Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft Henusgegeben von Helmut Berding,Jürgcn Kocka Hans-Pctcr Uilmann, Hans-Ulrich Wchler
Ballcl147
Jürgcn Osterhammcl Geschichtswissenschaft jenseits des Nationalstaats
Vandenhoeck & Ruprecht in Göttingen
00048371
Geschichtswissenschaft jenseits des Nationalstaats Studien zu Beziehungsgeschichte und Zivilisationsvergleich
von
Jürgen Osterhammel
Vandenhoeck & Ruprecht in Göttingen
2001.
33669
U,ngltlagabbildutlg: Golkonda Rene Magritte C VG Bild-Kunsl, Bonn 2001
OsImuJlmttd,jii'Y'" : GesclllchbOWlsscnschaftJenseits des N;monalswlS;
StudIen zur Ikzlchungsgcschichlc und
Z'Vlh~UOIIS\'ergbch.
GötullS\"1I : Vandcnhoeck und Rup~dll. 2001
(Knuschc SlUdlClI zur GcschichlSWl~lIsch.. ft : Bd. 147) ISUN 3-525-35162-3
Cl 2001, Vandcnhoc..'Ck & Ruprcclu. GöttiTlb'ClI. InterncI: hnpJ/www.vandcnhocck-ruprt'Chtode Alle Rcdllc vorlxhahcn. D:as Werk einschließlich seiner T('ilc ist urhcbt'rrecltdich !:;('schützl. Jede Verwertung außcrh:llb der cllb'l"n Grenzen des Urhcberrccht%onclZcs ISI ohne Zustimlllung des Vcrbb'CS ullzulässig und stnfhu. D:as gilt msbesondere rur \'c;rvicll1ihigungen. Ülxrselzungcn,
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ftn '4.11'"
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Inhalt
Vonvort I.
Transkulrurell vergleichendc Geschiclltswisscnschaft
2. Sozialgcschichte im Zivilisationsvcrgleich
7 11
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3. DifTerellzwahrnchmungen. Europäisch-asiatische Gesichtspunkte
4.
5.
zur Neuzeit
73
Neue Welten in der europäischen Geschichtsschreibung der Frühen Neuzeit
91
Nation und Zivilisation in der britischen Historiographie von I-turne bis Macaulay
103
6. Raumerfassung und Universalgeschichte
15\
7. .Höherer Wahnsinn«. Universalhistorische Denkstile im 20. Jahrhundert
170
8. EIltdeckung und Eroberung, Neugier und Gewalt. Modelle frühneuzeitlichen Kulturkont:a.kts
183
9. Kulturelle Grenzen in der Expansion Europas
203
10. Wissen als Macht. Deutungen interkulturellen Nichtvcrstchens bei Tzveun Todorov lind Edward Said
240
11. Mukt und Macht in der Modemisierung Asiens: J3pan, China und Indien im Vergleich
266
12. Kneg im Frieden. Zu Fonn und Typologie imperia.ler Interventionen
283
5
13. Der europäische Nationalstaat des 20. Jahrhunderts. Eine globalhistorische Annäherung
3?2
14. Aufstieg und Fall der neuzeitlichen SkJavcrei. Oder: Was ist ein weltgeschichtliches Problem?
342
Abkürzungen
370
Nachweise
371
ncgister
372
6
48371
VOIwort
Die in diesem Band gesammelten Aufsätze sind in einem besonderen Sinne kritiK/re Studien zur Geschichtswissenschaft. Im Verlaufe der neunziger Jahre ohne planvollen ZUS:lmmenhangentsunden, werden sie verbunden durch den Einspruch gegen eine national historische Selbstbezogenheit und einen Europ3zentrismus, wie sie die deutsche Neuzeithistorie von den Historiographien vergleichbarer Wissenschaftsnationen bnge unterschieden haben. Zugleich sollen sie die jüngst erkennbaren zagl13ften Bemühungen unterstützen, über diesen Zustand hinausfinden. Nun gibt es zwar leicht einsehbare real- und wisscnschaftsgcschichtliche Ursachen der gegenwärtigen Verhältnisse, aber immer weniger Gründe, sich mit ihrer Fortexistenz 3bzufinden. Es genügt, auf zwei Argumente zugunsten eincr Erweitcrung des geschichtswissensch3ftlichen Aufmerksa.mkcitsfeldes zu verweisen. Zum einen bildet die Universität heute Geschichtsstudemen für sich rasch »globalisierende. Berufsfelder aus, etwa die Medien oder das kulturelle Management, in denen man mit den Erträgen eines kleineuropäischen Geschichtsstudiums nicht allzu weit kommt und wo zumindest eine universalhistorische Grundbildung hilfreich wäre. Zum anderen ist es eben die itGlobalisierung. selbst, vor der Historiker um so hilfloser verharren, je eifriger die Sozialwissenschaften, einstmals Waffenbrüder im Streit mit einer verstaubten »Politikgcschichte., sich des Themas bemächtigen. Gewiß wäre es töricht, mit volltönenden Globalitätsparolen die postmoderne Kritik:m den .großen Erzählungen. vom TIsch zu fegen oder die zarte Empirie gelungener Mikrogeschichte durch Makro-Schemata zu überrollcn. Im Gcgcntcil: gerade die Skepsis gegenüber Ilgroßen Erzählungen. sollte einen Raum zur wissenschaftlichen Befassung mit denjenigen öffnen, die durch eben jene Großentwürfe ins weltgeschichtliche Abseits gestellt wurden. Nur ist es mit dem Aufblättern eines kulturgeschichtlichen Bilderbuches nicht getan. Eine allzu überschwengliche Hinwendung zu den .Anderenll in ihrer angeblich nur durch anthropologische Erkenntnisweisen zu erfahrenden .Fremdheit. vef'W3ndelt die Geschichte Amerikas, Asiens und Afrikas in das gehobene Äquivalent eines Hochglanzreisemagazins. So zieht sich durch die folgenden Kapitel, die von der Wirtsehaftsüber die Sozial- und Kulturgeschichte bis zur Geschichte der internationalen Beziehungen die verschiedensten Bereiche historischen Wissens berühren, nicht nur eine Abneigunggegen überscharfe Richrungsfornlierungen, sondern
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auch eine unterschwellige Polemik gegen binäre Klassifikationen: Europa / Außereuropa, Wir I die Anderen, das Eigene / das Fremde. Da auch die eingefuhrten Epochengrenzen mit einer gewissen Nonchalance behandelt werden, wird mein Plädoyer ror die Einheit der Geschichtswissenschaft hoffentlich durch das Beispiel Ubcrzeugungskraft gewinnen. Die hier zusammengestellten Texte summieren sich nicht zu einem Programm, begründen kein neues .Paradigmatt,ja, können noch nicht einmal mit einem griffigen Richtungsetikett dienen. Sowohl.transnationab, als auch .interkulturelle« GeschichtsSChreibung kämen dem Gemeinten nahe, auch .Globalgeschichte« wäre nicht ganz unpassend, wenn es nicht allzu unbescheiden klänge. Unerläßlich ist es aber, so deutlich wie möglich festzustellen: Es geht nullt darum, die Sache der »Außereuropäischen Geschichte.. als eines weiteren institutionalisierten Teilbereichs der Geschichtswissenschaft zu stärken und zu ver(echten. Die Bezeichnung llAußereuropäische Geschichte.. ist eher Teil des Problems als seiner Lösung. Sie bündelt allzu Heterogenes: ZivilisationeIl, die wenig mehr miteinander gemeinsam haben, als irgendwann im Laufe der Neuzeit einmal Zielgebiete der curopäischen Expansion gewesen zu sein.Je mehr die Forschung die jeweils ganz spezifische Handlungsf;ihigkeit (lfagency..) der Kolonisierten und dic Begrenztheit europäisch-imperialer Einflußnahmcn herausstellt, desto mehr enthüllt sich der pauschale Sammelname des lIAußereuropäischen.. als nützliches EntsOrgungskonstrukt.•Außereuropäische Geschichte.. ist eine eurozentrische Restkategorie, ein großer Sack, in dem das angeblich Fremde, E.xotische. weniger Geschiehtsmächlige verschwindet, eine modernisierte Y.:ariame der Rede von den ..geschichtsloscn Völkern .., die sich das 19. Jahrhundert ausgedacht haue. Wenn es also in diescm Band nicht darum geht, für die .Außereuropäische GeschichtelC um Ansehen und Ressourcen Zll werben, worum geht es sonst? Das Ziel, das heute aufder Tagesordnungsteht, ist dic Integration von Amerika, Asien, Afrika und Oze:mien in den Horizont der lInormalenlC Geschichtswissenshaft, die erst dadurch eine wirklich lIallgemeine~ würde. Diese Intcgr:uion müßte zwei Seiten haben, die untrennbar zusammengehören. Auf der einen Seite ist eine institutionellc Öffnung unerläßlich: neben der stärkeren Verankerung des Nicht-Okzidcntalen in der Forschung und - am wichtigsten! - der Lehre etwa auch eine Öffnung der maßgebenden ZeitsChriften und Schriftenreihen fur Themen aus unkollVentionellen Zusammenhängen, die Organisation von ..tr.mskominenulenlC Tagungen oder Sektionen auf Historikertagen, usw. Auf der anderen Seite bliebe eine selche institutionell: Ein\'erleibung unvollständig,ja, geradezu bodenlos, ohne eine nur langsam entstehende Kultur kosmopolitischer Aufmerksamkeit. Anleihen bei weltläufigen N:aehbarfaehern wie der Kulturanthropologie und der vergleichenden Makrosoziologie sind hier unerläßlich, g:arantieren aber keineswegs den Erfolg. ltOrder methodi-
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schen Zurichtung von Wissen steht, wie jedennann im Proseminar lernt, ein llll~. Es ldme daraufan, eine I-Ialtungder Offenheit und Neugier entstdten zu lassen, die sich über die Einstellung hinwegsetzt, nur die Modernitäts- und Machtentfaltung des neuzeitlichen Europa (und die Dimension seiner Verbrechen) rechtfertigten historische Aufmerksamkeit. Sagen wir es also altmodisch lind beherzt: An die Seite einer Historie mit nationalgeschichtlicher auch nationalpädagogischer Selbstbcauftragung und einer solchen, die sich die historische Idemitätsstärkung Europas vornimmt, muß eine Gesr1liduf ill ,veltbiirgmitlluAbsil"/11 treten. Sie sucht im Normalfall nicht nach global gültigen Antworten auf höchstmöglicher Abstraktionsswfe, tellt aber ihre Fragen in einem universalen Horizotlt. Auch bemüht sie sich - eines der fruchtbarsten der möglichen Resultate des 1I1inguistic turnl< - um ein Gcspür fiir das Generalisierungspotential gcschichtswisscnschaftlicher Begriffe. Weder mit dem verstchenden Nachvollzugderje besonderen Selbstbeschreibung von Kulturen ist es allein getan, noch mit einer vorgeblich allgemeingiiltigen und kulturneutralen Tenninologie. Hier Mittelwege zu finden, ist eine der großen Aufgaben der Zukunft. Im UmertitcJ des Bandes finden sich die Begriffe .Zivilisationsvergleichl< und lIBeziehungsgcschichtel<. Der erste der heiden wird in den Kapiteln I und 2 ausftihrlich erläutert. Es soll aber schon hier dar:wfhingcwiesen werden, daß ich den makrohistorischen Zivilisationsvergleich keineswegs als einen .Königsweg. empfehle. Ich halte ihn für einen vielversprechenden, aber in der Durchführung ungemein anspruchsvollen Zug.mg zu historischer Erkenntnis. der nur dann vcrant\Yortbar ist, wenn man sich von A.nfang an deutliche Rechenschaft über die Brauchbarkeit und die Gefahren essentialisierender Kulturbcgriffe ablegt. »BeziehungsgeschichtelI, eine Bezcichnung, die sich in den neunziger Jahren verbreitet hat, taugt kaum als gehärtete Kategorie und drückt eher eine semantische Verlegenheit aus; man kann das Wort nur schwer in andere Spldchen übersetzen. Selbstverständlich sind .Beziehungen.der Stoff, aus dem Geschichte seit Anbeginn gemacht ist. Noch Hir Leopold von Ranke, den l-fistoriker des friihneuzeidichen Europa, war das unbestritten. Nur eine eng nationalhistorische Den\...-weise hat es vergessen lassen. Heute muß man erneut daran erinnern, wie wichtig inteTllaliomtfe Beziehungen als sich keineswegs in .Politikgeschic!ttetj erschöpfender Gegenstand der Geschichtswissenschaft sind und daß es neben imernation.alen zahlreiche andere" Arten von Beziehungen gibt. Seit den späten achtzigerJahren hat mit Recht der Kulturtransfer viel Aufmerks.:l.mkeit gefunden. »Beziehungsgeschichte. soll .also nicht mehr sein .als eine möglichst weit greifende BegrifTskJammcr, die Relationales aller An lImfaßt. Man kann durchaus so weit gehen zu behaupten, zwischen den Polen Vergleich und Bcziehungsgeschichtel:asse sich die ganze Weltgeschichte einfangen. Es darfdabei jedoch nicht übersehen werden, daß die beiden Begriffe 10-
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gisch nicht ganz :mfder gleichen Ebene liegen: Obwohl Menschen sich immer schon mit den Angehörigen des Nachbarstammes, der Nachbarstadt oder der Nachbarnation verglichen haben, ist der lvi.JsetlSlhafllilhe Vergleich ein artifizIelles Verfahren, das eine abstrahierende Präparierung distinkter Analyseeinheiten zu erklärenden Zwecken verlangt, anders gesagt: die kontrollierte Reduktion von Komplexität. Beziehungsgeschichte, insbesondere die Geschichte kultureller Beziehungen, ist hingegen an der Komextllalisicrung von Wirkungsverhältnissen interessiert, also an Komplexitätsanreicherung durch feinstrichigc Beschreibung. Man bnn überdies kulturelle Transfers (um bei diesem Beispiel zu bleiben) umersuchen, ohne sich viel Mühe mit dem Vergleich von Makrostrukturen, aJsoganzen Nationalgesellschaften oder Zivilisationen, zu machen. muß indes umgekehrt bei Vergleichen aller An mögliche gegenseitige Einflußnahmen zu klären versuchen; manche -.einheimischen Traditionen.. sind nämlich nicht nur »erfunden .., sondern lIimportiert.., also Akkulturaüonsresultate. Der Vergleich setzt daher beziehungsgcschichtliche Recherchen voraus und ist somit der Bezichungsgeschicluc logisch nach- oder übergeordnet. Daher besteht zwischen beiden weder ein ausschließender Gegensatz noch ein säuberliches Kom pleme ntari tätsVerhäIm iso Ieh danke den Henusgebem der .Kritischen Studien zur GeschichtsWissenschaft", insbesondere Hans-Ulrich Wehler, sowie dem Verlag Vandenhoeck & Ruprecht für die Einladung, einen Band mit Aufsätzen zusammenzustellen. Diese Einladung habe ich erst nach langem Zögern angenommen und mir die Auswahl nicht leicht gemacht. Mein langjähriges Haupt.1.rbeitsgebiet, die neuere Geschichte Chinas, ist in diesem Buch nicht vertreten, ein neuerer Bereich, die Geschichte interkultureller Wahrnehmungen, nur am Rande berücksichtigt worden. Die meisten Texte wurden im Detail überarbeitet, ohne daß die großen Argumemationslinien der Erstfassungen verändert worden wären. Johannes Heger hat bei den Redaktionsarbeiten geholfen und das Register angefertigt; Niels P. Perersson und Bons ßarth, meine kritischen Konstanzer Mitarbeiter, haben Irrtümer allf~spürt und zahlreiche Verbesserungen vorgeschla~n. Selbstverständlich ist eine Geschichtswissenschaft in weltbürgerlicher Absicht auch im deutschsprachigen Raum keine originelle Erfindung. Unter denjenigen, die sie nachdrücklicher als andere angeregt haben, möchte ich besonders Rudolfvon AIbertini,Jörg Fisch, Ulrich Haarmann (t), Harrmllt KaeibJe, JOrgen Kocka, Wolf Lepenies, Christian Meier, Wolfg.mgJ. MOl1lmsen, Wolfgang Reinhard, Diem13r Rothermund, JÖnt Rüsen und Helwig Schmidt-Glintzer nennen. Am größten ist die Dankbarkeit, die ich gegenüber Emst Schuiin empfinde. Ihm mochte ich d;as Duch widmen. Wassenaar, im September 200]
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Jürgen Osterhammel
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1. Transkulturell vergleichende Geschichtswissenschaft I. Nähe und Ferne im transkulturellen Vergleich Eines der Monumentc historischer Gelehrsamkeit und Synthesekraft, Mare Blochs »La socicee feodale. (1939/40), seellt ein KcrnthcIll3 der curopäischen Gesellsehaftsgesehiehte in einen dic kulturellen Grenzen Europas überschreitenden Zusammenhang. Marc Bloch beginnt sein Portrait des hohen Miuelalters mit eincr Darstellungjcncr Invasioncn der christlichcn Ökumenc durch Araber, Ungarn und Normanncn, die bis über die Jahrtausendwcnde hinJus Zerstörungen und Instabilität, aber in brciten Randzollcn - England, Nordfrankrcich, Spanien, Sizilien - auch sozialökonomischc Ncubildungen und kulturelle Mischungen zur Folge hauen. Jahrhundcrtelang häuen die großen und gewaltsamen Völkerbcwegungen »donne sa trame a I'histoire de I'Occident., und Bloch fugt mit Bedacht hinzu: ltComme acdle du reste du mondetl. 1 Im Vorfeld des westlichen Europa - und weltweit nahezu nur dort - kamen diese Invasionen dann abcrzum Stillstand. Die Mongolcn zcrstörtcn das Kalifat von Bagdad und beendeten die große Blüteperiode der Song-Dynastie in China; sie beherrschten rur etw:l 250 Jahre den größten Teil Rußlands. Aber sie berührten die Sphäre des lateinischen Christentums ebensowenig, <wie später die Osmanen mit all ihrer überlegenen Macht über Zcntr.tlungarn hinaus vorzudringen vermochten. Marc Bloch sicht - wie vor ihm schon Edward Gibbon - in -eene extraordinaire immunite. nichts weniger als »un des facteurs fondamentaux de la civilisation eUfOpCenne, au sens profond, au sensjustc du mot•. 2 Für Europa sei dadurch "une evolution culturelle ct sodale bcaucoup plus reguliere« ermöglicht worden, »salls la brisure d'aucunc anaque exterieure ni d'aucun amtlX humain etrangenc) Mit Ostkolonisation, Kreuzzügen, der spanischen Reconquista und der sich aus ihr entwickelnden Eroberung und Kolonisierung Amerikas wurde Westeuropa, so wäre hinzuzufiigen, dann selbst zu einer expansiven, ihre Grenzen voranschiebenden Zivilisation. Außer dem europäischen Westen war es, wie Marc Bloch hcobachtet, nur Japan, das von den eurasiatischen Völkcrseümlen verschont blieb. Mit einem I M. Bl«h. U socittc feexblc. Paris 1969. S. 95.
2 Ebd. 3 Ebd.
11 •
Blick aufJapan beendet Bloch sein Buch, das er mit den Sanzencn begonncn hanc. Im vorletzten Kapitel läßt er aufeinen Vergleich zwischcn den verschiedenen nationalen Pfaden der Staatsbildung im spätmittelalterlichen Europa auf höherer Abstraktionsebene eine universalisierende Bcrrachtung folgen. Er bildet zunächst zusammenfassend eincn Realtypus -europäischer Fcudalismus.~ und schließt daran die Vermutung an, »<Jue des civilisations differentes de la nötre n'aient traverse un stade approximativemcm analogue a celui qui viem d'ctre dcfini •. s Ohne den Anspruch zu erheben, ci ne wahrhaft weltweitc Suche unternommen zu haben, weist Bloch auf den offenkundigen Parallelfall Japan hin, notiert aber sogleich charakteristische Abweichungen desjapanischen Feudalismus vom europäischen Modcl1.6 Haben andere Gesellschaften eine ähnliche Phase des Feudalismus durchlaufen? ~Et, s'il en a ete ainsi, sous !'action de quelles causes, pellt-etre communes?7 Mit diesen Fragen eröffilet der Mitbcgründer der .Annales. eine bis heute unabgeschlossene Diskussion. In seinem manifestartigen Aufsatz von 1928, .Vour une histoire comparee des socictcs curopCenncs..:, hatte Marc Bloch bereits zwischen zwei Artcn dcs Vergleichs unterschieden: einerseits dem Vergleich zwischen Gesellschaften, die in llaum und/oder Zeit so weit voneinander getrennt sind. daß Ähnlichkeitell zwischen ihnen nicht auf einen gemeinsamen Ursprung oder auf Bceinnussung zurückb"Cftihrt werden können, andererscits dcm Vergleich zwischen zeitgenössischcn, benachbarten und in engen AustauschbeziehungeIl miteinander stehenden Gesellschaften verwandter l-Ierktlnft. 8 Nachdem er siel} während der dreißiger Jahre nicht llur mit Ostasicll, sondern auch mit dem islamischen Zivilisationsb"Cbier beschäftigt hanc,9 kam Bloch in .La socictc fCo
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will, durch zwei trans-kllfrurelle Perspektiven eingcrahnu: den Slnlklllrvergfeilil im Fernverhälmis (z.B. zwischen Europa und Japan), der methodisch auf der Distinkthcit der Vergleichseinheiten beruht, und die interkulcurelle Bezielultlgsgesclljlllte, aus deren Sicht eine jede besondere Gesellschaft auf ihre Prägung durch exogene, fremd kulturelle Einflüsse befragt werden muß.II Wie Strukturvergleich und ßeziehungsgeschichte verbunden wc:rden können, hat ein Jahrzehnt nach Mare Blochs Anregungen und auf seinen Spuren Fernand Braudcl gezeigt. In seinem großen Werk über den Minclmeerraum spielt der Vergleich zwischen den strukrurell in mancher Hinsicht einander fernen, aber geographisch nahen lind in konflil••- ucichen Beziehungen zueinander stehenden Imperien der spanischen Habsburger und der türkischen Osmanen eine zentrale o.olle. 12 Ein Vergleich zwischen Spanien und. beispielsweise, seinem nordwestlichen Nachbarn Frankreich scheint sich von einem solchen zwischen Spanien und seinem Gegenüber im Süden des Minelmeeres, dem Osmanischen Reich, dadurch abzuheben, daß jener i,ltra-kulturell ist, dieser aber '-II/er-kulturell: Es werden Phänomene verglichen, die ullterschiedlichen IIKulwrenli zugchören. 1J Man vergleicht nicht elltre "OIlS, sondern setzt die -eigene« Geschichte in ein Verhältnis zu derjenigen, wie oft gesagt wird, der IIAnderenll. Es ist dies freilich ein Unterschied, dessen anfangliche Plausibiliüt bei gcnauerer Überlegung zweifelhaft werden kann. In theoretischer Hinsicht beginnen die Probleme mit dem Kulturbcgriff: »<>neofthe {Wo or three most complicated words in the English languagc.'~ - und selbstversündlich nicht nur in der englischen Sprache. Holistische Kulturkonzeptc, denen zufolgc eine Kultur als ein geschlossenes Ensemble spezifischer und unverwechselbarer lebensformen und Symbolisierungen betrachtet werden muß,lS sind in der edlllologi11 ZWlschcn di~ll .crundfonncll univcrsalhislorischcr Betrachtung_ unlcrschcidct E. SeIIll/in. EmleiulIlg. in: CkrJ. (I-Ig.). Univerulgc.schiehtc. Köln 1974. S. 11--65. bei. S. 42-45. 12 F. BrlIlldtl, U Medilcrnnee CI Ic mondc mtdilcrnnecn i I'tpoque dc Philippe 11, Pans 196&. bcs. Teilli. ~pilcl4-5. Vor Braudel halte Lcopold von lunke in SClllelll Wcrk .Die Osmanen und dic Spanischc Monarchic ill1 16. und 17. Jahrhunden_ (Leipzig Isn) das Thcma behandelt. aber noch vorwiegend ullIcr dem Gc.'siehlspunkt des lI1achlpolitischcn AnagonislI1us. Über I>irellllcs Einfluß auf ßraudcl vgl. 1>. BII""t. Offene Gcschichte. Die Schulc der .Allnalcsll.A. d. Eng!. v. M. Ficnbork. ßcrlin 1991. S. 42f. IJ Daß begriffsb'Cschichtlich zwischen .Kultur(cn)_ und .Zivilis;lIion(cn)_ niehl kbr untcrselm'den werden k:mll. zeigt). Fisth • • Zivilis;alion, Kultur_, in: O. Bnm'ltf U.:L (I-Ig.), Geschidllliehe Gnllldbcgriffe. I-listorischn lc,nkon zur politisch-sozialen Sprache in DeulSChland, Bd.7, SlUllgan 1992. S. 679-n4, bes. S. 681. Die bcidcn Begriffc "''erdcn fomn tt'iI.....l':isc synonym vt:rv,t>lldet. J.4 R. W·dlwms. KC}""'O«ts: A VOClbul.uy ofCulture and Soc:~ty, London 1976. S. 87. I'; Vor allcm durch die Schriftcn ,-on C. Gmtt Iutdlesc Konzl:'pClon Clll bcuichdiches Prestige unter Hislankern gewonocn. Vgt zu G«nz' mehrfachen Dcfilllllonsvasuchen von _Kultur_: R.. G. W.JIm. Clifford G«nz ;l.lld thc HlSton2r1S, in: Social Rcse
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sehen Theorie, die auf diesem Gebiet die theoretischen Maßstäbe setzt, nicht unumstriuen. Mit immer dichter werdendem Kontakt zwischen den Zivilisationen im Verlaufe der Neuzeit sind sie gerade fur die Erfordernisse einer universalen Geschichtswissenschaft nur bedingt brauchbar. Die unverfalscnte Authentizität einer Kultur, wie sie durch transkuhurelle henneneutische Bemühung zu erfassen wäre, ist unter den neuzeitlichen Bedingungen von interkultureller Beeinflussung, Zerstörung, Überlagerung und Vermischung eine Chimäre, auch wenn die idemitätsstiftende Selbstbehauptung und Re-Traditionalisierung bedrohter peripherer Völker und Gruppen ernstgcnommcn und als wesemlichcs Moment der Geschichte des 20. Jahrhunderts erkannt werden muß. In der Geschichte der "AnderenIl finden sich stets Elemente der eigenen: das Fremde wird in seiner »otherness« zum Spiegel seiner europäischen Betrachter. 16 Aber auch vOrtheoretische Überlegungen zeigen, wie schwierig Grenzen zwischen den Kulturen zu erkennen sind l1 und wie ungewiß es daher oft ist, wo der imraklilturelle Vergleich endet und der ill/erklilturelle oder tr(lI/skulturellc beginnt. Anders gesagt: Es ist durc11aus nicht evident, wo die kulturellen Grenzen Europas verlaufen. Die bei Bloch und Braudcl angesprochenen Beispiele können dies verdeutlichen. Das Osmanische Reich war ein militarisiertes Vielvölkerimperium mit einer islamischen Machtelite und Bevölkerungsmehrheit, aber auch mancher Nische fUf nichtislamische Minderheiten. Zwar stand es strukturell in einem deutlichen Kontrast zu den relativ homogen~n Nationalstaaten des westlichen Europa (in einem viel weniger deutlichen zum Zarenreich), doch es bctrieb eine Machtpolitik, die sich in ihrer Logik von derjenibrcn der europäischen Großmächtc nicht signifikant unterschied. Noch 1856 wurde die I-lohe Pforte offiziell als Teilnehmcrin am Europäischen Konzert bcstäligt,l~ und rur die Frühe Neuzeit kann man das Osmanische Reich nicht nur aus geograph ischen Gründen weniger als "außereuropäischesll Staatsgebilde dellnneben Schweden und Rußland - als eincll der >,outsiders of Europe« betrachtcn. 19 Japan hingegen schcint in jeder Beziehung der Inbegriff des Außereuropäisch-Frcmden zu sein, als den es schon 1565 der portugiesischeJesuitenmissio-
16 Diese Übcrlegtlngt>n werdell am Ende dieses Aufsatzes fortb'CSCtZt werden. 17 Innereuropäisch stellt sich ein :allllliches Problem bei der Dem~rkation von Sub-Kulturen gegeneinander. Vgl. P. Bmkt, History and Sodal Thcory. Cambridgc 1992, s. 124f. Zum Problem der kulturel1~n Grcr.z(,ll :n .'\sicn Vb!. die oc,m::rkcllswerlet1 Üb.:-riegilllgen bei K. 1'..'. Ch.mJlmri. Asia bcfore Europe; Economy aud Civilis:atioll ofthc Indian Qcean from thc Rise oflsbm tO 1750. Call1bridgc 1990. bcs. K.:ap. I. 2 und 5. 18 Vgl. T. N'!iJ. Thc OttorTUn Empire :wd the Europcall Starcs System. in: H. BIllI u.A. W"UOII (I-Ig.). The Expansion oflmernational Sociesy. Oxford 1984. S. 143-169, hier S. 163, S. 169. 19 Vgl. etwa R. &m,,/')', Thc Europcan Dyn:mic Stares 1494-1660. Qxford 1991, S. 242ff.
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nar Luts Fr6is in einem kulturvergleichenden Traktat darstellte. 20 Nach seiner »Öffnung« 1854 und vor allem seit der Meiji-Rescauration von 1868, die ihrem Wesen nach ein PUlSch von Reformkräften innerhalb der alten Machtelite war, übernahm es jedoch in vielen Bereichen seiner staatlichen und gesellschaftlichen Organisation Elemente des Westens und verwandelte sich,je nach zeitgenössischer Perspektive, in ein »Briuin of the East« oder ein »Preußen Asiens«. Die von Marc Bloch (und einigen Vorgängern) rur Mittelalter und Frühe Neuzeit festgestellte west-östliche Homologie der Gesellschaftsformen findet in der Moderne ihre Fortsetzung. Deshalb ist Japan trotz all seiner kulturellen Fremdheit in Sprache, Religion und kollektiven Wertorientierungen seit etwa 1880 westlichen Industriegescllschaften strukturell nahe verwandt und auf Gebieten wie der wirtschaftlichen oder der staatlichen Entwicklung mit Hilfe eines kaum modifizierten Instrumentariums intra-kultureller Komparatistik mit europäischen Nationalstaaten relativ gut vergleichbar?1 Ungeachtet aller geographischen und kulturellen Distanz steht etwa das Deutsche Reich im frühen 20. Jahrhundert in seiner sozialökonomischen Beschaffenheitjapan näher als zum Beispiel den agrarischen Gesellschaften des europäischen Balkan. Die Problematik interkultureller Abgrenzung und das Fragwürdige der geläufigen Ordnungskategorien ließe sich an zahlreichen weiteren Beispielen illustrieren. Dürfen die IIneo-europäischen~ Gesellschaften in Nordamerika, Australien und Neuseeland einem Makro-Typus IIwestliche Zivilisatiolw subsumiert werden, oder soll man sie, in Tocquevillescher Tradition und eincm starken Strang ihres Selbstvcrständnisses folgend, als Gesellschaften eigener kultureller Prägung auffassen? Ist ein Vergleich zwischcn russischer leibeigenschaft und amerikaniseher Planugensklaverci dahcr cincr innerhalb kultureller Grcnzcn oder über sie hinweg?23 Weiterhin: Wie wäre Lateinamerika einzuordnen? Üblicherweise wird, jcdenfalls in Deutschland, seine wissenschaftliche Behandlungder IIAlIßcrcllropäischen Geschichte« zugewiesen. Worin aber liegt die fTcmdkultuTelle Andersartigkeit von Ländcrn wie Argentinien, Uruguay,
20 Auszüge in P. Kapilza (Hg.),Japan in Europa. Texte und BilddokumclUc zur europhschcn Japankenmnis von Marco Polo bis Wilhdrn von HurnOOlde, München 1990. ßd. I. S. 132-139. 21 Vgl. e~ ~us einer umfangreichen Uter.lIIur: D. S. Lot/da, Die Industrialisicrung in Japan und Europa. Ein Vcrgleich. in: W. Fislht'r (Hg.). Wirtschafts· und sozialb'Cschiciltliche Probleme der frühen Industrialisierung. Ikrlin 1968, S. 29-117: R. P. Dorr, ßrilish FaclOry - Japanese Factory: Thc OriginsofNaeional Diversity in Induserial nelations. Ikrke1cy 1973; B. S. Silbmrnm, Cages ofneason: The Rise ofehe Radonal Seate in France,J3p~n, lhe United S[lIees and Great ßri[llin, Chingo 1993J. P. Pawdson, CcIUUriCS ofEconomic Endcavour: Parallel Paths in Jap~n ~nd Europe and Thcir Contrase with ehe Third World, Ann ArOOr 1994. 22 Der Ikb'1"ifTwird erBiutcn bei A. Crosby. Ecologicallmperi~lism: The ßiologic:r.1 Expansion ofEurope. 900-1900. Cambridgc 1986. S. 2(. 23 Vgl. P. KDkhin, Unfrce: ubor: Amcrican Sla\'cry and nussian Serfdom, Cambridge, Mass. 1987. sowie S. D. BawlIlan, Masters and lords: Mid-l9t.h-Ce:mury U.S. Planters and Prussian Junkers. NewYork 1993.
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Chile oder selbst Venezuela, die katholisch und hispanophon sind und in denen (anders als etwa in Peru, Bolivien oder Guatemala) ein indianisches Bevölkerungselement kaum ins Gewicht fallt? Erfordern daher ein Balkan-Lateinamerika-Vergleich unter dem Gesichtspunkt peripherer Sta3tenbildung oder ein Vergleich der argeminischen und der australischen Exportökonomien die besondere Umsicht einer 'ra1lskulturellen Methodik? Das Fazit dieser fragenden Oekonstruktion des »Anderenw und »Außereuropäischenw ist die Warnung vor einem verdinglichenden Mißverständnis kultureller Besonderheiten und vor einer Verabsolutierung eher gradueller und immer erst aus der wechselnden Perspektive spezifischer OeUlungsinteresscn zu bestimmender Unterschiede. Solche Unterschiede müssen überdies• selber historisiert und zu Gcgenständen historischer Forschung werden; MakroKategorien und »asymmetrische GegenbegrifTe;4 wic EuropalNicht-ElIropa, OkzidenriOricnt, cntwickelt/unterentwickelt, Erstc/Zweitc/Oritte Welt, usw., haben ihreje eigene Ideologie- und Mythengcschichte. 25 Zu den begleitenden Vorsichtsmaßregeln des transkulturellen Vergleichens gehört die ständige Aufmerksamkeit auf die beweglichen Verläufe solcher Abgrenzungen und auf die wechselnden Wahrnehmungen ihrer Tiefe und Intensität. Die Eigcn- und Fremddefinitionen kultureller Identi~t unterliegen einern unablässigen Wandel. Mit ihm verändern sich auch die Konfigurationen des Vergleichs. Dies hat man bislang zu wenig gesehen. Vergleiche über kulturelle Grenzen hinweg sind überhaupt eher methodisch robust und ohne kulturthcorctische Vorklärungen unternommen worden. Selbst die Bezeichnung des Unternehmens ist definitorisch ungeklärt geblieben. "KulturverglcichlC, der in der Soziologic bevorzugtc Begriff, empfiehlt sich wenig fur gcschichtswissenschaftliche Zwecke, weil damit suggeriert wird, es würden in holistischer Manier autonome Kulturell miteinander verglichen. Auch kann dadurch eine konventionelle Aufgabenverteilung bekräftigt werden, »(hat sets a Europe of nations against a
24 Vgl. R. Korn/er/.:. Zur historisch-politischen Semantik asymmeuischer Gegenbegriffe. in: Dm.. Verg;1I1~:ene Zukunft. Zur Semantik b'eschichtlicher Zeiten. Frankfurt a.M. 1984. S. 211259. 25 Vgl. etwa di~' polemischen Anreb'\llIgcn bei E. w. Said. Orienulism, Landon 1978, sowiedie sich daran anschließende ausgedehnte Debatte, teilweise rekonsuuierbar aus: M. Spn"llkrr (Hg.). Edwa.rd S
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world of civilizJ.tions~- als ob der internationale Vergleich und der imerkufwreUe sich gegenseitig ausschlössen und nicht vielmehr - wie das Beispiel Japan zeigt - zwei Seiten derselben Sache sein können. Auch das l>räflX ist diskussionsbedürftig. Im folgenden soll von trall.skulturellem Vergleich dort gesprochen werden, wo das Vergleichen implizit oder explizit auf ein universalgeschichtliches Repertoire möglicher Formen von Macht, Produktion, Vergesellschaftung lind kultureller Symbolisierung bezogen ist. llllt'rkultureiier Vergleich bedeutet demgegenüber die Kontrastierung spezifischer Merkmalsreihen von meist nicht mehr als zwei scharf profilierbaren FäHen, ist also der engere Begriff.
11. Zur Geschichtc dcs transkulturellen Vergleichs Der Vergleich zwischen StrukturclIlInd Prozessen in unterschiedlichen Kulturen ist teils eine alte Aufgabcnstellung der Historie, teils ein noch unerHilltes Versprechen. Die Proto-Soziologie, Staatswissenschaft und Universalgeschichtsschreibung der Aufklärung wa.r in hohem Maße kulturvergleichend ausgerichtet. 27 Die Nachrichten, die im ~zweiten Zeitalter der Entdeckungen, in großem Umfang aus Übersee nach Europa gelangten, hoben solche Bemühungen über das Niveau bloßer Spekulation hinaus. Molltesquieu ent\V3rf 1748 ein universal amvendbarcs K.:atcgorienraster zur vergleichenden Zuordnung von Naturgrundlagcn, Menu.liCiten, politischen Verfassungen und gesellschaftlichen Praktiken; Adam Smith inszenierte in ~An Inquiry into the Nanare and Causcs of the Wealth of Nations_ (t n6) seine historische Analyse der europäischen Gescllschaftsentwicklung vor der Kontrastfolie Indiens und Chinas; der KameralistJohann Heinrich Gottlob v.Justi stellte asiatische und europäische Systeme in nicht nur polemischer Absicht einander gegenüber; Jean-Nicholas Demeunier, der spätere revolutionäre Politiker, schrieb eine historisch-ethnographische Enzyklopädie von weltweitem HorizOllt.28 In der schottischen und französischen Aufklärung der Generation nach Montesquicli entstand ein Gedanke, der dem Kliiturvcrgleich rur anderthalb 26 M. Gr)'l"r, HiSloriC2] Fictiol1s ofAutouomy aud thc Europcalliz:ltion ofNationall-listory. in: Ccntral Europcan l-listory.Jg. 22,1989, S. 316-343. Zitat S. 336. 27 Sclbstvcrslindlich war schon Herodot ein eTStr.lIlgigcr Praktiker des illterkuhurdlell Vergleichs. Zur Komparatistik der Aufklärung vgI.j. OstnlUJmmA. Die Emzaubenlllg Asiens. Europa und du' aslallschell Reiche im 18. Jahrhunden, Mfll1chell 1998. 28 J. 1-1. G. ".juni, Vergkkhunglkreuropäischen mit den asiatischen und andem \"Cnneimlich barmrischen Regicrullgc:n, Berlin 1762:j.-N. DtrrInlnia. l-'esprit des uS:IgC$ et des COUtumes des dilTcrens pcupks. 3 ßde.. Paris In6. Die Komparatistik der Aufklärung ist bisher noch nicht im grölkren ZUS1ImmenhmguOlersucht worden. Vgl. zu DrUlschbnd die Probkmskiue bei R. IrltT_ MUS. Tr.Ktitionen \'tt"gIeichc:nder historischer Kulturwisscnsduft 111 DrutsChbnd. Bemerkungen lind Fragen. in: Saeculum.Jg. 40.1989. S. 132-135.
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Jahrhunderte eine entwicklungsgeschichtliche Prägung verlich: Man bildcte die Unterschiede zwischen den Völkern vom diachronen Tableau Momesquieus auf die Zeitachse universalhiscor1scher Stufenmodelle ab. So entsund die ltComparative methodw mit ihrem Grundgedanken, entwickelte Gesellschaften könnten an zeitgenössischen rückständigen, also auf einer früheren Entwicklungsstufe verharrenden Völkern ihre eigene Vergangenheit studieren, die exotische Gegenwart mache frühere Zustände Europas anschaulich. 19 Diese Idee gelangte in den dialektischen und evolutionistischen Geschichtsphilosophien des 19. Jahrhundert zu voller Blüte; auf ihren methodischen Kern reduziert, besitzt sie auch heute noch eine gewisse Bedeutung rür die EthnohistOrie.30 Sie schränkte den Vergleich aufdie Kontrastierung»höhererw und liniederer.. EntwickJungsphasen innerhalb eines teleologisch auf die europäische Gegenwart zulaufenden einheitlichen Fortsehrittsprozesses ein, schloß also die Möglichkeit eigengeserzlicher und eigenwertiger außereuropäischer Entwicklungen aus. Die Geschichtsphilosophie marginalisierte damit den interkulturellen Vergleich. Ihre Gegcl1spiclcrin, die vom Individualitätsgedankcn getragene und von der Überlcgcnheit Europas überzeugte historistische Geschichtsschrcibung, ignoricrte ihn. ParadoxcIWcisc wurde der Vergleich aber auch dort unterminiert, wo man sich von eincm selbstgefalligen Eurozentrismus am weitesten entfernte. Ocr in Chicago lehrende Ethnologe Franz Boas, dcr Gründcrvater der lICultural Anthropologyw, postulierte in Anknüpfung an Herder und die Romantik und in konsequenter FortH.ihrungdes individualisierenden Historismus die Gleichwertigkeit aller Kulturen, :luch der lIprimitiven... Da jede Kultur aber als ein in sich geschlossener Kosmos aufgefaGt wurde, als abgerundete Individualität, ließ ein solcher lIkultureller Ilelativismus.. keinen Ilaum Hir übergreifende transkulturclle Gesichtspunkte.JI
29 Man h2t 2uch von _the subjeetion offhe comp:lruive melhod 10 the hlSforial. gesprochen: ."'- M. l«otW, The Amcrian IndiallS 2nd the Anciems ofEurope: Th~ Idea ofComparison 2nd the ConSlTuction ofHistoriCIII Time 111 the 18th Century. in: W HIJIJH ll. M. Rrillhold (Hg.), The CI2SSic21 Tndilion 2nd fhe AlIleric2S, ßd. Vl. Bcrlin 1994, S. 658-681. hier S. 663. Vgl. auch J. W. B,lmml, Evolution 2nd Socicty: A Study in Victori~1I Soci~l Thcory. Call1bridb't' 1966, S. 11-14: K E. 8«k. Thc Comp2r2tivc Method in Alllhropology, in: CSSI-I. Jg. 8. 1966. S. 269-280; A. Ht"'., Reisen in verg:lIlgcne Gegenw:m. Geschichte und Geschichdichkeit der Nielli-Europäer im Denk~n des 19. J2hrhundcm: Die Erfo~hullgdes Sudan, lkrlin 1988. S. 91 fT. 30 Vgl. efW
150. Sugl sprKht \"On ein~lll _Solipsismus der soz.o-kuhurdlen Sys~me.:). SlDgI. Ein~ Widerkgung des Kulturellen Rel2tlVismus, in:). MIJttM (Hg.). ZWIschen den Kullun:n? Dj(- SOv21....isscnscluften vor dem Problem
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Während mit dem klassischen Historismus die universale und transeuropäisch vergleichende Dimension aus Geschichtsdenken und Geschidnsschreibung verschwand, konstituierten sich im 19. Jahrhundert eine Reihe neuer kulturwissenschaftlicher Fächer als interkulturell vergleichende Disziplinen: Sprachwissenschaft, Religionswissenschaft, Völkerkunde, Völkerpsychologie und (Amhropo-) Geographie.12 In der Kunstwissenschaft wurde ItStil. zum Maßst3b des Vergleichs. Solange diese Wissenschaften - und auch die frühe Soziologie - am unilinearen En~vicklungsparadigma festhielten, mußtcn sie allerdings Vergleichbarkeit auf diejenige zwischen ulllerschiedlichcn Phasen des evohnionären Verlaufs beschränken. Auch Karl Marx argumemiertc im Rahmen ciner aufEuropa fokussierten Fortschrittsgeschichte, wenn er eine an die Stelle des Feudalismus tretcnde Itasiatische Produktionsweise. als außerokzidcnt3l abzweigendcn Seitenweg der europäisch-universalen Gesellschaftsen~\lick.1ung annahm. lJ Zentra.le Bedeutung crlangte der interkulturelle Vergleich erst bei Emile Durkheim, der den Vergleich als Äq uiV2lent zum naturwissenschaftlichen Experiment methodologisch begrundcte,,).I so"vie wcnige Jahre spätcr bei M;L"( Weber vordem I-lilllergrund einer Kritik an evolutionistischen und unilinearen Geschichtskonzcptioncn. Webers I-linwendullg zu Asicn seit 1910, die maßgeblich durch das komparative Interesse der zeitgenössischen Itrcligionsgcschichtlichen SchulclC angeregt wurdc,35 war mehr als ein Kunstgriffverdeutlichcnder »Kontcxrvcrfremdung(l.36 Ma.x Weber wurde durch seine Studien zur Wirtsehaftsethik dcr Weltreligioncn und durch manche Untcrsuchungen im
32 Vgl. :aus ~irn"r umf:allgTelChen Litenlur zur ~rsl~n Ori~IlU~rullg(rur DcutsChl:and): IV. D. Smilh. Polilics:and Ih~ Sclenccs ofCulturc in Gcrm:any. 1840-1920. Ncw York 1991. 33 Vgl. z.B. Tl. S. WOImtr. The Mcthodology of Marx's Comp:anuvc Al'1.lIysis of Modes of J'roduction. in: I. VOll/in (Hg.). Comp:at3tive MedIOds in SoclOlogy. Bcrkdcy 1971. S. 49-74. Id~ ellb"C'SChichtllCh zur Asiatischen Produklionsw~ISC: L Kratln. Th~ Asi:aüc Mode of Produetlon: Sources. Dcvelopment :aod Critique io Ihe Wnungs ofK1lrl Marx. Asscn 1974: M. SaU'l'r. M:anasm :and Ille QuC'Stion of Ihe Asi:allc Mode of ProdllCtion. Den H:aag 1m. 34 Vg).J. &hrinl'rr. Vergl~ich und Erklärung zwischen K:auulit5:t und Komplcxiut. in: H. iGIdbit lI.j. S(lJrinllfT (Hg.). DiskutsC und Emwicklllnb'Spfad~.Dcr Gescllschaftsverg1c'ich in den Geschichts- und Sozialwissenschaftcn. Fr:mkfun: a.M. 1999. S. 53-102. hier S. 53-55. 35 H. &hmidl-Climzn'. Thc Economic Ethic ofWorld ndib-ions. in: H. LAII/lallll u. C. ROll. (Hg.). Weber's .Prou:Sl:Illl Ethic_: Origins. Evidence. Conlexts. Cambridb'C 1993. S. 347-355. hier S. 350. Zum Diskusionsstand vg). B. S. Tuttltr. Max Weocr's HislotIC:a1 Sociology: A Bibliographi01 Ess:ay. m: J HS.Jg. 3. 1990. S. 192-208. BC'Solld~tS WIchtig sind dr('1 VOll J.V. SthlU(hln' h~nu. gcbe~ S:ammd~nde (d:ano lIIsbcs. di~ EmlcilUngen des HcnuSbocbcrs): Max W~b<':tS Smlhc üocr Konfuziamsmus und T :IOlsmus.. Fnnkfun :a.M. 19&3: Mn WdJers SlUdle üocr HindUIsmus und Buddhismus. Fnokfun :a.M. 1984; Mn Webcrs SICht des Isbms. Fnnkfun :a.M. 1987. Zur MethOlhk des VcrgklChs beI Weber vgl. S. Kslbng. Max: W~ber·s Comp.anuvc 1·lIsloOO1 SocIOIogy. Dmbridge 1994. 36 So A. Zjngmt. Kol1text\"('rf~mdung :als m~thodischer Kunsrgrlff, m: KZfSS. Jg. 31 1979. S.587-610.
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Umkreis von 'llWirtsehaft und Gesellschaft« zu einem Pionier der vergleichenden historischen Soziologie großer Zivilisationskomplexe. Dennoch: Bei aller respektvollen Aufmerksamkeit ftir außereuropäische Kulturen, die sogar eine ungewöhnliche Empfanglichkeit rur asiatische und afrikanische Musik einschloß,)7 ging es Weber in letzIer Inscmz damm, die spezifische Differenz der modemen okzidtIlIalefl Enrwicklung zu allen anderen Zivilisationserscheinungen herauszumodellieren. Diese Asymmetrie der Fragestellung zeigt sich etwa darin, daß Weber an einem unmittelbaren Vergleich zwischen den indischen und den chinesischen Religionen bzw. Glaubenssystemen nicht imcressien war. Je Die univcrsalgcschichdiche Sondcremwicklung des alle Lebcnsbereichc rationalisierenden Okzidents blieb das alles bestimmende Problem. Ma." Webers Anregungen fielen in der Geschichtswissenschaft zunächst nicht allffrllchtbaren Boden. Auch die eher im Programmatischen verharrenden Vorstellungen von K.ul Lamprechl!" und Kurt Breysi~ zum tJlComp,;r,nlive 11IC"lhOO_. 41 Vgl. 0. HinJ:::t. Weseu lind VerbrC'lIung des Feudalismus, 111: Dm.. Sw.t und Verfassung. Gcummd Abh~lldlungrnzur allgrntel~n VerfusuJl~lllcllt~, hg. VOll G~rhard Üt'Su~lCh, G&ungen 19703. S. 84--119. I IlC'r berücksKhub'1 1-lllllZe J~pan, Chtn~. IndlC'n und TürlmchKkllustc-n. 42 Vgl. K P
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Als einen von Webers wichtigsten Nachfolgern aufdem Gebiet einer »<:omparative historical differential sociology [... } in civilizational perspcctivetl hat ßcnjamin Nelson nic111 zu Unrecht den englischen Sinologen und Wissenschaftshistoriker Joseph Needham bczeichnet,U dessen trotz seines TItels immer wieder auch vergleichend angelegtes Monumentalwerk »Science :md Civilization in ChinalC 1954 zu erscheinen bcgann.4t Bis dahin hane der transkulturelle Vergleich in der angelsächsischen Geschichtsschreibung - mit gelegendicher Ausnahme der Rechtsgcschic111es - keine auff gingen, wie zuvor schon Oswald Spengler, von der monaden haften Abgeschlossenheit einzelner, in sich zyklisch bewcgter Kulturkreise aus, zwischen denen allenfalls auf meuhistorischcr Ebene die An, wie sie jeweils das Zyklenschema ausfullten, Stoff fur vergleichende Überlegungen bot. 41 Toynbee kombinierte den historistischen Individualitätsgedanken und das evolutionistische Stadiendenken in einer Weise, die ihn als den letzten Geschichtsdenker des 19. Jahrhunderts erscheinen läßt. Von hier allS fiihrte kein Weg zu einem zeitgemäßen interkulturellen Vergleich. Anders verlief die wisscnschaftsgeschichtliche Entwicklung in Frankreich, wo Emile Durkllcim und Marcel Mauss, heide entschiedene ßcfiirworterdes transkulturellen Vergleichens, auch unter Historikern ein Echo fanden. Mare Bloch und Fernand Braudei, dcssen univcrsalhistorische Trilogie IICivilisation materielle, CCOIlOI11 ie et capit.1Iisl11c« (1979) von zah Ilosen transkulwrellen Quervcrweiscn "nrq,.'(:nd auch B. SlhfjOld. Thcor~tical Appr~ch~s tO a Comparison ofEconomic Systellls from" I Ilstoool Perspccti\'e. m: P. KosIoulSki (Hg.). The Theory of EtilIClI Economy in the Ilisiorical &11001. Ikrlin 1995. S. 221-247. 43 Vgl. B. NtIsorl. Scacnccs :md C1vilinuons. _~I" .and .WCSI_: Joscph Necdh.am and Max Weber. m: DnJ., On Ihe Re»ds IOModcmily: Consctence. ~nc~,,,nd C1vi1inlions. TotO\l/:ll. NJ. 1981. S. 164-198. Zil:lI S. 164. AufNelsons Spurc.n d~ komp.ar.lltl~ Arbeil scmcsSchükrs T. HI4jf. The IllscofE.arly Modern Scicnce: )sl"m. Chm.a. .and Ihc West, C.ambrid~ 1993 (don S. 32-44 zur vergldchcnden Methock bei NeNh.am und Nelson). 44 BIS Anf.mg2(XX) smd 21 B.5nde erschienen; emi~ der sp51eren wurden Idlwel.sc oder g1nz von Nl-edhams Mitarbeitern verfaßI. Eine vorzügliche Einfiihrung in Nccdharns Werk gibt: R. PillltlY. Chill.a, Ihe Wesl. and World I-listory in Joscph Needh;II11'S ,Science and Civilisalion in Chin3(. in:JWH.Jg. 11.2000. S. 265-302. 45 Hier ist vor allem an Sir Henry M:line. den Verf.asscr von Ancient Law (1861) lind Vill:lgc Collllllunities in the E.aSI :Ind Ih~ Wesl (I ~I). ZII denken. M2ine war sieben J.ahre lang indischer Juslizminister (Law Membcr of th~ VKt'roy's Council) gC'wt'SCn und aus dIeser Zeil mit der GeschIchte Indiens grfllldhch vennut. Vgl. R. Corlu. Sir H~nry Mai~: A Study in VlCtonanJurispru. denc~, Cambridge 1988: A. DitJmqnJ (Hg.), TI~ VKtOrUn Achievelllent of Sir Henry M2i~; A Untenm.al Re.appr.uS:lI. Camb~ 1991. 46 A.J. TtJY"btr. A StudyofHistory. 12 lkk.. I..oOOon 1934--1961: am kbrslCn wird Toynbcn Konzept In d~n erslen sechs Blnden. 47 Vgl. P. Coslnlo. World I-listori.:ans and Thclr Goals: T\lo'CllIieth-Ccmury AnsWC'fS 10 Moder· IlIsm, Ddulb. 111. 1993. S. 7OIT. Ikmcrktnswcn ist hier di~ Nll~ Toynbees zum Kulturellen Relativismus in der Elhnologie.
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durchzogen ist,4lI waren allerdings in dieser Hinsicht nicht repräsentativ fiirdie Annales-Schule insgesamt. In der berühmten ZeitsChrift sind nur wenige Beiträge mit explizit kulturvergleichender Fr.agestellung erschienen. Erst nach dem Zweiten Wehkrieg wurde der rranskulturelle Vergleich von einer Ncbenbeschäftigungeinzclncr kosmopolitischer Gclclmcr zu ciner brciter akzeptierten Weise sozialwissenschaftlichen Fragcns. Vor allem in den USA verstärkte sich im Zeichen von Dekolonisation und weltpolitischer Globalisierungdas komparative Intercsse in den Sozialwissenschaften überhaupt. >lCrosscultural studies. fanden Anhänger in Psychologie und Soziologie. ln der Anthropologie dicmc der Kulturvergleich weniger als in anderen Disziplinen der Formulierung von Generalisierungen als der Verdeutlichung kuhureller Spezifik. .t9 .Compar.ativc politicstl, untennauen durch den .area studies approach.., wurde seit den sechzigrr Jahren zu einer Wachstulllsbr.anche der angelsächsischen Politologie, die sich z.B. transkulturell mit der Rolle des Militärs befaßte. 50 Die neuc Enrwicklungsökonomie erhielt durch W W RostQ\.YS Stadiemheorie des wirtschaftlichen Wachstums einen starken cvolutionislischvergleichenden Akzent.51 Daneben r.,nd, weniger auf modernisicrungsthcoretische Vorstcllungen vcrpflichtet, eine global vergleichende Wirtschaftsgeschichte - der Genfer Gelehrte Paul Bairoch ist ihr vielleicht bekanntester Vertrete - seit den scchziger Jahren viel Aufmerksamkeit. 1958 wurde auf Initi3tive der Mediävistin Sylvia L. Thrupp die ZeitsChrift ..Comp3r3tive StlIdies in Society and History4l mit einem dezidiert universalen Programm gegründet; sie ist bis heute ein maßgebendes Forum tr.anskultureller Studicn geblieben. Allerdings sind die meisten Beiträge zu dieser Zeitschrift »more comparative in conccpt [han in formal execlltionlC.5.l Man verzichtcte vorsichtig
48 D'lOebtn soIhe em weniger bdunnles, eher K1dltlv vorgehendes Werk F. Brlllldtls crwihm werden: Gramm1lire des clVIlJyrions. NClUUsgabt PUlS 1987 (ähnlkh verf:.ihrt: N. M. ~u'\T"'. CivilinttOns et 1015 histonqucs: Ess10i d·cmde computcdcs CI""llS1Itions, PlITIS lmS). Grund~nd zu Bnudcls KomparatIStik ISt G. CnndJi, Fcmand Buudel c I'Europa ulll\~rs.:ale. VennlJg 1990. bcs. S. 80fT: 49 Vgl. L. Holr, Dcscription, GenerahUU01l1ll1d Companson: Two Par:adlgms. 111: l:>tors. (1Ig.). Comp1lr:ativc Amhro!X>lOb'Y, Oxford 1987. S. 1-21. hier S. 11. 50 Vgl. als Überblick). 1-/1Immmn. Vergleichende PoliukWlsscn.scha(t. Ein Handbuch. Fnnkfun 1I.M. 1995. 51 W: W: ROSIOW, The SugcsofEconomKGrowth.
