren okkupierten Bildungsjargon sowieso immer schon verloren. Sie „hat allerdings außer der Anpassung ihrer Theorien und Modelle an entsprechende Denkformen und außer der Lieferung von Visionen, die verschleiern, dass es um die Ware ‚Persönlichkeit‘ geht, nichts beizutragen“ (ebd., S.76). Ob in der ‚Bildungshochschule‘ oder in der Universität: Die Zukunft der Disziplin liegt am Rande der Hochschule. Sehr am Rande. Nicht der schlechteste Platz in der Wissenschaft. Literaturverzeichnis ASH, MITCHELL G. (Hrsg.) (1999): Mythos Humboldt. Vergangenheit und Zukunft der deutschen Universitäten. Wien [u.a.]: Böhlau ALBERT, WILHELM (1928): Grundlegung des Gesamtunterrichtes. Wien [u.a.]: Haase BECKER, CARL HEINRICH (1925): Von Wesen der deutschen Universität. In: SCHAIRER, REINHOLD /HOFMAN, CONRAD (Hrsg.): Die Universitätsideale der Kulturvölker. Leipzig: Quelle & Meyer. (Schriftenreihe des Weltstudentenwerkes des christlichen Studentenweltbundes; 1), S.1-30 BORMANN, INKA/GREGERSEN, JAN (2007): Kompetenzentwicklung und Innovation in der Wissensgesellschaft. In: PONGRATZ, LUDWIG A./REICHENBACH, ROLAND/WIMMER, MICHAEL (HRSG.): Bildung – Wissen – Kompetenz. Bielefeld: Janus-Software-Projekte, S.44-63 BUCERIUS LAW SCHOOL HAMBURG (2009): Studium generale. URL: http://www.lawschool.de/studium_generale.html?&L=0#c2543. (Stand: 14.02.09) BOEHM, LAETITIA (2000): Wissenschaft und Bildung. Aspekte zum Verhältnis der beiden Wissensformen in historischen Erfahrungsräumen. In: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte. 23, S.83-114 BRENNER, EDUARD (1930): Volksbildung als Volkbildung. Nürnberg: Ernst Fromman & Sohn. (Der Keil – eine Schriftenreihe für moderne Probleme; 2) DÖRPINGHAUS, ANDREAS (2009): Bildung. Plädoyer wieder die Verdummung. Supplement zu: Forschung und Lehre. 16(.9) FLITNER, WILHELM 1959: Hochschulreife und Gymnasium. Vom Sinn wissenschaftlicher Studien und von der Aufgabe der gymnasialen Oberstufe. 1. Aufl. Heidelberg: Quelle & Meyer. (Anthropologie und Erziehung; 1) FOLLAK, ANDREA (2005): Der „Aufblick zur Idee“. Eine vergleichende Studie zur Platonischen Pädagogik bei Friedrich Schleiermacher, Paul Natorp und Werner Jaeger. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht
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Bildung im Museum? Martin Fromm
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Einleitung
Aussagen zum Bildungsanspruch von Museen und zu deren bildender Wirkung sind zahlreich – und reich an Übertreibungen ganz gegensätzlicher Art. Auf der einen Seite werden mit Pathos der Geist der Museen, die Aura ihrer Ausstellungsgegenstände und die einzigartige Bildungsmacht der Begegnung mit originalen Zeugnissen beschworen (vgl. z.B. BUNDESVERBAND MUSEUMSPÄDAGOGIK 2004). Die andere Seite macht sich über die Musealisierung unserer Welt und die einfältige Andachtshaltung lustig, mit der bestaunt wird, was alt ist (vgl. BLOM 2008), fragt spitz nach der bildenden Wirkung von Tanksäulen- oder Currywurstmuseen oder bezweifelt allgemein tiefergehende Effekte, die über beiläufige Unterhaltung hinausgehen (vgl. z.B. TREINEN 1991). So häufig eine Verbindung zwischen Bildung und Museen hergestellt wird – es gibt sogar eine ‚Zeitschrift für Museum und Bildung‘ –, so beiläufig geschieht dies allerdings auch, als handele es sich um eine Selbstverständlichkeit, die nicht weiter erläutert werden muss. Man erfährt üblicherweise wenig darüber, was jeweils unter ‚Bildung‘ verstanden wird, dafür umso mehr über konkrete geplante und vergangene Ausstellungsprojekte – aber eben nicht, was die mit Bildung zu tun haben. Das ist jedenfalls dann so, wenn die Veröffentlichungen aus dem Arbeits- und Diskussionskontext der Museen stammen und überwiegend von Kunsthistorikern, Ethnologen und (vereinzelt) von Museumspädagogen geschrieben sind. Diese Veröffentlichungen sind gegenüber solchen mit pädagogisch fachwissenschaftlichem Hintergrund deutlich in der Überzahl. In der pädagogischen Diskussion finden Museen, wenn man von reformpädagogischen Vorläufern (vgl. z.B. LICHTWARK 1917; KERSCHENSTEINER 1925) absieht, erst seit wenigen Jahren stärkere Beachtung. In den einschlägigen Themenheften der ‚Zeitschrift für Pädagogik‘ (2005) und der ‚Zeitschrift für Erziehungswissenschaft‘ (2009) ist dann allerdings deutlich vorsichtiger nicht von ‚Bildung‘ die Rede, sondern von ‚Lernen‘: ‚Lernort Museum‘ bzw. ‚Lernen im Museum‘. Was haben also Museen mit Bildung zu tun? Welche bildenden Einflüsse darf man ihnen jenseits tiefer Überzeugungen begründet zutrauen?
2
Was ist ein Museum?
Was man unter einem ‚Museum‘ versteht, war historisch zahlreichen Wandlungen unterworfen und ändert sich weiterhin (vgl. VIEREGG 2006). Je nachdem, welche Aspekte man als notwendige Bestimmungsstücke ansetzt und ob man auch verwandte Begriffe wie ‚Sammlung‘, ‚Galerie‘, ‚Raritätenkabinett‘ mit berücksichtigt, beginnt die Geschichte (in diesem Fall: des Museums), wie meistens, in der Antike, im Mittelalter oder spätestens im frühen 18. Jahrhundert, also mit der Aufklärung. Heute ist die gängigste Definition die des International Council of Museums (ICOM): Ein Museum ist „eine gemeinnützige, ständige, der Öffentlichkeit zugängliche Einrichtung im Dienst der Gesellschaft und ihrer Entwicklung, die zu Studien-, Bildungs- und Unterhaltungszwecken materielle Zeugnisse von Menschen und ihrer Umwelt beschafft, bewahrt, erforscht, bekannt macht und ausstellt “ (zit. n. DEUTSCHER MUSEUMSBUND 2009).
Nach diesem Verständnis erfüllen die meisten historischen Sammlungsvarianten nicht die Kriterien für ein Museum, weil sie z.B. der Öffentlichkeit nicht zugänglich waren oder primär dem Zweck dienten, dem staunenden Publikum Trophäen aus Feldzügen oder Kuriositäten aus fremden Ländern vorzuführen. Da der Begriff ‚Museum‘ nicht geschützt ist, gilt allerdings auch aktuell für Institutionen, die heute als Museen bezeichnet werden, dass sie dem in der ICOMDefinition beschriebenen Aufgabenspektrum überwiegend nur teilweise gerecht werden. Museen werden z.B. zunehmend an Besucherzahlen und Einnahmen gemessen und haben häufig weder die Absicht, noch die Möglichkeit, Forschung zu betreiben. Die oben zitierte Charakterisierung des ICOM ist also keine Beschreibung der Museumswirklichkeit, sondern eine Wunschvorstellung. Das gilt nach einhelliger Einschätzung in allen Veröffentlichungen insbesondere für die historisch jüngste Aufgabe: Diese ist diejenige der Vermittlung und Bildung, welche verstärkt erst seit den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts betont wird. 3
Was ist Bildung im Museum?
Zunächst ein kleiner Hinweis: In der Definition des ICOM ist in der englischen Fassung von ‚education‘ die Rede. Daraus ist in den deutschen Adaptionen ‚Bildung‘ geworden – und damit verbunden ein deutlich ambitionierterer Anspruch. Es geht nicht mehr nur darum, dass jemandem etwas vermittelt wird, sondern dass es ihm in einer Weise angeboten wird, die eine tiefergreifende persönliche
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Auseinandersetzung anregen kann. Es geht dann nicht mehr nur um profanes Lernen, sondern um Persönlichkeitsbildung. Was unter der Bildung verstanden wird, die Museen fördern sollen, ist der einschlägigen Literatur allerdings nur andeutungsweise zu entnehmen. CHRISTINE BÄUMLER erläutert, der „im Zusammenhang mit Museen oftmals unspezifisch verwendete Bildungsbegriff“ stelle „in erster Linie einen universellen Platzhalter für unterschiedlichste Bildungsdimensionen dar“ (BÄUMLER 2004, S.16). Exemplarisch hierfür ist die Stellungnahme des BUNDESVERBANDES MUSEUMSPÄDAGOGIK zum Bildungsauftrag der Museen: „Die unmittelbare Begegnung mit originalen Zeugnissen im Museum schafft Orientierungsgrundlagen und Maßstäbe der Bewahrung von Erbe und Tradition, aber auch der Auseinandersetzung mit Gegenwart und Zukunft. Museen vermitteln ästhetische Werte, eröffnen den Zugang zu vergangenen Epochen und zu fremden Kulturen, schärfen unseren Blick auf unsere Welt und Umwelt und regen zu sinnvoller Freizeitgestaltung an. Damit sind Museen Orte lebenslangen Lernens für Jung und Alt, die hier sowohl spezielles Wissen wie allgemeiner sog. Schlüsselqualifikationen erwerben können. Dieser Bildungsprozess wirkt nachhaltig, weil im Museum Erfahrungen gesammelt werden, die ganzheitlich eingebunden, selbst nachvollziehbar, sinnlich erlebbar und somit als Lernprozess stärker motiviert sind – umso mehr als Museen auch Orte des Erlebens, der Freizeit und der interkulturellen Begegnung sind.“ (BUNDESVERBAND MUSEUMSPÄDAGOGIK 2004, S.1f.)
Diese Stellungnahme weist drei typische Besonderheiten auf, die sich auch sonst in der Literatur immer wieder finden: Sie zählt erstens nahezu alle Erfahrungen und Lernprozesse auf, die in pädagogischen und bildungspolitischen Wunschvorstellungen aktuell vorkommen. Die zweite Besonderheit ist ein unscharfer Sprachgebrauch, bei dem Realität und Wunschdenken verschwimmen: Im Gegensatz zur Überschrift, die vom Bildungsauftrag spricht, also dem, was Museen erreichen sollen, ist die obige Stellungname als Tatsachenfeststellung geschrieben, als Beschreibung dessen, was Museen bewirken. Charakteristisch ist schließlich weiter das Fehlen von Belegen oder Plausibilitätserwägungen, die erkennen lassen könnten, wovon man sich denn warum all diese segensreichen Wirkungen verspricht. Das gilt nicht nur für diese Stellungnahme, in der dies aus Platzgründen kaum möglich ist, sondern auch für ausführlichere Darstellungen. So reihen etwa die Qualitätskriterien für die Bildungs- und Vermittlungsarbeit von Museen des DEUTSCHEN MUSEUMSBUNDES und des BUNDESVERBANDES MUSEUMSPÄDAGOGIK Aufgaben, Inhalte, Methoden etc. ohne erkennbare Bezüge postulatspädagogisch auf (vgl. DEUTSCHER MUSEUMSBUND/BUNDESVERBAND MUSEUMSPÄDAGOGIK 2008). Danach bleibt weitgehend unklar, wovon die Rede ist, wenn Veröffentlichungen zur Museumsarbeit bildende Einflüsse der Museen in Aussicht stellen, wie dafür gesorgt werden soll und was die Autoren so gewiss macht, dass die Museen diese Aufgabe auch erfüllen können. Großzügig und unscharf wird 363
(gerade) der Begriff ‚Bildung‘ allerdings auch in anderen Zusammenhängen verwendet, etwa wenn von ‚Bildungs‘-Politik oder ‚Bildungs‘-Forschung gesprochen wird. Dort wie hier ist es erforderlich, zu analysieren, was konkret gewollt und getan wird und wo ein Bezug zur Bildung besteht – oder auch nicht. In der Literatur zur Museumsarbeit und -pädagogik lassen sich, wird solche Systematisierungsarbeit geleistet, drei Verständnisse von Bildung unterscheiden (vgl. auch BÄUMLER 2004). 3.1 Bildung als Enkulturation Das historisch früheste Verständnis der ‚bildenden‘ Funktion von Museen beinhaltet die Einführung in den Kanon des für eine Gesellschaft und Kultur Wichtigen: die Kunstwerke, die historischen Ereignisse, Personen etc., die man kennen sollte, um als vollwertiges Mitglied eines Gemeinwesens gelten zu können. Diesem eher materialen Bildungsverständnis folgen Ausstellungskonzepte, die nicht nur zeigen, was aus fachwissenschaftlicher Sicht wichtig ist (dieses Gemälde, dieser Käfer, diese Münze etc.), sondern auch vermitteln, wie die ‚richtige‘ Einordnung und Beurteilung aussieht. Hier ist allerdings zwischen der Ausstellungs- und Vermittlungspraxis der Museen und der Literatur zur Museumsarbeit und speziell zur Museumspädagogik zu unterscheiden. Während dieses Verständnis von Bildung in der Praxis der Museumsarbeit, welche wesentlich von Fachwissenschaftlern (v.a. Ethnologen und Kunsthistoriker) und kaum von Museumspädagogen bestimmt wird, noch verbreitet ist (vgl. z.B. TREINEN 1991, S.44), wird diese Praxis in der Literatur, insbesondere von Seiten der Museumspädagogik, massiv kritisiert. 3.2 Bildung als (ästhetische) Sensibilisierung Im Gegensatz zu einem Verständnis von Enkulturation, welche in die richtige Ordnung der Dinge einführen will, soll Bildung im Sinne der (ästhetischen) Sensibilisierung eher Beschränkungen überwinden, das Wahrnehmungs- und Erfahrungsspektrum erweitern, neues und anderes Sehen und Fühlen möglich machen. Eine der Wurzeln dieses Verständnisses ist die Kunsterziehungsbewegung der Reformpädagogik, eine andere die Erlebnispädagogik. Während die Enkulturation die Betonung darauf legt, dass der Einzelne sich seiner Rolle im kulturellen und gesellschaftlichen Ganzen bewusst wird, steht bei der ästhetischen Sensibilisierung die individuelle Persönlichkeit im Vordergrund. Für deren Entwicklung gibt es allerdings wesentlich weniger klare Vorstellungen, mitunter 364
sogar die vehemente Ablehnung einer verplanten, ‚verschulten‘ Museumsarbeit (vgl. ZACHARIAS 1995). Die Maßnahmen dieser museumspädagogischen Arbeit sind entsprechend verspielter, mit fließenden Grenzen zu einer eher beliebigen Animations- und Eventpraxis, die in den letzten Jahren im Kampf um Besucherzahlen zunimmt. Gezeigt wird dann, was neugierig macht, beeindruckt und überrascht. Die Frage, ob und ggf. was sich am Gebotenen lernen lässt, tritt bei diesem Ansatz in den Hintergrund. 3.3 Bildung als Befähigung zum eigenen Urteil Dies Verständnis musealer Bildungsarbeit will kein fertiges Bild der Welt vermitteln, überlässt den Besucher aber auch nicht nur beliebigen Angeboten. Vielmehr soll versucht werden, Anregungen und Material bereitzustellen, die es dem Besucher erlauben, sich ein eigenes Urteil zu bilden. Kennzeichnend für dieses Konzept sind mehrperspektivische Angebote und Hilfen zur Kontextualisierung des Dargebotenen. Ziel ist nicht die richtige, sondern die individuell sinnvolle Verarbeitung. Dieser Ansatz museumspädagogischer Arbeit hat noch am ehesten mit einem Bildungsverständnis im neuhumanistischen Sinn zu tun, indem es Bedingungen für eine eigenständige mündige Auseinandersetzung mit dem Gezeigten schaffen will. Konzepte für diese Ausrichtung museumspädagogischer Arbeit befinden sich allerdings noch in einem recht frühen Entwicklungsstadium (vgl. z.B. HEIN 1998). Sie haben zudem durch die verstärkte Eventorientierung der Museen absehbar verminderte Realisierungschancen. In der Praxis ist dieser Zugang in seinem Bemühen, nicht zu sehr festzulegen, aber auch nicht nur zu berieseln, häufig in der Gefahr, die Besucher mit mutmaßlich gehaltvollen Informationen zu überschwemmen. 4
Welche bildenden Einflüsse darf man Museen zutrauen?
Ich klammere im Folgenden die Frage der pädagogischen Wünschbarkeit dieser drei Zugänge aus. Dazu ließe sich eine Menge und je nach gewähltem Referenzbildungsgriff sehr Unterschiedliches sagen (vgl. TENORTH 2007). Stattdessen konzentriere ich mich auf die Frage, wie weit man Museen bildende Einflüsse zutrauen kann. Denn bei aller Unterschiedlichkeit pädagogischer Bildungsbegriffe haben sie doch dieses gemeinsam: Als Ergebnis bezeichnet ‚Bildung‘ eine in die Tiefe gehende und umfassende Orientierung der Persönlichkeit. Und den Prozess hin zu dieser Verfasstheit stellt man sich üblicherweise als eine länger andauernde Auseinandersetzung mit vielgestaltigen Erfahrungen vor. Man muss 365
dabei nicht an das Maximalverständnis WILHELM VON HUMBOLDTs einer zugleich höchsten und proportionierlichsten Entwicklung aller Kräfte zu einem Ganzen denken, selbst die materiale Pervertierung dieses Verständnisses im humanistischen Gymnasium setzt u.a. Zeit voraus, viel Zeit. Und genau die hat das Museum, egal welches, nicht. Der Besuch eines Museums ist anders als der Besuch einer Schule ein Ausnahmeereignis. Und er ist noch dazu kurz. Die durchschnittliche Verweildauer in einem Museum beträgt ungefähr zwei Stunden, wobei diese Zeit dann auch andere Aktivitäten, etwa den Besuch im Museums-Shop, einschließt, die Zeit in einer Ausstellung beträgt wenige Minuten, die vor einzelnen Objekten acht bis neun Sekunden (vgl. SCHULZE 1994). Selbstverständlich variieren diese Zeiten zwischen verschiedenen Ausstellungen, Objekten und Besuchern ganz erheblich. Die Durchschnittswerte können also in Extremfällen auch so zustande kommen, dass 95 Prozent der Ausstellungsstücke nicht beachtet werden und sich die gesamte Zeit im Museum auf die restlichen fünf Prozent konzentriert. Auch wenn man die sprachlich missverständlichen Äußerungen zur Bildungswirkung der Museen nicht als Tatsachenfeststellung, sondern als Ausdruck einer entsprechenden Hoffnung liest, wäre bei dem für Museumsbesuche typischen engen Zeitrahmen von Sekunden bis zu wenigen Minuten zu fragen, was denn zu dieser Hoffnung berechtigen könnte. Denn den Museen fehlt erkennbar die Möglichkeit, „einen langen, dünnen, weichen Faden“ zu spinnen, wie JOHANN FRIEDRICH HERBART dieses im Ideal vom Unterricht annimmt – und worauf er seine Hoffnungen auf die (charakter-)bildende Wirkung des Unterrichts stützt (HERBART 1976, S.81f.). Eine nicht seltene Antwort auf die Frage, ob man denn bei derart ungünstigen Voraussetzungen auf nachhaltige Eindrücke hoffen könne, kommt unter dem Slogan Aura einher (zur Bedeutung von Slogans und Signets in der Kommunikation über Bildung vgl. HOFFMANN/GAUS/UHLE 2007). In Prosa geht es um die Annahme, Originale in Museen hätten eine besondere Wirkung auf die Besucher. Wenn die Rede von der Aura der Originale ist, werden allerdings üblicherweise die Begriffe vage und pompös (vgl. z.B. VIEREGG 1994, S.303f.). Die Aura wird ‚unvergleichlich‘, aus dem Museumsbesuch wird die ‚Begegnung‘ mit originalen Zeugnissen, deren Wirkung dann den Charakter eines Banns bekommt, in den der Besucher gezogen wird. Die Rede von der Aura der Originale erscheint insbesondere dort immer wieder wie ein Mantra, wo die Wirkung von Museen bezweifelt oder grundsätzlicher ihre Existenzberechtigung angezweifelt wird. Deshalb dazu ein paar Anmerkungen. Grundsätzlich handelt es sich hier ja um eine Annahme, über die nicht allein auf der Basis tiefer Überzeugungen gemutmaßt werden muss. Vielmehr kann sie empirisch überprüft werden. Zu diesem Zweck allerdings müsste als Hypothese 366
präzisiert werden, welche Wirkung man erwartet und welche Faktoren man als wirksam ansieht. Das aber geschieht nicht. Man erfährt nur, Originale hätten diese ‚Aura‘, Reproduktionen nicht. Und zwar alle. D.h.: Ob es um ein Gemälde oder einen rostigen Nagel geht, macht keinen Unterschied, solange beide nur Originale sind. Und: In der Literatur erscheint die Aura durchgängig als positiv, die Frage, ob ein Exponat unerwünschte Kognitionen oder Emotionen fördern könnte, spielt vereinfachend keine Rolle. Wesentlich problematischer als diese vagen und undifferenzierten Annahmen zur Aura der Originale sind allerdings im Hinblick auf die Frage nach der Bildung im Museum die damit verbundenen Vorstellungen von Lernvorgängen. Implizit wird nämlich davon ausgegangen, dass die Wirksamkeit der Originale quasi als Charakteristikum an ihnen klebt. Bildung ereignet sich dann gewissermaßen in Form eines Reiz-Reaktions-Ablaufs. Diese mechanistische Vorstellung steht nicht nur im Widerspruch zu neueren Lerntheorien und empirischen Befunden zu Wahrnehmung und Lernen, sondern entzieht dem Blick, wie der Besucher die Wirkung der Aura mit-herstellt, ko-konstruiert. Wenn man im Sinne heutiger Vorstellungen von Lernen die aktive Verarbeitung des Wahrnehmenden, seine Konstruktion der Wirklichkeit, ernst nimmt, stellt sich die Aura des Originals nicht als Eigenschaft des Gegenstandes, sondern als Ergebnis der Auseinandersetzung einer Person mit diesem Gegenstand dar. Aura ist dann die Konstruktion des Wahrnehmenden, er verleiht dem Gegenstand durch Einbettung in einen bestimmten Kontext eine Bedeutung – und evt. erschauert er dann etwa vor dem rostigen Nagel, während er von einem Gemälde vollkommen unberührt bleibt, das Kunsthistoriker ins Schwärmen bringt. Es mag durchaus zu den Ergebnissen unserer kulturellen Formung gehören, etwas Altes als grundsätzlich wichtiger anzusehen als das Neue und Alltägliche. Aber es handelt sich auch bei einem solchen Vorgang eben um eine mögliche Konstruktion, zu der es Alternativen gibt. So stößt etwa in anderen Kulturen der Versuch, Verfall aufzuhalten und Dinge zu konservieren, als Eingriff in natürliche Abläufe auf Unverständnis (vgl. BLOM 2008). Wenn das ehrfürchtige Erschauern vor dem Alten, einfach nur deshalb, weil es eben alt ist, nur eine Möglichkeit des Umgangs mit kulturellen Zeugnissen darstellt, ist schließlich aber zu fragen, ob dieser Zugang pädagogisch wünschenswert ist und ob man ihn fördern sollte. Zumindest mit dem Anspruch, eine mündige Auseinandersetzung mit der eigenen und fremden Kulturen zu fördern, dürfte ein eher intuitiv emotionalisierter Zugang nur bedingt zu vereinbaren sein. Festzuhalten ist hier, dass die begrenzte Dauer durchschnittlicher Museumsbesuche es kaum als angemessen erscheinen lässt, nachhaltige bildende Einflüsse zu erwarten - wenn man nicht mit den genannten problematischen Hilfskonstruktionen arbeitet. 367
Das zweite Fragezeichen hängt gerade mit dem ganzen Stolz der Museen, ihren Originalen, zusammen, genauer: mit der Entstehungsgeschichte von Sammlungen. Nur ein Teil des Bestandes insbesondere älterer Museen ist das Ergebnis gezielter Sammlungsarbeit. Neben Beständen, die sich wirtschaftlichen und politischen Ereignissen wie etwa dem Ausbau neuer Handelswege, der Kolonialisierung oder Kriegen verdanken, stehen Schenkungen der unterschiedlichsten Art – und daneben wiederum auch systematisch erworbene und gesammelte Objekte. Für viele Gegenstände gilt daher: Sie sind einfach da. Und für Vieles, was durchaus planvoll gesammelt wurde, gilt, dass Kriterien und Systematik immer auch historisch relativ sind: Die Vorstellungen davon, was für wie bewahrenswert zu halten sei, wandeln sich ständig. Dazu kommt eine grundsätzliche Lücke, die alles enthält, was flüchtig und schlecht zu konservieren ist, wie z.B. mündliche Überlieferungen, Verbrauchsmaterialien etc., oder was niemandem wichtig genug für die Bewahrung erschienen ist, wie z.B. alltägliche Gebrauchsgegenstände. Unabhängig davon, welche Selektion jeweils zum Bestand eines Museums geführt hat, kann aber immer als sicher gelten, dass sie nicht an der Aufgabe der Vermittlung und der Bildung orientiert gewesen sein wird, wie sie aktuell verstanden wird. Was die Magazine enthalten, entspricht also bestenfalls zufällig aktuellen museumspädagogischen und -didaktischen Anforderungen. Das Besondere der Museen, ihre Originalzeugnisse, wird im Hinblick auf Vermittlung und Bildung sogar zu einer doppelten Belastung. Zunächst entspricht der Bestand der meisten Museen, pädagogisch betrachtet, dem, was HERBART über das freie und volle Alltagsleben in Abgrenzung zum Unterricht sagt: Es ist vielgestaltig und von einer unmittelbar erfahrbaren Fülle, mit der nach seiner Einschätzung das pädagogisch inszenierte Lernen nie wetteifern kann (vgl. HERBART 1976, S.81). Aber die Fülle der Objekte, auch im Museum, ist ungeordnet, jedenfalls nicht für den Zweck der lernenden Verarbeitung optimiert. Im Alltag bietet sie die Erfahrungen nicht zu der Zeit, in der Reihenfolge und mit der Dosierung, die für ein Verständnis hilfreich wäre. Im Museum bietet sie durch historische Zufälligkeiten und wechselnde Interessen bedingte lückenhafte Sammlungen, die immer wieder gerade diejenigen Objekte eben nicht enthalten, an denen sich didaktisch am besten etwas zeigen und verstehen ließe. HERBART sieht die besondere Möglichkeit und Leistung des Unterrichts gegenüber dem Alltagsleben bekanntlich darin, sich von den Beschränkungen der ‚Scholle‘ zu lösen und die ‚Steppen und Moräste zu überfliegen‘. Übertragen auf das Museum würde dies allerdings erfordern, sich oft und entschlossen von dem zu lösen, was das Magazin gerade enthält, wenn dies aus didaktischen Gründen sinnvoll erscheint. Museumspädagogik, die das originale Zeugnis betont, arbeitet aber umgekehrt: Sie fragt, was sich an dem, was nun einmal da ist, erfahren lässt. 368
Noch in einer zweiten Hinsicht aber wird das Original zu einem Hindernis: Es behindert die Möglichkeit von Vermittlung und Bildung: Oftmals sind die Darbietungs- und Vermittlungsformen drastisch eingeschränkt, weil die Gegenstände häufig zu wertvoll, zu fragil oder auch einfach nur zu groß sind, um sie z.B. aus der Nähe zu betrachten, in die Hand zu nehmen oder gar zu benutzen. Wenn es um die Abschätzung der Bildungsmöglichkeiten der Museen geht, ist abschließend die Nennung eines weiteren Handicaps zu ergänzen, mit dem Museen typischerweise zu kämpfen haben. Dieses liegt in der extremen Heterogenität der Besucher. Museen haben Besucher vom Kindergarten- bis ins Rentenalter, diese besuchen Museen beiläufig und ohne jede Vorbildung oder reisen mit sehr speziellen Interessen von weit her an, sie besuchen die Ausstellung auf sich gestellt allein, in kleinen Gruppen oder werden als Gruppe geführt, nutzen schriftliche Information und Audioguide oder gehen als ‚window shopper‘ nur an den Auslagen spazieren. Selbst optimistisch betrachtet könnte noch das differenzierteste multimediale Angebot dieser heterogenen Nachfrage und Nutzung nur begrenzt gerecht werden, in der Praxis sind personelle und finanzielle Grenzen noch deutlich früher erreicht. Insgesamt ergibt sich daraus eine eher pessimistische Einschätzung: Museen mögen denen, die schon eine entsprechende Vorbildung mitbringen, ein Angebot bieten können, das diese Besucher fruchtbar aufnehmen und verarbeiten, weil sie, wie MICHAEL PARMENTIER es vermutet, quasi ‚auf Augenhöhe‘ mit den Gestaltern der Ausstellung sind (vgl. PARMENTIER 1998). Bei nicht bereits vorgebildeten Besuchern sollte mit dem Anspruch, Bildungsprozesse anstoßen zu können, dagegen vorsichtig umgegangen werden. Bereits der bescheidenere Anspruch der Vermittlung wird durch die Zusammensetzung der Sammlungen behindert, steht häufig im Konflikt mit der Aufgabe des Bewahrens und verfügt schließlich nicht über die Zeit, die eine nachhaltige und in die Tiefe gehende Auseinandersetzung mit dem Gebotenen erlauben würde. Es gibt nach diesen Überlegungen gute Gründe, die Arbeit der Museen nicht im Stil vergangener Stratosphärenpädagogik mit Ansprüchen zu überfrachten. Der wohlklingende, aber wohl deutlich zu ambitionierte Begriff der ‚Bildung‘ sollte daher besser vermieden werden. 5
Was weiß man über bildende Einflüsse von Museen?