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auf ambitioniene Veraligemeinerungen,S4 konzenrrierte sich vielmehr darau( neue Fragestellungen im Horizont grundsätzlicher Vergleichbarkeit zu entwerfen und sie auf fachwissenschaftlich unanfechtbarem Niveau zu bearbeiten. Der Erfolg einer solchen Zeitschrift war nur möglich, weil in den sechziger Jahren die wissenschaftliche Erforschung der Geschichte Asiens, Afrikas und Lateinamerikas - vor allem in den USA, aber auch in Frankreich, Großbritannien, den NiederLanden und einigen osteuropäischen Ländern - in die Phase universitärer Institutionalisierung und disziplinärer Professionalisierung im Rahmen der allgemeinen GeschichtsWissenschaft eintrat. ss Auch in manchen ehemaligen Kolonien hat die historische Forschung seither ein beachtliches Niveau erreicht, und die japanische Historikerschaft gehört zu den produktivsten der Welt. Dieser Aufschwung der historischen Studien über Asien, Afrika und (latein-)Amerika zählt zu den bedcutendstcn Errungenschaften der internationalen Geschichtswissenschaft während der letzten Jahrzehnte. Forscher auf diesen Gebieten sind mittlerweile nach dem Vorbild der iiheren historischen Teildisziplinen kleinteiligspezialisien und gegenübcrw;;agemmigen tr.lI1skulturellen Vergleichen ebenso mißtrauisch eingestellt wie ihre europahistorischen Kolleginnen und Kollegen. Komparative GesichlSpunkte nießcn zwar in den oft subtilen Theoriegcbrauch besonders der sozial- lind winschaflSgeschichtlichen Außcreuropaforschung ein,56 fUhren aber selten zu einer explizit vergleichenden Betnchrung. So bleibt das Geschäft des breiten Überblicks in der Regel außcrfachlichen oder frei von etablierten Disziplingrenzen arbeitenden Genenlisten überlassen. Niemand von ihnen kann indessen, anders als noch
54 Si~ lindel m~n h~ute eher in Zdtsehrirten wie Theory :md Society.Journ~1 orHislOric~1 Soctology oder Joum~1 ofWorki Hislory. 55 Vgl.). OstnIw/nmtl. Aufkr~uropäisch~ Geschichte. Eine historisc~ Probkmskizze. in; GWU. Je. 46. 1995. S. 25J-.276; H. L Wasding. Overseas I-listory. in: P. Bum (I-Ig.). New Per· speni\"es on I-listorical Wriring. D.mbrid~ 1991. S. 67-r:n. 56 Ein Beispiel unter vielen möglichen ist die Diskussion zwischen Fonnalisten, SUbstlllllivistell und M~rxisten ~nläßlich der G~schidil~ d~r ui~tischcn und insbesondere der chinesischen ß~uernsch~r[. Vft).j. OSIl'rllommd. ß~uern und ländliche Gcsellsch~fl im Chin~ des 20. J~hrhun derts. Zwisch~llbi1anzeiner Dcb~tt~. in; IAF.Jg. 24. 1993. S. 311-329. Zum weiteren Forschungskomext ~iner theoriegdeiteten Gesellsch~rlSgeSChk:hl~des modernen Chin~ vft). Dm.. Mod~mi sierungslheorie und die Tn.nsfomUlion ChilW 1800-1949. in: Saeculum.Jg. 35. 1984. S. 31-72: E. S. Rawslti. Rescuch Th~mes in Ming-Qing Sockleconomk: Hiuory: Th~ StlIl~ of Ih~ Field. in; JAS,]g. SO. 1991. S. 84-111; F. Wdmuln,)r., Models ofl-lislorial Clullg(': Th~ Chines.c StlIt~ ~nd Soeicl)'. 1839-1989. in: K LkbtrIJu,l u.~. (I-Ig.), P~rspectivcs on Modem Chin~: Four Anniversaries. Armonk, NY 1991. S. 68-102: vor ~lIem ~ber die bcidell bnl1~ntcn Aufsltze \'on W. T. Rowr. Approacll~s 10 Modenl Chinese Soci~1 History. in: O. 211nz (Hg.), Reliving th~ P~st: The World of Soci~l History, Ch~pcl Hili. N.C. 1985. S. 236-296: Dm., Modern Chinese Sodal I-listory in ComparatiV'C Perspcclivc. in: P. S. Ropp (Hg.). I-Ieritll~,'c ofChina: Colll~mponryPcrspectivn on Chinese Civiliution, Ikrkdcy 1990. S. 242-262.
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Max Weber, der in den Kindertagen der Orientllistik schrieb,s7 den gühigen ForschungsstlIld zu größeren komparativen Themenkomplexen urteilsfihig überblicken; wenige verfugen auch über die dazu erforderlichen SprachkenmIlISSC.
Nicht Mangel an Wissen und Interesse läßt den transkulturellen Vergleich daher hcute immer noch als erst schemenhaft realisiertes Ideal erscheinen, sondern umgekehrt die hohen Erwartungen, die sich an ihn richten, und der emba"Qs dl' n(hesse der weltweiten Geschichtsforschung, die den Generalistcn zwangläufig zum Dilenamcn degradiert. Zwischen der professionellen Fcinspezialisienlllg der fachhistoriker aufkurze Epochen, subnatiomlle Regionen und begrenzte fragestellungen einerseits und der Vorliebe historisch denkender SozialwissenschaftIer fur »big StruCturcs, large processcs, huge comparisons« andererscitsSll hat die Geschichtswissenschaft erst kaum vennine1ndc Zwischenebenen gefunden. Jedenfalls kann fiir die Geschichte noch nicht gesagt werden, was Friedrich Tenbruck, vielleicht ein wenig übertreibend, von den Sozialwissenschaftcn behauptct hae dcr Kulnuvcrgleich sei »ZUIll bestimmenden Horizont geworden, in dem sich alle Arbeit vollzicht~.S9 Zumal der noch anspruchsvolleren, schon von Kurt Breysig, Hcnri Berr und vor allem Mare Bloch umrissenen Herausforderung einer aus dem Vergleich entstehenden, stets aber durch Forschungsbewg intellektuell disziplinierten transkuhurellen .Synthese. haben sich die Historiker bisher kaum gestellt.
111. Die großen Fragen der historische Soziologie .Eher ills eine Disziplin ist die Vergleichende GeschiclHc ein Forschungsfcld, das kein Monopol der historischen Forschung mehr darstellt und zu dem nicln nur die verschll'denen Sozialwissenschaften in unterschiedlicher Weise ihre eigenen Bcitriigt= geleistet haben, sondern auch solche allgemeinen Dcutungen der Geschichte. dellen cin eigclHlieher wissenschaftlicher Status fehlt.J'O
...Storia comparat3~ oder lIComparativc history« ist, wie PictTO Ilossi hier richtig feststellt, ein Begcgnungsraul1l der Vertreter verschiedener fachricnrungcn mit einer Nische fur seriöse Essayistik - geworden. Die transkulturell vcrglci-
57 Dlcs zClgt:lm Beispiel der ChinastlKhen die RckOflSlrnkuon VOll Webers Lllcraturverwcn· dung m Bd. 1119 dCT Mu lVtbtr Gc:samuusg;abe: Die Winschaftsethlk der Wehrchgx)llen: Konfuzunismus und Taoismus. Schriften 1915-1920. hg v. H. Schrni::h-Glin:zeT in Zus. mll IJ. Kolon-
100. Tübmgen 1989. 58 Vgl. C. Til1y. Big Sirneturcs. Largc ProcesstS, Huge Colllparisolls. Ncw York 1984. 59 F. Trnbruik, Was warder Kulrurvcrgldch. ehe es deli Kulturvergleich gab? In: Malt/ln (I-Ig.). Zwischen deli Kulmrell?, S. 13-35, hier S. 13. 60 P. Rossi. IlImxluzionc. in: Dm. (Hg.), La SfOria COll1parala, S. IX-XXV, Ilier S. XVI.
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ehende Gescllicl!tswissellSlllaft kann vor allem nicht isoliert von jener Riehcung gesehen werden, die sich heute zur Anwältin der klassischen universalhistorischen Fragen mache der lIisrorisg; Gcschiedbeocfening tusscn postmoderne vertelling en sociaal-wclcllschappelijke analyse. Leidcn 1995. S. 213-285. Vgl. auch Dm., Historische sociologic. Op zock nau proccsscn en SIrUClurell. in; H. &liirl u. C. j. VOll StUnl (I-Ig.), Gcschicdschrijving in dic twillligste ceuw. Discllssic zondcr cind, Amslcrdam 1991, S. 301-341: Es gibt daneben einc eher interpretierende als konstruiercnde histOrisch-kulturvergleichend orielllierte Soziologie. als dcren Pionicr vor allem dcr niederl:indische Soziologe W F. Wtnlirim gen"nllt werden muß, vgl. ctwa East-West PanlIds: Sociological Appr~chcs 10 Modern Asia. Den Hug 1%4. 62 T. Sk«poI, Emcrging Agcndas aud Hecurrellt Str.lltcgics in HislOrical Sociology, in: Dia. (I-Ig.). Vision and Mcthod. S. 356-391, bes. S. 362-386. Mit ctwaS anderen Akzelllen; T. Sk«pol u. M. Samen, The Use ofCompan.tive Hislory in Macrosociallnquiry. in; CSSH.Jg. 22,1980, 174-197.
s.
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Man muß sich vor Augen hahen, daß keineswegs alle historischen Soziologen komparativ vorgehen. Vor allem zwei Ausnahmen sind zu gewichtig, um nur als Bestätigungen einer al1gemeinen Regel verbuch[ zu werden: Immanuel Wallers[Cins his[Qrische Theorie des lImodernen We![Sys[ems«, einer der ehrgeizigsten Emwürfe einer historischen Supertheorie jensei[s von Marx und Weber, heruh[ zwar auf der Annahme vielfahiger Differenzen zwischen analytischen Sub-Einheilen (Zemren, Peripherien, Suhperipherien, usw.), postuliert aber das Weltsystem insgesamt als den dominiercnden AnalyscT
Nicht immer bemühen also historische Soziologen die Methode des Vergleichs. Wenn sie es tun, vergleichen sie nichl immer auch transkulturell;
63 1. WOll/mIt"", The Modern World-System. 13d. I: C:.pil:.list Agricullure and the Origins of the Europcan World.Economy in the SiXtcemh-Cellrury, Ncw York 1974; Bd. 2: Mcrcamilisnl and the ConsotidaliOIl ofIhe Europcan World-Economy. 16(»..1750. New York 1980; Bd. 3: The Second Era ofGre1t Expansion ofthe Capiulist World-Ecollorny, 1730-1840s. San Dicgo 1989. Um Wallerstein herum hat sich eine bisweilen etw:lsslerile Scholaslik gebildei. Wie 111Tegend seine Ideen ltocr in der tT:lI1sdisziptinären Fernwirkung sein können, zeigt et\'J;I der Samll1eloond 1-1.:1. Niv: (Hg.), The urly Modem World-System in Geogr:otphicltl Perspective, SllIngart 1993. Zur Einfiihrung auch H.-H. Nenlt, Die eine Welt. Abriß der Geschiclne des inlernationalcn Systems. Hannover 19932; 1Jffs. (I-Ig.). WehsYSlcm und Geschichte, Göningen 1985: Dm. (Hg.). Europäischc Innere Peripherien im 20. Jahrhundert. Swngart 1997. 64 M. MOlnn. The Sources ofSocial Power. Bd.l: A History ofPower from the ßegillning 10 A.D. 1760, Cambridgc 1986; Bd. 2: The Risc ofClasses and Nation-States. 1760-1914, Cambridge 1993. P. Burnt sprichl in seiner nezension des ersten Bandes VOll M1nlls Werk leicht mOK1m von _a series ofessays on the risc ofthe West_. HislOry,Jg. 73, 1988, S. 105. 65 Erw:. MOlIm, Sources ofSociat Power. 13d. 1. S. 341-372. tiocr Konfuzianismus. Islam und Hinduismus im Vergleich zum (allliken) Christelllum: ein ullcharak.lerislischer Ausllug in außereuropäische Gefilde. 66 Ebd.. S. 30 (Hervorhebung im Original).ltuch S. Ir., S. 17. S. 526.
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CharIes lilly zum Beispiel geht selten über einen europäischen Referenzbcreich hinaus, obwohl sich manche seiner Themen daftir eignen würden. 67 Bei mindestens ftinfhistorisch-soziologischen Fragestellungen hat sich cine transkulturelle Problcmfassung und Lösungsstrategie als besonders ertragoder chanccnreich erwicscn: Erstens cignen sich solche gesellschaftlichen Institutionen und Praktiken, die in vielen Teilen der Erde vorkommcn, die also in ihrer Substanz nicht kulturspezifisch sind, fiir eine ulliversaic I4lriatltctlollolyse. Gefragt wird nach den spczifischen Ausprägtingen, die eine im Grundcypus einigermaßen klar umreißbare Vergesellschaftungsforrn - etwa "die Familic.c, die IIDorfgemeinschafte< oder »die Stadt/( - in untcrschiedl ichen,jeweils nach na um und Zeit zu präzisierenden Kontexten erfahren hat. Das Verfahren ähnelt hier auf den ersten Blick in mancher Hinsicht der Vorgchcnsweise der sziellf!ful"1lcII Ethnologie, die aufder Grundlage von Beobachtungsdaten über hunderte von einzelnen, überwiegend nicht-industrialisierten Kulturen b8 mittels quantifizierender und anderer kulturvergleichender (»cross-cultural/() Forschungstechniken zu Erkcnntnissen nomologischen Charakters zu gelangen sucht. tb Ein historisch-makrosoziologischer Ansatz dieser Art wird ebenfalls ci ne größere Anzahl von Fällen berücksichtigen, als dies beim Vergleich umfassenderer Einheiten (Zivilisationen, Nationcn, usw.) der Fall ist,jedoch wird nicht die Aufstellunggesetzmäßiger Zusammenhänge, sondern hauptsächlich die von Typologicn und andcren Differenzierungsstrukturen angestrebt. Im Extremfall dient der komparatistisehe Aufwand sogar dem Zweck, quer durch die Kulturen Material zur historisch gehaltvollen Ausarbeitungeincs einzigen komplexen Idealcypus von weltweiter Geltung zu sammeln. $0 geht etwa Gideon $joberg in scinem Buch über die vorindustrielle Stadt vor, das Max Webers Orient-Okzidem-Typologie der ~tadt aufhöhercr Abstraktionsebene zu überwölben versucht. 70 Ähnlich konvergelll verfjhrt der britische Sozialanthropologe Jack Goody, der nach detailreichcn Erörterungen von Heirats- und Familiensystemcn in vielen eurasischell Kulturen - von Hellas bis China - zu dem Ergebnis kommt, »that domestic structures of the major Eurasian societies are much more similar or
67 Tr.mskuhurelle Seitenblicke finden sich noch am ehesten in C. Tilly, Cocrcion. Capir:ll. and European Sutes. AD 990-1990, Oxford 1990. 68 Murdock und White geheIl in ihrer einflußreichen .Stichprobe. von 186 Kulturen aus: G. P. MmrJ«k u. D. R. W1lltt. Sundard Cross-cultural Sampie, in: Ethnology.Jg. 8. 1%9, S. 329-369. 69 Vgl. als Übersicht T. Schillfiztr. Interkulturelle Vergleichsverfahren. in: H. FiKher (Hg.). E!hnologie. Einflihrung und Überblick. Bcrlin 19882, S. 407-425: Ders., Perspcktivenwandcl in der ethnologischen Primär· und Sckundäranalysc. Die frühere und die heutige Methodik des interkulturellen Vergleichs. in: KZfSS, Jg. 41. 1989, S. 465-482; zuvor schon Den., Methodenprobleme des interkulturellen Vergleichs. Probleme, Lösungsversuche. exemplarische Anwendung, Köln 1978 70 Vgl. C. SjoMg. The Preindustrial Cil)': Past and Prescnt. New York 1960.
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more malleable than it is often supposedl<.11 Ein besonders eindrucksvolles Beispiel universaler Varianten analyse ist Orlando Pattersons IISlavery and Social Deathtl, wo auf stupender Literaturgrulldlagc Formen und innere Dynamik von Sklaverei in 66 Gesellschaften unter systematischen Gesichtspunkten verglichen werden. n Oft bleibt die universale Variamcnanaylse aber auf der Stufe universalhistorischer Materialsammlung stehcn, ohne daß der StofTkomparativ durchgearbeitet würde. ZweiteIls vcrspricht die Il'€rgll.'icllcl/(/e UmmllclwIIg 110r- bzw. jriillmodemer S,aatliclzkeit wichtigc Aufschlüsse. Der am einfachsten handhabbare Zugang ist hier der über einzelne Staatsfunktionen. So hat der neusce1ändische Chinahiscoriker Samucl Adshead die Salzverwahung, eine der wichtigstcn Behördcn des früh neuzeitlichen Staates, in Frankreich, Vcnedig, dcm Osmanischen Reich und China studiert. 7J Auch aufanderen Gebietcn - Militär, Finanzwcscn,JudibtUf, usw. - wärc eine transkulturell vergleichende Betrachtung vor allcm der absolutistischen Systeme in Europa und in Asien (Osmanisches Reich, MogulReich, Qing-China, Tokugawa-Japan, u.a.) lllöglich. H Dic Vergleichbarkeit dieser politischen Ordnungen fiel bereits manchen frühneuzeitlichen Zeitgenossen auf; ihre überseeischen Reise- und Gesandtschaftberichte sind voll von Vergleichen zwischen Orient und Okzident. 75 Grundlage eines universalen Vergleichs von StJatlichkeit können 3m Beginn des 21. Jahrhunderts die großcn synthctischcn Werke von Samucl E. Finer, Wolfgang Reinhard und Martin van
71 }. Goody. The Oriclll.al. the Anciellt alld the Primilive: Systems ofMarriagt" and the F:llnily in the Pn'-industrial Societies ofEutasia, Cambridge 1990, S. 482. 72 0. P,WI'I'5CII. Sbv('ry and Sodal DcatlJ: A Comparativc Study, CUllbridge, Mass. 1982. 73 S. A. AI. Alls/read, Un cyde bureOlllcr:uiquc: L'administmtion du scl cn Orient (·t Occident. in: Annales. E.S.C. )g. 38, 1983. S. 221-233; Dt'I'I.. Salt and Civiliution. New York 1992. 74 Dazu grunds3tzlicll die IklllcrktlJlb'Cn bei R. A'lollS/liff. Quclques remarqucs pout une COlllparaison des rnonarchies absolul'S eil Europc clen Asie. in: RH. Nr. 551. 1984, S. 29-44; sowIe zum .weltweiten anden regime des 18. Jahrhundcrts.:). Oslrrluml/f1l'1, Chim und die Wcltb'Csellschaft. Vom 18.Jahrhundert bis in unsere Zeit, München 1989. S. 41-45. Bei P. Am/mo" (Lincagcs ofthe Absolutist SUte, London 1974. S. 4360".) wcrden Japan und die Asiatische Produktonswcisc in einen Anhang verbannt. Einen weithin iiberzellb,,-,ndel1 Vergleich zwischen Ellgland. Fr:ll1kr('lch. Chim und dem Oslluuischcll !teich zwischell C:I.. 1600 und 18SO untcrnimllu). A. GoldslO/lf. !tevolution :md !tebcllion in the E:lrly Modern World. Ikrkdcy 1991. Die Vergleichbarkcit Fnnkrl'ichs und dcs S
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Crefeld sein, die nahezu gleichzeitig erschienen und die staatssoziologischen Ansätze der voraufgegangenen Jahrhundertwende fortfiihren. 76 Dritte,IS wird eine komparatillt Sozialges€/l;cllte des WusellS IItld ProblemgeS(1Iidue der W'issell5cl!ajterl in der Zukunft zu den wichtigsten Aufgaben des transkulturellen Vergleichs gehören. Von Joseph Needhams Untersuchungen war bereits die Rede. Von ähnlicher Wirkung dürften künftig die Arbeiten des japanischen Historikers Shigeru Nakayama sein, die außerhalb wissenscllaftshistorischcr Kreise erst kaum beachtet worden sind. n Nakayama befaßt sich vor allcm mit Wissenstransfer über Zivilisationsgrenzen hinweg. Er vcrknüpft in ciner ühcraus konzisen und zugleich empirisch gehaltvollen Erklärungsskizze eine große Zahl von Faktoren: traditionelle Denkstile (sichtbar etwa an unterschiedlichcn Weisen des Klassifizierens), Herausbildung von ~Paradigmatal(, Funktionen von Medien, Organisation der Produktion und Verbreimng von Wisscn (mit der europäischen Universität als weltgeschichtlichem Spezialfall), Status und Rollen von Wissensproduzenten in ihren jeweiligen Gesellschaften, disziplinäre Spezialisierung, überseeische Transplantation der europäischen Wissenschaft und ihre Interferenz mit einhcimischen Traditioncn. Einer der Vorzüge von Nakayamas Denk"Weise etwa auch gegenüber derjenigen Joscph Needhams liegt darin, daß sie in cinem Kontinuum vormoderne und moderne Entwicklungen gleichermaßen erfaßt. Gerade im Falle Japans läßt sich zeigen, daß »moderne« westliche Ideen von Wissenschaft im 19.Jaluhundert keineswegs in eine aufsie gänzlich unvorbereitete lttraditionalc(( und vorrationale Umgebung eindrangcn. 7Il Untersuchungen von Wissenstransfer erfordern semantische Untersuchungen von hoher Komplexität. Im Zuge der Ausbreitung europäischer Konzeptionen VOll Wissenschaft und Wissenschaftlichkeit mußten nicht nur komplette technische Nomenklaturen übersetzt, sondern auch Grundbegriffe wie »Wissenschaft(( oder ))Geschichte~ in semantischc Felder verpnanzt werden, in denen es bereits Ähnliches, aber eben nicht Kongruentes gab. 79 Ein wcitcrcr lohncnder Ansatzpunkt ist ein Vergleich von Gc1ehrsamkcits- und
76 Vgl. S. E. H"tr, Tl1e HislOry ofGovernmelH from thc Earlicst Timcs, 3 ßdc., Oxford 1997; M. llaU C".fdd. The Risc :md Dec1ine of the SUle. Cambridge 1999; IV. Rri,rJlIlfd, Geschichte der Stlatsgcwalt. Eine vergleichende Verfassungsgcschichte Europas von den Anfangen bis zurGeg<'nwart. München 1999: vgl. auch Dm. ulllcr Mitarbeit VOll E. Miiller-uulmtr (Hg.). Verstaatlichung der Welt? Europäische Suatsmodcl1e und außereuropäische Machtprozcssc. München 1999. 77 Vgl. vor allem S. Nakayama, Acadcmic and Scicntific Traditions in China, Jap;m, and thc West. Trans!. by J. Duscllbury. Tokyo 1984. 78 Vgl. cr:waJ. R. &rrllOlomnl'. The Fonnatioll ofScicllce in Japan: Building a Research Tradition. NL'W I-laven 1989, S. 9-48. 79 Vgl. ctwa WOllg HIli, The Foue of _Mr. Science. in China: The Concept ofSciencc and hs Applica.tion in Modern CI,incsc Thougllt. in: T. E. &rlOI4' (I-Ig.) Fonnations ofColOllial Moderni· ty in East Asia, Durharn 1997. S. 21--81; M. 50/0, Die Einftihrung der -Geschichte_ im Japan des späten 19. Jahrhunderts, in:). Riij€n u.a. (I-Ig.), Die Vielfalt der Kulturell, Frankfurt a.M. 1998, S. 441-458.
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Wissenschaftskulturen. ein Thema von wahrhaft globalgeschichtlicher Ausdehnung. so Viertetls spricht vieles dafiir, die Königsfragc der historischen Soziologie, die Frage nach den Ursarl,ctl des (1IItSt-) europäische" kapitalistischeIl »5otldenllfgCslC. als komparatjstisches Problem zu stellen. Dies versteht sich keineswegs von selbst. Bis zu Michael Mann, dem besonders ausgeprägt hegelianisch-teleogischen John A. 1-la1l 8\ und den Teilnehmern an der berühmten ItBrenner-Debatte« der Jahre 1976-82 (in welcher der Vergleich zwischen West- und Osteuropa eine große Rolle spielte),ll2 hat man den Vorsprung des Westens immer ...v ieder auf tiefverwurzelte intrinsische Anlagen zurückgcführt. 8J Der Vergleich mit Asien dient dann allenfalls der dramatisierenden Verdeutlichung. Eine systematische trans kulturelle Fragestellung ist vor allem auf zweifache Weise in die Debatte cingeftihrt worden: Zum einen hat der australische Wirtschaftshistoriker Eric L.Jones, ausgehend von der schon Max Weber geläufigen Einsicht in die Kontingenz des europäischen Vorsprungs (Ernest Gellncr spricht von einem 113ccidentally open gate modellC),St ein sorgfältig durchdachtes lIeurasiatischesll ErkJärungsmodell entwickelt, das nicht als lineare Kausalkette, sondern als lIa giant combination lock« konstruiert ist. 85 Jones' Argulnentation beruht auf der Voraussetzung, daß sich Asien und Europa nicht durch grundsätzlich verschiedenartige Gesellschaftsformationen und deren Zuordnung zu EnrwickJungsstadien und auch nicht durch ein kulnJrcll vorgegebenes Mehr oder Weniger an rationaler Wcltbezogcnheit unterscheiden,1l6 sondern 80 Vgl. S. C. I-ilmlphrrys (Hg.), Cuhures ofScholar:ship. Ann Arbor 1997. 81 J. A. Hall. PoweTS :md libcrties: The Causes and Conseqllences oflhe nise ofd1e West. Oxford 1985. 82 Die Ikiträge sind gcsammeh in: T H. Asluoll U. C. H. E. Phi/pi" (Hg.), The Brenner I)cbatc: Agrarian Class StruCture ;md Econornie I)evelopment in Pre-industrial Europc, Cambridb'C 1985. 83 In der wirtsehaftsgcschidillichell Liter:l.tur ist diese Denkweise nach wie vor verbreitet. Niveauvolle neuere Ikispide sind N. RpsellWrg U. L. E. Birdztll,Jr., How Ihe West Crew nieh: The Economie Transformalion ofthe Illdllstrial World, New York 1986; 1-1. KitR'wf'''", D;l.seinzig:artib'C Europ;l.. ZufPC and Asi:l, Cambridgc 1981, Zilat S. 238. Zur weiterführenden Diskussion vgl. vor allem E. WroIf, Der Sonderweg des Westens, in: ZfSoz,Jg. 17, 1988, S. 172-186. E. L.jo"es Im seine Überleb'ungcn erg:inzt in Crowth neeurring: Economic Change in World History, Oxford 1988. In g:lIlz anderer Weise 1/01 P. 1<. 0'8rif" die Ursprünge der C'uropäischen Indllstri:llisierung in einen globalen Horizont b'Criickl: The Found:nions ofEuropean Indusrrialiution: Frorn the Per:spcrtive ofthe World, in:). C. Panlo (I-lg.), Economic EfT'ects ofthe European Exp:lnsion. 14921824, Stuttgart 1992. $. 462-502. 86 Das entscheidende ncsümee lautet: _The most plausible assurnplion is that whate"CT the details of their eultures, non-Europeans were Irying to maximizc material gains jusl as Europcans werc. but subjeet to morC' slTinb't'llt eonrraslS.•jollrJ, Europc;l.11 Miracle. S. 160.
n,e
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primär durch Europas geringere Anfälligkeit rur Naturkatastrophen und sekundär durch seine Tendenz zu Dezentralität. Zum anderen hat der Soziologe und Sinologe Gary G. Hamihon im Sinne Joseph Needhams die Beweislast asienzentrisch verschoben und in einer Reihe brillanter Aufsätze die - auch in der chinesischen GeschichtsWissenschaft heftig diskutierte87 - Frage zu beantworten versucht, warum es in China, einem Z\vischen ca. 1000 und 1600 besonders aussichtsreichen Kandidaten, nicht zur Herausbildung einer kapitalistischen Wirtschafts\veise gekommen ist.FÜt'.finfS hat der über Europa hinausgreifende Vergleich auf keinem Gebiet der historischen Soziologie eindrucksvollere Ergebnisse erzielt als aufdem der Profilierungaflemariver Pftdl' j" die modeme Wltlr. Noch mehr als andere Felder ist dieses eine Domäne der großen Bücher. In der Tat zählen Barrington Moores »Social Origins of Democracy and Dictatorshipll. (1966),89 Theda Skocpols »States and Social RevolutionslC (1979)\(1 und Jack Goldstones »Revolution und Rebellion in the Early Modern Worldll (1991)91 zu den wichtigsten Beiträgen zur historischen Soziologie überhaupt. Jedes dieser Werke verfolgt seine spezifische Fragestellung, doch haben sie alle gegenüber der Suche nach dem Ur-
87 Die chinesische Dc:b.me wird seit der Mine der fUnfzigcor Jahre des 20. JahrhundertS unter delll Sliclw,'on .Kdme des Kapitalismus« gdllhn. Zum ...."Citercn komparaliVt'n Zusammenhang .liu!Xrn sich Flm Odrrn u. Vi Mtngrhurl, Bijiao shixue [Vergleichende Geschichtswissenschaft), Changsha 1991. bcs. S. 199--?25. 88 Vgl. vor alkm G. C. Hllmil'Orl. Why No Capiulism in China? Negarive Qucsltons in '·Iisto-001, Compantivc Research. in:JDS,Jg.I. 1985. S. 187-211; daneben Dm.. Chinese Consumpcion ofForcign Commodiries: A CompanliVt' Perspcnr.oc. in: ASR.Jg. 42, 1m, S. ffTJ-$91: Dm.• Regional AssoaabOns aOO Ihe Chinese City: ACompararr.'C Perspectfve. in: CSSH.Jg. 21. 1979. S. 346-361: Dm., Patriarehalism in lmpcnal China and Western Europc-: A Revision ofWcber's Sociology ofDominauon. in: Thcory and Society,Jg. 13. 1984. S. 39+-425. Elllen noch viel weiteren universalen Vergleiehskrcis zieht C. IVlfklultrl, nlc Uniqucness oflhC' Easl, in:JPS.Jg. 12, 1985, S. 166-196 (auch in: Batrhkr u.a. (Hg.l, Europe and the Rise ofCapiulism, S. 66-100). 89 Dc:U1SChe Ausgabe: Sozi1lle Ursprüngt von DikulUr und Dc:mokratie. Die Rolle der Grundbesitzer und Bauern bei der Emslehung der modernen Welt. dt. v. G. H. Müller. Fnnkfurt a.M. 1969. Vgl. dazu D. 5,"illl, Barrington Moore: Violence. Moraliry and Polidcal Change, London 1983, S. 8ff. Einen aufschlußreichen ThC'orievergleich zwischen Moore und E. P. Thompson tm· lernillllllt Dm., The Rise of Historical Sociology. S. 56-67. 90 T. Sk(J(poI. States and Sodal Rcvolmiolls: A Compar.uivc Analysis of France, Russia and China, Cambridgc 1979. Skocpol hat später aueh die Revaltllionen in Mexiko. VielTlam und Iran in ihre Umersuehungen cinbezogen: Dia., Social Rc"olUlions in the Modern World. Cambridgco 1994. Kritik an Skocpols Erklinmgsstralegien obi. T. Wdskopp. Erldircn, in: H.-j. Gomz (I-Ig.), Gcschidlle. Ein Grundkurs. Reinbek 1999, 5.132-168, hier S. 153f. 91 J. A. GoIdsro~ faßl Abschnine seines grn!Xn Buches zusammen in: E.asl and West in the Sevenlttlllh Ccntury: Political Criscs in Sroan England, Ottoman Turkey and Ming China. in: CSSH.Jg. 30. 1988, S. 103-142; Dm.• Cultural Orthodoxy. Risk. and Innov
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sprungdcs europäischcn bzw. des ausgebliebenen chinesischen ~Wundcrsll vicrerlei gemeinsam: Sie kontrastiercn raum-zeitlich ziemlich genau umgrenzte Fälle miteinandcr, nicht (wlC Ctw:l E. L. Jones) vage umrissene Verläufe in sehr langen Zeitspannen. Sie privilegieren keinen dieser Fälle als den Normdlweg, zu welchem sich die andcren als Sonderwege verhalten; daraus folgt auch, daß eine selektive, nur diejcweiligen Europa- bzw. Nordamerilulapitel beachtende Lektüre die Absichten dieser Autorcn verfehh. 92 Sie wenden dasselbe dIldlytische Instrumentarium kulturblind auf den Westen wie auf Asien an. Und sie stellen nicht inkrementalen sozioökonomischen W:lIldcl ins Zentrum ihrer Analysen, sondern große Kriscn und Systembtüche, deren politische - bei Skocpol auch außenpolitische - Dimension nicht unterschlagen wird. 9J Injedcm der drei Werke wird die komparative Methode dufbesondere Weise verwendet. Moore fragt. cher nach den Unterschieden zwischen seincn scchs Fällen, die zu drei, keineswegs säuberlich aufKominelltc und Kulturcn vertcilten Arten VOll Resultaten fiihrten (Demokratie, Faschismus, ßauernrevolution). Skocpol sucht hingegen hinter ähnlichen Phänomenen - »großen« Revolutionen in Frankreich, Rußland und China - mit Hilfe eines Dcuwngsmodells, das aus den vier Komponcnten Staat, hcrrschende Klassen, beherrschte Klassen und internationale Umwelt besteht, ähnliche Ursachen. Insbesondere entdeckt sie manche strukturelle Parallele zVvischen Frankreich im späten 18. lind China im frühen 20. Jahrhundert. Goldstone schließlich, der sich von den drei Autoren am meistcn um Nähe zur laufenden historischen Forschung bemüht, postuliert im Geiste Mare Blochs die weltweite Vergleichbarkeitgfei€lr.ztitig existierender Itagrarian-bureaucratic scates«~ und ist skeptisch gegenüber Theda Skocpols (oder gar S. N. Eisenscadts) rransepochalem Vergleich.9!t Seine Alisgangsbcobachtung ist die Synchronität revolutionärer Krisen in Europa und 92 In d~tdeUlsch~n Ausg;;abe von Batrinb'10n Moores W~rk nehm~n di~ Kapilel Ober Engl:and. Frankr~ich und di~ USA in~mt 169 Seiten ein. die fiber China. Japan und Indi~n 279 Seilen. Die Kritik hai dies<'n umfangreicheren asialisch~n Teil von Moores D;J.rsl~lIung und ArgumenCl. lion (ast völlig ignoriert. 93 Zum w~il('ren Umfeld der IkvohnionsforschllTlg mit ihren zahlreichen komparative-n Facettell vgI. als Oberblicksdarstellung: M. S. KimmtI, RevolUlion: A Sociologic:al InterpreCluolI, Cambridb'C 1990. 94 GoIdsl""~. Revolution. S. 41. 95 Ebd.• S. 17. W~il eXlrcmer als 1". Skocpolmit ihrem Frankr~ich.China·V~rgkich\'erfihrt Z.B. ein Autor. der u.a. das alle M~sopoClmicll. das perikleisch~ Ath~ll. das indische Moguln::ich und das c1isabedl:lllische Engbnd n~ben~inand~rsl~lll: R. W. Goldsmim. I}r~modem Financial Systems: A I-hstoriol Compar.lIivc SlUdy. Cambridge 1987. Sokhcs tr.msepochak V~rgI~lChen ISt kcinawt'ßS illegitim. Wekhe An von Einsichten es hel'VOf"bnngen k':lIIn. zeigen sokh \~rschieckn· artige V~tsuche wie R. Synlt'. Co4omal EIltes: Rom~. Spain and the Am~ncas.Qxford 1958. und 11. J. Rosil1Q{h. Agrkulrural Sl:avt'ry In lhe Nonh~m Cokmies and In Cbsskal Alhens: Som~ Compamons. m: CSSH.Jg. 35. 1993. S. 551-567. Das um(assC"ndsl~ kornp.u::auv~ Programm summt \'Ofl S. N. EiJmnadr, \-gI. seine Skl%Zt A Sociologic::al Appr~h 10 Com~ratlvt' Civiliullons; Thc Oc\~Ioprtlt'm and Oin::ctions of.1. Research Ilrogr::am.J~rusal~m 1986.
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Asien, also die Feststellung eines gcsamteurasischen Revolutionszyklus, den cr letztlich auf weltweite demographische Tendenzwenden zurückfuhrt. Überwiegt hinsichtlich der Ursachetl von Systemkrisen eine konvergelHe Sicht (ähnlich wie bei Skocpol), so ruhrt Goldstone kulturelle Unterschiede zwischen Ost lind West, die bei Moore und Skocpol bum eine Rolle spielen,dort in seine Argumcntation ein, wo er die erheblich differierenden Folgetl der SystemzusammenbTÜche erkJärt.96 Die Bücher von Barrington Moore, Theda Skocpol und Jack Goldstone sind Vorbilder fiir dic Verbindung von theoretischem Räsonnement und historischer Konkretion. Der Vcrgleich dient ihnen dazu, über den Einzelfall hinaus nach Itgenerellen Ursachen. zu suchen und möglichst sogar zu Itneuen allgemcinen historischcn Aussagen. zu gelangcn,97 ohne daß sie jedoch Gesetze im Sinne der Geschichtsphilosophie aufzustellen beabsichtigten.98 Die Erweiterung des empirischen Erfassungsfcldcs um die asiatische Welt zwischen Istanbulund Tokyo bedeutet weder eine bloß zahlenmäßigc Vermehrung der Vcrgleichsfalle noch dic pauschale Konfrontation von Orient und Okzidcnt. Bei Moore steht dahinter eine wie selbstverständlich vorausgesetzte Überzeugung von der Mchrsträngigkeit der Geschichte und der Vielgestaltigkeit der Moderne, bei Goldstone. dem souveränen Kenner der Forschung, die empirische Evidcnz transkultureller Zusammenhänge lind Vergleichbarkeiten sowie die Erkenntnis, daß die eurozenmsche Begrenztheit des Blickfeldes durch nichts als die Vorurteile des 19. JahrhundeTtS gerechtfertigt werden lann: »The basic contrast that once made sense ofworld history- between an early modern West dut progresscd by inevitable revolutions and an early modcrn East mircd in traditional stagnation - no longer receivcs support from historical research.•99 Goldstonc verlangt selbstvcrständlich nicht, daß historische Forschung im Nonnalfall komparativ oder gar transkulturell vergleichcnd angelegt werden mÜssc. Sie solltc aber- und dies verbindet Goldstone mit dem bewährten Konzept der Zeitschrift ItComparativc Studies in Society and Historytl - mit einer gewissen Sensibilität rur die einordnende Relativierbarkeit des jeweiligen Themas betrieben werden. Umgekehn distanzicrt sich Goldstone von der naiven Arroganz mancher historischer Soziologen, denen die historiognphische Sekundärliteratur als ein beliebig zu plündernder Steinbruch gefugig zu sein scheint. lOo Er forden vielmehr die möglichst vollständige Sichtung der For-
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Goldsum~. Revolution,
S. 62. 416([ '17 M~. Sozi21~ Ursprünge. S. 12. 98 lksond~rs wichtig zur Fragr historischer Regdh2ftigkcit die Übcrlcgungrn bei Cofdstmv. Revolution. S. 54-60. 99 Ebd.• S. 16. Zu ihnlte~n Schl~n gebngt 2uf2ndcrrn Wegen). Goody. ~ East in th~ Wnl. Dmbridgc 1996. 100 GoId.sIottt. R~'Olurion. S. 54.
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schung und ihre kritische und argumentierende Auswertung,lot d.h. ein SichEinlassen aufdie Debatten der Fachleute stau bloßer Einfügung passender Fakten und Thesen in das eigene Schema. Auf einer solchen Basis soll dann eine vergleichende Geschichte - mindestens der Frühen Neuzeit - als sechsfache Synthese möglich werden: eine Synthese von wirtschaftlicher, politischer und ökologischer Geschichtsschreibung, von »alte nc Sozialgeschichte der Institutionen und ihrer Krisen und »neuen demographisch fundierter Sozialgeschichte, von europäischer und asiatischer Geschichte, von linearen und zyklischen Verlaufsformen. von scrukturell-erklärenden und kulturell-verstehendenAnsätzen, schließlich von quantitativen Analysen und qualitativen Fallstudien. H12
IV Partialvergleiche
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Jack Goldstone selbst hat viel getan, um dieses Programm zu crrullen. Es fallt freilich schwer, in der geschichtswissenschaftlichen Literatur andere Texte zu finden, die einem solch strengen Maßstab auch nur annähernd genügen. Senkt man aber die Anspruchshöhe, dann finden sich auch außerhalb des kleinen Kreises der ambitionierten Werke der historischen Soziologie einige - zugegeben, noch sehr wenige - Beispiele rur transkulturclle Vergleiche. Sie sind meist erste Versuche, die zuweilen kaum mehr leisten, als lohnende Themcnfclder zu markieren. Wenig beachtet werden Vergleiche, die man nicht zwischen Europa und dem Rest der Weh zieht, sondern zwischetl nt/zeIne" olifkre",opiiiscllen Zivilisarionerl oder Nmiot/ell. Sie gehören deshalb zu den ganz besonders lohnenden Unternehmungen, weil sie ein ungewöhnlich zählebiges europäisches Vorurteil korrigieren: das von der prinzipiellen Einheitlichkeit Asiens, des Orients oder gar der »Dritten Welt•. Selbst wenn kein kausalanalytisches Modell zur Erklärung voneinander abweichender historischer Pfade verwendet wird (wie Barrington Moore dies bei seinem China-Japan-Indien-Verglcich tut), kann ein raulllzeitliches Gliederungsschcma Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen benachbarten Zivilisationen deskriptiv sichtbar machcll. So hat einc Historikergruppe in vierzehn chronologischen Kapiteln die Geschichte VOll funfZivilisationsräumen parallcl dargestellt: Westasien, Südasien, Südostasien, China und Japan. ICl) Man hat dies ähnlich, aber in eher systematischcr als chronologi101 V"Kle uni\"ClUlhistonsche lnterptcutioncn bcruhcn :luf unzutClchcndct Kenntms dcr nCUC'T('n Forschung. Dit'S gih lC'idC't :luch rut dn solch gcd:lnkcllT<'Khcs Buch wie R. H'!ffrrum". TOOIUOrulC' GescI1sch:lfl und modctnC' SU:l(IIChkcit. EinC' ~rglC'lChC'odC' UutC'tSuchungdC'r CUto-p~lschell und chinC'SischC'1l Emwiddungstendcnzcn. München 1987. 102 GoltlsIoM, RC"\"olunoo. S. J7f. 103 E L Farmn U.:I., Comp:lt:lti\'t' History ofClVilizauons 1II Asu.. 2 BdC'., R~ing. Mus.
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scher Anordnung, im engeren Rahmen rur »Eastern Asia.c getan und darunter China,Japan, Korea und Südosbsien verstanden. 1()4 Komrastive Gesamtdarstellungen der Geschichte Chinas und Jap.:ms, dieser heiden so deutlich eigenständigen Zivilisationen, können die sehr erheblichen Unterschiedc ihrer Entwicklung in der Epoche der Nationalstaatenbildung erhellcn;lllS ein enger fokussicrter Vergleich hat mit Hilfe der Wallcrsteinschen Weltsystemanalyse diese Untcrschiede aus der größercn SchädigungChinasdurch den Imperialismus zu erklären versucht.IOliWihrend im Verhälmis Z\vischcn J3pan und China Strukturverglcich und Beziehung5geschichte sich mischen, gehört die KoppelungJapan-Ägypten, die von der ähnlichen entwicklungspolirischcn Ausg;l.I1gslagcn beidcr Länder ausgeht, zum Typus des Marc Blochschen Fernvergleichs. 107 Für Ilunche Zwecke sinnvoller als der vermeimlich so 1l3he liegende China-Japan-Vergleich ist dic Gcgenüberstellung Chinas und Indiens. Seit der Buddhismus sowohl in Indien als 3uch in China an Einfluß verlor, fehlt den heidcn Zivilisationen das einigende Band, das zwischen China und Japan die konfuzianischc Sozialethik bildet, obwohl sich damit z.B. ganz verschiedene Familienstrukturen und Sozialisationsmustcr verknüpfen. IOll Jedoch sind dic kontinentalen, bevölkerungsreichen, untcr ihrcn Ancien Regimes wenig intcnsiv regierten Großräume Südasicn und Chin3, die erwa gleichzeitig in die WcltwirtsChaft einbezogen wurden, sich in ihren Entwicklungspotcntialen näher als China und Japan. Die im Rückblick realistische Frage ist nicht die, warum China im 19. Jahrhundert, als seinc .spätmittelalterlichen. Vorteile längst verspiclt waren, kein zweites Japan wurde, als vielmehr die, warum ihm das asiatische Nonnalschicksal der territorialen Kolonialisierung erspart blieb, es sich also nicht in ein zweites Indien verwandclte. 109 Zu dcn Hir transkulturelles Vergleichen besonders gut geeigneten Feldern gehört die Sozialgeschichte von Agrargesellscllaftetl (»peasam societies.c). Auch hier läßt sich zunächst, wie m3n es fur Europa seit langem tln, innerasiatisch 104 C. MIl(~. ~stern Asia: An IllIrodudory Survey. Mdbourne 1992. 105 Vgl. C. &I.irokow". Mooern China andjapan: ABriefHistory. NewYork 1982;j. Os,"Irnnrmd. Chinesische Ilcvolution und MooernisiefUllgjapans, in: A. Nilstlrkl u. a. (Hg.). Funkkolleg jahrhunde~llde. Die Entstehung der rnooemen Gesellschaft 1880-1930, Studienbcglc:itbrief7. Weinheim 1989, S. 97-141. \06 F. V. Mllll/dn.japan. China and the Modern World Econorny: Toward a Ileinterpreutioll of 81st Asian Dcvdopmellt, c. 1600 tO c. 1918. C:ambridge 1m. Dieser Erklärungsvcrsuch ist allerdings zu eindimensional ausgefallen. 107 Vgl.A. &hölth.Ägypten in der ersten undjapan in der l .....eiten H51fte des 19.jahrhundens. Ein emwicklun~hichtlicherVergleich. in: GWU.jg. 33. 1982. S. 333-346. 108 Dies zeigt deutlich L ~v. Pyr, Asim Power and Politia: The Cultunl Dimensions of Authoriry. Dmbridgc. Mass. 1985. iUpitd 3. &-7. 109 Vgl. dazu R. MurpNy. Thc OutSiders: The Western E.xpmcn« in India and ChilU. Ann Arbor Im. Auch Wlrtseluftsgesehichthch ist dlCSC Fallverkoppelung ergiebig, vgI. C1W:a S. SU\1mi, l1lc Response tO Economic Challenge: A Com~ntM Economic History ofChina and India. 1870-1952. in: QlWterly jounul of EcooornlCS.jg. 93. 1979. S. 25--46.
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oder innerafrikanisch vergleichen.'10 Ländliche Schichtungsstrukturen und Eigcmumsverhälrnisse, agrarische Betriebsforlllen und Wirtschaftsweisen, Subsistenz- und Marktwirtschaft, SiedlungsIlluster und Fonllen von Dorfgemeinde, Familien- und Kbnlebcn, Religion und Ritual, Kosmologien und Verhaltensweisen: unter diesen und anderen universalisierbaren Problellltiteln lassen sich Agrargesellschaften aber dann auch weltweit in vergleichendc Beziehung zueinander setzen. Die verschiedenen theoretischen Konzepte zur Analyse ländlicher Sozialstrukturen und bäuerlichen Verhaltens - von Cajanov über Konzepteder»moralischen Ökonomie« bis zu Rational-Choice-Theorien - tragen zur vergleichenden Zurichtung des Materials bei. »Peasant stlldies« gehören heute, wie Zeitschriften, Tagungen und Sammelbände belegen, zu den sich am kosmopolitischsten verstehenden Teilgebieten der historischen Sozialwissenschaften. Nicht immer kommt man dabei übcrdie additive Aneinanderreihung von Fallstudien hinaus. Ein strenger Vergleich nach den Maßstäben fortgeschrittener historischer Soziologie kann besonders beim Thema bäuerlichen Protests und ländlicher Revolutionen überzeugende Ergebnisse erbringen. Beispiele dafiir sind Michael Adas' Untersuchungen über amikoloniale Bauembcwegungen vomehmlich in Asien,JefTrey Paib'CS Analyse der Zusammenhänge von Sozialprotest lind Exportökonomie in Peru. Angola und Vietnam, Ditollar Dahlmallns Studie zum ländlichen antik.apitalistischen Protest in Mexiko und der Ukraine und Eric Wolfs kJassischer Vergleich von Bauemkriegen auf vier Kontinenten. 1I1 Europäisches und Nicht-Europäisches ist dicht, ja, oft untrennbar miteineinander verwoben im Bereich der verglrilJrffldeu Gesllritlrlf der ellropäisllJeu Expcm.sio,r. Standardthemen sind selbstverständlich die Unterschiede in der Expallsionsdynamikdereinzelnen europäischen Nationen (sowie spätcr der USA und Japans) sowie die verschiedenartigen Reichsstrukturen, die im Zuge der Expansion entstanden. 112 Methodisch schwieriger, aber im Ergebnis vielleicht noch lohnender lassen sich sozialgcschichtliche Vergleiche zwischen einzelnen Kolonialgesellschaften an der überseeischen Peripherie anstellen. IU Verschie110 Für Asien ctwa T. Fllkmakr. Ru~l Sociery: China, India,Japan. Tokyo 1967. Fukulake ist einer der fiihrendcn Sm~ülhis[OrikerJapalls. Vgl. von ihm aufEnglisch auch:Japal1csc Runl Society, New York 1%7; Ckrs., Thc Japancsc Social Slructllre: 115 Evohllion in (he Modern Ccmury. Tokyo 1982. 111 M. Adiu. Prophets ofRebcllion: Millenui:m Prolest Movemcllls againsllhe Europcan Co10lllal Order, umbridgc 1989:]. M. Paigr. Agrarian Revolution: Sodal Movements and Export Agnculturc in the Underdevdopt'd World, NC'W York 1975; D. l)BhllfUlrln. Land und Freiheit. Mxhno~illa und Zapnismo als Beispiele agr.IITC'o"Olutonircr Bewq;ungcn. Stu~n 1986; E. R. Wolf. I)eas:.llll Wars ofthe Twelllicth Cemury, London 1971. Zusanunenh:ingc nv;schen Bauern und Arbeitern betont F. Coopn, Con(roming Historial Pandlgms: Peas:.lnts. Labor and the Capl. U.llS1 World System in Mria and utin Amcria., Madison. Wisc. 1993. 112 Au(hohem alUlytischem NMau besonders: M. J.Y. no,v. Empires, Ithaa 1986. 113 Zur sozi:allPChichtlichen BesummullLdes Typw .kololllak Gesellschafl_ v:cJ..J. Dun· ltarnmd, Kolonialismus. Gcschichtt. Fonncn. Folgcn.München200l', S. 19-22.89-99. Ein tnns-
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dcne Möglichkeiten sind denkbar und zum Teil in crsten Versuchen schon realisicrt wordcn: der Vergleich zwischen den IUleuen Gesellschaften« im iberischen Süd- und Zentralamerika und im vorwiegend englisch kolonisierten Nordtcil des Kontinents; 114 dcr Vergleich geographisch benachbarter, kulturell entfernt verwandter, langen Prozessen kolonialer Unterwerfung durch unterschiedlich vorgehcnde europäischer Mächte ausgesetzter asiatischer Regionen, erwa Indiens und Indonesicns: eine gleichsam dreidimensional nach Zielkulturen, KolonialmäclHen und Epochen differenzierte Konfiguration;1I5 der Vergleich zwischen Fällen sicdelnder Landnahme durch Europäer und der dadurch entstehenden )lfronticr socicties.c, sei es im Nah-, sei es im imerkontincntalen Fcrnvergleich;"6 der Vergleich zwischen Dekolonisationspfadcn, der unter anderem wichtige Aufschlüsse über die Hintergründe der Encwicklung sowohl der ehemals Kolonisierten als auch dcr Ex-Kolonisatoren in dcr Zcit nach dcr Unabhängigkeit geben kann;117 schließlich, daran unmittelbar anschließend, der Vergleich zwischcn unterschiedlichen Ausprägungen der wichtigsten Emanzipatiollsidcologic, des Nationalismus, und ihrer Formierung in 3ntikolonialen Bewegungen. 111l pazifischer Vergleich ist R. H.Jatks<>1l 1I. G. MlIddo.'l:, The Creation orldcnliry: Colonb.l $ocicry in Bolivia and Tanzania. in: CSSJ-I,]g. 35.1993. S. 263-284. 114 Wegv:dscnd:). Lmlg. COllqucst and COIl1Jl1crcc: Spain and Ellgland in the AmeriQs, New Vork 1975; N. Call1'Y n. A. Pagdm (Hg.). Colonial ldentity in thc Atbntic World. 1500-1800. Prillcetoll 1987. Komparaliv angelegt sind zahlreiche der lkitf.ige in W. Rr;/I/"mf u. P. Waldmmm (Hg.). Nord und Siid in Amerika. Ge,,'cns:itze. Gemeinsamkeiten. europäischer l-lilllergnll1d, 2 Bde.. Freiburgi.Br. 1992. Wie sich die linien in die nachkoloniale Epoche hinein verlängern lassen. zeib,'1 z.B. H.-j. I)u/llr. Soziale Schichtung und KJasscnbildung in den USA und L:neinalllerika. in: ebd.. Bd. 2. S. 364-382. 115 Vgl. die eindrucksvollen Er~;cbnisse einer Serie \'011 vier europäisch-asiatischen Konferenzen, die umcr delll Obenitcl Comparative I-listory oflndia and Indonesia in leiden veröffentlicht wurden: L. BI/Iss! u.a.. India and Indonesia from the 19205 tO the 1950s: The Origins ofPlanning (1987); M. Hasa" u.a.. lndia and Indonesia from Ihe 183Qs 10 1914: Thc J-1eyday ofColonial Rule (1987); P.). Man/lall u.a., India and IndOllcsia during the Ancien Regime (1989);). C. Hrfilffllla/l lI.a.. lndia and Indonesia: General Perspectivcs (1989). 116 Für das eine z.B. D. ~tlO(lt" Scnler Capiulism: The Dynamics ofDepcndelH Dcvclopment in the $outhern l-Iemisphere. Oxford 1983: D. Krll"tdy, Islands ofWhile: Sculer Sociery and Culture in Kenya 3nd Southern Rhodesia. 1890--1939. Durham. N.C. 1987: fiir das andere z.B. H. L4IlIar u. L. '1110mpsc" (Hg.). The Fronlier in History: Nonh fullerica and Soulhcm Africa Comparcd. New J-1aven 1981; I. Limit/.:, SI:lte.ßuilding Failure in ßritish lrclalld :lnd French Algeria, Bcrkcley 1985. 117 Z.ll. B. Da/mi, Emanzipationsversuche \'011 kolonialer Herrschaft in Südostasien: Die Philippinen und Indoncsicn. Ein Vergleich, WiesbadeIl 1974: D. A. Low. The Asian Mirror to Tropical Afrids lndepcndencc. in: P. Gifford t1. W. R. umis (I-Ig.). The Transfer ofPower in Afria: DccoIOllization 1940- 1960, New I-Iaven 1982. S. 1-29; 1'. Sm;llI. PaHems in the Transfer of I'ower: A Comparativc Study ofFrench and ßritish Dccolonization. in: ebd.. S. 87-115; M. /GJhlrr. Dceolonizatioll in Brit:lin and Franec; The Domcstic CoIlK"quellccsoflmemational Rdalions. Princcton. N.]. 1984. Vgl. auch die Diskussion der Forschungslage in:). OSlffltammtl, Spälkolonialislllus und Dckolonisalion. in: NPL,]g. 37,1992. S. 404-426. 118 Methodisch wegweisend: D. A. LeIV, Scqucncc. CnlX and Mcans: Somc Asian Nationa-
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Alle diese Themen sind bescheidener bemessen als die lIgroßenll Fragen der historischen Soziologie. Sie sind zumeist Partialvergleiche, die nicht ganze ZiviIisationen, Gesellschaften oder Nationen komparativen Prozeduren aussetzen, sondern einen jeweils perspektivisch begrenzten Querschnitt legen. Die Erkenntnisabsicht richtet sich auf überschaubare Segmente der Wirklichkeit, die manchmal sogar das empirisch-analytische Verfahren der Hypothesenüberprüfung zulassen: Gibt cs einen regelmäßigen Zusammenhang zwischen einem bestimmten Typ von ländlicher Besitzstruktur und Ancignung des Mehrprodukts und der Häufigkeit bzw. Intensität bäuerlichen Protests? Eine solche Frage läßt sich mit aller nötigen Vorsicht aufder Grundlage einer Reihe von Fallstudicn näherungsweise bcant\vorten. Freilich sind die Partialvergleiche von Historikern meist solche zwischcn nicht mehr als zwei Fällen. Eine geringere methodische Strenge wird dann durch den reicheren Kontext mindestens aufgewogen. Partialvergleiche zwischen zwei Fällen lassen sich auch am ehesten mit dem Handwerksethos des Fachhistorikers verbinden. Die Indonesienspezialistin, die sich tiefere Einsichten in ihr eigenes Gebiet von einem Vergleich mit den Philippinen verspricht, über die sie selbst nicht aus den Dokumenten gearbeitet hat, weiß genau, welche Fragen sie an dic Sekundärliteratur zu stellen hat. Der Historiker der britis~hen Industrialisierung wird, ohne unüberwindliche Kulturbarrieren übef\.vinden zu müssen, Zugang zu der umfangreichen englischsprachigen Forschung über die industrielle Ent\vickJung Japans finden- auch wenn er sich mit einer gewissen Demut seiner fehlenden Sprachkenntnisse bewußt sein muß.1I9lm Themen- und Methoden-Pool der Vergleichenden Geschichte strömen verschiedenartige Richtungen zusammen. Die hohe historische Soziologie bleibt fiir Historiker stets anregend, auch wenn sie selbst deren quellen ferne Vogelschau vermeiden werden. Der Partialvergleich hingegen, sogar derjenige über den vertrauten Zivilisationsraum hinwcg, ist fur Fachhistoriker erreichbar. Er ist, unabhängigvon konkreten Ergebnissen, eine intellektuell aufweckende Erfahrung, denn oft enttarnt erst der komparative Blick eine vermeintliche Selbstverständlichkeit als Problem. lisllls Comp;tred. in: R. Jrffrty (Hg.), Asi;t: The Winning oflndept'ndence. London 198\. 5. 258280. Die ;tIlgemeine N;ttiomlislllusliteratllr hai die Besonderheiten außereuropäischer N,ltiomlisIllen bisher zu wenig beachtet. Ausnahmen sind das hochgelehrte, enzyklopädische Werk von H. Snon-WolfSOrI. N,ltion :md States: An Enquiry imo the Origins ofNOltions :lIId the PoliticsofNOltio1l00rism. London 1971. sowie dOls einflußreiche Buch eines 1J001llhOlften Indollcsiellspczi;tlisten: B. Alrd~ll, Inugined Communities: Heflections on the Origins Oll1d 5prcOld ofNatiOJlOllism, London \983. Zur Übersicht über dic neuere Diskussion: C. CA/horm. NOltionOllism. MinneOlpolis 1997;A. D. Smilh, NOltionOllisTl1 ;tnd Modemism: A Critic;tl Survey of Hecem Throries of NOltions and NOltionOllislll, NewYork 1998. 119 Ein Ergebnis \...:ire z.8. das diclll vergleichende Buch M. G. B/lUkJord. The Hise ofModem Business in Grc;tt ßritain, the United States. Ollld J;tpOln. Chapell-lill 19981; eher eine POlTallelgcschichte Olls ein Vt'rglt'ich ist K. Brown, Britain and Jap;tn: A CompOlTative Economic Olnd Social History sinct' 1900. London 1998: ebenso Oldditiv ist). Srofl, COlpitalist Propcrty Olnd FinOlncial Power: A Col1lpamtve 5tudy ofBriuin. the United Sutes ;tnd JOlpOln, ßrighloll 1986.