Darüber, was Museen wie bewirken können, gibt es viele unterschiedliche, häufig konträr zugespitzte Vermutungen, die auch gerne schmissig auf Alternativen der Form Kultur oder Krawall gebracht werden. So sind Titel typisch wie etwa: ‚Das Museum. Lernort contra Musentempel‘ (vgl. SPICKERNAGEL/WALBE 1976) 369
oder ‚Event zieht – Inhalt bindet‘ (vgl. COMMANDEUR/DENNERT 2004). Im Selbstverständnis der jeweiligen Gruppen steht das Museum der kulturellen Bewahrung und ästhetischen Sensibilisierung auf der einen Seite dem Museum für alle auf der anderen Seite gegenüber, das vielschichtige sinnliche Erfahrung möglich macht. Aus der gegnerischen Sicht werden öde Vitrinengallerien für ein längst nicht mehr existierendes Bildungsbürgertum imaginiert, denen Visionen von Museen gegenüber treten, welche durch Animationsschnickschnack ihre eigene Disneylandisierung betreiben. Bezeichnend für die mitunter recht vehemente Auseinandersetzung ist der Abtausch tiefer Überzeugungen: Während die einen zu wissen meinen, dass ‚Museotainment‘ zwar die Besucherzahlen erhöht, aber außer kurzfristiger belangloser Zerstreuung nichts bewirkt, ‚wissen‘ die anderen genauso sicher, dass man erst durch attraktivere Angebote zunächst die Aufmerksamkeit und dann weitergehendes Interesse erreicht. Dafür werden dann gern FRIEDRICH SCHINKEL und HUMBOLDT mit der Maxime in Anspruch genommen: ‚Erst erfreuen, dann belehren‘ (vgl. z.B. PARMENTIER 1998). Verhandelt werden die Differenzen überwiegend nicht an konkreten Besuchern, Lernzielen und Ausstellungen, sondern am Museum an sich. Es ist aber, wie bereits gesagt, die Frage nach den Wirkungen von Museen keine, die durch Spekulation beantwortet werden müsste, sondern vielmehr eine, die, als Hypothese operationalisiert, der empirischen Prüfung zugänglich ist – jedenfalls prinzipiell. Was weiß man also und was lässt sich jenseits subjektiver Evidenzerlebnisse über die Wirkung von Museen sagen? Den Beginn der publizierten Besucherforschung setzt GEORG E. HEIN im Jahr 1884 mit einer Untersuchung an, die sich darum bemühte, verschiedene Besuchertypen zu unterscheiden. Eine der ersten Untersuchungen, die sich dann mit Erfahrungen von Besuchern im Museum befassten, versuchte 1916 zu klären, welche Arrangements dazu beitragen, dass Besucher im Museum ermüden. Dazu bekamen Besucher bestimmte Aufträge, etwa die Beschriftung eines Objekts zu lesen. Festgehalten wurde, welche Körperhaltung sie dazu einnehmen mussten (bücken, knien, strecken etc.), um ihre physische Belastung einzuschätzen (vgl. HEIN 1998, S.44). Während der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts bezog sich ein Großteil der Untersuchungen auf das beobachtbare Verhalten der Besucher im Museum, ihre Wege durch eine Ausstellung, ihre Aufenthaltsdauer (mit der einprägsamen Bezeichnung ‚visitor survival‘) in einer Ausstellung, mit Fragen, wieviele und welche Objekte sie beachteten (‚attracting-power‘) und wie lange sie dieses tun (‚holding-power‘). Die Erfassung der Wege durch eine Ausstellung liefert z.B. Informationen dazu, welchen Objekten die Besucher sich überhaupt zuwenden, ob z.B. zum Verständnis wichtige Informationen gefunden werden. Im Ergebnis weiß man so, dass nur ein Bruchteil der Objekte beachtet wird, und 370
dass der Vorschlag, in demjenigen Falle von einer erfolgreichen Ausstellung zu sprechen, wenn mindestens 51 Prozent der Exponate von mindestens 51 Prozent der Besucher beachtet werden, wohl zu anspruchsvoll ist (vgl. ebd., S.107). Untersuchungen, die erfassen, was Besucher im Museum tun, liefern allerdings keine Antwort auf die Frage, was Besucher im Museum lernen. Denn dass jemand eine bestimmte Zeit vor einem Objekt stehen bleibt, sagt nichts darüber, warum er das tut und was in ihm vorgeht. Daran ändert sich auch nichts, wenn neuerdings (Projekt ‚eMotion‘) mit großem apparativem Aufwand Aufzeichnungen von physiologischen Daten, wie z.B. Hautwiderstand und Blutdruck, während des Museumsbesuchs gemacht werden. Solange bestimmte psychische Prozesse und Lernvorgänge kein spezifisches physiologisches Erregungsmuster aufweisen, wird damit nur die Menge vieldeutiger Daten erhöht. Man weiß dann eben, dass MAX LIEBERMANN zu stärkeren Reaktionen als ANDY WARHOL führt, aber man weiß immer noch nicht, warum. Und der ‚Aura‘ kommt man so, wie medienwirksam gemutmaßt wird (vgl. BONSTEIN 2009), auch nicht auf die Spur, wenn man deren Wirkung nicht schlicht als Schweißausbruch oder Herzklopfen operationalisiert. Auf die Frage nach der Wirkung von Museen können die überwiegend sozialstatistisch angelegten Untersuchungen, die ungefähr zeitgleich mit der Betonung der Vermittlungsfunktion der Museen in den 1970er Jahren des 20. Jahrhunderts verstärkt eingesetzt wurden, ebenfalls keine Antwort geben. Diese Untersuchungen informieren über Besucherzahlen, Alter, Geschlecht und Bildungsgrad der Besucher, Länge der Anreise, Beförderungsmittel etc. (vgl. z.B. INSTITUT FÜR MUSEUMSFORSCHUNG 2005; KLEIN 1990). Nach solchen Untersuchungen ist bekannt, wer in welche Museen geht, dass Männer z.B. eher Technikmuseen, Frauen eher Kunstmuseen bevorzugen, dass Museumsbesuche selten allein stattfinden und dass die Anzahl der Besuche von Familien zunimmt (vgl. SCHULZE 1994). Auch wenn diese Daten lückenhaft und nur bedingt verlässlich sind, kann man bezogen auf diese Art von Daten noch mit einiger Berechtigung vom ‚gläsernen Besucher‘ sprechen (so etwa: KLEIN 1990). Man kann aber ebenso berechtigt auch davon sprechen, dass über den Besucher im Museum fast nichts bekannt ist (vgl. PAATSCH/SCHULZE 1992; SHETTEL 1996; SCHULZE 1994; HEIN 1998; LOOMIS 1973). Diese Aussage gilt dann, wenn gefragt wird, wie sich Museumsbesucher mit den Gegenständen einer Ausstellung auseinandersetzen. Untersuchungen, die sich mit diesen inneren Vorgängen befassen, wurden selbst zu den Hochzeiten der Lehr-Lernforschung in den USA kaum durchgeführt (vgl. HEIN 1998, S.43). An diesem Forschungsdefizit hat sich bis heute grundsätzlich nichts geändert (vgl. BRINKMAN 1996). Wenn in der Vergangenheit im Rahmen von sozialstatistischen Erhebungen am Rande auch erfasst wurde, wie eine Ausstellung von den Besuchern wahr371
genommen wurde, stand erkennbar das Interesse an einer bequemen statistischen Auswertung im Vordergrund, nicht das an einer differenzierten Erkundung von Kognitionen und Emotionen während des Besuchs. So wurden z.B. in einem Fragebogen mit insgesamt 38 auch vier Fragen zu Motiven und Wünschen des Besuchers gestellt: Warum man ins Museum geht (Allgemeinwissen verbessern, Unterhaltung, beides), welche Museen man bevorzugt und wo man sich am liebsten informiert (vor dem Saal, am Ausstellungsstück, beides) und wie man dieses tut (Informationsblätter, Dias etc.) (KLEIN 1990, S.382). Sieht man einmal von den durchaus diskussionswürdigen Frageformulierungen und Antwortvorgaben ab, ist offensichtlich, dass man so nichts über innere Prozesse des Besuchers erfährt. Bestenfalls taugen die Ergebnisse solcher Befragungen dazu, Museen zu der Annahme anzuregen, vielleicht, warum auch immer, mehr Informationsblätter auslegen zu sollen. Ob die Besucher diese lesen, verstehen und mit ihnen etwas anfangen können, und – wenn ja – was, erfährt man nicht. Neben solchen Untersuchungen ist schließlich eine so genannte, eher anekdotische, ‚Besucherforschung‘ verbreitet. Hinter diesem Label verstecken sich Berichte aus der Praxis, die darüber berichten, was man gemacht hat und welche Eindrücke man von der Wirkung auf die Besucher hat. Kurz: Zwischen vagen und häufig extrem ambitionierten Zielvorstellungen (oder Einschätzungen der eigenen Möglichkeiten – das ist oft nicht zu unterscheiden), die „so unrealistisch formuliert sind, daß sie in der Realität eines Museumsbesuches wohl von niemandem – selbst bei größtem Interesse und bestem Willen – eingelöst werden können“ (PAATSCH/SCHULZ 1992, S.5), und dem, was man vom durchschnittlichen Museumsbesuch nach wenigen Sekunden oder Minuten erwarten darf, öffnet sich eine bemerkenswerte Kluft. Die inzwischen doch recht zahlreichen Erhebungen und empirischen Untersuchungen tragen wenig zur Klärung bei, was von dem Postulierten/Erhofften/Geplanten erreicht wird. Auch taugen sie nicht zur Klärung der Frage, was daneben auch noch oder stattdessen geschieht - weil danach nicht oder nur oberflächlich gefragt wird. Untersucht wird, was sich leicht messen lässt und zunehmend, was betriebswirtschaftlich relevant ist. ‚Bildung‘ oder, bescheidener: die emotionale und kognitive Auseinandersetzung der Besucher mit den Angeboten des Museums, gehören selten dazu. In dieser Situation kann weiter beliebig über die Wirkung der Aura spekuliert werden oder darüber, ob mehr Entertainment anschließend zu vertiefter Auseinandersetzung führt oder sie stattdessen verhindert, ob ‚hands-on‘-Konzepte zu intensiveren Lernprozessen führen oder durch ‚minds-on‘-Angebote ergänzt werden sollten (vgl. HEIN 1998, S.143f.). Dass Forschung sich zu großen Teilen darauf beschränkt, ausgetretene, aber sichere Wegen zu gehen, auch wenn sich so nichts entdecken lässt, ist freilich weder überraschend noch besonderes Charakteristikum der Besucherforschung, 372
sondern, im Anschluss an THOMAS S. KUHN, eben „normale Wissenschaft“ (KUHN 1976, S.38). Besonders sind allerdings spezifische Schwierigkeiten, die das Forschungsfeld ‚Museum‘ ebenso wie der Untersuchungsgegenstand ‚Bildung‘ bieten. Zu den Schwierigkeiten des Forschungsfeldes ‚Museum‘: Wie bereits angesprochen, sind Museumsbesuche extrem heterogen, was die Ausstellungen und Objekte angeht, Wege durch die Ausstellung, die Dauer des Aufenthaltes, die verwendeten Informationen, das Alter und Geschlecht der Besucher, deren Vorbildung, die Zusammensetzung der Besuchergruppen etc. Technisch gesprochen: Der unbeeinflusste natürliche Museumsbesuch enthält so viele unkontrollierte Variablen und deren Interaktion untereinander, dass es praktisch aussichtslos ist, unter diesen Bedingungen den Einfluss z.B. einer bestimmten Installation auf Verarbeitungsprozesse der Besucher nachweisen zu wollen. Hinzu kommen die verzerrenden Effekte durch Art und Zeitpunkt der Datenerhebung. Werden die Besucher z.B. erst nach ihrem Besuch befragt, findet zwar der Besuch selbst unbeeinflusst statt, aber die psychischen Prozesse während des Besuchs werden nicht mehr vollständig erinnert oder nicht mehr sicher zugeordnet. Stattet man dagegen zur Vermeidung dieser Probleme die Besucher mit Videokameras und Sprachaufzeichnungsgeräten aus, mit denen sie während des Besuchs festhalten, was sie sehen, denken und empfinden, findet der Besuch nicht mehr unter natürlichen Bedingungen statt (vgl. HEIN 1998, S.113). Kurz und etwas zugespitzt: Anders als bei der reinen Erfassung beobachtbaren Verhaltens liefern naturalistische Erhebungen wenig tragfähige Informationen, wenn es um die emotionale und kognitive Auseinandersetzung mit den Ausstellungsobjekten geht. Und damit gerät der Besucherforscher in ein nicht vermeidbares Dilemma: Jede Standardisierung, die das Ziel verfolgt, Einflussvariablen experimentell zu kontrollieren, produziert genau genommen Artefakte. Wenn z.B. Besucher eines bestimmten Alters, Geschlechts etc. dazu aufgefordert werden, bestimmte Stationen in der Ausstellung aufzusuchen und dort die Informationen des AudioGuide anzuhören, schafft man einen standardisierten Museumsbesuch, der ohne Intervention so nicht stattfinden würde. Die Besucher würden normalerweise Objekte übersehen, wesentlich flüchtiger beachten, sich mit ihren Begleitern unterhalten etc. Im Extrem befassen sich die Besucher unter solchen künstlichen Bedingungen die ganze Zeit mit Gegenständen, die sie bei freier Wahl überhaupt nicht beachtet hätten. Der Besucherforscher steht damit vor der Wahl zwischen kaum vergleichbaren und durch Erinnerungsfehler verzerrten Individualdaten unter natürlichen Bedingungen und besser vergleichbaren Daten unter idealisierten Bedingungen, die in der Tendenz ein übertriebenes Bild von den Wirkungen eines Museumsbesuchs liefern dürften.
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Die zweite spezifische Schwierigkeit: Nach einem halbstündigen Museumsbesuch ‚Bildung‘ oder Persönlichkeitsveränderungen messen zu wollen, wäre selbstverständlich abwegig – vermutlich würden sich die durch die Messinstrumente produzierten Artefakte schon stärker niederschlagen als die Wirkungen des Ausstellungsbesuchs. Mutmaßlich bildende Einflüsse des Ausstellungsbesuchs müssten auf deutlich bescheidenerem Niveau operationalisiert werden. Dabei gilt, wie in der Lehr-Lernforschung allgemein, dass das leichter Erfassbare in der Regel nicht das sein wird, was pädagogisch von besonderem Interesse ist. Das bedeutet hier: Freilich kann man messen, wie viel ein Besucher von einer Informationstafel behalten hat, ob er die von den Ausstellungsmachern gewünschten Bezüge zwischen Objekten herstellen kann, etc. Das ist in der Vergangenheit auch wiederholt, allerdings mit wenig ermutigenden Ergebnissen zur Wirksamkeit von Museumsbesuchen, geschehen (vgl. HEIN 1998, S.93). Bei einem solchen Untersuchungsdesign arbeitet man implizit mit einem TrichterModell des Lernens, bei dem das schlichte Abspeichern von Informationen als Erfolg verstanden wird. Mit diesem Modell wäre nur dem oben erwähnten eher materialen Bildungsverständnis Genüge getan, das die Bildungswirkung einer Ausstellung danach bemisst, wie weit der Besucher gelernt hat, die gezeigten Dinge richtig in die Fachsystematik einzuordnen. Ebenso einfach wie Behaltenseffekte lassen sich unspezifische Anregung und Sensibilisierung messen. Dazu reicht aber auch aus zu fragen, wie anregend, interessant o.ä. der Besucher eine Ausstellung gefunden hat. 6
Ausblick
Über die Auseinandersetzung der Besucher mit den Objekten einer Ausstellung, ihre persönliche Verarbeitung des Wahrgenommenen erfährt man auf solch einfache Weise aber nichts. Dazu sind ‚bildungsorientierte Erhebungen‘ notwendig (vgl. PAATSCH/SCHULZE 1992). Diese spüren mit wesentlich sensibleren, für individuelle Kognitionen und Emotionen offenen Methoden den subjektiven Konstruktionen der Besucher nach. Methodisch ist dies Vorhaben, zumal in diesem Forschungsfeld, anspruchsvoll und aufwändig. Zusätzlich wird es durch die verstärkt betriebswirtschaftliche Beurteilung der Museumsarbeit mit einer Orientierung an einfach quantifizierbaren Erfolgen, z.B. in der Form von Besucherzahlen, erschwert. Was dennoch jenseits sozialstatistischer Daten und einfacher Akzeptanzaussagen in Erfahrung zu bringen ist, untersuchen wir seit zwei Jahren in einem Projekt zur Museumspädagogik, in dem wir (u.a.) Schüler verschiedenen Alters und verschiedener Schultypen im Anschluss an Besuche in einem Völker374
kundemuseum interviewen. Die Schüler bekommen dazu Bilder von Objekten, die sie sich im Museum ansehen sollen, und werden dann nach dem Museumsbesuch in einem Grid-Interview dazu aufgefordert, subjektiv wahrgenommene Unterschiede und Gemeinsamkeiten dieser Objekte zu formulieren (vgl. HEIN 1998, S.124; FROMM 1995). Diese Unterscheidungen werden im Gespräch an Beispielen konkretisiert, in Anwendungskontexte gestellt etc. Wichtig dabei ist die Offenheit der Antwort: Die Befragten können Objekte, je nachdem, wie es ihnen relevant erscheint, nach der Farbe unterscheiden, nach ihrer Entstehungszeit, nach Verwendungskontexten, nach der emotionalen Wirkung etc. Sie können also eine elaborierte kunsthistorische Einschätzung vornehmen oder auch einfach nur feststellen, dass sie etwas ‚langweilig‘ fanden. Unsere bisherigen Ergebnisse zeigen zunächst die große Bandbreite der Verarbeitungen. Diese reichen von schlichten Statements der Art ‚War gut, irgendwie‘ über beflissene Versuche, Informationen ‚richtig‘ zu reproduzieren, bis zur Herstellung persönlicher Bezüge, bei denen die Schüler z.B. Vergleiche zwischen ihrem Alltag und dem in anderen Kulturen herstellen, probeweise andere Wertsysteme auf die eigenen vertrauten Lebensbezüge anwenden o.ä. Dabei ist immer wieder überraschend, welche Bezüge hergestellt werden und von wem (vgl. FROMM 1993): Während vorgeblich ‚gute‘ Schüler häufiger darauf fixiert scheinen, die mutmaßlich gewünschte richtige Antwort zu produzieren, stellen als ‚lernbehindert‘ angekündigte Schüler individuell eigenständig reflektierte, differenzierte und kritische Bezüge her. Bisher befinden sich dieses Vorgehen und ergänzend eingesetzte Methoden noch in der Erprobung und werden kontinuierlich weiterentwickelt. Immerhin ist aber bereits jetzt erkennbar, dass sich so neben dem reinen ‚window shopping‘ auch deutlich differenziertere und tiefergehende Verarbeitungen von Museumsangeboten nicht nur vermuten, sondern empirisch belegen lassen. Individuell signifikante Wirkungen, die man aber nicht gleich vollmundig mit dem Begriff ‚Bildung‘ belegen sollte, darf man den Angeboten von Museen also durchaus zutrauen. Allerdings sind solche positiven Effekte nicht pauschal ‚dem‘ Museum, nicht allen Ausstellungen und Exponaten, nicht bei allen Besuchern zuzuschreiben. Um zu einer differenzierteren und auch empirisch fundierten Einschätzung der Möglichkeiten und einer entsprechenden Ausstellungspraxis zu kommen, bedarf es aber insbesondere einer veränderten Besucherforschung, die sich verstärkt für die inneren Prozesse der Besucher interessiert: für deren geistige und emotionale Aktivität – nicht für deren Blutdruck.
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377
IV.ȱȱBildungsfähigkeitȱausȱhistorischerȱ Perspektiveȱ
Lernfähigkeit und Geschlecht1 Hartmut Titze / Corinna M. Dartenne
1
Einleitung
Die Historische Bildungsforschung ist am Lernen der Generationen interessiert. Aber auch für den Umgang der Geschlechter und ein aufgeklärtes Selbstverständnis von Männern und Frauen fördert sie bemerkenswerte Ergebnisse zutage. Die Analyse des langfristigen Zusammenhangs von Geschlecht, Lernfähigkeit und speziellen Schulformen für ‚schwierige‘ Kinder fordert letzten Endes zur Reflexion der Frage heraus, wie die Wirkungsweise des Bildungssystems über die Generationen hinweg unsere Kultur verändert. Auf diese Tiefenstruktur des Bildungswachstums will unser Beitrag aufmerksam machen. Zunächst geht es um die historischen Wurzeln, um Entstehung und Institutionalisierung der ‚Hilfsschulen‘ (Abschnitte 2 bis 4), jener Bildungseinrichtungen, die als Reaktion auf den beschleunigten sozialen Wandel für diejenigen Kinder entstanden, welche in den allgemeinen ‚Volksschulen‘ nicht mehr mitkamen. Hinsichtlich der aus vielen einzelnen Statistiken zusammengetragenen Daten zur Beteiligung von Jungen und Mädchen in diesen Bildungseinrichtungen ergeben sich über mehr als hundert Jahre stabile Differenzen (Abschnitt 5). An diesen geschlechtsspezifischen Differenzen setzt unsere Argumentation über Lernfähigkeit und Geschlecht an und mündet in der Reflexion von Fragen zu Bildung und Geschlechterdemokratie (Abschnitt 6). Es gibt nur wenige Bereiche der Kultur, in denen die Mechanismen ihrer Wirkungsweise klarer studiert werden können als an der Geschichte der ursprünglich so genannten Hilfsschulen. Sie zu erkennen setzt jedoch voraus, dass wir die Hilfsschulen als Kulturerscheinung ganz unvoreingenommen in den Blick nehmen. Man kann an ihrer Geschichte studieren, wie die Grenze zwischen
1 Der Beitrag ist im Kontext der QUAKRI-Forschungen (‚Qualifikationskrisen‘) an der Universität Lüneburg entstanden. Die QUAKRI-Forschungen wurden im Jahre 1976 begonnen und im Laufe der Jahre an mehreren Standorten vertieft (vgl. zum Überblick LUNDGREEN 2006, TITZE 2009). Von 1999 bis 2008 wurde von der DFG das Projekt ‚Differenzierung und Integration der niederen Schulen in Deutschland 1800-1945‘ gefördert. Dessen Ergebnisse werden in Kürze als dritter Band des ‚Datenhandbuchs zur deutschen Bildungsgeschichte‘ erscheinen.
den Polen Inklusion und Exklusion hinsichtlich bestimmter Formen der Vergesellschaftung im Laufe der Zeit immer wieder verschoben wurde. Dabei sollten wir erstens konsequent systemisch denken. Durch ein solches Denken verschiebt sich die Wahrnehmung der Probleme von den Menschen zu den Strukturen. Um zu einem tieferen Verständnis der Genese der Hilfsschule und ihrer Bedeutung in der Kultur zu gelangen, sollten wir zweitens den Zeithorizont weit öffnen und in Generationen denken. Dafür müssen wir bis in die Aufklärungszeit zurückblicken und den Zusammenhang von Bildsamkeit und ‚Behinderung‘ bzw. Lernfähigkeit kritisch neu thematisieren. In diesem Kontext muss auch nach den Hilfsschulen im Nationalsozialismus gefragt werden, um nachvollziehen zu können, was der nationalsozialistische Kulturbruch mit der deutschen Bildungsgeschichte zu tun hat (Abschnitt 4). Wir müssen also, wenn wir einen verstehenden Zugang zur sozialen Wirklichkeit suchen, das Lernverhalten über die Generationengeschichte hinweg in der Dimension der reflektierten Zeit, in den Worten REINHARD UHLEs, „verflüssigen“ (UHLE 2006, S.216). Dabei wird deutlich, dass sich erst seit den 1970er Jahren in der Tiefenstruktur des Bildungswachstums inklusive Bildungsformen definitiv durchgesetzt haben. Sie zeigen an, dass die Selbstorganisation der Kultur in der Gegenwart zu einem neuen Niveau der Vergesellschaftung geführt hat. 2
Die Genese erster ‚Hilfsschulen‘
Wenn man das Vordringen der Bildungsselektion als neuen Modus der Vergesellschaftung seit der Aufklärung vor Augen hat, stellen die 1860er Jahre in vieler Hinsicht eine Art Kulturschwelle dar. Seit dieser Zeit machen sich die heranwachsenden Generationen in ihrer Lebensführung von ihren Vorfahren immer unabhängiger; sie bringen durch Lernprozesse verstärkt eigene Formen der Vergesellschaftung hervor. Die Schrittmacher des Wandels besuchten im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts selbstverständlich die an den modernen Wissenschaften orientierten höheren Bildungseinrichtungen (Universitäten, Gymnasien), während die eher reproduzierenden und beharrlichen Generationen, die sich in ihrer Lebensführung eng an die bestehenden Muster der Zeitgenossen anschlossen, die an volkstümlicher Bildung orientierten Anstalten für die breite Masse besuchten (Volksschulen). Die wenigen Kinder jedoch, die als ‚behindert‘ bzw. als lernunfähig galten, wurden kaum in die Gesellschaft integriert und als nicht lernfähiger Nachwuchs eher im Hintergrund gehalten. Das historisch aufgebaute Bildungswesen war an partikularistischen Werten orientiert. Wenn wir hingegen im Jahre 2009 nach der Bedeutung der Bildungsselektion für die Kultur fragen, thematisieren wir das Bildungswesen als institutionellen Akteur einer 382
Menschenbildung, die an universalistischen Werten und Grundsätzen orientiert ist, welche für alle gelten und niemand ausschließen (vgl. FEND 2006b). Von der Antike bis zur Gegenwart lässt sich ein sehr breites Spektrum der Verhaltensformen gegenüber Kindern feststellen, die ‚nach unten‘ von der Norm abweichen. Bis ins frühe 19. Jahrhundert haben als schwach und kaum entwicklungsfähig erscheinende Kinder in der Regel überhaupt keine Schule besucht, da ‚Schwachsinn‘ und ‚Armut‘ nach zeitgenössischem Verständnis zusammen gehörten (vgl. FITTJE 1986, S.131). Die Idee zur Gründung von Hilfsschulen wird in der Zeit zwischen den 1860er und den 1880er Jahren einerseits in so genannten ‚Idiotenanstalten‘ entstanden sein, in denen Leichtschwachsinnige auffielen, andererseits und vor allem aber auch in den ausgebauten Volksschulen, in denen Schüler zurückblieben. Aus diesem Grunde bezeichnet INGEBORG ALTSTAEDT die Hilfsschule als „Abspaltungsprodukt aus dem Konstituierungsprozeß der Volksschule“: „Diese Absonderung bildete nur die Kehrseite der Etablierung präziserer und differenzierterer Ausbildungs- und Erziehungsnormen im städtischen Elementarschulwesen“ (ALTSTAEDT 1977, S.66). Erste Schwachsinnigen- und Nachhilfeklassen wurden in dieser Zeit in Chemnitz, Halle, Dresden, Gera, Apolda und Elberfeld gegründet. Mit hoher Übereinstimmung wird in der Fachliteratur die Auffassung vertreten, dass nach einer Phase des Experimentierens die ersten tatsächlichen Hilfsschulen im engeren Sinne in den 1860er Jahren ihren Betrieb aufnahmen. Das von vielen Forschern registrierte erstmalige Auftreten der ‚Hilfsschule‘ in diesem Jahrzehnt ist der Ausdruck einer tiefen Logik des historischen Prozesses, in dem es zu einem ‚take-off‘ der Vergesellschaftungsformen kommt. Hier haben wir im Prinzip die Anpassung des Bildungssystems an den ersten Schub der Industrialisierung und die Inklusion aller Heranwachsenden, auch der ‚bildungsfähigen‘ schwachsinnigen Kinder, ins Bildungswesen anzusetzen. Diese sollten nicht länger in ‚Idiotenanstalten‘ ausgegrenzt werden, sondern am gemeinsamen Leben teilhaben. Im systemtheoretischen Bezugsrahmen lässt sich diese Kulturschwelle der 1860er bis 1880er Jahre überzeugend nachvollziehen. Erst wenn alle Kinder in die Bildungsselektion einbezogen sind2 und der Schulbesuch auch im niederen Bildungskreislauf zur normalen Selbstverständlichkeit in der alltäglichen Lebenswelt aller Kinder geworden ist, beginnt die stärkere Binnendifferenzierung der Bildungseinrichtungen. In evolutionstheoretischer Perspektive lässt sich allgemeiner formulieren: Wenn sich durch die Modernisierung der Lebensweise der soziale Wandel beschleunigt und die Prozesse im Alltag normalerweise immer schneller ablaufen, dann entstehen in den Zentren des 2 Aus empirischer Perspektive sind freilich weitere zeitliche Differenzierungen anzumerken: Für Sachsen und Sachsen-Weimar etwa lässt sich solches sogar schon für die 1830er Jahre nachweisen.
383
Wandels, in denen das Schulwesen ohnehin gut ausgebaut ist, auch besondere Bildungseinrichtungen für diejenigen, die ‚nicht mehr mitkommen‘ und allgemeine Lernprozesse nur in zeitgedehnter Form nachvollziehen können. Im vorgegebenen unterschiedlichen Tempo des Lernens wurden die Bildungseinrichtungen ausdifferenziert. In der zeitgenössischen Formulierung einer programmatischen Reformschrift hieß es: „Die Volksschule hat andere Aufgaben zu lösen, als sich mit geistig Schwachen und Stumpfsinnigen herumzumühen. Diese hindern und hemmen nur“ (STÖTZNER 1864, S.7). In der Phase des Eigenausbaus in den 1860er und 1870er Jahren hatte das niedere Schulwesen sich soweit als eigenes System konstituiert, dass es die Differenzen zwischen gesamtgesellschaftlicher Funktion und spezifischer Leistung zu reflektieren begann. Mit dem Anwachsen der Schülerzahl, die den Klassendurchschnitt nicht erreichten, wuchs auch das Interesse, die Volksschule von ‚Schulversagern‘ zu entlasten und diese einer ‚Hilfsschule‘ zu überantworten. „Die Hilfsschule entstand erst mit der Verbesserung der Schulverhältnisse, d.h. dem schrittweisen Prozeß der Vereinheitlichung, der allmählichen Erfassung aller Schulpflichtigen und der zunehmenden Erhöhung des Ausbildungsstandes“ (REICHMANN 1981, S.107). Im Spektrum der Reformeinrichtungen entstand in Braunschweig eine Institution, die für die Entwicklung eines eigenständigen Hilfsschulwesens in Deutschland richtungsweisend wurde. Für schwachbefähigte Kinder an den Bürgerschulen wurde am 1. Mai 1881 nicht zuletzt durch ärztlichen Einfluss eine provisorische Hilfsklasse eingerichtet. Aus der Hilfsklasse wurde in kurzer Zeit eine Hilfsschule, die binnen weniger Jahrzehnte Nachahmung in ganz Deutschland fand. Der strukturelle, jahrgangsstufenmäßige Ausbau der (städtischen) niederen Schulen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, welcher eine Voraussetzung für die Verkopplung mit dem berechtigenden Schulwesen bildete und damit die individuellen Entscheidungsmöglichkeiten auch noch in späteren Phasen der Schulkarriere weiter verbesserte (positive Auswahl), führte also gleichzeitig dazu, dass für jene SchülerInnen, die diesem Ausbau ‚im Weg standen‘, gesonderte Klassen und Schulen ausdifferenziert wurden (negativer Ausschluss). 3
Die Institutionalisierung der Hilfsschule
Nach dem gehäuften Auftreten derartiger Schultypen – in den Statistiken deutlich belegt – muss die Institutionalisierung des Hilfsschulwesens eindeutig der um 1890 beginnenden Aufschwungphase der dritten Welle in der Tiefenstruktur des Bildungswachstums zugeordnet werden (vgl. NATH 2001; HERRLITZ et al. 2005, S.251ff.; DARTENNE 2006; METZ 2006). Die Ausdifferenzierung von 384
Hilfsschulen aus den allgemeinen Volksschulen stellte ein rein städtisches Phänomen dar. Die Entwicklung der neuen Schulart verlief parallel zur Entwicklung der Industriereviere in Deutschland. Dabei ging sie zeitlich versetzt vonstatten: zuerst erfasste sie Sachsen, dann das Ruhrgebiet und schließlich Süddeutschland. Ende des 19. Jahrhunderts gab es in Süddeutschland kaum Hilfsschulen. Bis auf Nürnberg und Stuttgart waren nur Klassen und einzelne Schulen eingerichtet, während Dresden, Hamburg, Leipzig, Breslau, Königsberg, Berlin, Köln, Essen und andere Großstädte bereits ausgebaute Hilfsschulsysteme mit mehreren Schulen im Stadtgebiet besaßen. In Württemberg wurde die erste Hilfsschule erst 1902 in Ulm eingerichtet. Nach den statistischen Erhebungen bestanden 1893/94 insgesamt schon in 32 Städten 110 Hilfsschulklassen mit 2.290 Kindern. Bis zum Ersten Weltkrieg erfolgte der zügige Ausbau im Sinne eines eigenständig organisierten mehrzügigen Systems. In dieser Phase dehnte sich der neue Schultyp auch in Süddeutschland aus. 1913/14 gab es in 320 Städten ca. 1850 Hilfsschulklassen mit ca. 43.000 Kindern (vgl. BLEIDICK 1973, S.825). Gleichzeitig mit der Institutionalisierung des Hilfsschulwesens entwickelte sich die Berufsgruppe der spezialisierten Lehrer für diesen neuen Schultyp. Die Hilfsschullehrer wirkten zunächst in ihren jeweiligen allgemeinen Lehrervereinen. Vorerst ohne eigene Lobby und deshalb auf Unterstützung angewiesen, betonten die Hilfsschullehrer die Interessenübereinstimmung mit den Volksschullehrern. Aus der historischen Entwicklung wird jedoch deutlich, „daß die Hilfsschulverfechter das Entlastungsargument als taktisches Argument einbrachten, um eine Interessenidentität zwischen Volksschulen und Hilfsschulen zu begründen“ (FITTJE 1986, S.265). Nach der Statistik waren bis 1914 nur etwa ein Prozent der Schüler so genannte Hilfsschüler. Konkret hieß dies, dass nicht einmal ein Schüler aus jeder Klasse die Hilfsschule besuchte. Eine tatsächliche Effizienzsteigerung der Volksschule durch eine Entlastung von leistungsschwachen Schülern erscheint vor dem Hintergrund dieser Zahlen mehr als zweifelhaft. Die Finanzierung eines teuren Hilfsschulwesens ließ sich mit diesem Argument der Effizienzsteigerung von Regelschulen also nur schwerlich begründen. Auf der 27. Versammlung des Allgemeinen Deutschen Lehrervereins 1887 hielt HEINRICH KIELHORN, Leiter der Braunschweiger Hilfsklassen, einen Vortrag, welcher den weit verbreiteten Widerstand der Volksschullehrer gegen die Hilfsschule brach. Nach eingehender Beratung verabschiedete die Versammlung eine Entschließung, nach der Kinder, welche „Spuren von Schwachsinn in solchem Grade an sich tragen, daß ihnen nach mindestens zweijährigem Besuch der Volksschule ein Fortschreiten mit geistig gesunden Kindern nicht möglich ist“, in besondere Schulen (Hilfsschulen, Hilfsklassen) überwiesen werden sollten (RUDNICK 1985, S.38). KIELHORN wurde auch zu einem der Initiatoren der Gründung eines eigenständigen Berufsverbands. Im April 1898 fand in 385
Hannover die Gründungsversammlung des Verbandes der Hilfsschulen Deutschlands (VdHD) statt. Unter den rund 70 Mitgliedern befanden sich Lehrer aller Schularten, ebenso Ärzte und Richter. Bis 1904 wuchs die Mitgliederzahl auf 400 an. 1912 zählte der VdHD 1.400 Mitglieder und nach dem Weltkrieg konnte er seine Mitgliederzahl auf rund 3000 im Jahre 1924 weiter erhöhen. Ein wichtiger Markstein für die Profilierung des Selbstverständnisses der Hilfsschule war ein vom Verband begrüßter Erlass des Preußischen Unterrichtsministeriums im Jahre 1905, nach dem „die Hilfsschule keine Nachhilfeschule sei und darum auch nicht das Ziel verfolge, die ihr anvertrauten Kinder der Volksschule wieder zuzuführen“ (FRENZEL 1921, S.71, zit. nach: BLEIDICK 1973, S.826). Von der ausdifferenzierten neuen Bildungsorganisation war zunächst nur eine fast verschwindende Minderheit der Heranwachsenden betroffen. Im Zeitraum von 1887 bis 1942 bewegte sich der Anteil der HilfsschülerInnen an den 8bis unter 14-Jährigen in Preußen kontinuierlich unter dem Wert von 1,8 Prozent. Die durchschnittliche Entwicklung in diesem Bereich wird durch Preußen, das weitaus größte Flächenland des Deutschen Reiches, gut repräsentiert (vgl. Abb. 1). Nur in den drei Hansestädten Hamburg, Lübeck und Bremen wich der relative Hilfsschulbesuch von diesem Durchschnitt deutlich ab und bewegte sich von 1912 bis 1942 auf einem Niveau von 1,5 bis fast 4 Prozent (vgl. Abb. 3). Nicht erst mit der gesetzlichen Verankerung und Durchsetzung der allgemeinen Grundschule im Jahre 1920 nahm das Hilfsschulwesen in Deutschland einen steilen Aufschwung. Empirische Forschungsergebnisse zeigen, dass schon vor dem Ersten Weltkrieg der mehrheitliche Übergang von der 4. Volksschulklasse in Verbindung mit dem stufenmäßigen Ausbau der städtischen Volksschulen eine negative Selektionstendenz beschleunigte. Im Kontext der Analysen zur inneren Dynamik des gesamten Schulsystems liegt hier die folgende Deutung nahe: Gegenläufig zur Integration aller Kinder in der 1920 eingeführten gemeinsamen vierjährigen Grundschule, nicht zuletzt zur Beruhigung der Kritiker und Vorschulbefürworter, wurden am unteren Rand der Bildungsorganisation mehr lernschwache Schüler für eine besondere Schule aussortiert. Die Statistik von 1927 ergab, dass nur noch ganz wenige Städte mit über 20.000 Einwohnern ohne Hilfsschulen waren. Auch die größere Zahl der Städte mit 10.000 bis 20.000 Einwohnern verfügte inzwischen über Hilfsschulen; von den Orten mit weniger als 10.000 Einwohnern konnten immerhin 150 eine Hilfsschule aufweisen. Allerdings handelte es sich in diesen Orten nur um einklassige Schulen (vgl. DANNEMANN/SCHOBER/SCHULZE 1934, Sp.2657).
386
Abbildung 1:
QUAKRI gesamt männl weibl
1882 1886 1890 1894 1898 1902 1906 1910 1914 1918 1922 1926 1930 1934 1938 1942 1946 1950 1954 1958 1962 1966 1970 1974 1978 1982 1986 1990 1994
8,0 7,0 6,0 5,0 4,0 3,0 2,0 1,0 0,0
Relativer Besuch der öffentlichen Hilfsschule, Hilfsklassen und Sonderschulen im Prozent der 8- bis unter-14-jährigen Bevölkerung in Preußen und der Bundesrepublik (alt) 1898 bis 1996
Gegen die Absonderung eines eigenständigen Hilfsschulwesens wurden bereits zu dieser Zeit unter den Zeitgenossen einzelne kritische Stimmen laut. So bemerkte ein Kreisschulinspektor im Jahre 1901, die Absonderung würde dazu beitragen, „dass die Volksschullehrer in dem Eifer, die Schwachen zu fördern, erlahmen und das Geschick, sie zu fördern, verlieren werden“ (zit. nach: KLINK 1966, S.78). Der kulturelle Mechanismus der ‚eigensinnigen‘ Verselbstständigung von Praxisfeldern im Bildungsbereich lässt sich hier lehrreich studieren. Die Hilfsklassen verselbstständigten sich zu Regelschulen, die in keiner Verbindung mehr zur Volksschule standen. Die Hilfsschullehrerschaft verlor den Zusammenhang mit den Hauptproblemen der Volksschule. Von nun an suchte sie die Begründung ihres pädagogischen Handelns außerhalb dieser allgemeinbildenden Institution. Die Bildungseinrichtung ‚Hilfsschule‘ wirkte auch auf die Institution ‚Volksschule‘ in problematischer Weise eigendynamisch zurück. Die Institution ‚Hilfsschule‘ verstärkte die zeitgenössische Funktionsweise der ‚Volksschule‘, durch eine standardisierende Erziehung sowie durch den Einsatz massenunterrichtlicher Methoden eine Qualifizierung in den Kulturtechniken und strenge Disziplinierung der Schulkinder als gehorsame Untertanen des Kaisers zu bewirken. Die verselbstständigte Praxis brachte schließlich nachträglich auch ihre eigene Theorie hervor. Im Jahrzehnt vor dem Ersten Weltkrieg etablierte sich eine eigene ‚Hilfsschulwissenschaft‘. Sie betonte die Notwendigkeit eines besonderen Unterrichts für ‚schwachsinnige‘ Kinder gegenüber den Verfahren des 387
Massenunterrichts für ‚normale‘ Schüler. Konzepten individualisierenden Unterrichts (kleinere Klassen, Betonung der Methodik etc.) wuchs somit faktisch eine stigmatisierende Bedeutung als Ideen für Sonderunterricht zu. Hierin zeigt sich ein relevanter Unterschied zu den frühen besonderen Schulen (vor allem für blinde und gehörlose Kinder), in denen es, wie HEINZ-ELMAR TENORTH aufgearbeitet hat, im Geist der Aufklärung um die Erkenntnis der prinzipiellen Bildungsfähigkeit auch dieser Kinder ging (vgl TENORTH 2006). Hier aber wurden die ‚Hilfsschulen‘ im Kontext einer aus dem gesellschaftlichen Motivation der ‚Verschwendungsverhütung‘ diskutiert. Es sei zu aufwändig, so wurde diskutiert, ‚schwachbefähigte‘, gar ‚schwachsinnige‘ Kinder innerhalb eines Klassenverbands von ‚normalen‘ Kinder zu fördern. Den ersten ‚Hilfsschulen‘, diese Einsicht müssen wir uns heute rückschauend kritisch aneignen, lag in der faktischen Wirkung strukturell der Gedanke der Aussonderung zugrunde, nicht aber ein Gedanke der Förderung3. Spätestens seit den 1980er ist von Forschung zur und Geschichtsschreibung der Hilfsschule die „interessengeleitete Berufspolitik der Sonderpädagogen“ in den Blick genommen worden (ELLGER-RÜTTGART 2004, S.422). Unter den Vertretern der partikularen Professionalisierungsbestrebungen werden besonders GUSTAV LESEMANN und ARNO FUCHS heute problematisch gesehen. In der Aufschwungphase vor dem Ersten Weltkrieg wurden, im Sinne eines Zusammenspiels von Generationengeschichte und Systemgeschichte, durch das „Zusammenspiel zwischen dem Verband der Hilfsschulen Deutschlands und der preußischen Ministerialbürokratie“ die schulpolitischen Weichen für die selbstständige Institution ‚Hilfsschule‘ in Deutschland gestellt (MÖCKEL 2004, S.407). 4
Die Hilfsschulen im Nationalsozialismus
Langfristig bedeutete diese Verselbstständigung und Weichenstellung auf institutioneller Ebene eine starke politische Belastung, wie uns heute bei der Aufarbeitung der deutschen Bildungsgeschichte zunehmend deutlich wird. Im christlich verankerten Kaiserreich war noch nicht vorstellbar, dass die Hilfs3 Die bildungshistorische Forschung zeigt allerdings, dass diese Generaltendenzen, wie sie im begrenzten Rahmen eines solchen Aufsatzes aufzuweisen sind, in sich noch wiederum differenzierter und in dialektischen Verwindungen zu diskutieren sind. So wurden etwa in einzelnen Ländern – etwa in Hessen und in Baden – in den 1920er Jahren neben den Hilfsklassen auch so genannte ‚Förderklassen‘ entwickelt. Deren ausdrückliche Funktion sollte es sein, ihre Schülerinnen und Schüler wieder in die Normalbeschulung der Volksschule zu integrieren. Sie sollten also gewissermaßen einen ‚Anschluss statt Ausschluss‘ bieten, wo die Hilfskassen einen ‚Ausschluss von Anschluss‘ betrieben.
388
schule einige Jahrzehnte später nicht mehr den Schutz bot, den sie bei ihrer Institutionalisierung versprach. Die Gefährdung der Kultur klang als feiner Unterton aber schon 1887 durch, als KIELHORN auf der Allgemeinen Deutschen Lehrerversammlung in Gotha 1887 in seinem Referat über Schulen für schwachbefähigte Kinder die Problemlage in folgender Weise einschätzte: „Je größer die Städte sind, desto mehr setzt sich der Bodensatz der Bevölkerung in ihnen ab; desto mehr nackte Armut und Verkommenheit bergen sie. Und gerade diese Schichten sind es, die die meisten schwachsinnigen Kinder liefern“ (KIELHORN 1887, zit. in: ELLGER-RÜTTGARDT 2004, S.54). Der mit dem nationalsozialistischen ‚Dritten Reich‘ verbundene Kulturbruch erscheint aus der Perspektive der Historischen Bildungsforschung zwar nicht unvermeidbar, aber in der Logik der Tiefenstruktur des Bildungswachstums langfristig angelegt. Die sonderpädagogische Geschichtsschreibung hat ganz im Gegenteil zu dieser Einschätzung lange den Eindruck erweckt, als wäre der Nationalsozialismus eine Art Betriebsunfall der deutschen Geschichte gewesen, der verhängnisvoll auch über die Heilpädagogik hereinbrach (vgl. HÄNSEL 2006). Sterilisation und Euthanasie, vom Berufsstand der Hilfsschullehrer im ‚Dritten Reich‘ durchaus befürwortet und mitgetragen, waren nach 1945 in der sonderpädagogischen Geschichtsschreibung mit einem Tabu belegt. Diese Bereitschaft muss auch im Kontext der Engführung des zeitgenössischen pädagogischen Denkens reflektiert werden. Die Sonderschullehrerschaft war in ihren gesellschaftlichen und politischen Anschauungen in den 1920er und 30er Jahren national-konservativ und sah ihre Klientel aus schicksalhaften Gründen in seiner abweichenden Sonderlage. Wie andere Zeitgenossen sahen auch zahlreiche Hilfsschullehrer in Hilfsschulkindern eine Last und Gefahr für die „deutsche Volksgemeinschaft“ und befürworteten die rassenhygienischen Maßnahmen des Staates. Das scharfe Selektionsklima im Kontext des Sozialdarwinismus – ‚Auslese‘ der Geeigneten und ‚Ausmerze‘ der Ungeeigneten – machte viele Zeitgenossen bereit, sich auf das nationalsozialistische Verbrechen einzulassen. 1933 setzte sich eine Ideologie durch, die den Aufstieg der modernen Massenkultur in einem volksbiologischen Deutungsrahmen interessenbefangen als „biologischen Vormarsch der geistig Schwachen“ bewertete (HARTNACKE 1939, S.46). So formulierte es WILHELM HARTNACKE, der 1933 in Sachsen Kultusminister geworden war. Diese Art von als nur vermeintlich angenommener Modernisierung sollte elitär rückgängig gemacht werden (vgl. TITZE 2001). Nach der Niederringung des nationalsozialistischen ‚Dritten Reiches‘ haben die alliierten Besatzungsmächte die deutsche Schulorganisation in diesem Sinne ebenfalls kritisch gesehen, weil sie die am Nationalsozialismus mitschuldigen alten Eliten hervorgebracht hätte sowie „jene Unterwürfigkeit und jenen Mangel 389
an Selbstbestimmung“, auf denen „das autoritäre Führerprinzip gedieh“ (HERRLITZ et al. 2005, S.159). In ihrer Autoritätshörigkeit waren die Menschen in den Generationslagerungen zwischen etwa 1880 und dem Ende des ‚Dritten Reichs‘ – das belegt auch die Geschichte des Hilfsschulwesens und der Behinderten in Deutschland – gleichsam Gefangene ihrer Zeit. Es ist deshalb im Sinne einer kritischen Aufarbeitung der eigenen Geschichte nur konsequent, wenn in der Geschichtsschreibung der Heilpädagogik heute die fragwürdigen Momente in den langen Traditionslinien betont werden und nüchtern resümiert wird, dass „die NS-Gesetzgebung zur Zwangssterilisation und die Verbrechen des NSStaates an behinderten Kindern“ die Gefahr offen legten, „die in der Absonderung der Kinder liegt“ (MÖCKEL 2007, S.18). 5
Jungen und Mädchen in Hilfsschulen
Neben dieser Einsicht in die langfristige Wirkungsweise des deutschen Bildungssystems im Sinne einer Dialektik der Aufklärung bringt die historische Bildungsforschung auf der Grundlage der Kulturstatistik eine zweite interessante Einsicht hervor, wenn wir nach der Differenzierung der Geschlechter über viele Generationen hinweg fragen. Im in Kürze erscheinenden dritten Band des ‚Datenhandbuchs der deutschen Bildungsgeschichte‘ haben wir die Statistiken u.a. auch zum Besuch der Hilfsschulen und -klassen, der Sonderschulen und Förderklassen über einen langen Zeitraum und für weite territoriale Bereiche zusammengetragen. Schon vorab stellen wir hieraus einige Informationen zur Verfügung, aus deren Vergleich sich ein frappierendes Bild bezüglich der relativen Beteiligung an den Hilfsklassen und -schulen ergibt. Seit der statistischen Differenzierung sind Jungen von der Ausgrenzung lernschwacher Schulkinder durchgängig deutlich mehr betroffen als Mädchen (vgl. Abb. 1-3). Dieses Ergebnis zeigt sich für alle Länder des Deutschen Reiches, unabhängig von der geographischen Lage, unabhängig von der Größe eines Landes (Flächenstaat oder Stadtstaat) und offensichtlich unabhängig von der Bildungspolitik eines Landes. Eine derartige empirische Erscheinung, die mehr als hundert Jahre verblüffend stabil geblieben ist, verlangt nach einer generellen Erklärung. Im Kaiserreich, in der Weimarer Republik, im nationalsozialistischen ‚Dritten Reich‘ und in der frühen Nachkriegsära hat das ‚männliche‘ Verhalten der Jungen in der Schule wahrscheinlich wenig Anstoß erregt. Aus Bildern ist lediglich überliefert, dass die Mädchen vom Lehrer nach vorn geholt wurden, wenn der Schulinspektor von der Qualität des Unterrichts überzeugt werden sollte (vgl. NATH 2007).
390
Abbildung 2:
5,0 4,5 4,0 3,5 3,0 2,5 2,0 1,5 1,0 0,5 0,0
Relativer Schulbesuch der Hilfsschulen und Hilfsklassen in Prozent der 8- bis unter-14-jährigen Bevölkerung in Sachsen 1905 bis 1942
QUAKRI
Abbildung 3: 5,0 4,5 4,0 3,5 3,0 2,5 2,0 1,5 1,0 0,5 0,0
1942
1938
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Relativer Schulbesuch der Hilfsschulen in Prozent der 8- bis unter-14-jährigen Bevölkerung in Hamburg 1905 bis 1942
QUAKRI
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insg. männl. weibl.
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Heutzutage werden Jungen als ‚kleine Störenfriede‘ dagegen oft negativ registriert. Wahrscheinlich sind die Jungen in der Schule heute aber nicht anders und verhalten sich immer noch ähnlich wie früher. Dennoch wird gerade in jüngster Zeit die Frage nach der Andersartigkeit der Jungen und den schul391
pädagogischen Konsequenzen in vielen Medien prominent platziert. Das empirische Erscheinungsbild, das wir aus den im historischen Prozess produzierten Daten gewonnen haben, relativiert jedoch alle ideologischen Spekulationen über die Geschlechter und führt die Eigenlogik des Bildungswesens als Akteur der Menschenbildung vor Augen. Die Daten sind stabil, nur die Deutungen der Zeitgenossen schwingen mit dem Zeitgeist. Die Funktionsweise des Bildungssystems in diesem Kontext lässt eine allgemeine Einsicht zu: Je differenzierter das Bildungswesen auf institutioneller Ebene ausgebaut ist, je mehr es in der Tendenz alle Kinder erfasst und die Lernfähigkeit seiner Benutzer in reiner Gestalt langfristig darstellt, desto breiter stellt sich auch das Spektrum in den Organisationsformen dar. Das moderne Bildungssystem, so wird in dieser langfristigen Perspektive deutlich, erzeugt strukturell am unteren Rand der Gesellschaft eine Gruppe vorwiegend männlicher Schulversager. Der seit den 1960er Jahre auf die Benachteiligung der Mädchen geschärfte Blick, der in dem bekannten Bonmot vom katholischen Arbeitermädchen vom Lande enthalten ist, übersieht die Bedeutung, welche dem Schulabschluss in der modernen Gesellschaft für die Jungen zukommt. Ein Schulabschluss vermittelt soziale Teilhabe und dient als Eignungsvermutung für den Zugang zur Berufswelt. Da die Männer einen anerkannten Sozialstatus bislang allein über den Beruf erlangen können, wiegt dieses Strukturproblem besonders schwer. Vergleichbar traditionelle Strukturen, die für Frauen soziale Teilhabe bedeuteten, etwa Vollzeit-Vater oder Versorgungsehe, stehen den Männern (bis auf wenige Ausnahmen) noch nicht zur Verfügung. Deshalb bleibt jungen Männern ohne Schulabschluss oft nur eine Hartz IV-Existenz. Dieses Problem ist eine ganz neuartige gesellschaftliche Erscheinung, eine Art neuer Proletarisierung im 21. Jahrhundert durch die Funktionsweise des Bildungssystems in der Wissensgesellschaft. In ihrer politischen Tragweite ist diese schlummernde Gefahr bislang kaum zur Kenntnis genommen worden. Die Lebensweise der ‚erlernten Hilflosigkeit‘ am unteren Rand der Gesellschaft wird von Generation zu Generation ‚weitervererbt‘. Die wachsende Gruppe junger männlicher Bildungsverlierer als neuartiges Strukturproblem ist ebenso wie das Phänomen rechtsextremistischer Einstellungen unter männlichen Jugendlichen an den ‚Restschulen‘ der ‚Wissensgesellschaft‘ in diesem Kontext grundsätzlich und ganz unvoreingenommen neu zu durchdenken.
392
6
Bildung und Geschlechterdemokratie
Auf lange Sicht scheinen Mädchen von den kulturellen Errungenschaften des neuzeitlichen Bildungssystems mehr zu profitieren als Jungen. Dieses Urteil beruht auf unserer Auswertung von historischen Massendaten zur Tiefenstruktur des Bildungswachstums in den letzten zwei Jahrhunderten. Schon in der Publizistik des 17. Jahrhunderts haben Schriftstellerinnen den Nachweis zu führen versucht, dass die höhere Bildung und Studienzulassung von Frauen für das Gemeinwesen von großem Nutzen sei. Aber erst seit der Aufklärung sind die Mädchen und jungen Frauen am Bildungswachstum zunehmend gleichberechtigt beteiligt (vgl. KLEINAU/OPITZ 1996). Erst im Laufe des 20. Jahrhunderts ist, nach der Überwindung zahlreicher Barrieren, ein Universitätsstudium für junge Frauen in Deutschland zur Selbstverständlichkeit geworden (vgl. HUERKAMP 1996; DICKMANN/SCHÖCK-QUINTEROS 2000; BUDDE 2002). Das starke Bildungswachstum nach 1960 wurde „in erheblichem Maße von der Erhöhung der Bildungsbeteiligung bei den Mädchen getragen“ (KÖHLER 1992, S. 66). Abbildung 4:
Quote höherer SchülerInnen in Prozent der 8- bzw. 11- bis unter20-jährigen Bevölkerung in Preußen und der Bundesrepublik (alt) 1800 bis 2007
36,0 32,0 28,0 24,0 20,0 16,0 12,0
QUAKRI Jungen von 8- (bis 1864) bzw. 11- bis u. 20-J. (seit 1865) (1800-1815 geschätzt; 1816-1834 berechnet)
Mädchen 1901-1920 von 8- bis u. 20-J., seit 1921 von 11- bis u. 20-J.
8,0 4,0 0,0
393
HANNELORE FAULSTICH-WIELAND und ELKE NYSSEN zogen 1998 eine Zwischenbilanz der Geschlechterverhältnisse im Bildungssystem. Sowohl an der Spitze, bei den Hochschulen für die Lernfähigsten, als auch am unteren Ende, bei den Sonderschulen für die schwach lernfähigen Kinder, ergaben sich bemerkenswerte Ergebnisse. Vor allem bei der Quote des Gymnasialbesuchs hatten die jungen Frauen die jungen Männer inzwischen deutlich überholt. Fast ein Drittel der jungen Frauen gegenüber nur einem knappen Viertel der jungen Männer besuchten ein Gymnasium. Dieses Ergebnis wird durch unsere eigenen Forschungen bestätigt: 1977 gab es erstmals relativ mehr Schülerinnen als Schüler an höheren Schulen (vgl. Abb. 4). Dabei scheinen sich relative Bildungsbeteiligung und Bildungserfolg der Mädchen und jungen Frauen laufend zu verbessern. Von 2,8 Prozentpunkten im Jahre 1990 hat sich die Differenz gegenüber den Jungen und jungen Männern auf 5,7 Prozentpunkte im Jahre 2000 gut verdoppelt. Absolut betrachtet waren im Wintersemester 1997/98 erstmals mehr Studentinnen als Studenten an deutschen Universitäten im ersten Semester eingeschrieben. Werden die Zahlen mit der entsprechenden Alterspopulation der der Bevölkerung relationiert, so ist davon auszugehen, dass diese Wende tatsächlich wohl schon 1994 erreicht war. Dieses zeigt unsere Abbildung 5.4 Auch in der Realschule sind die jungen Frauen etwas stärker vertreten als die jungen Männer. In der Hauptschule dagegen, der das Stigma einer ‚Restschule‘ für die ‚Bildungsverlierer‘ anhaftet, dominieren die jungen Männer. Ein analoges Bild zeigt sich in der Bildungseinrichtung am unteren Ende des Spektrums: 2,0 Prozent der 16jährigen Frauen befanden sich 1995 in Sonderschulen gegenüber 3,2 Prozent der 16jährigen jungen Männer. „Die Auswertung der vorliegenden Statistiken zur Bildungssituation von beiden Geschlechtern zeigt das beeindruckende Aufholen der jungen Frauen beim Erwerb weiterführender Bildungsabschlüsse. Erstmals in der Geschichte sind Frauen im allgemeinbildenden Schulsystem formal besser qualifiziert als die jungen Männer“ (FAULSTICH-WIELAND/NYSSEN 1998, S.13). Nicht nur scheint also die Bildungsbenachteiligung von Mädchen und Frauen im Verschwinden begriffen, sondern vielmehr scheint sich der Abstand zwischen den Geschlechtern im Bildungssystem bei stetig zunehmendem Vorteil für das weibliche Geschlecht zu vergrößern. Auf der Suche nach Erklärungen für diese erstaunliche Differenz sind nach unseren Arbeiten folgend benannte Hypothesen möglich.
4 Von 1995 bis 1998 haben wir in unserem DfG-Projekt ‚LESE – Legitimation von Selektion‘ eine kategoriengeleitete Textanalyse der Deutungsmuster von Lehrerinnen und Lehrern zur Selektion im Schulsystem durchgeführt. Gleichzeitig wurden relevante Gesetze und Verordnungen gesammelt sowie einige QUAKRI-Zeitreihen bis Ende des 20. Jahrhunderts erweitert, so auch die Daten für diese Graphik (vgl. NATH 2001).
394
Abbildung 5:
25,0 22,5 20,0 17,5 15,0 12,5 10,0 7,5 5,0 2,5 0,0
Studienanfängerquote an Universitäten (1887-1941) bzw. Wissenschaftlichen Hochschulen (1952-2003) in Prozent der 20jährigen Bevölkerung in Preußen und in der Bundesrepublik (alt; seit 1992 einschl. Ost-Berlin)
QUAKRI
männl. weibl.
Die Schule arbeitete die sozialen Beziehungen und den alltäglichen Umgang der Menschen miteinander über die Generationen hinweg um, ohne dass uns dieser allmähliche Wandel der Formen bewusst wurde. Dieses sei mit einem einzigen kleinen Beispiel illustriert: Nur noch ältere Zeitgenossen können sich noch erinnern, dass aus dem ‚Hochachtungsvoll!‘ am Ende von Briefen im Laufe der Jahre ein ‚Mit freundlichen Grüßen!‘ wurde. Erst auf die Langfristperspektive zielende historische Vergleiche geben über solche kaum merklichen Veränderungen zuverlässig Aufschluss. Aus langfristiger historisch-vergleichender Perspektive kann in diesem Kontext über ein zentrales Ergebnis des Wandels kein Zweifel bestehen: Die Bildungseinrichtungen haben den Repräsentationsmodus der Menschen vom dominant aktionalen zum sprachlich-diskursiven Typus im Laufe der Zeit umgearbeitet (vgl. DILLMANN 1993 im Anschluss an ROESSLER 1961; NATH 2007). Dieser Prozess vollzog sich unmerklich über den Wechsel der Generationen im Laufe der Jahrhunderte und kam, praeter propter, eher der weiblichen Hälfte der Menschheit zugute. Bildlich gesprochen und zugespitzt formuliert: Durch die Aufklärung haben die Menschen, die im Zusammenhandeln auf institutioneller Ebene im historischen Prozess dauernd lernten, über etwa ein Dutzend Generationen hinweg ihre Kultur vom ‚Schwert‘ auf das ‚Wort‘ umgestellt. 395
Generell lässt sich feststellen, dass Frauen diese grundlegende Transformation problemloser vollzogen haben als Männer. Diese tun sich insgesamt schwerer damit, sich in der modernen Welt der Kooperation zurecht zu finden, in welcher der gewaltsame Kampf mit dem Mitmenschen, symbolisiert durch das ‚Schwert‘, seine Bedeutung weitgehend verloren hat. Für diese These spricht in gewissem Sinne auch ein weiteres Ergebnis unserer QUAKRI-Forschungen: Schon beim Aufschwung vor dem Ersten Weltkrieg und deutlich im gesamten 5 Zeitraum der vierten Langen Welle seit den 1960er Jahren liegt das Bildungswachstum der jungen Frauen deutlich über dem der Männer. Auf einer sehr abstrakten Ebene der Einschätzung ist das ein Indiz für die Erwartung von Lebenschancen: Die Mädchen scheinen eher als Jungen mit eigenen Bildungsanstrengungen die Chance zur Selbstverwirklichung im Lebenslauf zu verbinden. Lebensweltlich lässt sich konkreter formulieren: Frauen haben sich von ihrer traditionellen Hausfrauenrolle leichter lösen können als Männer von ihrer traditionellen Ernährerrolle. Das Spektrum von Frausein hat sich in entwickelten Gesellschaften in der letzten Generation sprunghaft erweitert. Das Spektrum von Mannsein bleibt eher noch der Vergangenheit verhaftet. Die traditionelle Männerrolle ist immer noch eher einem Kampfbild verbunden, als dass sie einem Beziehungsangebot entspricht. Der Blick zurück macht aber sofort deutlich, dass die letzten vier Generationen – der Begriff der ‚Generation‘ sei hier im Sinne von KARL MANNHEIM verstanden – in diesem Bereich enorm gelernt und damit die Kultur erweitert haben. Die Studenten an den Universitäten vor dem Ersten Weltkrieg praktizierten einen Kult der Männlichkeit und waren in ihrer übergroßen Mehrheit gegen die gleichberechtigte Teilhabe der Frauen am Universitätsstudium eingestellt (vgl. LEVSEN 2007). Der unrühmliche Höhepunkt dieser rückwärts gewandten Mentalität, die Universität vorherrschend als Lebensraum des Mannes zu behaupten, war die 1933 verfügte gesetzliche Regel, nach der im nationalsozialistischen Deutschland nur eine studierende Frau auf zehn studierende Männer kommen sollte. Im Wachstumssprung des Bildungssystems seit den 1960er Jahren ist dieses Muster der Vergesellschaftung, das die weibliche Hälfte der Menschheit durch Ausgrenzung krass benachteiligte, ohne öffentliche Kontroversen, schnell und selbstverständlich, durch das Lernen der heranwachsenden Generationen überwunden worden. Im Anschluss an die Zivilisierungstheorie von NORBERT ELIAS haben sich die Umgangsformen im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts stark individualisiert. Zwischen den Geschlechtern hat ein sozialer Egalisierungsprozess stattgefunden, 5 Zu unserem Begriff der ‚Langen Wellen‘ in Bezug auf das Bildungswachstum vgl. NATH 2003, DARTENNE 2006, TITZE 2006.