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V Schwierigkeiten und Chancen des trans kulturellen historischen Vergleichs Der transkulturelle Vergleich ist zunächst ehereine Einstellungals eine Methode. lIDas Studium jeder beliebigen Zivilisation bereichert die Kenntnis, die wir von einer anderen haben,« sagt Paul Veyne mit unanfechtbarer Richtigkeit,l20 und wenn eine solche Einsicht dazu flihrte, daß ein Deutschlandhistoriker gelegentlich ein Buch eines Indienhistorikers läse und umgekehrt, wäre schon manches an vormethodischer Weltbürgerlichkeit gewonnen. Es wäre vermessen, im Ton mahnender Strenge der etablierten Geschichtswissenschaft Parochialismus oder Narzißmus vorzuwerfen und ihr eine transkulturelle Horizonterweiterung als Mittel anzuempfehlen, sich den Herausforderungen des 2 I. Jahrhunderts gewachsen zu zeigen. Viel wichtiger ist es, skizzenhaft anzudeutcn, wie eine Einstellung sachte in Methode verwandelt, wie der gute Wille furs Globale in eine akademisch akzeptable Form gebracht werden könme. 12l Diesem Zweck dienen die abschließendcn thesenartigen Bemerkungen. (1) Eine transkulturelle Perspektive muß nicht unbedingt ein sekundäres Konstrukt sein, das gewissermaßen in dcr An eincs luxuriöscn, aber nur von wenigen bewohnbaren Penthouse dem soliden Büroblockder Nationalhistorien aufgesetzt wird. Es gibt eine Reihe historischer Phänomene, deren Wescn Transkulturalität ist, die also gar nicht anders als transkulturell untersucht werden können. Dazu gehören die großen und kleinen Synkretismen der Geschichte vom Hellenismus über die Herausbildung multicthnischer und multikultureller Mischgesellschaften in Lateinamerika und der Karibik bis zur Globalisierungwestlicher Lebensstile und ihrer Interferenz mit einheimischen Praktiken und Kosmologien während der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. l22 Es gehören ebenfalls dazu jene nkosmopolitischen Gruppen,t
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zwischen Mozambique und Macau),12~ die jüdische Hochfinanz und überhaupt die kosmopolitische Bourgeoisie seit dem frühen 19. jahrhundert,l25 die internalionalen Berufsrevolutionäre seit Marx und Bakunin, die transkontinentalen Geschäftsnetze von Auslandschinesen, die Spitzenbeamten internationaler Organisationen seit dem Zweiten Weltkrieg und das Top-Management multinationaler Konzerne, das international agierende mafiose Verbrechenum, usw. Diese Gruppen, oft weltgeschichtlich an strategischen Stellen plaziert, fallen durch das Raster einer nationalstaatlichen und selbst einer inter-national orientit:rten Geschichtsschreibung. Sie sind ihrer Natur nach transkulturell. Als interkulturell kann man hingegen jene Prozesse bezeichnen, die sich in breiteren Zonen des Kontakts, der »Hybriditiit«,126dcr sich überlappenden Ränder von zwei (manchmal auch mehreren) relativ bcharrungskräftigcn ll7 Zivilisationen abspielen. Solche Kontaktzonen, räumlich verstanden, sind das mittelalterliche Spanien und Sizilien gewesen, der frühneuzeidichc Balkan, große Teile Zentral asiens (besonders Turkestan), die multikulturellen Handelsplätze im friihneuzeidichen Asien (etwa Batavial]ak.'lrta), die »Vertragshäfentc end~\,l1g der chinesischen Küste nach dem Opium krieg, die »Plantagcngürtcl« in mehreren Kolonien Südostasiens, die Bergwerksregionen Afrikas und die postkolonialeIl Metropolen Westeuropas. (2) Sofern trallskulturelle Geschichtswissenschaft sich nicht mit derlei Phänomenen von wesensmäßiger Trans- oder Interkulturalität beschäftigt, sondern gleichsam von oben in einzelne Zivilisationcn, Nationen und Gesellschaften hineinblickt, hat sie es mit drei Graden der Isolierung ihrer Untersuchungsgegenstände ZUll tun: (a) Als Bezielumgsgesdlirll/i' studiert sie die tatsächlichen Interaktionen über Zivilisationsgrenzen hinweg: Migrationen, kriegerische Eroberungen, Bewegungen von Waren, Kapital und Ideen. (h) Als lwiversal!listorische Mt/terialsamm/lltlg verfolgt sie eine besrimmte Praktik oder Institutioll quer durch die Wc1tkulturcn. l28 Eine komparative Aufarbeitung des Materials kann dann zur universalen Variamenanalysc, der logisch »schwächstenlC Form der transkulturellen Vergleichs, fLlhren. (c) Als vergleic},etlde Gesd,;c!ltssc},reibmlg im engeretl Si/me umerzieht sie zuvor monographisch präparier124 Cuniu sprichl in eincr wiehtigt:n 5lUdie VOll _trade diasporas.: P. D. Gmi,r, Cross-Cu 1tural Trade in World Hislory. Cambridb'C 1984. 125 Vg1. das anregende Buch von C. A.JOUI'S. International Business in the Ninelccmh Celllury: The Rise and Fall ofa Cosmopoliull Bourgt"ousie, Brigilloll 1987. 126 Ein Lieblingskonzept der Postmoderne. etwa bei H. K. Bllablla. The Localion ofCulture.
Lo~1 1994.
127 Damit soll die Kulturvernichtung durch plölzliche Eroberung (Karibik. Minelamerika) oder angs
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te Fälle von .minlerer« - also zwischen Ereignis und ~r-lI1zer National- oder Zivilisationsgcschichte a.ngesiedelter - Übersichtlichkeit einer systematischen Analyse. Kurz: Ebenso wie nicht alle vergleichende Geschichte transkulturell vorgeht, verfahrt nicht alle transkulturelle Historiero ipso komparativ. Transkulturell vergleichende Geschichtswissenschaft muß als Schninmcnge größerer Intcressenskreise verstanden werden. (3) Die Möglichkeit des transkulturellen Vergleichs beruht aufder IIl1iversafw Eillileil der modemeIl Gesl'llicillSIVlsseU.sclu!ft. Deren Denk- und Verfahrcnsweisen sind - trotZ früher quellenkritischer Raffinessen etwa in der chinesischen Historiographie lB - europäisch-partikular in ihrer Genesis, doch universal in ihrer Geltung. Indigene Traditione~ der Geschichtsbetraclnung in außereuropäischen Zivilisationen verleihen auch einer nach ..westlichen« Maßstäben betriebenen Geschichtsforschung oft eine jeweils spezifische Färbung, die sich besonders in Darstellungsstilen ausdrückt, aber die l1lethodologische Basis nur dort berührt, wo eine postkoloniale Pcrspcktivierung weniger der Ergebnisse als der Fragestellungen eingeklagt wird. 1JO Es ist keille eurozentrische Anmaßung, wenn man feststellt, daß zum Beispiel die Geschichte Indiens in Heidclberg, Cambridge oder Bcrkeley ebenso gut geschrieben werden kann wie in New Dclhi oder Bombay und daß sich Historiker hier wie dort im Prinzip derselben Forschungstcchniken und Intcrprct3tionsweiscn bedienen. Der methodologischen und methodischen Universalität der modernen Geschichtswissenschaft entspricht ein homogener Referenzraum über Epochen und Kulturen hinweg. Innerhalb dieses Raumes sind Querbczüge grundsätzlich möglich. Die Grenzen dieses Referenzraul1les werden dort erreicht, wo das Fehlen einer schriftlichen Überlieferung aus den Händen der primäre'l historischen Akteure den unmittelbaren Zugang zur Innensicht einer Zivilisation vCT'\vehrt lJ1 und daher ForschungstechnikeIl und Interpret3tionsweisen erfordcrlich wcrden, rur welche NachbaT'\v1ssenschaften \v1e Vor- und Frühgeschichte, Archäologie, (historische) Ethnologie oder eine Komposit-Disziplin wie die Alt3l1lcrikanistik zuständig zeichnen. Die .Geschichte der Anderen« im EntwickJungssrndium der Schriftlichkeit verlangt indessen nur sehr bedingt auch eine lIandere« Geschichtswissenschaft. .Außereuropäische Geschichte« ist, einem verbreiteten Vorurteil zum Trotz, keineswegs identisch oder auch nur 129 vgl. Hfu Kll'Q/I-SIIII. Thc C1unesc Cr;uc:al Tnd;tion. in: HJ.Jg. 26, 1983, S. 431-446. 130 So e~ :lUfhohem Iveau 1Il der ilKhschen GcschichtsWisscuschafi; vg!. e~'2I prognmnuusch R.. CllM.I)Ol1lllla!lC(' WlthOUt II~moIlY and lu l-hstor1ogr:aplue.lIl: DnJ. (Hg.). Subaltern Studu:s. ßd. 6, 1)cIlH 1989. S. 210-309. 131 Primitcs 1St tU ulltcrschctdcn von _sckuocUtclll_ Qudknmatt'rul.das VOll fr('In
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überwiegend kongruem mit Ethnohistorie oder historischer Anthropologie. Sie ist denselben universalen Sundards verpnichtet wie die Forschung zur Geschichte Europas. (4) Vergleichende Geschichtswissenschaft setzt die Abgrenzbarkeit lind Klassifizierbarkeit von Vergleichseinheiten voraus. Beim internationalen Vergleich sind Nationen bzw. Nationalstaaten die Basiseinheiten, beim trans- oder interkulturellen scheinen es physiognomisch durch einzigartige Merkmalskombinationen erfaßbare "Kllftllre". (im Plural) zu sein. Diese Annahme bedarf dringend der Überprüfung. Zurecht sind drei scheinbar triviale Fragen neu gestellt worden: »What do we mean by culrure in dIe collte",'t of comparative statements? How can a culture's distinctiveness be conceptualized? What is required to demonstrate that such distinctiveness exists, what it consists of, and what innuence it has on the performance of societies?1J2 Es wurde einleitend bereits danuf aufmerksam gemacht, daß sich die Grenzen von Kulcuren nicht derart eindeutig feststellen lassen wie die von Nationalstaaten. Der weltgeschichtliche Prozeß hat stetig llIr Schwächung der autonomen Identitäten von Kulturen geführt. Während der »Achsenzeit. des ersten vorchristlichen Jahrtausends existierten die .Hochkulturen. der Erde zwar nicht völlig isoliert nebeneinander, unterhielten jedoch nur relativ geringe gegenseitige Beziehungen: das spätrepublibnische Rom und das China der HanDynastie beeinnußten sich gegenseitig nicht. Desh:alb sind für diese Epoche Kulturen noch in gleichsam reiner Ausprägung porträtierbar und in einem zweiten Schritt als sauber präparierte Exemplare miteinander vergleichbar. 1J3 Dies gilt, sich allmählich abschwächend, auch noch rur die folgenden anderthalb Jahrtausende.l.w Im historischen Verlauf wird aber immer wichtiger, was die ethnologische Theoriediskussion seit 1889 als llGahons Problem. kennt: das Bestehen d:aT3uf, daß stets geklärt werden muß, ob ÄJlIllichkeiten lwischen Vergleichsf:illen auf eine jeweils eigenständige Genese oder :auf eine frühere Bceinnussung der einen durch die :andere Vergleichseinheit zuTÜckzuftihren sind. Sir Fr.l.Ilcis Galton forderte, lKiaß dem tr:anskulturcllen Vergleich eine 132 A.j. Na/M". b Chinese Cultun: Dislincti\'e? A Ikvit."W Artic1e. in:JAS.jg. 52. 1993. S. 923-936. Zitn S. 9"-3. 133 Vgl. S. N. Eig'lSIadr (Hg.). Kulturen der AchscllZcit. Ihn: Ursprünge und Viclf;llt, 2 Bde.. Frankfurt a.M. 1987. Die Anf;jngc großriumiger imcrkuhurel1er ßc7.idlllllgt'n stdlt ill1 ÜbrrbliC"k dar: j. H. Bmdty. 01d World EncountC'rs: Cross-Cuhural Conlxts and E'Cchangt'S in PrC'·ModC'm Tim«. NC'WYork 1993. 134 IXn günsligt'n MOI~ntdnernahezu gleichzeitigen kulrurdlC'n Hochblü~ \.'on Islam und ChrislenhC"tt Im 12. und 13. jahrhundert h.u der Isiamisl M. G. S. HodgsmJ (1922-1968) zu einem dC'r gdungcnslen SIÜCke Inlerkulturell "<'rgk;chendcr GcschichtsdeulUug gcnuuc: dC'm K2pnd ..cultunl Paueming in Islamdom and dl(' Occickm. in seinem großen Werk The Vcntun: oflslam: Consckncc;lnd l-lislOr)' 111:1 World Civihzation. ßd. 2. Chiago 1974, S. 329-368. Vgl. auch Das.. RClhinking World HislOry: Essays Oll Europc. Islam and World History. ulI1bridgc 1993. bcs. Kapitell, 5. 12. Vgl. auch L. DU/nQll/. On lhe Compantivc Underslanding ofNon·Modem CiviliwioTls. in: D;ledalus,jg. 104. 1975. S. 153-172.
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historische Analyse der Abhängigkeiten unter den Vergleichsobjekten vorangehen lllüssetl. 1J5 Anders gesagt: jeder Strukturvergleich wäre bcziehungsgeschichtlich abzusichern. In der modemen Welt ist, vor allem infolge der Expansion des kapitalistischen Weltsystems Sdmt ihrer Sckundärwirkungen (etw:l dem durch den SkJavenhandel bewirkten ethnisch-kulturellen Tr.msfer von Afrika in die Neue Welt) die Imerpenctration von Kulturen zum Nonllalfall geworden. Traditionalistische und fundamentalistische Gegenbewegungen, die sich oft aufdie zweifelhafte Authentizität von .invented traditionstl berufen, sind selber von den angeprangerten Kontaminationen durch die Modeme niemals frei: Auch Mullahs benutzen Computer. Selbst eine im europäischen (Miß-) Verständnis derart unveT\yechselbar kompakte, ja, monolithische Kultur wie die chinesische stellt sich aus heutiger Sicht fur die älteren Dynastien als ein Zusammenspiel divergenter Traditionen und ftir das 19. lind 20. Jahrhundert als eine kaum noch randscharfe, in sich spannungsvolle Pluralität von Rollen dar: Worunter in verschiedenen Epochen jeweils was Chinesische. vorgestellt werdcn könne, ist zu eincm heiklen Debattcnthema gcwordell.l.J6 Was China sei, ist vennutlich schwieriger zu bestimmen, als was die Identitätjapans ausmacht,l37 aber immer noch einfacher, als den kleinsten gemeinsamen Nenner Europas oder der islamischen Welt zu finden. 13lI Ob nun historische Soziologen kühn zwischen Produktionsweisen, Klassenstrukturen, politischen Ordnungen und System-Umwelt-Konfigurationen vergleichen oder Historiker bescheidener zwischen Pachtsystemen, Militärapparaten, kolonialen Städtetypen, usw. - immer stellt sich die Frage nach der Benennung lind Umgrenzung der kulturellen Kontexte, denen solche Elemente entnommen sind, und die weitergehende nach früheren Einwirkungen zwischen ihnen, also Galtons Problem. (5) ..KI11,ur. im Singular, d.h. eine der Grunddimensionen menschlichen Gemeinschaftslebens, kann aus transkultureller Geschichtswissenschaft noch weniger ausgeschlossen werden als aus konventionellen Zugangsweisen, macht aber selbstverständlich aus einem transkulturellen Vorgehen nicht norwendi-
-
135 H. KJti'lS(llItlidl, Galtons Problem: Ikmerkunb'Cn zur Theorie der tnnskuhurell vergleichenden Geschicillsforschung, in: ZfG.Jg. 39.1991, S. 5-22. Zitat S. 6. 136 Vgl. etwa L. Dilllliff U. S. S. Kim (I-Ig.), China's Quest for Nationalldcmily. hh:lca 1993: Tu Wti.",in,(' (I-Ig.), The Living Trce: Thc Changing Meaning of Being Chinesc Today, SCl.Ilford 1993. 137 Vidleiclll sind im F:ll1e Jap:lns 1-lom~lIit2ts- und Einziganigkeitslllythen :luch nur be· sonders erfolgrcKh gepflegt wordeIl. Vgl. P. N. Dak, The Myth ofJ:lp2l1esc Uniqueness. London '986. 138 Wie groß dIe Spallll....'C'ik innerh:llib des Islam sein kann, h:lll ein berühmlC'$ kompanti,>ti. seiles Buch gt"zelgt: C. G«ru.l5lam Obscrvcd: Rdigjous Dn'C'lopmellllll Moroccoaoo Indonesi:ll. ew I-bven 1968. Vgl. auch j. R. /. Colt (Hg.). Compuing Muslim Socl<"ues: Knowled~ and rne Sale III a Workt ClViliulion. Arm Arbor 1992. SO\O,'ie den PanUclmlld T. Mo Endtlman (Hg.). Conlp2ringJew'lsh Societics. Arm Arbof 1m.
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gcrweise Kulturgeschiclue. Die Sache selbst zwingt zum Versuch der Synthese zwischen einer kausalanalytischen Geschichte von »Gesellschafhl und einer hermeneutischen von »Kultur«. Auf der einen Seite taugt eine individualisierende Kulturanthropologie - wie überhaupt jede Form von Henneneutik nicht dazu, Vergleichbarkciten zwischen großen Zivilisationskomple.xen herzustellen. Sie kann mit zarter Empirie Unterschiede etwa zwischen der Regulicrungvon Emotionalität U9 oderrlerjeweiligen Auffassung von Persönlichkeit herau.sarbeitenl
13? Vgl K R. &1Itrl'T U.
:1..
(Hg.), Expcricncing Emotion: A Cross-Cultunl Study. Cambndb'C
1986. 140 Z.ll C. Garrz. oFrorn the Nativc's Poim ofVicw.: On ,he Nmm: of AllIhropol<>glcal Understölllding, in: Dm.. LocaJ Knowlcdge: Funher Essays in IlIIerprctivc Allthropology, Ncw York 1983, S. 55-70, bc:s. S. 59ft Daß Gel'rn' Werk nicht :I.ufdas bcrolHlllc PrOb'r.l1111l1 der ..cJichleli Beschreibung. reduzien werden sollte. zeigt C. lJoyJ, The Strueturcs ofHistory, Qxford 1993, S. 103-116 141 Über die vergleichsfellldhchc romanIIsche Strölllllng 1Il der Amhropologic vgl. R. A. ShunltT, Amhropolosy's HomallllC Ikbellion Against lhe Enlightenmem. 111: Dm. u. R. A. uVi,1l' (Ilg.). CulUirc 1beory: Essays on Mllld. Ifand Em()(ion. umbndgc 1984. S. 27-66. bes. S. 28, S. 38-49. Vgl. auch Kapitel 101m vorhegendcn Band. 142 Entscheidend wiehng ISt dabei, ZW'schc.n vcrschlroeOC'n Spldartell des keineswegs hornoI;':IICII K()(lfuzlalllsmus zu untcrschelden. Inzu grundlegend: G. RII<:IPIIlPl (I-Ig.). Tbc ~I Aslall Heg!on: Confurian Henugc aod 11$ Modem Adaptalion, I'rincclOIl 1991.
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dc sie als ihren cinzigen Ausgangspunkt die jeweils besonderc sinnstiftcnde mcnschliche Praxis wählen, sich also ausschlicßlich kulruranthropologisch fundieren wollen. Umgekehrt würde einc ausgeklügelte Mechanik von K.1usalfaktoren - eine Tendenz bei Barringeon Moore l43 und besonders in Theda Skocpols vergleichender Revolutionsdeutung - die je spezifischen Handlungsimpulse hinter den konvcrgent erschcinenden Strukturcn und Prozessen verkennen. Auch stünde sie in der Gefahr, aus Mangel an Komextwissen in die begriffsrealistische Falle zu tappen, hilltergleich benannten Rollen und Institutionen auch glcichc Praktiken zu vermuten. Welche höchst unterschiedlichen sozialen Realitäten und kulturellen Bedeutungen sich aber hinter ein und demselbcn Etikett verbergen können, hat W G. Runciman am Beispiel von »Frondienst« (»corvee«) gezeigt.l44 »Gesellschaft« als die universalisicrend-konvergellte und »Kultur« als die partikularisiercnd-divergtnte Dimension müssen also gemeinsam das Koordinatcnsystem des transkulturellcn Vergleichs bilden. 14s Dieser muß aus Gründen analytischer Übersichtlichkeit die Unterschicde zwischcn Zivilis:uionen und Nationcn betonen, sich aber gleichzeitig vor zirkulären Schlüssen hütcn, die auf die wissenschaftliche Bestätigung vorwissenschaftlicher Nationalcharakter-Stcrcotype und Einzigartigkeitsmythcn hinauslaufen. 1-t6 Die Zahl dcr großcn Herausforderungen an menschliche Kollektive ist begrenzt, und endlich ist auch das Repertoire möglicher Antworten. Vielc davon sind West und Ost, Nord und Süd in Vergangenheit und Gegenwart gemeInsam.
143 In Sozi;,de Ursprünge von Demokntie und Dikutur; ganz 'Inders sein spätcrcs Werk B. Moort. Injustice: Thc Soci
S.3r.
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2. Sozialgeschichte im Zivilisationsvergleich
Ist der Vergleich historischer Entwicklungen in Europa mit denen auf anderen Kontinenten möglich? Ist eine solche komparative Betrachtung der verschiedenen Weltzivilisationen si""voll? Diese Fragen sind seit den großen staaten kundlichen Enzyklopädien und der vergleichenden Proto-Ethnographie der Frühen Neuzeit immer wieder bejaht worden. Wegweisende Anreger und Meister der Sozial- und Geschichtswissenschaften haben selbst solche interzivilisatorischen Vergleiche unternommen und sie als ein unentbehrliches Verfahren zur Erfassungsowohl individueller Formell und Entwicklungswegc als auch globaler Zusammenhänge betrachtet. Vie1bcachtete Entwürfe makrollistorischer Kontrasticrung über Zivilisationsgrenzen hinweg sind chcr von Soziologen als von Fachhistorikcrn vorgelegt worden. Die Geschichtswisscnschaft hingegen hat sich dcm Vergleich zwischen Zivilis:nionen bislang nur zurückhaltend genähert. I Allein die gegenwärtig jenseits alter Dogmen und Ideologien als global llisrory wiederauflebende Universalgeschichte gibt sich wagemutig und unbefangen. Injüngstcr Zeit hat dcr außerordentlichc Fortschritt bci innercuropäisch oder transatlantisch vergleichenden Studien 2 zu dem Vorschlag geführt, dcn komparativen Refercnzbereich auf nicht-okzidcntale Entwicklungen auszudchncn. J Wclche Erwartungen an solche Vergleiche zu knüpfcn wären, wie sie durchgeftihrt werden sollten lind welche Problemstcllungen dafür in Frage kämen - Überlegungen dazu sind bisher kaum angestellt worden. Auch dic Diskussion über die Logik des geschichtswissellschaftlichen Verglcichs hat die besonderen theoretischcn und mcthodischen Probleme von Transkulturalität erst kaum beachtct. Die in Deutschland so genanntcn lIAußercuropahiswrikcrto: schließlich, also Experten fiir Asien, Afrika, Süd- und Mittclamerika und den pazifischcn Raum, können nur mit einem gcringen Reflexionsvorsprung dienen. Ihre Forschungen haben, dem allgemeincn Trcnd der Geschichtswisscnschaf[ folgend, mittlcrweilc einen solchen Grad professioneller Vertiefung crI Vgl. aber jeu.1 H. IGulblt, Der historische Vergkich. Eine Einfiihrung zum 19. und 20. JahrhunderI, Frankfurl a.M. 1999, S. 79--92; Dm., Der historische Zivilisalionsvergleich. m: ~rs. u,}. $(I,ril'1I'tf (Hg.), Diskurse und Emwicklungspfade. Der Gesellsch:lflsvcrglcich in den Geschichts- und SozialwlSS('nschaften, FrankfUri a.M. 1999. S. 29-52. 2 Vgl. H. IGulblt, VergleIchende Sozialgeschichte des 19. lind 20. Jahrhunderts: Forschungen europäischer Historiker, in: Jahrbuch mr Wirtschaftsgeschichte,Jg. I. 1993, S. 173--200. 3 Z.B.j. K«kn. Comparativc J-listoric:ll Research: Gentun Examples, in: mSI-I.Jg. 38. 1993.
$.369-379, hcs. 5.372.379.
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reicht, daß einer Indienhistorikerin oder einem Afrikahistoriker im allgemeinen der Blick über den eigenen regionalen Fachhorizollt hinaus kaum weniger kühn und lIunzünftiglC erschiene als einem Spezialisten ftir Deutschland oder die USA. Auch Vergleiche zwischen verschiedenen nicht-europäischen Zivilisarionen ohne das tertium (omparotioflis Europa, erwa zwischenjapan und China, werden sehen angestellt, am ehesten noch in der kulturell wenig spezifischen Wirtschaftsgeschichte.~ Kurz: ftir den Zivilisationsvergleich, zumal auf dem Gebiet der Sozialgeschichte, gibt es kaum Vorbilder, keine Methodenlehre und kein Einverständnis über einen elementaren Themenkanon. Grundsätzlich lassen sich zugunsten des Zivilisationsvergleichs, verstanden weder hochmütig als neuer Königsweg der Geschichtswissenschaft noch allzu bescheiden als ornamentale Zutat zu herkömmlichen Forschungsprogrammen, drei in ihrem logischen Status durchaus ullterschiedliche Argumente anftihren: Erstens. Nach dem Ende europäischer Weltbeherrschung, in einer Epoche schnell voranschreitender interkontinentaler Vernetzung und angesichts wachsenden Zweifels an der universalen normativen Verbindlichkeit und praktischen Überlegenheit von Modernitätsvorstellungen europäischen Ursprungs sieht sich auch die Historie der unabweisbaren Forderung nach einem globalen Problemhorizont konfrontiert. s Zweitens. Zu den infolge von europäischer Integration, Öffnung nach Osten und Bedrohungsängsten angesichts außereuropäischer Herausforderungen am Ende des 20. Jahrhunderts neu aufgelebten Debatten um die »Identität Europas(( kann die Geschichtswissenschaft einen Beitrag leisten, indem sie nach gemeinsamen Merkmalen von Europa als Ganzem sucht. Dies kann bis zu einem gewissen Punkt auf dem Wege über John Stuart Mills IImethod of agreement« durch die Ermittlung basaler struktureller Ähnlichkeiten zwischen den europäischen Nationalkulturen geschehen. Das Gemeineuropäische ist jedoch nicht unbedingt auch einzigartig in Europa oder dem IIWesten«. Zum Beispiel hat der Anthropologe Jack Goody nachgewiesen, daß sich Heiratssysteme und Familienstrukturen >leuropäischen« Typs ingallz Eurasien (bis hin nach China)
4 Etwa B. R. TomIinsolI, Writing J-1istory Sidcways: Lcssolls for Indian Economic J-1istorians from Meiji Japan. in: MAS. Jg. 19, 1985, S. 669-698; R. Millomi, The Economic DevelopmelH of China: A COlllparison with the Japanesc Expcricncc. London 1994; vgl. auch Kapitel 11 in diesem Band. 5 Aufdic ocgrcnzte Gültigkeit aOCndl:.indischer Modernitätskollzeptcwird neucrdings immcr wicder pauschal hingewiescn. Nur wenige Studicn haben sich aocr bisher mit außercuropäischer Modernität befaßt: cinc frühe Ausnahmc war S. N. EistnJlodl (Hg.), Pattcrns ofModcrnity. Bd. 2: Bc)'ond thc West, New York 1987. Vgl. die dicscn Beitrag weitcr filhrenden Überlegungen in). OsttnulUlIIl(!l. Imcrnationalc Geschichte, Globalisicrung und die Pluralität der KultuTCn. in: W. Lolh 1I. Dm. (Hg.). hllernationale Gcschichtc. Themen, Ergebnisse. Aussichtcn, Münchcn 2000. S. 387-408.
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als dominante Formen findcn.~ Nur der Vergleich über die europäischen ZiviIisationsgrenzen hinaus vermag- nunmehr durch Mills IIlncthod ofdifTcrcnce« - zu kJärcn, welche Eigenschaften tatsächlich fiir Europa charakteristisch sind, worin seine Besonderheit besteht und welche Ursachen sich dafur angeben lassen. Allcin im Zivilisationsvergleich kann über IIdas Wunder Europasl< (E. L. Jones) geurteilt werden. Drittens, Die internationale historische Forschung zu den meisten WeItregionen außerhalb Europas hat, auch im Bcreich der Sozialgeschichte, währcnd der letzten zwei oder dreiJahrzchnte einen solchen Umfang und ein derartiges Qualitätsniveau crreicht, daß eine zureichende wissenschaftliche Grundlage fiir seriöse Zivilisationsverglciche, die aus praktischen Gründen in der Regel aufSekllndäriiteratur in wcstlichen Sprachen beruhen müssen,ersrmols gewährleistet ist. Dazu haben Historikerinncn und Historiker in und aus Latcinamcrika, Asien und Mrika in erheblichem Umfang beigetragen, auch wenn ein Großteil der Forschung nach wie vor außerhalb dieser Kontinente betrieben wird. Jede grundsätzliche Option fiir cin vergleichendes Verfahren zieht eine !leihe von Entscheidungen nach sich, als crstcs diejenige, welche Art des Verglcichs gcwählt werden soll. Die Altcrnariven werden durch Erkenmniszicl, Anzahl der zu vergleichenden Fälle sowie deren Verteilung in Zcit und Raum eingeschränkt, doch sicht man sich in dcr !legel einem begrenzten !lepenoire von Grundformen gegenüber. So hat Van den Braclllbusschc funfso1chcr Grundfannen von lIcomparative history« umerschieden: den kontrastierenden, den gcncralisierenden, dcn makrokausalen, den inkillsivcn und den universalisicrcnden Typ.7 In dcr Praxis dürfte sich die Auswahlsiruation indessen er.vas komplizierter gestalten als in der ordnenden Übersicht dcs Theoretikers. Statt der cinen großen Entscheidung fur das konzeptionelle Paket eines einzigen Vergleichsrypus wird im allgemeincn die Wahl aus einem ganzen Menu VOll Optionspaaren und -triaden erforderlich sein. Beim Zivilisationsvergleich kommen dabei zu den gcnercll gühigen Alternativen - ctwa derjenigcn von synchronem oder diachronem Vergleich - einige hinzu, die sich aus dcr besonderen Problem lage dcr Transkulturalität ergeben. Wenn man dic !lclativität der Blickpunkte zurückstellt, also die Frage zunächst außer Acht läßt, ob es grundsätzliche Untersclliede zwiscllcn ciner komparativen Geschichtsinterprctatioll 6 J. Goody, Thc OriellQI, the Anciellt :l.Ild the Primilive: SYSlems ofMarriage and thc F:l.Il1ily in the Pre·industrial Sociclit.'S ofEurasia. Dmbrid~,'e \990. 7 A. A_ 1.\1I11 Jerr BrarmbWKlrt. HiSlOrical Explanation and Coll1par.nivc Melll(xl: Toward a Thoory ofthe I-lislory ofSocil'ty. in: I-I&T.Jg. 28, 1989. $. 1-24. bcs. S. 13-15. Andere Typologien finden sich bei 1~ SJ,oorpol u. M. Somm, The UscofColllpar.uive 1-lislOry in Macrosociallnquiry. in: CSSI-I, Jg. 22, 1980, S. 174-197; C. Tilly, ßig Slrucmres, L:ugt' Ptocesscs. 1-lu6'(" Comparisons. New York 1984. S. 80-84. Vgl. auch C. Lor/'Ilz, COll1parativc 1-listoriOb>nphy: Problems aud I'crspeclivcs, in: H&T,Jg. 38.1999. S, 25-39.
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aus der icht von Chicago oder Tok.l'0' Mexico City oder Cambridge, München oder Kairo gibt,8 bleiben acht Dimensionen der Entseheidbarkeit.
Der Rcfcrcllzbcrcich: ~AußercuropaM,~Ilicht-westliche Gesellschafte11M
oder Ma.x Webers ..OricntM? ltAußereuropa~
ist eine geographische ResiduaJkatcgoric, der weder ein historischer oder gcgcmv:ärtigcr RealzUS3mmenhang unter den SO etikettierten Völkern und Gescllschaften noch die fachliche Homogenität einer Teildisziplin »Außereuropäische Geschichte~ entspricht. Ein pauschaler Europ:HAußereuropal(-Vcrgleich wäre daher absurd. Wenn man mehr beabsichtigt als einen (durchaus sinnvollen) bilateralen Ländervergleich, z.B. zwischen Großbritannien lind Japan, bleiben drei mögliche lind gleichwertige Zuschnitte eines Referenzbcrcichs: (a) Europäische Entwicklungen können mit denen in den heute industriell entv...ickelten überseeischen Ländern verglichen werden, also den ehemaligen ..weißen Siedlungskolonicntl (vor allem USA, Kanada, Australicn) sowie dem großen asiatischen Ausnahmefall Japan. Ein solcher OECD-BjllllellllCrglej{h kann zu instruktiven Ergebnisscn fUhren und eröffnet lohnende und pnktikablc Forschungsperspekriven,' genügt aber selbstverständlich noch nicht einmal dem minimalen Universalismus einer Modemisierungstheorie, die den Rest
8 Es ISt wichtig zu SChell. d~ sich die EJilen vlekr übcrs«is-chcr Under schon früh .komp2lntiv. 2111 Europa bzw. dC'1ll Westen gell~sell h2lben. lXr heutige wisscns-ch2lflhchc Vergleich fußt z.T. 21ufdIeser _n2ltürtichen KOIllp20r.lrisuk•• ISI 21lso kein reiner Illlport. Vgl. duu etw;1l die muslerhafte Untersuchung T. Rayt-haudllllri. Europc Ikconsidert"d: Percepuolls of lhe Wesl in Ninetcclllh-Celllllry Benpi. Ddhi 1988. Nlelmnd h2l1 1111 19.J2Ihrhunderl den WCSlen gründlicher und uuvorclnb"C'1l0nlnlellcr .komp2lr.lliv. betr::1Chlo;'t 21ls Teile der j2lp2luischcn Ellle. Vgl. zus:ammel1fu· seud S. IlimkowlI. Jap2ln's Turn 10 lhe WCSI. 111: M. B. jrlttsm (Hg.). The C:unbridge Hisfory of Jap:m. Bd. 5: Thc 19Ih Cenmry, C:l.lnbridb't" 1989, S. 432-498. hcs. S. 455([. sowie IV E. NaiJ, The Compar::1tivc Tradition in Jap:mcsc I-listory. in: Comp2lr.llivc Civiliz2llions Hcvicw.Jg. 15. 1986. S. 1-21. Einerder fiihrcnden japanischen Historiker ha.1 die lIeuere SoziJlges-chichteJapans als p:uhc. Iot:,.,jsche Abweichung von eincm westlichcn Nonmlwt.'g imcrprelicn: T. Fr/kU/akt. Thc Jap:lllcsc Soci2l1 Slrueture: hs Evolution i., the Modem Celltliry. eng!. v. R. P. Dore. Tokyo 1982. Ein cher kulturhislorisches Beispiel mr j2lp2lnische KOmp::lr::1lislik iSI T. Kl/ll'rlbara. J2Ip2ln 21nd Weslern Civihudon: Esu)'S on Comp2lr::1live Cuhure. hg. v. H. IUt6. ToL.-yo 1983. M2ITlchc ....'Cit... ren HillWC'isc beI IV. Schu.'hIlktr. M:ax Weber in J2Ip20Il. Eine Untersuchung zur Wirkullgsgcschichfe. Tü· bingen 1998. 9 Z.o. bei H. Kadbk WU Ilromctheus MOSI Unbound in Europc? 11M: ubour FofC(' in Europc' during dK' ute 19th 21nd 20th Ccmury. 111: JEEH,Jg. 18. 1989, S. 6';"'104. IIlllerh2llb di~r Uodergruppc können 21uch cnge~ P.urungen s1l1l1\"011 sein. z.ß.j. Atklman. Fronuer 1Jc\'C1opmene und. ubour 21l1d Capiul Otllhe Whe2ld2lnds ofNgelllini2l2lnd Dmda. 1890-1914. O:d"ord 1994.
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der neuzeitlichen Weltgeschiclue umer dem Rubrum Itfailed initiativesl( zumindest marginal zur Kenntnis nimmt. 10 (b) Wescntlich weiter gespannt wäre ein Vergleich zwischen Europa und jenen Gesellschaften, die in der postkolonialen Epoche als ltDriue Wcltl( eine eigene Identität zu gewinnen schienen. 11 Aus heutiger Sicht ist aber nicht nur durch das Ende der realsozialistischen ltZweiten Wehtl die Kategorisierung und Numerierung der internationalen Verhältnisse ins Wanken geraten. Es ist auch undeutlicher denn je geworden, W3S angesichts der enormen und stetig wachsenden Disparitäten der sozialökonomischen Entwicklung, besonders in Asien, überhaupt unter ltDritter Welttl zu verstehen wäre und wie ltThird World Historytl demnach umgrenzt werden könnte. 12 Japan würde aufkcinen Fall dazugehörcn, und über die Zuordnung von Ländern wie Südkorea oder Taiwan ließe sich streiten. Ein weiteres Problem mit dem Begriff der ltDriucn Weih liegt darin, daß er ökonomisch und revolutionär-politisch definiert wurde, Kulturelles aber unberücksichtigt läßt. Gesellschaften mit ganz unterschiedlichen kulturellen Traditionen wurden als ähnlich betroffene Opfer des Imperialismus in einen gemeinsamen Topf geworfen. Keine Ideallösung, aber doch sinnvoller fI..ir den Zivilisationsvergleich ist es, nach dem Kriterium kultureller Prägung eine Makrokategorie Itllid,t-UltStfidll: Cese/lschafietltl zu bilden. Sie sollte ganz Asien und ganz Mrika umfassen, nicht aber die ltweißcntl Fromier-Zonen in Nordamerika und am Pazifik und ebensowenig jene ltneo-europäischcntl Länder lberoamerikas wie Chile und Argentinien, die keinen signifikanten indianischen oder mestizischen Bevölkerungs- und Kulrurameil aufWeisen. Als _nicht-westlichtl können näherungsweise jene Gesellschaften bezeichnet werden, die selbst im Zustand fortgeschrittener Modernisicrung starke Einflüsse nicht-europäischer Traditionen erkennen lassen. (c) Geht es um eine tiefenscharfe Herausarbeitung der weltgeschichtlichen Besonderheit Europas, dann eignet sich zum Vergleich am besten das. was Max Weber und seine Zeitgenossen den .On·erltl( nannten, also Indien, China, das stark von diesem beeinflußte Japan und der islamische Kernraulll, anders gesagt: die aus sich selbst und ohne prägende Beeinflussung durch Europa gewachsenen altcn Zivilisationcn oder ItHochkulturen«, die als einzige abgerundete und vergleichbar komplexe Gegenmodelle zum mittelmeerisch geprägten 10 I,V. E. Moo", Wolld Modernintion: The Limits ofConvergencc, Ncw York 1979, S. 152154. 11 P. &imch verwendel In einigen sclner Arbeiten zur Schil:zung und Qu:mulizierung hlstonscher Niveaus der WirlSChaftsemwicklung das Aggregat .Drillc Weh_ fiir die Zeil scil dcm 18. Jahrhundcn. ctwa; Imcffi;.nionallndusrrialization Levds from 1750to 1980. In: JEEH,Jg. 11, 1982, S. 269-333: Thc Main Trends 111 Nauonal Economic Dispanucs SIllCC Ihc Industrial Revoluuon, 111: OrrJu. M. Uvy-~(Hg.), Disparilic:s in Economic [)n'C'lopmcllI sincc thc Induslnal Revolunon, London 1981, S. 1-17: Dm., VlCtOirc:s Cl dl:boires, Bel. 2, Pans 1997. S. 509fT. 12 Vgl. die Stdlungmhmen vt"rschlakncr Experten In: HlslOfy Today.Jg. 35:9. 5cplcmbt'r 1985. S. 37-45.
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Okzident ausgebildet haben. Allerdings muß die Geschichtswissenschaft darauf achten, die Andersartigkeit und .Fremdheit. dieser Zivilisationen nicht ungcprüft vorauszusetzen und sie keinesfalls zu dnmatisieren. 1J
Nur Japan oder auch andere Vcrgleichskandidaten? Zweifellos ist Japan unter allen nicht-westlichen Gesellschaften der rur einen Vergleich mit Europa im 19. und 20. Jahrhundert am besten geeignete, Hir manche Zwecke sogar der einzig mögliche Kandidat. l " Bis zum Aufstieg der kleincren asiatischen Schwellenländer seit den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts ist' Japan das weltweit einzige Beispiel rlir eincn industrialisierten (noch dazu nach außen aggressiv als Großmacht auftretenden) Nationalstaat außerhalb des Okzidents gewesen: der unzweideutigste Sonderweg in der neueren Weltgeschichte. Dabei sollte die Chronolob';e nicht übersehen werden.Jap:m war, folgt man Rostows Versuch der Datierung von IItakc-offs~, das zeitlich an sechster Stelle, nämlich in den achtzigerJahren des 19.Jahrhunderts, startende Industrieland, /lall! Großbritannien, den USA, Frankreich, DeutsChland und Schweden, aber IlOr Rußland, Italien und erst recht anderen Ländern der europäischen Peripherie. IS Japan kann nur dann als ein .Iate-comenc betrachtet werden, wenn man strengste Maßstäbe anlegt. Aus der Sicht Lateinamerikas, Afrikas und sämtlicher übrigen Uinder Asiens - man bedenke, daß die bevölkerungsreichsten ünderder Weh, China und Indien, erst nach 1950 eine gesamtwirtschaftlich ins Gewicht fallende Industrialisierung erfahren habenerscheint es als Indusmemacht von aduunggebietender Anciennität. Der Vergleich der europäischen Kernnationen mit Japan ist seit dem späten 19. Jahrhundert ein Vergleich von Fällen innerhalb desselben formal definierten Gesellschaftstyps .Industriegesellschafh und daher in m:mcher Hinsicht methodisch eine lineare Erweiterung der bewährten komparativen Prozeduren. Die Industrialisierungsforschung hat diesen Umstand als erste genUlZt. 16 13 Unter anderem deshalb ist dcr dist':lIlzicrcndc Ausdruck _Orientw heUle fragwürdig gt...."ordeli. Siehe Kapitel 10 in di~sel1l Band. 14 Dies wiire auch untcr dcm Gesichtspunkt dcr Sclbs[\lerortungJ:lpans zwischen .Westenw und .Osten_ zu diskuti~ren. Vgl. S. Conrad. Auf d~r Such~ nach der verlorenen Nation. Geschidllsschr~ibungin Westdeutschbnd und Japan 1945-1960. Göningen 1999, bcs. S. 305fT. 15 Vgl. ~i": IV. ROJlOw. The World Economy. London 1978. S. 51. 16 Immer noch ann.'gClIde komparative lJionierbciträgt: W:lrcn D. S. ullIm. Die IlldustrialisierungillJapall und Europa. Ein Vergleich. 111: IV. FiKkr (Hg.). Winscha.fts- und sozia.lbocschichtliche Probleme der ftühen Industrialisierung. ßerlin 1968. S. 29-117; T.e. S",ilh. Ilre-Modem Economic Growth: Japan and the West. in: I)&P. Nr.43. 1973. S. 127-160. HeUte sicht man deutlicher. daß Japan ktmt:S'o\.~den europiischen Ka;pit2hsmus kopierte. sondern VIelmehr auf"'"eit zurikkreIChenden Grundla.grll ci~ C1gr.ne Foml :lu~blldet ha.t. Vgl. etw:l M. L Gnfarh. AlIia.nce CaPIt2l1sm: The Socul Organiution ofJ:lp;mese Business. Berkeky 1992.
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lrlZwischen liegt, sogar in westlichen Sprachen, eine hinreichend umfangreiche Liter.atur vor, um die Berücksichtigungjapans auch bei der vergleichenden historischen Betrachtung von Phänomenen wie ländlicher Transfonnation, Urbanisierung, Umemehmensstrukturen, sozialer Schichtung und KJassenbildung, Sozialprotest und Staatsentwicklung möglich werden zu lassen. 17 Auch fur die vergleichende Faschismusforschung hält Japan einige Lehren bereit. II Besondere Aufmerksamkeit verdient angesichts der westlichen Neigung,Japan als Land der ~Modernisierungvon oben« zu sehen, auch die eigenständige Entwicklung einer akademischen Sozialgeschichte _von unten« im Nachkriegsjapan. 19 Trotz großer Schwierigkeiten beim Verstindnis japanischer Denk- und Verhaltensweisen, also der japanischen »Kultur«, sind die sozialökonomischen Strukturen des modernen Japan dem Historiker europäischer Industriegesellschaften zunächst ohne unüberwindliche Hürden zugänglich. Was aber bleibt außer Japan? Sollte es nicht genügen, im Dreieck Westeuropa-USA-Japan einen dichten transkontinentalen Vergleichsteppich zu weben? Drei Argumente können ein Plädoyer flir einen über den naheliegenden Fall Japan hinausgehenden Vergleichshorizont stützen: (a) Japan iSt ein Fall sujgeneris. Es stein nicht repräscm:uiv fiir »Außcreuropa«, nicht fiir »non-Western societiestl und nicht fur Asien. Wie S. N. Eiscnstadt betOnt hat, ist es nahezu einzigartig als eine Zivilisation, die seit Jahrhunderten intensiv von ihrer Umwelt gelernt hat, abcrdabei selbstreferentiell geblieben ist und niemals über ihren eigenen Bereich hinausweisende Univers.alitätsansprüche erhoben hat - nicht religiös-philosophisch und auch nicht im Sinne des ExportS des eigenen »Emwicklungsmodellstl oder einer »mission civilisatricc«.
und erst da"" nach den Voraussetzungen sich ausdifferenzierender Entwicklungspfade zu fragen. Deshalb ist auch die späte Vormoderne, also das 18.Jahrhunden, ein besonders erfolgversprechender Ausgangspunkt rür einen universalen GesdlschaftsVergleich. Um 1750 zum Beispiel war es noch keineswegs klar, daß Japan und nicht China ein Jahrhundert später den Sprung in die Modernisierung schaffen würde. Zweifellos wurden viele der Grundlagen rur die japanischen Modernisierungserfolge bereits während der Itfrühen Neuzeit., also der Tokugawa-Epoche, gelegt?' Doch erst die politischen Weichenstellungen der Jahre nach der Meiji-Restauration von 1868 überfl.ihrten das Potential in manifesten Gesellschafts\"r.mdel.22 (c) Die Einheitlichkeit des evolutionären Ziels der Gescllschaftsentwicklung steht in analytischer wie in normativer Betrachtung heute zur Debatte. Das Gänsemarsch-Modell der älteren Modernisierungstheorie mit seinen Pionieren und Nachzüglern hat an Überzeugungskraft verloren. Immer deutlicher profilieren sich mehrere Spielarten der industriegescllschaftlichen oder postindustriellen Moderne: die wcsteuropäische und, davon in manchem unterschieden, die nordamerikanische Variante, die eigentümliche, niemals kopierte japanische Ausprägung und in ihrer Nachbarschaft (zunächst in Taiwan und Singapore) eine auf at/derell konfuzianischen Grundlagen als den japanischen beruhende chinesische Version. D Schon Japan hatte den Westen nur selekrilJ kopiert. Es steht inzwischen nicht mehr allein mit dem Versuch der Verbindung einheimischer Traditionen und importierter Organisarionsformen. In dem Maße, wie die EIlt\v1cklung in Korea, Ost- und SüdostaSien, Südafrika, einigen L...ändem Lateinamerikas sowie in Teilen der islamischen Weh nicht länger als »failcd initiatives.. abgetan werden kann, ergeben sich neue Themen rur die Geschichtsforschung, etwa Vergleiche zwischen europäischen und asiatischen Modernisicrungsprozessen in der zweiten und dritten Generation, zwischen den jeweiligen Rollen des Staates in diesen Prozessen, ihren sozialen Trägem, 21 VrJ.}. IV. Hall (Hg.). Thc: Cambrid~ Hislory ofJap:m. Bel. 4: e.arty Mod~mJapan, Cambridge 1991: C. Totm.:ln, ~rty Mod~mJapan, Bcrkdey 1993. Di~ Obernahm~ der C'uropiischen Epochenkategorie ..fnlh(' N('uzeit__ auch durch IliSloriker ander~r Hegioncn Asi('ns- iSl Obrigens eine Entwicklung der aclHzib'Cr Jahrt des 20. JahrhundertS. di(' di(' Kompatibilitil der asialischen Erfahrung mit Europa ullIcrstreichCIl soll. Vgl. 1x.'ispielhafl A. Rrifl (Hg.), South~asl Asia in the Early Modern En: Tnde, Power, and Belief. hhaca 1993. 22 VgI."'-I. 8.Jamnl u.C. Rozman (Hg.).Japan in Transition: From Toku~watoMeiji. Princr· 1011 1986: C. Ro-""mQn. Social Chan~, in:Jartsal (Hg.). Cambridgc: HislOry ofJapan, ßd. 5. S. 499568; M. Nagai u. M. Urrorill (Hg.). M('tii bhin: Rcslonuon aod RC"\'Olurion. Tokyo 1985: sowie als Überblick W: Schwmlkrr. MooC'rniskrung \'on oben. Japan im 19. JahrhulUkn. in:). O1tnhammd (Hg.). As)('n in der NC'uZ('it 1500-1950. SiebC'1l Imlansehe- Sutlonc:n, Frankfun a. M. 1994. S. 101-124. 23 Die Ikziehunl;l=ll zwisehen Spielarten von Konfuzianismus und Form('1l sozialökollorniseher Entwicklung werden ullIerslicht in C. Rozllum (Hg.). Thc East Asiall Heb';on: Confucian Ileri~ and IlS Modem Adaputioll. Prin«lon 1991. darin bes. fkrJ., Comparisons of Modern Confucian Valucs in Clmu aod Japan (S. 157-2(3).
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ihren Zusammenhängen mit nationalistischen Ideologien und Politikformcn, usw. Japan wird immer ein Sonderfall bleiben, doch füllt sich allmählich die breite lücke, die das Inselreich bisher von den übrigen nicht-westlichen Gesellschaften getrennt hat, mit neuartigen historischen Phänomenen, deren Voraussenungen zu untersuchen "v.iren.
Synchrone oder diachrone Vergleiche? Es gibt gelegentlich faszinierende Konstellationen von transzivilisatorischer Gleichzeitigkeit, die ideale Bedingungen fUr den Vergleich bieten. Der erfahrenste Globalkompar.ltist des späten 20. Jahrhunderts, S. N. Eisenstadt, hat in der Nachfolge von Karl Jaspcrs eine solche Konstellation in dcn zivilisatorischen Neubildungen der lIAchsenzeit« zwischen der Mitte des ersten Jahrtausends v. ehr. und dem Auftreten des Isl3m gefunden. 2• Jack Goldstone konzcmrien sich in einer methodisch beispielhaften Studie auf das 17. und 18. Jahrhundert, wenn er die englische lind die französische Revolution mit der Etablierung der Tokllgawa-Ordnung in Japan nach 1600, dem Zusammenbruch der chinesischen Ming-Dynastie 1644 und der gleichzeitigen Krise des Osmanischen Reiches vergleicht und hinter all dicscn Staatskriscn lind -zusammenbrüchen einen gemeinsamen, letztlich demographisch fundierten KauSJ.lzusammenhang idcntifiziert.25 Noch präziser simultan verliefen Vorgänge, die bisher noch nicht in ganzer Breite komparativ diskmien worden sind. Die deutsche Nationalstaatsbildung seit etwa 1866, die Intcgration Italiel1s seit 186\, die Rekonstruktion der USA nach dem Ende des Bürgerkrieges 1865, die lIRevolution von oben« in Japan nach 1868 und der Refonnschub in SiamIThailand nach der Thronübcrnahme durch den visionären König Chulalongkorn im gleichen Jahr, daneben Z'\vei mittelfristig weniger stabile Versuche: die mit der Bauernbefreiung von 1861 (eigentlich schon den Reformen seit 1855) beginnende Umw:mdlung der russischen Gesellschaft sowie die Neuordnung Mexikos ulller Porfirio Diaz nach 1877: Sie alle waren in der Substanz ähnliche, nach Umständen und Ausfiihrung verschiedenartige Prozesse von lInationbuilding« und gesellschaftlicher Neuformierung. Sucht man allerdings weitere
24 S. N. EisnUIadl (Hg.). Kuhuren der Achscnzeil. Ihre UrspTÜUgt' und Ihre V"lClfalt. 2 1Xk.. Frankfurt a.M. 1987. Elscnsudts bC'ispll."Uosrs komparaususch" Programm WIrd ",or~;csldl[ In W .. A SoclOkJgical t\pprox:h loComparaU\'c c.vilizallons: Thc Deveiopmelll and Dlrecuonsof.a Research Prognm.Jeruglenl 1986.!Ils ""Ofljiufi~ Resümee ..'Sl.lJnJ.. Europc:m Cmhzallon In.a Comparauve PeßpccU\'e: A Study tn Ihe RdariOll bcrw«n Cuhure and SOClal Siructure. 0s1o 1987: Dm.. DIe Dimension kompar.tUvcr Analyse und dIe Erforschungsozlalcr DynamIk. VOll dcr vergleichenden PolirikwtS5enschafl zum Zivili.uuonsverglelch. in: Kadbk u. &II~ (Hg.). Diskurst" und ElUwlcklungspfadc. S. 3-28. 25 J. A. GoJdJkJl~. Rl....olution and Ilcbcllion in the Early Modem World. ßcrkcley 1991.
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Vergleichsfalle, so muß man die Epoche wechseln und auf Synchronie zugunsten von funktionaler Äquivalenz verzichten. Dann jedoch verraten zum Beispiel die Refonnen Kemal Aatürks in der Türkei der frühen dreißigerJahre des 20. Jahrhunderts oder politische Zentralisierung und soziale U,mvälzung m.ch der kommunistischen Machtergreifung von 1949 in China ihre strukturelle Nähe zum Nationsbildungsmuster des späten 19. Jahrhunderts. 26 Synchronie und Diachronie lassen sich bei dieser Thematik relativ mühelos verbinden. Der Vergleich zwischen synchronen Phänomenen erlaubt es, die Frage nach einer gemeinsamen Verursachung recht genau zu stellen und im Prinzip ohne gcschichtsphilosophische Hilfskonstruktionen empirisch zu bcantworten. Z7 Er kommt damit Van den Braembussches »makrokausalem Typ« nahe. Derdiachrone Vergleich über Epochengrenzen hinweg hingegen kann, je nach Erkennmiszwcck, sowohl dem aufscharfe Profilierung einzelner Fälle zielenden »kontrastiven. als auch dem aufsich wiederholende Grundmuster abhebenden »generalisierenden. Gesamttypus korrespondieren. Ein Beispiel rür die zweite Möglichkeit \\f.ire Theda Skocpols »struktureller-: Versuch, hinter der französischen Revolution des 18., der russischen des frühen 20. Jahrhunderts und der nurwenigjüngeren chinesischen Revolution über Zivilisationsgrenzen hinweg ein ähnliches Ursachenbild zu erkennen. 211 Der transzivilisatorische Vergleich offenbart seinen Übcrraschungswen vielleicht am besten dann, wenn er - wie in Goldstones Vergleich der frühneuzeitlichen Staatskräche - verborgene Kausalvernetzungcn zwischen scheinbar unverbundenen, sich in unterschiedlichen Zivilisationen gleichzeitig zutragenden Vorgängen aufdeckt. Bei diachronen Vergleichen kann der Wechsel von Epoche ,md Zivilisation zu einer Sch\\f.ichung der analytischen Stringenz und zu einem Vergleichbarkeitsproblem ruhren. Vor allem lassen sich europäische Industriegesellschaften 3ußcrhaibeines evolmionären Kominuums- Van den Braembussches "inklusivem« Vergleichstyp - nur schwer zu vormodernen nicht-okzidcmalen Gesellschaften in eine sinnvolle Beziehung setzen. Ergiebiger als die retrospektive bnn die prospektive Zeitorientierung sein: der Versuch, die nicht-wesdiche Welt etwa der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts im Lichte der europäischen Frühen Neuzeit zu betrachten. So \\f.ire ein Vergleich der Institutionen und Mentalitäten in europäischen Agrargesellschaften vor der Mitte des 18. Jahrhunderts mit asiatischen, afrikanischen und südamerikanischen Ilpcasant societieste des späten 19. und frühen 20. Ja.hrhunderts ein Hir beide Seiten lohnendes
26 Vgl. E. F. VpgrI. Nal1on.Building in Modem Usl Asia; Early Mc:iji Japan (1868-1wx) and Mao's Chill;l (1949-1971), in: A. M. Craig (1-Ig.),Japan: A Compat:oIIivc: Vic:w, PrinCC:lOn 1979, S. 130-153. 27 Vgl. dazu auch ColdslO~, nevolution. S. 57, S. 59. 28 T. Skotpcl, Stiles and Social RevolUliolls; A Compar.oIIivc: Analysis of Francc:, nussia and China. Cambridge 1979.