396
der in vielerlei Hinsicht mit einer wachsenden Gleichbehandlung und Gleichberechtigung der Geschlechter verbunden ist. Diese Feststellung betrifft auch das Bildungssystem (vgl. WOUTERS 1999). Besonders die Mädchen und jungen Frauen haben vom Fortgang der Zivilisierung in den letzten Jahrzehnten profitiert. Nach der flächendeckenden Einführung der Koedukation an Gymnasien läuft die Beteiligung der Geschlechter an der Gymnasialbildung seit dem Ende der 1970er Jahre zugunsten der Mädchen scherenartig auseinander (vgl. NATH 2003, S.21) Die männlichen Monopole werden von Frauen gegenwärtig Schritt für Schritt zu Fall gebracht. Es gibt keinen exklusiv männlichen gesellschaftlichen Bereich mehr. Die Erwerbstätigkeit der Frauen ist heute selbstverständlich geworden. Die Eindimensionalität traditionsgebundener Frauenleben ist gebrochen. Die weibliche Lebensführung weist inzwischen Wahlmöglichkeiten zwischen verschiedenen Lebensformen auf. Zum ersten Mal in der Geschichte können sich Frauen jenseits der Mutterschaft selbstverständlich auch in anderen anerkannten Lebensformen verwirklichen. Die allgemeine Kultur hat durch diese Erweiterung der Lebensformen unschätzbar gewonnen. Diese These überzeugt sofort, wenn man sich problematische Erscheinungen der Kultur und ihren Bezug zum Geschlecht vor Augen führt. „Generell lässt sich feststellen, dass Männer erheblich mehr als Frauen straffällig werden und dass sie im Durchschnitt auch die erheblich schwereren Straftaten begehen“ (HOLLSTEIN 2004, S.211). Verschiedene Deliktformen in modernen Gesellschaften sind ausschließlich männlich (Amokläufe, Vandalismus, Vergewaltigung etc.), weitgehend männlich (Einbrüche, Drogenhandel, schwerer Betrug etc.) oder überwiegend männlich (Mord, Erpressung, Zuhälterei etc.) Empirische Untersuchungsergebnisse ergaben, dass Männergewalt Ausdruck von vermeintlichen oder faktischen Verletzungen des Selbstwertgefühls ist. Es scheint ein Zusammenhang zwischen männlicher Hilflosigkeit und Gewalt zu bestehen. „Der Rechtsextremismus erweist sich bei näherer Betrachtung als Überkompensation einer brüchigen Männlichkeit“ (ebd., S.213). Noch immer gibt es eine Segregation der Geschlechter in verschiedenen Lebensbereichen und damit verbunden Benachteiligungen und Ungerechtigkeiten für Frauen und für Männer. Die Sphäre der Öffentlichkeit im deutschsprachigen Raum ist weiterhin grundsätzlich männlich geprägt, die Sphäre des Privaten ist weiterhin grundsätzlich weiblich geblieben. Außer Frage steht, dass die Beteiligung von Frauen zwar im Bildungswesen gelungen ist, die Beteiligung in der Berufswelt jedoch noch immer in den Anfängen steckt. Aber die geschlechtlichen Domänen sind vielgestaltig in Bewegung gekommen, wobei die Eigendynamik des Bildungswesens an der Entstehung einer neuartigen Kultur zentral beteiligt ist. Die Erfahrungen in der mobilen Gesellschaft lassen die 397
Segregation zwischen den Geschlechtern immer fragwürdiger werden. Deshalb kann die Zukunft nur in der Geschlechterdemokratie liegen. „Das bedeutet gleiche Chancen, gleiche Rechte, gleiche Pflichten und gleiche Gratifikationen für Männer und Frauen in allen Bereichen von Leben und Arbeiten“ (ebd., S.243). Aus der langfristigen Perspektive der Historischen Bildungsforschung kann in diesem Zusammenhang sogar eine durchaus optimistische Erwartung formuliert werden: Vielleicht erzeugt der Mechanismus der funktionalen Differenzierung in der Kultur, der seit der Mitte des 19. Jahrhunderts in unseren sozialen Beziehungen unumkehrbar verankert ist, auf lange Sicht die selbstverständliche personale Anerkennung des ‚Anderen‘, auch in den Formen des ‚Männlichen‘ und des ‚Weiblichen‘, welche beide zusammen unterschiedliche und bereichernde Formen des ‚Menschlichen‘ zum Ausdruck bringen. Der/die/das ‚Andere‘ weicht logischerweise von der eigenen Perspektive ab. Inklusion ins Bildungssystem und Exklusion aus dem Bildungssystem stellen die allgemeinsten Pole der kulturellen Entwicklung dar. Erst in der vierten Wachstumswelle seit den 1960er Jahren, in der das Bildungswesen im Prinzip universalistisch organisiert wurde, ist diese Einsicht reflexiv bewusst geworden (vgl. FEND 2006a, S.215). In der Tiefenstruktur des Bildungswachstums haben sich inklusive Bildungsformen gegenwärtig definitiv durchgesetzt und zeigen an, dass wir ein neues Niveau der Vergesellschaftung betreten haben. „Die beängstigenden Perspektiven der Moderne … verlangen vermehrt nach Kompensation durch neu gestaltete soziale Netze. Ohne selbst gewählte Bindungen können wir heute in einer Gesellschaft, die die vorgegebenen Bindungen immer mehr aufgelöst hat, nicht mehr überleben“ (HOLLSTEIN 2004, S.344). Literaturverzeichnis ALTSTÄDT, INGEBORG (1977): Lernbehinderte: Kritische Geschichte eines Notstandes; Sonderpädagogik in Deutschland und Schweden. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt BLEIDICK, ULRICH (1973): Die Entwicklung und Differenzierung des Sonderschulwesens von 1898 bis 1973 im Spiegel des Verbandes Deutscher Sonderschulen. In: Zeitschrift für Heilpädagogik 24(20), S.824-845 BUDDE, GUNILLA-FRIEDERIKE (2002): Geglückte Eroberung? Frauen an Universitäten des 20. Jahrhunderts. Ein Forschungsüberblick. In: Feministische Studien 20, S.98-112 DANNEMANN, ADOLF/SCHOBER, HANS/SCHULZE, EDUARD (Hrsg.) (1934): Enzyklopädisches Handbuch der Heilpädagogik. Unter Mitwirkung zahlreicher am Erziehungswerke interessierter Ärzte und Pädagogen. 2. Aufl., Halle a. S.: Marhold DARTENNE, CORINNA M. (2006): Lange Wellen des Bildungswachstums, Generationen und Zeitpräferenz. Zur Entwicklung von Situationen und Reflexionen im Bildungssystem seit Ende des 18. Jahrhunderts bis heute. In: LUNDGREEN, PETER (Hrsg.) (2006): Bildungsbeteiligung. Wachstumsmuster und Chancenstrukturen 1800-2000. (Zeitschrift für Erziehungswissenschaft, Beiheft; 7) Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S.53-72
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400
Zur Deutung von ‚Bildsamkeit‘ im Prozess der ‚Kommunikationsspirale‘ des ‚Ideenprofils‘ Axel Nath / Alexander Griebel
1
Einleitung
Wenn in der Erziehungswissenschaft über den Begriff der ‚Bildsamkeit‘ nachgedacht wird, dann meist in systematischer und/oder ideengeschichtlicher Art und Weise im Anschluss an JOHANN FRIEDRICH HERBARTs Feststellung von 1835: „Der Grundbegriff der Pädagogik ist die Bildsamkeit des Zöglings“, in dessen Zentrum beim Menschen die „Bildsamkeit des Willens zur Sittlichkeit“ liege (HERBART 1982, S.165). So beruft sich DIETRICH BENNER in seiner weit verbreiteten ‚Allgemeinen Pädagogik‘, in einer praxeologisch-systematischen Untersuchung zur Bildsamkeit auf HERBART, wenn er zunächst mit der „kritischen Tradition bürgerlicher Pädagogik“ die „Möglichkeit einer Anlagen- oder Umweltdetermination“ zwar nicht „grundsätzlich leugnet“, die Verwendung ihrer Grundbegriffe aber für die pädagogische Praxis und für eine handlungstheoretisch orientierte Pädagogik für irrelevant erklärt. Die „individuelle und gesellschaftliche Bestimmtheit eines Menschen“ könne „niemals unmittelbares Resultat einer genetischen und/oder umweltbedingten Determination des Menschen“ sein – „naturalistischer Fehlschluss“ –, sondern werde „durch die individuelle und gesellschaftliche Praxis hervorgebracht“, in welcher „immer schon Menschen miteinander in Situationen gehandelt [haben], die geschichtlich entstanden“ seien. In der pädagogischen Praxis und im pädagogischen Denken könne statt der „Anlagendetermination“ als Grundprinzip nur die „Bildsamkeit als Bestimmtsein des Menschen zu produktiver Freiheit, Geschichtlichkeit und Sprache“ als „Verhältnisbestimmung der pädagogischen Interaktion“ treten. Dieser Relationsbegriff stehe in einem unauflöslichen Zusammenhang mit der „Aufforderung zur Selbsttätigkeit“ an Stelle der „Umweltdetermination“ (BENNER 1991, S.53-64). ELMAR ANHALT beruft sich in seiner umfangreichen, systematischen Analyse ‚Bildsamkeit und Selbstorganisation‘ ebenfalls auf HERBART, wenn er, im Gegensatz zu BENNER, im „Konzept der Bildsamkeit – neben den ‚Fähigkeiten des Weiterkommens‘ im Umgang mit dem Erzieher – auch die ‚Natur-Anlagen‘ des Edukanden“ berücksichtigt. Denn HERBART habe diese Natur-Anlage als ein
„anthropologisches ‚Strukturmerkmal‘ der Bildsamkeit in seinen operativen Ansatz integriert. Aus pädagogischer Perspektive ist diese Verknüpfung notwendig“. Ein lediglich „philosophisch-begrifflicher Ansatz“ müsse „erweitert werden zu einem pädagogisch-genetischen Ansatz, um erstens die Entwicklung des Menschen als einen individuellen Prozeß des Erwerbs von ‚Fähigkeiten des Weiterkommens’ und zweitens die Möglichkeit der Einflussnahme des Erziehers auf diese Entwicklung theoretisch erfassen zu können“ (ANHALT 1999, S.385f.). In einer Abhandlung über „Bildsamkeit und Behinderung“ vertritt HEINZELMAR TENORTH die Position, dass „Bildsamkeit“, dieser „zentrale“, im Ursprung des 18. Jahrhunderts mit „universalistischem Anspruch“ auftretende Begriff der „Pädagogik der Moderne“, mit Übernahmen aus anderen Wissenschaften wie der Biologie oder der Psychologie in unangemessener Weise „partikularisiert“ worden sei. Damit sei er zudem bis in die 1960er Jahre hinein einer „Selbstdestruktion“ anheimgefallen. Auch wenn schon zu Beginn dieses Bildsamkeits-Diskurses um 1800 z.B. bei HERBART und JOHANN HEINRICH CAMPE nicht nur von der Selbstbildung und Erziehungsbedürftigkeit, sondern auch von Erziehungs- und Bildungsfähigkeit und deren individuellen Grenzen die Rede sei, so gelten doch die ‚Anlagen‘ selbst als schon aufgebaute Möglichkeiten. Im Zentrum stehe hier die universalistische Bildsamkeit des Menschen. Erst als gegen Ende des 19. Jahrhunderts der Einfluss der psychologisch-diagnostischen Dimension, des Anlage-Umwelt-Diskurses die pädagogisch-pragmatische Dimension verdrängte, verlagerte sich nach dieser These die Diskussion von individuellen Differenzen zu partikularistischen Ausgrenzungen. Diese ‚Ausmerze’ fand schließlich in WILHELM HARTNACKEs ‚Naturgrenzen geistiger Bildung‘ und im ‚Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses‘ von 1933 ihre Höhepunkte. Erst im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts habe sich die Bildsamkeitsvorstellung wieder geändert. „Neben die Psychopathologie muss dafür die Entwicklungspsychologie treten; die Begabungsforschung muss sich von der scheinbar unauflöslich fixierten Dualität von Anlage und Umwelt zugunsten einer handlungsbezogenen Theorie des ‚Begabens’ befreien und alle nur konstatierenden oder biologisierenden Anthropologien zugunsten einer Renaissance historischer Anthropologie problematisieren.“ Die „Aufgabe der Pädagogik und des Pädagogen“ bestehe darin, den „Spielraum“ zu nutzen, welcher „sich in der Entwicklung des Kindes für seine Förderung durch Erziehung“ ergebe (TENORTH 2006, S.518f.). Wenn nach BENNER die Bestimmung eines Menschen durch die „individuelle und gesellschaftliche [ggf. pädagogische; die Verf.] Praxis“ hervorgebracht wird, stellt sich die Frage, welche Begriffe diese Praxis mit welcher Bedeutung jeweils beherrschen (Diskursgeschichte). Zu fragen ist, wodurch diese Begriffe verändert werden und wie sie selbst verändern.
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Auch wenn ANHALT für das operative Zusammenspiel zwischen anthropologischen Entwicklungsvorstellungen und pädagogischer Praxis plädiert, bleibt die Frage nach den Veränderungen auch dieser Idee der Bildsamkeit und wie durch diese Idee verändert wird. Und schließlich bleibt bei TENORTHS ideengeschichtlicher These der ‚Selbstdestruktion‘ eines ‚universalistischen‘ Bildsamkeitsbegriffs der Pädagogik durch den Einfluss deskriptiver, wissenschaftlicher Vorstellungen aus Biologie und Psychologie die Frage: Lässt sich ein von ihm behaupteter ‚Verfallstrend‘ bis in die 1960er Jahre nachvollziehen und wird die Entwicklung vor allem von anderen, deskriptiven Wissenschaften beeinflusst? An dieser Stelle möchten wir zunächst die dort vertretenen Thesen nicht weiter diskutieren, sondern die hiermit angesprochene wissenschaftstheoretische Forderung ins Zentrum unserer Überlegungen stellen, dass die „historisch rekonstruierbare Idee mit eigener Diskurs- und Wirkungsgeschichte“ (TENORTH 2006, S.500) mit einer wissenssoziologisch orientierten, integrativen sozial- und ideengeschichtlichen Betrachtungsweise nicht nur ergänzt, sondern interpretativ verschränkt werden sollte. Damit ist eine Untersuchungsweise gemeint, welche neben jener analytischen Ebene der Deutungsmusterentwicklung (Diskursgeschichte) empirische Indikatoren für die eigene Dynamik der Entscheidungen im Bildungssystem (Bildungsbeteiligungen in Organisationen), also die analytische Ebene der Situationsentwicklungen, mit einbezieht. Die Forderung nach der gegenseitigen Ergänzung der ideengeschichtlichen Forschungsstränge mit ihrem gesellschaftlichen Kontext, mit sozialhistorischen Untersuchungen, bei gegenseitiger Achtung der jeweils eigenen Dignität, ist ja wahrlich nicht neu (vgl. BENNER/BRÜGGEN 2000; TENORTH 2000). Aber solche Forschungsstränge verbleiben meistens parallel in eigenen Subdisziplinen der Erziehungswissenschaft mit eigenen Methoden, ohne tatsächlich miteinander verschränkt zu werden. Nach den langjährigen Erfahrungen in unserer Forschungsgruppe erscheint es sinnvoll, zwischen den oben erwähnten analytischen Ebenen der Deutungsmuster- und der Situationsentwicklung von Generationen im Sinne von KARL MANNHEIMs Erfahrungsgenerationen zu unterscheiden (vgl. MANNHEIM 1928)1. Das Zusammenspiel dieser Ebenen können wir als reziproke Kommunikationsschleifen begreifen, da es wechselseitig sowohl zu Veränderungen der Deutungen über das Bildungssystem als auch zu Veränderungen der Situationen im Bildungssystem führt. Da wir im Bildungssystem von einem Wachstums- bzw. 1 Auf der gesellschaftlichen Ebene ist es sinnvoll, die Deutungsmusterpräferenzen von ganzen Generationen zu untersuchen. Starke Abweichungen der kontingenteren Mentalitätspräferenzen von Einzelpersonen können dann als vorgreifende Pilotdeutungen oder als rückwärtsgewandt identifiziert werden (vgl. NATH/DARTENNE/OELERICH 2004).
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Öffnungstrend ausgehen können, öffnen sich diese Schleifen über die Zeit zu der Prozessform einer gerichteten Kommunikationsspirale (vgl. NATH 2004; NATH/DARTENNE 2008).2 Mit solchen Vorbemerkungen wird freilich ein hoher Anspruch aufgebaut. Eigentlich kann er nur in einem komplexen Untersuchungsprogramm einer Forschungsgruppe und für Generationen vornehmlich mit Hilfe neuerer Methoden wie der quantifizierbaren, kategoriengeleiteten Inhaltsanalyse für die Deutungsmusterentwicklung im Vergleich mit einer statistischen Zeitreihenanalyse für die Situationsentwicklung eingelöst werden. Vielleicht verbleiben auch deshalb kurze Darstellungen gern in den disziplinspezifischen Untersuchungssträngen und den vertrauten methodischen Ansätzen. Die Komplexität steigert sich noch, wenn man bedenkt, dass für unseren Zusammenhang jeweils eigene Diskursstränge mindestens im Bildungs-, im Wissenschafts- und im Politiksystem berücksichtigt werden sollten. Zudem offenbart der vielschichtige Begriff der ‚Bildsamkeit‘ in den Diskursen mindestens eine Vierdeutigkeit in zeitlich verschiebbaren Balancen einerseits zwischen den Begriffsdimensionen Fremd- und Selbstbestimmung (HERBART: Erzieher und Individuum; zu bildender und sich bildender Person) und andererseits für die Person zwischen den Dimensionen naturbedingter Prädeterminination und weitgehend selbstregulierbarer bzw. umweltbeeinflussbarer Plastizität. Auch in unseren kurzen Ausführungen ist die beschriebene komplexe Aufgabe selbstverständlich nicht umfassend lösbar. Wir beschränken uns deshalb vor allem auf die Diskursentwicklung der zweiten Balance des Bildsamkeitsbegriffs und seiner hierzu sinnverwandten Begriffe (‚Bildungsdisposition‘, ‚Bildungsfähigkeit‘, ‚Begabung‘, etc.) zwischen naturbedingter Prädetermination und Plastizität. Diese Balance steht auch in den historischen Diskursen im Vordergrund, bleibt aber natürlich mit der ersten Balance zwischen Fremd- und Selbstbestimmung in einer engen Verzahnung. Für den Zeitraum vom Ende des 18. Jahrhunderts bis zum Ende des 19. Jahrhunderts beziehen wir uns zunächst auf – im jeweiligen Bildungsklima vorläufig als typisch anzunehmende – Diskussionsbeiträge einzelner Personen (3). Dieser Untersuchungsteil kann wegen seiner kaum Repräsentativität produzierenden Methode nur als Hypothesenrahmen, sozusagen als ‚Pilotstudie’ angesehen werden. In den folgenden beiden Teilen beziehen wir uns auf die Ergebnisse einer breiter angelegten Inhaltsanalyse von Lehrerzeitschriften aus unserer Forschungsgruppe (4) sowie auf 2 Das Prinzip von ‚Rückkopplungsschleifen‘, ‚Feedback-Schleifen‘ und ‚Interdependenzunterbrechungen‘ in ‚Selbstreferenzschleifen‘ ‚reziproker Kausalität‘ o.ä. gehört mittlerweile in vielen Wissenschaften zum theoretischen Repertoire (vgl. z.B. PIAGET 1974, S.122-132; KANDEL 2007, S.285-307; WILLKE 1989, S.129,134; FLYNN 2008, S.128, 130). In unserem gesellschaftlichen Zusammenhang sprechen wir spezifischer von ‚Kommunikationsschleifen‘.
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eine kleinere inhaltsanalytische Untersuchung erziehungswissenschaftlicher Zeitschriften (5). In einer Schlussbetrachtung sollen die Ergebnisse thesenartig zusammengefasst werden (6). Zunächst sollen aber, als Indikatoren für die Analyseebene der Situationsentwicklung kollektiver Bildungsentscheidungen für unterschiedliche Bildungsorganisationen (Schulen, Hochschulen), unsere schon häufiger publizierten ‚Stufen‘ und ‚Langen Wellen‘ des Bildungswachstums als für unseren Zusammenhang erklärungskräftige Ergebnisse in aller gebotenen Kürze dargestellt werden (2). Eine solche Verbindung mit den Bildungsentscheidungen wird auch durch die Diskurse über Bildsamkeit, Bildungsfähigkeit oder Bildungsdisposition nahe gelegt, welche häufig gleichzeitig auch die gesellschaftliche Selektion und seit der Sattelzeit um 1800 auch zunehmend die gesellschaftliche Selektion durch das Bildungssystem thematisieren. 2
Zur Entwicklung der Bildungsentscheidungen (Situationsebene)
Die kollektiven Bildungsentscheidungen vieler einzelner oder über viele einzelne Personen folgen einem verblüffend regelmäßigen Muster, welches allerdings erst vor einem Zeithorizont von mehreren Generationen erkennbar ist: Das Bildungssystem wuchs in den letzten 200 Jahren – seit dem Übergang von der natürlichen, ständischen Selektion zur Bildungsselektion um 1800 – in regelmäßigen, ausgedehnten Schüben der relativen Beteiligung an weiterführenden Bildungsorganisationen. Solchen Schüben folgten jeweils weniger ausgedehnte Stagnationsphasen. Insgesamt ergibt diese Entwicklung des weiterführenden Bildungssystems einen Trend zur weitgehenden Öffnung der Bildungsselektion (Bildungswachstum). Dieser Trend kann als ein Indikator für die Modernisierung des Bildungssystems angesehen werden. Ein Ende dieses Trends ist noch nicht abzusehen (Abbildungen 13 und 2). Die Auslöser der Wachstumsschübe sind allgemeine Mangelphasen in den akademischen Karrieren. Die Beteiligung an der organisierten Bildung wird in diesen Phasen bis hinunter zum Zugang in die höheren Schulen – ja bis zur Beteiligung an organisierter Bildung überhaupt, bis zur Erfüllung der Schulpflicht im 19. Jahrhundert – attraktiv. Aus dieser Situationsentwicklung kann zunächst nur indirekt auf einen Bildungs- und Zukunftsoptimismus der entsprechenden Generationen geschlossen werden. In allgemeinen Überfüllungsphasen der akademischen Karrieren wird Bildung allgemein abgewertet und unattraktiv.
3 Durch die Logarithmierung der Werte wird die Verzerrung aufgehoben, welche sich durch die unterschiedlichen Ausgangsbasen der Wachstumsschübe ergeben. Dadurch sind die Entwicklungen auch der Kommunikation der Zeitgenossen näher.
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Abb. 1: Die Stufen des Bildungswachstums Relativer Besuch der höheren Schulen in Preußen und der BRD (alt) logarithmiert 1800-2007 1,6 1,5 1,4 1,3 1,2 1,1 1,0 0,9 0,8 0,7 0,6 0,5 0,4
Jungen
0,3
Mädchen
0,2 0,1 0,0 1800 1810 1820 1830 1840 1850 1860 1870 1880 1890 1900 1910 1920 1930 1940 1950 1960 1970 1980 1990 2000 2010
Solche Stagnationsphasen können als indirekter Indikator für Bildungs- und Zukunftspessimismus gelten. Wir sprechen in diesem Zusammenhang von einem wechselnden Selektionsklima, wenn es um die Beteiligung an berechtigender Bildung, bzw. von einem Bildungsklima, wenn es um die Beteiligung am Bildungssystem und den Wert von Bildung überhaupt geht. Wir können also Phasen von anscheinend zukunftsoptimistischen und –pessimistischen Selektions- und Bildungsklimata unterscheiden4. Abb. 2: Die langen Wellen des Bildungswachstums. Jährliche Wachstumsraten (10-jähriger gleitender Durchschnitt) der höheren Schüler- bzw. Studentenquote (m) in Prozent der relevanten Altergruppen in Preußen und der BRD (alt) 1810-2007
10,0 8,0 6,0 4,0 2,0 2006
1996
1986
1976
1966
1956
1946
1936
1926
1916
1906
1896
1886
1876
1866
1856
1846
1836
1826
1816
1806
1796
0,0 -2,0 -4,0 -6,0
wiss. Hochschulen (m) höhere Schulen (m)
-8,0
4 Diese Langen Wellen des Bildungswachstums sind 2006 in einem Gutachten des Zeitreihenanalytikers RAINER METZ von der Universität Köln mit neuen ökonometrischen Verfahren interdisziplinär bestätigt worden (vgl. METZ 2006).
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Schon diese langfristig orientierte Sicht auf die Langen Wellen des Bildungswachstums signalisiert, dass die einzelnen, intentional geleiteten Bildungsentscheidungen – aus denen diese prozessproduzierten Datenbestände ja zusammengesetzt sind – in ein relativ regelmäßiges Muster kollektiver Bildungsbeteiligungsströme überführt werden. Dieses Muster kann als Ganzes unmöglich intentional hergestellt sein – weder von den Beteiligten im Bildungssystem noch von der Bildungspolitik –, zumal diese Wellen für alle Beteiligten mit z.T. großen Problemen verbunden waren. Wir sprechen in diesem Zusammenhang von einer Eigendynamik des Bildungssystems (vgl. NATH 2000; NATH 2001; TITZE 2005; NATH/DARTENNE 2008). Schon diese indirekten Hinweise aus den Entscheidungsergebnissen deuten darauf hin, dass hier Intentionen eine Rolle gespielt haben. Da wir aber Intentionen nicht erfassen können, müssen wir uns auf öffentlich gewordene Diskursbeiträge und die hierin erkennbaren Deutungsmuster beschränken. Unsere Fragen sind also: Welche Rolle spielen Vorstellungen von Bildsamkeit, von Bildungsfähigkeit in diesem Kommunikationszusammenhang als Situationswahrnehmung bzw. als Forderungen zur Problembearbeitung? Wie verändern sich diese Vorstellungen in den relativ regelmäßig wechselnden Phasen und im Trend des Bildungswachstums? 3
Beiträge zur Bildsamkeit in den einzelnen Phasen bis zum Ende des 19. Jahrhunderts (Deutungsmusterebene)
In den 1780er und 1790er Jahren galt vor allem die soziale Aufstiegskarriere der evangelischen Theologen als ‚überfüllt‘. Diese akademische ‚Überfüllungskrise’ kann mit ihrem Abschreckungseffekt als auslösende Krise für den folgenden allgemeinen Mangel und die erste Schubphase des modernen Bildungswachstums zu Beginn des 19. Jahrhunderts gelten (vgl. NATH 2001). In dieser Situation entwickelte sich in Preußen und in ganz Norddeutschland eine Diskussion über die sogenannte ‚Studirsucht des gemeinen Mannes‘, in welcher Vorstellungen über Bildungsfähigkeit eine zentrale Rolle spielten (vgl. HERRLITZ 1973, S.65-79; JEISMANN 1974, S.37-45, 102-118; PAULSEN 1921, S.85-92; SCHWARTZ 1910, S.65-122; WIESE 1864, S.478f.). Forum für diese Diskussion waren die im Spätabsolutismus vermehrt erschienenen aufklärerischen Publikumszeitschriften und einzelnen Streitschriften, die als Sprachrohre des im 18. Jahrhundert entstandenen Bildungsbürgertums angesehen werden können (vgl. WEHLER 1987, S.210-217; GERTH 1976; VIERHAUS 1980; LUNDGREEN 1985; BOLLENBECK 1996). Die zahlreichen Beiträge über die Frage nach der Begrenzung des Universitätsstudiums sind von HANS-GEORG HERRLITZ 407
systematisch aufgearbeitet worden. Er kommt zu dem Schluss, dass die „überwiegende Mehrzahl“ dieser Diskussionsbeiträge ein übereinstimmendes Deutungsmuster erkennen lasse (HERRLITZ 1973, S.66). Als Beispiel für die ambivalenten Deutungsmuster zur Bildungsfähigkeit in dieser Übergangsphase zum modernen Bildungsdiskurs und zur modernen Bildungsselektion möchten wir hier die längere Streitschrift von CARL AUGUST BÖTTIGER, dem Rektor einer Lateinschule im damals noch kursächsischen Guben ausführlicher vorstellen. Diese Schrift kann u.E. für den mehrheitlichen Tenor dieser Diskussion als typisch gelten (BÖTTIGER 1789; HERRLITZ 1973, S.65-79). Schon im Titel „Ueber die besten Mittel, die Studirsucht derer, die zum Studiren keinen Beruf haben, zu hemmen“ wird deutlich, worum es BÖTTIGER geht: Er möchte angeblich Unberufene vom Studium an einer Universität fernhalten. Solche Ausgrenzung bezeichnet er, eindeutig negativ konnotiert, an anderer Stelle auch als „Studirschwindel“ bzw. als „Studirunfug“. Zu seinem Zweck sucht er, ganz im Sinne der utilitaristischen Spätaufklärung, rationale Argumente für den Einsatz brauchbarer Mittel. Als allgemeinen gesellschaftstheoretischen Hintergrund seiner Argumentation stellt BÖTTIGER zunächst dar, was er als den „Geist“ des „Zeitalters“ ansieht: Er beruft sich auf eine „allgemeine Erfahrung“, dass „Luxus mit seiner Stiefschwester, der Ueppigkeit, bis zu den Hütten der niedrigsten im Volke schon durchgedrungen, kurz die Universalkrankheit unsers Zeitalters sey.“ Und als Zitat des damals bekannten Aufklärers, des Leipziger Predigers GEORG JOACHIM ZOLLIKOFER fügt er an: „Fast niemand bleibt in seiner Sphäre. Alles sucht sich zu erheben, und mehr zu scheinen als er ist.“ Was sei also „natürlicher“, dass dieses so diffamierte Aufstiegsstreben „auch auf die Erziehung und auf die Bestimmung zu einer künftigen Lebensart übergeht, und was Wunder also, daß nun auch aus den gemeinen und niedrigen Ständen sich immer mehr zu den höhern durch die ihnen so bequem vorgelegte Leiter des Studirens hinandrängen, und daß Eltern dieser Stände, von der Modeseuche des Zeitalters angesteckt, ihre studirten Söhne wenigstens, da sie selbst nicht höher klettern können, zum Piedestal ihrer Zwerggestalt machen wollen. So sieht man manchen ehrlichen Handwerker und bürgerliche Nahrung treibenden Professionisten sich und seiner kummerleidenden Familie das Nothwendigste vom Maule abdarben und sich bis zur drückendsten Dürftigkeit erschöpfen, blos um durch seinen Sohn, den Natur und Umstände [Hvhbg. die Verf.] zum Metier des Vaters bestimmten, den Staat mit einem Halbgelehrten und Stümper mehr zu belästigen“ (BÖTTIGER 1789, S.12-15). Unter Berufung auf eine „allgemeine Erfahrung“, aber auch in Abkehr von übertrieben aufklärerischen Pädagogen, Philosophen und Ökonomen, stellt der Lateinschulrektor seine gesellschaftstheoretischen Implikationen dar: Die noch zaghafte Modernisierung der Gesellschaftsstruktur, die im Spätabsolutismus 408
beginnende Durchlässigkeit der ‚natürlichen‘ Standesgrenzen, sei schon bis zu den ‚niedrigsten‘ Ständen durchgesickert und nur aus niederen psychischen und materiellen Motiven zu erklären. Sie verweichliche die Gesellschaft, mache sie krank und gerade in ihren produktiven Ständen krisenanfällig. Als Vehikel dieses gesellschaftlichen Aufstiegsinteresses wird die beginnende moderne Bildungsselektion ausgemacht. In dieser Argumentation wird die defensive Einstellung eines Bildungsbürgers ‚nach unten‘ deutlich. Die vielen Studierenden aus ‚niedern Ständen‘ erscheinen in dieser statischen Gesellschaftsauffassung als Bedrohung des Status quo: „So viel bleibt doch auf jeden Fall ausgemacht, daß wenn nun diese Zahl (der Studierenden, die Verf.) zu dem Verhältnisse der Aemter, die der Staat zu besetzen hat, noch immer übergroß, die Einnahme der Aemter zu den jetzigen Bedürfnissen aber immer unzureichender, und das Register der Forderungen, die man an einen Studirenden macht und machen kann, immer länger ist; der Fall auch immer mißlicher und gefährlicher wird, wenn zu viele, und diese besonders aus den niedern und ärmern Ständen mit mittelmäßigen oder gar keinen Fähigkeiten [Hvhbg. die Verf.] sich dem Studiren widmen. Tausend unangenehme Folgen, die daraus für sie und andere entspringen müssen, liegen am Tage.“
Wer ein beschwerliches Studium auf sich nehmen möchte, bei dem müsse „Empfänglichkeit in der Seele da seyn …, die man auch mit dem Namen der Naturanlagen oder Geistesgaben [Hvhbg. die Verf.] bezeichnet, und die also die erste nothwendige und allervorzüglichste Erforderniß zum Gelehrtenstand ausmachen. Dies wird gewöhnlich so ausgedrückt: wer studiren will, muß natürliche Fähigkeit dazu haben.“ Die Studierenden sollten auch „einiges Vermögen“ haben. „Wo ist eigenes Beobachten und Nachdenken ohne Zeit und Muße, wo Privatfleiß, jene Seele des ganzen Studirens, ohne Hülfsmittel, wo Sittenverfeinerung und Cultur ohne Umgang mit den feinern Ständen möglich? Und wo erhält man dies alles ganz und unbekümmert ohne Geld?“ (ebd., S.16,19,20). Die Bedrohung des gesellschaftlichen Status des Bildungsbürgertums, die ‚unangenehmen Folgen‘ wurden vor allem in einem Missverhältnis von Angebot und Nachfrage in den modernen Staatskarrieren gesehen, in der ‚übergroßen‘ Studierendenzahl zu dem ‚Verhältnisse der Aemter‘. Hervorgerufen würde diese ‚Überfüllung‘ der akademischen Karrieren mit ‚Halbgelehrten und Stümpern‘ von den unfähigen Studienbewerbern aus den niederen, armen Ständen. Da sich die Fähigkeit zum Studieren vor allem aus ‚Naturanlagen‘ ergäbe, wurde von BÖTTIGER angenommen, dass diese ‚natürlichen Fähigkeiten‘ in den niederen Ständen nur selten zu finden wären. Mit dem Begriff der ‚Naturanlagen‘ wurde signalisiert, dass hier Fähigkeiten nur natürlich begrenzt vorhanden wären und nicht erworben werden könnten. Eine verschärfte Selektion zur Universität könnte sich also auf diese Begrenztheit berufen. Der Begriff der ‚Naturanlagen‘ hat 409
allerdings einen Haken. Er ist nur dann sinnvoll, wenn er auf das Individuum bezogen wird, also generell auf die Mitglieder aller Stände anzuwenden ist. So wurde von BÖTTIGER als weitere Studienvoraussetzung vorsichtshalber das Vorhandensein von ‚Vermögen‘ für erforderlich gehalten. Ohne genügende materielle Mittel könnte der Student weder ausreichend Zeit für seine Studien aufbringen noch sich im kulturellen Milieu der ‚feinern Stände‘ aufhalten. Letzteres wurde offenbar als eine wichtige sozialisatorische Vorbedingung für den Gelehrtenstand angesehen.5 Sollte sich nun ausnahmsweise doch einmal ein Armer mit „vorzüglichen“ „Naturanlagen“ zum Studium bewerben, dann könnte er allerdings nicht ohne weiteres zurückgehalten werden. Mittelmäßig oder schwach begabte Arme sollten allerdings „ohne Mitleid abgewiesen werden. Ebenso könnte im Gegentheil der schwache oder mir sehr mittelmäßige Kopf, wenn er mit vorzüglichen Glücksgütern versehen ist, nicht ohne Ungerechtigkeit vom Studiren ausgeschlossen werden“ (ebd., S.24f.). Hier wurde also neben den ‚natürlichen Fähigkeiten‘ in dieser spätabsolutistischen Phase noch offen mit dem Argument der sozialen und materiellen Differenz gesellschaftliche Selektion positiv legitimiert. Auf der anderen Seite wetterte BÖTTIGER geradezu gegen den „Nepotismus“, den „Aristokraten- und Patricierdruck“, der „jedem Verdienste Hohn bieten“ würde. „Aber der Vornehmere bringt ja den Beruf zu dem Stande seiner Eltern schon mit auf die Welt, empfängt die Gewißheit davon mit den ersten Hosen, wirft als Knabe, wo es nur einige Anstrengung gilt, schon mit Schulfüchsen und Pedanterey um sich, und berechnet bei jeder Schulstunde gar listig, ob er auch dies brauchen könne oder nicht? Daraus entsteht nothwendig jenes Hummelvolk, die nur summen, aber kein Honig bereiten können, jenes traurige Aftergeschlecht von oberflächlichen Halbwissern, Süßlingen und Papamännerchen, die ihre Blöße mit den oft auch sehr zweideutigen Verdiensten ihrer Väter decken, und wenn sie dadurch ein Amt ertrotzt, erschlichen oder erbettelt haben, sich selbst und anderen Menschen zur Pein und Quaal sind. Dem Staat liegt ferner daran, seine Aemter durch gesunde und arbeitsame Männer besetzt zu sehn.“ Der Staat bräuchte Männer, die „ächten deutschen Biedersinn und eine feste Ausdauerungskraft in ihren mühsamen, oft trocknen Berufsgeschäften“ mitbringen (ebd. S.56,58,61). Um vor allem den Ausschluss der mittelmäßig oder schwach begabten Armen verwirklichen zu können, forderte BÖTTIGER zwei „Mittel“: die Einführung
5 Hier wurde von CARL AUGUST BÖTTIGER offenbar schon früh so etwas wie PIÈRRE BOURDIEUs ‚gesellschaftlicher Habitus‘ festgestellt. Allerdings wird er nicht als eine Bedingung für unerwünschte soziale Ungleichheit kritisiert, sondern noch offensiv als Legitimation verschärfter sozialer Selektion argumentativ verwendet.
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staatlicher Prüfungen und die quantitative Reduzierung der für ein Universitätsstudium vorbereitenden „lateinischen Schulen in kleinern Städten“. Allerdings sollte nur derjenige geprüft werden, „der Ansprüche auf unmittelbare Unterstützung des Staats zu seinem Fortkommen auf Universitäten machen will, und dies sind gerade am meisten Arme und von gemeinen Eltern geborne Jünglinge, bey denen die Zulässigkeit zum Studiurn die größte Aufmerksamkeit erfordert...“ (ebd., S.86,88). Aus diesen hier ausführlicher wiedergegebenen Argumentationen über Bildsamkeit und Bildungsselektion wird die ambivalente Semantik der spätabsolutistisch-bildungsbürgerlich beherrschten Diskussion in dieser ‚Überfüllungskrise‘ der akademischen Karrieren als der Ausgangssituation des Übergangs zur Bildungsselektion und zur dauerhaften Etablierung unseres modernen Schulsystems u.E. exemplarisch deutlich. Einerseits wurde schon selbstverständlich davon ausgegangen, dass die Bewerber für höhere staatliche Stellen eine Bildungslaufbahn über die Universitäten absolviert haben müssten, und solche Ämter nicht mehr ohne weiteres altständisch aus dem Adel rekrutiert werden sollten. Aus dieser allmählichen Umstellung der Ämter-Besetzung von Geburts- auf Bildungsvoraussetzungen war im 18. Jahrhundert das Bildungsbürgertum als eine neuartige soziale Schicht und mit ihm eine erste soziale Mobilisierung entstanden. Der Begriff der ‚Bildsamkeit‘, hier verengt auf ‚natürliche Fähigkeiten‘, auf natürliche ‚Geistesgaben‘ als notwendigen Bildungsvoraussetzungen, wies zunächst mit seiner Implikation der universalistischen Individualisierung eine Selbstrekrutierung der alten Geburtsstände ab. Nicht zuletzt zeugt die Philippika gegen den Nepotismus des Adels von einer Forderung nach Öffnung der sozialen Auslese durch Bildungsselektion. Andererseits zeigt die Abwehr der sozialen Aufstiegswünsche der ‚niedern Stände‘ und deren Diffamierung ein traditional statisches Gesellschaftsverständnis. Diese Auffassung wurde mit einer sozial partikularistischen, als natürlich prädeterminiert begriffenen Bildsamkeit legitimiert. Von dieser wurde behauptet, dass sie in den unteren Ständen als mindere ‚Naturanlage‘ vererbt würde. Die zusätzliche Forderung nach dem Besitz von materiellen Gütern als umweltspezifische Bildungsvoraussetzung legt uns eine noch bildungsbürgerlichständische Orientierung offen. Diese Ambivalenz der Argumentation spiegelt die gesellschaftliche Zwischenstellung des hier öffentlich diskutierenden bildungsbürgerlichen Publikums in der als bedrohlich überfüllt angesehenen Situation der akademischen Karrieren, vor allem der evangelischen Theologenkarriere, am Ende des 18. Jahrhunderts wider: Für die eigenen Aufstiegsansprüche und gegen die Restitutionsansprüche des altständischen Adels und der Kirche wurde für eine individuelle 411
gesellschaftliche Selektion qua Bildung und Leistung durch den Staat plädiert. Gegen die Aufstiegsansprüche der ‚niederen Stände‘ wurden dagegen zusätzliche Legitimationen für bürgerlich-ständische Abgrenzungen mit den angeblich hier weitgehend fehlenden ‚natürlichen Fähigkeiten‘ angeführt. An diesem Beispiel des Lateinschulrektors BÖTTIGER wird deutlich, dass der Bildsamkeitsdiskurs aus der pädagogischen Praxis heraus schon an seinem Beginn am Ende des 18. Jahrhunderts partikularistisch und mit Anlage-UmweltArgumenten geführt wurde. Als situativer Hintergrund erscheint in diesem Selektionsdiskurs die Bedrohung des Bildungsbürgertums durch die akademische ‚Überfüllungskrise‘, für welche das soziale Aufstiegsstreben der ‚niederen Stände‘ verantwortlich gemacht wird. Unter anderem führte dieser Abschreckungsdiskurs bis etwa 1800 zu einem drastischen Rückgang der Studierendenzahlen vor allem der evangelischen Theologie. In dieser Zeit wurden vermehrt bildungsbürgerliche Stimmen laut, die beispielsweise artikulierten, dass es heiße, eine „offenbare Ungerechtigkeit an der Menschheit zu begehen“, wenn „die Niedrigkeit und Eingeschränktheit der äußern Umstände eines Menschen ihm ein absolutes Hindernis im Studiren seyn soll“ und nur noch „die Söhne der reichern und vornehmern Stände zum Studiren“ zugelassen würden. Gute „Fähigkeiten und Anlagen“ seien zwar sehr notwendig zum Studieren, aber ein Angehöriger aus den „sogenannten niedern Ständen“ könne aus seiner Lage „nur nachdrückliche Antriebe und Ermunterungen zur mehrern Anstrengung, zum gewissenhaften Fleiße bei Entwicklung und Ausbildung seiner Talente und Fähigkeiten“ gewinnen. (THÜMEN 1798, S.232f.) In diesem Text wird bereits ein deutlicher Wandel im Bildsamkeitsbegriff bemerkbar: Die ‚Fähigkeiten und Anlagen‘ wurden nicht nur auch in den bildungsferneren Sozialschichten vermutet, vielmehr wurden auch diese grundsätzlich für bildbar gehalten. Als der Mangel an Gebildeten nach 1800, also zu Beginn der ersten Phase des modernen Bildungswachstums, virulent wurde, gelang es den Reformern, den Bildungsdiskurs mit einem Begriff plastischerer Bildungsfähigkeit zu bestimmen. Wortführer dieses Diskurses waren WILHELM VON HUMBOLDT, vom Februar 1809 bis zum Juni 1810 erster Leiter der Sektion für Kultus und Unterricht, und FRIEDRICH DANIEL ERNST SCHLEIERMACHER, von 1810 bis 1815 Vorsitzender der Wissenschaftlichen Deputation. In seinem ‚Bericht der Sektion des Kultus und Unterrichts an den König‘ vom Dezember 1809 sowie im ‚Königsberger‘ und im ‚Litauischen Schulplan‘ vom September 1809 entwickelte HUMBOLDT seine berühmte Schultheorie: „Sie (die Sektion, die Verf.) berechnet ihren allgemeinen Schulplan auf die ganze Masse der Nation und sucht diejenige Entwicklung der menschlichen Kräfte zu befördern (Hvhbg. die Verf.) welche allen Ständen gleich notwendig ist und an welche die zu jedem einzelnen Beruf nöthigen Fertigkeiten und Kenntnisse leicht angeknüpft werden können. Ihr Bemühen ist da-
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her, den stufenartig verschiedenen Schulen eine solche Einrichtung zu geben, dass jeder Unterthan Ew. Königl. Majestät darin zum sittlichen Menschen und guten Bürger gebildet [Hvhbg. die Verf.] werden könne, wie es ihm seine Verhältnisse erlauben, allein keiner den Unterricht, dem er sich widmet, auf eine Weise empfange, die ihm für sein übriges Leben unfruchtbar und unnötig werde; welches dadurch zu erreichen steht, dass man bei der Methode des Unterrichts nicht sowohl darauf sehe, dass dieses oder jenes gelernt, sondern in dem Lernen das Gedächtniss geübt, der Verstand geschärft, das Urtheil berichtigt, das sittliche Gefühl verfeinert werde... Es giebt schlechterdings gewisse Kenntnisse, die allgemein sein müssen, und noch mehr eine gewisse Bildung der Gesinnungen und des Charakters, die keinem fehlen darf. Jeder ist offenbar nur dann ein guter Handwerker, Kaufmann, Soldat und Geschäftsmann, wenn er an sich und ohne Hinsicht auf seinen besonderen Beruf ein guter, anständiger, seinem Stande nach aufgeklärter Mensch und Bürger ist“ (HUMBOLDT 1964, S.217f.).
Im Königsberger und im Litauischen Schulplan begründete HUMBOLDT seinen stufenmäßigen Schulaufbau, ausgehend von der sozial allgemeinen, mit der didaktisch allgemeinen Menschenbildung und mit einer jedem Individuum zur Verfügung stehenden Bildungsfähigkeit: „Dieser gesammte Unterricht kennt daher auch nur Ein und dasselbe Fundament. Denn der gemeinste Tagelöhner, und der am feinsten Ausgebildete muss in seinem Gemüth ursprünglich gleich gestimmt werden, wenn jener nicht unter der Menschenwürde roh, und dieser nicht unter der Menschenkraft sentimental, chimärisch, und verschroben werden soll… Die Gränze des Unterrichts, da wo derselbe nicht seinen Endpunkt, die Universität, als die Emancipation vom eigentlichen Lehren ... erreicht, kann nun durch nichts anderes bestimmt werden, als die zu allem Unterricht nöthigen Bedingungen Kraft und Zeit. Soweit der Schüler das eine hergiebt, und zum andern Mittel hat [Hvhbg. die Verf.], so weit kann der Lehrer ihn führen, und soweit muss der Staat dafür sorgen, dass er gebracht werden könne“ (ebd., S.189f.).
Theoretisch – mit HUMBOLDT: ‚philosophisch‘ – begründete er seine wenig negativ selektive Schulstruktur sozial übergreifend und mit einem Begriff von Bildsamkeit, einer Bildungsfähigkeit, einer inneren ‚Kraft‘, die jeder zu geben in der Lage sei, wenn er nur genügend Zeit und entsprechende Mittel aufbringen könnte. Die allgemeine Menschenbildung sei „allen Ständen gleich notwendig“, so dass der „gemeinste Tagelöhner und der am feinsten Ausgebildete ... in seinem Gemüth ursprünglich gleich gestimmt werden“ müsste. Man dürfe nicht „eine doppelte Classe von Menschen im Auge“ haben (ebd., S.172). Dazu setzte HUMBOLDT die Kraft des Schülers als personale Bildungsmöglichkeit voraus. Sie gelte es bis zu einer „allgemeinen Bildung des Gemüths in jeder Epoche“ des Schulunterrichts zu entwickeln. Soweit diese Kraft des Schülers trage, sollen Lehrer und Staat ihn zu bringen versuchen. Da die „Bestimmung eines Kindes oft sehr lange unentschieden“ bleibe, solle der Fortgang des Unterrichts „nicht übereil(t)“ werden, „denn die Entwicklung erfordert ihre natürliche Weile“ (ebd. S.173). HUMBOLDT ging hier vom Prinzip einer plastischen Bildsamkeit, von einer ruhigen Entwicklungsfähigkeit der Kräfte des Menschen 413
aus und setzte sich damit von dem prädeterministischen und sozial partikularistischen Bildsamkeitsbegriff geistiger ‚Naturanlagen‘ der vorherigen Epoche deutlich ab. Im Gegensatz zu HUMBOLDT, der sich nur relativ kurz mit der Problematik des Bildungswesens befasst hatte, erstreckte sich diese Beschäftigung bei SCHLEIERMACHER vom Ende des 18. Jahrhunderts (als Mitglied in FRIEDRICH GEDIKES Seminar) bis in die 1820er Jahre. In seinem Staatsartikel von 1814 machte SCHLEIERMACHER zunächst seine Gedanken zur sozialen Auslese über das Schulwesen in sehr deutlichen Worten klar. Nur derjenige Staat sei zu rechtfertigen, welcher die Differenz zwischen Adel und Bürgertum langsam zu überwinden versuche: „Große Ähnlichkeit mit dem Verhältnis zweier ... ursprünglich ungleichartiger Stämme hat in unsern Verfassungen das Verhältnis des Adels zum Bürgerstande. Sollte man nicht sagen können, daß eigentlich die Ausgleichung zwischen beiden mit Sicherheit da beginne, wo beide an demselben Erziehungssystem teilnehmen und in keiner Beziehung mehr besondere Anstalten getroffen werden, einen auszeichnenden Charakter des Adels in dem heranwachsenden Geschlecht weder durch eigne öffentliche Bildungsanstalten noch durch Ausschließung von den nur für den Bürgerstand gestifteten hervorzurufen? ... [W]enn irgendwo eine Regierung die Erziehung des ganzen Volkes nach einer solchen Maxime verwaltet wie die aristokratische Regierung die des niederen Standes, ... so ist sie für vollkommen tyrannisch zu halten ...“ „Kommt aber beides in einem Moment zusammen, Unterdrückung des unteren Standes durch die Erziehung und falsche künstliche Hebung des oberen: so ist das Verderben vollendet, und nur eine besonders waltende Vorsehung kann verhüten, daß entweder gänzliche Auflösung erfolge oder gewaltsame Reaktion. Denn durch Zerstörung des naturgemäßen Erziehungsganges wird ein Volk in seinen innersten Tiefen erschüttert“ (SCHLEIERMACHER 1957, Bd. 2, S.164, 162f.). In seinen Pädagogischen Vorlesungen von 1826 nahm SCHLEIERMACHER zu den Möglichkeiten der Erziehung Stellung, wenn ihre sozialen Beschränkungen fielen: „Wenn wir von dem Faktum ausgehen, daß die Ungleichheit der Menschen in dieser Beziehung, d.h. in der intellektuellen Kapazität ([Hvhbg. die Verf.] verschwindet, sobald die verschiedenen Klassen der Gesellschaft in Berührung kommen, so ist der von uns aufgestellte Kanon moralisch notwendig. Denn es wäre frevelhaft, die Erziehung so anzuordnen, daß die Ungleichheit absichtlich und gewaltsam festgehalten wird auf dem Punkt, auf welchem sie steht. Dies würde eine Hemmung der menschlichen Natur verraten. Was aber der Fortschreitung der menschlichen Natur entgegenwirkt, das streitet auch gegen die Idee des Guten“ (ebd., Bd. 1, S.41f.).
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Weiter führte SCHLEIERMACHER hier zum allgemeinen Erziehungsbegriff und seinen sozialen und personalen Implikationen aus: „Soll die Schule nur Unterrichtsanstalt sein, oder auch Erziehungsanstalt im engeren Sinne des Wortes? Die Frage kommt mir wunderlich vor. Betrachtet man den Unterricht rein von seiner materiellen Seite, dann läßt sich noch begreifen, wie man die Frage aufwerfen kann, weil er so als etwas rein in sich abgeschlossenes erscheint. Aber betrachten wir ihn in seiner formalen Beziehung, ... so ist er wesentlicher Teil der Erziehung. Denn die Erziehung ist ja nichts anderes als Entwicklung der Kräfte [Hvhbg. die Verf.], vermöge deren Tätigkeiten und Fertigkeiten eingeübt und Kenntnisse erlangt werden. Davon kann also gar nicht die Rede sein, daß die Schule nicht auch Erziehungsanstalt sei. Wäre der Unterricht bloß von seiner materiellen Seite zu betrachten, so würde der schlechteste Mechanismus dominieren.“ Ohne Kraftentwicklung kämen nur „tote Kenntnisse und Fertigkeiten“ zustande. Die Schule habe es daher insgesamt „mit dem allgemein Menschlichen zu tun, mit dem, was der Mensch unabhängig von seinem Geschäft, überhaupt und im Gesamtleben sein soll.“ Und die Hauptsache wäre, „daß die Erziehung ein gleichmachendes Prinzip ist, und also gegenwirkend gegen die sich fortwährend entwickelnde Ungleichheit. Gleichmachend ist sie aber nur insofern sie erhebend ist, die niedere Klasse der höheren nähernd“ (ebd., Bd. 1, S.233, 236, 246, 280). Zunächst forderte SCHLEIERMACHER also in deutlicher sozialpolitischer Polemik die Einbindung des Adels in die bürgerliche Erziehung, da sonst der Staat in ‚gänzliche Auflösung‘ gestürzt oder einer ‚gewaltsamen Reaktion‘ des ‚unteren Standes‘ ausgeliefert würde. Nur die Reform, die Abschaffung der geburtsständischen Privilegien durch Integration der adeligen Söhne in die ‚öffentlichen Bildungsanstalten‘, könne Chaos oder Revolution verhindern. Zudem sei, vom Ausgangspunkt der schwindenden Differenz der ‚intellektuellen Kapazität‘ mit der Integration der gesellschaftlichen Klassen, die Erziehung ‚so anzuordnen‘, dass die Ungleichheit nicht gewaltsam festgehalten würde. SCHLEIERMACHER ging hier also in anthropologischer Hinwendung davon aus, dass die erzieherisch zu ermöglichende allgemein menschliche ‚Entwicklung der Kräfte‘ der einzelnen Person durch Erziehung auch zu Veränderungen in der sozialen Selektion führen könne. Wenn hier von ‚Natur‘ die Rede ist, dann ist damit universalistisch die menschliche Natur gemeint. Bei SCHLEIERMACHER steht die Ermöglichung der Bildsamkeit durch Erziehung, bei HUMBOLDT die Möglichkeit des Sich-Bildens im Vordergrund. Beide aber entwickeln einen universalistischen Begriff der Bildsamkeit bzw. der Bildungsfähigkeit als Entwicklungsfähigkeit bzw. als Hingabefähigkeit von inneren Kräften. Diese Offenheit der Bildungsmöglichkeit wird zur selben Zeit von FRIEDRICH VON SCHILLER, JOHANN WOLFGANG VON GOETHE, JOHANN HEIN415
RICH PESTALOZZI oder JOHANN GOTTLIEB FICHTE auch als ‚Einbildungskraft‘ bezeichnet (vgl. SAFRANSKI 2009, S.120,143,191; PESTALOZZI 1983, S.61). Eine solche Vorstellung ist offenbar typisch für diese Reformgeneration in der ersten Schubphase des modernen Bildungswachstums. In den Diskurs dieser Reformgeneration gehört auch HERBART. Dieser formuliert 1814 einen plastischen, universalistischen Bildsamkeitsbegriff: Wer die „Bildsamkeit des Menschen in der menschlichen Natur selbst nach ihren allgemeinen Hauptzügen gegründet findet und das Äußere für etwas Mitwirkendes hält“, der gehe fälschlicherweise von festen Vorbestimmungen aus. Denn – so HERBART 1835 – der Begriff der „Bildsamkeit“ zeige ein „Übergehen von der Unbestimmtheit zur Festigkeit“. Zudem hänge die Bildsamkeit nicht von „ursprünglich verschiedenen Vermögen der Seele ab, wohl aber von … schon erworbenen Vorstellungsmassen“. Die „Pädagogik“ dürfe allerdings auch nicht von einer „unbegrenzten Bildsamkeit“ ausgehen; „diesen Irrtum“ werde die „Psychologie“ verhindern, denn die „Bestimmbarkeit durch Erziehung“ werde beschränkt durch die „Individualität“ und „Umstände der Lage und der Zeit“ (HERBART 1982, S.71, 165f.). In diesem Reformdiskurs bezieht HERBART schon zu beiden der oben genannten Balancen des Bildsamkeitsbegriffs Stellung: Er thematisiert sowohl die Balance zwischen Fremd- und Selbstbestimmung (Erziehung und Individualität) als auch die zwischen Vorbestimmung und Plastizität unter wandelbaren Umweltbedingungen. In der letztgenannten Balance geht HERBART allerdings davon aus, dass eine gewisse Vorbestimmung von vorher „erworbenen Vorstellungsmassen“ geprägt sei6. Zudem klinkt sich HERBART hier schon in die ‚Anlage-Umwelt-Debatte‘ der empirisch orientierten Bezugswissenschaft Psychologie ein, in der er allerdings die ‚erworbene‘ ‚Individualität‘ als Begrenzung des Eingriffs von außen durch Erziehung in den Vordergrund rückt. Dass dieser Reformdiskurs nur eine Episode blieb, zeigte sich schon in der Endphase des Bildungswachstumsschubs. Zum Beispiel formulierte LUDOLPH VON BECKEDORFF – gerade Leiter der Volksschulabteilung im preußischen Kultusministerium geworden – 1820 schon wieder einen sozial partikularen, ständisch orientierten Begriff von Bildungsfähigkeit und Bildungsnotwendigkeit: „Daß Geschlecht, Alter, Kräfte, Neigungen, Talente und vor allen Dingen der einmal ungleich ausgeteilte Besitz eine natürliche Verschiedenheit unter allen einzelnen begründet, ist nicht wegzuleugnen. (…) …alle diese natürlich Ungleichen durch einen kurzen Beschluß als künstlich Gleiche“ anzunehmen, sei „ein Auflehnen gegen die Ordnung der Natur“. Für „die Erziehung“ folge daraus, 6 Diese Vorstellungen JOHANN FRIEDRICH HERBARTs erinnern schon stark an die Forschungsergebnisse JEAN PIAGETS, an die im Lebenslauf aufgebaute ‚innere Struktur‘ und das Erkenntniswachstum durch die ständige Gleichgewichtssuche zwischen der inneren Struktur und den Einflüssen der Umwelt, worunter auch die Erziehung fällt.
416
dass es „nicht auf eine allgemeine und gleichartige Volksbildung“ ankomme, „sondern darauf, dass ein jeder zu dem Stande und Berufe … von früher Kindheit auf … vorgebildet werde“ (BECKEDORFF 1966, S.223-228). In der neuerlich beginnenden Stagnationsphase und allgemeinen akademischen Überfüllungskrise in den 1830er Jahren wurde ein solcher sozial partikularer und an festen Naturanlagen orientierter Bildsamkeitsbegriff z.B. sowohl in einem Cirkular-Rescript [C.R.] des preußischen Kultusministeriums von 1828, in einem C.R. des Schulkollegiums der Provinz Brandenburg von 1836 und in der Maturitäts-Verordnung des Königreichs Hannover von 1829 aufgegriffen. So heißt es in einem C.R. des preußischen Kultusministers von 1828, dass schon aus den unteren Klassen des Gymnasiums Schüler „wegen Mangels an Fähigkeit und Fleiß“ relegiert werden sollten, „da der Andrang junger Leute ohne Mittel und Beruf zum Studiren und zum Staatsdienste dies nöthig“ mache (RÖNNE 1990, S.199). Der hannoversche König verordnete 1829 eine Abiturprüfung, zu deren Begründung es heißt: Es werden „die Fälle immer häufiger .., dass Jünglinge aus solchen Ständen, denen es zu einer für den Beruf des Gelehrten nöthigen Ausbildung der Sitten und Kenntnisse ihrer Kinder an Gelegenheit und Mitteln fehlt, durch falsche Ansichten geleitet, dem gelehrten Stande“ zugeführt würden. Und den „Vorstehern und Lehrern der gelehrten Schulen“ wurde „zur unverbrüchlichen Pflicht“ gemacht, „die Söhne armer Eltern zum Studiren nicht zu ermuntern, wenn sie nicht vorzügliche Fähigkeiten entwickeln“ (KÖNIGL. HANNÖV. VERORDNUNG 1829). Und das brandenburgische Schulkollegium schrieb 1836 an die „gelehrten Schulen“, dass wegen der Überfüllung der akademischen Karrieren „die noch auf den Schulen befindlichen jungen Leute, welche ohne hinlängliches Vermögen oder vorzügliche Anlagen sich dem Studium“ widmeten, zurückgehalten werden müssten (RÖNNE 1990, S.199). Der Text des preußischen Abiturreglements von 1834 wurde dagegen vollkommen formal und universalistisch abgefasst. Hier hatte sich – im Gegensatz zum Königreich Hannover – schon ein meritokratisches Denken durchgesetzt; ein Rückfall in die spätabsolutistischen Muster einer ständischen Naturdeterminiertheit war also vermieden worden7. Der Zugang zu den Universitäten war in Preußen seit diesem Reglement zumindest formal für jeden Aspiranten als Bildungsselektion organisiert (RÖNNE 1990, S.259-292; vgl. TITZE 1990, S.197228). Auch wenn es im Vormärz nicht gelungen war, mit Hilfe des neuerlichen Diskurses naturbedingter, minderer Bildungsfähigkeit vor allem der ‚Söhne ar7 Lediglich der konservative Justizminister KARL ALBERT VON KAMPTZ hatte sich in einem Gutachten gegen eine obligatorische Schulprüfung ausgesprochen, da sie zu tief in die Freiheiten der Eltern für Privatunterricht – also auch in die Rechte des Adels – eingriffe. KAMPTZ hatte sich als einzige Gegenstimme im Kabinett nicht mehr durchsetzen können (vgl. PAULSEN 1921, S.349).