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Unternehmen. 29 Suu empirisch begründeter Kausalzusammenhänge wird man sich davon eher Analogiebeobachtungcn oder die Umerscheidung von Variarionen verspredlen - legitime Ziele des imer- wie des intldzivilisamrischen Vergleichs. In jedem Fall muß es dabei eine methodische Selbstverständlichkeit sein, die ~außereuropäischc. Chronologie ebenso sorgfaltig zu beachten wie die europäische. Noch Max Weber verzichtete in seinellmaßstäblichen Studien zur Winschaftscthik der Weltreligionen vielfach - meist notgedrungen infolge einer noch elemenuren Forschungslage - aufepochale Spezifizierung und arbeitete etwa mit dem Konstrukt eines über zweitausend Jahre hinweg unverindenen ~alten China., das heure die meisten Sinologen nicht mehr akzeptieren ...vürden. JO Spuren der alten Legende von der ~Gcschichtslo sigkeih des Oriellts sind immer noch anzutreffen und verhindern einen präzisen Zeitbezug, wie er zur Situierung der Vergleichsf.'ille auf den Koordinaten des Gleichzeitigen und des Ungleichzeitigen unerläßlich ist.
Strukturvergleich oder Bcziehungsgeschichtc? Seit 1889 ist der ethnologischen Theoriediskussion IIGahons Problcm. bekannt, eine Art von Unschärferelation, die besagt, daß man beim KultuTVergleich nicht gleichzeitig die Fälle in ihrer isolierend herauspräparienen Reinheit und in der Geschichtc ihrer wcchselseitigen Bceinnussung in den Blick nehmen kann. Dieses l1-oblcm gewinnt im historischen Prozeß stctig an Bedeutung. DerJapan-Europa-Vcrgleich ll1agdies veranschaulichen. Schon Mare Bloch wies auf die erstaunlichen Strukturähnlichkciten zwischen der westeuropäischen Gesellschaft des Hochmiuelaltcrs ulld der etwa gleichzeitigen japanischen hin, Ähnlichkeitcn, dic es in Blochs Sicht zuließen, aufbcide den Begriff _Feudalismus. anzuwenden, der Hir China etwa völlig unpassend wäre. JI
29 Es !xdürfte dun ellll~r \ocrbmdender Konzepte ~nz 2l1b~melller N2IUr Im SlIlne \"01'1 P. Cremt'. Pre·lnduslrlal Socierics. Oxford 1989. oder sJX'ziellen'r Theonen von Agr.argcsellschaftcn. Vgl. dazu als Überblick T. Slumi" (11g.). Pea~nts and Peas.lrll Socicues. 1brIllOl1dsv.'Orth 1971. Dm.• Ddining PeaS31115. Oxford 1990. Wic stark die Forschung zu Landwirtschaft und l:indlicher Gesellschaft in Asielllllzwischen thC'Oricorientiert und danlil implizit aufVerglclchlxtrkeu ausb'C· riehlet Ist. I:ißt slch.ln Cliina lIud japan gut zelb'Cn. Vgl. die Lucramrbcnehtc:J. Oslt'rlrammd. ß,I.tIem und l:indliche Gcsdlsch.:aft IIIl Clnn2 des 20. j2hrhundertS. ZWischenblbnz emer IJt-b.tttc. 111" lAF.jg. 24. 1993. S. 311-329; B. MOOfr.),.. j2~nCS(: Pe2Sa1ll Protests 2nd nC'\'Olts 111 Corn~r.lIUw H,slorlel Persp«lIve. 11I: IltSll.jg. 33. 1988. S. 312-328. 30 Vgl. die Knuk bei IV. Ebmldm. Oll." lIlSlItutloncllc AIl2,I)'S(" des vormodcmcn Chili"'. Eme Einsch.lilzung \'on Max WebcrsAn~lz. in: IV. St/II,uhln (1Ig.). Max Webers Studlc über KonfUZ12nisnHls lind T201SIllIIS. [merprelatlOIl und KritIk. Frankfurt 2.M. 1983. S. 56-90. hier S. 57. 31 M. Bloch. L:a soci~t~ fCodalc 11939-401. Paris 1969. S. 610--612. ZUlU geb'Cllw.lirub'Cn 015kussionsSl3nd resümierend: P. Dillu. Feudallsll1 in japan. Ncw Vork 1993). Aus "('rgleichender Si<:ln besonders hilfreICh ist). P. Arnasorl.l>alhsofModemny: Tbc I'oculiariliesofjapancse Feud.:a·
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Diese Ähnlichkeit kann unmöglich auf Komakte zwischen Europa und Japan zurückgcfuhrt werden, denn kein Europäer hat vor 1543 japanischen Boden betreten. Auch um 1920 wiesen Japan und Westeuropa beträchtliche Gemeinsamkeitcn auf Sie jedoch sind vor dem Hintcrgrund einer allgemeinen Verwestlichung Ostasiens und spezifischer einer seit den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts zielbcwußt und wählerisch betriebenen japanischen Politik des Lernens von Europa zu sehen. 32 Die Zurechnung einheimischer Entwicklungen zu exogenen EinOüssen ist dabei freilich schwierig, gerade im Falle Japans, das eine außergewöhnliche Fähigkeü zur modifizierenden Anverwandlung westlicher Kulturelemente ohne Aufgabe des eigenen Identitätskerns bewiescn hat.Jede holistische Vorstellungvon einer »Gcsamtgcscllschafttl, über dic generalisierende Aussagen möglich seien, fuhrt hier in die Irre. Die Analyse muß sich nach Ebenen und Sektoren mehrdimcnsional differcnzieren; sie muß, wic Goldstone sagt, )lfraktaltl werdcn. 33 Allgemein gilt, daß der Kolonialismus und die weit über den Bereich formeller Fremdherrschaft hinausreichende weltweite Verwcsdichung kaum eine Gesellschaft der Erde unbcrührt gelassen haben. In der Neuzeit kann der transkulturclle Strukturvergleich deshalb nicht mchr, wie zu Eisenstadts »AchscnzeitlC oder in den Abstra"''tionen von Max Webers zeitenthobenem Orient, mit der E.xistenz distinkter und jeweils autochthoner, sozusagen »chemisch reinerlC Analyseeinheiten rechnen. Der Vergleich muß beziehungsgeschichtlich abgefedert, bewußte kulturelle Transfers und nicht-intendierte Akkulturationsprozessc müssen aufgespürt, lIinvented traditions« identifiziert, Synkretismen entschlüsselt werden. Dazu ist ein Verständnis der Zusammenhängc zwischen Europa und der übrigen Welt erforderlich, das über die herkömmlichen politischen und ökonomischen Interessen der Kolonialismus- und Imperialismusforschung hinausgeht. Der StrukttllVcrgleich zwischen Zivilisationen und das Studium interzivilisatorischer Bcziehungen sind zwei Scitcn derselben Medaille.
lism. in: G. M(Comuuk ll. Y. Sug;mO'O (Hg.), ModcnJiution :l.Ild Beyond: Thc japanesc Tnjectory, C:'lIubridge 1988, S. 235-263. 32 Vgl. M. B.jlluJnI.japan and Its World: Two Cemurics ofCha.nge, PrincclOll 1980, S. 28ff.; Dm.. Oll Foreign Borrowing, in: Cnrig (Hg.),japan, S. 18-48; D. E. Wt.stru'y, Imitation and Innovation: The Tnnsfer ofWestem Organiutional Patterns 10 Meiji jap;iI1. Cambridge. Mass. 1987 (mit einer wichtigen theoretischcn Einleitung, S. 9-32); E. PIlUcr. Der Technologietransfer nach japan. Strukturcn und Stntegien. in: Dm. (Hg.). Technologictr.l.nsfer Deutschland -japan von 1850 bis zur Gegenwart. München 1992. S. 48-72; A.W. Burks (Hg.). The ModenJizers: Overseas Studcnts, Foreign Employecs, and Meijijapan, Bouldcr, Co\. 1985. 33 Golt!.sIOlI(', Revolution, S. 46.
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Totalvergleich oder Panialvergleich? Der Totalvergleich kontrastiert ganze Zivilisationen - etwa den Okzident und China - oder komplette Nationalstaaten. Der Partialvergleich greift aus zwei oder mehreren solcher Zivilisationen jeweils ein Element heraus, etwa eine besondere Institution oder ein Segment der Gesellschaft; er ist selektiv und perspektivisch angelegt, muß dabei aber die jeweilige Stellung der zu vergleichenden Elemente innerhalb größerer Zusammenhänge im Auge behahen.3ol Max Weber ist fiir heide Arten des Vergleichs der maßstabsetzende Pionier gewescn: fiir den Totalvergleich in den Abhandlungen zur Wirtschaftsethik der Weltreligionen, fur den Partialvergleich in vielen Abschnitten von »Wirtschaft und GesellschaftlI, etwa in den Studien zur okzidentalen und orientalischen Stadt. In der Mitte zwischen beidem steht Webers hermetischste, aber logisch zwingendste und im Detail ihrer Analysen immer noch erstaunlich gültige komparatistische Schrift: die nachgelassene Studie »Die rationalen und gesellschaftlichen Grundlagen der Musiktc. Hier erscheint die Musik nicht als ein Kulturelement unter mehreren, sondern als dasjenige, bei dem sich die Einzigartigkeit - damit nicht zugleich auch, wie Wcber betont, die Höherwertigkeit westlicher Rationalisierung bis in die Mathematik der Tonrelatiollcn verfolgcn läßt. J5 Der Teilaspekt erhellt hier das Ganzc. Gegen den Totalvergleich als Aufgabe der Cesr!lirlltslvissfUSdwjl sprechen praktische Gründe. Max Weber erarbeitctc seine ungemein ins einzelne gehenden Untersuchungen über China und Indien, in denen er überraschend sehen zu explizitell Vergleichen mit Europa (das er nicht zufallig niemals totalisierenden Analyseprozeduren umerwirft)J6 gelangt, mit staunenswerter Urtcilskraft und Intuition in der Frühphase der Orientforschung. Es war ihm noch möglich - was heure völlig undenkbar wäre - den neuesten Forschungsstand nahezu lückenlos zur Kenntnis zu nehmen. Seit Weber ist der totalisierende Vergleich durch universalhistorischen Dilettantismus in Verrufgeraten. Heute ist er eine Domäne nicht nur der zeitkritischen Popularliteratur, sondern auf höhercm Niveau vor allem der historischcn Makroziologie, ohne daß freilich alle ihrer Vertreter komparativ arbeiten würden; zwei der heutc einflußreichsten unter ihnen, Immanuel Wallerstcin und Michael ManII, verwenden den Vcrgleich mit großer Zurückhaltung.J7 Die professionelle Geschichtswissenschaft - lind 34 Vgl. M. Espognt. Sur 1cs limites du compantisme en histoirc culturcllc, in: Gcncscs,Jg. 17, 1994, S. 113f. 35 Vgl. dazu grundlegend: C. Brllllll. Max Webers .Musiksoziologie., Laaber 1992. 36 Vgl. S. N. Eismsflldl, Some Ilcf1ccrions on the Signific:lnce of Max Wcbds Sociology of Ilcligions for th(' Analysis ofNon-Europ<'all Mod('mity. in: Archiv('s de sociologie des rcligions,Jg. 32,1971,5.37. 37 Mann. im Grunde ein Narrativist, äußert dabei in gcndczu historistischer Manier einen generdlcn Verdacht bocgcn Vergldchbarkdt: M. Milli", Th(' 5oure('s ofSocial Power. Bd.l: A 1-11-
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das gilt fur Außereuropa- nicht weniger als fur Europa-Historiker - kann den totalisierenden Vergleich schwer mit ihrem Forschungsethos vereinbaren. Selbst bei entschiedener Theorieorientierung sucht sie nicht unbedingt nach der höchstmöglichen Vogelperspektive. Aus diesem Grunde gehört die nur totalisierend formulierbare Frage nach den Ursachen der okzidentalen Ausnahmeentwicklung- gewiß eine der größten Herausforderung fur eine historische Sozialwissenschaft- zu jenen Problemen, ftir welche eine forschungsnahe Lösungsstrategie nur schwer gefunden werden kann und man sich auf die gelehrte Spekulation einer lIphilosophical history~ verwiesen sieht:l8 Es fehlt nicht an zuversichtlich vorgetragenen Erklärungsskizzen auf häufig dünner Wissensgrundlage (insbesondere was die nicht-westlichen Zivilisationcn betrifTt).J9 Die konzeptionellen Schwierigkeiten beginnen bereits mit der präzisen Fassung des Problems, denn es herrscht keineswegs Einvernehmen darüber, worin die zu erklärende Besonderheit des Westens überhaupt besteht: Ma.x Weber meinte, in der Herausbildung eines bestimmten Typus von Rationalismus und insbesondere der Entstehung einer einzigartigen Art von Kapitalismus: der lIrationalistisch-kapiulistischen Organisation von (formell) freier Arbeit«.«) Andere haben die alte Marxsche Frage nach den Gründen flirden Beginn der Industrialisierung in England erneuertetwas durchaus anderes als Max Webers Problem. Der australische Wirtschaftshistoriker Eric L. Jones wiederum, von dem ein besonders gut durchdachter Lösungsversuch stammt, bestimmt das »Wunder Europasll als das Zusundekommen eines langfristigen, von Umwehkaustrophen und Suatsräuberei abgeschirmten wirtschaftlichen Wachstums, dessen Ursprung er im Mittelalter sucht.~l Mit guten Gründen könnte man aber auch den Personenbegriff des römischen Rechts als Europas weltgeschichtlich entscheidende differelltia spefifico gegenüber den asiatischen Hochkulturen werten; oder es ließe sich die Entstehung eines ökonomischen Weltsystems, die der Industrialisierung um Jahrhunderte vorausging, als der primär erklärungsbedürftige Faktor betrachten. Jedes dieser unterschiedlichen Deutungsmodelle setzt nicht-empirische Entscheidungen voraus: zum einen darüber, 11/0111/ man den differentiellen »Aufstieg des Westens« beginnen läßt (geistesgeschichtlich in der Antike, ökonomisch im Mittelalter, machtpolitisch im frühen 19.Jahrhundert?), zum an-
Story or Pov.'Cr rrom the Bcginning tO A.D. 1760. C:lmbridb'C 1986. S. 30. Der zweite Band dieses Werkes (1993) elllhäh allerdings einige binncneurop:iische Vergleiche, z.B. S. 628-722. 38 Siehe Kapitel 7 in diesem Ihnd. 39 Eine Auswahl findet sich in]. &ttlrltru.:I. (Hg.). Europc and the Rise ofCapiulism. Oxford 1988. 40 M. Wtba, Vorbemerkung. in: Dm., Ges;ammclte Aursätze zur Religionssoziologie, Bel.1, Tübingcn 1920. S. 7. 41 E. L.Jotrrs. Das Wunder Europa. Umwelt, WirtSChaft und Geopolitik in der Geschichte Europ:l.s und Asiens. dt. v. M. Streisslcr. Tübingcn 1991. S. XIII.
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deren hinsichtlich der Zwangsläufigkeit bzw. Komingenz der europäischen Ausnahmeentwicklung (anthropologische Überlegenheit oder Nutzung glücklicher Zufalle?). Zwar wird dic - nicht allzu selbstgefalligzu stellende - Frage nach den Ursachen des westlichen Entwicklungsvorsprungs am Horizolltjedcr vergleichenden Geschidusbctrachtung sichtbar bleiben, doch liegt die Zukunft fürs erste bei Partialvcrgleichen. Sie sind weniger anspruchsvoll und weniger willkürlich, lassen sich besser an der Empirie komrollieren und leichter mit den IlllormaleJll( Arbeitsinteressen professioneller Geschichtsforscher verbinden. Da ihnen das Grandiose transzivilisatorischer Universalgeschichte fehlt, haben sie die Chance zur Veralltäglichung im Geschäft der Historie.
Asymmetrischer oder symmetrischer Vergleich? Beim asymmetrischen Vergleich zwischen zwei Fällen wird ein besseres Verständnis der einen Analyseeillheit angestrebt, wobei die andere als KOl'ltrastfolic dient. Der symmetrische Vergleich hingegen ist Ilgerechtcr«; er zielt auf die gleichmäßige Erfassung beider Fälle, von denen keiner logisch oder normativ privilegiert wird. Es handelt sich bei dieser Alternative eher um den Unterschied zwischen Erkenntniszielen als um einen solchen zwischen formalen Prozeduren und verschiedenen Arten der Konstruktion von Erklärungsmodellen, eher um Tendenzen als um Typen des Vergleichens. In der Praxis dürfte Asymmetrie oder Symmetrie kein strenges Entwcder-Oder, sondern eine Frage der Nuancierung sein. Max Webers zivilisationsvergleichende Arbeiten zur Wirtschaftsethik der Weltreligionen zeigen anschaulich die Schwierigkeiten der Abgrenzung. Während Weber in der Tat Ila thoroughly asymmctric comparison«42 intcndierte und von einer methodischen Europazemriertlllg nicht abwich, widmete er sich in seincn materialen U Iltersuchungen mit großer Imensit.1t und Ausfiihrlichkeit den Zivilisationen Chinas und Indiens. Wenn der Orient wirklich nur als Hintergrund zur Verdcutlichung der europäischen Entwicklung gedacht war, dann hat es nie eine kunstvoller ausgemalte Kulisse gegeben. In der Gesamtbilanz hat Weber dadurch vielleicht doch eine An von Symmetrie erreicht. Vor allem sah er, was später zu oft vergessen wurde: Es ist zweierlei zu erklären, warum eine gesamtgesellschaftliche Modemisierung in Westeuropagelollg, und kontrafaktisch darüber nachzudenken, warum sie etwa im China des 12. oder des 16.Jahrhunderts, als manche Voraussetzungen gegeben zu sein schienell,Jehlschfllg. Aus heutiger Sicht mag man sich an die Regel halten, Symmetrie als den wünschenswerten Normalfall, Asymmetrie als die fallweise legitimierbare Ausnahme zu betrachten. 42 KCKNa. Comp.u:l.tive Hisloriol Hescarch, S. 374.
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Konvergenter oder divergenter Vergleich? Eine konvergente Vergleichsperspcktive sucht eher die Gemeinsamkeiten der verglichenen Phänomene, eine divergentc die Untcrschiedc zwischen ihncn. Auch hier handelt es sich "vieder mehr um cin je nach Erkenntniszicl zu wählendes Mischungsverhältnis als um einen kontradiktorischen Gegensatz. Die Alternative gewinnt jedoch im Zivilisationsverg1cich dadurch cine besondere Brisanz, daß hier, anders als innerhalb Europas, Divergenz gemeinhin als Attribut der Sache selbst aufgefaßt wird. Anders gesagt, es ist mit einem unwillkürlichen Drang zur Dichotomisierung zu rechnen, den die Romantik den Gründervätern der Soziologie vcrerbte und der tief im wissenschaftlichen wie außerwissenschaftlichen Weltverständnis des Westens verwurzelt ist: Abendland vs. Morgenland, reicher Nordcn vs. armer Südcn, Tradition vs. Modernc, Stagnation vs. Dynamik, Fortgeschrittene vs. Rückständige, westliche Rationalität und Mäßigung vs. östlicher Irrationalismus und Exzess. In ethnologisch aufgeschlossenen Kreisen ist seit einiger Zeit wohlmcinend VOll lIothernesslC, »alteritcft oder der »Geschichte der Anderen« die Rcde, zu deren Erkenntnis angeblich auch eine »:mderclC Geschichtswisscnschaft erforderlich sei. Abendländisch-atlantische Arroganz und ihrgesinnungsethisch striktes Gegenteil, ein kulturrelativistischer Ethno-Enthusiasmus, treffen sich, bestätigt durch namhafte Anthropologen, in der Vorstellung, nicht-westliche Zivilisationen verkörpcrten ein inkommensurables Gegenprinzip zu Europa. Dem kann ideologiekritisch oder diskursanalytisch mit dem präzise fUhrbaren Nachweis entgegengetreten werden, daß der Orient erst im späten 18. Jahrhundert -orientalisicrtlC wurde, die kulturelle Grenze zwischen Ost und West also in mancher Hinsicht eine aufideen- und mentahtätsgcschichtliche Verschiebungen in Europa zurückftihrbare »ErfindunglC ist. Es läßt sich aber auch aus der neueren Forschung zur Realgeschichte nicht-westlicher Gesellschaften der Schluß ziehen, daß viele solcher distanzierenden Denkfiguren empirisch unhaltbar sind. Eine derartige West-Ost-Dichotomisierung ist mit divergentem Vergleich nicht gemeint. Es geht vielmehr um die Herausmodellierungalternativer Pfade in die moderne Welt, die durchaus quer zur Okzident-Orient-Trennung verlaufen können. So hat Theda Skocpol drei typische Verlaufsmodellc neuzeitlicher Revolutionen herauspräpariert: das französische, das russische und das chinesische - und anschließend festgestellt, daß die engste Verwandtschaft in dieser Trias zwischen Frankreich und China, nicht innereuropäisch zwischen Frankreich und Rußland besteht. Und Barrington Moore, ein besonders entschicdener Praktiker des divergenten Verfahrens, ordnet China und mit Einschränkungen auch Rußland dem Typus »BaucrnrevolutiolllC zu, während er Japan und Deutschland als zwei Varianten des EIltwicklungspfades »Revolution von oben und FaschismuslC kJassifizien. Die großen divergent vorgehenden Bücher von Moore und Skocpol haben gemeinsam, daß sie vor dem Hinter61
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grund mechanistisch anmutender kausaler Faktorenmodelle symmctrisch vergleichen, kulturneutral ohne Rücksicht auf Oricnt-Okzidellt-Befangenhciten argumentieren und keinen der unterschiedenen Entwick.lungsverläufe normativauszeichncn. Geht der divergente Ansatz von der Annahme einer nicht fragmelltierten, sondern durch die Unterscheidung von Ent\vicklungspfaden strukturierbaren Universalgeschichte aus, so legt: eine konvergente Perspektive (sofern sie nicht teleologisch aufein einheitliches Modernitätsziel hin entworfen wird) Wert auf die Beobachtung, daß Völker auf verschiedenen Kontinenten und in unterschiedlichen Zivilisationsbereichen ähnliche Grundformen der Vergesellschaftung lind ähnliche Problemlösungsstrategien ausgebildet haben. So hat Jack Goody in seiner bereits erwähnten Studie die strukturelle Nähe vormoderner Familien- und Haushaltsformen in ganz Eurasien nachgewiesen und Eric Wolf gemeinsame Grundmustcr agrarrevolutionärer Mobilisierung auf vier Kontinenten identifiziert. Goldsrone kombiniert die Dimensionen, indem cr bei den untersuchten Fällen frühncuzeitlichcr Staatszusammcnbrüche von England bis Japan konvergente demographisch-ökonomische Ursadw'l, aber divergente kulturell-ideologische Verarbeilllllgf" der Kriscn feststeiltY
K111rurvergleich oder Gesellschaftsverglcich? Der Oberbegriff »Zivilisationsvergleich(~,verstanden nicht als ein Vergleich zwischen holistisch aufgefaßten ganzen Zivilisationen, sondern als Vergleichen über die Grenzen der eigenen Zivilisation hinaus, sollte weit genug gedehnt werden, um unterschiedlichen Bestimmungen des Verhältnisses zwischen den Leitkategorien »Gesellschaft(~ und »Kultur\( Raum zu geben. Ein Zivilisationsvergleich, der das Kulturelle ausschlösse, wäre selbstverständlich eine logische Unlllöglichkeit. Trotz ernstlicher Unverträglichkeitcn zwischen einer neoweberianischen historischen Sozialwissenschaft, die sich mittlerweile auch in wichtigen Arbeilen zur Geschichte Asiens, Afrikas und Lateinamerikas dokumentiert hat, und einem Ncw HistoricislTI, der in den USA schon ganze Felder der Asienforschung, etwa die neuzeitliche Japangeschichtsschreibung, maßgebend beeinflußt,.... läßt sich die Frage eines Primats von KulturoderCescllschaft, von Hermeneutik oe/er Strukturanalyse sinnvoll nicht stcllen.~s Der Zivilisati4) GoldsIOl~. Hcvolulion, S. 416. 44 Ein rcpriscmadvcs Werk iSI H. D. Hllroo/llIl~II. Things Seen and Unscen: Discoursc :l.Ild Idcology in Tokugllm NativiSTll. Chicago 1988. Zurofl ziemlich unklaren Progranmmikdes New HislOricism vgl. relativ deutlich: A. IGus. NL'W HiSloricism: Lilcramrgeschiclltc im Zeichen der I)OSlmoderne? in: M. &ßltr (Hg.), Ncw HislOricism. LiteralUrgeschiclllc als Poetik der Kultur, Frankfurt a.M. 1995, S. 251-267. 45 Aus einer sich oft in BegrifTsrealismus verlierenden Diskussion ragt durch Klarheit und
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onsvergleich verweigert sich der Reduktion auf einen einzigen seiner beiden Pole .Kultur« und .Gesellschaft«. Als erstes wäre eine Abgrenzung zum .Kulturvergleich. zu treffen, einer Verfahrensweise, die in der Anthropologie beheimatet ist, minlerweile aber auch in Disziplinen wie Soziologie und Psychologie eine große Rolle spielt. Sie tritt, grob unterschieden, in zwei Spielarten auf: (a) empirisch-analytischen, auf HypothesenüberpTÜfung und Generalisierung zielenden »eross-cultural studies. von Strukturen und Verhaltensweisen und (b) einem verstehend, zuweilen dabei auch ungeregelt-impressionistisch vorgehenden Vergleich besonderer Symbolisierungen und Sinngcbungcn (etwa der Auffassungen von Person und .selft! in unterschiedlichen Kulturen).-46 Der Kulturvergleich, ganz allgemein gesagt, fn.gt nach relativ konstanten bzw. sich allenfalls langfristig und allmählich verändernden Grundstrukturen einer Zivilisation; er ist holistisch und insofern .ahistorisch., als er Unterschiede zwischen Zivilisationen eher in verhaltensleitenden ptwems als in Prozeßverlällfen oder in Enrwicklllngspfaden suchtY Die Grllndmuster werden nicht in den Bereichen von Produktion, sozialer Hierarchie und politischer Herrschaft entdeckt, sondern in Mentalitäten und Weltbildern, in Persänlichkcitsstrukturen und Sozialisationsformen.411 Ein Bezug zur politischen und sozialäkonomischen .Real«-Geschichte wird gar nicht oder auf reduktionistische Weise hergestellt. Da der Kulturvergleich oft beansprucht, zum .Wesen« einer Zivilisation vorzudringen, neigt er dazu, ein Tocalvcrgleich mit umfassendem ErkJärungsanspmch zu sein. Der historische Zivilisationsvergleich nimmt Elemente des Kulturvergleichs in sich auf, ist aber im Kern ein Vergleich von Institutionen, sozi.alen Rollen und ihren Anordnungen in sozialen Räumen, gesehen im Modus der dokumemierbaren Ver.inderung in der Zeit. Trotz der Abgrenzung zwischen Kultur- und Zivilisationsvergleich bleibt die Fn.ge nach dem Verhältnis von .Gesellschaft. und .Kultur« innerhalb einer
Kürze heraus: S. N. Eisrnswdl, Cuhure and Social Strueture in Recclll Sociologiul Analysis, in: H. HaftrkamJl (Hg.), Social Structurc and Cuhure, Berlin 1989, S. 5-11. 46 Ein allraklivcs Beispicl rur dicse RichlUllg ist S. Shimada, Grcllzg2llgc - Frcmdg.inge.J;l.p:m und Europ;l. im Kulturvcrglcich. Frankfurt a.M. 1994. Selbst nicht vcrglcichcnd allb't'lcgt, aber eindrucksvoll als Vcrsuch. chinesische "patlcrns ofculturc_ zu beschreiben und fiircincn Vergleich aufzubereiten, ist SIlFl L"'gji, Das UllUIUUcrtC leh. Die TicfcnSlrukturdcr chincsischcn Mcnt2lität, hg. v. H. Kühncr, Leipzig 1994. Die Vidf;l.lt dcr AJl~tze, dic sich heUle unler dem Dach des Kulturvcrglcichs s;lmmcln. ven.nschaulicht). Mim/in (Hg.), Zwischen den Kuhuren? Die Sozial· wis~nschaften vor dem Problem des Kulturvergleichs, Göttingcn 1992. 47 Ein über die ethnologische FachV>'t:h hinaus ungemein einflußreichn Buch. das diese lXnkwci!lC entwickelt. war R. BmnJin, Pattcrns o(Culturc, BostOll 19J4. Dic Anwt'ooung dn KonzeptsofJapan - R. &ncdin. ThcChrysanthcmum aod the Sword. Boston 1946-prigte nuß... gcbheh dlc Jap;l.lIStudicn ckr Nachkrkgszeit. 48 Shimxia eN'1 \-crgleicht Europa und Japan nach den drei ~ichtspunkten dn j=weiligcn Verhilmissn zur Zell. zum Raum und zum Körper.
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transzivilisatorischen Komparatistik weiterhin bestehen. Denn der Zivilis:uionsvcrgleich kann sich noch weniger als die etablierte Sozialgeschichte mit einern strukturell-objektiven GesellschaftsbegrifTbegnügcn. Das Minimum an kultureller Neutraliüt markiert eine Untersuchung, die der japanologe und Historiker Bernard Silberman vorgelegt hat. 49 In einem partial, synchron, symmetrisch und gemischt divergenrlkonvergent vorgehenden Institutionenvergleich untersucht er die Entstehung moderner Staatsverwaltungen in Frankreich, Großbritannien, den USA und japan während der zweiten Hälfte des 19. jahrhunderts. Silbennan verwendet ein Challcnge-response-ModeJl, das bei den Eliten aller vicr untersuchten Länder ähnliche rationale Reaktionen auf ähnliche Herausforderungen annimmt. Er fngt konvergent nach den Ursachen und Umsünden der Henusbildung einer ,.administntive rolell im Sinne von Max Webers legal-rationaler Bürokratisierung. Die Antwort fallt divergent aus: Es gibt unterschiedliche Pfade solcher Bürokratisierung, und der Weg dorthin verlief in Großbritannien und den USA einerseits, in Frankreich und japan andererseits verhältnismäßig ähnlich. Japan wird in dieser Untersuchung in keiner Weise exotisicrt; eines ihrer Ergebnisse bestcht darin, daß sich Webers Ideal typ der legal-rationalen Verwaltung bei keinem der vier Fälle so dcutlich ausprägte wie in Japan.so Nirgends bemüht Silbcrman als Explanans spezifisch japanische pattems of (IIllure, mN/laUtts oder Traditionen; er begrenzt seine elegante Analyse aufform31e Organisationssoziologie und die Darstellung strategischen Elitehandelns unter Bedingungen von Unsichcrheiten in der jeweiligen politischen Umwelt. Silbcrmans Analyse erreichtjedoch den Punkt, wo er vermuten muß, daß die enorme Effizienz der höheren japanischen Swtsbürokr.l.tie letztlich ohne die Berücksichtigung informeller -
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König von Siam und der Schah von Persien waren allesamt absolute MOllarehen mit im großen und ganzen analogen politischen und zeremoniellen Funktionen im Rahmen einer Ithöfischen Gesellschaft«, wie sie Norbert Elias idealrypisch modelliert hat. Hinter ihnen standen aber vier völlig verschiedene Theorien der Herrschaftslegitimation und vier unterschiedliche politische Idiome, in denen diese ausgedrückt wurden: die absolutistische Staatsauffassung, das konfuzianische Konzept des ItMandats des Himmels«, die Theologie des buddhistischen Gonkönigtums und das vcralltäglichte Charisma des shi'itischen ~Schatten Gottes auf Erden«. Ein zweites Beispiel mag modeme Sozialhistoriker unmittelbarer ansprechen: 51 In China formierte sich während der ersten beiden Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts eine Intelligenzschicht, die Kennern der Sozialgeschichte europäischer Intellektueller pltiitlotypi.scIJ keineswegs exotisch vorkommen dürfte, ohne daß sie als schlichte Kopie westlicher Vorbilder gedeutet werden kann. Der kulturelle Konte),."t, in dem sie entstand, war aber ein spezifisch chinesischer: einerseits der zerfallende Staatskonfuzianismus, von dem aber Rollenerwartungen an die elitäre Führerschaft der Gebildeten übrigblieben, andererseits eine direkt rezipierte oder aufdem Umweg überJapan gefiltert vennittelte euro-amerikanischc Moderne, die jedoch nicht mit all ihren Inhalten und Werten übernommen, sondern in eine Waffe des anti-westlichen und anti-japanischen Nationalismus umgeschmiedet wurde. Die quasi-universale Rolle des »modernen Intellektuellem verband sich mit raum-zeitlich spezifischen politischen und kulturellen Konnotationen. Ein komparatives Forschungsprogramm würde im Zivilisationsvergleich die Herausbildung einer Intelligentsia und der mit ihr verbundenen Formen von Öffentlichkeit in, zum Beispiel, Frankreich, Deutschland, Rußland, der Türkei, Indien, China und Westafrika studieren und dabei die Fälle mit einem einheitlichen Frageraster vergleichbar machen, ohne diejeweils »kulturellenlC Besonderheiten und Färbungen aufrein »strukturelle« Zusammenhänge hin zu nivellieren. 52 Jede der acht Alternativen muß in der Praxis des Zivilisationsvergleichs individuell entschieden werden. Solche Entscheidungen werden bestimmt von vorempirisehen philosophischen Vorlieben, vom jeweiligen Untersuchungszweck und von den praktischen Voraussetzungen der Durchmhrungeines Vergleichs. Es gibt kein eindeutig ermittelbares methodisches Optimum. Dennoch plädiert dieses Kapitel
51 Vgl.J. OIftrhammtl. Die ersle chinesische Kulturrevolution. Imellcktuel1e in der Neuorien· tierung. in: DtrI. (Hg.). Asien in der Neuzeit. S. 125-142. 52 Der Anschluß;lIl innereuropäische Forschungsprogramme ließe sich durchaus gewinnen. Vgl. als möglichen Ausgangspunkt C. Cllarlt. HiSlorischer Vergleich der Intellektuellen in Europa. Einige methodische Fl4gen und Forschungsvorschlägc, in: 1GJtlblt 11. SlIrrinvt!r (Hg.). Diskurse und Entwicklungspfade. S. 377-400.
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ftir einen Zivilisationsvergleich, der mehr als die heute industriegesellschaftlich entwickelten überseeischen Länder erfaßt; der (im Sinne der generell berechtigten Maxime von der ~Eillheit der neueren Geschichte\()SJ zeitlich in der Frühen Neuzeit einsetzt; - der den Strukturvergleich durch eine weit über die herkömmlichen Interessen von Kolonialismus- lind Imperialismusforschung hinausftihrende interkulturelle Beziehungsgeschichte ergänzt; der partial und perspektisch angelegt ist und bei allem Respekt vor den großen Entwürfen der historischen Soziologle eine empirie nahe Bescheidenheit bevorzugt; - der symmetrisch vorgeht, aber den gelegemlichen Sinn einer asymmetrischen Argumentationsweise nicht abstreitet; - der sich die Chancen 50\\lohl von kOlwergenter Suche nach Gemeinsamkeiten zwischen den Zivilisationen als auch von einem divergenten Interesse rur >lSonderwege.offenhält; der sich schließlich von einem ahistorischen, primär anthropologisch aufgefaßten lIKulturvergleichtc unterscheidet, jedoch die Frage nach spezifischen individuellen wie kollektiven Sinngebungen, gewissermaßen nach dem kulturellen Lokalkolorit, als unentbehrliche Ergänzungeiner Untcrsuchunggcsellschaftlicher Strukturen ständig berücksichtigt. Es versteht sich von selbst, daß diese Art des Vergleichens nur ausnahmsweise eine Aufgabe rur einzelne sein kann; nahezu niemand vermag mitwisscnschaftlichem Gewicht über mehr als zwei Zivili5ationen zu sprechen. Ocr Zivil isationsvergleich verlangt daher die Zusammenruhrung verstreutcr Kompetenzen unter wohldurchdachten Vorgaben. Diese Vorgaben werden nicht immer die gewohnten Fragen der innereuropäischen oder atlantischen Komparatistik 'Iin der Erweiterungtc sein können.
Nachbemerkung (1999) über die Grenzen der Anthropologie und die Herausforderungen der Semantik In grundsätzlichen Stellungnahmen zu Wünschbarkeit, Loglk und Methodik des historischen Zivilisationsvergleichs ist ein zentraler Punkt, der ihn von den eher bekannten und gebräuchlichen Vergleichen zwischen modernen Industriegesellscha(ten (dem »OECD-VergleichlC) unterscheidet, wenig beachtet worden: die Frage der Begrimichkeit. Das verwunden angesichts des vielbe53 Vgl. P. No/lt, Gibt es !loch eine Einheit der Neucrc!l Geschiclllc?, in: ZI-I F,Jg. 24. 1997, S.
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schworenen ~linguistic [Urn«, ist aber auch erklärlich. Denn das Problem einer angemesscnen Beschreibungssprache stellt sich kaum fur Makrohiswriker und his[Orische Soziologen, die allein auf der Grundlage westlicher Sekundärliteramr arbeiten, also mit terminologisch bereits gefilterten Aussagen. Um so wichtiger ist es Hir diejenigen, die mit Quellen und Forschungslitcratur in außereuropäischen Sprachen U111gehen, denen also der Eigensinn fremder Zivilisarionen so deutlich beYl1.Ißt ist, wie nur Philologie und ethnologische Feldforschung ihn machen können. Einfach gesagt handelt es sich um den Unterschied zwischen Büchern mit und ohne Glossar. Wie beschreibe ich eine Gesellschaft, auf die die Sozial nomenklatur des neuzeitlichen Europa - die der Stände, Klassen und Milieus - nicht ohne weiteres paßt, die in der Regel sogar über eine komplexe Selbstbesdlfeiblmg verHigt? Eine mögliche Antwort lautet: Man setze eine ~ethnologische Brille\t auf, stelle sich fremd wie der sprichwörtliche ~Missionar im Ruderbootlt und beschreibe die beobachtete lIandere« Gesellschaft etwa mit der formalen und traditionslosen Terminologie von llkinship SystCIllSIt. Dies wäre die heute etwas an den Rand gedrängte britisch-sozialanthropologische Lösung. Sie ignoriert weitgehend die Selbstbeschreibung der anderen Gesellschaft und ist im Falle von Schriftkulturen überhaupt wenig brauchbar. Populärer ist heute die amerikanisch-ku lturanthropologische oder auch interpretativ-hermeneutische Variante: Man verzichte auf eine strukturelle Beschreibung, nähere sich dcm Fremden durch eine terminologisch bewußt unbestimmt gehaltene Paraphrase von Sinllgehalten und Symbolisierungen. In solcher »dichtcn Beschreibung« crsetzt das ästhetisch inspiricrte Umkreisen des Gegenstandes seine begriffiiche Fixierung. Das Prokrustesbett westlicher soziologischer odcr ethnologischer Kategorien wird vermieden. Die Sclbstbeschreibungen der anderen GeselJschaft werden gewürdigt, allerdings primär aus beobachtcten Praktiken und Verhaltensweisen rekonstruiert und nur sekundär durch Textauslcgunggewonnen. Sol Im Ergebnis entsteht das Bild eines in sich geschlosscnen Sinnkosmos, der sich jedem Vergleich verweigert. Für die Sozialgcschichte neuzeitlicher asiatischer Gesellschaften ist diesc Art der Anthropologisierung nur begrenzt brauchbar. Keineswegs ist alles Asiatische prinzipiell und substantiell "fremd... und verlangt Erkenntnisweisen, die eher der Völkerkunde als der Geschichtswissenschaft entlehnt sind. Außereuropäische Geschichtc geht nicht auf in His[Orischer Anthropologie. Ein Beispiel mag dies illustrieren: Kulturanthropologie kann helfen zu verstehen, was in nordchinesischen Bauernburschen vorging, die sich im Sommer 1899 plötzlich in Faustkampfgruppen organisierten, Unverwundbarkeitsrituale prak54 Ein mClhodisch nichl unproblcm.:ltisches, da historisch unspcz.ifischcs Beispiel rur dic Kombinalion bcidcr Verfahren ist C. C",rlZ, Ncgara: The ThealrC StllC in Nincleemh-Ccmury ßali, Princeton 1980.
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tizierten und dann ihre christlichen Nachbarn sowie ausländische Missionare massakrierten. Sie kann Plakate und Spruchbänder dieser Yihetuan-Rebellen, Beschreibunb"Cn durch Augenzeugen, Polizei protokolle über Verhöre gefangener Rebellen und später erhobenes »Oral traditionll-Material benutzcn, um das magische Weltbild diescr Menschen, scinen re1igionsgeschichtlichcn Hintergrund, Fcindbildcr und ihre Symbolisierungen, Ängste und Gewaltphantasicn zu beschreiben und zu verstchen.55 Schon um zu erklären, weshalb diese im Westen so genannten »Boxer« zu einer bestimmten Zeit in einer bestimmten Region sich zu einer schlagkräftigen Bewegung formieren, einc Massenanhängerschaft sowie die Unterstützung der lokalen Obrigkeit finden konnten, bedarf es aber durchaus nicht-anthropologischer Einsichten in die Kombination von Wirtschaftskrise und ökologischer Katastrophe, von der die nordchinesischen Provinzen Shandong und Hebei in den späten neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts heimgesucht wurden. S6 Oder ein anderes Beispiel fiir den kombinatorischen Eklektizismus, der immer wieder nötig ist, abcnnals der Praxis des Chinahistorikers entnommen: Die Landbevölkerung Südchinas, des reichsten und am höchsten kommcrzialisicrten Teils des Landes, war bis zur Mine des 20. Jahrhunderts weithin in schichtenübcrgreifenden Klans (IIlineages«) organisiert, die ganze Dörfer lind bis zu zweitausend Personen umfassen konnten - eine Sozialform, die in Nordchina und in übrigens auch Japan, einem Land der dominanten Kernfamilie, kaum eine Rolle spielt. Grundherren und Pachtbauern, zwischen denen die marxistische Sozialgeschichtsschreibung nicht zu Unrecht AusbclItungsbeziehungen vermutet, waren in Südchina oft Mitglieder ein und derselben Abstammungsgemeinschaft. Um das innere Funktionieren solcher KJans und ähnlicher Vergemeinschafnmgsformen zu begreifen, muß man sie sozialanthropologisch analysieren; das ist vielfach geschehen.)7 Um abcr zu begreifen, wie ein Grundherr oder Pächter aufdem Markt agiert, wird man aufgewisse Annahmen über optimierendes Wirtschaftshandeln zurückgreifen müssen. Der reine anthropologische Blick kann den KJan als Ensemble wirtschaftender Haushalte nur schwer erfassen. Eine ausschließlich klassenbezogene oder eine verabsolutierte Rational-Choice-Perspektive hingegen können nicht erklären, weshalb sich die ärmere Landbevölkerung Südchinas den KJanfUhrern, also ihren Ausbeutern oder Marktkontrahenten, unterordnete und der agrarrevolutionären Agitation der Kommunistischen Partei Chinas, die ja an ihre »wahren« Interessen zu appellieren glaubte, während der Revolutionsperiode (zwanziger bis vierziger Jahre dcs 20. Jahrhundcrts) außerordentliche Widerstände cmgegensetzte. 55 VgJ. P. A. Cohrtl, History in Three Keys: Thc BoxerS:ilS Evcllt, Expericnce. :ilnd Myth, New York 1997, S. 59fT. 56 So der AnS:ilIZ bei). W. E5hmck, The Origins ofthe Boxer Uprising, ßcrkcley 1987. 57 Vgl. etw:l. D. Faurt u. H. F. Sill (Hg.). Down [0 unh: Thc: Tc:rrilOri:il1 Bond in SoUlh Chin:il. St:mford 1995.
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Eine anthropologische Zugangsweise ist auch deswegen nur begrenzt bnllchbar, weil Asienhistoriker es nicht mit schriftlosen Gesellschaften zu tun haben, sondern mit solchen, die komplexe Selbstdcutungcn, Begriffiichkeiten und normativ verbindliche Gesellschaftsbilder entwickelt haben. Es treffen hier zwei Klassifikationen aufeinander: die indigcne und die von außen herangetragene, die Selbstbeschreibung der historischen Subjekte und die Fremdbeschreibllng durch die Wissenschaft. Das Problem ist in seiner Grundstruktur aus der Alten Geschichte, der Mediävistik und der Geschichtsschreibung zur Frühen Neuzeit wohlbekannt; es ist vielleicht sogar deren Kernproblem. Beim Zivilisationsvergleich treffen wir es auch dann an, wenn synchron verglichen wird. Historiker Asiens im 19. lind 20. jahrhundert - wenn sie sich nicht mit der Paraphrase von Selbstbeschreibungen begnügen - stehen also vor semantischen Herausforderungen, die Historikern des modernen, des indllstricgesellschaftlichcn Europa fern liegen.58 Encwirft man eine einfache Typologie der Begriffsbildung, dann kann man vier semantische Möglichkeiten unterscheiden.
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Erste'IS: die stabilisierte Selbstbeschreibllllg. In einigen Fällen hat die internationale Geschichtswissenschaft die einheimische Terminologie übernommen. Ein Samurai ist ein Angehöriger des im frühen 17. jahrhundert vom Landbesitz getrennten lind in Vasallenverhältnissen an Territorialherren gebundenen stadtsässigen niederen Schwertadels in japan. Die zeitgenössische japanische Kategorie hat sich als sozialgeschichtliche Benennung konkurrenzlos bewährt. Man spricht von »samurai dass«, nicht etwa von lIJapanese aristocracy(c Das scharfe Abgrenzungs- und Hierarchiebewußtsein in der frühncuzeitlichen japanischen Ständcgesellschaft, anders gesagt: eine deutlich artikulierte Eigentheorie, hat eine solche Präzision ermöglicht. Man darfdabei nicht übersehen, daß der BegriffSamurai bei aller Exotik dennoch von den ersten europäischen Besuchern japans bis zum heutigen Tage vertraute Assoziationen an europäisches Rittertum weckt. Auch das machte ihn semantisch kommensurabel. Zweitens: die europäische Projektion. Die chinesische Gesellschaft des 17. bis 19. jahrhunderts war bei weitem weniger rigide geordnet als die japanische. Ständeschranken waren schwächer ausgeprägt, Geburtsprivilegicn gcringercntwikkelt als im zeitgenössischen japan oder Kontinentaleuropa. Es gab keinen Erbadel. Dic Baucrn waren nicht an den Boden gebunden und nur schwach mit außerökonomischen Pflichten belastet; sofern sie nicht ihr eigenes Land kultivierten, standen sie in kontraktuelIen Pachtbeziehungen zu Grundbesitzern. nealerbteilung verhinderte auf allen gesellschaftlichcn Ebenen die Akkumulation von Landeigentum über mchrcre Gencrationen hinweg. Obcr58 Vgl. auch ähnliche Überlegungen zur Afrikaforschung bei L. Hard;/lg, Gcschichte Afrikas im 19. und 20. Jahrhundert, Münchcn 1999, S. 129-142.
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schichtstatus beruhte teils auf Grundbesitz, teils auf dem Erfolg der männlichen Familienmitglieder in den alle drei Jahre veranstalteten kompetitiven Staatsprüfungen, durch welche Sozialprestige zugeteilt und die Beamtenschaft der zentralen Bürokratie rekrutiert wurde. Blieb solcher Examenserfolg aus, ließ sich der Status der Familie alifDaucr nicht halten. Kaufleute wurden in der offiziellen konfuzianischen Gesellschaftslehre zwar verachtet. Gelang es ihnen aber, durch sorgfaltige Erziehungeinem Sohn zu Prüfungslorbeeren zu verhelfen, war der Makel getilgt; auch spielte litelkaufeine immer größere Rolle. Die vertikale Mobilität war also im spätkaiserlichen China bei weitem höher als in Japan am Vorabend seiner berühmten ~Revolution von obem, der Meiji-Restauration, die 1868 begann. Eine solch fluide gesellschaftliche Situation hat nicht-chinesischen Beobachtern beträchtliche Probleme bereitet.S'J Sie spiegelten sich in der Terminologie, die verwendet wurde und wird, um die chinesische Gesellschaft vor 1949 zu beschreiben. Anders als Japan konnte China nicht mit einem indigenen Stratifikationsmodell dienen. Der vorherrschende Obcrschichtentypus, also das ungcfahre chinesische Gegenstück zum japanischen Samurai, war der Itshenshi., ein vager Begriff: Wörterbücher übersetzen ihn seit dem 19. Jahrhundert als »gcntlemanll., »(member of) the gentry\(. Keine Kleiderordnllng legte gcnall fest, wer ein »shenshill. war: in der Regel ein NotabIer, der im lokalen Umfeld Ansehen genoß, der ein gebildeter Mann war und dies möglichst durch Erringung mindestens des untersten der neun Prüfungsgrade unter Beweis gestellt hatte, der schließlich wohlhabend genug war, um nicht von seiner Hände Arbeit leben zu müssen (er mochte aber vielleicht ein Dorfschullehrer sein). Größere Genauigkeit ist den chinesischen Quellen nicht abzugewinnen. Die westliche Chinaforschung hat daher den Ausdruck >lshenshi« nicht so übernommen, wie die Japanhistorie den Samurai eingemeindet hat. Sie hat ihn mit ltgentry« übersetzt und damit die Pandorabüchse interkultureller Assoziationen geöffnet. Denn die chinesische Gentry hat natürlich nur manches mit dem niederen englischen Landadel gemeinsam und vieles andere wiederum nicht. re Nun hat man neuerdings herausgefunden, daß es seit etwa der Mitte des 19. Jahrhunderts in den Städten des Landesinneren zu einer solch umfassenden Annäherung zwischen Gentry und Kaufmannschaft kam, daß eine analytische Trennung kaum mehr möglich ist. Chinesische Historiker sprechen seit kurzem von einer .shen-shang~, d.h. einer Gentry-Kaufmanns-Klasse oder 59 Vgl. C. Blut, Chin;! and Western Sodal Thought in the Modern Period. in: Dm. u. T. Brook (Hg.). China and Hislorica[ Capit;llism. C;lmbridboe 1999. S. 57-109; sowie (auch zur bcgriffiiehell &fassung ;Inderer Gescllsch;lften Asiens durch die Protosoziologie der Frühen Neuzeit»). OS"TIwnrmt/, Die Entzauberung Asiens. Europa und die asiatischen Reiche im 18.Jahrhunden, München 1998, }(;Jp. 11. 60 Klassisch: Clwng ChUllg./i, Tbe Chinese Gentry. Sludies on Their Role in Nineteel\th-untur)' Chinese Society, Seattle 1955.
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-Schicht, westliche Historiker haben sich auf die formale Bezeichnung 1I1ocai elite« festgelegt.61 Genauere Erforschung der Verhältnisse hat hier also zu einer begrimichen Abrüstung gefuhrt. Weder die Selbstbezeichnung (llshenshi«), noch der Begriffsimpon (»gemrylt) halfen weiter. Auf Umwegen ist man bei einer Art von »thick description« angekommen, denn man muß nun von Fall zu Fall neu beschreiben, wer und was die lILokaleiitelt jeweils war. DritteIlS: das Komlmkr - eine Variante der zweiten Strategie. Ein gutes Beispiel dafur ist der auf Indien bezogene Begriff der lIKastelt, eine religiös-ethnologisch-soziographische Mischkategorie, an deren Geschichte sich nahezu die gesamte Entwicklung der europäischen Asienauffassung zeigen läßt. I,KMiteK hat, anders als »Samurailt oder IIshenshiK keine indigene Etymologie und ist keine direkte Übersetzungeines indischen Begriffs. Es stammt vom portugiesischen "castaK: Art, Rasse. Anders als IIgcntrylt, wurde es aber in der Bedeutung lIendogame, streng abgeschlossene MenschengruppeIl nicht zunächst aufeuropäische Verhältnisse angewandt und dann aufAsien projiziert, sondern unmittelbar als Bezeichnung rur ein Phänomen geprägt, das man als charakteristisch rur Indien ansah. Der Kastenbegriff kann insofern als außer-indisches Konstrukt verstanden werden, als er ein Bündel von Praktiken und Doktrinen verallgemeinernd zusammenfaßt, die in der indischen Selbstbeschreibung nicht als subslantielle Einheit aufgefaßt wurden. Im 19. Jahrhundert hat das Kastenkonzept dann allerdings auf die indische SelbslaufTassung zurückgewirkt. Dadurch, daß die britische Kolonialmacht z.T. durch ihre Politik zur Stabilisierung der angeblich urtümlichen Kasten beitrug, entstand sogar so etwa wie eine erfundene Tradition. 62 Viencm: die UnjverSdlie. Der Samurai-Status und die ihm korrespondierende Realität wurden in den siebzigerJahren des 19.Jahrhunderts schrittweise beseitigt; die chinesischen Staatsprüfungen, die den Itshenshilt Prestige und manchmal auch ein Amt verschafften, gab es nur bis 1905, eine Lokalelite im Sinne des erweiterten Begriffs einer Gentry-Kaufmanns-Schicht existierte weiter bis zu ihrer Zerstörung durch die kommunistische Revolution zwischen 1946 und 1952. Die Geschichte musealisiert manche ihrer Begriffe. Andere entwickeln sich zu Universalien: In allen drei asiatischen Ländern finden sich spätestens
61 Vgl. etw'1 Waug Xianming. Zhongguo jindai sh~nshijiecengde shchui liudong [Di~ sozi~l~ Mobilität der Gentryschicht im neuzeitlichen China), in: Lishi Yanjiu [HislOrischc Forschung], H. 2, 1993,5.88;). W. Eshtritk u. M. B. Rilnhll (Hg.), Chinese Local Elitcs and Pallerns of Domi· nanec. Bcrkeley 1990. 62 Vgl. zusammenfassend zur Problematik der Kategorie .!Uste..: M. FfUhl, Kampf um Differenz. Ueprisentation, Subjektivität und soziale Bewegungen. Das Beispiel Indien, Frankfun a.M. 1999, S. 52-54; G. Dharampol.Fritk, Shifting Calegories in the Discourse on Cast~: Some Historica! Observations, in: V.lJDlmia u. H. 11. S,itltn(lT)/l (Hg.), Ueprescnting Hinduism: The Construclion ofReligious Traditions ~nd Nationalldellliry, Ddhi 1995, S. 82-100; S. &yly, Caste, Soci~ry and Politics in India from th~ Eightecmh Ccmury tO thc Mcxtern Age, Cambridge t 999, S. 97f[
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um 1920 in soziologisch signifikanter Zahllndustriellc und Bankicrs, Advokatcn und Universitätsprofessorcn - also »BürgerlC in GeselJschaftcn, die insgesamt (noch) keinc IlbürgerlichcnlC sind. Im Unterschied zur chincsischen Gentry der Vormoderne ist hier niclu bloß der Name importiert, sondern tcilweise auch die Sache selbst. Die asiatischen Bourgeoisien entstchen aus dem Zusammentrcffen endogener Prozcsse mit den Kräften der Verwcstlichung, die - in diescr Reihenfolge - im 19. jahrhundert Indien,japan und China erfassen. Sie sind keine Kopien europäischer Vorbilder, aber doch deren generische Verwandte. Heute hat Indicn einc städtische Ilmiddle-c1ass« von mehr als zweihundert Millionen Menschen, China ist aufdem Wege zu ähnlichen Verhältnissen. Über japan muß nichts gesagt werden; die japanische »middle dass« ist jedem Besucher eines europäischen Touristenzentrums begegnet. Für dicse modcrnen gescllschaftlichcn Erscheinungen gibt es keine indigenen Selbstbeschrcibungen, die völlig ohne Zusammenhang mit westlichen Konzepten entstanden wären. In China zum Beispiel wurde der klassische Begriff Ilshang«, der private Geschäftsleute aller Art umf.1ßte, zunächst so weit ausgcdehnt, daß auch die sozialen Neubildungen der jahrhundertwcnde eingeschlossen wurden. In den zwanziger Jahren verbreitete sich dann der (wie so viele westliche Begriffe) über Japan importierte marxisrische Ausdruck »KapitalistenkJassetl (»gongchan jicji«), während niclu-marxistische Autorcn - und bis heute selbstverständlich die taiwanesischcn Historiker - VOll Ilzhongchan jieji(( sprachen und sprechen: ein Ausdruckder den Bestandteillizhongll (Mitte) enthält und etwa die Konnotationen von »Mittelstand« besitzt. Westliche Historiker bevorzugen inzwischen den Begriff »Bomgeoisie«.63 Zweifellos eröffnen sich hier mannigfache Chancen rlir eine Erweiterung der vergleichenden Bürgertumsforschul1g. Der Einwand, den man dagegen gelegentlich hört, westeuropäische Begriffc von Bürgertum und Bürgerlichkcit ließen sich Ilnicht in andere (osteuropäische, ostasiatsche, lateinamerikanische, usw.) Kontexte übertragen«, ist nicht besonders intelligent. Denn es gibt in vielen Fällen überhaupt keine anderen Beschreibungssemantiken mehr. Die europäischen Konzeptesilld bereits übertragen worden. Historiker können daran nichts ändern, aber sie finden hier eine schöne Anwendungsmöglichkeit rur ))the linguistic turnlC.
63 $0 du $l:mdudwerkM.-C. ßerghr, L'ige d'or de b bourgeoisie chinoise 1911-1937, Puis 1986.