417
mer Eltern‘, den relativen Besuch der höheren Schulen und Universitäten – auch nicht in den bildungsferneren Schichten der Bevölkerung – unter denjenigen um 1800 zu drücken, reichte doch der Kommunikationszirkel zwischen der Situation schlechter Berufsaussichten in den akademischen Karrieren mit der entsprechenden Bildungsrezession und dem sozial partikularistischen Bildsamkeitsdiskurs aus, den nächsten Mangel an Gebildeten und den Beginn einer neuerlichen Wachstumsphase der Bildungsbeteiligung auszulösen (vgl. NATH 2000; NATH 2001). In dieser Optimismus signalisierenden Situation der 1860er und 1870er Jahre begann wieder ein reformorientierter Diskurs offenerer Bildsamkeit, welcher in Preußen auch die ‚Reformära FALK‘ beherrschte und welcher in Sachsen sogar zum ersten Durchbruch der hohen Schranken zwischen den niederen und höheren Schulen führte. Hier durften sich seit 1865 die guten Absolventen des Volksschullehrerseminars für das Lehramt an höheren Bürger- und Realschulen an den Pädagogischen Instituten der Universität Leipzig und der Polytechnischen Hochschule Dresden immatrikulieren. Eine solche Berechtigung wurde z.B. in Preußen 1871 lediglich den Abiturienten der Realgymnasien ermöglicht – auch schon eine erste Öffnung des Monopols altsprachlicher Gymnasien von 1834 zur Vergabe der Immatrikulationsberechtigung an Universitäten. Die sächsischen Seminare hatten also schon in dieser zweiten modernen Wachstumsphase der Bildungsbeteiligung den Charakter einer höheren ‚Aufbauschule‘ bekommen – eine Schulform, welche die anderen deutschen Staaten erst in der nächsten Wachstumsphase als Nachfolgeanstalt der Lehrerseminare gründeten. Als ein herausragender Exponent dieses Diskurses offener Bildsamkeit kann ADOLPH DIESTERWEG identifiziert werden. Der weithin bekannte Pädagoge wurde 1850 in der Reaktionszeit wegen seiner aktiven Beteiligung an der Revolution von 1848 – u.a. war er exponiertes Mitglied des Paulskirchenparlaments gewesen – als Direktor eines Volksschullehrerseminars entlassen und war von 1858 bis 1866 Abgeordneter der sozialliberalen Fortschrittspartei im preußischen Landtag. In seinem ‚Hamburger Schulplan‘ von 1866 fasst er seine pädagogischen Grundsätze als ‚Volksbildner‘ noch einmal zusammen: „Die Kinder werden gleich geboren; individuelle Verschiedenheiten finden in unendlicher Mannigfaltigkeit statt; aber noch kein Physiolog hat generische Unterschiede nach der Verschiedenheit des Standes, des Vermögens, der Beschäftigung der Eltern nachzuweisen vermocht; …Das höchste Ziel der durch die Natur indizierten menschlichen Bestimmung ist … vernünftige Ausbildung, und das unentbehrlichste Mittel dazu ist Entwicklung und Bildung der Kräfte des Menschen im Alter der Entwicklung… Die Gesellschaft übernimmt die Aufgabe der Entwicklung der von Natur aus gleichen Anlagen … durch Darbietung der gleichen Bil418
dungsmittel an alle im gleichen Maße Bildungsbedürftigen“ (Hvhbg. die Verf.). „Der Begriff der Gleichberechtigung ist damit nicht erfüllt, dass man jedem gestattet, seine Kräfte frei zu gebrauchen. Was nützt ihm diese Berechtigung, wenn man ihm nicht zur Entwicklung dieser Kräfte verholfen hat?“ Dazu bedürfe es der „Vereinigung der Jugend aller Stände in denselben Anstalten, …“ Erst wenn durch diesen Bildungsprozess, durch die in dem Menschen „ausgebildeten Kräfte“ eine „individuelle Begabung“ (letzte Hvhbg. die Verf.) aufgebaut sei, könne und solle er seine „Lebenszwecke … frei wählen“ (DIESTERWEG 1982, S.121f.). DIESTERWEG ging einerseits von naturbestimmten, aber ‚gleichen Anlagen‘ aus. Diese gelte es durch ‚Bildung der Kräfte des Menschen‘ – also mit der Vorstellung einer Plastizität der Bildungsfähigkeit – zu entwickeln. Andererseits betonte er nicht nur die Balance zwischen dem freien Gebrauch der Kräfte und der Bildungsbedürftigkeit, zwischen Selbst- und Fremdbildung, sondern forderte zusätzlich – im Unterschied zu den Bildungsreformern vom Beginn des 19. Jahrhunderts – die Notwendigkeit einer sozialen Unterstützung. Auch wenn im Bildsamkeitsverständnis DIESTERWEGs die Bildungsbedürftigkeit, also eher eine gewisse Fremdbestimmung, im Vordergrund steht und ein deutlicher Naturalismus LUDWIG FEUERBACHscher zu bemerken ist, so werden beide doch entschieden universalistisch aufgefasst. Der hier unseres Wissens schon sehr früh auftauchende Begriff der ‚Begabung‘ wird nicht als Naturbestimmung, sondern ‚dynamisch‘ als Ergebnis eines Bildungsprozesses aufgefasst. In den 1880er und 1890er Jahren können wir wieder eine Stagnationssituation in der Beteiligung an weiterführender Bildung konstatieren. Diese Phase wurde wieder von einem prädeterministischeren und partikularistischeren Bildsamkeitsdiskurs begleitet. Exemplarisch für diesen ‚Überfüllungsdiskurs‘ sollen die Deutungen und Forderungen des Nationalökonoms und Bildungsstatistikers JOHANNES CONRAD herausgegriffen werden. Dessen Publikation ‚Das Universitätsstudium in Deutschland während der letzten 50 Jahre‘ von 1884 fand in der Öffentlichkeit und im preußischen Landtag starke Beachtung (vgl. HERRLITZ/ TITZE 1976; MÜLLER 1977; TITZE 1990). Zunächst schlug CONRAD wegen der „Überfüllung der Universitäten“ und der akademischen Berufe eine organisatorische Verschärfung des negativen Ausschlusses durch die Verminderung der Zahl vollberechtigender, altsprachlicher Gymnasien sowie die weitere Gründung nichtberechtigender „Mittelschulen“ und eine „ausreichende Erhöhung des Schulgeldes“ vor. Denn „es muss als dringend geboten erscheinen, den Strom von den Gymnasien abzuleiten …“ Er sprach sich gegen eine „demokratische Richtung“ aus, welche es für ihre „Hauptkulturaufgabe“ halte, „Schulbildung überall zu verbreiten und so weit wie möglich zu erhöhen, deshalb auch die höhern Schulen so viel wie möglich Allen 419
zugänglich zu machen“. Dagegen befürwortete er eine „aristokratische Richtung“, welche zwar die nichtberechtigenden „Elementarschulen Allen zugänglich“ mache, aber die „übergroße Zahl“ von den höheren Schulen fernhalten will, „da die höhere Bildung nicht von Allen angemessen verwertet werden kann und sogar zum Unheil ausschlägt, wenn sie über die Wohlstandsverhältnisse hinausgeht“. Es liege nun der „Einwand nahe, dass es dadurch den ärmern Klassen fast unmöglich würde, sich zu einer höhern Stufe emporzuschwingen, dass die Gymnasien immer ausschließlicher der Geldaristokratie vorbehalten bleiben, was als Härte und Ungerechtigkeit anzusehen sei. Die Ungerechtigkeit bestreiten wir, da unter unsern Verhältnissen der Segen ein sehr geringer ist, wenn mittelmäßige Naturen [Hvhbg. i.O.] sich durch Opfer und Entbehrungen aller Art in eine gesellschaftliche Sphäre emporarbeiten, wo sie sich vielfach überhaupt nicht völlig akklimatisieren. […] Wenn in unserer Zeit eine große Zahl nicht zum Studium beanlagter Naturen, die vorzüglich für ein Handwerk geeignet wären“, zu gesellschaftlich inakzeptablen Akademikern würden, so komme der „objektive Beobachter unzweifelhaft zu dem Resultate, es wäre besser gewesen, sie wären ihrer Bestimmung für praktische Aufgaben gefolgt.“ Dagegen wäre es in der schlechten Arbeitsmarktsituation für Akademiker „eine Härte, wenn auch dem sich über die Mittelmäßigkeit in theoretischer Begabung erhebenden … der Weg versperrt würde“. „Wirklich begabte“ „ärmere Schüler“ [Hvhbg. die Verf.] könnten nur die akademische Laufbahn einschlagen, wenn sie in „Alumnaten“ also „in guten Erziehungsanstalten nach allen Richtungen für den gelehrten Lebensberuf erzogen“ [Hvhbg. i.O.] würden (CONRAD 1884, S.228-230). Wie von den Autoren in den vorherigen Stagnationsphasen der Bildungsbeteiligung auch, wird hier von CONRAD zunächst die Verschärfung des negativen Ausschlusses durch Verminderung der berechtigenden höheren Schulen und durch Ableitung an nicht berechtigende Schulen gefordert. Legitimiert wird diese Selektionsverschärfung mit der Vorstellung einer sozial unterschiedlich prädeterminierten Bildungsfähigkeit. Vor allem in den bildungsferneren ‚ärmeren Klassen‘ sei ein Mangel an ‚beanlagten Naturen‘ festzustellen. Wie schon DIESTERWEG verwendet CONRAD den Begriff der ‚Begabung‘, aber nicht wie DIESTERWEG als durch Bildung aufgebautes Können vor allem der erwachsenen Menschen, sondern als natürlich vorbestimmte, sozial unterschiedliche Bildungsmöglichkeit. CONRAD entwickelt in seiner Schrift schon zwei Begabungstypen: Die ‚theoretische Begabung‘, für welche die höheren Schulen und eine praktische Begabung, eine ‚Bestimmung für praktische Aufgaben‘, für welche die Volksschulen vorgesehen wären. In der für Stagnationsphasen typischerweise verschärften Selektionssituation reduzierte sich zwar wieder die relative Beteiligung an weiterführender Bildung. Sie blieb aber wiederum auf einem höheren Niveau als am Beginn der 420
Wachstumsphase in den 1850er Jahren. Der Diskurs partikular-prädeterministischer Bildsamkeit und die damit verbundene statische Gesellschaftsauffassung hatten es nicht vermocht, die Bildungsdynamik einer schon modernisierten Gesellschaft entscheidend zu stoppen (vgl. TITZE 1990; MÜLLER-BENEDICT 1991, S.48-50). Die Rekonstruktion des Bildsamkeitsdiskurses anhand von, als jeweils typisch angesehenen, einzelnen Texten möchten wir hier beenden. Im Zusammenspiel von Diskurs- und Situationsentwicklung lassen sich zunächst folgende Hypothesen bilden: Dieser Diskurs ist anscheinend von Beginn an, seit dem Ende des 18. Jahrhunderts, vor allem von der Frage der Bildungsfähigkeit, von der Balance zwischen partikularistischer, naturbedingter Prädetermination und universalistischer, umweltbeeinflussbarer – und damit auch durch Erziehung erreichbarer – Plastizität bestimmt. Zudem lassen sich deutliche Konjunkturen der Verlagerung in dieser Balance ausmachen. In den Wachstumsphasen der relativen Bildungsbeteiligung neigt sich das Schwergewicht in die Richtung einer sozial universalistischen Plastizität, während am Ende solcher Phasen der Bildungsexpansion und vor allem in den Stagnationsphasen das Pendel zur Vorstellung einer sozial unterscheidenden, natürlichen Vorbestimmtheit ausschlägt. Vom Ende des 18. bis zum Ende des 19. Jahrhunderts wurden in den Selektionsdiskussionen der Stagnationsphasen nicht nur solche personal unterschiedlich verteilten Bildungsdispositionen, sondern auch immer noch soziale Habitusdefizite und fehlende materielle Ressourcen bildungsfernerer und ‚ärmerer‘ Stände und Klassen öffentlich als positive Argumente für einen Ausschluss ins Feld geführt. Ob im Bildsamkeitsdiskurs auch jeweils Zwischentöne von Minderheiten zu hören waren, oder ob sich im Zuge des Wachstumstrends auch in den Stagnationsphasen wegen ihres jeweils höheren Niveaus der Bildungsbeteiligung auch zunehmend Minderheiten mit einem offeneren Bildsamkeitsbegriff artikulierten, kann mit dieser kleinen Pilotstudie einzelner Texte nicht beantwortet werden. Solche Antworten können u.E. vornehmlich in breiter angelegten Untersuchungen von seriellen Diskursträgern wie Zeitschriften, Lexika, Parlamentsprotokollen etc. mit Hilfe quantifizierbarer, inhaltanalytischer Methoden gegeben werden, wie sie in den folgenden beiden Abschnitten kurz vorgestellt werden. 4
Zum Bildungsfähigkeitsdiskurs von Lehrergenerationen 1884 bis 1993
Mit dem Bedeutungszuwachs der Bildungsselektion in der Gesellschaft gewann auch die Rolle der Lehrer für die Bildung des Lebenslaufs jedes einzelnen Schü421
lers an Gewicht. Die Reflexionen dieser Lehrkräfte über die Bildungsselektion stehen in einem engen Zusammenhang mit ihren pädagogischen Einstellungen, ihren konkreten Handlungen und damit auch dem konkreten Bildungsprozess als Interaktionsprozess in der Schule. Die Relevanz des Wissens über die Entwicklungen und Entwicklungsbedingungen des tatsächlichen kollektiven Lehrerdiskurses zur schulischen Bildung, zur Bildsamkeit ist also offensichtlich. Da wir natürlich nicht (mehr) die Lehrerdiskussionen in den historischen Klassenzimmern belauschen können, haben wir entschieden, uns diesem Diskurs über die Äußerungen von Lehrern in der Lehrerverbandspresse anzunähern. Wir gehen also davon aus, dass dieser Diskurs – zumindest im Verlaufsmuster – als annähernd repräsentativ für die jeweiligen Lehrergruppen angesehen werden kann. (vgl. NATH/DARTENNE/OELERICH 2004; NATH 2004; DARTENNE 2006; NATH/DARTENNE 2008). Mit Hilfe einer kategoriengeleiteten Inhaltsanalyse von 2.374 (aus 3.315 gelesenen) als relevant erkannten Artikeln der Lehrerverbandspresse für den Zeitraum 1884 bis 1993 konnten wir feststellen, dass Lehrer an höheren Schulen (Philologen) und Volksschullehrer (seit den 1960er Jahren: Grund- und Hauptschullehrer) generations- und organisationsspezifische Diskurse zur Bildungsselektion führen. Aus zehn untersuchten Kategorien seien hier die Vorstellungen zur Bildungsfähigkeit, zur Begabung der Schüler und zur Schulstruktur als hier interessierende Beispiele ausgewählt. Die Bildungsfähigkeitsvorstellungen der Lehrer von Volks- und höheren Schulen (in 1.263 oder 53% der relevanten Artikel zur Bildungsselektion) lassen ein deutliches Schwingungsprofil nach den sechs unterschiedenen Graden im Spektrum der Balance zwischen naturbedingter Prädetermination (geschlossener) und umwelt- und damit auch erziehungsbeeinflussbarer Plastizität (offener) erkennen (Abbildungen 3, 4, und 5).
422
100
Abb. 3: Diskursprofil der Lehrer zur Bildungsfähigkeit in Prozent in Deutschland und der BRD (alt) 1884 - 1993 6) (fast) vollständige Plastizität
90 80
5) weitgehend offene Plastizität ("dynamische Begabung")
70 60
4) Gleichgewicht von Naturbedingtheit und Plastizität
50 40
3) "naturbedingte Fähigkeit" weit verbreitet
30 Quakri
20
2) weitgehende physische Determinierung
10 1986-1993
1979-1984
1970-1976
1964-1968
1957-1963
1949-1954
1940-1943
1932-1937
1924-1930
1916-1921
1908-1914
1899-1905
1891-1897
1884-1889
0
1) (fast) vollständige physische Determinierung
Abb. 4: Diskursprofil der Volksschullehrer zur Bildungsfähigkeit in Prozent in Deutschland und der BRD (alt) 1884 - 1993 100
6) (fast) vollständige Plastizität
90 80
5) weitgehend offene Plastizität ("dynamische Begabung")
70 60
4) Gleichgewicht von Naturbedingtheit und Plastizität
50 40
3) "naturbedingte Fähigkeit" weit verbreitet
30 20 10 1986-1993
1979-1984
1970-1976
1964-1968
1957-1963
1949-1954
1940-1943
1932-1937
1924-1930
1916-1921
1908-1914
1899-1905
1891-1897
1884-1889
0
2) weitgehende physische Determinierung 1) (fast) vollständige physische Determinierung
423
Abb. 5: Diskursprofil der Lehrer an höheren Schulen zur Bildungsfähigkeit in Prozent in Deutschland und der BRD (alt) 1884 - 1993 100
6) (fast) vollständige Plastizität
90 80
5) weitgehend offene Plastizität ("dynamische Begabung")
70 60
4) Gleichgewicht von Naturbedingtheit und Plastizität
50 40
3) "naturbedingte Fähigkeit" weit verbreitet
30 20
2) weitgehende physische Determinierung
10 1986-1993
1979-1984
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0
1) (fast) vollständige physische Determinierung
Aus diesen Schwingungen ist schon erkennbar, dass der Diskurs über die Ausprägungen des Begriffs der Bildungsfähigkeit in einer spezifischen Relation zu den langen Wellen des Bildungswachstums, also zu der Situationsentwicklung der Bildungsselektion steht. Zu Beginn der Schubphasen in den Langen Wellen des Bildungswachstums öffnen sich die Deutungsmuster der Lehrer in Richtung eines plastischeren Bildungsfähigkeitsbegriffs und schon vor dem Ende der Wachstumsphasen und zu Beginn der Stagnationsphasen schließen sich diese Vorstellungen in Richtung eines naturdeterministischeren Bildungsfähigkeitsbegriffs (Abbildung 6). Abb. 6: Bildungsfähigkeit und Bildungswachstum Durchschnittlicher Bildungsfähigkeitsbegriff der Lehrer im deutschen Reich/ in der BRD (alt) (1884-1993) und Schülerquote (m) an höheren Schulen in Preußen und der BRD (alt) (1880-2003) 6,0
30,0 durchschnittl. Grad Bildsamkeitsbegriff Lehrer (Mitte der Jahres-Zeiträume, meist 6 Jahre) (Skala links) Schülerquote an höheren Schulen (Skala rechts)
5,0
4,0
3,0
QUAKRI 25,0 4,10 3,39
2,48
2,78
2,98
2,89
2,74
2,72 2,64
20,0 3,27
3,08
2,53
15,0
2,09 2,09 10,0
1,0
5,0
0,0
0,0
18 80 18 85 18 90 18 95 19 00 19 05 19 10 19 15 19 20 19 25 19 30 19 35 19 40 19 45 19 50 19 55 19 60 19 65 19 70 19 75 19 80 19 85 19 90 19 95 20 00 20 05 20 10
2,0
424
Aus der Differenz der Diskursprofile zwischen den Volksschullehrern und den Lehrern an höheren Schulen können wir erkennen, dass diese Diskurse je nach der Organisation in der hierarchischen Schulstruktur sehr unterschiedlich geführt werden. Während sich der Bildungsfähigkeitsdiskurs der Volksschullehrer in der Regel auf einem offeneren Niveau bewegt, entwickelt sich dieser Diskurs der Philologen geschlossener. Nur zu Beginn der 1930er Jahre und während des Nationalsozialismus befürwortete eine große Minderheit der Volksschullehrer häufiger eine sehr partikularistisch-naturderterministische Auffassung (Abbildungen 4 und 5). In dieser Zeit empfand es diese Minderheit als eine Herabwürdigung der Volksschule und ihres Lehrerberufs, dass durch den Wachstumsschub in die weiterführenden Schulen ihren Schulen so viele Schüler entzogen wurden, deren Bildungsfähigkeit dafür doch zu mittelmäßig wäre. Zudem steht dieses Schwingungsprofil zur Bildungsfähigkeit in einem engen Argumentationszusammenhang mit den Schulstrukturforderungen, und damit den Bildungsselektionsvorstellungen der Lehrer: In 73 Prozent der Bildungsfähigkeitsartikel wird gleichzeitig zur Schulstruktur Stellung genommen. Das Diskursprofil zur Schulstruktur soll hier am Beispiel der Befürwortung von Einheits- bzw. Gesamtschulen bei Volksschullehrern und Philologen erörtert werden. Auch hier ist eine deutliche Korrespondenz zu den Langen Wellen zu erkennen. Jedoch öffnen sich jeweils auch die Schulstrukturvorstellungen der Lehrer erst zum Höhepunkt der Wachstumsphasen in einer heftigen, aber meist kurzen Diskussion, denn schon zum Ende der Wachstumsphase lässt die Begeisterung für integrierte Schulformen schon wieder nach. Lediglich am Ende des letzten Wachstumsschubs bleiben die Volksschullehrer auf dem hohen Niveau einer Befürwortung der Gesamtschule. Insgesamt wird der Diskurs der Volksschullehrer in den Wachstumsphasen jeweils von einer breiten Befürwortung der Einheits- bzw. Gesamtschule getragen: In der Zeit von 1916 bis 1921 befürworteten 64 und von 1979 bis 1984 67 Prozent diese Schulform. Die Lehrer an höheren Schulen schlossen sich dagegen nur zögerlich der jeweiligen Öffnung der Selektionsstruktur des Schulsystems an bzw. versuchten schon vor dem Höhepunkt der Wachstumsschübe, die erreichte Strukturöffnung der Schule wieder zurückzuführen (Abbildung 7).
425
Abb. 7: Forderungen der Lehrer nach der Allgemeinen Volksschule, Einheits- bzw. Gesamtschule in Prozent der Angaben über Schulstruktur 1884-1993 (Volksschullehrer: N=862; Philologen: N=879) 100 90 80 70
QUAKRI Volksschullehrer Philologen
60 50 40 30 20 10
18 84 -1 88 9 18 91 -1 89 7 18 99 -1 90 5 19 08 -1 91 4 19 16 -1 92 1 19 24 -1 93 0 19 32 -1 93 7 19 40 -1 94 3 19 49 -1 95 4 19 57 -1 96 3 19 64 -1 96 8 19 70 -1 97 6 19 79 -1 98 4 19 86 -1 99 3
0
Offenbar stehen die pädagogischen Diskurse (Deutungsmusterebene) der Lehrer über die Beteiligungsschwankungen ihrer Schüler, also mit den eigendynamischen Langen Wellen des Bildungswachstums (Situationsebene) in einem charakteristischen Wechselspiel. Mit den langen Wellen des Bildungswachstums wandeln sich die Deutungsmuster der Lehrergenerationen zur Bildungsfähigkeit und zur Schulstruktur in der ständigen Auseinandersetzung mit ihrer spezifischen Umwelt im Bildungssystem offenbar in einem ähnlichen Modus wie in der Lebenslaufentwicklung von Einzelpersonen: Die Schwingungen des Diskursprofils im Wechselspiel mit den Wellen des Bildungswachstums zeigen eine ständige Suche nach dem Gleichgewicht zwischen der Situationsentwicklung im Bildungssystem und den Deutungsmustern der Generationen. Zudem muss ein derartiger Wandel von pädagogischen Einstellungs- und Handlungsmustern als eine Bedingung von Fremdzuschreibungsmustern für Schüler angesehen werden, die wiederum zu Selbstattribuierungen von Erfolg oder Misserfolg bei den Schülergenerationen führen.8 Hier schließt sich der Kreis: Selbstzuschreibungen von Schülern sind entscheidende Leistungsbedingungen und damit Grundlagen für die Selbstselektion. Kollektive Entschei8 Die komplementären Deutungsmuster der Schülergenerationen zu ihren Bildungsentscheidungen werden im Rahmen unserer Forschungsgruppe derzeit von ALEXANDER GRIEBEL in seiner Dissertation bearbeitet.
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dungen der Fremd- und Selbstselektionen aber werden durch Bewegungen der Bildungsbeteiligung, der Selektionsentwicklung im Schulsystem indiziert, welche wiederum das Selektionsklima und den Selektionswandel beeinflussen. Wir haben diesen Zusammenhang den historischen Pygmalioneffekt der Lehrergenerationen genannt. Als eine typische Sequenz des Diskurswandels kann beispielsweise die Veränderung der Selektionsvorstellungen einer Wachstumsgeneration gelten. Der Generationswechsel während des Höhepunkts einer Wachstumswelle bringt eine Lehrergeneration in die Schulen, welche die Öffnung der Bildungsselektion häufig mit euphorischen Reformideen zur Bildungsfähigkeit und zur Öffnung der Schulstruktur begleitet. Am Ende der Wachstumswelle ist diese Lehrergeneration enttäuscht, da die hochfliegenden Reformideen vom Beginn ihres Berufslebens nicht mit den sich langsamer entwickelnden Lebenslaufstrukturen in bildungsferneren Sozialschichten bzw. Organisationsstrukturen im Schulsystem übereinstimmen. Diese Vermischung der Deutungsmusterebene mit der Situationsebene des Bildungssystems führt am Ende von Wachstumsphasen und zu Beginn von Stagnationsphasen zu kulturpessimistischeren Deutungsmustern, zu denen typischerweise partikularistischere, prädeterministischere Vorstellungen von Bildungsfähigkeit gehören. Stagnationsgenerationen der Lehrer gehen mit weniger euphorischen, realistischeren Erwartungen in die Schulen, entwickeln aber zum Ende ihrer Berufsdauer, zum Ende von Stagnations- oder zum Beginn von Wachstumsphasen wieder erste Reformideen und ein zukunftsoptimistischeres Deutungsmuster. Insgesamt können wir in den Konjunkturen der Diskursprofile einen Öffnungstrend wahrnehmen. Dieser korrespondiert auffällig mit dem Wachstumstrend der Bildungsbeteiligung, der längeren und häufigeren Inklusion in weiterführende Bildung (vgl. NATH/DARTENNE/OELERICH 2004; NATH 2004; NATH/ DARTENNE 2008). 5
Zur Entwicklung des Begriffs der Bildungsfähigkeit in der Erziehungswissenschaft von 1945 bis 1994
Zur Entwicklung des Diskurses über die Balance im Begriff der Bildungsfähigkeit in der wissenschaftlichen Pädagogik/Erziehungswissenschaft hat CARINA OELERICH im Rahmen unserer Forschungsgruppe 1996 eine Magisterabeit mit dem Titel ‚Zum Wandel der Diskussion über personale Bildungsdispositionen seit 1945‘ geschrieben. Ausgehend von der Feststellung, dass nicht nur unter dem Begriff der „Begabung“ „Auffassung(en) über die Lern- und Bildungsfähigkeit des Individuums“ thematisiert werden, entscheidet sich OELERICH für den 427
übergreifenden Begriff der „personalen Bildungsdisposition“ (OELERICH 1996, S.3). Ihre Hauptfragestellung lautet: „Werden in den Aufsätzen explizit oder implizit Aussagen zu der Frage gemacht, ob es personale Bildungsdispositionen gibt, wie sie aussehen und ob bzw. wie sie beeinflussbar sind?“ (ebd., S.4) Um diese Frage zu beantworten, hat OELERICH eine kategoriengeleitete, inhaltsanalytische Untersuchung der erziehungswissenschaftlichen Zeitschriften ‚Die Sammlung‘ und ‚Zeitschrift für Pädagogik‘ vorgelegt. Aus insgesamt 225 nach einem Schlagwortkatalog ausgewählten Aufsätzen konnten schließlich 80 Artikel als relevant für die Fragestellung untersucht werden. Aus dem Kategorienschema wurde eine ordinalskalierte Rangreihe mit folgenden Items extrahiert: 1. Anlageübergewicht, 2. Anlage-/Reifungsbetonung, 3. Gleichgewicht/Unentschiedenheit, 4. Umwelt-/Förderungsbetonung, 5. Umweltübergewicht (vgl. ebd., S.47) dabei steht ‚Anlageübergewicht‘ für eine partikulare, naturbedingte Vorbestimmtheit und ‚Umweltübergewicht‘ für eine universale, umweltbeeinflussbare Plastizität. Aus der Übertragung der 80 Artikel in diese Ordinalskala entsteht – jeweils abgetragen für Fünfjahres-Intervalle – ein Diskursprofil zum Begriffsfeld der ‚Bildungsdispositionen‘ in den beiden führenden Zeitschriften der bundesdeutschen wissenschaftlichen Pädagogik/Erziehungswissenschaft (vgl. Abb. 8). In diesem Diskursprofil zeigen sich – ähnlich demjenigen aus den Lehrerverbandszeitschriften – zwischen den unterschiedlichen Auffassungen deutliche Verschiebungen und Schwingungen. In der Zeit von 1945 bis 1954, der auslaufenden Stagnationsphase im Bildungswachstum, waren extreme, prädeterministische Anlagetheorien noch bis zu 50 Prozent vertreten. 1955 bis 1964 waren nur vier relevante Artikel mit ‚Umweltbetonung‘ feststellbar, die wegen der geringen Zahl kaum ausgewertet werden können, aber ein gewisses Desinteresse an dem Thema signalisieren. Seit der zweiten Hälfte der 1970er Jahre stellen die extrem ‚Umwelt übergewichtenden‘ behavioristischen Lerntheorien z.T. die Mehrheit. Letztere und die „Umwelt betonenden“ haben sich in den heftigen Debatten zwischen 1965 und 1975 – die sich auch im Profil niederschlagen – zunächst bis in die 1980er Jahre vollkommen durchgesetzt. In den 15 Jahren von 1965 bis 1979 hat OELERICH mit 44 auch die meisten relevanten Aufsätze zur ‚Bildungsdisposition‘ registrieren können (vgl. ebd., S.53). Auch dieser Indikator zeigt eine ausführliche Debatte auf dem Höhepunkt der Bildungswachstumsphase an, die gleichzeitig auch von einem Generationswechsel beim erziehungswissenschaftlichen Personal geprägt war. Erst in den 1990er Jahren, zu Beginn der Stagnationsphase, betont wieder ein Drittel der Autoren eine Anlagendetermination. Auch in diesem kleinen Ausschnitt des Diskurses der wissenschaftlichen
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Pädagogik/Erziehungswissenschaft über Bildungsfähigkeit deutet sich schon ein spezifisches Wechselspiel von Diskurs- und Situationsentwicklung an9.
Abb. 8: Diskursprofil zur personalen Bildungsdisposition in der bundesdeutschen Erziehungswissenschaft (Die Sammlung; Zeitschrift für Pädagogik) 1945-1994 100% 90%
Umweltübergewicht
Oelerich 1996, S. 59
80% Umweltbetonung
70% 60%
Gleichgewicht
50% 40%
Anlagebetonung
30% 20%
Anlageübergewicht
10% 0% 1945-49
6
1950-54
1955-59
1960-64
1965-69
1970-74
1975-79
1980-84
1985-89
1990-94
Schlussthesen zur Kommunikationsspirale zwischen Diskurs- und Situationsentwicklung beim Begriff der Bildsamkeit
Schon diese kleine Rekonstruktion des Bildsamkeitsdiskurses in den letzten etwa 220 Jahren zeigt eine charakteristische, dialektische Verschränkung mit der Entwicklung von Bildungsentscheidungen, von Bildungsselektionen, die wir in drei Schlussthesen zusammenfassen möchten. 1) Im komplexen Wechselspiel der Deutungsmusterebene mit der Ebene der Situationsentwicklung haben wir es offenbar mit einer eigenen gesellschaftlichen Dynamik zu tun, in welcher wir mit nichtintentionalen Folgen intentionaler Handlungen rechnen müssen (vgl. MERTON 1995). Dieses ständige Wechselspiel zwischen dem Diskurs- oder Ideenprofil und der organisatorisch strukturierten Situationsentwicklung können wir als Kommunikationsschleife begreifen, welche sich in der Zeit zu einer gerichteten Kommunikationsspirale öffnet. Auch für den tatsächlichen Bildsamkeitsdiskurs lassen sich – sowohl in der wissenschaftlichen Pädagogik als auch in den Lehrerreflexionen – solche wechsel-
9 Zur differenzierteren Betrachtung der Affinität der deutschen Erziehungswissenschaft zur genetischen Erkenntnistheorie vgl. auch den Beitrag von TORBEN KNEISLER in diesem Band.
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seitigen, je spezifischen Zusammenhänge mit der Situationsentwicklung im Bildungssystem erkennen. Bezogen auf die vier Dimensionen des Bildsamkeitsbegriffs, den Balancen zwischen Fremd- und Selbstbestimmung bzw. zwischen einer partikularistisch-naturbedingten Prädetermination und einer universalistischen, umweltbeeinflussbaren Plastizität, wird zumindest der Selektionsdiskurs deutlich von der zweiten Balance beherrscht. Zudem zeigt das Ideenprofil deutliche Konjunkturen, die regelmäßig in spezifischer Art und Weise mit den Langen Wellen des Bildungswachstums korrespondieren. Und für Optimisten: Mit der Verlagerung der Balance im Bildsamkeitsbegriff zur Selbsttätigkeit und Plastizität bzw. mit dem Wachstumstrend der Bildungsbeteiligung richten sich die Konjunkturen der Kommunikationsspirale nach ‚Nord-Osten‘ – in den letzten Jahren nicht zuletzt auch im Anschluss an die Ergebnisse aus Bezugswissenschaften wie der kognitiven Entwicklungspsychologie, der neueren Hirnforschung und aus der experimentellen Pädagogik selbst. 2) Die zu Beginn zitierte pädagogisch-pragmatische Position besagt, dass die Anlage-Umwelt-Debatte, also der Bildungsfähigkeitsdiskurs nicht in den Interaktionsprozess der pädagogischen Praxis bzw. in die systematisch-normative pädagogische Reflexion zur Bildsamkeit gehöre und ihr von der Psychologie und der Biologie von außen aufgedrängt worden sei. Diese Position – so wünschbar sie für den Praxisdiskurs ggf. sei – verkennt aber unseres Erachtens
nicht nur, dass diese Debatte mindestens seit der bildungsbürgerlichen Selektionsdiskussion am Ende des 18. Jahrhunderts tatsächlich öffentlich geführt wird, sondern auch, dass die wechselnde Einordnung in die Balance zwischen Prädetermination und Plastizität pädagogische Grundeinstellungen von Lehrern und Lehrerinnen und damit auch ihre Voreinstellungen gegenüber unterschiedlichen Schülern und Schülerinnen prägt10.
Diese jeweiligen Grundeinstellungen dienen in der Bildungsselektion anscheinend dazu, entweder den Förderungsgedanken auch nach Rückschlägen motiviert aufrecht zu erhalten (Plastizität) oder den negativen Ausschluss als Ersatz für pädagogische Fördermaßnahmen zu legitimieren (Prädetermination). Wissenschaftliche Erkenntnisse über Verlagerungen in der Bildungsfähigkeitsbalance – auch aus Bezugswissenschaften – müssen also u.E. auch von normativ-systematischen Analysen des Bildsamkeitsbegriffs einbezogen werden, um an den tat-
10 Diese Einflüsse werden nicht nur von der Attributionsforschung schon seit Jahrzehnten bestätigt, sondern zeigen sich jüngst auch wieder in den Ergebnissen der IGLU-Studien zur Differenz von Schullaufbahnempfehlungen und gemessenen Kompetenzen (BOS et al. 2003; 2007).
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sächlichen Diskurs anschlussfähig zu bleiben. Auch normativ-systematische, theoretische Untersuchungen müssen sich also in die Kommunikationsschleife ‚einschleusen‘. Allgemeiner ausgedrückt: Wir müssen die langfristige Entwicklung des ‚Seins‘ von Diskursen und Situationen in ihrer wechselseitigen Verschränkung untersuchen, um wissen zu können, welchen Stellenwert unser Diskursbeitrag hat und welche Argumentation wir brauchen (‚Sollen‘), um anschlussfähig zu sein. 3) Der Feststellung BENNERs, dass die Bestimmung eines Menschen durch die „individuelle und gesellschaftliche Praxis hervorgebracht“ werde, können wir nur zustimmen (BENNER 1991, S.54). Denn auch der Bildungsprozess einer Person entwickelt sich in Rückkopplungsschleifen zwischen seiner aufgebauten inneren Struktur und der Umwelt. Darin liegt aber implizit die Annahme verborgen, dass sich die Balance der Bildungsfähigkeit in Richtung der Plastizität neigt. Zudem gilt diese Aussage auch für die wissenschaftliche Praxis, deren Erkenntnisprozess sich auch aus Rückkopplungsschleifen speist – sei es zwischen systematischer und empirischer Forschung in den Bildungswissenschaften oder sei es zwischen Ideengeschichte und Situationsentwicklung in der historischen Bildungsforschung. Um richtig verstanden zu werden: Wir plädieren also nicht für den Ersatz normativ-systematischer Anstrengungen des Begriffs, sondern für seine Verschränkung mit einer quantifizierbaren, inhaltanalytisch erhobenen Ideengeschichte und einer empirisch erforschten Situationsentwicklung in einem fruchtbaren Wechselspiel. Gerade aus quantifizierbaren Inhaltsanalysen lassen sich für bestimmte Situationen typische, repräsentative Texte extrahieren, die einer weiteren differenzierteren, systematischen Analyse unterzogen werden können. Fürwahr ein hoher Anspruch, der viel Zeit- und Ressourcenaufwand erfordert und für welchen wir hier einen Anstoß beisteuern wollten. Literaturverzeichnis ANHALT, ELMAR (1999): Bildsamkeit und Selbstorganisation: Johann Friedrich Herbarts Konzept der Bildsamkeit als Grundlage für eine pädagogische Theorie der Selbstorganisation organismischer Aktivität. Weinheim: Deutscher Studien-Verlag BECKEDORFF, LUDOLPH VON. (1966): Denkschrift vom 15.2.1821. In: SCHWEIM, LOTHAR (Bearb.): Schulreform in Preußen 1809-1819. Entwürfe und Gutachten. Weinheim [u.a.]: Beltz, S.222244 BENNER, DIETRICH (1991): Allgemeine Pädagogik. Eine systematisch-problemgeschichtliche Einführung in die Grundstruktur pädagogischen Denkens und Handelns. Weinheim [u.a.]: Juventa BENNER, DIETRICH/BRÜGGEN, FRIEDHELM (2000): Theorien der Erziehungswissenschaft im 20. Jahrhundert. Entwicklungsprobleme – Paradigmen – Aussichten. In: DERS./TENORTH, HEINZELMAR (Hrsg.): Bildungsprozesse und Erziehungsverhältnisse im 20. Jahrhundert. Praktische Entwicklungen und Formen der Reflexion im historischen Kontext. Weinheim [u.a.]: Beltz (ZfPäd, Beiheft; 42), S.240-263
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Disziplinäres Importverhalten. Die Rezeption fremddisziplinären Wissens in der Erziehungswissenschaft am Beispiel der genetischen Erkenntnistheorie1 Torben Kneisler
1
Grundlegung der Thematik
1.1 Problemaufriss Bis heute steht die Pädagogik als Erziehungswissenschaft in der Kritik, sie lebe im Wesentlichen von Theorie- und Methodenimport aus den Nachbardisziplinen und könne aufgrund dauernden Wechsels und fehlenden Fortschritts lediglich kurzlebige Moden ihrer Inhalte, Ansätze und Richtungen zeigen. Bruchartige Um- und Neuorientierungen, mithin Zweifel an ihrer Seriosität und Legitimität sind in der Pädagogik so alt wie ihre Reklamierung als Wissenschaft selbst. Spätestens seit Zerfall des Herbartianismus sind sie charakteristisch für die Disziplin (vgl. NEUMANN/OELKERS 1981, S.624; TENORTH 1997, S.127). Insbesondere der enorme Ausbau der Erziehungswissenschaft in den 1960/70er Jahren, gekennzeichnet durch eine Phase der sozialwissenschaftlichen Kritik, Öffnung zu den Nachbardisziplinen und philosophischen Neuorientierung, führte gleichzeitig zu Fragen nach ihrer theoretischen, methodischen und praktischen Autonomie und Legitimität, die bis heute kontrovers diskutiert werden (vgl. TENORTH 1997, S.124; TENORTH 2000, S.253f.). HEINZ-ELMAR TENORTH sieht das boshafte Diktum von HELMUT SCHELSKY bestätigt, dass die Pädagogik immer Magd einer gedankenbeherrschenden Disziplin gewesen sei. Sie diente der
1 Die nachfolgenden Ergebnisse sind erste Auskoppelungen aus meinem laufenden Dissertationsprojekt ‚Piaget und die Erziehungswissenschaft. Zur Rezeptionsentwicklung der genetischen Erkenntnistheorie in der deutschen Erziehungswissenschaft seit Mitte der 1940er Jahre‘. Auf der Basis ausgewählter Daten meiner bisherigen Forschungsergebnisse wird in diesem Beitrag der Versuch einer Bilanzierung zur Rezeption der genetischen Erkenntnistheorie in der deutschen Erziehungswissenschaft vorgenommen. Diese Arbeit realisiere ich im Rahmen der Forschungsgruppe für Historisch-Empirische Bildungsforschung (QUAKRI) am Institut für Bildungswissenschaften der Universität Lüneburg.
Philosophie oder der Theologie, der Soziologie oder der Psychologie, der Phänomenologie oder der Psychoanalyse (vgl. TENORTH 1997). Zugleich sehe sie sich in ihrer Forschungspraxis nach wie vor mit dem Vorwurf des Eklektizismus und der Kurzlebigkeit ihrer Denkformen konfrontiert. Vor dem Hintergrund dieser gemeinsamen Probleme der Erziehungswissenschaft hätten die gewohnten Begriffe für ihre unterschiedlichen Schulen und Richtungen und deren überlieferte Einteilung allgemein nur wenig Sinn. Die zumeist herrschende begriffliche Unterscheidung einer empirischen, hermeneutischen oder ideologiekritischen Richtung würde nicht nur die Spezifika der von ihnen bezeichneten wissenschaftlichen Schulen verdecken. Vielmehr würde eine solche Kategorisierung vor allem dazu führen, dass Diskurs- und Theoriestränge in der Erziehungswissenschaft übersehen werden, die nicht nur als kurzlebige Moden, sondern als innovative Anstöße nach 1945 den erziehungswissenschaftlichen Diskurs ebenfalls stark beeinflusst haben (vgl. ebd., S.127f.). Eine dieser folgenreichen Innovationen in der Erziehungswissenschaft, der anscheinend mehr als Tagesaktualität zukommt, ist m.E. die Rezeption der Forschungstradition um JEAN PIAGET (vgl. ebd. S.128). Die nachfolgende Darstellung soll über ihrem als beispielhaft zu verstehenden Blick auf das disziplinäre Importverhalten PIAGETs zur Selbstaufklärung über die Spezifik des disziplinären Profils der Erziehungswissenschaft in Deutschland beitragen. Als ein Beitrag zur empirischen Wissenschaftsforschung steht sie dabei in Tradition zu den Arbeiten der ‚Kommission Wissenschaftsforschung‘ der ‚Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft‘, die seit Gründung der Kommission 1977 zum Themenbereich ‚Rezeption und Verwendung erziehungswissenschaftlichen Wissens‘ durchgeführt worden sind (vgl. KEINER 2002, S.241). Im Jahr 1990 sah sich die Kommission mit der Kritik TENORTHs konfrontiert, sie habe ihren Anspruch zwar in der Perspektive einer empirischen Wissenschaftsforschung platziert, diese aber in ihrer bisherigen Arbeit vorwiegend theorieanalysierend bzw. qualitativ einzulösen gesucht (vgl. TENORTH 1990, S.18). In Zugriff auf die quantitative und qualitative Inhaltsanalyse nach PHILIPP A.E. MAYRING als Methodenimport aus der Sozialforschung, soll die Studie auch den Diskurs um die konzeptionellen Möglichkeiten und Probleme der Rezeptionsforschung in der deutschen Erziehungswissenschaft bereichern (vgl. MAYRING 2000). TENORTH fordert in seiner Vermessung der Erziehungswissenschaft, der empirischen Wissenschaftsforschung auch in der Selbstreflexion der wissenschaftlichen Pädagogik eine stärkere Rolle zu geben, als sie derzeit in Deutschland zu beobachten sei. Untersuchungen über die Verwertung und Rezeption pädagogischen Wissens würden erst in den Anfängen stecken, neben empirischen Defiziten seien vor allem die konzeptionellen Probleme der Rezeptionsforschung noch ungeklärt und manche Optionen und Kontroversen der 436
Nachbardisziplinen bisher kaum wahrgenommen worden (vgl. TENORTH 1990, S.15). Nachfolgend versuche ich, diesem Desiderat zu entsprechen. Dementsprechend untersuche ich am Diskursstrang zur PIAGET-Schule die Rezeptionsentwicklung in der deutschen Erziehungswissenschaft seit Mitte der 1940er Jahre anhand von Aufsätzen in einschlägigen erziehungswissenschaftlichen Zeitschriften mit Hilfe eines differenzierten Kategoriensystems. 1.2 Warum Jean Piaget? Von Hause aus Biologe, in seinem Streben leidenschaftlicher Erkenntnistheoretiker, in der Forschungspraxis langjähriger Entwicklungspsychologe, aber im Rahmen des ‚Internationalen Erziehungsbüros‘ und der UNESCO fast 40 Jahre lang auch Pädagoge und reformpädagogischer Bildungspolitiker, ist PIAGET traditionell nur schwer einer bestimmten wissenschaftlichen Disziplin zuzuordnen. Sein beeindruckendes Werk von knapp 700 Schriften, davon 88 Monographien und ungefähr 600 Zeitschriftenartikel, mithin von insgesamt rund 30.000 Seiten, bildet ein interdisziplinäres Theoriegebäude, das seinesgleichen sucht (vgl. FOUNDATION ARCHIVES JEAN PIAGET 1975; KOHLER 2008). Dabei schrieb und lehrte PIAGET zu den Themen der Biologie, Evolutionstheorie, Theologie, Philosophie, Psychologie, Soziologie, Logik, Mathematik, Linguistik, Erkenntnistheorie, Wissenschaftsgeschichte und Pädagogik. Das Kernstück seines Arbeitens bildet seine Theorie der kognitiven und moralischen Entwicklung, die er in einer über 50 Jahre währenden Forschungspraxis als Kindheits- und Entwicklungspsychologe empirisch untermauern konnte. PIAGET war jedoch nicht Kinderpsychologe, weil ihn das Individuelle und die je spezifischen Entwicklungsprozesse des einzelnen Kindes sonderlich interessierten. Er hoffte vielmehr durch das Studium der Ontogenese den allgemeinsten und grundlegendsten Bedingungen der Entwicklung des Denkens auf die Spur zu kommen, um so die Entwicklung menschlichen Erkennens universal zu erklären (vgl. BRINGUIER 2004, S.194). Ziel seiner genetischen Erkenntnistheorie war es, seine Erkenntnisse aus der Entwicklungspsychologie systematisch auf die Erkenntnistheorie, die Phylogenese des Denkens, die Wissenschaftsgeschichte und Soziologie zu beziehen, um so eine umfassende Theorie des Erkennens, Denkens und Wissens, aber auch des Sozialen und der Kultur zu erarbeiten (vgl. ebd..; PIAGET 1972a; 1973a; 1973b; 2003; PIAGET/GARCIA 1983). PIAGETs Wirkung u.a. auf die Disziplinen Philosophie und Soziologie blieb jedoch eher marginal (vgl. PIAGET 1976; KOHLER 2008). Nachhaltigen Einfluss übte seine Theorie der kognitiven und moralischen Entwicklung hingegen auf die psychologische Forschung und pädagogische 437
Praxis des 20. Jahrhunderts aus. Die Geschichte der Psychologie und Pädagogik hätte ohne ihn sicherlich einen anderen Verlauf genommen. Die Wirkung insbesondere in den USA war beachtlich. Aber auch in der deutschen Fachliteratur zählt PIAGET neben SIGMUND FREUD nach wie vor zu den meist zitierten Autoren (vgl. HAGGBLOOM et al. 2002; KOHLER 2008; PSYCINFO). Über die Rezeptionsentwicklung ist unterdessen nur wenig bekannt. Diese Studie basiert auf der Ausgangsvermutung, dass die genetische Erkenntnistheorie in der Erziehungswissenschaft recht ambivalent aufgenommen wurde. Wie wohl kaum ein anderer Wissenschaftler sah sich PIAGET mit den unterschiedlichsten Beurteilungen konfrontiert. Einerseits, insbesondere von seinen Schülern, zum Genie erklärt, gibt es andererseits wohl kaum eine Kernaussage seines Werks, die nicht heftig kritisiert oder sogar verworfen worden ist (vgl. LOURENCO/ MACHADO 1996). Zudem wurden aus seinen Forschungsergebnissen diverse pädagogische Konsequenzen gezogen, die in ihrer Vielfalt nicht mehr überschaubar sind. Einzelne Aspekte der genetischen Erkenntnistheorie scheinen dabei im Zuge selektiver Rezeption und selbstreferentieller Dynamik des erziehungswissenschaftlichen Systems fehlinterpretiert, transformiert, andere wiederum gar nicht wahrgenommen worden zu sein. Viele dieser Schwierigkeiten könnten u.a. darauf zurückzuführen sein, dass PIAGET angesichts des enorm breiten Spektrums seines Schaffens für die Erziehungswissenschaft zu sperrig schien, insbesondere für diejenigen ihrer Subdisziplinen, die stark an der pädagogischen Praxis ausgerichtet sind. Darüber hinaus waren PIAGETs pädagogische Schriften und seine institutionelle Arbeit in der Erziehungswissenschaft kaum bekannt. Zwar betonte PIAGET oft, dass er in der Pädagogik keinen spezifischen Standpunkt vertrete, verfasste jedoch mit ‚Theorien und Methoden der modernen Erziehung‘ und ‚Das Recht auf Erziehung‘ zwei erziehungswissenschaftliche Werke, in denen er sich bildungs- und erziehungstheoretisch verortet (vgl. PIAGET 1972b, 1975). Die Pädagogen gingen jedoch davon aus, dass er für die Disziplin selbst unmittelbar keinen Beitrag geleistet habe. Wohl aber, so unterstellten sie, enthalten seine Theorie und insbesondere seine entwicklungspsychologischen Forschungserkenntnisse wichtige pädagogische Implikationen. Die daraus entstandene Vielfalt der Deutungen und Forderungen in Anschluss an PIAGET, die beeindruckende Heterogenität der Positionen, die sich mit seiner Theorie zu legitimieren glaubten, sowie PIAGETs nachhaltige Wirkung im erziehungswissenschaftlichen Diskurs macht die genetische Erkenntnistheorie zu einem Theoriestrang, an dem das Importverhalten fremddisziplinären Wissens in der Erziehungswissenschaft besonders interessant zu untersuchen ist.
438
2
Bilanzierung der genetischen Erkenntnistheorie in der Erziehungswissenschaft
2.1 Die quantitative Bilanz In Anlehnung an EWALD TERHART und REINHARD UHLE sind zunächst einige Vorüberlegungen zum Problem der Bilanzierung zu treffen: Eine Bilanzierung ist immer erst dann möglich, wenn ein bestimmter Abschnitt überschaubar ist. TERHART und UHLE konstatieren, dass man nur nachher bilanzieren könne. Wann aber ist nachher? – so ist berechtigt mit den Autoren zu fragen (vgl. TERHART/UHLE 1991, S.52). Für die Rezeption eines innerdisziplinären Theoriestrangs in der Erziehungswissenschaft ist ein solcher Zeitpunkt nicht leicht zu bestimmen, da erziehungswissenschaftliche Theorien und Ansätze ständigen Konjunkturen unterliegen und eine endgültige Sättigung nicht vorhersehbar ist. Zudem haben wir es im Gesamt einer Disziplin mit ganzen Netzwerken von Theoriesträngen zu tun, die angereichert durch Rezeptionen und Adaptationen aus den Nachbardisziplinen ständig transformiert, modifiziert oder restauriert werden (vgl. ebd.). Es ist daher schwierig, überhaupt eine bestimmte und sinnvolle Bilanzierungseinheit klar zu definieren. Dies gilt gleichermaßen für die Rezeption fremddisziplinären Wissens. Solches wird selektiv assimiliert, ist den Moden und Konjunkturen erziehungswissenschaftlicher Richtungen ausgeliefert und wird seinerseits in das Flechtwerk erziehungswissenschaftlicher Theorien und Ansätze eingearbeitet. Der Vorteil der Bilanzierungseinheit ‚genetische Erkenntnistheorie‘ ist, dass es sich um einen relativ klar abgrenzbaren Theorie- und Forschungsstrang handelt. Dabei ist zu berücksichtigen, dass PIAGET nicht als Einzelperson forschte und publizierte: Mit Gründung des ‚Zentrums für genetische Erkenntnistheorie‘ im Jahre 1956 verwirklichte PIAGET sein Anliegen einer interdisziplinären Forschung (vgl. PIAGET 1976, S.45). Dort arbeitete er mit zahlreichen renommierten Wissenschaftlern unterschiedlichster Disziplinen zusammen. Zu den bekanntesten Vertreterinnen zählt BÄRBEL INHELDER, die bereits seit 1943 als seine engste Mitarbeiterin die entwicklungspsychologischen Untersuchungen weiterführte und als zentrale Co-Autorinnen den PIAGET-Diskurs mit geprägt hat (vgl. ebd., S.41f.). Darüber hinaus komplettierten Vertreter u.a. der Physik, der physikalischen Chemie, der Wissenschaftstheorie und -geschichte, der Kybernetik und der Linguistik den Kreis seiner Mitarbeiter. (vgl. BRINGUIER 2004, S.107f.). Als das ‚Zentrum‘ kurz nach PIAGETs Tod geschlossen wurde, dokumentierte eine 37 Bände umfassende Schriftenreihe ‚Etudes d’Epistémologie Génétique‘ die Arbeitsergebnisse (vgl. KOHLER 2008, S.101). Diese Studien hatten jedoch nur eine geringe Auswirkung auf den erziehungswissen439
schaftlichen Diskurs. Ausnahmen stellten nur dier Arbeiten von INHELDER selbst sowie die posthum 1983 veröffentlichte Schrift ‚Psychogenèse et Histoire des Sciences‘ dar, die PIAGET noch zusammen mit dem Physiker und Wissenschaftstheoretiker ROLANDO GARCIA verfasst hatte; sie hat den Diskurs in der Mathematikdidaktik nachhaltig beeinflusst hat. Mit dem im Folgenden auszudifferenzierenden Begriff ‚genetische Erkenntnistheorie‘ möchte ich zum Ausdruck bringen, dass PIAGET als Stellvertreter einer ganzen Forschungstradition gelten muss und auch nicht ausschließlich als Einzelperson wahrgenommen worden ist. Mit Beschränkung der Bilanzierungseinheit ‚genetische Erkenntnistheorie‘ 1. auf die Rezeption in der deutschen Erziehungswissenschaft und 2. in erziehungswissenschaftlichen Zeitschriften ist die Einheit deutlich definiert. Dies ist gleichwohl notwendig, da man an einer Gesamtbilanzierung ‚der‘ genetischen Erkenntnistheorie in der Erziehungswissenschaft wohl scheitern würde. Ein erster quantitativer Zugriff kann bereits interessante Konjunkturen der Rezeptionsentwicklung PIAGETs in zentralen Zeitschriften der deutschen Erziehungswissenschaft aufzeigen: Abbildung 1:
Rezeptionsentwicklung Piagets in neun Zeitschriften der deutschen Erziehungswissenschaft 1949-20092
25
20 Zeitschriften insg. (5-jährig gleitender Durchschnitt) 15
10
5
0 1945
1950
1955
1960
1965
1970
1975
1980
1985
1990
1995
2000
2005
Jahrgang
2 Analysegegenstände waren: ‚Zeitschrift für Pädagogik‘, ‚Zeitschrift für Erziehungswissenschaft‘, ‚Pädagogische Rundschau‘, ‚Die Sammlung‘ bzw. ‚Neue Sammlung‘, ‚Zeitschrift für Pädagogische Psychologie‘, ‚Zeitschrift für Entwicklungspsychologie und Pädagogische Psychologie‘, ‚Zeitschrift für die Didaktik der Naturwissenschaften‘, ‚Journal Mathematik-Didaktik‘ sowie ‚Der Deutschunterricht‘. Insgesamt wurden 495 Artikel gefunden, in denen PIAGET sowie weitere Autoren seines ‚Zentrums‘ zitiert wurden.
440
Die quantitative Bilanz zeigt deutlich, dass die Rezeption der genetischen Erkenntnistheorie um PIAGET bei weitem keine Modeerscheinung der deutschen Erziehungswissenschaft darstellt, sondern als innovativer Anstoß den erziehungswissenschaftlichen Diskurs seit ca. 50 Jahren beeinflusst. Der Verlauf zeichnet sich durch eine Phase der euphorischen Rezeption seit den 1960/70er Jahren, einen Höhepunkt um den Anfang und die Mitte der 1980er Jahre, einen darauf folgenden Einbruch mit Stagnation, freilich auf relativ hohem Niveau, zum Anfang der 1990er Jahre sowie durch ein erneutes Wachstum seit Mitte der 1990er Jahre aus. Der Zeitpunkt einer Bilanzierung scheint sinnvoll gewählt, denn seit der Jahrtausendwende ist es in den erziehungswissenschaftlichen Fachzeitschriften recht still um PIAGET geworden, der mittlerweile fast vollständig aus dem Diskurs verschwunden ist. Bilanzieren (vom ital. bilanciare = abwägen) heißt auch immer vergleichen (vgl. TERHART/UHLE 1991, S.55). Es wurden daher sowohl die RezeptionsKonjunkturen einzelner Zeitschriften zueinander als auch die Rezeptionsentwicklung in der deutschen Erziehungswissenschaft zur internationalen Rezeption (insbesondere zu der im angelsächsischen Sprachraum) in Beziehung gesetzt. Abbildung 2 zeigt zunächst die Rezeptionsentwicklung der genetischen Erkenntnistheorie in der ‚Zeitschrift für Pädagogik‘ im Vergleich zur derjenigen in der ‚Pädagogischen Rundschau‘, der ‚(Neuen) Sammlung‘ (beide Zeitschriften zusammengefasst) sowie der ‚Zeitschrift für Entwicklungspsychologie und pädagogische Psychologie‘. Abbildung 2:
Rezeptionsentwicklung Piagets in ausgewählten Zeitschriften der deutschen Erziehungswissenschaft 1945-2009 (5-jährig gleitender Durchschnitt, Pädagogische Rundschau & Sammlung ohne Durchschnitt)
14 12 ZfPäd ZfE ntwPsy u. PädPsy PädR und + (N eue) Sam m lung
10 8 6 4 2 0 1945
1950
1955
1960
1965
1970
1975
1980
1985
1990
1995
2000
2005
Jahrgang
441
Aus dem Ergebnis wird deutlich, dass die ‚zweiwellige‘ Konjunktur des Rezeptionsverlaufs der Zeitschriften insgesamt (vgl. Abb. 1) auch in einzelnen Zeitschriften wiederzufinden ist; dies gilt insbesondere für die ‚Zeitschrift für Pädagogik‘ [ZfPäd], die zu einem Großteil den euphorischen Theorieimport der genetischen Erkenntnistheorie in den 1970/80er Jahren und die erneut verstärkte Rezeption in den 1990er Jahren mitbestimmt. Sie bildet das Zitationsverhalten in den analysierten Fachzeitschriften regelrecht ab bzw. scheint vielmehr noch den Diskurs als ‚Vorreiterin‘ anzustoßen (vgl. unten Abb. 3). Die ZfPäd ist die zentrale Zeitschrift der Erziehungswissenschaft und hat ihren Anspruch auch immer darin gesehen, die Disziplin in ihrer ganzen Breite angemessen zu repräsentieren. Trotz der zunehmenden Ausdifferenzierung der Erziehungswissenschaft hat sie es offenbar bis heute geschafft, mit einem qualitativen Themenspektrum die disziplinäre Struktur zwischen ihren Sub- und Nachbardisziplinen und deren unterschiedlichen Richtungen einheitlich darzustellen. (vgl. TENORTH 2004, S.796) Auch der von TENORTH konstatierte Wandel der ZfPäd ist hier am Beispiel des fremddisziplinären Theorieimports der genetischen Erkenntnistheorie deutlich zu erkennen: In ihrem Ursprung ein Publikationsorgan der Geisteswissenschaftlichen Pädagogik, hat sich die Zeitschrift spätestens seit dem Ende der 1960er Jahre theoretisch, methodologisch und methodisch geöffnet und dabei auch ihre Kommunikationsstruktur zu den Nachbardisziplinen ausgebaut. Sie ist zu einem Organ geworden, in dem die deutsche Erziehungswissenschaft ihren eigenen Modernisierungsprozess als Disziplin zugleich vollzogen und kritisch begleitet hat (vgl. ebd., S.793). Umgekehrt ist zu konstatieren, dass die Rezeption der genetischen Erkenntnistheorie in der deutschen Erziehungswissenschaft offenbar als ein Indikator für den disziplinären Öffnungs- und Modernisierungsprozess betrachtet werden kann. Auffallend ist, dass PIAGET in der ‚Pädagogischen Rundschau‘ [PR] und der ‚(Neuen) Sammlung‘ (beide Zeitschriften zusammen genommen) deutlich weniger Beachtung geschenkt worden ist. Dies ist aufgrund der stark bildungsund erziehungsphilosophischen Ausrichtung insbesondere der ‚(Neuen) Sammlung‘ nicht sehr verwunderlich: ‚Die Sammlung‘ wurde 1946 von den zentralen Vertretern der Geisteswissenschaftlichen Pädagogik HERMAN NOHL, WILHELM FLITNER, ERICH WENIGER und OTTO FRIEDRICH BOLLNOW als Zeitschrift für Kultur und Erziehung gegründet und kann eher als eine kulturtheoretische denn als eine fachwissenschaftliche Zeitschrift verstanden werden (vgl. ebd., S.791). Doch auch die PR, die sich eigentlich als fach- und methodenübergreifendes Organ der Erziehungswissenschaft versteht, scheint trotz ihrer interdisziplinären Ausrichtung stärker Beiträge aus der Geisteswissenschaftlichen Pädagogik aufzunehmen, in der PIAGET offensichtlich eine nur sehr geringe Rolle gespielt hat. Die Datenreihe zur Rezeption in der ‚(Neuen) Sammlung‘ und der PR wurde 442
hier ohne gleitenden Durchschnitt dargestellt, um zu verdeutlichen, dass 1. einzelne Jahrgänge gar keine ‚Treffer‘ erzielten und 2. die konjunkturellen ‚Ausschläge’3 offenbar ein Spezifikum erziehungswissenschaftlichen Rezeptionsverhaltens darstellen. Abbildung 3:
Rezeptionsentwicklung Piagets in der Zeitschrift für Pädagogik im Vergleich zu acht Zeitschriften der deutschen Erziehungswissenschaft insgesamt 1945-2009 (5-jhg. gleit. Durchschnitt)
14 12 10
ZfPäd Insgesamt ohne ZfPäd
8 6 4 2 0 1945
1950
1955
1960
1965
1970
1975
1980
1985
1990
1995
2000
2005
Jahrgang
Erkennbar ist, dass demgegenüber die Rezeption in der ‚Zeitschrift für Entwicklungspsychologie und pädagogische Psychologie‘ [ZfEpP] sehr viel kontinuierlicher verläuft. Zwar lassen sich auch hier die zwei charakteristischen Wachstumsschübe identifizieren, diese fallen jedoch deutlich gemäßigter aus als diejenigen in den pädagogischen Zeitschriften. Das gilt insbesondere für den zweiten Wachstumsschub Anfang bis Mitte der 1990er Jahre. Die ZfEpP wurde von mir in den Korpus erziehungswissenschaftlicher Zeitschriften mit aufgenommen, da insbesondere die Pädagogische Psychologie als Disziplin eine Schnittstelle zwischen Psychologie und Pädagogik darstellt. Mich interessiert, ob die Rezeption der genetischen Erkenntnistheorie in dieser Zwischendisziplin andere Charakteristika aufweist als diejenige im fachinternen Bereich. Da in erster Linie PIAGETs Theorie der kognitiven und moralischen Entwicklung bzw. der entwicklungspsychologische Aspekt seiner genetischen Erkenntnistheorie die Erziehungswissenschaft des 20. Jahrhunderts geprägt hat, muss ihre Rezeption in der ZfEpP weitgehend als eigendisziplinärer Theorieimport verstanden werden. Als wesentlicher Vertreter und selbstverständlicher Grundbestandteil der kogni3 Die Ausschläge in der ‚(Neuen) Sammlung‘ und der PR im Jahr 1985 ist in Abb.2 gut sichtbar. Entsprechende Ausschläge gab es auch in der ZfPäd 1975 und 1985, sie werden in der Darstellung jedoch durch die Visualisierung gleitender Durchschnitte verdeckt.
443
tiven Entwicklungspsychologie scheint PIAGET in der Entwicklungspsychologie und der Pädagogischen Psychologie kontinuierlich rezipiert worden zu sein, was sich u.a. darin zeigt, dass sich das quantitative Zitationsverhalten in diesem Bereich ‚gemäßigter‘ bzw. ‚normalisierter‘ gestaltet als in der Pädagogik. Der internationale Vergleich (vgl unten Abb. 4) zeigt, dass die für die deutschsprachigen Zeitschriften typische Konjunktur offenbar kein Spezifikum der deutschen Erziehungswissenschaft darstellt, sondern als generelles Charakteristikum der Rezeption PIAGETs durch die Erziehungswissenschaft betrachtet werden kann. In der Datenreihe zur internationalen Rezeptionsentwicklung, die ich aus der Datenbank PSYCINFO entwickeln konnte, welche insbesondere die amerikanische Sekundärliteratur erfasst, sind die zwei Wachstumsschübe sehr deutlich zu erkennen. Der Vergleich dieser Datenreihe mit derjenigen aus der ZfPäd (Vgl. Abb. 2 mit Abb. 3) scheint den für die ZfPäd angenommenen repräsentativen Status zu erhärten. Es ist beeindruckend, dass die Datenreihe der ZfPäd, basierend auf einer im Verhältnis zur internationalen Datenreihe relativ geringen Datenmenge, der Datenreihe internationaler Veröffentlichungen im konjunkturellen Verlauf nahezu identisch ist. Zudem konnte ich die Daten, aus den von mir ausgewählten deutschsprachigen Zeitschriften durch Daten der ‚Deutschsprachigen Piaget Bibliographie‘ der ARBEITSSTELLE FÜR PIAGET FORSCHUNG AN DER UNIVERSITÄT DORTMUND erweitern und stützen (vgl. http://www.piaget-bibliographie.de). Diese umfasst nicht nur die Veröffentlichung der deutschsprachigen Primärliteratur, sondern auch einen Großteil der Sekundärliteratur, einschließlich Monographien und Sammelbänden, zur genetischen Erkenntnistheorie, die die Arbeitsgruppe aus Dortmund anhand einschlägiger Datenbanken systematisch auflisten konnte. Da die Datenbanken z.T. noch sehr lückenhaft sind und nicht alle Texte geführt werden, insbesondere diejenigen aus den diversen erziehungswissenschaftlichen Zeitschriften, können die Daten meiner Analyse und diejenigen aus Dortmund als Ergänzung verstanden werden. Das Spektrum der Fachzeitschriften der ‚Deutschsprachigen Piaget-Bibliographie‘ ist zwar wesentlich weiter gefasst, Schnittstellen mit den Daten, die ich gewinnen konnte, bilden jedoch die Ausnahme. Auffallend für den Vergleich der Datenreihen ist auch hier der homogene Strukturverlauf. Dieser erscheint als erklärungsbedürftig. Als naheliegendste Vermutung kann interpretierend die These an die Daten herangetragen werden, dass das Zitationsverhalten über PIAGET eng mit den Veröffentlichungen seiner Schriften im deutschen Sprachraum zusammenhängt.
444
Abbildung 4:
Rezeptionsentwicklung Piagets in Zeitschriften der deutschen Erziehungswissenschaft im Vergleich zur internationalen Rezeptionsentwicklung (PsycInfo) und zur deutschsprachigen Rezeptionsentwicklung (Piaget-Bibliographie)
160 140 120 100 80
PsycInfo (international) Deutschsprachige Zeitschriften Deutschsprachige PiagetBibliographie
60 40 20 0 1921 1926 1931 1936 1941 1946 1951 1956 1961 1966 1971 1976 1981 1986 1991 1996 2001 2006 Jahrgang
Abbildung 5 kann diese These vorläufig bestätigen. Am Beispiel der Rezeptionsentwicklung der genetischen Erkenntnistheorie in der ZfPäd in Gegenüberstellung zu den Veröffentlichungen der deutschsprachigen Übersetzungen lässt sich die starke Abhängigkeit des Rezeptionsverlaufs von diesen erkennen. In einem Reaktionsraum von ca. 3 bis 4 Jahren bildet die ZfPäd die Konjunkturen der deutschsprachigen PIAGET-Veröffentlichungen nahezu ab. Dennoch bleibt die Frage nach dem Spezifischen der deutschen Erziehungswissenschaft bestehen. Es muss geklärt werden, warum die Veröffentlichung der Schriften PIAGETs im deutschen Sprachraum relativ spät eingesetzt hat. Im internationalen Vergleich wird deutlich, dass die Rezeption in der deutschen Erziehungswissenschaft derjenigen in den USA um ca. 15 Jahre nachfolgt. Die funktionalen Zusammenhänge für dieses Phänomen müssen in meiner Forschungsarbeit noch genau untersucht werden. Zu diesem Zeitpunkt, an dieser Stelle ist erst eine These zu formulieren: Seit 1945 waren die geistes- und sozialwissenschaftlichen Disziplinen im Westen Deutschlands dominiert von einer Phase der Restauration alter geisteswissenschaftlicher Vorbilder und einer starken Abgrenzung gegenüber anderen Disziplinen. Seit den 60er Jahren wird diese Phase abgelöst durch einen Zeitraum der sozialwissenschaftlichen Kritik, der Öffnung zu den Nachbardisziplinen, zur internationalen Kommunikation und der philosophischen Neuorientierung (vgl. TENORTH 2000, S.344). Offenbar ließ 445
sich, wie andere Forschungen nahe legen, in den 1960er und 1970er Jahren die entwicklungspsychologische Forschung sowie später das konstruktivistische Denken von PIAGET als Ausdruck einer philosophischen Neuorientierung in das aufkommende optimistische Bildungsklima und in die empirische Wende erziehungswissenschaftlicher Strömungen funktional assimilieren (vgl. NATH/ DARTENNE/OELERICH 2004; NATH/DARTENNE 2007). Abbildung 5:
Rezeptionsentwicklung Piagets in der ZfPäd im Vergleich zu den Piaget & Co-Autoren Veröffentlichungen (deutsch) 1932-2009
12 10 8
ZfPäd (5-jährig gleitender Durchschnitt) Piaget & Co-Autoren Veröffentlichungen (deutsch) 5jährig gleitender Durchschnitt
6 4 2 0 1921 1926 1931 1936 1941 1946 1951 1956 1961 1966 1971 1976 1981 1986 1991 1996 2001 2006 Jahrgang
Für den quantitativen Teil der Bilanzierung soll abschließend das Problem der deutlichen Definierung von Bilanzierungseinheiten erneut aufgegriffen werden (vgl. TERHART/UHLE 1991, S.52). Eine weitere Differenzierung zur quantitativen Analyse kann aufzeigen, dass neben der genetischen Erkenntnistheorie um PIAGET und Co-Autoren eine ‚Schule’ im Anschluss an PIAGET ausgemacht werden kann. Der Begriff der wissenschaftlichen Schule wird hier nicht personengeschichtlich verstanden. Vielmehr fasst er alle Autoren zusammen, die sich in ihren Arbeiten an PIAGET ausrichten. Hierzu zählen vor allem der Schweizer Didaktiker HANS AEBLI, der seine Handlungstheorie unmittelbar an PIAGETs Theorie entwickelt hat, sowie der Amerikaner LAWRENCE KOHLBERG, dessen Theorie der moralischen Entwicklung durch PIAGETs Entwicklungspsychologie gezeichnet ist. 446
Abbildung 6:
Rezeptionsentwicklung Piagets in der ZfPäd in Relation zu den Aufsätzen, in denen er zusammen mit Kohlberg und Aebli zitiert wird.