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3. Differenzwahrnehmungen. Europäisch-asiatische Gesichtspunkte zur Neuzeit
I. Sucht man im 2O.Jahrhunden eine Periooe europäischer Windstille, dann wird man sie am ehesten in den siebziger Jahren finden, der Zeit zwischen dem Abklingen der studentischen Protestbewegungcn in West-und dem Beginn der Endkrise des Staatssozialismus in Oste uropa, den 111all aufden Streik der Dallziger WerfL1rbeiter im Jahre 1980 datieren kann. Niemals war Europa sich selbst - genauer: seinen Illeinungsbildendcn Eliten - selbstverständlicher als in den siebzigcr Jahren des 20. Jahrhunderts: ein neo-karolingisches Kerneuropa mit britannischen und mediterranen Erweiterungen, I im (nnern - bis auf Nordirland - bcfriedet,jenscitsvon Partcioriemierungen aufeinen wohlfahrtSstaatlichen Konsens verpflichtet, seit dem Ende der iberischen Diktaturen 1974nS und des kurzlebigen griechischen Militärregimcs (1967-74) eine Sphäre von Rechtsstaatlichkeit und parlamcntarischer Demokratic. Arbeitsweltcn und Konsumverhalten in den verschiedenen Llndern glichen sich i111mer mehr an. Oie rasche winschaftliche Enrwicklung in Südeuropa verringerte das Einkom111ensgcfalle zwischen den ärmsten und den reichsten Ländern des Konrinents und vergrößerte zugleich die Kluft zwischen dem nördlichen und dem südlich-islamischen Rand des Minclmeeres. Die (mmigr.uion nach Europa ließ seit t 973 vorübergehend nach; Überfremdung:sängste und das Thema innerer Multikulturalität lagen noch in der Zul-unft. 2 Zum ersten Mal in der Geschichtc waren dieAI!ßerlgrenzcn Europas eindeutig bestimmt. Ocr Eiserne Vorhang schien - zwischen Kubakrise und dem Raketenhazard der achtziger Jahre - durch die Fähigkeit und Bereitschaft beider Supermächtc zum nuklearen Zweitschlag verläßlich stabilisien zu sein. Zugleich trugseit 1975 der Hclsinki-Prozeß durch eine Art von behutsamem legalistischem Gradualismus zur Absch\vächung starrer Verfeindungcn Z\vischen den weitcrbcstchendcll Blöcken auf dem Kontinent bei. Oie kulturdlerl Grcn-
1 Von "a ne'O-Cuolingi:lII consuucldpricht). G. A. Pot'ot'k. IJccorlSlnlCling Europc. in: HEl. Jg. 18. 1994. S. 333. 2 Vgl. R. M,irlZ. Europa und die großen Wandcrunb'Cn dcs 2O.J3hrhundcrts, in: I-I. Mii"kltr (I-Ig.), Furcht und Faszinalion. FacetlclI der Fremdheit. Ikrlin 1997. S. 255-315. hier $. 267f.
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zen Europasdeckten sich nun mitseinen geographischen, den Küsten des westlichen Eunsien. Die siebzigerJahre waren das erste post-imperialeJahrzehm in der europäischen Geschichte seit der Eroberung Mexikos. Frankreich trenme sich 1%2 nach einem Krieg, der eine halbe Million Tote gefordert hatte, von den algerischen Departements der Republik und holte zwei Millionen weiße Siedler ins Hexagon ZUTÜCk. J Spanien erkannte, daß Außenpolitik mehr sein müsse als die Pflege atlantischer Nostalgien. Portugal erwachte durch eine Revolution, die in Afrika begann und Afrika bald verloren gab, aus jahrhundertealten ozeanischen Träumen. Premienninister Harold Wilson haue noch 1965 verkündet, Großbritanniens Grenzen lägen im Himalaya.· Zwei Jahre später trieb eine Sterlingkrise das Vereinigte Königreich an den Rand des finanziellen Zusammenbruchs. Die Weltmacht auftönemen Füßen sah ihr Heil in resoluter Europäisierung, Vom British Empire, dem umfassendsten politischen Verband der Weltgeschichte, blieben das Commonwealth als Geftihlsgcmeinschaft selbstbewußter Nationalsta:ucns und die Enttäuschung von Loy:alisten wie der weißen Bevölkerung Neusee1ands, die sich nach dem Beitrindes Mutterlandes zur Europäischen Gemeinschaft von kulturell anhänglichen Neu-Britanniem zur bindungslosen Einwohnerschaft zweier beliebiger pazifischer Inseln herabgestuft sah.' Kurz: Alle imperialen Sonderwege mündeten in den siebziger Jahren in eine aufBrüsse1 zuströmende kleineuropäische Normalität. Der politischen entsprach eine mentale Kontraktion Europas. Gewiß, die europäischen Intellektuellen, :mgcfiihrt von Jean-Paul Sartre, entdeckten in den sechzigerJahren die Dritte Weh, Aber deren Befreiungskämpfe lagen nach dem Ende des A1gcrienkriegcs in weiter Ferne. Um die Mitte des folgenden Jahrzehnts siegten die Vietnamesen über die USA und in China farblose Kader über die bizarren Spätmaoisten der sogenannten Viererbande. Das Thema Dritte Weh troH politisch in den Hintergrund und wurde Ökonomen und Wohltätern überlassen. In den sechziger und siebziger Jahren glaubte man an die Große Harmonie: je nach Geschmack an Ausbreitung und Siegder Weltrevolution, an Empormodemisierung der Entwicklungsländer unter wohlwollender westlicher Anlei-
3 Opfer des Algericnkrieges nach ß. S,ora. Histoir~ de Ja guerrc d'Algtrie (1954-1962). Puis 1995. S. 91. Die Re-Migntion von Kolonisten aus den Ex-Kolonien w:ar ein mein unwichliger Aspekt. der europäischen Sozialgcschielne der Nachkriegszeil. Vgl.j.-L MiJgt 11. C. DuboiJ (Hg.). L'Europc ~trou\"tt; Lcs migrations de b d6coionisa.tion, r;aris 1994. 4 Zit. nach R. HalLmd. The Pursuit ofGrt:atncss; Bmam and the World nole. 1900-1970. London 1991. S. 320. 5 PointK:n fonnulien: ...<:ommonwc;ahhlO. whkh Ix-gan u a synonym for EmpIre. a.me tO signify i15 antilhesis.• W D. Mein/}'". Commonwolth 1...cgKy. m; Wm. R. LouiJ (Hg.). Th(' Oxford History oflh(' ßrirish Empire, Bd, 4. Oxford 1999, S. 693-702, hIer S. 693. 6 Vy).J. G.1l p««It, HislOry and ~rcignry; Th(' Histonographia.1 nespon~ 10 Europcalllulion in Two Brilish Culturcs, in; JßS.Jg. 31. 1992, S. 36\ f.. 381-386.
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tung oder an die Konvergenz wohlfahrtskapitalistischer und poststalinistischer Ind ustriegese Iischafte n. All das klingt heute wie die Beschreibung einer versunkenen Welt. In sie brach 1979 die iranische Revolution wic eine archaische Kraft ein. Kein Experte, kein Theoretiker hatte sie kommen sehen. Das Treiben des einen großen Charismatikers der Nachkriegszeit, Mao Zedong, blieb rur Europa unverbindlich, eine gigantische Pekingoper, der man zuschaute, solange sich nichts Interessanteres bot. Ocr Ayatollah Khomeini hingegen, der zweite ullbegrei(liehe Führer und Massellmagneriseur, setzte den Mittleren Osten in Brand und schien eine abendländische Urangst auszulösen: die vor einer Revolte des nur vorübergehend eingedämmten Islam an der Türschwellc Europas. In den achtziger Jahren zerfiel das vordem einheitliche Bild einer dankbar Almosen empfangenden unterentwickelten Welt in bedrohlich fleißige Ostund Südostasiaten, bedrohlich fanatische Muslime und bedrohlich anarchische Afrikaner. Der Horizont verdüsterte sich. Das Thema des Zusammenstoßes der Kulturen k.:UTI aufdie Tagesordnung- zuerst in Frankreich, schon vor amerikanischen Globalstrategen wie Samuel Huntington.7 Aus der Revolutionsrhetorik der Tiers-lIIolllJistes einerseits, der Benevolcnzrhetorik der Emwicklungspolitiker andererseits wurde die Rhetorik des ZiviJisations- und - sagen wir es deutlich - oft auch des Rassenkampfes. (Zu wenige fragten und fragen sich, was von Nelson Malldela zu lernen sei.) Jäh endete so die gemütvolle Selbstbezogenheit Europas. Das llFremde~, kurz zuvor noch, wie es schien, allein in den allerletzten llWildenllmit größten Mühen völk.erkundlich erfahrbar, schien Europa nun zu umzingeln. Es war allgegenwärtig: als Armutsimmigration, als islamische Verschwörung ebenso wie als Versuche anonymer Konzernvorstände in ToJ....y o, Seoul oder Singapore, sich zu Herren der Globalisierung aufzuschwingen. Was immer von solchen Ängsten zu haltcn ist: Die Selbstbestimmung Europas, in den siebziger Jahren bloß als Reflexion auf das kleineuropäisch oder allenfalls nord:nlantisch Eigene vorstellbar, ist erneut nur möglich, wenn die Differenz zum Nicht-Europäischen mitgedacht wird. Die anderen Entwicklungen seit der Wende zu den achtziger Jahren braucht man kaum anzudeuten. Zwei seien kurz herausgehoben. Ebenfalls 1979, wenn man sie denn datieren möchte, begann mit Margaret Thatchers Amtsantritt die Invasion des Neoliberalismus: Privatisierung traditioneller Staatsaufgaben, DereguJierung von Arbeits- und Kapitalmärkten, Zähmung dcr Gewerkschaftsmacht, Rhetorik von Leistung und Untergang. Diese Invasion, die gesamteuropäisch und selbstverständlich weltweit bis heute fortschreitet, von politisch unkontrollierbaren Technologien getragen, untergräbt herkömmliche SOllveränitäten und Veramwortlichkeiten, perforiert nationale Grenzen und 7 Etw:l beiJ.-c. R.!JiIl. L'cmpire el les nOllveaux barbares: nupture nord-sud. Paris 1991; S. P. HlitlIillgtO/l, The Clash ofCivilizalions and Ihe ncmaking ofWorld Order. Ncw York 1996.
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universalisiert Produktion und Konsum medialer Bilder. Sie macht es immer scll\vieriger, das Selbst und das Andere unterscheidend zu bestimmcn. Was schon Jean-Jacques Rousseau in seiner Zeit zu erkennen glaubte, tritt ein: die Eneprofiliemng von Kulturen, Nationen und Lebensformen.' Eine zweite epochale Entwicklung w:lr die Öffnung der kleineuropäischen Ostgrenze. Dem EU-Europa und seinem amerikanischen Patron fiel damit plötzlich eine klassische Fähigkeit von Imperien zu: die Definitionsmacht über Zugehörigkeit. Das Imperium entscheidet, wer ein Civis Romanus, ein British Citizen oder ein Mitglied von EU und NATO sein darf und wer nicht; es gev.r.ihn, verweigert oder entzieht Gunstbeweise und Protektion; es erweitert und befestigt seine Grenzen oder nimmt sie arrondierend zurück.. Man denkt zunächst an die »Ost-Erweiterung.. des institutionalisierten Abendlandes. Aber es geht auch um die Abgrenzung zwischen Europa und Asiet.. Seit etwa 1770 versichern alle Geographielehrbücher, diese Grenze sei der Ura1.' Aber damit ist heute wenig anzufangen. Zwischen dem Schwarzen Meer und der chinesischen Grenze sind neue oder vcrgessene Ländcr auf der Karte aufgetauchtdarunter auch früh und tief christlich geprägte wie Anl1cnien und Georgien: Länder, die bisher allenfalls im Weltbild von Gcostratef:,ocn ihren Platz gefunden haben. Daß da und don ein wiederbelebter Eurasianismus als anti-westlicher Sendungsmythos diese Lücke Hillt, verwunden nicht. Er hat in Rußland eine Tradition, die ins frühe 19.Jahrhundert zurückreicht. 1o Jcdoch ist zwischcn einer ltCur.LSisch.-ideologisierenden Betonung ost-westlicher Kulturgegcnsätze und einer *Curasiatischen.. Relativierung solcher Gegensätze durdl eine Europa und Asien verklammernde Geschichtsdeutung zu unterscheiden. Im Weste" l11achten sich im späten 20. Jahrhundert Anzeichen einer historischen Interpretation in gcsamt-curasiatischer Perspektive bemerkbar. Ihr großer, erst kaum gewürdigter Vorg1ngcr ist Edward Gibbon, dessen »History of the Decline and Fall of the Roman Empire.. (In6-88), das bedcutendste Geschichtswerk der Aufklärung, in seiner zweiten Hälfte den Aufstieg des Islam, das mongolische und tillluridische Weltreich und das Ende von Byzanz als ein bikontinentales Megadrama schilden und deutet. 11 Eine solche Panoramasicht, während dcs 19. Jahrhunderts von ciner lIorientalistischcn.. Ost-West-Dichotomie verdunkelt, wie sie auch der frühen kulturvergleichcn8 j.-J. ROllSSMlI. Diskurs übcrdie Ungleichheit. Discourssur l'inCg;ilitc. hg. v. H. Mtin. I).aderbon! 1984. S. 324f. 9 Zur wechselnden Festltgung VOll Europ.as Ost~IIU vgl. IV. H. PIJri...".. Europc-: How F.ar? in: Geognphjc~IJournal.Jg. 126. 1960. S. 278-297. VonüglKh zur boorognptllschcll Umgrenzung
Europas allgemein: H.-D. .$(hulrz. EtI~ als gc:ographischcs KOllJitrukt.Jelu 1m (= Jenaer gcognphische Manuskripte. ßd. 20). 10 Vgl. M. HlJunn. Wlut isAsla to Vs? Russia'sAs~n t-leanlandYesterdayandToday.london 1990. S.)8( 11 London ln6--88: die neucsu: Gcsann.ausgalX': Hg. v. D. Wommlty.3 Bde.. London 1994.
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den Soziologie nicht fremd war, wurde in der Epoche der beginnenden DekoIonisation von einzelnen Autoren neu angemahnt, zunächst von Islam- und Zentralasienspezialisten wie Rene Grousset (einem Mitglied des Academie Fran~aise), Hans Heinrich Schaeder und Marshall G. S. Hodgson, einem hochbedeutenden Islalllwissenschaftier und Universalhistoriker, dessen Schriften erst heute ihre Wirkung zu entfalten beginnen. I2 Diese Anreger blieben zunächst ohne nennenswerte Resonanz. Zu Beginn der achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts hat dann der Wirtschaftshistoriker E. L. Jones, vielleicht nicht zufalligvon australischer Außensicht her, die alte Frage nach den Ursachen des lteuropäischen Wunders« und der langen Stagnation Asiens neu gestellt. U Von Montesquieu über die romantische Völkerpsychologie bis zu Max Weber hatte Illan die Antwort in tief vcrwunehen Wesensmerkmalen von Zivilisationen gesucht, in grundsätzlich unterschiedlichen Kodierungen von Personalität, Religion, Rechtsauffassung, Familienleben und politischer Autorität. Jones schlägt demgegenüber ein nicht-kulturalistisches Erklärungsmodell vor. Europa habe von seiner geographischen Randlage und seiner inneren, den Wettbewerb begünstigenden Kleinräullligkeit profitiert. Und es habe in mancher Hinsicht einfach Glück gehabt: das Glück etwa, anders als die blühende chinesische Song-Dynastie und das Khalifat von ßagdad vom Mongolensturm des 13.Jahrhunderts verschont geblieben zu sein. Der englische Sozialanthropologe und UniversalhistorikerJack Goody ist in den letzten Jahren einen Schritt weitergegangen und hat die kaum je geprüfte Überzeugung von der unvermittelbaren Wesensverschiedenheit Europas und Asiens in Frage gestellt. Familienforlllen hier und dort unterschieden sich nicht grundsätzlich voneinander, wohl aber von denen Afrikas. Von einem europäischen Monopol zweckrationalen Wirtschaftens könne in vormoderner Zeit keine Rede sein. I4 Andere Historiker erläuterten die enge Vcrwandtschaft zwischen den europäischcn Absolutismen der Frühen Neuzeit und den gleichzeitigen politischen lind gesellschaftlichen Systemen Asiens vom Osmanischen Reich bis hin zum Japan der Shogune, Ordnungen, die seit Montcsquieu unter dem cxotisierenden Sonderetikett des "Despotismus« abgelegt worden waren. 15 12 Vgl. R. Gnmsstl, Bilan de r!-listoire. Paris 1946, bcs. S. 185-266; H. H. StllaMtt, Die Perioden der eurasial;schell Gcschidltc 119601, in: E. St!IlIIi,1 (!-Ig.), Universalgcschidlle, Köln 1974. S. 176-188; M. G. S. Hodgsoll. D;e wechselseitigen ßczichunb'Cn von Gesdlsch:l.flCIl in dereurasiatischen Geschichte 11%2, eine frühere F:l.SSlllIg schOll 19541, ill: ebd.. S. 189-213: Dm., nt'lhinking World !-lislOry; Essays on Europc, Is1:l.m, :l.nd World HislOry, C:l.mbridgc 1993. Hodgson surb 1968 im Alter VOll 48Jahren. Sein I-i:l.uptwerk erschien poslum: The Velllurc oflslam: Consciencc :l.nd HislOry in a World Civiliz:uion, 3 ßde., ChiCilgo 1974. 13 E. L.JOllts, Thc Europcan Miracle: Environments, Economies aod Geopolities iu the l-liSIQI)' of Europc and Asia, Cambridge 1981; Dm.. Growth necurr;ng: Ecollomie Clunge in World History. Oxford 1988. 14 J. Goody, The EaSt in the WCSI, Cambridgc 1996, bcs. $. 226ff. 15 Etw:l.J. A. Goldstollt, nevolution :l.ud Hcbcllion in Ihe E:uly Modern World. ßcrkclcy 1991.
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Die Abgrenzung zwischen Europa und Asien steht also nicht allein politisch, sondern auch anthropologisch lind historiographisch erneut zur Debatte. Wenn Jack Goody und Edward Gibbon recht haben und der Gegensatz OriemOkzident eher ein ideologisch belastetes Mißverständnis als eine tragfahige Arbeitshypothese fUr einc transeuropäische Geschichtsschreibung ist, dann kann die abgrenzende Selbstbestimmung Europas nicht durch die möglichst scharfe Gegenüberstellung montesquicuschcr und weberseher Idealtypen lind Merkmalsreihen, sondern nur in der Feinabstufung gradueller Abweichungen geschehen. Europa ist dann nicht »das Andere« Asiens (und umgekehrt), wie die Anhänger binär kJassifizierender Kulturtheorien uns einreden wollen. Es ist nurejll bifk:lu?tI anders und muß sich nicht wundern, wenn Asiaten es erfolgreich imitieren und wenn es seinen vorübergehenden Vorsprung mit der Zeit verliert. 16
11. Die Frage, was Europas Besonderheit im Konzert oder auf dem Schlachtfeld der Kulturen ausmache, ist seit der Entdeckung Amerikas und der Wicdcrcntdeckung Asiens im 16. Jahrhundert naturgemäß immer wieder als die Frage nach Unterschiedcn gestellt worden. Man verglich - aber lilas verglich man? Gelehrte und Intellektuellc mit breitem Überblick, also gründliche Kenner sowohl der Antike als auch der übersecischen Reiselitcratur, dachtcn und verglichen in eincm dreidimensionalcn Raum der Bczüge. Scinc drci Koordinaten waren das gegenwärtige Europa mit seiner griechisch-römischen TIefendimension; die Neue Weh, also das, wie mall glaubte, geschiclHsl<:,se AmerikalInd später die Südsee - der sogenannten Wilden; und schließlich A<;icn - dic Alte Welt im stren6ren Sinne: der Muttcrkomincm der Künste, der geofTcnbartCIl Religionen und solcher Wisscnschaften wie der Astronomie und der Mathematik - ein Erdteil ehrwürdiger, mittlerweile etwas erschöpfter oder gar ein wenig barbarisicrtcr Zivilisationen.
Neuere grundsätzliche Überleb'llllb't"n sind: R.l. Moort, The Birth ofEuropc as a EUr.l.sian Phellol11(:nOI1. in: MAS,Jg. 31. 1997, S. 583-60 I; V. Liebt'nmlU, Tr2l1scel1ding East-Wesl-DichOlOmics: SUle and Cuhure Formation in Six Ostcnsibly Disparatc Arc:LS, in: ebd .. S. 463-546; S. SlIbr
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Hier sei zunächst einiges zur Wahrnehmung Asiens angemerkt; danach wird ein Moment dieser Wahrnehmung herausgegriffen, der heute besondere Aufmerksamkeit verdient: der Übergang zum 19. Jahrhundert. Im letzten Teil des Aufsatzes soll dann die Perspektive gewechselt und die Frage erörtert werden, was die Sicht von Nicht-Europäern zur Selbstbestimmung Europas beigetragen hat und beitragen könnte. Am Beginn des 18. Jahrhunderts, als über die meisten asiatischen Länder bereits wirklichkeitsnahe Reisebeschreibungen vorlagen, sprach noch niemand von einer Überlegenheit Europas über seine Schwesterzivilisationen in Eurasien. Am Anfang der achtziger Jahre des 18. Jahrhunderts hingegen sah fast jeder - außer entschiedenen Rousseauisten - Europa aufeinem lIvorzüglichen Gipfel der Vervollkommnung«, wie sichJohann Reinhold Forster ausdrückte, ein kosmopolitischer Reisender und vorzüglicher Kennerder Überseeliteratur in allen europäischen Sprachen. 17 1785 - noch hatte die Industrialisierung Europa keinen Vorteil gegenüber gewerblich leistungsfahigen p ortökonomien wie Indien und China verschafft - faßte der Geograph Anton Friedrich Büsching, ein bewährtcs Sprachrohr des Zeitgeistes, die üblichen Argumente zusammen:
.s..
IIEuropa macht zwar dcn k1cinsten Hauptheil des Erdbodens aus, verdienet aber doch der wichtigste genannt zu werden; 1) weil keiner besser angebauet ist, als dieser: 2) weil er mächtiger ist als die drey übrigen zusammen; 3) weil sich die Europäer den größten Theil des iibrigen Erdbodens unterwürfig, oder doch in demselben fruchtbar gemacht haben, so wie auch sie allein durch ihre Schiflfahrten, Reisen und Handel die Haupttheile der Erde in Verbindung miteinander setzen; 4) weil Europa seil vielen Jahrhunderten der Hauptsitz der Wissenschaften und Künste ist; und 5) weil die Erkenntniß des wahren Gones und des Heilands der Weh durch die Europäer in den übrigen I-Iaupnheilen des Erdbodens ausgebreitet wird.~11l
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Das war handfest gedacht und empirisch kaum anfechtbar, auch wenn Kolonialisllluskritiker wie Denis Diderot und Edmund Burke auf die moralischen Kosten der europäischen Welteroberung hinweisen konmen. 19 Europa ist bei Büsching der dynamische Ursprungson des modernen Weltsystems. Ein politischer Theoretiker aus dem Einnußbereich Montesquieus hätte einen sechsten Punkt hinzugefligt: Nur in Europa sei es gelungen, die flirstliche Gewalt durch ständische Ausgleichskräfte im Zaume zu halten. Die wenigen, die weiter gingen und nach den Ursachen der europäischen Überlegenheit fragten, gaben unterschiedliche Antworten: Edward Gibbon
17 J. R. FOß/tr. Bemerkung über Gegensunde der physischen Erdbcschrcibung, N~lurgc schichle und sittlichen Philosophie. ~uf seiner ncise um die Wdl gesammelt, Ikrlin 1784. S. 256. 18 A. F. Biüchillg. Auszug ~lIS seiner Erdbeschreibung. Erster Theil. welcher Europ~ und deli nord lichen Thcil von Asia emhiih, !-lamburg 1785~, S. 20. 19 VgI.A. Paptl. Europcan Encounters wilh Ihe New World, Ncw !-laven 1993, S. 141-188; F. G. W11t!atl. Edmund Burke and India: I)olilical Morality and Empire, Pillsburgh 1996.
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betonte die Methodisierung des Krieges und die Ver.vissenschaftlichung von Politik und Staatsvcr.valtung. Andere sahen den Buchdruck, also die Kommunikationsrevolution, oder die Vermeidung der Polygamie als cntscheidcndc Kraftquellcn Europas, vor allem im Vergleich zur islamischen Welt. Der Götringer Historiker August Ludwig Schlözer schrieb t 785 eine Weltgeschichte, die niclu-wie die Universalgeschichten des t 9.Jahrhunderts- teleologisch auf die Europäisierung der Erde hin entworfen ist. Unter dem Gesichtspunkt ihrer Wirkungsmächtigkeit zählen rur ihn Römer, Chinesen und Araber, aber nicht Griechen und Ägypter, zu delllJHauptVölkern« der Weltgeschichte. 20 Die wichtigsten Errungcnschaftcn Europas sind in seinen Augen »Compaß, Pulver, Papir und Druckerei, Brillen, Uhren und PosteIl«. ~Mit Hülfe jener Erfindungen,(( so der nüchterne Schlözer, »entdeckten wir drei neue Wehen und unterjochten, plünderten, cultivinen oder VCrvlüStetel1 sie«.21 Nurd" Autor des 18. Jahrhunderts, Schlözers Göttinger Kollege Christoph Meiners, befand (1793) den lIStamm der hellen und schöncn Völkerfl für wcltgeschichtlich privilegiert und zur Herrschaft berufen - ein noch einsamer Vorläufer späterer Rassctheorien. 12 Wer Europa flir überlegen hielt, 6rab daflir bis in die achtziger Jahre des 18. Jahrhunderts pragmatische Gründe an und räumte meist auch ein, daß nichteuropäische Zivilisarionen aufanderen Gebieten, ct\.."a der Armenfürsorge, der Gastfreundschaft oder der Poesie, Europa voraus sein könntcn. v Von geheimnisvollen Wcsenscigenschaften der europäischen Kultur, die den anderen fehltell, war so gut wie nie die Rede. . Jrgenderwas ändert sich dann kurz vor der Jahrhunderrwendc. Die Symptome sind dcutlich, die Ursachen schwer zu fassen. Jahrhundertelang hatte einc europäische Delegation nach der anderen vor den chinesischen Kaisern dcn im J-1ofzeremonicll vorgeschrieben Kotau vollzogen. 1793 beugt Lord Macanney als erster nur sacht das Knie: Dic dcmütigende Nicdcrvlcrfung sci cines frei geborenen Engländers und Gentleman unwürdig; sie widerstrebe dem europäischcn Charakter. 24 Gleichzeitig fUhrcn die Britcn wieder cinlllal eincn Eroberungskricggcgen eincn indischen Fürsten, diesnul Tipu Sultan von Maisur. Früher hattc Illan derlei als Schachzug im innerindischcn Machtspiel realpolitisch und kulturneurral gerechtfertigt. Neu ist nun, in delll1eullzigcrJahren des 20 A. L. Srh!iizrf. WehGeschicIm: llach ihren 1-13uplThei1c1l im Auszug und ZUs.1111l11enh:U1gt'. Bd. I, Göttingen 1785, S. 116f 21 Elxl .. S. 104f. 22 C. MtillrN, Grundriß der Geschicille der Mcnschhcil. LcmbtO 1793. S. SIl. 23 Viele Beispiele in). I-I. G. v.Justi. Vergleicllllllb"Cn der Europ;tischen milden Asi:llischcn lind
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18. Jahrhunderts, die orchestrierte Haßpropaganda gegen einen Gegner, der als blutrünstiges asiatisches UngeheuerdärnonisieTt wird. Dankbare Inder huldigten, großformartig in Öl gemalt, ihren britischen Befreiern von muselmännischer Tyrannei.~ Auch Napoleons Ägypteninvasion von 1798, eigentlich bloß ein antienglisches Manöver, wird mit hoher Bedeutung aufgeladen. Der Erste Konsul erscheint mit ISO Wissenschaftlern in seinem Gefolge und unterwirft das Ägyptcn der Mamluken, angeblich dringend der Zivilisicrung bedürftig. einer gencralstabsmäßigen Erforschung von F1on, Fauna und Kultur. Der militärischen Eroberung folgt dic wissenschaftliche auf dcm FUßc.216 Um 1800gcschieht in der fnnzösischen und britischcn, abgeschwächt in der dcutschen und wenig später auch in der russischen WahrnehnlUngAsicns dreierlci: Erstens verdichten und vereinfachen sich die zahlreichen Merkmale, mit dencn Autoren der Aufklärungdie europäischen Nationalkulturenund die einzclnen asiatischcn Zivilisationcn glcichsam physiognomisch zu kcnnzeichnen versuchten, zu den Großstereotypen ItEuropall und ItAsicnll. Als 1780Jean-ßaptistc Mailly seinc Gcschichte der Krcuzzüge. einer merkwürdigen historischcn Erschcinung, die Voltaire und manche seincr Zcitgenosscn als beispielloses Monument mcnschlicher Narrheit verurteilt harten, unter die Devisc des Kampfes dcr Kulturen stellt - .C'est l'Europe lutunt contre l'Asie4P -, da ist dies ganz neu und bleibt vorerst ohne Nachredner. Um 1800 werden solche Formulierungen üblich. Zweite"s setZt sich vor allcn anderen Diffcrcnzicrungskritcricn nun das der wissenschaftlich-tcchnologischen Überlegenheit Europas durch. Nur Europa h:u die Naturerkennmis zur Naturbeherrschung gesteigert, schreibt Connd Malte-ßrun, der Hofgeograph des Förderers der Ingenieure, Napoleon Bonapanc. 2lI Auch die neucn Kulturwissenschaften vom Fremden wic Arabistik, Sinologie oder Indologie trCtcn nUll vielfach mit einem imperialen Anspruch auf, dcr dcm 18. Jahrhundert bis hin zu Gocthc und den Brüdern Humboldt ganz frcmd ist: den Osten besser zu verstehen, als er sich selbst versteht. Man hat diese Haltung wisscnschaftlicher Vormundschaft und Stellvertretung ItOriel1talismusll gcnannt. 29 Dahinter tritt die Idee der religiöse" Mindcn....ertigkeit Asiens zurück, sieht man von einem aggressiven Evangclikalismus ab, der die britische Mission zu beherrschen beginnt. DrittCfls wird um 1800 die verborgene Normativität des ZivitiSJtionsbcgriffs immer deutl icher. Aus dcm Nebeneinander der Weltkulturen - Edmund Burke sprach 1776 begeistert von der ttGroßen Landkarte der Menschheil«, die nun25 Vgl. K Trl/Jlhn.lndi.lllnscnb«t: Europc.llll .lind Brilish Wrilingon Indi.li 1600-1800. Ddhi
1995, S. 23Off. 26 Vgl. umWs<-nd: H. uumu.l'Exp&huon d·EgyplC 1798-1801. PUlS 1989. 27 J.- B. Mailly.l'esprit d~ Croiud~. Dijon 1780. Bd. I. S. 3. 28 C. Ma/~-Bn"., I'r&is dc b ~'T.lIplllc unlVcrsdle, Bd. 6. 1).lIns 1826. S. 2. 29 Vgl. E. W S4iJ, OricnulislIl. london 1978. Sicm. .lIuch K.apud 10 In d'~111 I»nd.
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mehr vor den Augen der Europäer ausgebreüet liegcXl-, aus einer Vielzahl, aus welcher Europa als Primus, aber nicht als Richter und Herrscher über die anderen hervorragte, wird nun eine Leiter der Zivilisiertheit,.3 scale ofcivilizatiol1ll, mit dem gegenwärtigen Westeuropa als Maßstab und Vollendung - und allen anderen aufden unteren Rängen.ll In solcher Zivilisationssemantik. wie sie das t 9. Jahrhundert prägen wird, läßt sich jeder Eingriffals .humanitäre Intervention« rechtfertigen: die Versenkungder türkischen Flotte durch die Großmächte im griechischen Freiheitskampf, die .Befreiung« AJgeriens vom menschenraubenden Korsarenregime, das Verbot der Witwenverbrennungen in Britisch-Indien, die gewaltsame Öffnung der "viderspenstigen ostaSiatischen Reiche China und Japan rur Freihandel, Christemum und ordentliche diplomatische Umgangsformen. Alle diese Maßnahmen oder einige davon mögen durch allgemeingültige Rechtsnormen begründbar sein und viel Gutes bewirkt haben. Doch dies fuhrt zur Relativismus-Universalismus-Debatte: einem neuen Thema. So also entstand aus einem pragmatischen und meist am Einzelfall bewiesenen europäischen Überlcgcnheitsgcmhlum 1800 der moderne Europazcntrismus. Er war zunächst iuklusil/: Die gesamte alte Kultur Indiens, sagt 1835 der HislorikerThomas Babington Macaulay, als erJustizminister Indiens ist und an einem Gesctzbuch arbeitet, das im wesentlichen heute noch gilt: sie ist weniger wert als ein Bücherbrett mit den Klassikern des Abendlandes. Die indische Elite muß sich ohne Vorbehalte anglisieren.32 Aber wenn sie dies {Ut, dann wird es perfekte Gentlemen mit bnuner Haut geben, sie werden einst ihr Land ohne fremde Hilfe regieren, und irgendwann mag an den Ufern des Ganges ein indischer Shakespcare oder Newton erstehen. Der i"kl"sivt Europazentrismus. der die Selbstbestimmung Europas in der ersten Hälfte des 19. JahrhundertS tief geproigt hat, der in der Abenddämmerung des Kolonialismus wieder auftritt und dann in die anglo-amerikanischen Modernisierungs- und EIltwicklungstheorien der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg übergeht, ist nicht rassistisch: Kein Volk wird durch angeborene, unkorrigierbare Mängel dann gehindert, die höchste Sprosse aufder Leiter der Zivilisiertheit zu erklimmen. Der Europazentrismus wird exklusiv, sobald man die lIscale ofcivilizationll als Rassen hierarchie interpretiert und den Anderen die 30 .A gre:lot m~p ofnuukind.: T. IV. Coprlartd (Hg.). Thc Corrcspondcnce of Edmund ßurke. ßd. 3. Call1bridge 1961, S. 351. 31 Grundlegend zurcuropiischen ßegnlT.sgeschichle von .Zivilisation,,:). FiKll. Zivilisauon. Kultur. in: o. BnmMr u. a. (Hg.). GeschIChtliche GrundbcgrilTe. HIstorisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. ßd. 7. SlUtlg,Ut 1992. S. 679-n4. Zu Theorien zivihutonsch-r.tsslscher Hier.trchie aus der Sicht eines ihrer Gegner: H. F. Augs'nn, James Cowlcs Prkhlold·s Amhropology; Remalong the SclCnce of M;1I1 in Early Ninetecnth-Ccntury BnulIl. Amuenhm 1999. S. 129-147. 32 T. B. MacauLay. MlIlute 01'1 Indian Educatten. in: Dm.. 5eleeted Wruings. hg. v.J. aj~"t' u. T. Pinnq. Chicago 1m. S. 249.
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Chance der Europäisierungverweigert. Dies geschieht allgemein um die Mitte des 19.Jahrhunderts, in Indien etwa nach dem großen anti-britischen Aufstand von 1857.13 Jedem Volk, so heißt es nun, sei sein Schicksal natürlich bestimmt. Eine .mission civilisatrice« könne den Massen einfache Kulturtechniken vermineln und an Einzelnen Dressurwunderder kulturellen Konversion vollbringen, aber sie werde niemals die Wertskala der Völker umstürzen. Diese Idee bestimmte das europäische Selbstbild im Verhältnis zu den anderen Zivilisationcn weit über 1914 hinaus. Mit der fortschrittsphilosophischen Selbstverortung Europas über statt liebe" den anderen Kulturen, mit dem Übergang von der Zivilisationstheorie zur Zivilisierungsmission, von der Lcrnbcreitschaft zum Belehrungsdrang gingen spätestens nach Alexander von Humboldt - Haltungen der Aufklärung verloren, an die zu erinnern heute wieder lohnt. Auch die Bedingungen, umerdenen sie möglich wurden, ähneln vage denen der Gegenwart. Stand Europa noch im 16. und 17.Jahrhundert im Schatten der Anderen - eines militärisch offensiven Osmanischen Reiches, eines als grenzenlos wohlhabend eingeschäczten Mogtal-Indien, eines weise regierten China - und schaltete es im 19. Jahrhundert selber nach Gutdünken in der Alten Welt, so befanden sich Europa und Asien während der Zeit dazwischen in einer Art von machtpolitischem und wirtschaftlichem Gleichgcwicht.)t Diese Balance ennöglichte eine Offenheit, wie es sie früher und später nicht gab. Durch eine seriöse, als gelehrtes Genre gehende und öffentlicher Kritik unterstehende Reiselireratur war das europäische Publikum kaum schlechter über die Verhältnisse in Asien orientiert, als dies womöglich im Zeitalter von CNN-Nachrichtenclips der Fall ist. Der Eigensinn außereuropäischer Zivilisationen wurde anerkannt, man forschte nach ihren Bauplänen und ßcweb'1l11gsgcsetzen. Asiatisches Wissen - die Geschichtsschreibung Chinas und Persiens, die Pflanzenkenntnis und taxonomische Kunst tamilischer Brahmanenfloß in europäische Texte ein.JS In der LiteraturvOIll Typ der Montesquieuschen IILcmes Persanes. von 1721, wo der besuchende Orientale Europa den Spiegel seiner Verwunderung vorhält, war im besten Falle die Kolltextverfrcmdung mehr als ein Mummenschanz und satirischer Trick. Molltesquicu selbst oder in anderen Formen Vohaire und Didcrot bemühten sich zumindest um die, wenn man so will, alilhelltische Fiktion einer Außcnsicht auf Europa: So ähnlich kömttetl Perser oder Südseeinsulaner über Europa gedacht haben. J6 JJ vgl. Jis Übersicht 1. Gtiu, Geschichtt' des Rassismus. Fr.ronkfun a.M. 1988. S. 193fl:; 1\1. Ban/on. RxiJI Theorics. umbridgc 1987. S. 28fl: J4 Vgl. Juch G. S. RouMt!tlu u. R. Ponn. IllIroduetion: Appn»clung Enlightt'",~111Exoticlsm. 111: Dia. (Hg.). ExollClsm In Iht' Enlightt'nment. Manchcstt'r 1990. . 1-22. hier S. 14. 35 Vgt als lkispicL R. H. Grot>r'. Grttn Impt'rialism; Colomal ~nsM>n. Tropial bland Edem Jlld tht' Origins of Envlronrnt:nt2lIism. 1600-1860. umbndgc: 1995. S. 73([ 36 Möglich wurde dlcs durch t'ine sorgfliltigc Auswenullg zeugeJlÖSslscht'r Reisebeschreibungen. Vgl. M. DoddJ, Lt's rfcits de ...~; sourct'S dt' I'Esprit des Lais dc MOlllesquietl. Puis 1929.
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Manche Reisende - an erster Stelle der grandiose Arabienschilderer Carsten Niebuhr, der Vater des Historikers - W3ren frei von jeder europäischen Arroganz und bewiesen eine erstaunliche Einfuhlung in die Weitsicht der orientalischen Gastgeber. J7 EdW3rd Gibbons diskursive Gerechtigkeit und ironische Equilibristik der Urteile löste die Grenzen zwischen lnnen- und Außensicht auf: Die schlimmsten Barbaren auf mehr als dreitausend Seiten ltDecline and Fall of the Roman Empire. sind keine _asiatischen Hordem, wie sie die Geschichwchreibungdcs 19.JahrhunderlS unentwegt gegen Europa _anbr.mdelu sieht, sondern die christlichen Kreuzritter, die Muslime·und Juden massakrierten und Byzanz verwüsteten. Es fehlte nicht an Warnungen vor ethnozemrischer Befangenheit und an Vorschlägen, sie zu venneiden. Der Schotte Adam Fcrguson skizzierte 1767 eine Art von Wissenssoziologie des Ethnozemrismus.)/l All das genügt selbstverständlich nicht den strengen und vielleicht unerfüllbaren Anforderunb'Cll jeller, die heute von sich behaupten, das Fremde ltaus sich selbst herausK verstehen zu können. Jedoch unterscheidet sich das relativierende transkulturelle Perspektivenspiel der Aufklärung, die Prismatik ihrer Kulturauffassullg ganz unübersehbar von der späteren Platzanweisermentalität eines triumphierenden Europa. Im 18. Jahrhundert verglich sich Europa mit Asien; im 19. hielt es sich für unvergleichlich - und W3r mit sich selbst allein.
111. Die Annähemngeuropäischer Intellektueller an Asien bliebeinscitig. Als Europa sich am weitesten öffnete, war das asiatische Interesse an ihm gering. Ocr große Wissenstransfer l\vischen den KultUren, von dem Lcibniz um 1700 nicht nur träumte, den er, der erfahrene Wissenschaftsmanagcr, vielmehr zu organisieren versuchte - er ist nicht zustandegckommcn. Die Jesuiten in Pcking, auf die Lcibniz baute, waren nur halbherzig bei der Sache. Die chinesischen Kaiser und ihre konfuzianischen Beamtengclehnen nutzten die Fachkompetenz der Missionare als Astronomen, Kartographen und Baumeister, ohne von ihnen viel über Europa erfahren zu wollen, 30m wenigsten über das Christcntull1.J09 Einzig und allein Japan, das seitJahrhullderten VOll China gelernt hatte, betrieb 37 C. Ninmlrr. nciscbeschreibung n~ch Arabien und ~ndcrcn umlicb"C'ndcll ündcrn.3 Bde.. Kopcnh:agcn u. I-I~mbllrg ITI4-I837. 38 VgI.A. Fnguson. Versuch über die Geschidlle der bürgerlichen Grscllsch~ft 11767). hg. v. Z. Baurlw u. H. Mtditlr, Frankfurt ~.M. 1986. S. 120-12839 ulbniz entwickehe seine Plä~ vor ~lIclll 1111 ßriefWechsellllit P~tcr jO,ldllm BouveL Vgl. C. IJ. CAlLJni (Hg.). Eim wisscnsduftllchc Akademk fiir Chnu. Dnefe des Cllln~missionu5j~ chim 80uvet SJ. ~n Goufrkd Wilhdlll ulbmz und jC:l.II-P,ml ßIgnon über dir Erforschung der dUl1csischen Kultur. Sprxhe und GeschIChte. Stuttgan 1989; R. IVwmQitr (Hg.). l..cibniz korrespondiert mit Chim.. Der Brie"'-a:hselmil den jcsuitenmlssao.uren. Fr.lIIIkfun .J.M. 1990.
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schon seit dem 17. Jahrhundert so etwas wie eine Okzidentalistik. Nur die I-Iolländerdurften mit ihren Schiffen nachJapan kommen. Sie mußten Bücher mitbringen, zunächst in holländischer Sprache, später auch auf Englisch, Französisch, Russisch. Ein richtige Übersetzerbürokratie wertete diese Literarur aus. 40 Als in den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts die ersten japanischen Delegationen nach Europa und Nordamerika reisten, glaubten ihre Gastgeber, die pittoresken Samurai mit ihren Schwcrtern und I-Iaarknotcn durch Fabrikführungen verblüffen zu können. Weit gefehlt: Man kannte in Japan bereits viele der technologischcn Handbücher des Westens und reagierte weniger mit sprachloser Überwältigung als mit sachlichem Interesse am Det:ail.(1 Die Auseinandersetzung Asiens mit Europa begann, von Japan abgesehen, erst im 19. Jahrhundert, im Zeit:alter des Imperialismus. Niemals war sie eine gelassene Betrachtung des Fremden aus sicherer Distanz, stets stand sie unter dem Dmck von Bedrohung und Kulrurverlust, von Rettung und Reform des Eigcnen. 42 Gewiß kann man ein Spektrum von Einstellungen abstecken, wie sie sich, wenn man nur stark genug verallgemeinert, in den meistcn außereuropäischen Zivilisationen finden lassen. 43 Dieses Spektrum reicht von der völligen Abwehr des Westens bis zur unbegrenzten kulturellen Kapitulation vor ihm. Aber ein solches Repertoire von Reaktionsweisen zu entwerfen, wäre eine ziemlich akademische Übung von fraglichem Nutzen: Jede Begcgnungssiruation war eine ganz besondere, jede asiatische Reaktion bleibt undurchschaut ohne die Kenntnis ihres Hintergrundes. Was läßt sich da Allgemeines sagen? Asiaten hatten selten die Absicht, zur Selbstbestimmung Europas beizutragen. Heute haben sie diese Absicht weniger denn je. Die Kontraktion Europas sctZt sich fort. Sein politischer Einfluß reicht nicht einmal aufden Balkan oder bis Zypern. Postkoloniale Sonderbeziehungen sind verschwunden; selbst Australien und Neusecland sehen sich nicht länger als Brückenköpfc des Britentums, sondern als pazifische Under. Die europäische Asienpolitik, jedenfalls die deutsche, geht über exporrpflegcrische Dienstleisrungen kaum hinaus; sie hat sich konsularisiert. Europas wirtschaftlicher Einfluß hat mit historischen Traditionen nurmehrwenig zu tun; er ergibt sich unmittelbar aus der konjunkturellen Tagesforrn. Die Interventionslllöglichkeiten, die sich während dergroBen asiatischen Finanz- und Währungskrise vom Herbst 1997 eröffncten, nutz40 vgl. G. K Good"um. J~P;U1: Th~ oUich Expc:rience. London 1986; Hind:tlw'fl SltAtthiro. Ja~n's Turn to the: WCSI, in; M. B.Jarunt (Hg.). The Cambridb'C HislOry of Jap~n. ßd. 5; Th~ NIII~[~mh Cc-mury. Cambridgc 1989. S. 435fT: 41 Vgl. ~lW:l Fwkuz./lwIIJ Yukirlli. Ein~ aUlol)lographisc~ l...C'bcnsschllderung. dt. w. G. LinzbKhI~r. Tokio 1971. S. 133-137. 42 VgI.J. OnnIwmmd u. N. P. PtImson. Oswic:ns J~hrhund~"wende.Ullle:rw~rfungund ErIleuenlllg in .....'CSt-östlich~1l Sichr.....·eiscn. in; U. Frrwn (I-Ig.). Du Neue J~hrhunde".Europlisch~ Ztildiagnoscn und Zukunftsentwilrfe um 1900. Göningcn 2000. S. 265-306. 43 Einen solchen Versuch unternimml D. C. GoniOrl. Images of lhe West; Third World P~r spcctiwes. TotoWöl. NJ. 1989.
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tc vor allem der Intemationale Wahrungsfond, dessen Politik eng mit derjenigen der USA abgestimmt ist. Daß auch die kulturelle Ausstrahlung Europas in Asien, vielleicht mit Ausnahme Indiens, an Kraft verliert, kann nicht verwundern. Chinesische Schüler lernen Englisch und Japanisch, dann mit großem Abstand Russisch, selten Französisch oder DeutsCh. Die bem'erkenswerte japanische Gennanistik muß ~it einigen Jahren in großem Umfang Stellen an die China- und die Nordamerikakunde abgeben; der Romanistik ergeht es ähnlich. Auch eine einfallsreichere auswärtige Kulturpolitik hätte dies verrnllt~ich nicht verhindern können. Was läßt sich lIislorisl1, zu den asiatischen Differenzwahmehmungen feststellen? In der frühen Neuzeit, als sich in Europa selbst ein Europabegriff erst langsam und unstetig herausbildete, hane man in Asien selbstverständlich kein -.Europabildtl, sondern alJenf.alls ein diffuse Vorstellung von einem geographischen Westen, aus dem .Barbarem einer besonderen Spezies angereist kamen, gezwungenermaßen friedlich in China und Japan, bewaffnet überall sonst. An den gelehrten Jesuitenmissionaren des 16. und 17. Jahrhunderts fiel ihre Andersartigkeit - etwa der Zölibat oder ungewöhnliche religiöse Riten - weniger auf, als ihre Bereitschaft zur Mimikry an die einheimische Kultur. Als deUtlich verschieden erschien Europa zuerst in der Gestalt des Militärs. Daß seine militärische Überlegenheit - allerdings fur lange Zeit nur eine lok.-lle, punktuelle, aufKüstenbascn begrenzte - aufSchießpulver und Artillerie beruhte, verstand man schnell. Indische Rajas, malaiische Fürsten, später auch Sultane im geschwächten Osmanischen Ileich versicherten sich der Dienste europäischer Waffenschmiede und Militärbcrater. Auch im 19. Jahrhundert, als cin früh industriellcs Europa in Asien vom bewaffneten Handel zur Kriegfuhrung überging, war der erste AbwehrreOex in Ländern \vie China und Ägypten der Aufbau einer eigenen Rüstungsindustrie. Was außer den Japanemjedoch niemand begriffund nachahmen konnte, w;u die An von Staatlichkeit, die die westeuropäische Expansion ermöglichte: der aufständige KriegsbcreitsChaft hin organisierte Steuerstaat. Mit ein paar vereinzelten, kaum regulär zu finanzierenden Kanonenfabriken war es nicht getan. Auch die wenigen orientalischen Ileisenden, die vor etwa 1860 nach Europa kamen und darüber schrieben - zunächst vor allem osmanische Diplomaten wie der scharfsichtige Mehmed Efendi, der 1720 Paris besuchte -, entschleierten nicht die tiefsten Geheimnisse Europas, notierten aber eine Reihe von aufschlußreichen Beobachtungen. Ihnen fielen vor allem das öffentliche Auftreten von Frauen und überhaupt die fehlende Trennung zwischen männlicher und weiblicher Sphäre auf, die religiöse Intoleranz der Christen gegenüber Fremden und untereinander, das Sclbstbcwußtsein der Aristokraten und ihr nahezu familiärer Umgang mit ihren Monarchen. daneben die Sonderrechte .freier. Städte. der perfekte Drill des Militärs, der hohe Stand der Medizin, die Inszenierungf,"Cmeinschaftlichen Essens (etwa eines aristokratischen Diners) als öf-
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femliches Ereignis sowie dic erstJunliche Einrichtung der Oper, in der, so schien es, privateste Emotionen hemmungslos zur Schau geStellt wurden. Mehmed Efendi war auch höchst erstaunt über die große Zahl ar.llbischer und türkischer Manuskripte und Koranexemplare in der Bibliothek des französischen Königs. In seiner Heimat gab es keine vergleichbaren Sammlungen europäischer Litcrdtur. 4ol Diese frühen Europaberichte dienten einer eher naiven H.echenschaftsIcgung fiir die Obrigkeiten zu Hause. Manche davon wurden zeitgenössisch nicht veröffemlicht. Die Suche danach, was aus der Europaerfahrung anwendbar zu lernen sei, lag ihren Verfassern noch fern. Seit etwa der Mitte des 19. JahrhundertS änderten sich die Bedingungen der asiatischen Wahrnehmung Europas dann fundamental. Die Gründe dafür waren zum einen die um sich greifende Kolonialherrschaft und eine sehr aktive christliche Mission, zum andercn die Tatsache, daß nunmehr eine wachsende Zahl von Asiatcn die maßgebenden Autoren Europas im Original zu lesen verstand und viele der philosophischen und gesellscllaftstheoretischen Klassiker - von Montesquieu und Adam Smith über Fran~ois Guizots ungemein einflußreichc ItHistoire de 1a civilisation en Europc41 von 1828 bis zu Zeitgenossen wie John Smart MiIl, Herbert Spencer oder Ernst Haeckel - ins Japanischc, Chinesische oder Osmanische übersetzt wurden. Die entstehende Intelligentsia in nicht kolonisierten Ländern wie Japan und China hatte am ehesten noch die Chance, die europäische Geisteswelt breit kenncnzulernen und eigene Vorlieben zu emwickeln."s Aber was übersetzt und rezipiert wurde, hingdennoch von Zufallen des Kulturtransfers ab: eben Hackkcl und nicht Hegel, nicht Kam, sondcrn ein Neukanti:mcr wie Friedrich Paulscn, dcr mit seiner Lehrc vom Willen den jungen Mao Zcdong ticfbeeindrucktc. 4ft In der kolonialen Welt gab das staatliche Erziehungswesen, dem eine hauchdünne Elite ausgeselZt war, die Richtung an. Die Inder und Ceylonesen wurden britisch, die Vietnamesen fr::anzösisch, die Indonesier holländisch geprägt. Jeder sah seit! Europa. In Japan und China war der amerikanische Kultureinfluß bereits seit den funfziger Jahren des 19. Jahrhunderts ungewöhnlich stark. Hier entstand zuerst das neue Konzept cines euro-amerikanischcnItWcstcns«, in dem sich die nationalen Kulturprofile und erst recht das ohnehin schwer greifbare Gesamteuropäische verschliffen. Noch komplizierter '\vurdc die Lage dadurch, daß China dcn Westen weithin durch eine japanische Brille 44 F. M. GD{tIr. Eut Encouß[~rs West Fr.mc~ and th~ Duornan Empire in thc Eigtllttmh Omury. Oxford 1987. S. 7f[ 45 Vgl. ausfUhrlicherj. OSlnIwmmd. Transfcr und Migration \'Onldttn. China und der W(St~n im 19. und 2O.Jahrhundcn. in: U. Faa u. B. Zitgkr (Hg.). Das Eigenc und chs Fremdc. F(Stsehnfl rur Urs Biu~r1i. Zürich 2(8). S. 97-115. 46 Vgl. F. W
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W3hrnahm. Viele der chinesischen Fassungen westlicher Bücher, etwa der marxistischen Grundschriften, waren Übertragungen aus dem Japanischen."7 Dies schuf ganz erhebliche terminologische Verwirrungen. Die exportf.ihigen europäischen Großideologien des 19.JahrhundertS W4.ren Liberalismus, Nationalismus, Darwinismus und Sozialismus. Den Konservativismus hatte man selbst. Die Vcrbindungcigcner Traditionen, die kaum jeman- \. dem eindeutig und selbstverständlich blichen und die gründlicher Ncubcwertung, Neugestaltung und manchmal sogar _Erfindung, bedurften, mit stets auf die eigene Situation hin interpretierten geistigen Importen war selbstverständlich das große Thema.:l iatischer Intellektueller seit etwa der Mitte des 19.JahrhundertS. D.:Irübcr läßt sich nichts sagen. das aufChin.:l.Japan, Indien und den islamischen Bereich gleichermaßen zuträfe. Zwei Vorwürfe aber machte man dem Westen allgemein: den des nachen Materialismus und den des Verr.lts an den eigenen Idealen. Spätestens nach dem Erst'en Weltkrieg, als die Europäer ihre eigene Zivilisationspropaganda Lügen straften und 1919 Präsident Woodrow Wilsons ItVierzehn Punktel( in binerer Ironie durch die Unterstcllungdes vordem osmanischen Nahen Ost'cns unter britische und französische Völkerbundsmandate zu einer historisch beispiellosen Ausdehnung europäischer Kolonialherrschaft führten, stand Europa in asiatischen Augen da als die Zivilisation der Heuchelei. Asiatische Intellektuelle kamen mit diesem Vorwurf übrigens gut zurecht. Sie ließen sich selten zu einem grob-mollolithischen Europabild verführen. Chinesische Professoren und Studenten prOtestierten 1919/ 20 gegen den britischen Imperialismus und luden zugleich Bertrand nusseil zu Vorträgen über Demokratie, Wissenschaft und nationalismus ein. Die dissidelHen Angebote Europas lagen bereit: der Anarchismus KropOtkins, ein, christlicher Sozialismus, der Marxismus - seit 1917 als bolschewistisch geschärfte Waffe. Das Wichtigste von dem, "vas Europa in Asien (und anderswo) hinterließ, wurde kulturell eingemeindet. Daher gibt es den munI Außcnblick aufEuropa gar nicht, der es mit Kinderaugcn anschaut und Wahrheiten enthüllt, die im mühevollen Leben einer Kultur verborgen bleiben. Die teils staunende, teils schelmische Unbefangenheit eilles Mehmed Efendi ist nicht mehr möglich. seit die Wcltrcvolution der Verwestlichung unaufhaltSam geworden ist. VOll Europa bleibt vor allem viererlei: die modernc Naturwissenschaft, das Christentum, SprJchen und IlcchtSbcgriffe. Nichts an dieser Stelle zur Naturwissenschaft; das Thema ist zu groß. Das Christentum hat sich nahczu überall, am eindrucksvollsten in den jungen Kirchen Afrikas, von scinen kolonial-missie-
47 nIes ZClgt schön W. Lippnt, ElllSlchung und En[WIcklung cimgcr dunCSlscher maT:!nsuscher Termini. Der Iexiblisch.bcgriffiiche Aspekl der HClepuon dL'S Marxismus in Japan lind China. Wicsl»dcll 1979.
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narischen Ursprüngen gelöst. 4H Es wird nur noch in den Verschwörungsvisionen chinesischer Parteikader als Speerspitze westlicher Subversion verdächtigt. Über die kreative Verselbständigung des Englischen und Französischen, des Spanischen und Portugiesischen in Übersee braucht nichts weiter gesagt zu werden. Überall entstanden post-koloniale Literaturen in den Sprachen der ehemaligen Kolonialherren. Schon Rabindranath Tagore, der äußerlich wie eine Verkörperung eines ganz europafernen Indien erscheinen mag, war ein Meister englischer Prosa, und wer könnte heute Salman Rushdie oder, in der Lyrik, Dcrck Walcou an sprachlicher Virtuosität im Englischen übertreffen? Schließlich das Recht. Eine große Errungenschaft Europas ist die repräsentative und kompetitiv-pluralistische Demokratie, eine ebenso große - und das haben Intellektuelle in Asien immer wieder anerkannt - ist der Rechtsstaat: die Unabhängigkeit einer korruptionsfreien Justiz, die selbständige Advokatur, die tatsächliche Gleichheit aller vor dem Gesetz, das Recht auf Berufung bei höheren Instanzen, die garantierte Regelmäßigkeit des Verfahrens, die Kontrolle von Polizei und Strafvollzug durch J ustizbchörden, die Verwaltungsgerichtsbarkeit. Welch ein ungeheurer zivilisatorischer Fortschriu - und so etwas verstand der große David Hume unter )lZivilisation(( -, wenn ein Bürger sich ohne Furcht vor Repressalien gegen Bürokraten zur Wehr setzen kann! Vieles läßt sich dem britischen Empire vorwerfen, aber es hat selbst zu den Zeiten, als seine Reichsideologie zu einem rassistisch-exklusiven Europazentrismus neigte, die Herrschaft des Gesetzes in Asien und Afrika verbreitet..t9 Gar nicht zufallig waren Führer der indischen Freiheitsbewegungwie Mahatma Gandhi,Jawaharial Nelttu und Muhammad Ali Jinnah Rechtsanwälte, und ebensowenig überraseln es, daß der Haß der Algerier aufdas französische Regime weitgehend aus dem »indigenat« resultierte, einem harschen Sonderrecht fiir Muslime, wie es in solcher Schwere im britischen Weltreich unbekanm war. Der Rechtsstaat blieb unter kolonialen Bedingungen immer kompromittiert und unvollständig und oft eine Farce. Die Gewaltenteilungwar in der Regel unvollständig institutionalisiert, das Gewicht der allgemeinen Verwaltung gegenüber der Judikatur nicht selten erdrückend. 50 Doch dort, wo die koloniale Autokratie Spiel räume ließ, bemächtigten sich findige Advokaten europäischer Rechtsvorstellungen
48 Vgl. U. v. d. Hrydt'l lI. H. UtiHlil (Hg.), Missionsgeschichte. Kirchenb'Cschichte, Wcltgeschicillc. Christliche Missionen im Kontext nationaler Entwick.lungen in Mrik..a, Asien und Ozeanien, SlUngan 1996;A. Hastings, Thc Chllrch in Africa 1450-1950, Oxford 1994. 49 Vgl. fUr Indien etwa D. ROllJmmmd, The lcgacy of the British-Indian Empire in Indepelldem India. in: w.]. Momm,Slm u.]. Ostmummrt'i (Hg.), Imperialism and Mter: Cominuities and Diseominuities, London 1986, 5.143-145. 50 Dies war selbst don der Fall. wo redusstaatliche Prinzipien vergleichsweise gründlich beachtet wurden. Vgl. Hir Indien: D. Gmrad. Administrative Jurisdiction and the Civil CourtS in the Regime ofLand·law in lndia, in:]. dt Moor u. D. ROlhmlllllld (Hg.), Dur Laws, Thcir Lands: Land Laws and Land Use in Modem Colonial Societics. Münster 1994. S. 134-154.
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und wandten sie gegen die weißen Herren. In selbständigen Ländern wie Japan, Siam und der Türkei wurden ganze Rechtsbereiche aus Frankreich, der Schweiz oder Deutschland übernommen und teilweise den einheimischen Umständen angepaßt. Aus asiatischer Sicht war Europa also eine Quelle von Recht, das einheimische Rechtsvorstellungen einerseits ergänzte, andererseits konkurrierend in Frage stcllte. Diese Wahrnehmungen und Erwartungen solltcn bei der heutigen Diskussion um die Universalität der Menschenrechte nicht vergessen werden. Aber man sollte auch nicht übersehen, daß es mit der bloßen Proklamation hoher Prinzipien nicht getan ist. Alles Mögliche bnn folgenlos zu Gesetz und Verfassungsnorm erklärtwerden. Politisch wirksam ist erst die Verbindungvon Norm und Verfahren, eine europäische Erfindungjenseits des kulturellen Imperialismus. Europäisches Recht ist weniger vollständig assimiliert worden als Sprache und Religion. Von ihm bleibt ein kritischer Überschuß, den außerhalb Europas die Kämpfer Hir Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit bewahren.
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4. Neue Welten in der europäischen Geschichtsschreibung der Frühen Neuzeit
Im zweiten Quartal des 19. jahrhunderts verschwindet die Geschichte der außereuropäischen Welt aus dem Bildungshorizom des bürgerlichen Publikums und aus dem Themenkreis von allgemeiner Fachhistorie und geschichtsphilosophischer Spekulation. Universalgeschichte behandelt fortan die Weltgeschichte Europas. I Außereuropa, namentlich Asien, verflüchtigt sich ebenfalls aus anderen, bis dahin vielfach kulturvergleichenden Diskursen wie der politischen Okonomie und der politischen Theorie. Momesquieu und Adam Smith sahen Europa noch im größeren Zusammenhang; bei ihren Nachfolgern im frühen 19.jahrhundertverengt sich das Blickfeld. Interesse an und Wissen über Außereuropa geht nicht verloren, doch es wanden in eher periphere Zonen des europäischen Bewußtseins: erstens in die sich nun professionalisierenden oriemalistischen Disziplinen wie Arabistik, Indologie oder Sinologie, die sich vorwiegend als altcrtumskundlichc Philologien verstehen; zweitens in eine enthistorisierte Geographie sowie in neue, zunehmend geschichtsferne Fächer wie Religionswissenschaft, Völkerpsychologie und Ethnologie; drittens in den Bereich kolonialpraktischen Herrschaftswissens, wie es die Briten in großem Stil über Indien anhäuften;2 v iertens in eine exotisierende und orientalisierende Populariiteratur. J In der Epoche der Öffnungjapans und Chinas, eines neuerlichen Vordringens gegen die islamische Welt und des verstärkten kolonialen Zugriffs auf Indien und Indonesien, entledigt sich die europäische Historiographie ihres außerokzidentalen Ballasts. Gleichzeitig kappt sie- wenn Martin Bemal recht hat· -jene genealogischen Linien, die Hellas mit seinen altorientalischen Voraussetzungen verbinden. Niemals vor etwa 1830 und kaumje wieder nach 1920 ist die Auffassungderarr mächtig, die farbigen Völker in Übersee seien "geschichtslos«
1 Vgl. rur DeutsChland; E. Sth/l/in, Die weltgt'schichlliche Erfassung des Orients bei Hegel und lunke. Göningen 1958. 2 Vgl. T. R. Mrtea/f. Ideologies of the Raj. Cambridge 1994. bes. S. 113fT:; D. Ludfkn. Orientalist Empiricism: Transform~lions ofColoni~1 Knowlcdge. in: C. A. Bmktllridgt u. P. llltll dtr Vw (Hg.). Orientalism and the Postcoloni~1 PrediClllmem;Pcrspeclives on South Asi~. Philadclphi~ 1993. S. 250-728. 3 Vgl. z.B. R. Iv. Wi,,1u u.J. R. Rush (Hg.).Asi~ in Western FicIion. Manchester 1990. 4 M. Bema/. BlackAthen~: The Mro~si~tic Roors ofClassic~1 Civilization. Bd.1. London 1987.
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oder besäßen allenfalls eine Geschichte, die das Studium nicht lohne. Aufdem Höhepunkt der europäischen Wcltstellung verdunkelt sich der beherrschte Rest der Menschheit. Diese Ausgrenzung der Anderen bleibt Episode. Sie ist kein irreversibler Modernisierungsertrag in der Entwicklung historischen Denkens. In den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts beginnt in Europa - in Deutschland allerdings bis heute mit erheblichen Hemmungen - eine neue Epoche der Erforschung der 3ußereuropäischen, gerade auch der /leI/eren außereuropäischen Geschichte.
I. Atnerika - Süd- lIud Nordamerika - war die spektakulärstc Neue Weh, die um 1500 von Europäern entdeckt wurde, aber keineswegs die einzige. Die Entdekkung AJnerikas hatte nicht nur literarisch einen asiatischen Hintergrund~ - sie warTeil eines Quantcnsprungs europäischer Welterfassung. Seil 1434 rissen die Informationen über Weseafrika (zunächst Guinea) nicht ab. Bald nach der ÖfTnungdes Seewegs nach Indien (1498) strömten Berichte aus Südasien und dt'm insularen Südostasien nach Europa, zunächst hauptsächlich nach Portugal. 1543 erreichten die ersten Europäer das bis dahin nur gerüchteweise bekannte Japan; seit 1547 wurde kontinuierlich von don berichtet. Die neuzeitliche Chinabcrichtcrstattung aus erster I-land begann 1615 mit dem Chinabuch der Jesuiten Ricci und Trigault. Fast gleichzeitig erschienen erste Beschreibungen der Länder Indochinas. Im 16. Jaluhundert wurde dann das Osmanische Reich Gegenstand einer umfangreichen Literatur, zunächst hauptsächlich in Italien. Das Studium des arabischen Kulturraumes begann, nach bedeutenden mittelalterlichen Anfangen, in den dreißigerJahren des 16.Jahrhunderts mit Guillaume PoSteI. Seit dem frühen 17.Jahrhundert gab es eine reichhaltige Persienlitcratur. 1549 berichtete Sigismund Freiherr von I-Icrbcrstein in einem vielgelesenen Buch aus dem Landc der Moskowiter. Das wichtigstc Medium unmittelbarer europäischer Welterfassung war während der gesamten frühen Neuzeit die - oft illustrierte - Reisebeschreibung, eine tendenziell erfahrungswissenschaftliche Literaturgattungvon hohem Prestige in der europäischen Gelchrtenwelt. 6 Atldere wichtige Gattungen von 5 Vgl. F. RrUlrm. Colurnbus und Marco Polo - Asien in Amerib. Zur Litenrurgcschiclue der El1tded:.un~,.en, in: ZI-IF.Jg. 15. 1988. S.l-63. 6 Den surken Empiriebczug auch schon der iiberseeischen Ikisebcbeschreibungcn des 17. Jahrhunderts. nichl crsl der I-Ioch- und Sp:it:lUfk1:irung, bclont zur«hl E.J. Lad, The Mind ofthc Tn.vcler: Fmm Gilg:tmcsch 10 Global Tourism. New York 1991. S. Inr., S. l88f. Vgl. auch). OSltrhammd. Von Kolumbus bis Cook. Aspekte dner Lilen.lUr- und ErfahrungsgcschiclllC' dcs ühcrseeischen RciscllS, in: M. Mrlllrtr (Hg.). Neue Impulse der Reiscforschung, I3crlin 1999, S. 97-
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Primärqucllen sind Konquistadorenerzählungen, missionarische Relationcn (vor allem aus Japan, China, Nordamerika) und Gesandtsehaftsberichte (aus dem Osmanischen Reich, Iran, China). Schon früh wurden diese Quellen in Amhologien und Reisesammlungen zusammcmgefaßt, redigiert und europaweit verbreitet. Das Ubersetzen des geographisch-völkerkundlichen Materials in die wichtigeren europäischen Sprachen wurde zu einem zügig arbeitenden verlegerischen Großgewerbc. Das gelehrte Publikum rezipierte die primären Informationen vielf."lch aufdem Wege über Vermittler und Nachrichtenmakler (Richard HakJuyt, Theodor de Bry, Giovanni Botero, Erasmus Francisci, U.3.). Die Ileisenden selbst orientierten sich vielfach an den Informationsbedürfnissen von Auftraggebern und potentiellen Lesern, z.T. formuliert in den Handreichungen der Apodemik oder Reisekunst. Man muß, grob gesagt, einen zweistufigen llezeptionsprozeß der Originalnachrichten annehmen: Zwischen den schreibenden Augenzeugen und illTen Lesern standen Vermittlerinstanzen des literarischen Marktes oder - ct"'.... im Falle der Jesuiten - der lIPublic Relations«. Durch die ordnenden und zusammenfassenden, in der Rcgel regiollenübergreifenden Werke curopäischer Kompilatoren und Redakteure ergab sich zudem ein globales Verweisungsgcfuge, das zum Vergleich zwischen partikularen Fällen einlud. Die in 311 diesen Textarten verstreuten historischen Nachrichten bildeten wichtiges Material ftirdie Geschichtsschreibung. Geschichtsschreibung über außereuropäische Länder war zunächst Zeitgeschichtsschreibuug. Außereuropa erschien keineswegs durchweg als Region der Uniformität und des Stillstandes, sondern oft aisAren3 großer Begebenheiten. Es war teils Schauplatz europäischer Hcldentaten1 und auch heroischer Fehlschläge;8 tcils war es die Bühne bedeutender einheimischer Umwälzungen. Wer die »Revolutionen der Ileiche. studieren wollte - und Weltgeschichte wurde gesehen als JKIic Geschichte der größcrn Bcgebenheiten, der Ilevolutionen((9 -, konnte dies am besten in Asien tun. Glanzstücke zeithistorischer Beschreibung und quasi-lCstrukturgcschichdichcr(( Analyse waren z.B. Martin Martinis ungemein effektvoll geschriebenes, auf Beobachtungen, Gesprächen und Dokumenten beruhendes Buch über die Wirren in China zur Zeit des
7 Als ~t1l1ngsprägend erwies sich die erste Cortes-Biographie: F. Upudt G6ma,a, Histori:r. de Ja conquisb de Mexico [ JSS2j. hg. v.J. GIII'ria urroix. C:r.racas 1979 (im Folgenden werden, soweit vorhanden. die maßgebenden modernen Ausgaben gcn:r.nm). Für Indien. das wichtigsIe Feld einer europ~ischen Conquisu in Asien. besonders: R. On/li, HislOry of the Miliury T,ansactiolls ofthe British N:r.tion in Indoslan. London 1763-78. 8 Z.B. T. Harriot, A ßrief:r.nd True Report ofthc New Found Land ofVirgini:r. [1588J, in: D. B. Qui,m (Hg.), New American World: A Documenury Historyo(North America tO 1612, Bd. 3, New York 1979, S. 139-155. 9 ). C. Gaut"', Versuch einer :r.11~,'emeinen Wclt~,'cschichle bis zur Emdeckung Amcrikcns, Göninb,<,n 1792. S. 1.
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Dynastiewechsels von 1644 '0 oder einige Werke aus der umfangreichen Literamr über den timur-ähnlichen Eroberer Nadir Shah (1688--1747), der von Persien aus ins Mogulreich einfiel. ll Hinter derlei Bildern vom wildbewegten Asien stand übrigens oft (bis zu Pufendorfund Gibbon) die Idee, seü den Hunnen seien die Umwälzungen in Zcmralasien der letzte Grund fur historische Dynamik in der AJten Welt gewesen. Ein großer Teil der Literatur über das Osmanische Reich ist ebenfalls narrative Zcitgeschichtsschreibung, verbunden mit sozusagen politikwissenschaftlichen Analyscn. l2 Im osmanischen Fall schärfte der Imperativ akkurater Feindaufklärung den europäischen Blick, schon bei den ungemein nüchternen und präzisen venezianischen Relationen aus Konstantinopel. 1J Neben solcher Zeitgeschichtsschreibung steht, zuweilen darstellerisch eng mit ihr verbunden (z.B. in den großen Pcrsienbcschreibungdes Adam Olearius und des Sir John Chardin)'~ die statistisch-staatenkundliche Inventarisierung fremder Reiche. Dazu gehört meist auch ein grober Abriß ihrer jüngeren Geschichte, meist ihrer neue ren Herrscher und »Revolutionen«. In der Regel werden dabei auf Staatswesen wclnveit dieselben Kategorienschemata angewendet: vom Königreich Frankreich bis hin zum Königreich Pegu (im heutigen Burma) gilt das Interesse den Staacsfinanzen, dem Militär, dem Gewerbe, usw. Es gibt keine konzeptionelle Sonderbehandlung fur den Orient, keine spezielle »Dritte-Welt-Forschungll. Man kann das noch in Anton Friedrich Büschings IIErdbcschreibung« (1754 ff) sehen. Erst die Länderkunde Carl Ritters und Alexander von Humbo1dts individualisiert auch die historisch-politischen Profile besonderer geographischer Räume. Freilich hält man nicht alle Völker rur statistischer Behandlung würdig. Von den )lWiIden«, zu denen er nicht Inder, Türken und Chinesen, wohl aber die Araber zählt, sagt Gatterer: »Was man von ihnen weis, macht einen Theil nicht der Statistik, sondern der Geographie, nicht der grosen Geschichte, sondern der Reisegeschichtc aus.l(l5
10 M. Mafti,li, 5J.• De Bdlo Tartarico hi5torii. Anlwerpcn 1654. Noch im selben Jihr erschien in Amsterdam dne deutsche Übersetzung: I-listori / von dem / Tuurischcn Kriege / in welcher erzehIt wird/Wie die Tuurcn/zu Unserer Zeit/ in disgrossc Reich Sin~/ eingefallen sind [... 1Du Buch wurde :roußerdcm ins Französische. Holländische. Englische. It...lienische. Spanische. Portugiesische. Schwedische lind Dänische übersetzt. 11 Am wichtigsten:). F~r. The History ofNadir Shah. t:ormcrty Cal1ed Thamu Kuli Khan. the Prestnt Emperor ofPersia. London 1742. 12 Z.B. Si, Pali/ Rycalll, The HislOry ofdlC Tu,kish Empire from the Yeu 1623 to the Year 1677, LondOll 1680. 13 Gesammelt in: L. Firpo (Hg.). Hclnioni di ~mbisciitori veneli al senato. Bd. 13; Cosuntinopoli (15%-1793). Turin 1984. 14 A. O/fari,u, Vennchne Ncwe Beschreibung/ Der Muscowitischcn / vnd Persischen Rcysc [1656). hg. v. D. Lohmf~r. Tübingen 1971; Si,JeHm Ckardi,l. Voyagcs CIl Pcrsc et autres licux de rOr1cnt [16861. hg. v. L M. Lar'g/h. 6 ßdc.. Paris 1811. 15 J. GatlfTtf. Ideal einer illgcmeinell Wcltstatistik, Göttingen 1n3. $.15(
c.
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Außereuropa regt - seit den Anfangen der Erkundung Amerikas l6 - das Interesse ftir die llistoria IIalllralis besonders an. Klassifikatorische Naturbeschreibung bleibt neben der historia (ivilis auch dann noch ein gateungstypischer Bestandteil der anspruchsvollen enzyklopädischen Rciseliteratur über außereuropäische Länder, als sie etwa in der Italien literatur längst durch die empfindsame Landschaftsschilderung ersetzt worden ist. Dabei kommt es allmählich zu approximativer tenninologischer Verfeinerung: Bei Oviedo sind die Pumas noch lILöwe!lt(, die Jaguare noch »Tigert(. Erst sehr spät, wohl erst bei Alcxander von Humboldt,17 erscheint neben der Dimension der universellen Ta.xinomie der Naturerscheinungen die zweite des besonderen Naturcl,arakIers der lITropen\\. lITropen« ist übrigens der Parallelbegriff zum etwa gleichzeitig schärfer ausgeprägten des ltOrientsil. Beide sehen das Andere ltphysiognomiscll11 in seiner Individualität und distanzieren es dabei zugleich. Historia naturalis wird dort historiographiegeschichtlich besonders interessant, wo sie auf dem Weg über eine historische "ProduktenkundcII den Übergang zur Wirtschaftsgeschichte ermöglicht. So schreibt der Iran- und Japanreisende Engelbert Kaempfer 1712 eine "Geschichte der Dattelpalme«, die botanisch beginnt und sich dann zu einer sozialökonomischen Abhandlung über orientalische Wirtschaftsformen ausweitet. 18 Höhepunkt dieser Linie ist das geradezu Braudelsche Kapitel über die wclthistorische Bedeutung des Kamels bei earl Ritter, dem neben Alexander von Humboldt bedeutendsten deutschen Geographen der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts.ll! Nicht nur die räumliche Breite und die EreignisHillc, sondern auch die Tiefe der Geschichte wird durch die Konfrontation mit außereuropäischem Material vermehrt. Die O"ollologie der Chinesen, der Ägypter und Chaldäer, die hinter diejenige der Bibel verläßlich zurückzureichen scheint, erschüttert im 17.Jahrhundert die kirchliche Orthodoxie und gibt l.B. Anlaß zur religionsskeptischen "prä-adamitischen« Lehre des Isaac de Lapeyrere. 20 Das von der Kenntnis nichtbiblischer - etwa: von der Sintnut nicht berührter - Geschichtsverläufe ange-
16 Der wichtigste Text ist: C. Fmuindu ck Olliooo. Histori:.t Genenl y N:.ttunl de bs Indi;lS [15351, hg. v.J. Plru dt Tudtla B,It;W, M . . drid 1959. Vgl. die große U11IersuchungA. Gtrbi. N~ture in the New World: From Christopher Columbus to Gonz.. . lo Fern~ndez de Oviedo, Pittsburgh 1986. 17 A. 11. Hurnboldl, Ansichten der N:.tlllr 118081. hg. ~'. H. &rk. D:.trnlSl:ldt 1987 (:: Smdien:lusg:Jbe, ßd. 5). 18 E. KotHlpf~, Ph~nix Persicus: Die Geschidne der Dmelp:.tlme. Einleitung, Übersetzung . . us dem L.lleinischen und ac:.trbcitung v. W. MUlHschik, M:r.rburg 1987. 19 C. Ritftr. Die geogr:r.phische Verbreitung des K:romeels in der Alten Welt. in: Dm.• Die Erdkunde im Verhältniß zur N:.ttur und zur Geschicille des Menschen oder Allgemeine vergleichende Geogt":Iphie, 13. Teil, 3. Buch: West-Asien, Berlin 184"P, S.609-759. 20 Vgl. R. H. Popkin. IS:I:.tc L:i Peyrhe (1596-1676): His Life, Work ~nd Influence. Leiden 1987. Breil ~ngclegt ist die Studie v. P. Rom, The D:r.rk Abyss ofTime: The Historyoflhe E:r.nh . . nd the Hislory ofN.. . tions from Hooke to Vico, Chic:lgo 1984.
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regte Problem der frühen Chronologie untenniniert gemeinsam mit den wenig spätcr beginnenden Spekulationen über Erdgeschichte das traditionelle europäische Zeitverständnis. AJlmählich entstand daneben die Vermutung, es könne Epochen nicht-europäischer Antiken geben. Hier wäre an die Karriere des pharaonischen Ägypten im europäischen Bewußtsein - mit der Entzifferung der Hieroglyphen durch Champollion (1821/22) als Zäsur- zu denken sowie an die Annäherung an das alte Mesopotamien bis hin zum Beginn erster Grabungen. Nach 1770 eröffnete das Studium der altpersischen Zend-Sprache (Abraham-Hyacinthe AnquctilDuperron) und des Sanskrit (Sir WilliamJones, CharIes Wilkins) den Zugang zu alten Kulturen des ferneren Asien, deren Überlieferung nahczu erloschen war. In China dagegen fand man eincn kontinuierlichen Tradierungszusammenhang. Das Hauptproblem, dem sich mit Hilfe chinesischcr Gelehrter als erste einige derjesuitenmissionare stellten, war hier nicht - wie in Indien - die Konstirution einer Textgrundlage fnr literarische und historische Studien, sondern die kritische Überprüfung einer machtvollen einheimischen historiographischen Orthodoxie. 21 Wiedcrum anders war die Lage in Amerika, wo indianische mündliche Traditionen während des erSten halben jahrhunderts nach der Conquista z.T. in europäischer Schrift fixiert wurden, ftir die früheren jahrhunderte aber nur Bilderhandschriften und archäologische Objekte vorhanden sind. 22 (Die AhamcrikJnistik ging erst im späten 19. Jahrhundert von der Phase des Sanllnclns in die dcr systematischcn Quellcnauswcrtung über.) Es gibt vor dcr fachdisziplinären Etablierung der orientalistischcn Wissenschaften im 19. jahrhundert (bei der Arabistik schon im 17. jahrhundert) durchaus bedeutcnde r"'OrsdlllllgsleisllI'lgell zur außereuropäischen Geschichtc, die sich aufdcm fortgcschrittensten methodischcn Nivcau ihrer Zeit bewegen. DaZll gehären im 18. jahrhundert z.B. dic Arbeiten von Gerhard Fricdrich Müller,johann Eberhard Fischer U.3. über die Geschichte des vor-russischen Sibirien,Zl das von Edward Gibbon ausgiebig verwendcte. zum Teil noch im frühen 20. jahrhundert als wissenschaftliche Autorität zitierte Werk des joseph de Guignes über Zentralasien,24 sowie die - wie de Guignes' vier massive 21 Über frühe Versuche zur Erfassung der Geschichte Chinas ist CTSuunlich wenig geubcilcl worden. Vgl. etwa D. E. MllIlgdlo, CnTious Land.Jesuit Accomocblion and the Origins ofSinology. j-Iormlulll 1985. S. 106-133. Zu Indien: C. H. Pililips (I-Ig.), I-listorians of ludia, Pakisun and Ceyloll. 101ldol1 1961: O.P. IVjllriwal, Thc Asialic Society ofBcngal and the Discovery ofindbl.·S Pm (1784-1838), Oxford 1988. 22 Vgl. den Überblick in P. TKholll, Die wonschriftlichen Quellen zum AZlekenreich, in: V. Kohftr (Hg.), Alumeribnistik.. Eine Einftihrung in die Hochkulturen Mittel- und Siidamedb.s. ßerlin 1990, S. 145-159 23 Eine Zusammenfassung dieser Forschungen ist, weitgehend aufvon Müller gesammeltem Material fußend:). E. FiselIrr. Sibirische Geschichte von der Entdekkung Sibiricns bis aufdie Erobenmg dieses Lands durch die Russische [! I Waffen. St. Petersburg 1768. 24 J. dr Glligud, Histoire gCn~ralc des huns. des turcs. des mogols Cl des autres ulares occide11uux,4 ßde., Paris 1756--58.
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Quartbände - ebenfalls Manuskriptquellen verwendende Geschichte der Araber des Geistlichen und Professors rur Arabisch in Cambridgc Simon OckJey.2S Bei Ockley wird arabische Geschichte erstmals als Selbstzweck und nicht als Zuträgerill zur christlichen Kirchengeschichte betrieben. Der Forschungsenrag bemißt sich weitgehend an der Zugänglichkeit von Material. Er war am größten in der Geschichte Amerikas26, Zenrralasiens und des islamischen Orients. Injapan erhielten Ausländer so gut wie keinen Zugang zu den sehr umf.1llgreichen einheimischen Quellen. Im Falle Chinas mit seiner besonders e.xtensiven historiograph ischen Überlieferung gelangen Europäer der frühen Neuzeit über die Übersetzung und Paraphrase einheimischer Geschichtswerke kaum hinaus. 27 Bei Simon Ockley findet sich eine ungewöhnlich kJarsichtigc Beschreibung der Schwierigkeiten transkultureller Geschichtsschreibung. Seine methodische Standortbestiml1lung darf als zeitcypisch gelten und hat im übrigen ihren Sinn bis heute nicht verloren. Ockley formuliert das Prinzip des Primats einheimischer Quellen (noch Leopold von Ranke schreibt über die Osmanen auf der Basis venezianischer Relationen!): ~A Man might as weIl undertJkc to write the History of France, for the time, out of our News-Papers, as tO give an Account ofthc Arabians from Christian Historians.;SWoraus folgt: ~The Arabians I... ) are most likely to give the best Accoum ofThings pcrformed among themselves.« 29 In impliziter Abgrenzung von der ressentimemvollen Anti-Muhammad-Polemik seiner Zeit bekennt Ockley sich zu einer wertungsfreien Berichtshaltung: >11t is my Business to set the Matter in a c1ear Light, the Readcr's to judgc.~ Der Historiker muß sich bei orientalischen Gegenständen von Stil und Darstellungskonventionen der klassischen Tradition lösen und sich seinem Objekt anpassen: 25 S. Ockky, Thc History ofthc Sanccns [1708-181,2 ßdc., Dmbridge 1757J . Das Wcrk wurde zuletzt 1847 IlCU aufgelegt. Zur historischcn Erfassung dcs Vordercn Oricnts vgl. ulllfas* send B. UuIß u. P. M. HoIl (Hg.), Hisloriansofthc Middlc East. London 1962. 26 Etwa in einem der berülullIestcn Geschiclltswerke des Aufldärungszeitaltcrs: W. Robtrrsoll, The History ofAmcrica. London I Es beruht aber stärkcr. als nobertson aufdcn erstcn B1iek crkcnncn läßI. aufder _amtlichcn_ Darstcllungdcr Conquisu: dcr I-listoria gencral de los he<:hos de los castellanos en las Islas i Ticrra Firlllc dcl Mar Ocdno 11601-151 dcsA. dt Htrma y Tororsi/las. Vgl. D. A. Bwdi'lg, Thc FifSl America: Thc Spanish Monarchy. Creolc Patriots, and the Liberal Statc. 1492-1867. Cambridge 1991, S. 433f. 27 J.-A.-M. dt Moyritu de Mailla. Histo;re gtncralc de Ia Chine. ou Annales de cet Empire. 12 Bdc.. Paris 17n-8lJ. iSI die Übersetzung eilles in der chinesischen Tradition kcincswcgs unu1l1strittenen annalistischen Geschichtswerks aus dem 13.jahrhundert. Zu Ostasien allgemcin vgl. C. R. &.ytr, Einige Aspektc dcr westlichen Geschichtsschreibung iiberdcn Fcrncn Osten 1500-1800. in: SacclIlulIl,jg. 8. 1957. S. 285-297; W. G. lktulty u. E. G. Pulkyblallk (Hg.). Historians ofChina andjapan. London 1961. 28 OtHty, History ofthe Saraccns. Bd. 2. S. IV-V.
m.
29 Ebd.. S. V. 30 Ebd.. S. VII.
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.To wrile ofa Nation in their Circumsunces (... J in such a Stile:lS bccomes the Sedateness and Cn.vityofthe Creeks aud Romans, would be very unsuiuble and unnatural.ln such a Case you put thcm in a Dress which they would 110 more Thank you for, than a Roman Stnator would for along Periwig, or Socn.les for a pair ofSilk Stockings.-"
Andere Autoren, elW:l der Persien- und Indienkenner Sir William Jones in den achtziger Jahren des 18. JahrhundertS, vertraten hingegen die Auffassung, der Historiker müsse sich bewußt klassizistischer Darstellungstechniken und Analogien bedienen, um das Andere dem humanistisch gebildeten europäischen Publikum kommensurabel zu machen. Also eine veritable Que,tlle des tltltinu et des modenIes unter den Orientalisten! Ockley geht 1708 jedoch nicht so weit, eine exotisierende Mimikry an die ar.lobischen Vorlagen zu empfehlen, sondcrn hält kritische Distanz Hir unumgänglich: .Thc Great Esteem which I h;we for the Eastern Learning, makes me heartily wish that wc had not too much Cause tO complain of our Arabick Historians [... l, they not having regard tO the duc Qualifications of an Historian, bllt telling things after a careless manner, and stuffing their Works wirh a great many trining Materials [... J.w32 Das Problem fiir den Historiker der sich selbst schriftlich äußernden Anderen (also der anderen .ZivilisienenlC) ist mithin ein mehrfaches: Er hat es nicht nur mit sprachlich extrem scll\'.rierigem und editorisch kaum auföereitetem Material zu tun, mit »dusty Manuscripts, without Translation, without Index; destitute altogether of those HcJps which facilitate other Studiestl.,)J zudem muß er kritisch, aber ohne abcndHindische Arroganz ein historisches und literarisches Bewußtsein zu verstehen suchen, das sich in eigenen Formen ausdrückt. Schließlich muß sich der europäische AußcreuropahistOriker ein Bild von der Glaubwürdigkeit seiner einheimischen Gewährsleute machen. Mit üblichen Verfahren der Kritik ist es dabei nicht immer geun. Eine allgemeine ideengeschichtliehe oder diskurspolitische Großwetterlage bestimmt Q priori die WahrheitseTW3rtungen. Sodrangcn am Ende des 18.JahrhundertS dieJesuiten mit ihrer lange akzeptierten Beteuerung immer weniger durch, allein die Wahrheitsliebe habe den chinesischen Historikern den Pinsel gcH.ihrt.,}l Denn inzwischen begann sich die Vorstellung von der Wertlosigkeit der chinesischen und überhaupt aller orientalischen Wissenschaften in Europa durchzusetzen.
31 Ebd., S. Vl. 32 Ebd.• Bd. I. S. XIII. 33 Ebd.• S. XVII. 34 .lqUl:) le dkir seul de b. vtritf semble
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11. Eduard Fucter hat mit Recht cin ethnogrnphisches Interesse als die wichtigste Folge der Entdeckung neuer Welten, insbesondere Amerikas, ftir die moderne
Geschichtsschreibung gesehen: Diese .setzte das ethnognphische, kulturgeschichtliche Interesse an die Stelle des politisch-didaktischen. Sie begann den Unterbau der Geschichte bloßzulcgcn.~Gemeint ist hier eineempirisllle. nicht eine imaginäre Ethnographie (die es natürlich daneben weiterhin gab). Sie findet sich bereits bei PetTUS Martyr d'Anghcra, der seine »Occadas de orbe novo« (150 1) 1493 begonnen hanc,!J6 und anderen auf ihn folgenden spanischen Autoren der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts. In der kolonialen Laborsituation Spanisch-Amerikas ftihrtcn die praktischen Bedürfnisse von Kolonisatoren und Missionaren, die Unzulänglichkcit überkommener Denkkatcgorien angesichts unvcnrauter Gesellschaftsformcn und das imcllckntclle Kaliber einer Gruppe humanistisch geschulter Schriftsteller zu einer Literatur, welche - jenseits allcr Auffassungsunterschiede zur Natur der »BarbarcllK und dcr Art und Weise, wie diese zu behandeln seien - die indianische Wirklichkeit in den Jahrzehmen um die Conquista breit dokul1lentierte. J7 Der Höhepunkt dieser Literatur ist die zwischen 1559 und 1579 nicdergeschriebene,jedoch erst seit 1950 vollständig veröffentlichte große Enzyklopädie des aztekischen Lebens des Franziskaners Bemardino de SahagUn..\ll Nur wenig später entstanden die ersten Wcrke t10rdamerikanischer Proto-Ethnographie. Die großen Debatten über Mission und Kolonialismus, über die physische Beschaffcnheit der Neuen Welt, über Wilde und Barbaren, über Naturzustand und Zivilisation sind höchst aufschlußreich fur das europäische Geschichtsbewußtsein. Wo aber liegt ihr Zusammenhang mit Geschichtsschreibung im engeren Sinnc? Das ethnographische Interesse3' fonnien sich nicht vor der Mitte des 19. Jahrhunderts zu einer eigenständigen Fonn des Forschens und Schreibens; es bündelt sich vor 1800 noch nicht, wie etwa die politische Ökonomie seit den Physiokraten, zu eincm distinktcn Wissensgebiet, wic es dann später 35 E. F,lrtr" G~schichlc der modcmcll Hisloriographie, Münchcn 1925', S. 292. 36 Pm, M
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unter den Bezeichnungen IIEthnologie.c und IIAnthropologie.c entstehen wird. Jedoch ist ethnographisches Spezialwissen allgegenwärtig; cs diffundiert durch alle Diskurse des frühneuzeitlichen Europa lind maeht sie latem kulrurvergleichend. Dabei beschränkt sich das Ethnographische keineswegs aufdie amerikanischen, afrikanischen und ozeanischen IlWilden.:; es umfaßt stets auch andere .Hochkulruren.:. etwa die durchweg hoch respektierten Japaner. die niemand in Europa je als »Barbarenlll bezeichnet hat. Der Ursprung solchcn Wissens ist weniger systematische Forschung über längere Zeiträume - Sahagtin fand so gut wie keine Nachfolger-als vielmchrdas Reisen."Jeder empirisch gestimmte Reisebeschreibcrscit I-Ierodot berichtct von Sitten und Gebräuchcn fremder Völker. Dies ist das Material, aus dem von Itarmchair travellerslll universale Überblicke kompiliert werden, und der Rohstoff, aus dem von Montesquicu bis Hegel, Heeren und earl Ritter die großen kultllrvergleichenden Synthesen entstchen. Ein Modcrnisierungsschllb läßt sich allenr...lls auf dieser Ebene der Verarbeitung völkerkundlicher Informationspartikc1, nicht aber auf der vorgelagertcn der cthnographischen Datcnernlittlung feststellen. Diesc wird erst nach 1900 systcmatisiert und methodisiert, vor allcmmit dcm Aul'komlllen der soz ia la 11 th ropol ogischcll Fe ldforsch u ng. Erstaunlich und erklänlllgsbcdürftig ist daher weniger die Ubiquität von Hinwciscn auf Indianer und Türken, Hottcntotten und Siamesen in allen möglichen europäischcn Komc>.1:en der Frühen Neuzcit als das Verschwinden solcher kulrurvergleichenden Selbstverständlichkeit nach Wilhe1m und Alexander von Humboldt. Ethnographisches Wisscn findet seine privilegierte Verwendung in allen Formcn »philosophischer Geschichte.: bei Giambattisu Vico, bei den schottischcn Aufklärern (besonders Adam Smith, Adam Ferguson,Johll Miliar), bei Turgot, Condorcct und J.J. Virey. bei I-Ierder, Isclin, den ItGöttillgcrnl( in ihren verschiedenen Fachdisziplinen. Neben der Gattungsgcschichtc der Menschheit, der allgemeincn Völkergeschichte - die keineswegs eine Geschichte .von untell.c zu sein braucht - und der Geschichte der Produklionsweiscn und Gescllschaftsztlständc gibt cs mindestens zwei Sonderformen. Das eine sind partielle Universalgcschichtell, die einc Großrcgion oder einen systematischen Gcsichtspunkt behandeln. So schrieb Christoph Meiners eine nahezu lausendseitige Gcschichtc Asiens.~' ein viel gründlichcres und interessantercs Wcrk als sein bekannter »Grund riß dcr Geschicllte der Menschheit.. (1793). Ein andcrcr
40 Zu V:nlanten des FernrelSCIIS \y).). OstnMmmd. Rd5('n an d~ Grenzen der Ahen Wdt. I\st(n im Relscbcrichl des 17. und 18. Jahrhundens. in: P.). BmlrJtr" (Hg.). Der RelscbcrichL Die ElIlWICkJung einer GattUng in d('r d('utsCh<'1I LiI('r.nur. Fn.nkfun a.M. 1989. S. 224- 260. 41 St( ~rbirgt sich hinter d('fll Titd .lktnChrun~n üb« die FruchthlTkclt. oder UnfruchlbarK('lt. über den ..'Ornuhli~n und gcgcnwini~n ZusQnd
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Strang ist die Kulturgeschichte der Re1igionen. 42 Zweitens sind Versuche gemacht worden, Universalgeschichte nicht an Stadienmodellen (Turgot, Smith, Condorcet) oder an "synchronistischen« Schemata zu orientieren, sondern, ..vie verschicdcntlich ctwa von Schlözer gefordert, als Wirkungszusammenhang von Begebenheitcn darzustellen. Dies ist vor allem Edward Gibbon gelungen, dessen »Declinc and Fall of the Roman Empire« (1776-88) nicht bloß eine Geschichte des Untergangs Westroms ist, sondern einc analytisch dicht integrierte Darstellung des Mittelmccrraumcs in seiner Beeinflussung durch angrenzcnde Zivilisationen bis in die Mitte des 15. Jahrhunderts. 43 Das Werk enthält bedeutcnde Kapitel über Zentralasien und den frühen Islam. Gibbon verarbeitet hier das gesamte damals vorliegende historische und ethnographische , Material zum nomadischen Pastoralismus und formt es zu ciner Theorie der Hirtengesellschaft. Bei ihm ist das völkerkundliche Detail nicht Ornament und Illustration, sondern dient einem klaren geschichtsanalytischen Argumentationszweck. Außereuropäische Völker wurden in der Frühen Neuzeit im allgemeinen nicht - wie später im 19. Jahrhundert - als >lgeschichtslos« betrachtet, auch wenn man ihnen im Verlaufdes 18. Jahrhundcrts immer öfter Rückständigkeit und cincn Mangel an Kreativität und Dynamik zuschrieb. "Geschichtslosigkeit.. war dort am ehesten zu vermutcn, wo schriftliche Zcugnissc fchlten und die materiellcn Monumente auf ein niedriges Niveau technischer Naturbeherrschung schließen ließen. Als ))Wilde«, die dem Naturzustand kaum entwachsen seien, sah man hauptsächlich dic Bewohner der Südsee, über die man crst seit den Weltumscgelungen der sechziger Jahre des 18. Jahrhundcrts (Wallis, Bougainville, Cook, u.a.) Näheres wußte, sowie die schwarzen Afrikancr, mit denen man fast nur im Gewaltzusammenhang des SkJavenhandeis in Berührung kam. Zaghafte frühere Ansätze eines Interesses an der Geschichte der Afrikaner, wie es in manchen Reiseberichten zum Ausdruck kommt,« wurden im späten 18. Jahrhundert verschüttet, und es setzte sich rur 150 Jahre Hegels Ansicht durch, »daß es die Unbändigkeit ist, welche den Charaktcr der Neger bezeichnct. Dieser Zustand ist keiner EntwickJung und Bildung fahig, und wie wir sie heute schen, so sind sie immer gcwesen..."!> Dic von den Spaniern zerstörten Indianerkulturen Süd- und Mittelamerikas erlebten ein anderes historiographisches Schicksal. Sie wurden mit der Zeit zu 42 Vgl. C. &nI/md u. S. GmZitlSki, Oe l'idoHitric: Une archcologle des sciences rcligieuscs. Paris 1988. 43 Zur Situicrung Gibbons in diesem Sinnc vgl. Kapitcl4 in diesem Band. 44 D;;as größtC hiSlOrischc Intcresse wurde dcrGcschichtc des chrisllichen Äthiopien cntgegcngebncht. besondcrs: Hiob Ludolj. Historia Acdliopica. Frankfurt a.M. 1681. Vgl. M. dos San/os Loptr. Afrika. Einc ncue Welt in dcutschen Schriftcn dcs 16. und 17.Jahrhundcrts, Stuttg:tn 1992, S. 199203. 45 G. W. F. HtgtI, Vorlesungen libcrdie Philosophic der Geschichte (= Thcoric-Werbusgabc, Bd. 12), Fn.nkfurt a.M. 1970, S. 128.
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Objekten nostalgischer Verklärung, vor allem betrieben durch indigene Patrioten wie Garcilaso de la Vega, den überwiegend in Spanien lebenden Sohn eines spanischen Adligen und der Enkelin cincs Inka-Herrschers,46 und später durch kreolische Historiker wie Francisco Javier Clavijero, den Urheber einer in die Unabhängigkeitsperiode hineinwirkenden und das Nationalverständnis des modernen Mexiko prägenden »aztekischen Renaissance((.n Das indianische Altertum wird hier zur KJassik der Neuen Welt. In Nordamerika entspricht dem der Mythos von der Geburt der Nation aus der Wildnis, in dem zwischen etwa 1720 und 1790 bei manchen Autoren auch die Indianer eine positive Rolle spielten, ohne daß man allzu viele Anhaltspunkte in der empirischen Geschichtc der indianischen Stämme gesucht hätte. 48 Die Völker und Staatcn der Alten Welt hattcn in den Augen der späteren Aufklärung längst nicht mehr das Prestige, das ihnen im 16. und 17. Jahrhundert beigemessen wurde. In der zweiten Hälfte des l8.Jahrhunderts betrachtete man sie unter dcn alternativcn historischen Modellen (a) Ituntcrgegangene Klassik" (das sanskritische Indien, der vorislamische Iran), (b) »Niedergang der Jmperienll, meist verursacht durch ItDespotismus" (die Reiche der Safawidcn, Moguln, Osmanen), (c) Nersteinerung der Strukturen.. (China). Sie galten weiterhin als würdige Anschauungsobjekte fiir dcn europäischen Historikcr, zumal fiir dcn »philosophischcm, etwa den einflußreichen COll1te de Volney.49 Die englische ItUniversal History. (1736 ff), mit ihrcr erhcblich veränderten deutschen Ausgabe (1744 ff) ist freilich als Summe des empirischen Wissens gcrade auch über die Geschichte der »Anderentl bis zum Ende des 18. Jahrhunderts nicht übertroffen wordcn.
46 Gardlll$O Je la Vtg
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5. Nation und Zivilisation in der britischen Historiographie von Hume bis Macaulay
I. »An der deutschen Geschichte«, bemerkt Lcopold von Ranke 1863 in einer Vorlesungseinleitung, »würde [... Jauch Hume gescheitert sein.f(l Es ist dies eine geschichtstheoretische Aussage und zugleich ein kollegiales Kompliment. Ranke meint, daß die englische Geschichte einfacher zu schreiben sei als die deutsche, ist sie doch die Geschichte einer trotz aller inneren Entzweiung durch Reformation, Bürgerkrieg und Parteienstreit kontinuierlich um ihre Verfassung herumwachsenden Nation. Die allmähliche »gesetzliche Gestalfllng ihrer inneren VerhältnisscfI, nicht - wie gleichzeitig bei den Franzosen - »der Glanz der äußeren Macht«, sei unter den Engländern der Neuzeit das vornehmste politische Ziel gewesen. z Die englische Geschichte ist, wie es wenige Jahre später am Ende von Rankes eigener Darstellung heißt, eine »Geschichte aus eillem Stücke von dem Moment der ersten germanischen Ansiedlung in Britannien bis zur Gründung der maritimen Herrschaft in heiden Hcmisphärcn((.J
I L. v. RlmRt. Aus Werk und Nachlaß. Bd. 4; Vorlesungscinleitllngcn, hg. v. V. DoutrU'f'ich u. W. P. File/IS. München 1975, S. 335. 2 Dm., Englische Geschichte [1859-18681.4 ßde" Meersburg 1937, Bd. I, S. 6; Dm., Siill1nltliche Werke., Bd. 14, Leipzig 18n4. S. VII. In diesem Werk bildet die Verfassungselltwicklung _a cohesive theme nlllning lhrough thc vagaries ofindividual evems•. L. Kritgrr. Ranke: The McaningofHislory, Chicago 19n. S. 281, auch S. 239. Von einem Primal der aulkrbritischen Perspektive (so C. MtCldlalld. The German I-liswrians and England: A Smdy in Ninetccnth-Ccnmry Views, C.ambridgc 1971. S. 100) bnn in R.ankes _Englischer Geschiclne. keine Rede sein. 3 Ra/IRt. Englische Geschichte, Bd. 4. S. 92; Dm.• Sämml1iche Werke, Bd. 21, Leipzig 1876, S. 107 (Hervorhebung im Original). Das IB.Jahrhunden, aufd.as R.anke hier als terminus ad quem anspielt, iSI von großer ßcdeultmg Hir seine Einschätzung Englands. SchOll 1826 plame er eine KOllzentration auf -die neueste Zeit. die Hir Nationalwohl und jedes höchste Interesse die allerlehrreichSte und doch noch VOll niemand. selbsI VOll keinem Engländer, soviel ieh weiß, genügend bearbeilet worden isto. R.anke an Friedrich Perthes. 20. März 1826, in: L u. Rankt, Das BriefWerk. hg. v. W. P. Fiuhs, Hamburg 1949, S. %. Freilich wire eine Geschichte des imperial aUsgTeifendell Großbritannien im 18.Jahrhundert keine reine National~schichte mehr: nun wilrde -die Wehgc. schichte eines Jahrhunderts in beid~n Hemisphären schreiben mÜS~II«. Rlmkt. Englische G~ schicht~, Bd. 4, S. 94; Dm., Siimmlliche Werke, Bd. 21, S. 109.
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David Hume 4 nun, »ein feiner, scharfsinniger, gebildeter Geist, der in dem, was er veranlaßt hat, fast noch größer erscheint als in dem, was er lcistete~, war in Ihnkes Augen der erste, der diese prototypisch kompakte Nationalgcschichte in ausgreifender Synthese gestaltet hatte, einer der frühesten Verfasser einer mltionalgeschichtlichen Darstellung überhaupt. Ungeachtet anderer Vorbehalte gegen ihn - gegen die Oberflächlichkeit seiner Forschungen (besonders zum Mittelalter), gegen das Polemisch-Tendenziöse mancher seiner Urteile6 - sah Ranke in l-Iume den großen Bezwinger seines Stoffes mit den Mitteln einer »unvergleichlichen Leichtigkeit und Anmutder Darstellung,< unter »Prinzipien der allgemeinen Kultur und der milden, toleranten Moral, die er in sich trug«, also nicht bloß eines britischen Nationalstandpunktes.7 An Humc mußte jeder Historiker der englischen Nation sich messen und sich messen lassen. David l-Iumes »History of England« war fast gcnau ein Jahrhundert alt, als Ranke sie seinen Berliner Hörern empfahl. 8 I-Iume hatte seit 1745 Pläne rur eine Geschichte Englands skizzien9 , begann die ))HistorylC aber erst, naclldem er im Januar 1752 zum Keeper of the Advocates' Library in Edinburgh bestellt worden war, eine Position, die ihm nicht nur ein Grundmaß an materieller Sicherheit, sondern auch den Zugang zu umfangreichen Sammlungen von Büchern und Manuskripten ermöglichte. Nach zwei Jahren intensiver Arbeit konnte Hume bereits 1754 den ersten Band veröffentlichen, der die Regierungszeit der ersten heiden Stuartkönige behandeltc. lO Der Verfasser klagte
4 Über I·turne und die meisten anderen in diesem Aufsatl. erwähnten britischen l-lislOriker vgl. meine biographisch-krilischen A"ikel in R. vom Bm(!l u. R. A. Miil/tr (Hg.). HistOrikerlexikon. Von der AllIikc bis zum 20.JahrhunderI, MUnchcn 1991; vgl. damit auch). C1l11l101l1l. a. (Hg.). The U1ackwel1 DiClionnyofl-listorians. Dxford 1988. Vg!. auch). OSlrrlulIllmd. Epochen der britischen Geschichtsschreibung, in: W KUII/rr u. a. (Hg.), Geschichtsdiskurs, ßd. I: Grundbgcn und Melhoden der Historiographiegeschichte. Fnnk(urc a.M. 1993, S. 157-188. 5 Rmlkt, Aus Wcrk und Nachlaß. Bd. 4, S. 365. 6 Ihnke versteht HUTllc als den I-bllptvertreler einer .toryiscischen Auffassung_. die später durch i\hcaulays .whiggislische« vcrdr.inb>t worden sei. Vg!. Rllllke. Englische Geschiehle. &1. 4. S. 206; Dtrs., Sämrmliche Werke. ßd. 2I, S. 242. Er sclbst erstrebte eine Darstellung .unablJängigvon dcn cnglischcn Historikern und dcn herkömmlichen Auffassungen heider Pandcn« (elxl. S. 114). Freilich riumt er ein. daßauch I-Iume kein reiner ApologeI des royalislischen Prinzips gewesen sei. Einerseits regislrien Rankc .die unbedingtc Einseitigkcit. mil der J-1umc den toryistischen Bcsm'~ bungen der Stuarts zu I-Hilfe bm•. andererseits kOllzediert er, durchaus im Einklang mil der ncue· relll-lllllle-ForschuIlg: .HlIme 1l1it richligdcnkendelll, gebildctem Gcisl flicht überall Hcflcxioncn cin. wclchc dem Leser cinleuchten, denn sein philosophisches T:alellt ist doch wieder über die polilische Tendenz crhaben.• Ril/lkt. Aus Werk und Nachlaß. Bel. 4. S. 368. 7 EIx! .. S. 367. 8 D. Nll/llt, I-listory ofEngland from thc Invasion ofJulius Caesar 10 ehe Hevolution in 1688. 6 Bde., London 1754-1762. Neudruck der Ausgabe London 1778,6 Bde., Indianapolis 1983. Nach dicser Ausgabe wird (omn zitie". 9 V. G. WtXlfr, David Hume and the .1-lislOry of England_. Philadelphia 1979, S. 9f. 10 Es handclt sich um Band 5 in der chronologischen Folb'C dcs spätcrcn SI..'chsbändigcn Ge· sanuwerks.
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über die anfanglieh geringe Resonanz beim Publikum. Doch bereits 1762 war er auf dem literarischen Markt etabliert genug, um seinem Verleger fur die beiden als letzte erscheinenden Bände - sie reichten von der Invasion der Römer bis ZUIll Herrschaftsantritt Heinrichs VIII. - die außerordentliche Honorarsumme von lt 1400 Pfund abfordern zu können. 11 In den sechziger Jahren wurde die ltHistorytl zum bis dahin erfolgreichsten aller britischen Geschichtswerke. Sie machte ihren Autor, der mit seinen philosophischen Schriften zunächst kaum reüssiert hatte, reich und berühmt. 12 Aufdem Kominem begründete sie das Ansehen des Schouen als eines der maßgebenden Schriftsteller der Epoche. Voltaire pries Humcs Geschichtswerkalsdas vielleicht beste in irgendeiner Sprache. u In Deutschland fanden seine Bände Interesse und Bewunderung bei Historikern und Theologen, Philosophen und Liter.lten. Lessing und Wicland, Schiller und Hamann studierten sie. Herder stellte ihren Autor an die Scite von Thukydides und Tacitus. I. Allein die Historiker der Göttingcr Schule gingen in mancher Hinsicht auf DistanzlS, ohne Humcs Wirkungsbreite nennenswert Abbruch zu tlm. Humcs europäischer Ruhm wiederum kam seiner Reputation im Heimatland zustatten, war die ltHistory. doch fiir den Handelsstaat England ein hervorstechender kultureller Exportartikel. KönigGeorgc 111. persönlich drängtc den Autor, sein Wcrk bis in die Gegenwan fortzusetzen. '6 Hume Iu.tte seine Nationalgcschichte nicht ohne eincn Blick auf ihre mögliche internationale Wirkung gesdll"iebcn. Aber hauptsächlich hatte er sie, ebenso \vie zuvor schon seine .. Essays Moral and Political. (1741/42), fiir das neue Publikum des hannoveranischen England bestimmt: ein städtisches Publikum, das in einer Atmosphäre beispielloser politischer Stabilität, wachsenden Wohlstands und abgcschwächter religiöser Gegensätze fur die Diskussion moralischer und politischcr Fragen in der Sprache von ltgcmilitytl und ..polite11 E. C ArMS"". The Life ofl>'lVid Humc. Oxford 19802., S. 314f 12 IVaitr. Da\11d Hume. S. 95. bnngl dies aufdIe Fom~l; .frotn OUlast philosopher tO r~now 1IC'd hIStoriall_. 13 In seiner ltezensloll von HUlllcs .l-lislOry_ 111 der Gazelle Llltcraire ....01'112. Mal 1764. VoIta;". CEuvres complctes, Bd. 25. Paris 1879. S. 169. 14 G. GQu'li(k u. L. Krtinl(llJ(lhI. H\lIl1c in der dcUlschen AurkUirung. Umrisse einer Hezeprionsgcschichre, Stungart-ßad Cansuu 1987. S. 162. Zur Rezeption der ...HisIOry_ auch ebd.. S. 72-
74. 15 Im Grunde WC'lli~r zu HUllle selbst als zu scillen deutsChen Nachahmen!. VgI. P. H. Rtill. Tlle German Enligillenmelll ~nd thc Risc of HistonOsm. ßcrkdey 1975. S. 56: Dm.• Die Gescillchtswissenscliaft UIII d~ Mitte des 18. Jahrhundens. in: R. VwrlwlU (I-Ig.). Wissenscluften im Zciuher der Aufklärung. Göttinb'Cll 1985. S. 167. Ü~rdie Relepuon der britischen HIStoriker bei Ihrc:n deutsChen Fxhkollegcn im 18.Jahrhundcrt ....g!. auch G. G. The Europcan ContO« of ElglllCCllth-OnturyGemlan Enlighlenlllcnt I-listonography. in: 1-1. E. B6dt*rr u. ~ (11g.). Aufklärung und Gesclucllle. 5mdicn zurdeutsChcn GCSClllchlSWisscnschafl im 18.Jahrhunden. Göttingen 1986. S. 234--238; H.-W. HlQllkr u. D. F1tiKlltr. Emleitung. in: Dia. (I-Ig.). Thcoreukcr der deUfschen Aurklärungshistoric. ßd. I. Slungm-Bad Cansurt 1990. S. 3Of. 16 MOSSPlff. Life ofDavid I-IulI1c. S. 555.
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ness« empfanglieh war. Publizisten wie Daniel Defoe,Joseph Addison und Richard Steele hatten diesem Diskurs am Beginn des Jahrhunderts den Boden bereitet. 17 Humes »History of Englandll W2r auf ambiv:aJente An ein überaus gegcnW3rtSbezogenes Werk. Einerseits hatte sie wcniggcmein mit den Zwecken und Darstellungsweisen des gclehrsamell und schwerfalligcn AntiquarianislTIlis des späten 16. lind frühen 17.Jahrhllnderts, der niemals eine narrative Form und eine breitere leserschaft gefunden hatte. 'Sthr Stilideal war eingängige Eleganz, ihre Absicht politische Pädagogik. Andererseits distanziene sich Hume von dem, was er als historiognphisch bemäntelte P:meipolemik im politischen Tageszwist empfand. Seinen Ruf als »Tory«-Historiker verdankte er nicht 3I1ein substantiellen Einwänden gegen die »Whig«-Deuwng der englischen Geschichte, besonders gegen die Dämonisierung der ersten beiden Stuan-Königel9, die er selbst eher als Opfer ihrer Umgebung und ihres eigenen Unvermögens denn als handlungsstarke Täter zu sehen geneigt warlO, sondern auch seiner Kritik an der verbreiteten Funktion31isicrung historischer Mythen im Dienste politischer Richtungen. Wie J. G. A. Pocock gezeigt h3t, sank in England nach 1688 das Niveau historischer Analyse. An die Stelle einer präzisen Rechtsgeschichte, die d~ Entstehen der Prä.rogative historisch genau und teilweise im gcsamtcuropäischen Vergleich zu erklären suchte, trat in der Geschichtsauff~sungder politisch dominanten Whigs der Rückgriff auf die legenden von einer seitjeher bestehenden »ancient constitutionll, einem in graue 17 Zu Addison vor ~lIcm: E. A.lJloom u. L. D. Bloom,Joscph Addison's Soci~b1e Anim~1. Pro-vidcncl:, 11..1. 1971: M. G. Ktu:1ulrll. Tr~nsparelll Designs: Reading. Performance, and Form in the lOSpecutOr_ Papers, Athens, Ga. 1985. Zur publizistischcn und lilerarischen Organisalion der ncuen ÖlTenthchkeit vgI. W. A Sp«k. Sociery and Litenture m England 1700-60. Dublin 1983. S. 186ff.:). Enhmarrn, Joumalismus und Lilentur. Zum Verh:ilmis \'00 üllung!i"~n. LilC~tur und Entwicklung bürgc-rlicher ÖlTenthchkrn in England im 17. und 18. Jahrhunden, Tüblllgen 1983. . 113fT. Zum sozialgcsc:hichlhchcn HmlCrgrund dic vorzügliche Untersuchung von P. &rsay. nie English Urban Renaissance: Culturt and Scxicry in thc Provincial Town 1660-1TIO. Oxford 1989. bes. S. 257-283. Einc idecngcschichlliche Fallstudie ist). GucoigtW'. Cambndgc 111 the Ageofthe Enlightenlnent: Science. Religion and Politics from the Resloration to the Frt'nch RevolUlion, Cambridge 1989, bes. S. 71 fT. Über den Forschullgsstand: L. O>Iky. The Politics ofElgh· tttnth·Celltury British HislOry. in: JBS.Jg. 25. 1986, S. 370f. Als Zusammenfassung P. LAn,dOrd. A Polile and Commercial People: England 1727-1783. Qxford 1989, S. 59-121. Für die üit nach 17fIJ: E. Hrllmulh (Hg.), Thc Tnnsfonnalion ofPolitieal Culrure: England and Gennany in lhc ule Eightecnth Century, Oxford 1990, darin bes.j.lrrlfl'S. Politic:s and Monls: The Rcformauoll of Manncrs M~mcm in ute Eightccmh-Cenrury England. S. 58-118. 18). M. Lr"i~, Humanism and HislOry: Origins ofModem English HISIOriognphy, hhx:a t 987. S. 102f. Zu denken ist dabei an Autol"C'n wieJohn Ldand. William Camden.John Seiden oder Richard Ikndey. 19 Diese Auffassung vertnl am wirkungsvollsten der französische Hugenotte Paul de Ibpin. Thoyns in seiner Histoil"C' de I'AnglelCfTC. Den Haag 1723-1725. die 172~1731 in einer fUnfzehnbändigen cnglischcn Überseuung erschicn und danach große Verbreitung fand. 20 Etwa: Hu~. History ofEngland, ßd. 5, 121f.. 542-544.