14 12 ZfPäd Piaget +Kohlberg Piaget + Aebli
10 8 6 4 2 0 1945
1950
1955
1960
1965
1970
1975
1980
1985
1990
1995
2000
2005
Jahrgang
In Abb. 6 wird am Beispiel der ZfPäd deutlich, dass die Aufsätze, in denen PIAGET zusammen mit AEBLI einerseits und KOHLBERG andererseits zitiert wird, einen nicht geringen Teil der Rezeption ausmachen. Beide Autoren wurden der genetischen Erkenntnistheorie offenbar paradigmatisch zugeordnet. Dies gilt in der zweiten Wachstumsphase seit Anfang der 1990er Jahre gleichermaßen für ROLF OERTER und LEO MONTADA, deren Band ‚Entwicklungspsychologie‘ von 1982 durch die Theorie PIAGETs geprägt ist und in dieser Zeit nicht selten zusammen mit Schriften PIAGETs zitiert wird. Diese Erkenntnisse sind für die deutsche Erziehungswissenschaft besonders bedeutsam, da eine derartig starke Verflechtung von Theoriesträngen in der amerikanischen Literatur nicht zu finden ist: In weiteren Analysen meiner Arbeit konnte ich feststellen, dass LAWRENCE KOHLBERG dort zu einem sehr viel geringeren Teil mit PIAGET in Verbindung gebracht bzw. wesentlich eigenständiger rezipiert worden ist. 2.2 Die qualitative Bilanz Die qualitative Analyse der Rezeptionsentwicklung ist derzeit noch in Arbeit. Eine Bilanzierung der erziehungswissenschaftlichen Deutungen, Forderungen und Ansätze, die in Auseinandersetzung mit der genetischen Erkenntnistheorie entstanden sind, kann an dieser Stelle daher nur hypothetisch erfolgen. Nach 447
meiner bisherigen Einschätzung zeichnen sich drei Phasen der inhaltlichen Rezeptionsentwicklung ab: 1. Die frühe Rezeption seit Ende der 1950er Jahre bis Mitte der 1970er Jahre ist durch eine deutliche Reduzierung auf die Entwicklungspsychologie PIAGETs, insbesondere auf seine Stadientheorie, gekennzeichnet. Dabei bedienen sich zunächst, mit Ausnahme der Vorschulerziehung, fast ausschließlich die Fachdidaktiken, in erster Linie die der Mathematik und Naturwissenschaften, PIAGETs strukturtheoretischer Erkenntnisse als Bezugstheorie: Seit den 1960er Jahren finden sich zahlreiche fachdidaktische Aufsätze zu Trainingsprogrammen und Tests, die aus den PIAGET Versuchen abgeleitet wurden. Nicht selten werden dabei didaktische Ansätze an den Altersangaben zu den Stadien der kognitiven Entwicklung ausgerichtet und die Aufgaben PIAGETs z.B. zur Reihenbildung, Mengenerhaltung oder Klassifikation unmittelbar als Anwendungsmodelle verstanden. Dieses geschieht zu einem nicht geringen Teil ungeachtet der Tatsache, dass das Alter nach PIAGETs Verständnis bestenfalls ein Indikator, aber kein Kriterium der Entwicklungsstadien bildet. Gleichwohl war es nicht in PIAGETs Sinn, seine Versuche direkt in die Schulpraxis zu übertragen. Er selbst nutzte diese ausschließlich im Forschungskontext, um Entwicklungstatsachen zu identifizieren und dem Problem auf die Spur zu kommen, wie Kinder neue kognitive Fähigkeiten ausbilden. Aufgabe des Pädagogen sei es zu beurteilen, wie er die Ergebnisse der psychologischen Forschung nutzen könne. Die Pädagogik sei aber keine reine Anwendungslehre. Sie umfasst auch ein ganzes Bündel von Techniken, die der Experte selbst den Erfordernissen der Praxis immer neu anzupassen hat (vgl. BRINGUIER 1996, S.194ff.). In euphorischer Erwartung schneller Antworten aus der Bezugswissenschaft Entwicklungspsychologie scheinen die deutschen Pädagogen offensichtlich auch von den Entwicklungen in den USA beeinflusst worden zu sein. Dort wurden in dem Wunsch nach Beschleunigung der kognitiven Entwicklung in den 1950er Jahren die mathematischen und naturwissenschaftlichen Curricula an den Stadien ausgerichtet und seit den 1960er Jahren die von Haus aus diagnostischen Aufgaben zur Reihenbildung und Klassifikation sogar in die Lehrpläne aufgenommen (vgl. ebd.; KOHLER 2008, S.114). Nachdem in den USA die Versuche einer Beschleunigung weitgehend scheiterten, machte sich dort sehr schnell Enttäuschung breit, was sich u.a. darin zeigte, dass man die Stadientheorie z.T. als pädagogisch unbrauchbar einstufte und gänzlich verwarf. Dabei kamen den amerikanischen Pädagogen auch eine Reihe psychologischer Studien entgegen, in denen stets versucht wurde, die Theorie PIAGETs zu widerlegen. Viele der Psychologen in dieser Zeit behaupteten, PIAGET liege falsch in der Bestimmung der Altersnormen, und gingen dabei davon aus, dass das Alter und nicht die Sequenz der kognitiven Transformationen das Schlüsselelement seiner 448
Theorie bilde. Wenn die neuen Daten von den Altersangaben in den Protokollen PIAGETs abweichen würden, müsse seine Theorie falsch sein (vgl. LOURENCO/ MACHADO 1998, S.146f.). Darüber hinaus finden sich im amerikanischen Diskurs auch einige stark deterministische Lesarten der Theorie PIAGETs, um deren pädagogische Unbrauchbarkeit zu legitimieren. Auch wenn sich der erziehungswissenschaftliche Diskurs in der Bundesrepublik weitaus differenzierter gestaltete und die Folgen der gescheiterten Anwendung weniger radikal ausfielen, verbreitete sich auch hier seit Ende der 1970er Jahre zunehmend Skepsis gegenüber der genetischen Erkenntnistheorie. In den zahlreichen fachdidaktischen Beiträgen wurde im Anschluss an sie, nunmehr zurückhaltender, auf die Bedeutung von domänenspezifischem und kontextabhängigem Wissen für die Kompetenzentwicklung des Kindes verwiesen sowie die Notwendigkeit eigendynamischer Fachreflexion und Theoriebildung gefordert und legitimiert. Man betonte dabei, dass die Erkenntnisse aus der kognitiven Entwicklungspsychologie lediglich grobe Orientierungen bieten würden und die kognitive Psychologie selbst eben nur Bezugswissenschaft ohne Möglichkeiten eigener bildungs- und erziehungstheoretischer Konzeptionsbildung sein könne. 2. Erst ab Mitte der 1970er Jahre finden sich verstärkt erziehungswissenschaftliche Aufsätze, die über die strukturtheoretischen Aspekte der genetischen Erkenntnistheorie hinaus auch ihre funktionstheoretischen Konzepte wie z.B. Assimilation und Akkommodation, Äquilibration, Reversibilität etc. rezipieren. Gleichwohl erweiterte sich die Wirkung in dieser Zeit besonders im Bereich der Früherziehung, des schriftsprachlichen Anfangsunterrichts sowie der Allgemeinen Didaktik, aber auch der Bildungs- und Erziehungsphilosophie. Nicht die Entwicklungsstadien, sondern insbesondere der Dialog zwischen der kindlichen Denkstruktur und der Umwelt sowie die Andersartigkeit des kindlichen Denkens rückten in das Zentrum der erziehungswissenschaftlichen Diskussion. Unter dem Stichwort des kognitiven Konflikts sollte die kognitive Entwicklung gefördert werden. Des Weiteren wurde versucht, die direkte Instruktion durch offene Methoden wie entdeckendes und handelndes Lernen, Gruppenarbeit und -gespräche zu ersetzen. Sogar PIAGETs klinische Methode wurde als didaktischer Ansatz verstanden und propagiert (vgl. KUBLI 1983). Konstatiert werden kann insofern eine Art funktionaler Wende in der Rezeptionsentwicklung der genetischen Erkenntnistheorie, in der die strukturtheoretische Rezeptionsweise weitgehend durch eine methodische Diskussion basierend auf den funktionstheoretischen Aspekten der genetischen Erkenntnistheorie abgelöst wurde. Darüber hinaus übte in dieser Zeit auch PIAGETs Theorie der moralischen Entwicklung starken Einfluss insbesondere auf die Friedensund Moralerziehung aus. Dabei wurde oft gefordert, die moralische Urteilsfähigkeit des Kindes durch den Einsatz moralischer Dilemmata zu fördern. 449
PIAGETs soziologische Überlegungen, seine intensive theoretische Auseinandersetzung mit DURKHEIM sowie seine Erziehungsziele der Kooperation, Solidarität, Autonomie und Vernunft blieben dabei jedoch weitgehend unbeachtet (vgl. PIAGET 1972; 1973; 1975). 3. In den 1990er Jahren wird PIAGETs konstruktivistischer Ansatz wahrgenommen und damit eine stärkere Individualisierung des Lernens begründet. Insbesondere in der Didaktik gab es einige Versuche, PIAGETs Begriff des Handlungsschemas zu respezifizieren und für die didaktische Wirklichkeit anschlussfähig zu machen. Dabei bezieht man sich auch zunehmend auf PIAGETs erkenntnistheoretisches Gerüst und versucht seiner Theorie im Ganzen gerecht zu werden. Im Rahmen der Kontroverse um PIAGET und LEV SEMJUONOVITCH VYGOTSKIJ wird der Konstruktivismus PIAGETs insbesondere in der Sprachdidaktik und Sprachbewusstseinsforschung, aber auch in der Didaktik der Naturwissenshaften und Allgemeinen Didaktik diskutiert und dabei in sozial und kulturell orientierte konstruktivistische Ansätze überführt. Ausgehend von der Kritik WYGOTSKIs, PIAGETs Theorie hätte für das schulische Lernen und die Herausbildung wissenschaftlich, sozial und kulturell geprägter Begriffe nur geringe Bedeutung, da er sich mit der allgemeinen und universalen Strukturbildung kognitiver Kompetenzen und der Entwicklung spontan geprägter Begriffe beschäftigt hätte, wurden erstmals die Unzulänglichkeiten in der frühen Rezeptionsgeschichte von PIAGETs Theorie aufgearbeitet (vgl. BLISS 1996, S.12f.). Diese war gekennzeichnet durch eine lineare Anwendungslogik der genetischen Erkenntnistheorie auf die Pädagogik, gefolgt von einer starken Distanzierung ihr gegenüber. Ein Großteil dieser Schwierigkeiten in der Rezeption ist auf eine mangelnde Trennschärfe der Gegenstandsbereiche der genetischen Erkenntnistheorie und Pädagogik zurückzuführen: Während es der genetischen Erkenntnistheorie um die allgemeine Strukturbildung geht, steht dagegen für die Pädagogik und Didaktik gerade die je spezifische Lernsituation im Vordergrund (vgl. STEENBUCK 2000, S.252f.). PIAGET war stets darauf bedacht, die Gegenstandsbereiche beider Disziplinen klar zu trennen: „...im großen und ganzen interessieren mich einzelne Menschen, das Individuelle, wenig. Mich interessiert das Allgemeine an der Entwicklung der Intelligenz und der Erkenntnis“ (PIAGET, zit. n.: BRINGUIER 1977, S.194). Der Pädagogik und insbesondere ihren praxisorientierten Subdisziplinen geht es vielmehr um die je besonderen, individuellen und kontextuellen Aspekte des Lernens. Zwar sah PIAGET seinen Beitrag auf der Seite der Entwicklung universaler kognitiver Strukturen, während er den individuellen, situationsspezifischen und sozialen Faktoren nur wenig Interesse beigemessen bzw. diese Faktoren nie einer empirischen Untersuchung unterzogen hatte. Dennoch glaubte er, dass es nicht logisch sei, sowohl von reiner universaler Kompetenz als auch 450
von reiner je besonderer Leistung auszugehen, da Leistungsfaktoren immer durch das operationale Niveau vermittelt werden würden (vgl. LOURENCO/ MACHADO 1996, S.151f.). Dies blieb jedoch bis in die 1990er Jahre weitgehend unbeachtet. Erst in dieser dritten Phase finden sich auch verstärkt Aufsätze insbesondere aus der Allgemeinen Didaktik und der Sprach- und Naturwissenschaftsdidaktik, in denen zwischen der allgemeinen Strukturbildung nach PIAGET und situations- bzw. kulturspezifischen Ansätzen vermittelt wird. Darüber hinaus schenkte man in den 1990er Jahren zum ersten Mal PIAGETs pädagogischen Schriften intensivere Aufmerksamkeit. Insbesondere in der Bildungs- und Erziehungsphilosophie gab es einige sehr gelungene Versuche, PIAGETs Erziehungsziele sowie seine Verankerung im Kreis der Genfer Reformpädagogik um PIERRE BOVET, ÉDOUARD CLAPARÈDE und Adolphe FERRIÈRE kritisch aufzuarbeiten. 3
Schlussüberlegungen
3.1 Moden, Adaptationen und langfristiger Trend Jede der drei Phasen der Rezeptionsentwicklung ist durch stark selektive Adaptationen gekennzeichnet: In einer ersten Phase der Rezeption wurden zunächst fast ausschließlich die strukturtheoretischen Aspekte der genetischen Erkenntnistheorie wahrgenommen, gefolgt von einem zweiten Zeitraum, in dem man sich in erster Linie auf den funktionalen Aspekt stützte, während in einer dritten Phase PIAGETs erkenntnistheoretische Überlegungen aufgegriffen wurden. Letztere ist insofern hervorzuheben, da mit Rezeption der Erkenntnistheorie und ihrer konstruktivistischen Lesart oft versucht wurde, der genetischen Erkenntnistheorie im Ganzen gerecht zu werden. Auch wenn sich die Phasen zunächst als Moden darstellen, in denen das fremddisziplinäre Wissen an den jeweils dominierenden Strömungen der Pädagogik funktional assimiliert wird, kann mit der verstärkten Rezeption des erkenntnistheoretischen Gerüsts, das notwendigerweise sowohl die Frage nach den Strukturen, den Funktionen und dem Bedingungsverhältnis beider impliziert4, ein langfristiger Trend der Differenzierung in 4 Nach PIAGET bedingen sich Struktur und Funktion stets gegenseitig. Er ist nie von einem Strukturalismus ohne funktionale Elemente ausgegangen oder umgekehrt. Die Strukturen existieren nicht außerhalb der psychologischen Realität und nicht unabhängig von der Tätigkeit des Subjekts. Nach dem Assimilation-Akkommodation-Mechanismus kann die Performanz die tatsächliche Kompetenz des Subjekts strukturell übersteigen, denn das Funktionieren einer Struktur wird durch die Wechselwirkung mit der Umwelt mitbestimmt. Die Performanz wird zwar von der Kompetenz des Subjekts erzeugt, nicht jedoch durch diese determiniert (vgl. BRINGUIER, S.73f.).
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der Auseinandersetzung mit der genetischen Erkenntnistheorie ausgemacht werden. Gleichwohl vollzieht sich mit vielschichtigerer Rezeption eine Ausdifferenzierung des Verhältnisses zwischen genetischer Erkenntnistheorie und Pädagogik, mithin entwickeln sich didaktische Ansätze, die zwischen der allgemeinen Strukturbildung und situationsspezifischen Ansätzen vermitteln und didaktisch sinnvolle Verbindungslinien ziehen. Auf dem Weg zu einem differenzierteren, aber auch selbstbewussteren Umgang mit der Theorie PIAGETs zeigt sich jedoch gleichsam ein für erziehungswissenschaftliche Adaptationen typischer Mechanismus, dem sich die Erziehungswissenschaft offenbar bis heute nicht entziehen kann. Dieser zeigt sich in einer gewissen Anfälligkeit für neue und vermeintlich neue Erkenntnisse und Methoden aus den Nachbardisziplinen, die in dem Wunsch nach verbesserten Technologien, didaktischen Rezepten und zuverlässigen methodischen Verfahren für spezifisch pädagogische Fragen in einer linearen Anwendungslogik importiert werden. Dies gilt in der Rezeption PIAGETs sowohl für die unterstellte Anwendungslogik seiner Stadientheorie und Versuche als auch für den didaktischen Import seiner klinischen Methode. Hier zeigt sich eine Euphorie, die sich in einer vermehrten Rezeption äußerte, dabei Reduktionen hervorbrachte und notwendig zu starker Distanzierung, Skepsis und Enttäuschung führte. Ein derartiger Mechanismus scheint sich zu wiederholen. So lässt sich seit einigen Jahren auch wieder in der Rezeption neurowissenschaftlichen Wissens durch Erziehungswissenschaft eine ähnliche Konjunktur beobachten. NICOLE BECKER kann in ihrer Dissertation ‚Die neurowissenschaftliche Herausforderung der Pädagogik‘ zeigen, dass die Rezeption neurowissenschaftlichen Wissens in der Erziehungswissenschaft seit den 1990er Jahren stark zugenommen hat. Fehlschlüsse in Form von linearen Ableitungs- und Anwendungskonzepten würden sich zwar besonders stark im populärwissenschaftlichen Diskurs zeigen, doch auch in der Erziehungswissenschaft gebe es neben einigen sehr differenzierten Rezeptionsperspektiven Vertreter, die einerseits die Forschungsmethoden und innovativen Technologien insbesondere der Neurobiologie in dem Wunsch nach zuverlässigen Messverfahren unmittelbar in das pädagogische Feld importieren. Andererseits wolle man aus den Erkenntnissen der Neurobiologie selbst neue Methoden und Technologien ableiten. Dabei werde entweder das Ziel verfolgt, tradierte erziehungstheoretische Ansätze empirisch zu bestätigen oder neue zu generieren (vgl. BECKER 2006, S.210f.). Die Empfänglichkeit der Erziehungswissenschaft gegenüber den Entwicklungen in der Neurowissenschaft ist jedoch nur die eine Seite der Medaille. Die stärkere Berücksichtigung neurowissenschaftlicher Erkenntnisse wurde von zentralen Vertretern der Neurowissenschaften explizit als Forderung an die Pädagogik herangetragen. In der Entstehung von ‚Neuropädagogik‘ und ‚Neurodidaktik‘, die z.T. mit dem Anspruch auf452
treten, eigenständige pädagogische Subdisziplinen zu bilden, zeigt sich sowohl der aktuelle Anspruch der Neurowissenschaft als auch ihr massiver Eingriff in die Erziehungswissenschaft. Es dauerte deshalb auch nicht lange, bis sich erste kritische und stark distanzierende Positionen innerhalb der Erziehungswissenschaft herausbildeten. Die Frage, inwieweit die Neurowissenschaft in die Eigendynamik erziehungswissenschaftlicher Reflexion und Theoriebildung sowie pädagogischer Anwendungsfelder eingreifen kann, darf und sollte, ist seit einigen Jahren eine zentrale Frage im erziehungswissenschaftlichen Diskurs. Nach BECKER lassen sich zwei unterschiedliche Rezeptionsstränge identifizieren: Während eine erste Position durch den Anspruch gekennzeichnet ist, aus den neurowissenschaftlichen Erkenntnissen Handlungskonsequenzen abzuleiten, betrachten Vertreter einer zweiten Perspektive die neurowissenschaftlichen Erkenntnisse zwar als interessant, jedoch als nicht praktisch relevant. BECKER beurteilt die verstärkten Rezeptionsbemühungen zwar als positiv, bemängelt jedoch, dass die Pädagogik es bisher versäumt habe, konkrete Fragen an die Neurowissenschaft zu stellen und sinnvolle Argumente für die Notwendigkeit der Importperspektive zu formulieren. Man hätte sich bis dato zu stark darein ergeben, auf die zahlreichen Forderungen nach einer stärkeren Berücksichtigung neurowissenschaftlichen Wissens zu reagieren. BECKER fordert dazu auf, die Rezeptionsbemühungen nicht mit übermäßigen Wirkungserwartungen aufzuladen, da pädagogisch relevante Forschung vonseiten der Neurowissenschaft bisher ausstehen würde. Wichtiger sei es, gemeinsam über mögliche Forschungskooperationen nachzudenken. Dazu gehöre zunächst die Anerkennung der systematischen und methodischen Schwierigkeiten in dem Verhältnis zwischen Neuro- und Erziehungswissenschaft sowie die Reflektion über Möglichkeiten und Grenzen beider Disziplinen in ihrer interdisziplinären Zusammenarbeit (ebd., S.206f.). Dies bedeutet m.E. für die Erziehungswissenschaft, dass man sich zunächst von disziplinären Eitelkeiten lösen sollte: Weder vorschnelle Ableitungsversuche noch Distanzierung von den Neurowissenschaften sind geeignete Rezeptionsweisen, der Herausforderung ‚Neurowissenschaft‘ sachangemessen zu begegnen. Die Auseinandersetzung mit der genetischen Erkenntnistheorie hat gezeigt, dass sich die Rezeption dort als besonders fruchtbar erwiesen hat, wo auf Basis eines umfassenden und differenzierten Studiums der genetischen Erkenntnistheorie spezielle Probleme und Fragen bearbeitetet worden sind, wie z.B. in der Sprachbewusstseinsforschung. Ich kann BECKER demnach darin beipflichten, dass konkrete Forschungsfragen an die Neurowissenschaften ein nächster richtungsweisender Schritt wären. Dabei könnte m.E. eine Verbindung von Neurobiologie – insbesondere einschlägiger Standardwerke z.B. von ERIC R. KANDEL – und kognitiver Psychologie neue Perspektiven eröffnen. Auch wenn die bereits 453
etablierte Disziplin kognitive Neurowissenschaft einen derartigen Anspruch formuliert, hat sie es m.E. bisher versäumt, die kognitive Psychologie nach PIAGET, seine zahlreichen interessanten kinderpsychologischen Untersuchungen und Begriffe aufzuarbeiten und in ihre Forschungspraxis zu integrieren. Für eine solche Integration spricht, dass die Versuche und die damit verbundenen Begriffe in PIAGETs über 40 Jahre währender Forschungspraxis als Entwicklungspsychologe und der weiteren Arbeit von INHELDER hoch differenziert, umfassend fundiert und in ein sehr stabiles theoretisches System eingebettet worden sind. In der Erziehungswissenschaft ist eine theoretische Verbindung von kognitiver Psychologie nach PIAGET und Neurobiologie bisher nur unzureichend erbracht worden. Eine Ausnahme bildet die Arbeit von JÜRGEN GRZESIK, der in seiner Operativen Lerntheorie das verfügbare Wissen beider Disziplinen in Relation zueinander setzt. Zwar tritt auch hier in der Formulierung pädagogischer Konsequenzen notwendigerweise das Ableitungsproblem zwischen den molekularbiologischen Erkenntnissen der Hirnforschung und pädagogischen Maßnahmen auf, dennoch sehe auch ich in der Verbindung von neuronalem und kognitivem System zumindest grundlegende bildungstheoretische Annahmen wie z.B. ‚offene‘ Bildsamkeit und Selbsttätigkeit gestärkt (vgl. GRZESIK 2002). Da derartige Maximen zwangsläufig sehr pauschal bleiben, sollte mit der Formulierung pädagogischer Konsequenzen äußerst vorsichtig umgegangen werden. Zudem sind die Erwartungen zu mäßigen, die Grenzen des Ertrags von Erkenntnissen aus Nachbardisziplinen zu akzeptieren, um stattdessen das Augenmerk darauf zu richten, konkrete Forschungsfragen zu entwickeln. Denn aus einer ‚offenen’ Vorstellung von Bildsamkeit und Begabung sowie aus der aktiven Rolle des Kindes als Gestalter seines Lernprozesses heraus kann es nicht ausreichend sein, lediglich eine anregende Lernumwelt für die Schüler zu schaffen. Vielmehr bleibt es die originäre Aufgabe der Pädagogen, Lernangebote und Lehrgänge anschlussfähig zu strukturieren und die Kinder an Bildungsinhalte heranzuführen. Daran wird auch die Hirnforschung und kognitive Psychologie nichts ändern. 3.2 Ausblick Auffallend ist, dass es momentan relativ still um PIAGET und seine genetische Erkenntnistheorie geworden ist. Ob sich erneut verstärkte Rezeptionsbemühungen zeigen werden, bleibt fraglich. Der stark naturwissenschaftliche Zugriff auf die Pädagogik, wie ihn derzeit die Neurobiologie repräsentiert, wird im erziehungswissenschaftlichen Diskurs mit PIAGET, aber auch mit anderen zentralen 454
Entwicklungstheoretikern wie z.B. WYGOTSKI oder JOHN DEWEY kaum in Verbindung gebracht und bereichert. Nimmt man jedoch etwa die neueren Diskussionen um konstruktivistische Ansätze in der Didaktik und der Lehr-LernForschung, die nicht zuletzt durch Adaptationen aus der Neurowissenschaft stark angereichert worden sind, als Maßstab von Aktualität, dann muss man an PIAGET und seine genetische Erkenntnistheorie erinnern und feststellen, dass das konstruktivistische Paradigma um PIAGET implizit in den Diskurs eingedrungen ist. Die allgemeinen Implikationen seiner Theorie für die Pädagogik sind heute weitgehend bekannt und anerkannt: Das Individuum strukturiert seine Umwelt aktiv auf Grundlage seiner bereits vorhandenen Struktur bzw. kognitiver Schemata, die gleichwohl im dem ständigen Interaktionsprozess weiter differenziert und verallgemeinert werden. Man berücksichtigt die Notwendigkeit selbsttätigen Handelns und Experimentierens und das Vermeiden übermäßiger Instruktion. Insofern scheint PIAGET in aktuellen Diskursen durchaus präsent zu sein, auch wenn er nicht mehr direkt zitiert wird. Eine derartige Transformation der genetischen Erkenntnistheorie, bei der die allgemeinen Implikationen erhalten bleiben, aber in ein anderes Format überführt werden, würde m.E. bedeuten, dass ein erneutes Wachstum der Rezeption PIAGETs in der deutschen Erziehungswissenschaft zunächst nicht zu erwarten ist. Transformation birgt jedoch immer die Gefahr von Inhalts- und Substanzverlust. Für diverse Richtungen und Strömungen der Erziehungswissenschaft sollte sich eine verstärkte Rezeption PIAGETs Theorie durchaus lohnen, deren Potenzial bei weitem noch nicht ausgeschöpft ist. Wie und inwieweit sich das Potenzial der genetischen Erkenntnistheorie konkret gestaltet und welche Erträge wir dabei aus der Rezeption ziehen können, wird in meiner Forschungsarbeit derzeit noch ausgearbeitet. Literaturverzeichnis LES ARCHIVES JEAN PIAGET. URL: http://www.archivesjeanpiaget.ch BECKER, NICOLE (2006): Die neurowissenschaftliche Herausforderung der Pädagogik. Bad Heilbrunn: Klinkhardt BLISS, JOAN (1996): Piaget und Vygotsky. Ihre Bedeutung für das Lehren und Lernen der Naturwissenschaften. In: Zeitschrift für Didaktik der Naturwissenschaften, 3(2), S. 3-16 BRINGUIER, JEAN-CLAUDE (2004) : Jean Piaget. Ein Selbstporträt in Gesprächen. Weinheim [u.a.]: Beltz FOUNDATION ARCHIVES JEAN PIAGET (Hrsg.) (1975): Catalogue des Archives Jean Piaget = Catalog of the Jean Piaget Archives / Universite de Geneve. Boston: Hall GRZESIK, JÜRGEN (2002): Operative Lerntheorie: Neurobiologie und Psychologie der Entwicklung des Menschen durch Selbstveränderung. Bad Heilbrunn: Klinkhardt HAGGBLOOM, STEVEN et al. (2002): The 100 most eminent psychologist of the 20th century. RankOrdered Textbook Citation List (TCL)/ Rank-Ordered Journal Citation List (JCL) The 102
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Autorinnen und Autoren
MICHAEL BOSSELMANN, Dipl.-Päd., Leiter der Kinder- und Jugendpflege Adendorf MONIKA BOTHE-SCHARF, Gymnasiallehrerin, Doktorandin an der Leuphana Universität Lüneburg CORINNA MARIA DARTENNE, M.A., Doktorandin, Mitarbeiterin im Studiendekanat Lehramt an der Leuphana Universität Lüneburg HANNAH DENKER, Dipl.Psych., Berufsschullehrerin ELMAR DRIESCHNER, Dr.phil., Postdoc-Stipendiat und Lehrender an der Leuphana Universität Lüneburg, Mitglied im Forschungskolleg Frühkindliche Bildung der Robert Bosch Stiftung MARCUS ERBEN, M.A., Doktorand an der Leuphana Universität Lüneburg MARTIN FROMM, Univ.-Prof. Dr. phil., Professor für Pädagogik an der Universität Stuttgart DETLEF GAUS, PD Dr. phil., M.A., Dipl.-Bibl., Vertretungsprofessor für Allgemeine Pädagogik an der Leuphana Universität Lüneburg ALEXANDER GRIEBEL, Lehrer, Doktorand an der Leuphana Universität Lüneburg DIETRICH HOFFMANN, Univ.-Prof. Dr. phil., Professor (em.) für Allgemeine Pädagogik an der Universität Göttingen HANNA KIPER, Univ.-Prof. Dr. phil., Professorin für Schulpädagogik mit dem Schwerpunkt Theorie und Praxis des Sekundarbereichs I an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg MARTEN KIRSCHNER, B.A., Mitarbeiter am Institut für Bildungswissenschaft an der Leuphana Universität Lüneburg TORBEN KNEISLER, Lehrer, Doktorand an der Leuphana Universität Lüneburg
KARL NEUMANN, Univ.-Prof. Dr. phil., Professor a.D. für Schulpädagogik an der Technischen Universität Braunschweig AXEL NATH, PD Dr. rer.soc., Außerplanmäßiger Professor für Historische Bildungsforschung an der Leuphana Universität Lüneburg SHINJI NOBIRA, Prof. Dr. paed., Assistenz-Professor für Allgemeine Pädagogik an der University of Toyama JÜRGEN OELKERS, Univ.-Prof. Dr. phil., Professor für Allgemeine Pädagogik an der Universität Zürich KLAUS PRANGE, Univ.-Prof. Dr. phil., Professor (em.) für Allgemeine Pädagogik an der Universität Tübingen, Honorarprofessor an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg MATTHIAS VON SALDERN, Univ.-Prof. Dr. phil., Professor für Schulpädagogik an der Leuphana Universität Lüneburg HARTMUT TITZE, Univ.-Prof. Dr. phil., Professor a.D. für Historische Bildungsforschung an der Leuphana Universität Lüneburg PETER VOGEL, Univ.-Prof. Dr. phil., Professor für Allgemeine Erziehungswissenschaft und Berufspädagogik, Dekan der Fakultät für Erziehungswissenschaft und Soziologie an der Technischen Universität Dortmund
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