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Frühzeit zurückreichenden Parlament und einem der kontinentalen Rechtsentwicklung überlegenen, ebenfalls in seinen Ursprüngen nicht f:aBbaren Common UW. 21 Indem Hume die Haltlosigkeit dieser Konstruktionen nachwies, knüpfte er zum Zwecke historischer Aufklärung in seiner Gegenwart an die Rechtshistoriker des voraufgegangenen Jahrhunderts an. In einer literarischen Form, die publikumswirksam aufder Höhe der Zeit stand, schmuggelte er die unzeitgemäßen Einsichten eines konserv.ltiven Skeptikers. Trug Humes »History. deutlich die Spuren ihrer Herkunft aus den politischen und historiographischen Problemlagen des minieren 18. Jahrhunderts, so reichte ihre Wirkungweit über ihre Entstehungszeit hinaus. Bis 1894 war das Werk ohne Unterbrechung im Buchhandel greifbar. 22 Noch derjunge Winston Spencer Churchill, später selbst ein bedeutender Geschichtsschreiber, las es als sein »boyhood manual •. n Bis ins dritte Quart:al des 19. J:ahrhunderts wurde es als verbindliches Standardwerk an den Universitäten studiert. Keine Darstellung neueren Datums vennochte ihm seinen maßstäblichen Rang streitig zu machen. John Lingards im Detail akkuratere, viel umfasscnder aus den Quellcn gearbeitete, aufjeglichen >'philosophischen.. Kommentar nach Art der AufkJärullgshistorie verzichtende lIHistory ofEngland.., die zwischcn 1819 und 1830 erschicnZt , galt im protestantischcn Milieu als kaum akzeptabel, war ihr Verfasser doch katholischer Dorfpfarrer in Lancashire. Obwohl Lingard sich bemühte, in seiner Darstellung protestantischc Geflihle und Überzeugungen nicht zu verletzen, blieb seine Wirkungweiterhinaufdas katholische Publikum in England und Irland beschränkt.l5 Von einer anderen möglichen Alternative zu Hume, Henry Hallams solider und priiziser,jcgliches rhetorische Ornament verschmähender Geschichte der englischen Verfassung zwischen Heinrich VII. und George 11., die sich durch eine weitgehende Transzclldierung der Parteistandpunkte von Whigs und Tories auszeichnete1h, hieß es, die Sprödigkeit der Darstellung überfordere das 21 J. G. A. P««k, TheAndem Constitudon and the Feudal Law: A StudyofEngiish HislOrical Thoughl in dle Sevellleemh Cclllury. A Reissue wilh a nelrospect. Cambridb'C' 1987. S. 228, 234237. 22 N. P/JiI/iPlOlI, Hmne. London 1989. S. 139. Ralll~ stellte 1864 fest: _1 ... 1die Engländer lemell noch heute die Geschidlle ihres Landes d;u-alls [;tuS dem HUIllt.oschen Werk 1_. Aus Werk lind Na.ehlaß, ßd. 4. S. 367. 23 Zilien in T. P. PrilnJOI1. The Tr.ansiuon in English Hislorical Writing, 1760-1830. NewYork 1933, S. 20, AllITI. 23. 24 J. UI1g<JnJ. A l-lisloryofEngiand from the Fin:llnvuion by Ihe Romans 10 Ihe Revolution in 1688. 8 Bde., London 1819-1830. Zu Lingard vor allem PranJ,,,,,. Tr.ansiuon, S. 2n-283; mit ü~"rcibendelTl Anspruch fiir Ungards Rang: D. F. O'SMG, The Enghsh Rankt: John Ungatd, Ncw York 1969. 25 j. Kntyort, 1be History Men: The Hisloriol Profession in England since the Renaissance, london 1983. S. 86f. 26 H. Htl/lam, Thc Consirulional HislOC)' of Engbnd from thc Acccssion ofl-lenry VII to Ihe Death of Gco~ 11.,2 Ode., London 1827. Zu l-Iallam vgI. P~nkm, Tra.nsilion, S. 207-213. 271-
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studentische Fassungsvermögcn.27 Auch Macaulay, der HaHam als seinen einzigen auch nur annähemd ebenbürtigen Vorläufer ansah und ihn besonders als den Amor einer »critial and argument3tive history« schätzte:!ll, ohne freilich seine Scheu vor moralischen Urteilen zu billigen, kam nicht umhin, .the extreme austerity. von Hallams Stil zu beklagen, die einer breiteren Wirkung im Wege stehe. 29 Erst mitJohn Richard Greens .Shon Historyofthe English People« von 1874 fand Humes Darstellung eine fachlich seriöse wie literarisch ansprechende Nachfolge. Bis zur jahrhunderrwende wurden von Greens Buch, das als erste allgemcine Darstellung der englischen Geschichte den gesellschaftlichen und geistigen Entwicklungen ein größeres Gewicht beimaß, fast eine Viertclmillion Exemplare verkauft.30 Sein Verfasser errcichte beinahe die Popularität Macaulays. Thomas Babington Maaulays monumcnt3lc .HislOry of England.cl ' , be",..ußt gegen die angebliche Humesche Tory-Tcndenz und den Humeschen Ruhm geschrieben32 , hatte um die Mitte desJahrhunderts das Werk des Schottcn überschattet, ohne es doch ersetzen zu können. Denn Lord Macaulay war eine neue alio"algeschichte schuldig geblieben..)) I-latte cr nach früheren,
276; G. P. Gooth. Geschichtc und GeschIchtsschreiber Im 19. J;lhrhundcrl. Ff;ll1kfurl ;I. M: 1964. S. 304f., 313-315;). R. I-Ialt, IlIIrOOuction. in: Dm. (Hg). The Evolution ofBritish I-lisloriognphy: From Bacon to N:ull1er, Loudon 1967, S. 38-40. Die einflußreichslc Wilrdlgung iSI Mac;lulays ßcspredlllng VOll I bllams .Collsliwlioll:al Hislory. in der .Edinburgh Review.. VOI1l Seplembcr 1828. wledef;lbbocdruda in: T. B. MQ(a,lIay. Works. ßd. 7, London 1898, S. 221-326. Zu H:all:ams bcmerkcnswtrt kbrtt Sicht dts Mittelalters, bcsondcrs des englischen Parl:amellts. vgI. :auch P. B. JU. BlaaI, Conllnuil)' :and Anxhromsm: P:arh:ament:lry and ConSlllUlioml [)cvelopmellllll W1ug Hisloriogtaphy :and lht Anll-Wlng Rexlioll bctwttn 1890 and 1930, Den Hug 1978, S. 94--100. 1-I:albll1. der in lIlsU!ulionclltll. k:aum III pcrson:alcn K:ucgonen dachte und steh IIIcm:a1s m bloBcr Fakten:anlüufung verlor. war tlll .Suuklurlustotiker.. :av::l.llI b. leute. & schrieb zv,'C1 ....'Clle~ brdcutende WcrkC': VlC'W ofthC' St:lIC ofEuropc dunng thc MKkllc Agcs. London 1818; hnroducuon tO mC' Lltef;llUl'(' ofEuropc In IhC' Flflttmh. Soo:ttnth :and $c\'Cl1tlXnm Cemuries. 4 ßde.• london 1837-1839. 27 Belegt' bei P. Uvi~, The Am:atcur :and lhe ProfCSSlon;ll: Anllquari:ans, "llston:ans and Archaeologist5 in Victon:an Engbnd, 1838-1886. C:ambridb'C 1986. S. 138. 28 MlUaillay, Hall:arn's ConSlimtion:a1 History, in: [krs.. Works. Ud. 7, S. 223. 29 Ckrs., Sir J:uncs Mackilllosh's I-lislory of Ihe Revolution, in: cbd .. Bd. 8, S. 423. 30 R. j(lmr, The Arl ;ll\d Sciencc ofViClori:an HislOry, Colull1hus, Ohio 1985, S. 141: hier :auch eine Würdigung Greens. S. 141-169. 31 T. B. MQ(a,j!ay. nlC HislOry ofEngl;lnd from the AccC'ssion ofJ:amcs lhc Sccond, 5 Bdc.. londen 1848-1861. Im folgenden WIrd die scchsbändlb'C Ausg:abe, hg. v. C. H. Firth, london 191:>-1915. zitiert. 32 Vgl. Mx'lUl:ay an ThollW FlO'o\'Cr E1hs, 8. Mjrz HH9, 111: T. B. MatauJoy. Thc leiters. hg. v. T. Finnq. 6 ßde., C:ambridgr 1974-1981. hlcr Bd. 5. S. 32. 33 BcmerltcnS\W'rt ist diC' Parallele zuJC'llCm deutsChen Iltstonker. nm dem Mx:auby sich :am ehenen verglclChen I;JH; Auch !Unke schneb menu.ls S('Ul(' DeutsChe GeschKlue \101I den Anfoingrn bis zur Gegenwart. Vgi. E. SrhNtirr, Um\'Crs:algcschIChlC.' und Nalion:a1grschlchlC' brl ~Id von !Unkc, 111: W.). Mom/"I'IXn (Hg.), Lcopold von IUnke und dlc moderne GeschichtsWisscnsch:aft, SUlUg;m 1988. S. 38, S. 61.
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noch ehrgeizigeren Absichten immerhin eine Gesamtdarstellung der Zeit von 1688 bis 1832 geplant, von der Versöhnung, wie er es ausdrückte, der Krone mit dem Parlament bis zur Harmonie zwischen Parlament und Nation J4 , so beschrieb er in den funfBänden, die zwischen 1848 und 1861 erschienen, doch nur die Zeit vom RegierungsantrittJames n. 1685 bis zum Tode Williams 111. im Jahre 1702; selbst zu einer Würdigung der Folgen der sogenannten Glorious Revolution ist er nicht mehr gekommcn ..l5 Die Epochen der Tudors und Stuans, die bei Hume im Mittelpunkt stehen, hat er gar nicht behandelt. Dreitausend Seiten benötigte Macaulay rur die Schilderung von siebzehn Jahren, wo Hume auf weniger Raum VOll 1688 bis zur römischen Invasion zurückgegangen war. Obwohl Macaulay im stark raffenden ersten Kapitel der »HistorylC sowie verstreut in vielen seiner Essays zu Fragen der englischen Geschichte vor und nach der Periode 1685-1702 Stellung nah11lund obwohl sich seine Sicht der wichtigsten national historischen Probleme zumindest im Umriß aus solchen verstreuten Äußerungen rekonstruieren läß~, ist sein Werk doch im thematischen Umfang mit demjenigen Humes kaum kongruent. Macaulay schrieb nicht die Geschichte der Nation in ihrer kontinuierlichen Entwicklung, er schrieb die Geschichte jener Wendezeit, in der die Nation - nach seinem Urteil- unwiderrunich zu sich selber fand. Macaulays IIHistory ofEnglandlC war ein Triumph von Rhetorik und Dramaturgie, von Stil kunst und Detailtreue.37 Sie wurde zu einem der Bestseller des 19. Jahrhunderts in der gesamten englischsprachigen Welt und weit darüber hinaus und hat ihren Rang als ein Haupcwerk der viktorianischen Literatur bis heUle bewahrt. Ihr Akzent aufdem Fortschritt von Freiheit und Wohlfahrt traf die Stimmung eines bürgerlichen Publikums in der Ära der Reform. Doch als der Schriftsteller und Staatsmann am 9.Januar 1860 in Westminster Abbey zu Grabe getragen wurde MJ, war das Werk unvollendet und eine Epoche abgeschlossen. Schon den Historikern der nächsten Generation erschien Macaulay als Fossil.
34 MacaulaY;1I1 Macvcy Napicr. 20. Juli 1838, in: MlItall/ay. Leltcrs, Bd. 3, S. 252. 35 Über d;r,s Wesen der Revolution von 1688, einet .preserving rcvolution_ im Unterschied zur .odesrroying rcvolution_ dcr Franzoscn, äußert sich MlUalllay nur knapp am Schluß dcs 10. Kapitels: I-listory of Engl:md. ßd. 3, S. 1304-1312. Ocr Versuch einer Einbettung dcr Glorious Revolution in dcn wcilcrcn Zusammcnhang dcr cnglischcn Geschichte findcl sich ;r,llein in dcm kurz \'or Beginn der Arbeil an dcr .I-listory_ geschriebencn Essay über das fragmcntarische Wcrk cines Vorgängers: MIUl1l1lay. Sir James Mackintosh. S. 444ff. 36 Daraufwcist hin: 1-1. Trtllilf-Ro/H'f, Lord Macauby: Inrroduclion. in: Dm. (I-Ig.), Lord Macaul;r,y: The l-lislOry ofEngl:md, Harmondsworth 1979, S. 25. 37 Zu dcn lilCr:lrischCII Qualitiircn des Wcrkes vgl. P. Gay. Style in l-listOry, Ncw York 1974, S. 97-138;). Millgalt', Macaulay, London 1973. S. 116([; M. Cmikshallk, Thomas ßabinb'ton Macaulay, Boston 1978, S. 115-121. 38 Dic Szcnc schildcrl G. O. Trrvd)'ll'I, Thc Lifc and lcncrs ofLord Macaulay. Bel. 2, Qxford 1876, Reprint Ch.ford 1978. S. 4QOf.
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Keineswegs zerfiel sein Renommee so plötzlich wie das des unzeitgemäßen und originellen Henry Thomas BuckJe, der bei seinem Tode 1862 in Damaskus ebenfalls ein Monulllentalwerk, die in manchem dem positivistischen Wissenschaftsbegriff Auguste Comtes nahestehende IJHistory of Civilization in England4C, als Torso hinterlassen hatte.19 Waren Buckles umständliche und eigen",~I lige Bände zu einem ungünstigen Zeitpunkt erschienen, kurz vor CharIes Dar\vins IJThe Origins of Speciesll, einem Buch, das in Großbritannien dem evolutionistischen Denken, auch außerhalb der Naturwissenschaft, rasch eine ganz neue, von Buckle wegftihrende Richtung gab, so beruhte Macaulays anhaltender Erfolg keineswegs auf intellektuellem Avantgardismus, sondern :mf einer literarischen Virtuosität und aufder fortdauernd breiten Zustimmung zu seinen politischen Ansichten. Macaulay, der seine schriftstellerische Kunst unter anderem am Vorbild der Romane Sir Walter Scotts geschult hattc..:l, lebte fort als der Ahnherr jener publikumsfreundlichen narrativen~l Richtung der englischen Geschichtsschreibung, deren Programm sein Großneffe George Macaulay Trcvclyan 1913 im TItel eines Aufsatzes formulierte: ~C1io, a Muse«.42 Diejenigen hingegen, die in KJio die Göttin strenger Wissenschaftlichkeit sahen, wandten sich gegen all das, woftir die ItHistory of England« stand. In Cambridge verdammte Sir John See1ey, seit 1869 Regius Professor ofModern History, Macaulay, Carlyle und überhaupt alle Praktiker einer literarisch TO39 H. T. Blltl.:lt. The HislOry ofCivilizalion in England, 2. ßde.. London 1857-1S61; luer benUlzl in der Ausgabe London 1869 (3 ßde.). Buekles History _f101shed like a meieor across the f'innamenl and disappcared•. So 1·1.). Hell/lwm, EdilOr's Illlroductioll. in: Dt>rs. (Hg.). Henry Tho-mOls Buckle: On Scotland and lhe Scolch Imellttl, ChicOlSO 1970. S. XXXVl. Über Buckle vgl. G. St. Auby", A Victorian Eminence: Thc Life and Work ofHenry ThOlllas Buckle. London 1958; E. Flj(hs, I-Icnry ThOlllas Buckle. Geschidllsschreibung und POSilivislllus in England und Deutschland. Leipzig 1994. Zur Wirkung immer noch:). M. RoJHoruoll. Buckle and His Crilics: A SlUdy in Sociology. London 1895. 40 Vgl. M. Plrillips. Macaulay, Seou, and the Literary Challengc to I-liswriognphy. 111: J H I.Jg. SO. 1989. S. 117-133; Milfgott, MacOlulay, S. 1201: Auch der junge Ranke war zunichSI von SCOll beeindruckt. Vgl. E. SrllIIlill. Tndilionskrilik und Rekonstruklionsversllch. Sludien zur EmwlCk· lung von Geschichtswissenschaft lind historischem Denken, Göttingcn 1979, S. 37, S. 53. Wenn Droysen spiter Macaulay JtCIen beSlen Waltcr SCOll tllller den jetzigen Geschichtsschreibern~ nenlll. so iSI dies Ausdruck scharfer Mißbilligung. Droyscn an Heinrich von Sybcl. 5. August 1853. in:). G. Drrrysm, Briefwechsel. hg. v. R. Hiibru!r. Bd. I, Stuttg:lrl 1929. S. 169. 41 Hier wire zu ulllerscheiden zwischen einem sich bcWlIßlliterarischer Mittel bedienenden ilfllluirlitrmd narralivell Verfahren in Mac3ulays Manier und einerrtkorl$mlifftru/narr.niven Melho-de, ~'ill('r schmucklos·präziscn, strikt chronologischen hiSloire fvfnclI1cmielle. die keinerlei Z ugc· st:indnissc an den Publiklllllsgcschmack macht. Ihr wichtigster britischer VerlTcter war S. R. Gardilltr mit seiner gigalllischen Geschidlte des 17. JahrhundertS: HislOry of England from the Accession ofJames I tO thc Qlltbreak ofthe Civil War. 10 Udc., London 1863-1884; Dm.. l-liSIOry of the Great Civil War, 3 Bde.. London 1886-1891; Dtn.. History of lhe Commonwealth and PrOteclOrale,3 ßde., Landon 1894-1903. Als Ercignisschildenlllg iSI dieses Werk nie erselzl worden. Vgl. P. Wtlltk, Probleme der englischen RevolUlion, Darmstadl 1980. S. 4;). S. A. AJQIII$(lII, Eminenl Vietorians: S. R. Gardincr and die Liberal as Hero, in: I-IJ. Jg. 33, 1990, S. 641. 42 G. M. Trtvtlyall, Clio. a Musc, and Other Essays Lilen.ry and Pedesuian. London 1913.
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mantisierenden Geschichtsschreibung als Scharlattne. 4J In Oxford veranlaßte der dortige Regius Professor, William Stubbs, der erste bedeutcnde englische Hisroriker überhaupt, der an einer Universifätlehrte 44 , eine Übersetzung von Rankes >lEnglischer Geschichte«, um mit ihrer Hilfe den angeblichen efTekthaseherischen Dilettantismus Macaulays zu exorzieren. 45 Solch heftige Reaktionen richteten sich durchaus nicht nur gegen Macaulays Forschungsmethoden und Darstcllungsweisen, sondern auch gegen seine Deutung der Nationalgeschichte: Stubbs etwa, becinflußt durch die deutsche historische Rechtsschule, sah ein langsames, von anonymen Volkskräftcn getragenes Werden der Institutionen als die Substanz der englischen Geschichte. 46 Er hatte wenig Sinn für Macaulays theatralische Inszenierungen derTittnenkämpfe zwischen Tyrannei und Freiheit, personifiziert in den feindlichen Schwägern James und William, und übersah dabei die Spuren eines durcl13us romantisch-konservativen Common-Law-Denkens und eines burkeanischen Respekts fUr das Herkommen, wie sie sich bei Macaulay durchaus finden. 47 Noch fremder war Stubbs und der Fachhistorie die radikale Institutionenfeindlichkeit des zweiten großen >lliterary historial1ll, Thomas Carlyle.48 So bedeutsam diese Differenzen der historischen Intcrprctttion waren - entscheidcnd ist, daß man Macaulay, Carlyle und ihre Anhänger im Namen eines neuen forschenden Professionalismus ablehnte. Macaulay hatte zur Nation undfiir sie gesprochen. Sein erstes Ansehcn hatte er sich als polemischer Essayist in der >lEdinburgh Review«, dem Organ der schottischen Spätaufklärung, erworben.4'.l Durch eigencs Talent und durch die 43 BIOlU, o,ntinuity. S. 37; D. Wonr/t:Il, Sir Jollll Seeley ;tud the Uses ofl-lislOry, C;tmbridge
1980. S. 82, 126-128. Besonders heftig m;tclcienen die Venrcter der FachhiSlorie C;trlyles Frcund, Biographen und NachlaßverwalterJ. A. Froude, den Verf;uscr einer stilistisch brillanten. durchaus seriös recherchicrlen .HislOry ofEngl:md from Ihe Fan ofWolsey to the Defeat ofthe Spanish Armada_, 12 ßde., London 1856-1870. Vgl. W. H. Oll/lll,Jamcs Anthony Froude: A Biography, Bd. 2: 1857-1894. Oxford 1963, S. 456fT. 44 KrIlYOI1, l-lislOry Men, S. 149. 45 Vgl. Ltviur. Amateur, S. 27. Die Ausg:lbe erschien 1875: L. v. Rill1kt, The HistoryofEllgbnd. Principally in the Sevcmecmh CClltury, 6 Bde., Oxford 1875. Zur Ranke-Rezeption bei 5mbbs vgl. K. [)lJdtl,om. Der Deutsche Hislorismus in England. Ein ßeitt;tg zur Englischen GeisIesgeschichte des 19. Jahrhunderts. Göttingen 1950, S. 141-155. 46 VgI.j. W. B'lrroW, A Liberal Descenl: ViClOrian l-liSlOrians and the English Past, Cambridge 1981, S. 107f. 47 Zu diesem Aspekt bei M;tc;tuby vgl.]. G. A. Poaxk. The Varieties ofWhiggism from eolusioll to Refonn: A HislOry of Ideology and Discourse, in: Dm., Vinuc, Cornmerce, ;tnd Hislory: Essays Oll Politiol Thought and Hislory. Chidly in Ihe Eighlttnth Century. Cambridgc 1985, S.
304. 48 Vgl. H. Trevor-Roprr. Thom;u Charlylc's Historieal Philosophy. in: Timcs Lilcl'3ry Supplement, 26.Juni 1981, S. 731-734, bcs. S. 731f. 49 Die maßgebende Biographic MaColubys bis 1838 ist]. Clivt, Maoulay: The Sh;tping of the HislOri;tn. Ncw York 1973. Zu seiner Mitarbeit an der .Edinburgh Review_ vgl.j. Millgatt, Fatber and Son: Macaulay's ~Edingburgh_ Debut, in: RcviewofEnglish Sludies,Jg. 21, 1970, S. 159-167.
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Patronage der Whig-Aristokratie warer ins Unterhaus gelangt und hatte don als einer der glanzvollsten Parlamentsredner Aufsehen erregt. Von 1834 bis 1838 war er Law Member of the Govemor General's Supreme Council, also elejwo Justizminister Britisch-Indiens, später mehrfach Mitglied des Londoncr Kabinetts. Auch wenn kein anderer britischer Geschichtsschreiber seiner Generation ein ähnliches öffentliches Profil erlangte, so waren sie doch alle »men of leuerslC, die entweder, wie Hallam und BuckJe und vorher schon Edward Gibbon, auf sicherem Erbschaftspolster privatisierten oder sich. wie Carlyle und früher in gewissem Sinne auch David Hume, von der gesellschaftlichen Peripherie her in den literarischen Markt hineingeschrieben hatten. Namentlich Macaulay und Carlyle, die Generationsgenossen der großen akademischen Lehrer Ranke und Michelet, vertraten weit ins 19.Jahrhundert hinein den älteren sozialen Typus des Essayisten und »reviewcr((, der sich publizistisch zu politischen ebenso wie zu ästhetischen Gegenwartsfragen äußeneso, institutionell nicht dauerhaft gebunden war und statt in engen Fachzirkeln in weiteren künstlerischen und politischen Kreisen vcrkehrte. Es ist charakteristisch, daß Macaulay die ßerufungaufdcn Regius Chair ofModern History in Cambridge ablehnte, als Prinz Alben sie ihm 1849 anbot: »I cannot bear the Collar, and I have got rid ofmuch finer and richer collars than this.lCsl AJlein die Vertreter der >lconjectural historylC in Edinburgh und Glasgow waren - unter den ganz anderen Bedingungen der schottischen Wissenschaftskultur- Univcrsitätsgelehrte, allerdings auf Lehrstühlen der Moralphilosophie (Adam Smith, Adam Ferguson) oder der Jurisprudenz Uohn Miliar). Doch auch sie lehrten und schrieben für ein weit über Fachkreise hinausreichendes Publikum.~
Zum Kontcxt:). Cliw. Scotch Rcviewers: Thc Edinbmgh Review, London 1957: C. Gro.ffy, Die Edinburgb Review 1802-1825. Formcn der Spätaufklärung. Heidelberg 1981:). Slwlflxk. Politics and Reviewers: The .Edinburgh. and the .Quarterly. in the Early Victorian Aboc. Lcicesler 1989. und \·or allem B. FOfl/llIla, Rethinkillg thc Polities OfCollllllercial Society: The .Edinburgh Ilevicw. 1801-1832, Cambridgc 1985. 50 Vgl. N. Kimlt. Die Liter,llurkritik Thomas ßabillb>toll Macaulays und ihre !lezeplioll. Frankfun a. M. 1979. S. 147fT. 51 Matau/ay, Tagcbucht'imrag vorn I. Juli 1849. zitiert in TrnJ('I)'D/l. Life and Lcllcrs. ßd. 2. S. 197. 52 Über das schottische Geistesleben im späten 18. Jahrhunderl vgl. N. T. Plri/lipso/l. Cultme ,md Society in ,he 18th Celltury Province: The Casc ofEdinburgh alld ,he Scottish Enliglll(~l1mellt. in: L. StOllf (Hg.). The University in Socicty. Princeloll 1974. S. 407-448; A. C. Cllilllis. Tht· Sconisll EnliglltcnlllclH and Early ViClorian English Society, London 1986, S. 1-78; R. G. CaUl. Origins ofthe EnlightenlllcllI in Scotland: The Universities. in: R. H. Cumpbfll ll. A. S. Skirlllt'f (Hg.). Thc Origills and Nature orthe Scouish EntiglllenmcllI, Edinburgh 1982. S. 42-64; R. 11 Shfr, Church and Univcrsity in thc Scotlish Enlightcnment: Thc Moderate Li,er.lli od Edinburgll. Edinburgll 1985; A. Murdoflt u. R. IJ. Shfr. Litcrary and Learned Culture. in: T. M. fHvi,rf u. R. MiU"lrisoll (Hg.). People and Sociery in Scotland. Bd. 1; 1760-1830. Edinburgh 1988. S. 127-142;j. Dltrytr, Virltlous Discourst': Scnsibility and COlllllluniry in L:lIe Eigluccmh-Century Scotb.nd. Edinburgh 1987, S. 10-37. Zur neueren Forschung über die schottische Aufklärung lind ihren
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11. Die soziokulturellen Umstände der Produktion und Verwendung historischen Wissens in Großbritannien änderten sich tiefgreifend seit den sech zigerJahren des 19. Jahrhunderts.SJ Umfassendere gesellschaftliche Prozesse standen dabei im Hintergrund, vor allem die Expansion dcr elementaren und höheren Bildung und die beginnende Auflösung einer homogenen hochvil..-torianischen Elitenkultur.3oI Langsam und gegen große Widerstände etablierte sich in Oxford lind Manchester, später in Cambridge und London eine Fachhistorie, die sich Ranke und seine Schule zum mcthodischen Vorbild erkor, ohne indessen die Verankerung des deutschen Historismus in der idealistischcn Philosophie zu vcrstehen lind daraus Schlußfolgerungen fur die Problem:uik eines reinen Mcthodcl1transfers zu ziehen.S5 Sie strebte nach der Produktion exaktcn historischen Wissens durch Experten rur Experten; wie die Ranke-Schule bezweckte sie den kumulativen Fortschritt historischer Erkenntnisse durch kollektivc Forschungsarbeit.!16 Sie verschmähte den Erfolg in der brcitercn Öffentlichkcit, mißbilligte die marktbcvroßte Geschäftstüchtigkeit eines Macaulay und suchte Anerkennung und Sozialprestige im Erreichen selbstgesteckter professioneller Normen des Umgangs mit der Überlicferung.S7 ln schroffer Abgrenzung von soziokuhurdle:n Kontext vgl. K. Craf&/ksJmn. Die: schottische: Aufltljrung. Ein Bericht ubcrden Sund der Forschung. in: H. Did«rlrof(Hg.). Fcstg2br He:inz Hune:n zum 60. Gebunsug. Fnllkfun a. M. 1988. S. 317-334. 53 Dazu grundkgcnd uvirtt'. J\nme:ur: cb.ndX'n R. jllnn. From Amate:ur to Professional: The: Ca.sc: ofthe Oxbridge Historians. in:JBS.Jg. 22. 1981183. S. 122-147; D. S. Goldskin. The Professionallution on'hstory in ßriuin in the: L:a~ Nine:tttnth and E:arly Twentieth Cemurics. in: Storia ddla stonognJia.Jg. 3. 1983. S. 3-27; Die.• The Org:aniutional Devdopmemoflhe British Hist
S. 145-199. 54 Vgl. R. u,wt. Thc Expansion ofHigher Education in England. in: K.JanmKh (I-Ig.), The TransformatiOlI of Higher Lcanling 1860-1930: Expansion. DivcrsificatiOlI. Sodal üpcll;ng 3nd Professiollaliz:ltion in England. Gerll1:lny. Hussia :lud lhe Un;lcd St:lles. SUlttg3rt 1982. S. 37-56; ~·rs.. English Elite EducatiOIl;n lhe Late: N;nelecllIh :lnd Euly TWCllIicdl Cemuries. in: W Cou.u u.j. Kotkll (Hg.). Bildungsbürgertum im 19.Jahrhundcn. Tdll: Bildungssystelll und Professionalisierung in ;lItcrnationalclI Vergleichen. Stuug3rt 1985. S. 147-162: fkrs .. Suuctllral Chanb'C in English I-ligher Education, 1870--1920. in: D. K. Mülln-u. a. (Hg.). The H;scofthc Modem Educatiollal Systcm: Structural Change and Socialll.eproduetion 1870--1920. Cambridge 1987. S. 163178. 55 Goldunn. Professionaliulion. S. 8r.. S. 11. 56 ZUIll
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den Sammlern und Antiquaren der Geschichtsvereine in den Grafschaften und kleineren Städten schuf sie sich durch n:uionale Zeitschriften, voran die "English Historical Review«, die 1886, siebenundzvnnzig Jahre nach ihrem deutschen Vorbild, der "Historischen Zeitschrift..., gegründet wurdcS8 , und durch überregionale Vereinigungen, in erster Linie die 1868 ins Leben gerufene Royal Historical Society59, die Infrastruktur einer kleinen lK:ommunitiy of scholars.... Den Großteil ihrer Energie verwa.ndte sie aufquelleneditionen und archivgestützte Spezialstudien. Als vornehmste Quellengattung galten nun die durch ein ncu organisiertes Archivwesen betrcuten .state papers...; ihre methodisch geleitete Auf:1fbeitung tron an die Stelle einer eher zufallsbcstimmten Verwendungeincs unsystematisch gesammelten breiteren Materialspektrums, wie sie noch fiir Macaulay charaktcristisch war. oo Schließlich widmete sie sich der mühseligen Aufgabe, die handwerkliche Ausbildung von Geschichtsforschern in einer weiterhin von Theologie, Mathematik und den Alten Sprachen beherrschten Universiät zu verankern, einer Universität, die sich nach wie vor hauptsächlich als Sozialisationsinstanz für Gentlcmen der höheren Schichten verstand, als Spenderin einer generalistischen "liberal education....61 Ein Umbruch in Organisation lind Selbstverständnis des Umgangs mit Geschichte erfolgte in Großbritannien also nicht, wie in Deutschland, im ersten. sondern im letzten Drittel des 19.Jahrhunderts. 62 Soziale Klüfte taten sich auf zwischen .Amatcurcnll und .Professionellenl(, literarische - prononcierter als in Deutschland - zwischen »populären« und »wissenschaftlichenIl Darstellungsformcll. Die neue Fachhistorie formierte sich als geschlossenes soziales System mit strengen Normen, Verfahrensregeln und Mechanismen der StatuSzuteilung. Sie tat dies weitgehend ohne philosophische Begründungsversuche
58 M. F. Stitg. The Origin 1nd De\"e1opmenl ofScholarly }-1I~torlC201 PeriodlC11s, Montgomery. Ab. 1986, S. 39-44. S9 Vgl.J. W. Burroul. VictOrl1n HislOrl11lS and the Royall-Il~wncal Soal"ty. m: TRHS.Jg. 39. 1989. S. 125-140. 60 Mac:r.ulay. mil emem phänomenalen Gedächmis ~g:lbl. meisterte dir gedrucktc Überlieferung bis hinein in die VolkslileralUr der Balbden. Satiren und Farcen. Er besucillC. getreu der romantischen Forderung lUch Lokalkolorit die Städte, Schlösser und Landschaften. dic er schildern \\."()Ihc. Carlyle nahm ftir sein Buch über Friedrich dcn Großen die Schlachtfelder des Siebenj5hngcn Krit'ßt's in sorgf:illigcll AU~;(,l1schein. Vgl. T mJtI~,., Life 11ld lc.'ucrs. Bd. 1. S. 445: Bd. 2. 5. 4Jf.• 155-16,3: F. Kilplan. Thomas Carlyle: A Biognphy. Cambridgc 1983. S. JH9. 61 Vgl. S. &lhblalt. Tradition and Changc:: in English li~r21 Educaüon: An Essay in HislOry 1nd Culturc, LorKion 1976. S. 23ff.; SJ«. lc.'ammg 1nd 1 llbcr21 EdUC20lion. S. 8([ 62 In FnnmlCh spiche steh etw;;t zur gktehcn Zcil ein ähnltehcr ProuR
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ihrer fachlichen Autonomie. Methodik wurde nicht durch Methodologie untcrmauert; weder eine hermeneutische noch eine positivistische Wissenschaftslehrc gewann Einfluß auf die Praxis der Historiker. Sie zogen sich nun von einem Publikum ZUTÜCk, das seit dem fTÜhen 18. Jahrhundert mit historischer LiteT:ltur hohen Ranges versorgt worden \var, einer LiteT:ltur übrigens, die, auf der Sammelleistung der frühneuzeitlichen Antiquare gründend6l , bei Autoren wie William Robertson 6ol , Edward Gibbon, Lingard, Hallam und Macaulay durchaus solch hohen Ansprüchen empirischer Untennaucrunggenügte, daß Hir die Zeit nach 1860 zwar von einer Verstärkung des kritischen Empirismus, nicht aber von einer Neugründung einer qucllenbezogenen Geschichtsschreibung die Rede sein kann. In Großbritannien wurde die Historie nicht, wie man es fur Deutschland gezeigt hat, die .Ieitende Orientierungswisscnschafhl seit der Mitte des 19.Jahrhundens. 65 Diese Rolle dürfte im frühen 19.Jahrhunden die Politische Ökonomie, im sp;iten die evolutionistische Biologie gespielt haben. Einem intensiven Bedürfnis bürgerlicher Leserschichten nach historischer Vergewisscrung, dem Autoren wic Macaulay gekonnt entgegenkamen, entsprach keine nennenswerte Historisierung der Wissenschaften. Obwohl Gelehrte wie Sir John Seelcy und Lord Acton, dic bezeichnenderweise selbst nicht zu den erfolgreichsten Pnktikern strenger Geschichtsforschung zählten, öffentlich fur die Dignität und die politische wie lebenspraktische Bedelltsamkeit der Historie warben, wurden die Kulturproblcme des viktorianischen England selten in historischen Kategorien gcraßt. Kein Fachhistoriker findet sich im Pantheon der
63 Der C';rfolgrdchst(" Nuunidkr di~r (rühn("uzddich("n Gc-I<"hrsamkdt war Edward Gibbon. Zur I.kdcurung~rsdcr11t(,,1"I:';11 iuh("nisch("11 und ITanzösischC';n Qudknforschung(ludovJCO Antonio Mur.uon. S. L Lt-ru.in d(" Till("mom. Iknurd dc Momfaucon) rur sdn W("rk vgl. D. P.)onJ,m. Gibbon ~nd His Rom~n Empil"l:';, Urwn~. 11I. 1971. S. 40fT.; ~uch Uv;tw'. HUllllmsm. S. 102(. S. lOS. S. 188. 64 n~nson ~rd("r ("rst(" d("r groBen britisch("n Historiker, der sich um ("Inen syst("ll11tisch("n und Icrilisch("n Umgang um d(,,11 Qudl<"l1 bemühl(". Vgl. M. Sthw.lct, Anfallg<" ("in("r wissensch~ft lichen G("schichtsSChr("ibung in Großbriunni("n im I8.J~hrlllllld("rt,in: K /-lamm" u.j. Vew (Hg.). IlislOrische Forschung im 18. J~hrhundert. Organiution - Zidsctzung - ErbocbniSS<", ßonn 1976, S. 314-333. Ikstreitbu ISt ~llerdings die tkh~uptul1g, d~ß .RobertsOn sowohll-lUllle wie Gibbon ~n wiSS<"nsch~ftlich("rQu~litlit weit überngt. (<"lxi.. S. 316). Di(" lIeuer(" Forschung hat demgegenüber di(" ~ußc:rordentlicht' Qu~lit1t besonders \'on GibbollS DokulIl("llt:llioll h("TllusbO(';Stellt: .E\'t'1I Willi~m n~nson. user of uchinl SOUTC<"S ~Ild menti\'(". likc Gibbon. both to ~ntiqwri~n of quoutions ~nd c1utionS
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»Eminem Victorians.f'6, keiner suchte und fand die öffentliche Anerkennung und Wirkung eines Theodor Mommsen, Johann GUSClv Droysen, Heinrich von Sybel, Georg Waitz, Heinrich von Treitsehke oder (des historischen Nationalökonomen) Gusav Schmoller. Nicht zufallig mied die srrenge Geschichtsforschung thematisch die GegenWa.Tt. 67 Ihre großen Gegenstände waren das frühe Mittelalter und die Zeit von Elisabcth bis Cromwcll. Die drei zemralen Prozesse der neueren britischen Geschichte: die imperiale Expansion, das wirtschaftliche Wachstum und die verfassungspolitische Entwicklung seit der Herausforderung durch die Fr'anzösische Revolution - alle drei hatte Macaulay in seinen Essays und Parlamentsreden immerhin angerissen 68 - rückten erst sehr spät, erst in den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts, in ihren Gesichtskreis.'" Außcrbritische Themen 66 Vgl. L Struthry. ElllilKnl V"tetorialls, Londoll 1918, und dic neuen: .repeat perform:,,~.A. 8riifS. V"lCtoriall People: A Reassessmenl ofPersons and Thcllles 1851--67. Londoll 1954. SU:lchey schrieb charaklerisuscherwclSC zwei fulminante Skizzen fiber herausragende Amipodcn der Fach· historie: Carlyle (1928) und Froude (1930). in: L. Suu(/'ry. Collccted Works. ßd. 4: Biographical Essays. London 1966. S. 249-256. 2S7-2113. 67 Dies CIl gleichzeitig auch die lieue ooscicncc historique. in Frankreich. Vgl. Ge· schichtsint('~.S. 65f. 68 Mx:roul.ay mcmatlsie.-ne dIe imperiale Expansion 111 den Essays über Lord Cli\'(' (1840) and Warren !-lastings (1841) (MlIllllllDy. Worb. Ud. 9. S. 186-285. S. 408-541), dIe Industri.alislerung 111 seiner UlllerhauSrMe VOll 1846 übt'r die Ten Honrs Bill (elxl.• Bd. 12. S. 199-221). die pohusche Zcitgcschichle in scinen Slellungnahmen zur Wahlrecllls~fonn.die.- OilT". M:Kauby. S. 142ff.. zus.amlllenfaßt. 69 Diejewcils repräSC'llutiven Pionierwerke sind:). R. S«I~. The Expansloll ofEngbnd. London 1883: W. Ollltli,lslrllm, Thc Growth ofEnglish Tradc and Commerce, 2 Ude.. London 1882. Wirtsehaflsb'Cschiehte und llllpcrialgcschidne waren dabei zwei Seilen derselben Medaillc: Die ersten Wirtseh.aftshislorikcr oder _historical cconomisu. w:rorcn durchweg neomcrblllilislischc Gegner des Freihandds und friihe Anhin~r emes _socul impcrialism•. WIe er dann durch Joscph Ch.amberl.ain zum politischen Progranlnl crho«n wurde. Vgl. G. M. Kßof. English 1-lislQf"ial Economics. 1870-1926: The Rlsc ofEconomlC HISIOry and Ncomeranlilism. Cambridgc 1987. S. 9. Vgl. zum Aufstieg des F.acl1t'S WinschaflSgeschK:hte nxh 1880 auch D. C. CoInn.ln. I-IlStOry and Ihe Economic P~t: An Accotllli ofthc Risc and Dedme of EcooomK: I-lIStOf)' m Briuin. Oxford 1987. S. 37ff. Das dmtc Gebiet. die polnische Gcschidllc des 19.J.ahrhunderts. wurde erst n:lch dem Eßten Wehkricg breu aufb'Carbcitel. I-Iler warcn .allcrdings auch allgemeine. nielli bloß bnusclle. Schwierigkeiten mit der ZcilgescluehlSschreibung nn Spiel. Vgl. E. Sr/mlill. ZdtgcschichlS· schreibung im 19.Jahrhundcrl. in: Dm.. Tnditionskrilik. S. 72f. Es gab im friihen 19.Jahrhunderl durchaus eine ZcilgeschiehlSSChreibung bmischer AUloren. aber sie befaßle sich mit konlinCIll:llen. vorab französischen Themen. Dazu gchön die .HistOry ofEurope from the ConUlIeneelllCIII ofthe Frcnch Revolution 10 Ihe Rcstorarion oflhe Bourbons- (10 Ikk.. Edmburgh 1833--1842) des konsc.rV:lliven RcchwnwallS Sir Archl~1d Misen sowk dlt' Napoleon- BlOßr.lphien von Sir W.alter Scott (1827) und Wilhalll Hazlil1 (1828-1830). Vgl. 1-1. ßm·/stad. Enghsh HistoOans .aoo Ihc FrttlC.h R~'Olution. Cambndgc 1968, S. 50-157; B. FrinJ"",". hbrioting History: Enghsh Wmc:rs on thc Freneh RC\'Olution. IlnllCC'ton 1988. S. 66-108: D. Malilt, Di~ Französtsche nC\'Oluuon Im Diskurs des 19.Jahrhundens. U lltersuchullgc'n zur englischen R~'OlutlonsgcschichlSsclucibung, Diss. phll. BochulIl 1983. M.ae.aul.ay selber bcg;Jlln ~ine ~hiehle F""nkrcichs von 1815 bis 1850. d~rcn Fragmelll aus dem N.achlaß veröfTendicilt wurde: T. B. Mll(aulay. Napoleon and the nesloration ofthe Bourbons. hg. v.j. Hambll'X'". London 1977.
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wurden - abgesehen von dem zeitweiligen Imeresse an den Revolutionen Fnnkreichs - kaum bearbeitcr'O, selten sogar der in Rankes .Englischer Geschichte« so wichtige intemationaJe Kontext der neueren britischen Entwicklung.ll Man beschränkte sich, ganz unrankeanisch, aufdie Nationalgeschichte EngJands, im Zentrum des Professionalismus, bei William Stubbs, Thomas Frederick Tollt und Frederick William Maitl:md, gar auf Rechts- und Verwaltungsgcschiclne des englischen Mittelalters.n Eine kosmopolitische, durch Lehrjahre aufdem Kontinent geprigte Gestalt wie John Emerich Edward Oalberg (seit 1860: Lord Aeton) blieb ein respektierter Außenseiter ohne maßgeblichen Einnuß auf den Forschungsbetrieb. Die englische Geschichtswissenschaft gab sich während des Plofessionalisierungsschubes zwischen etwa 1860 und 1900 ängstlich insular. All dies verhielt sich anders in dem voraufgehenden Jahrhundert zwischen Hume und Macaulay. Über .Doppelrevolution«, »Sattelzeit« und den von Miellel Foucault postulierten wissenschaftsgcschichtlichen Schnitt am Ende des »klassischen Diskurses« hinweg'> und quer durch intellektuelle Grundhaltungen wieAut:kIärung und Romantiksind es drei konrinuitätsstiftcnde Momcnte, welche die untcrgründige Einheit einer historiograph ischen Epoche erkennen lassen. Erstens wurde Geschichte in praktisch aufklärender Absicht geschrieben, war sie stets aufdie historisch-politische Urteilsbildung in der Gegenwart bezogen. Dies gilt nicht allein für eine .Whig Interpretation ofHistory«, welche die Gegenwart als notwendige K1im:lX eines kontinuierlichen Forrschrittsprozesses sieht und der ihre Kritiker immer wiedcr die Zweckentfrcmdung dcr Historie zum Werkzeug politischer Pädagogik vorgeworfen haben.7~ Daß Geschichts70 Die wichtig'il(,' Ausnahme war hier). Brycr mil .The Holy n.oman Empire. von 1864 und •The AlIlI:rican Colllmonwe"llh. von 1888. Vgl. 1'. Klrinkn«l.t, IlI1pcrial~ und inlCmalionale Ordnung. Eine Ul1Icrsuchung zum anglo-ameribnischcn Gclehncnlibcnlismus ~m !kispid von Jan~ Bryc~ (1838-1922), GÖllingen 1985. 71 Die Abkehr \'on einer übenriebenrn FixierungaufParbmelllsgeschidlle und die- Ausoarbcitung ~iner ForschungsrichlUng .lmcm"lion,,1 HIstory or Hislory of Policy. im Sinnc der Geschichte GroßbritanniellS als einer inlern.uional agierenden Großmachl verl"ngte - zun5chsl erfolglos -SirJoIlII Stdry. The Growth ofBritish Policy: An l-lislOrical Essay. Ud. I. Cambridgc 1895, S. 1f.: Dm., Our Insular Ib'110ranCe, in: Th~ NinClcelllh Cemury,Jg. 18. 1885. S. 861-872. 72 Grundlegend dazu ist Blllas. Colltinuity. Über Mailland als den Inbegriffdes geschieillswis~nschaftlkhen Professionalismus vgl. G. R. EI,O", F. W. Maidand. New Haven 1985, S. 19fT. 73 VgLM. FOUlQlIlI, DiC' Ordnung der Dinge. Eine Archiologie der Humanwisscnschaflen, dl. Y. U. KOppen. Fnnkftm a. M. 1971. 74 IXr T~mtinus fand V~rbreilUng durch H. Bunnfitld, The Whig hllerprctation ofl·hslory. london 1931. ein Buch. das eine sehr verschlungene Kontroverse ausKJstc. Vgl. den EntwilTUngsversuch bei). Drrry, Whig Imerpretalion ofHistory, in; CamIOn u.~. (Hg.), ßlackv.,<,,11 Dictionaryof 1-i1slOrians. S. 448--450. Ein neuer !kitng zur Dcbane isl A. Wilsoll U. T. G. Ashplllllt, Whig I-listory and Prcsclll·Centeroo I-listory, in: 1-IJ,Jg. 31,1988, S. 1-16. Als herrschende Lehre bis ins 20. Jahrhundert hinein erscheilll di~ .Whig Imerprcl'lIion. bei C. Parku, Thc English "Iistorial Tn· diuon SlIlet' 1850, Edinburgh 1990.
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schreibung sich der Gegemvan nützlich zu machen, daß sie in aktuelle Deb:uten einzugreifen habe, \var nahezu unumstritten. Das Spektrum reichte dabei von krasser Tendenzgeschichte und Paneiapologetik über Thomas Culyles zivilisationskritisches Prophctentulll und das religiös inspiriertc sozialpolitische Engagement der liberal-anglikanischen Historiker um Thomas Arnold75 bis hin zum weihevollen Richteramt des geschichtsschreibenden Parlamentariers Macaulay, der zu einer Zeit verminderter Paneigegensätze und sozialer Spannungen nach der Refonnbill von 1832 eine fur die Mehrheit der Nation zustimmungsfahige, die neu gewonnene politische Stabilität ideologisch festigende Geschichtsdeutung erstrebte.~ Schließlich gehön in dicses Bild David Humcs subtile Absicht, die sich von der politischen und kulturellen Hegemonie der Aristokratie ablösenden "middling ranks~ zu politischcr Urteilsfahigkeitn jenseits von Richtungskonformität und vulgirhistorischen Legenden - etwa der von einer ~anciem constitution. - zu erziehen. 18 Allein der ironische Skeptiker Edward Gibbon hieh sich von solcher pädagogischen Zuversicht fern. 79 ZWtitNIJ war die Geschichtsdarstellung in dem Sinne »philosophisch., daß sic in umfassendere intellektuelle Projekte eingeknüpft wurde. lIO Standen auch William Robcrtson, Henry Hallam und John Lingard dcm Selbstverständnis einer IIphilosophischlC räsonierenden Historiographie skeptisch gegenüber, so sah sich doch kein einziger Verfasser eines der erstrangigen historischen Werke der Epoche als spezialisierter Fachgelehrter. Die Motive zur Beschäftigung mit Geschichte stammten aus weiteren Denkzusammenhängen; die Ergebnisse historischer Studien flossen umgekehn in umfassendere Deutungen der Welt, gerade auch der zeitgenössischen Welt, zurück... Bei Hume, dessen Gesamt\verk die ncuere Forschung in seinem verborgenen Zusammenhang rekonstruiert
75 Vgl. D. Forba. The libenl Anglic:all Ide:a of HislOry. Dmbridgt" 1952, S. 12fT.. 87fT. 76 M:aclUl:ay s12lld politisch 1111 La~,'e_r der Whigs, die In den drcißi~rJ:ahrcn d" 19. J:ahrhundem allmihlich im brcilercn Biindllls der !leuen libenlell P:anci :aufgmgen. ohne d:aß er. WH: J. Hamburgrr. M:K2ul:ay :and th<- W1ug Tradition. Chiago 1m. gezeigt h)l. dognmischc l':aneisund· pu nhe emgenolTll1len hitle. Die .l-Ilstory ofEngbnd. wurde \"On den ZcIl~llOSSCllkeineswegs :als P)ncIgcschidlle der Whigs aufgcf:aßt; dieses Enkel! erlueh sleersr spJiler. Über Maoul:ay als .ZelltriSlell_ vgl. BllrrDW, libenll)cscelll. S. 93: R. BITrII, libenl AnglicOl.Il Polilics: W1liggcry. neligion Ol.nd neform, 1830-1841, O"ford 1987, S. 47-49; O. D. Edwards, M)C;lul3y, Landon 1988. S. 124126. Freilich blicb MaC2ul:ay in scillen GrundübcrzeugtJngcn - dem Gl:aubcn 0l.1I den FortSChritt und dIe NOlwendlgkeit bchuwmer Itcformen bei glclchzeitl~m burkeanischen Respck-l rur die gc"\~~hscneTradiuon - einem SpJil-WlllggJSIllUS \'erpfhchlet. d~11 wichligster Verueter er war. Zum hlstonsch-polillschen Unelien bei 1·lunte vgi. D. IV. LilJingsAm. Hume's Phllosophyof lhe Common llfc. Chic:ago 1984. S. 247fT.. bcs. S. 271. 78 Ehd.;Phi11ipson. Hume. S. 9. 12.23. 54; D.l~otbts, I-Iulnc's PhilosoplllClll PoIIUCS. Dmbndgc 1975. S. 1.36. 79 Jordan. Gibbon :and His HOT11:an Empire. S. SOf. 80 Dies iSI in der konventionellen, deli kumul)tiven Fortsehrin der Wisscnsch)ft betonenden WisscnschOl.fcsgcschichle )Is Zeichen VOll .Vorwissensch)ftlichkeil_ gcwcnet wardelI. So noch bei U. Voigt. D:avid Hume und d:as Problem der Geschichle. Ikrlin 1975. S. 7f., 66f.
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har", 'l,V3r die Geschichtsschreibung Teil einer empirisch-praktischen Wissenschaft von der menschlichen Natur in ihren alltagsweltlichen Bezügen.8J: Bei den schottischen Aufklärem der zweiten und dritten Generation, zumal bei Adam Smith und John Miliar, trug sie bei zu einer umfassenden Theorie der sozialökonomischen Modernisierung als Ortsbestimmung der Gegenwart. 83 James Mill kombinierte in seiner einflußreichen und von den britischen Zeitgenossen hoch geschätzten Geschichte des neuzeitlichen Indien~ zwei aufden ersten Blick divergierendc Denkweisen, die beide von außen auf ein weniger historisches denn kolonialpolitisches Problem projiziert wurden: das Stadiendenken der jüngeren schottischen Schule und die ahistorischen Prinzipien des Benthalllschen Utilitarismus.8S Bucklc, von einem anderen Typ rationalistischer Anthropologie ausgehcnd, stellte seine Beschäftigung mit Geschichte unter die Suche nach umfassenden empirisch-statistischen wie ltphilosophischentl Geset'Zmäßigkeiten. ll6 Für CarIyle, den streitbaren Verächter rationalistischen Denkens und unversöhnten Antipoden von Aufklärung und Utilitarismus, waren seinc eigenen historischen Werke, besonders die über die Französische Revolution und über Oliver Cromwell, bei aller Unmittelbarkeit der narrativen Wirkung und ;;allcr Feme sowohl zu Gibbonschem Räsonnement als auch zu einem Theoretisieren nach
81 Dniibcr. daß der Philosoph Hume nkht vom Hisloriur Hume gelremlt wcrdcn darf, daß also .Trcati~ Conceming Human UndC'fStanding«••Essays Monl and Polilical. and .Historyof Enghnd. in ihrcn gcgcn~itigcn Zusammcllhingcn zu ~n sind, sind sich fasl alk maßgebcndcn ImcrprclCn cinig. Soschon E. C. Mossnn, An Apology for David Humc, HislorUn. in: Publications of Ihc Modem Languagc Associalion of Amcrica, Jg. 56. 194 I, S. 657-690, und jC1%1 üvingsum, Hume's PhilosophyofCommonlife, S. Ir.. 210f[; D. Mi/kr, Philosophyand Idcologyin Hume's Polilical Thought, Oxford 1981, S. 5; F. G. Whtlall, Order and Arlifice in I-Iume's Polilical Philosophy, PrinCtlOn 1985, S. 3. 9; H. G~nm, David I-Iume als GcschichlSschreibcr. Ein Beilrag zur cuglischell Historiographic dcs 18.Jahrhundens, in: AKG.Jg. 61, 1979, S. 123; l-i'.Ji,'?tr, Polilische Panei und parlamentarische Opposition. Eine Swdk zum politischcn Cknkcn von Lord 8olingbrau und Davld Hume. Ikrlin lmt, S. 203, 206. 'l27( Cknnoch iSI die Trcnnullg ohnc Begründung wicdcr scharfvorgcnommcn worden:). lW/mkampff, Davtd Hurnc, Münchcn 1989. 82 So LivingslOn, Hurnc's Philosophy ofCommon lifc. Das Empirische bei Hume, das ihn so deutlich von der Naturrcchtslradition ulllerschcidct, geht aufFrancis Hutcheson zurück, der die induktiv~rimcT1tcllc MClhode in dic Moralphilosophieeinflihne. Vgl. Forbts, HUlllc's Philosophiol Politics, S. 32-48. 83 S. dazu Unlcn, S. 129ff. 84 J. A1il1, The Hislory of ßrirish lndia. J Bde., london 1817, Neudruck New Dclhi 1986. 85 Ocr Schone Mil1 bcg;aUII seinc .!-IISlory. 1806. zwt'iJahrc spatcr kmlC crJctemy Benlmm kennclI, dcs~n SchOlcr und MilStrcilCr er wurde. Vgl. A. Bain,Jamcs MiII: A Biography. londen 1882, S. 71 f. Aus der schottischcn Aufklärungsuxfirion übernahm Mill die Idee dcs stadienmaßib'C'n Gcsellschaflsfonschritts, von ßcmham eine unifomle rationaliSliscltc AmhropolObtie und den praktischen Appell an den .lcgiSIaIOf«. VgI.). ~i'. BlIrroll', Evolution and Socicty: A Study in Victorian Sodal Thcory. Cambridgc 1966, S. 42-49; S. GJlini u. a., That Noble Seien« ofPolitics: A Study in Ninelccnlh-Ccnmry InlCllcctw.l History, Cambridgc 1983, S. 114-117. 86 Zum ~ucsbcgriffbeißucklc vgl. Hanham. Editor's Introduaion, S. XlH·XVIII.
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Art der Schouen Vehikel ciner mit prophetischem Gestus verlautbarten providentiellcn Kaustrophenphilosophie der Geschichtc. Carlyles Dcnken war, wie Roscmary Jann in ihrem gcdankenreichen Buch über die Bedeutung der Geschichte im viktorianischen England herausgestellt hat, in seinem Wesen mctahistorisch: »He wished (Q use the authority ofhistory to go beyond history.Jl8 Selbst der theorieskeptische Macaulay, ein scharfer Kritiker der dcdukrivschcmatischen Politil'Wissenschaft des älteren Mi11 89, sah seine eigenc Geschichtsschreibung nicht als autarke geistige Leistung, sondern als Beitrag zu einer Itlloble Science of Politics.90, einer historisch fundierten Itexperimcntal science« vom politischcn Handeln und Urtcilcn.91 Politik als eine empirische, nicht einc konstruierende Wissenschaft blieb fiir Macaulay, durchaus in Humescher Tradition, der Schlüssel zur Geschichte. DrillnlS löste sich die britische Geschichtsschreibung seit der 1646 begonnenen, doch erst 1702 bis 1704 postum veröffentlichtcn ItHistory ofdlC Rebellion- von Edward Hyde, Earl of Clarendon, von den Konvemionen der älteren Rhewrik und unterstellte sich den anspruchsvollstell literarischen Normen ihrer jeweiligen Zeit.92 Die historische Schriftstellerei wuchs ncben und mit dem englischen Roman. Die Gcschichtsbücher von Hume. Robertson und Macaulay. Thomas Carlylcs ItFrench Revolution. von 1837 - nicht aber seine Fridericus-Rex-ßiographie von 1858--1865, wo das narrative Gerüst unter einer ÜbcrfUllc disparatcr Fakten zusammcnbricht - und vor allen anderen Edward Gibbons ItDec1ine and Fall ofthe Roman EmpirelC (1776--1788) waren auskalkuliene Wcrke der Erzählkunst.'U Allein der trockenc J-1allam, der seine Einsichtcn oft :allzu wirr :auflläufendc Buckle und der un:ablässig abstrakt thcoreti-
87 Über Culyle :lls HislOrikcr vgl. A. L. u Q,If'SIIt. C:lrlyle. Oxford 1982, S. 3 1-47, besonders :lber). D. ROSf'tlbttg, Carlylc :Illd the Burdcn ofl-lislory, Oxford 1985. Zu C:ltlylcs GCSdlldllsplulosophic luch T. Fasbtmkr, ThomlS Carlyle. Idclilsuschc Gcschichlssldu und \'lSIon5rcs HeldenIdcOlII. WÜl'7burg 1989. S. 57ft 88 Jruin. An und Sclcnce. S. 45. 89 Vgl. d,c Komro\'crs<" zwischcn M:lC21uby und dcn .Philosoplllc IbdlC:lls_ überJOlilIlCS Mills _EsSOllY Oll Go\'cfIllllcnr_ \'on 1820. dokumellllcrl in). Livdy lI.). Rm (!-Ig.). Uulitnl:lll Logic :lnd Polilics: J:lII1CS MilI's .Essay Oll GOVCfllIl1CIll_, MOliclulay's Criliquc OlInd Ihe Ensuing OCb3(e, 0;0:ford 1978. 90 T. B. MrJ(QlrlDy, MiWs EsSOlly on Go\'emlllcm: Uul10rian 1...ogK :md Pohnes 118291, in: cbd.• S. 128. 91 Dm.. SIrJlnlCS MXIIlIOSh. S. .ß4. 92 Zu Cbrcndons I):lrstcllungskullsl \'g!. M. IV. Broll11llry, Clnendon lnd thc Ilhelonc ofH,stonol Fonn. Phil:lcblphil 1985, S. 29-73. Infolb't" SC'iIlCS Sp:iICIl ErscheiucllS WIrkte dn Werk ersl im 18.Jahrhuuden. 93 Zur lilcratllrwlSSC'llsduflhchcn AnOlilysc dieser Werke vgl. L. BrallJy, NUr:llivc Form in I-listory :l,Kt Fiction. PrlllcclOn 1970 (über HUlIlc und GIbbon): M. Cw"ming, The Dlsllnpnsoncd EpIC: Form :lnd VlSiol'1 in Drlyle's .Freneh Ikvolullon., Phibddphll 1988; D. lVommky, Thc Tr:lllsformallon of.The Declinc :lnd Fall ofIhe RomOlin Empire.. Call1bndge 1988.
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sierendc James Mill 94 blieben ihren Lesern stilistisches llaffinement schuldig. Eine IlÄsthetisierung der Darstellung«, wie man sie in Deutschland erst rur die Zeit der Französischen Revolution erkennen kann 9S , begann in England schon mit Clarendon anderthalbJahrhunderte zuvor. Die Fachhistorie nach 1860 hat daraufbisweilen mit beullifJter stilistischer Sperrigkeit reagiert.
BI. Während des Jahrhunderts zwischen Hume und Macaulay läßt sich mithin in Großbritannien eine außerordentliche Kontinuität in Form, Verwendung und ideengeschichtlicher Veronung historischer Literatur feststellen. Geschichte wurde außcrhalb der Universität mit planvoll eingesetzten darstellerischen Mitteln in praktischer Absicht und in Verbindung zu umfassenderen philosophischen, wissenschaftlichen und künstlerischen Bestrebungen ftir ein gebildetes Laienpublikulll geschrieben. Noch fehlten Ethos wie Organisationsrahmen fachwissenschaftlicher Beschränkung und Intensivierung. Macaulay stand als Geschichtssillreiber, als philosophierender Literat und öffentliche Figur, in einer nahezu unbcfragt übernommenen Aufklärungstradition, die auf Hume zurückging, von dem ihn als Geschic1nsdellter in den Einzelheiten von Gewichtung und Urteil sovieles unterschied. Ein Selbstverständnis als fachdisziplinär eingebundener Geschichtsforsdler war ihm hingegen fremd. Dieser eher formalen Einheit eines historischen Diskurses korrespondiert seine thematische Kohärenz. Wenn es ein zentrales, ein den meisten Historikern gemeinsames Thema gab, so war dies auf den ersten Blick das Wachstum der eigentümlich englischen politischen Institutionen von der Magna Charta bis zur Austarierung der Mischverfassung 1688189 und der Sicherung der protestantischen Sukzession, spezieller noch: der Bogen von der Tudor-Monarchic über den zweimaligen Aufstieg und Fall des Hauses Smart bis zur Rückgewinnung politischer Stabilität im frühen 18. Jahrhundert. Bei Hume und Hallam, bei Lingard und Macaulay war dies - wie später bei Ranke - der Mittelpunkt ihrer Arbeit, und auch sonst hat kein Historiker der Epoche an diesem Thema vorübergehen können. Auch wer sich einem selbstgefalligen Whig-Tri-
94 Zu Mills Darslcllungswdse vgl. W. nomos, The Philosophie ludicals: Nine Studies in Theory :lIld Practice. 1817-1841, Oxford 1979, $. 117. 95 E. StIll/Ii,I. _Historiker. seid der Epoche würdig!. Zur Geschichtsschreibung im Zduhcrdcr Frallzösischen n.evolution - zwischen Aufklärung und Historismus. in: T AJB,Jg. 18. 1989, S. 1012, sicht nach Winckelmanns kunsthistorischem Pionierwerk (1764) Friedrich Schillers _Geschidlle des Abfalls der vereinigten Niederlande. (1788) als das erste große Werk3slhelisch ansprechender historischer Darslellung. Vgl. ~uch ~v. HllrdlUtig. Die Verwisscnschaftlichungder HislOrie und die Äslhetisierung der Darstellung, in: R. KoMI/«k, u. a. (Hg.). Formen der Geschichtsschrdbung, München 1982. $.147-191, bcs. S. 181fT.
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umphalismus verweigerte, wer die Kosten und Gefjhrdungen der britischen Entwicklung wahrnahm und sich, wie der Goethe-Verehrer Thomas Carlyle, Inspiration vom Kominem hohe, vermochte den erklärungsbedürftigen britischen Sonderweg nicht zu übersehen. Ein zweiter Blick indessen erkennt hinter diesem nationalgeschichtlichen Thema ein weiteres und tieferes, ein Thema zudem, das auch dcn Rom-Historiker Gibbon, den Indien-Historiker James MiJl und vor allem die an englischer Nationalgeschichte wenig imeressierten schottischen Vertreter einer ltphilosophical~oder ..conjeetunl history. mit ins Bild bringt: die Entstchung und Gef.:i.hrdung der modernen Zivil isation. 96 Nun war dies eines der Hauptthemen nahezu der gesamten europäischen Aufklärung,ja, der &griffder Zivilisation ist ein Produkt des 18.]ahrhundertS.9'1 Im britischen Kontext war dabei schon in den sechzigcrJahren des 18.Jahrhunderts, als der Tenninus Verbreitung fand, ein hochentwickelter Gescllschaftszustand gemeint, erhielt der Begriff also einen dynamisch-historischen und zugleich einen soziologischen Gehalt. Merkmale dieser kollektiven Hochentwicklungwaren neben materiellem Fortschritt vor allem die Emanzipation des Menschen von unfreiwilligen Reflexvorgängen wie Instinkt oder traditionsgc!eitctcm Handeln zugunsten von Willens- und Handlungsfreiheit im gesellschaftlichen Raum: die Lösungaus den Fesseln der Natur.'J8 Dies sahen Vertreter der Aufklämng auf dem Kontincnt durchaus ähnlich. BririK1I waren die besondere Fonnulicmng, die das Zivilisationsthema durch die sd,orriMl,cn Denker erfuhr, die historische Erfahrung, die in diese Fonnulierung einging, lind ihre Langlebigkeit weit ins 19. Jahrhundert hinein. Am Anfangsteht abermals - chronologisch wie systematisch - David Hume. Humc fand im England dcr hannovcr-lnischen Dynastie eine Stimmung vor, % Schon In Tudor-Engbnd mx:h~ mall sich darüber Gedankcn. Vgl. A. B. Frrgusorr. Cho Unbound: Pcrccptlollofthc Soclal andCultunl Past in Hcnaissancc England. Durham. NC 1979. S. 346-414. Dic von VKO und dcr demschen Hormntik hct-influßtc .fully.f1cdgcd philosophy of civiliz'llion. der libenlcn Anglikancr (ForM. liberal Anglian Idca. S. 38) sei hier nur am Rande erwähnt. 97 Nach). Fist/I. Art.•Zivilis~tion. Kuhur•. in: 0. Bnmllrr IU. (I-Ig.). Geschichtliche Gnllldbc· griffe. Bd. 7. Stuttgart 1990. S. 717. läßI sich dic modernc ßq,'Tiffsvcrwendung zuerst 1756 beim ~ltercn Minbeau nachweiscn. Inllerhalb weniger Jahre gewann dcr Begriff den später geläufigen Umg;lIlg. Der Begriffist (anders als .Kultur.) immer aufKollekuve bezogen. Er implIziert ßcwe· gong. Ver2ndcnmg, Ausdiffc:renzierung. Prozeß und Rcsuhat. Zivilisicnmg und Zivilisicrthcll wcrden von Anfangan als zwei Seitcn derselben Mcd;lille ~hcn. Assoziiert wird auch fast immer der Gegensatz zu Barbarei und Wildheit. Erwas anders verliefdie Begriffsgeschiduc in Großbriun· nicn: IlCivilityo im Sinne von Zivihsicrtheit kam schon im 17.Jahrhundcrt vor. Seit t"twa I ns war dcr Begriff.civilization« in ctwa stabihsicrt als .the Statc ofbeing civrlizcd•. vcrknüpft also mit den progressiven l...dsmngen der menschhchen Gcsc-llschafL - Grundlegend blclbt neben Fisch:). Monu. Ursprung und Entwicklung des Begriffs dcr Zrviltsallon m FnnkTc:ich. 1756-1&30. HaJllburg 1930. 98 RDdt~n. Tr..dition and Change. S. 17.
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die der Historiker Duncan Forbes als llvulgar Whiggisl11« bezeichnet hat: eine Überzeugung von der Einzigartigkeit und unvergleichlichen Überlegenheit der freien politischen und gesellschaftlichen Zustände auf der Insel über die Sklaverei und den Aberglauben, die jenseits des Kanals herrschten, einerlei ob unter dem türkischen Sultan oder dem König von Frankreich. Zwischen »freien« und ooespotischen~Systemen bestand nach dieser Auffassung kein gradueller, sondern ein qualitativer Unterschied, der jede vergleichende Wissenschaft von der Politik unmöglich machte. Den Ursprung eigener Superiorität sah man in der Existenz einer uralten, eigentümlich englischen llancient constitutionll, die im 17.Jahrhundert durch die Parlamentsftihrer gegen die Angriffe der nach Selbstherrschaft strebenden Stuarts verteidigt worden sei. 99 Als >lsceptical Whig« unternahm Hume eine Revision dieser chauvinistischcn Selbsttäuschung. Er tat dies in seinen llEssays Moral and Political« von 1741/42. 100 Zunächst zcigte Hume, daß die Autorität der Regierung nicht auf angeblich konsensuellen Gründungsakten wie der Revolution von 1688, sondern auf llopinion« beruhe, also auf Gewohnheit und Konvention. Mit ))opinion« wurdcn dabei nicht die schwankenden, von den Leidenschaften des Tages bestimmten Meinungen bezeichnet, sondern relativ stabile Einstellungen, die einem gewisscn Maß an sozialer Disziplin unterliegen, nicht unähnlich den llauitudes« und Werthalrungen, die heute im Begriff der lIpolitischen Kultur« angesprochen werden. 101 Hume zeigte dabei wenig Interesse ftirdie Legitimität von Regierung überhaupt und damit auch rur Herleitungen aus letzten Prinzipien und Konstruktionen eines Herrschaftsvenragcs, wie sie die Naturrechtstradition bevorzugte. Ihm ging es um die Frage nach Stabilität und LeistungsHihigkeit konkreter politischer Regime. lw Sodann versuchte Hurne seinen Lesern zu zeigen, daß die von der vulgär-whiggistischen Propaganda gerühmte Krisenfestigkeit der englischen Politik in Wahrheit durch archaischen Parteienzwist um vermeintliche Grundsatzfragen gefahrdet sei. Humc fuhrte dies unter anderem auf die prekäre Entstehungsweise des modernen britischen politischen Systems seit 1688 zurück. Weder sei es nämlich providemiell vorherbestimmt, noch ein notwendiges Resultat einer langfristigen Verfassungsenrwicklung gewesen; vielmehr sei die Neuordnung durch die Glorious Revolution das Ergebnis einer besonderen Verkettung von Faktoren in der zweiten Hälfte
99 Forbes, Hume's Philosophic.al Politics. S. 140ff. Vgl. .aueh PO(ock, Varietics orWhiggism, S.252-254. 100 D. Hllmt, Essays Mor.lland Political. hg. v. E. F. Milltr, Indianapolis 1987. 101 Vgl. K Roht, Politische Kultur und ihre Analyse. Probleme und Perspektiven der politi. schell Kullurforschung, in: HZ. Jg. 250, 1990. S. 321-346. \02 Zu Humes»opinion.~Lchrevg1.D. Winlh.Adam Smith's Polities: An Essay in Historiographie Revision, Cambridgc 1978, S. 168f. Smith übernahm Humes IO()pinion.~ßegrifT.Die: wichtigSte: SlClIe bei Hume ist der Essay .Ofthe First Principlcs ofGovernment..: Hum,. Essays. S. 32-36.
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des 17. JahrhundertsYu Was eher zufallig entstanden sei, könne auch rasch wieder verschwinden. Hume erwartete denn auch Hir Großbritannien dic Heraufkunft eines .zivilisierten. Absolutismus nach französischem Muster. 1CH Schließlich bestritt er die von den Vertretern des .kJassischen Republikanismus. in der Nachfolge Jamcs Harringtons vertretene Auffassung. die antike Polis könne als realistisches Modell auch Hir ein modernes Gemeinwesen dienen. Vielmehr schien gerade das zeitgenössische Fnnkreich zu beweisen, wie untcr einem unfreien politischen System durchaus eine Gesellschaft persönlich freier Privateigentümer gedeihen könne: .Private property seems to me ahnost as securc in acivilizro Europcan rnolurchy, as in a republic•. IO!i Es gab rur Hurne, wic rur Adam Smith. keine notwcndige Verkoppelung von ökonomischer und staatsbürgerlicher Freiheit. Entstehung und FortcnrwickJung einer modernen Marktgcscllschaft, der 1IC0mmercial socieey., sei auch unter einem gemäßigten Absolutismus möglich, solange dieser die Sicherheit von Leben und Eigentum rechtlich und tatsächlich verbürgc.l06 J-1Ul11e war ein Anwalt europäischer, nicht allein britischer Modernität. Ihr wichtigstes Merkmal war rur ihn zivil rechtliche, im Idcalf.111 dazu auch noch staatsbürgerliche Frciheit: eillc historisch einmalige, Jufdas neuzeitliche Europa beschränkte Errungenschaft. Er sah in sciner Gegenwart einen Fortschritt an »justice., d. h. an Freiheit und Sicherheit von Leben und Eigentum unter der Herrschaft des Gesctzes l <J1, an »politencss. im gescilschJftlichen Umg3ng, also an unfanatischem, gegenseitig tolerantem, sich im gewaltlosen Markt- und Koml11unikationsverkehr ausdrückendem Vcrhalten 108, sowie an kultureller 103 Mil scincr Ablchnungcl1lCr bngfrisug-dclCnll1111SlIschcn _Tidellllllcrprcl:l[ion_ der GlonO\ls nevoluOon nimmt Humc lII:mchc Argumente des heUle du,' DIskusston bcslimmendell _Re_ VISlonSlmus- vorweg. Vgi. dlc ÜbersIcht über dle Demlte bti w. A. Spreit, ncluet:1I11 RC"'o'Olullon,,· ries: Englishmen "nd thc n("\'OlutJOn of 1688, Qx{ord 1988, S. 1-21. Übrigens wird "uch l-l!llPld bnb"C" \'OTI dcr Whig-Geschidllsschreibung "ngefcindclcr HinweIS aufdlc Ulltcrt2llige Fügul1lkclt dcr Tudor-P:ubmcllIc (z. B. I-IlstOry ofEngl"nd, Bd. 4. S. 138([. 144.363-3(6) durch dic ncucr(" _rcvlsionisrischc_ Forschung. besondcrs dit· Ulllcrsuchunb"C"ll von G. R. BlOn, als clllpirischcr Ik· fund besäligt. Vgl. P. Wnrm-. Ikvlsionislllus "Is ncue Orthodoxie? Pubmellt und Revolution 111 dcr modcrnen cnglischcn l-lislOriognphie, in: HZ.Jg. 246. 19~. S. 92f. 104 Vor allcl11 .Whethcr Ihe British Govcnllll('llt Illdillt's more 10 Absohlle Monarchy or 10" Ikpublic., in: H/lll1r. Es~ys. S. 47-53. Vgl. MiI/". Philosophy and Idcology. S. 160f.. 170f.. 181184; Forbt.1. I-Iu!llc's Philosophieal Politics. S. 172. 180, 187. 105 .ofCivil Libcrty., in: Hwur. Essays. S. 92f. 106 VgJ.j. W. Bmrolll, Whi~ and Libcnls: Continuity "nd Change!ll English Political Thou· gilt. Qxford 1988. S. 28-30; Forbt:s. I-IUI1lC'S Philosophical Politics. S. 153; Dm.. Sccplical WhigglSlll. Commcrcc and Liberty. in: A. S. Skinlfn' u. T. ~VJ.wn (I-Ig.). ~ys on Ad"1Il Smith. Qx{ord 1976, S. 201. 107 Zu Humcs Begriff _jusucc_ \'gI. K HlUlkonssm. Tbc Scicnce ofa u-gisbtor: Tbe NalUTlII )urisprudence ofDavKI I-IUIfl(; ,,00 AcUm Smilh. umbndge 1981. S. 4-44;}. Hllrrisorl. I-IUltlC'S Thcoryof)ustice.Oxford 1981. 108 Auch dieser Begriffbarg ClnC polcnllschc SpilZc geß':n die Ami~nvcrchrung.besonders gegen cbs l.obdcr durch _Luxus- unvcrdofbcnell _rusti<: nOIllVlSC. "Ikn von.n UlO. Im politlschcll
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Vcrfeinerung in einem weiten Sinne, der sowohl die ..liberal" als auch die ..mechanical ans" umfaßte. All dies war-cin charakteristischer Gedanke dergesamten schottischen AufkHirung-wescntlich das Ergebnis ökonomischer Expansion. Solch wohltätige Auswirkungcn von Handel und Gewerbe bedurften jedoch der Absicherung durch rationale. gemäßigte, jeden religiösen fanatismus zügelnde Politik. wie Hume sie etwa bei Queen Elizabeth fand lO9 und wie er sie bei den ersten heiden Stuankönigen vennißte. HUlllc warfJames I. und CharIes I. keineswegs, wie die Whig-Historiker es seit Rapin-Thoyras taten, absolutistische Machrgelüste vor. Vielmehr waren sie in seiner Sicht Elisabeth deshalb so offensichtlich unterlegen, weil sie der Religion und dem Parteigeist Zutritt zur Politik erlaubt und sich unrealistischen Illusionen über die Natur und Stärkc ihrer eigenen monarchischen Position hingegeben, weil sie, modern gesprochen, im Management des politischen Systems versagt hätten. 1lO Für HUlIles historisch-politische Pädagogik ist auch in der historiographischcll Bcwcrtung weniges verhängnisvoller als einc Unfahigkeit zu realistischer We\(er[.lssung. Der nüchterncn, vcrschlagcncn und urtcilssicheren Machtpolitikerin Elisabcth stcllt er den schwankenden Ideologen James I. gegenüber; an Croll1well irritiert ihn die Mischung aus schlauer Taktik und rclib>1öscm Wahn. Auch HUl11es Haltung zu vormoderncr Gcschichte crklärt sich zu cinem Tcil aus scincmlcidcnschaftlichcn Eintretcn Air politischen Rcalismus. Wenn er das Mittelalter, rur das er wenig Intcresse und noch wcniger Sympathic hane - crst Hallam untcr dcn bedeutenden britischen Historikern versucht ihm gerecht zu werden -, als eine .barbarische. und gt:\.V31ttätigc Zeit schildertellI, so nicht allein aus aufklärerischer Befangenheit und Verachtung rur Religion und Kirche, sondern weil er der zähen, eine klare Erkenntnis der Gcgenwart behindernden britischen Gewohnhcit, die modcrne Welt in
Denken des .kJll$ischcn Republikanismus«. Vgl. Pocock. Vuicties ofWhiggism. S. 236. I-Iumc entwickelt den Ikgriffvor illcm il1 .Oflhe nisc ind Progress ofIhe Ans 3nd Scicnccs-, in: H,lmt. Ewys. S. 111-137. bcs. S. 127fT: 109 Hl/lUt, I-listory ofEllgbnd. ßd. 4, und besonders die zlls.nnmenfisscndc Wfirdigung Elis3beths, S. 351-353. 110 Dics berührte Fnb'Cn der Fininzell mindestens cbcnsoschr wie solche dcr Verf3Ssung; Im frühen 17.Jihrhundert hilte, HUlllc zufolb'C. derenglische MOl1ueh deli fimnzicllcl1 Hmdlungsspidnllm seincr Vorgänger verlol"Cn, ohnc indcrcrscits schon, wic die KÖllib'C des 18. Jihrhunderts. du steuerbcwilligcnde Pubment durch Pilronige minipuliert'n zu könllen (ebd.. Bd. I, S. 137). WederJimcs noch Chiries bc:sillcn die Hhigktit. ihre objektive Schwkhc durch SWtslcunSI zu kompensicren. Stcts interessicnc steh Hunte dibci ~nigcr für dic Motivc ils für dic Rcsulult' des I-bnddns. E(W;l seine BeuncilllngJirnn' 1.: .His intcntions W('I"C just: bOl moI"C acbptcd to thc condoct ofpriV
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vormodernen - seien es antike, seien es feudale oder archaisch-t
112 Vgl. R.j. Smilll, The GOlhic IkqUCSI: Medicval Instimtiolls in ßritish Thougllt, 16881863, Cambridgc 1987. 113 Einen neuere II1Icrpreiation sicht in Humes Emanzipation von dcn Allcn eine s<:iner zentralen Errungenschaften: .Hurne becomes Ihe reprcscnutive modem philosopher by bccoming the ollly modern philosophcr who has experienced Ihe cwerthrow of thc ancicllt... U. Chrislcmrn. Praccicing EnlighlcnnlclIl: Hume and the Formation ofa Lilerary Carecr. Madison. Wisc. 1987. S. 59). 114 Livi~IO'I. Hume's PhilosophyofCommoll Life. S. 241; auch Milkr. Philosophyalld IdeeIogy. S. 122. Vgl. auch die Diskussion bei L pOftlf"l. Human Naturt: and Hinorical Knowled~: Hume. Hegd and Vico. Cambridgc 1990. S. 34--66. 115 MiIltr. Philosophy and 1dcology. S. 181: ForM. Hume'5 Philosophka.I Politics, S. 309. 116 Vgl. A O. HirxhltWn. The Passions and Ihc InttreslS: Polmel Arguments fOT Capiuhsm before ItsTriumph. Pri~on 19n.S. 24(Zum VerhilulIsYOfI "reason. und .pusion. bei Hurne \'gJ. bcs. A. Fltw. David Hurne: PhIlosopher of Mora.l ScICncC. Oxford 1986. S. 144-149.
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Deshalb muß diese Geschichte auch in erster Linie als poJitistlle Geschichte und nicht als Sozialgeschichte, als eine Geschichte des außerpolitischen materiellen und gesellschaftlichen Lebens, geschrieben werden. Hume W3r ein Schotte. dessen Familie über viele Generationen hinwegenge Verbindungen zu Frankreich unterhalten hatte. Seine Kindheit und Jugend verbrachte er in einem und. das bis 1707 ein selbstindiger, auch gesellschaftlich und kulturell charakteristisch profilierter Staat gewesen war. Aus doppelter, aus zugleich schottischer wie kosmopolitischer Außensicht konnte er die Mechanismen und Ideologien englischer Politik besonders gut durchschauen. Das Schottland der zweitenJahrhundenhälfte bot freilich selbst reiche Anschauung Hir raschen sozialökonomischen Wandel. Die \vinschaftlichc und kulturelle Blüte in Edinburgh und Glasgow bewies die zivilisierenden Auswirkungen des Handels und wurde selber zum Untersuchungsgegenstand der rtihrenden Denker des Landes. 1I7 In den schottischen Highlands, wo um die Mitte des Jahrhunderts immerhin ein Viertel der schottischen Bevölkerung lebte, hatten sie zugleich die Aunösung und Zerstörung extrem fremdartiger vormoderner, gar vorfeudaler Lebensformen vor Augen, die nach der Vernichtungdcsjakobitischen Widerstandes 1745/46 ein dramatisches Tempo gewann. Ein Mann wie Adam Ferguson, der als H ighlander das Englische noch wie eine Fremdsprache empfand und es mit gewissen Unsicherheiten gebrauchte l18 , hatte die Erschütterungen in der eigenen Biographie verspürt. Bis zur Jahrhundertmitte schienen die Highlands aus der Sicht der Engländer wie lienand-Schotten alles in Frage zu stellen, was nach südlichem Selbsrverstindnis die Errungenschaften der modemen britischen Zivilisation ausmachte: die Unterstützung rur das hannoveranische System. die englische Sprache, die protestantische Religion und eine akkumulationsorientiene Wirtsehaftsgesinnung. Die Hochland-Bewohner wurden teils - mit ihrer militanten Klan-Organisation - als bedrohliche Wilde, teils als harmlose Objekte wohlfeilen Spotts gesehen, in jedem Fall als Inbegriffvon ltBarbaren~.
117 Zur Transfonnation Schoulands vor allem: /)nJiUt u. Miuhiso" (Hg.), Pcople :md Society; R. A. H",morr u. I. D. HI.yrt (Hg.), Seouish Society 1500-1800, Cambridgc 1989; T. M. /)nJjrlt (Hg.). Conflict and Subility in Sconish Society. 1700-1850, Edinburgh 1990. Eine gute Zusammenfassung gibt T. C. Smolll, Where I-Iad Ihe Sconish Eeonomy Got by Ihe Third Quarter ofthe Eighlttmh Ccmury? in: J. HClIlt 11. M. Jgnal~ (Hg). Wealth and Vinuc: The Shaping ofPolitical Eeonomy 111 Ihe Scoltish Enlightcnmcnt, Cambridge 1983. S. 45-72; auch B. l...trIlnan.1mcgnrion, EnlightC'nmem. aod IndWilrialinrion: Scotland 1746-1832. London 1981; R. H. CÄrnpbdl, Scotland since 1707: The Ri.se ofan Induslrial Soc.ety. Edinburgb 1985; T. C. Smolll, A History ofthe ScOltish Pcople 1560-1830. Londen 1969, S. 195ff.: R. Milthison. Scotland 1750-1850, in: F. M. L Thorrrpsm (Hg.), The Cambridge Social HIS10fY ofBribin 1750-1950, Bd. 1. Cambridge 1990. S.
155-207. 118 D. FotbtJ, Introduetion. in: Dm. (Hg.). Adam Ferguson: Sockty {17671. Edinburgh 1966, S. XXV.
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Um diejahrhundertmine sctzte dann eine Umwertung ein. Die Highlands wurden erstmals ZUIll Ziel touristischer und "vissenschafdicher Reisen; die neue Vorstellung vom Pinoresken in der Landschaftswahrnehmungsuggerierte ein bis dahin unbekanntes ästhetisches Wohlgefallen an der Rauheit Nordschonlands; James Macphersons fingierte Gesänge des Barden .00sialUl aus dem 4. Jahrhundert begTündeten den Mythos vom urwüchsigen Norden als Quelle unkorrumpiener Tugend. 1I9 Diesem Wandel des Schonlandbildes entspr.l.chen reale Verinderungen. Schon als Samuel Johnson und James Boswell 1773 von London aus eine Reise zu den Hebriden unternahmen, sahen sie in den Highlands nur mchrwenigcvon den archaischcn Zuständen, die sie erwartet hanen. l20 In Gestalt der schottischen Highlands wie überhaupt des -eeltic fringe« exisrierte also innerhalb der britischen Nation ein Zustand ethnisch-zivilisatorischer Andersartigkeit, wie er in den übrigen Ländern des mittleren und westlichen Europa in solcher Kraßheit unbekannt war. Nicht nur im Verhältnis zur fernen Sphäre der »orientalischen Desporie« oder selbst dcs katholisch-kontinentalen Absolutismus, sondern auch in der Beziehung zWlschen Engländern und Tiefland-Schonen einerseits, Hochländern, Walisern und Iren andererseits stelltc sich in Großbritannien das Zivilisarionsproblcm. NarionalgcschiclHc war zuglcich die Geschichte von Zivilisierung und Zivilis:nion.
119 D. 1-111)'. Engl.~nd. Scotl~nd ~nd Eu~: Th~ Probl~rn ofthe Frontier. m: TRHS.Jg. 2.5. 1975. S. n-91; H. T mvr-R"P". The InvenÜOll ofTndiuon: The Hlghbnd Tndilion ofScotbnd. in: E.j. J-Iobsbann u. T. &ni" (I-Ig.). The Illvemion ofTnditioll. C~rnbridgt': 1983. S. 15-41; P. Wornack. Improwment ~Ild nOIl1~Tlc(,: Constnlcting the Myth oflhe I-lighb.nds. lbsingslOke 198
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rv. Die anspruchsvollste Erfassung der Zivilisationsfrage kam denn auch aus Schottland, nämlich als eine Theorie der sozialökonomischen Entwicklung. Die Theorie der IK;ommercial societyl<: war ältercn Ursprungs. Pocock verfolgt sie zurück zu der Debatte zwischen Itlanded imcrestl< und Itmonicd imcrcst((, die durch die Finanzrevolution der neunziger Jahre des 17. Jahrhunderts - das Entstehen einer fundierten Staatsschuld, die Zunahme politischer Patronagc und Korruption und das Aufkommen spekulativer Geschäftsmachcrci - ausgelöst worden war. 121 Die Kritiker der neuen Markt- und Tauschgesellschaft, von der ökonomischen wie politischen Solidität des Grundbesitzes ausgehend, wandten sich im frühen 17. Jahrhundert mehr noch als gegen deren kalte Zweckrationalität gegen das Übermaß an entfesselten Leidenschaften, in Gestalt vor allem spekulativer Hysterie, die sie freisetzte. Ein Gegenargument dcr ModernisteIl bestand nun darin, einen zivilisierenden Geschichtsprozcß anzunehmen, der den allgcmeinen Wohlstand vermehre, im gleichen Zuge aber auch die Leidenschaften zähme, also »passionsll und »interestsl< miteinander versöhne. Was Hume als Historiker zum Urteilsmaßstab erhob und als politischer Philosoph der Staatskunst zur Aufgabe stellte, das band Adam Smith in cine "philosophische(, auf gelchrten Mutmaßungen fußende universalc Lehrc von der menschlichen Gcsellschaftsentwicklung cin. In den funfziger und sechziger Jahren formulierte Smith, gleichzeitig mit Turgot, der in Paris ähnliche Gedanken vortrug, in scinen Vorlesungen zur Jurisprudenz l22 , ausgehcnd von der Humeschen Entkoppelungvon »polityll und »society((, eine historische Theorie der ökonomischen Modernc, der »commercial society«, die er später in seinem »Wealth of Nationsll von 1776 durch eine Analyse ihrer inneren Wirkungsweise ergänzte. Andere schottische Denker, namentlich Adam Ferguson und John Miliar, vertieften und erweiterten Smiths Theorie und setzten dabei mitunter andcre Akzente. Die schottische Stadientheorie, die im Gegensatz stand sowohl zu zyklischen als auch zu heilsgeschichtlichen Geschichtsauffassungen, war durch frühere Autoren vorbereitet worden. Dies waren zum einen die Reisenden und Ethnographen des 17. und frühen 18.Jahrhundcrts, die dem modernen Europa erstmals die Vielfalt
121 J. GA. Pocock. The Mobility ofProperty:ll1d the RiseofEighleelllh-CcllIury Sociology, in: Dm.. Virtue, COIllTllcrcc, ,md History, S. 103-123, hier S. 109-115. VgL auch j.App/tby. Economic Thought and Ideology in Sevelltet'llIh-Cemury England. Princeton 1976. Wenib'ef ergiebig flIr diese Fngestdlung iSI T. Hw(hi50ll, !kfore Adam Smit!J: TlJc Emcrgcnce ofPolitical Economy, 1662-1n6,Oxford 1988. 122 A. Smilll, LcclUTes onJurispmdence, hg. v. R. L. Mrf:k u. a. (The Clasgow Edition ofthe Works and Correspondencc ofAdam Smith, Bd. 5.) Oxford 1978. Die b'Cschichtsthcorelisch wichtigste Vorlesung ist die von 1762163.
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der gesellschaftlichen Formen auf der Welt vor Augen stellten l21 , zum anderen jene Naturrechtslehrer, die juristische Betrachtungen über die Entwicklung des Eigentums angestellt hatten, vor allem John Locke und Samuel Pufcndor(124 Bei David Hume fehlen charakteristischerweise Ansätze zu der sonst lIgesamtschonischentl Stadientheorie. Dies mag an seiner großen Distanz zum Naturrecht ebenso liegen wie an seiner radikalen Ablehnungjedwedell evolutionistischen Denkens: objektive Gesetzmäßigkeiten des Geschichtsverlaufs waren dem Humeschen Verständnis fremd. William Robertson wiederum, der im schottischen Spektrum eine mittlere Position besetzte zwischen Humes kritischer Politikgeschichtc und der sozial ökonomischen lIconjectliral historytlder Smith-Schule, bedicnte sich eines modifizierten Stadienkonzepts, mit dem er die nachantike europäische EmwickJung erfassen wollte: Zwischen das frühe Stadium unzivilisierter Schlichtheit bei den Germanen und den Hunnen der Völkerwanderungszeit und die im 16. Jahrhundert aufkommende moderne europäische Zivilisation schob er als Tiefpunkt der europäischen Geschichte das Interludium des lIfeudalentl Zeitalters: lIHuman society is in its most corrupted state at that pcriod when men have lost their original independance and simpliciry of manners. bllt have not attained that degree of refinemellt which introduces a sense of decorum and of propriery in conduct, as arestraint on those passions wh ich lead to heinous crimeu l25 Bei Adam Smith haue die lIcommercial sociery« ihren On als letzte Phase innerhalb eines Vier-Stadien-Schemas der Gesellschaftsentwicklung. Neu war bei Smith, daß weniger nach den Ursprüngen gesellschaftlicher Einrichtungen wie Herrschaft und Eigentum gefragt wurde als nach .den vorwärtstreibenden Momenten des Geschichtsprozesses aufjeder seiner Stufen. Smiths Interesse galt weniger der Urzeugungdes gesellschaftlichen Lebens als seiner Evolution. Neu war auch, daß Gemeinwesen nicht länger nach ihrer konstitutionellen Form, ihren inneren Triebkräften - Momesquieus ~'passions humaines qui le [gouvernement] follt mouvoir~l26 - oder ihren politischen Legitimitätsgrund-
123 VgI.J. OSltrnamllltl. Disl::lllzerfahrung. D:lmcllllllgsweisen des Fremden im 18. Jahrhun* den, in: H...,}. K'ollig 1I. a. (Hg.), Der ellropaische Beobachter außcreuropiischer Kulturell. ßcrlin 1989. S. 9-42. 124 Vgl. R. L. Mnk, Smidl, Marx and Atfer: Tell Essays in the Devclopmcm of Economic Thouglll, London 19n. S. 30-32; H. Meditk. Natur2.11sl3nd und Naturgeschichte der bürgerlichen Gesellschaft. Göningen 1973. S. 750:; 1. Ho"" Thc ungllage ofSociability and Commercc: Samucl Pufendorfand the Theoretica1 Foundations of the _Four-Stages-Thcory., in: A. Pagdl.'l1 (Hg.). Thc unguages ofPolitical Th('(lry in Early-Modern Europe. Cambridge 1987. S. 253-276. 125 W. RoMnson. The Progress ofSocicty in Europe: A Historie1 Qutlinc from the Subversion ofthe Roman Empire tO the Bcginning ofthe Sixtecnth Ccmury [ 1769J. hg. v. F. Cilbm. Chicago 1972, S. 21. 126 MOllltsqllinl. De l'esprit des lois, 11V1, in: fNrs.• G:u...res complttcs. hg..... R. GJillois, Ud. 2. Paris 1951. S. 251.
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lagen, sondern nach der vorherrschenden Subsistenzweise ll7 k13ssifiziert wurden. Diese wiederum gab jeweils Aufschluß über An und Grad von Zivilisiertheit. Das Vier-Stadien-Schema, so wichtig Lockesche Grundlagen Hir seine Ausarbeitung ..varen, bot eine Alternative zum naturrechtlichen Denken, das, wie in Schottland noch Francis Hutcheson lehrte, nur zwei _Stadien« kannte: den Zustand ungebundener Freiheit im Rahmen der !1arürlichen Ordnung und der konstituierten bürgerlichen Gesellschaft. Smith hingegen nahm eine Abfolge von vier Stadien an: _There are four distinct St2ges which mankind passes duo: - Ist, the Age ofHumers; Zdly, the Age ofShepherds; 3dly, the Age of Agriculture; and 4thly, the Age of Commerce.«I21 Die Konjectural history« ..var ein experimentelles GedankenspicJ von universaler, auch den außereuropäischen Bereich erfassender Reichweite, das Smith durchaus undogmatisch anwandte. Weder nahm er an, daß jede Gesellschaft alle vier Stadien durchlaufen müsse - die Tataren IZll etwa seien durch ihre natürliche Umwelt auf das Stadium des Pastoralismlls festgelegt -, noch vertrat er einen matcrialistischen Detcrminismus; selbst die Persönlichkeit von Monarchen, bei deren EinschätzungAdam Smith oft Humes Urteilen folgtel.Xl, bezog er in seine Analyse ein. Die Subsistenzweise legte nur die allgemeinen Bedingungen fest, innerhalb derer sich konkrete Geschichtsprozesse abspielten. Das Vier-Stadien-Schema hatte bei Smith seine systematische Stelle in einer Analyse der EntwickJungvon Eigentumsverhältnissen, gesellschaftlicher Differenzierung und politischer Herrschaft. Ul Anders als Locke sah er Eigentum eher als Folge denn als Ursache der Entstehung politischer GeW2lten. Ursprüngliche Eigentumsrechte erkannte er nicht an. Die Historisierung der Eigemumsproblematik:. bei Locke in wenigen Bemerkungen angedeutet, wird bei Smith im Kontext einer materialen Geschichtsphilosophie explizit vollzogen. 1J2 Adam Smith' Stellung in der Geschichte der Historiographie erschöpft sich nicht in der Anregung der WirtSChaftsgeschichte durch einen angeblich außerhalb der Geschichtsschreibung stehenden theoretischen Ökonomen. llJ (Trotz
127 Robcrtson fUhne diesen Begriffein: _In ev~ry inquiry cOllcerning the opt'n.tiolls of l1\~n when unitt..d togclher in society. the first objeci of atl~ntion should bc their mod~ of subsistcnc~. Accordingly as 11m vUles, thcir Iaws and policy musl be differenu W. Robtruoll, Col1ceted Worlu, Bd. 5. LondOIl 1812, 5.111, ähnlich 5.128. 128 Smilll, Lcctures on Jurisprudence. S. 14. 129 1111 Sprachgebn.uch d~s 18.Jahrhulld~nseinSammeln:a.m~ fUrdie nomadischen Bewohn~r Illllen.siens. 130 Hum~s .Hislory" ist noch vor MOlltesqui~us .Oe I'esprit des lais. du in Ad:a.m Smith' _Lcctures Oll Jurisprud~nu.:a.m meisten zitknc Werk.. 131 Vgl. die gründliche Interpl"C"taüon bei A. S. Skinnn. A S)''Stem ofSocial Seien«: Papcrs Rcbring 10 Adam Smith, Oxford 1979, bcs. S. 68fT. 132 Vgl. duu Mn/itll, Nalurzustand, S. 249fT. 133 So H. Rint'TMm SrbiIt. ~ist und Geschichte \"Om deulSC~n HumanISmus bis 1:ur~n w:a.rt, ßd. 1, Münc~n 1950. S. 120. Die neucl"C" Forschung lUi die Kohäl"C"m. von Smith' Gesa.mt-
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der frühen Blüte der politischen Ökonomie hat sich im übrigen die Wirtschaftsgeschichtc in Großbritannien in dem Jahrhundert nach Smith so gut wie gar nicht entfalten können.) Smith ebenso wie Miliar und der schon von Friedrich Meinecke im Zusammenhang der -englischen Präromantih gewürdigte Adam Ferguson lJ4 nahmen selbst teil am britischen historischen Diskurs: als Anreger und leser von Geschichtsschreibern wie Humc und Robertson, aber auch als Urheber einer charakteristisch schmtischen geschichtsphilos0phischen Perspektive: der auf historisch-anthropologische Beobachtung und übergreifende Mutmaßungen, -eonjecturesl, gegründeten sozialökonomischen Stadiemheorie. In einem allgemeinen Sinne hat die »conjectural history« zu einer Entpcrsönlichung der Geschichts:lUfTassung beigetragen. Smiths Gespür Hir den individuellen Faktor der Geschichte war, stärker noch als bei Robenson, eingebettet in eine profund soziologische Sensibilität. Die Folgen zeigten sich noch bei Macaulay, der über seine Mitarbeit an der lIEdinburgh Review" mit der Gedankenwelt der späten schottischen Schule verbunden war. Weniger noch als I-Iullle war Macaulay ausschließlich ein Chronist der I-Iaupt- und Staatsaktionen. Seine narrative Darstellungsweise, die sich von der Strukturgeschichte Smiths, Jolm Millars und des Robertson der Einleitung zur Geschiclnc K.1fls v. us so deutlich unterschied, int'egrierte auch sozialhistorisches Material. Daß »the spirit of the Age«, den der Historiker erfassen müssc l .16, nicht nur durch Individuen, sondern auch durch außerpersönliche »circumstancesl geprägt wird und daß diese wiederum von den allgemeinen politischen und gesellschaftlichen Verhältnissen abhängen - dies hat der junge Macaulay von den schottischen Aufklärern ebenso gelernt wie eine dann allerdingc.; weithin im Illustrativen verharrende Aufmerksamkeit fur sozialgcschichtliche Zus.amwerk 11I:r;lusgearbeil(~t. in ....ockhcm dic systcmatischc WinschaflSlhcoric ihrcn Ort als TCllstück eincr umfassendcn, mOr;llphilosophisch und hislOrisch fundicrtcn GescllschaflSlchrc findei. Vgl. zusamlJlcnfassend zu dieser Sieln D. D. RaphMl. Adam Smilh, Oxford 1985: wcilcrlunH. DipJWl, Individuum und Gcsdlschafl. SoZiales Denkcn zwischcn Tradilion lind Ilevohllion: Smidl-Condorcet - Fr;lnklin, Göttingcn 1981; Mttlifk. NalUrwsund: N. WlUZtk, Man's Social Nature: A Topic oflhc Scouish Enlighlcl1lllcllt in IIS Historie Scning. Fr:tnkfurl a. M. 1986. S. 101-136, sowic dic Auf~tzc von H.-D. KillSlti,~r. A. S. Ski",ln' lind D. Will{II, in: F-X. Kilrifmallll lI. H.-G. Krlj~lbng (Hg.), Mark!, SWI und Solidaril:it bei Adam Smith. Fr;lnkfurt a. M. 1984. Die hislorischI' Dmlcllsion dcs Smilhschcn Wcrks wird bUIIl beaclllct bei M. Tropp. Adam Smillt: Politische Philosophic und politische Ökonomic, Göltin~1l 1987. 134 F. Meinte/«. Dic EllIslchung des HiSIonsmus. hg. v. C. Hitrridu (Wcrkc. ßd. 3). MOJlchcn 1965. S. 261-267. 135 Der Haupltt"il \'on Robcnsons .HislOry ofthe Rcign ofEmpcror Charlcs V.• von 1769151 IUllbocgcn kOllvcntJoncllc ErcigniSb"C:SChlcillc. 136 Zum Topos des .spirit ofthC' agc. im frühcn 19.Jahrhundcn vgI.A. D. Culkr, Thc VICtQnan MirrorofHis«>ry. Ncw H
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menhänge, bcsonders die IInoiselcss rcvolutions«, die den großen Umbrüchen der Politik tcils voraufzugehen, tcils zu folgen pflcgtcn. 1J7 Der Sozialhistoriker Macaulay, bisweilen schon in den frühen Essays spürbar, sollte sich schließlich im berühmten dritten Kapitel der »History of Englandll, dem Panorama der englischen Gesellschaft im Jahr 1685, zu erkennen geben, einem sozialhistorischen Gemälde, das bis ins 20. Jahrhundert hinein von keinem britischen Historiker übertroffen wurde. 1J.ll Macaulay setzte freilich, ein Dreivierteljahrhundert nach Smith und Ferguson schreibend, andere Akzente. Er bestimmtc die ökonomische Moderne nicht als Tausch-, sondern als [tldllstriegesellschaft. Spezifischer wirksam wurde die schottische Behandlung dcs Verhältnisses von Zivilisation und Barbarei: ein Gegensatz, der von jeher im semantischen Kern des Zivilisationsbegriffes eingeschlossen war und dem nun die schottische Wirklichkeit nach der Mitte des 18.Jahrhunderts eine drängende Aktualität verlieh. Eine VOll Adam Smiths bedeutenden und folgenreichen Idcen war es, die altcn Gcgenbcgriffc auf die Zeitachsc zu projiziercn. Vormoderne Gcsellschaftsformcn (dic lIrude stages ofsocictylC: Jäger, Hirten und Ackerbaucrn) wurden weder - wie bei I-Iarrington, Bolingbroke und anderen polisbegcistertCIl Nostalgikcrn des klassischen Republikanismus-anachronistisch an die Gegenwart herangerückt und zum unmittelbar verpflichtenden Modell erhoben, noch - etwa im zeitrypischen Bild des "edlen Wildenll oder im polemischen Klischce vom lIorientalischen DespotismuslC - cxotisiert und damit in einc inkommensurable Distanz zur Gegenwart des modernen Europa gerückt. Vielmehr erhielten sie nun einen Platz in der langfristigen Entwicklungslogik kontinuierlicher Zivilisierung. Damit war rur einen größeren ArgumentationsZllsammenhang zweierlei gewonnen. Zum einen verminderte sich nun die theoretische Wahrschcinlichkeit, die moderne Gesellschaft könne ullvennittelt in Barbarei zurücksinken, eine Furcht, von der sich auch I-Iumc nicht völlig hatte befreien können. Adam Smith übersah keineswcgs die Ambivalenzen der Modernisicrung. Er hing noch durchaus - und erst recht tat dies Adam Ferguson - am klassischcn Ideal des ungeteilten Individuums, erkannte den Widerspruch zwischen einer Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums nach dem Tauschprinzip und einer solchen nach dem naturrechlich und sozialkonvelltionell verankerten Prinzip des gerechten Auskommens und ahnte zumindest die immallenIe Krisenanfalligkcit der lIcommercial society«, wie sie dann von den politischen Ökonomen der folgenden Generation, namentlich Thomas Robert Malthus und David Ricardo, zum nachgerade obsessiv verfolgten Zentrahhema erhoben wurde. 1.)9 137 C/ÜIt'. Mac:luby, S. 105,495; don S. 119-122 über Macaubys Vorstellung von Sozialgeschichte. 138 Matal,lay, History of Engbnd. Bd. 1, S. 272--421. 139 Eine vorzügliche Diskussion der Arnbiv:IIlenzen von ModernisicTUng im GesanuKOl1text der scholtischen Aufklärung ist I. HOIll 11. M. IgtlalitJ!, Nccds :lindJusticc in Ihe .Wcallh ofN:llions«:
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Dennoch ist sein Grundton optimistisch. Gesellschaftliche Stagnation schließt Smith nicht aus, aber eine Regression von einer höheren Stufe aufeine in langen strukturellen Prozessen bereits überwundene ist nach dem Stadienmodell viel schwieriger vorstellbar als im Bilde vom sich drehenden Rad der Fortuna. Hier, ebenso wie, Bernard Mandeville folgend. durch die Umwertung des Lu>"'11skonsums von der Ursache staatsbürgerlicher lIKorruption« zur Triebkraft wirtschaftlichen Wachstums, raubte Smith der pessimistisch-zyklischen Geschichtsbetrachtung der lICivic humanists« ein wichtiges Argumcnt. Zum anderen ließen sich, wie Smith in Übereinstimmung mit Hurne lehrte, vormoderne Gesellschaftsformen nicht länger, wie bei den Ideologen eines nebulös-früh historischen lIgothic origin« der englischen Freiheit, als unmittelbarc Lcgitimitätsquellen der Gegenwart betrachtcn. Ein langer sozialökonomischer Wandlungsprozeß trennt die moderne Gesellschaft von jcnen Zuständcn, die im politischen Diskurs der verschiedensten Richtungen immer wieder als maßstäblich zitiert wurden. Smith, Ferguson und Miliar entwickelten im Detail unterschiedliche Vorstellungen vom Verlaufder universalcn Gesellschaftsentwicklung. Gemeinsam war ihnen jedoch eine Historisierung vormoderner Formen, die sich gleichermaßen vom Anachronismus der im Bannc einer idealisierten kommunal-republikanischen Antike verharrenden »civic humanistsll abgrenzte wie von den Naturzustandskonstruktionen des naturrechtlichen Vertragsdenkens. Von ihrem Freund und Lehrer David Hume unterschieden sich Smith, Ferguson und Miliar indessen dadurch, daß ihnen die vorm odernen Gesellschaftszustände mehr waren als ein roher, in der Darstellung bewußt grob gestrichelter Hintergrund, vor dem sich, wie bei Hume vor der Primitivität des englischen Mittelalters, die »politenessll der Modcrne um so schärfer abhob. In der »conjcctural historyll der schottischen Aufklärung finden sich in einem auch bei dem verehrten und uncntwegt zitierten Anreger und Vorläufer Montesquieu unbekannten Maße Ansätze zu einer universalen Gcschichte der gesellschaftlichen Institutionen wie der sozialen Verhaltensweise der Menschen. Die vormodernen Formen erscheinen dabei in mancher Hinsicht als Vorstufen der Moderne und evolurionäre Durchgangsstadien, in anderer hingegen als gesellschaftliche Organisationsmuster von eigener innerer Gesetzlichkeit, als in sich geschlossene FunktionsZllsammenhänge von Herrschaft, Tausch und Weltbildstrukturen, die jeweils auch isoliert VOIll lIvcrtikalen« Evolutionsprozeß, in den sie eingebettet sind, »horizontal. studicrtwerden können. Damit war die Grundlage geschaffen ftireine universale historische Soziologie.
An Introduclory Esuy, in: DitJ. (Hg.). Wc~hh ~nd Vittue, S. 1-44. Ober Fcrguson: Z. &lSlJUl u. H. Mroil'k, Einleitung, in: DitJ. (Hg.), Ad~m Ferguson: Versuch über die Geschichte der bügcrlichcn Gescllsch~r!. cl!. v. H. Medick, Frankfurt~. M. 1986, S. 7-91, bes. S. 39, 73--81.
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Die britische Geschichtsschreibung hat aus diesen wegweisenden Ideen der schottischen Juristen und Moralphilosophen zwei unterschiedliche Typen von Schlußfolgerungen gezogen. Der eine Typus betont die horizontale oder synchrone, der andere die vertikale oder diachrone Dimension des Stadien modelis. Erstens eröffnete das Vier-Stadien-Schema die Möglichkeit zu einer Analyse der >lbarbarischen« Formen nach ihrer sozialökonomischen Elgt>nlogik, einer Analyse, deren zweite Inspirationsquelle Montesquieu war. Diesen Weg ging Edward Gibbon, auf den kein anderer moderner Denker so intensiv einwirkte wie Montesquieu und den man umgekehrt zu Recht als den bedeutendsten Schüler des President a monier bezeichnet hat. l40 In Gibbons Sicht erlag die durch Despotie und Luxus innerlich geschwächte, vordcn logistischen Problemen ihrer Ausdehnungversagenden und durch außerweltliche Heilsreligionen unterminierte Zivilisation Roms in letzter Instanz dem Ansturm von Völkern einer niederen Gesiuungsstufe. Anders als die Schonen interessierte sich Gibbon mehr für dcngleicJlzeitigell Konflikt von Gesellschaften unterschiedlichen Zivilisationsstandes als für den evolutionären Übergang von einer Stufe zur nächsthöheren. Der immerwährende, erst im neuzeitlichen Europa zum Ende gekommene Zusammenstoß zwischen mobilen Barbaren und seßhaften Zivilisierten war jener thematische Komaktpunkt, an dem die Geschichte des Untergangs Roms zur Weltgeschichte wurde. Sein Studium von Tacitus' >lGermania«, seine umfassende Kenntnis der Reiseliteratur und des proto-orientalistischen Schrifttums des lB.Jahrhunderts'·', schließlich die Anregungen, die er - in etwa dieser Reihenfolge der Wichtigkeit - durch Robertson, Ferguson und Smith empfing 1• 2, ermöglichten es Gibbon, über die bloße Dämonisierung der aggressiven Reiterstämme hinaus zu einer bcispicJlosdifferenzierten, auch weit über die vergleichbaren Analysen in Vohaires "Essai sur les mceurs« (1751) hinausführenden Soziologie des Nomadentums vorzudringen. l.j Beispielhaft da140 CrllddiXk, Echward Gibbon, S. 8JOrdll", GiblxlIl, S. 71, auch S. 183-212. Vor allem fiber den Einfluß \"On Momesquieus hislorischem Hauptwerk, den .considcratiolls sm lescluscsde la grandeur des nomains et dc !cm dccadence. (1734) lufGibbon: Wllnrrmlf)', Transformation, S. 9-19. 141 Das herausragende Werk dieser Kalegorie U!1l(). de Glligrrts, Histoire generale des HUIIS 1...1,4 Bde., P;rris 1756--1758. 142 Über die Beziehungen Gibbons zur schottischen Aufklärung vgl. P. B. CrllddiXk, VOllng Edward Gibbon: GCllIleman orLcuers, Blllimore 1982, S. 258f.: DitJ., Edward Gibbon, S. 34-37, S. 67-69, S. 74;M. A. Wtbtr, David Hume und Edward Gibbon. ndigionssoziologie in der Aufklärung, Frankfurt.1. M. 1990, S. SOff. 143 Im 26. Kapitel: E. Gibbotr, The I-listory of the Dedine and Fall ofthe Roman Empire. hg. v.J. B. BIlf}', 7 Bde., London 1896-1900, hier Bd. 3, S. 72-139. Wichlig iSI daneben vor allem das 9. Kapild (Bd. I, S. 213-236) über die Germanen bis zur Völkerwanderung. Zur Imerpreution besonders). G. A. PiXiXk, Gibbon and the Shepherds: The Stages ofSociety in the _Dedine and Fll1., in: HEI.Jg. 2, 1981, S. 193-202; dm. Gibbon's _Dedine and Fall. and Ihe World View oflhe Late Enlightenmenl, in: Dm., Virtue, Commerce and History, S. 143-156;]. W. Bllrrow, Gibbon, Oxford 1985, S. 67-79: R. Pon". Edward Gibbon: Making HislOry, Landon 1988, $. 135([:
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rur ist Gibbons Behandlung der Ursprünge des Islam. Auch Gibbon beteiligt sich an der das ganze 18. Jahrhundert bewegcndcn Debatte um den Propheten Muhammad -dcmagogischer Scharlatan oder weiser Gründer einer rationalen Religion? -, und er tut dies in excmplarisch unpolcmischcr und abgewogencr Weisc. Aber cr bcgTeift die islamische Religionsstiftung kcineswegs allein als einen prophetischen Akt, sondern deutct sie quasi-matcrialistisch vor dcm HintergTund der egalitär verfaßten, bis zum Stadium von Städtebildung und Blüte >.bardischenl Poesie entwickelten, dabei jedoch auf ordncnde RechtsbcgTiffe vcrzichtcnden Hirtcngesellschaft der arabischen Halbinsel. 1.... Am Beispiel von Htlllnen und Mongolen wiederum entwickelt Gibbon cine Art von Theorie der strukturellen Aggressivität pastoralcr Gesellschaften: Der raumgTeifenden Subsistcnzweise entsprechc die Abwesenheit jeglicher Vorstellung vom Nutzen der ßegTellzung sowie das Fchlen einer Furcht vor Vergeltung..Es bcdürfe dann nur noch der bündelnden Organisationskunst eines Auila, Dschingis Kahn oder Timur, um die militärische Dynamik des Pastoralismus freizusetzcn. 14s Der ~cxterne~ Faktor der abendländischen Geschichte wird in Gibbons Kapitel über Hunnen und Türken, Germanen und Araber zum erstcn Male nicht nur in seinen Wirkungen, sondern auch in seincn Ursprüngen und Ursachcn umfassend untersucht. l46 Gibbon vcrachtete eincn modischcn Primitivismus, niemals verklärte cr das Leben dcr Barbaren, er stilisiertc sie nicht zu ~cdlen Wildem. Aber cr sah, ganz in Übereinstimmung mit Adam Ferguson, das Barbarennull auch nicht als bloße Durchgangsstation einer aufstrebenden Entvlicklungoder als Residuulll des Zivilisationsprozesses. Dabei waren die Kriterien, die er zur AbgTcnzung zwischcn Hirten- und Ackerbaukulturen vcrwandte, ganz. und gar »schottisch«: der Gebrauch der Schrift, dcr Grad der Arbeitsteilung, die Einfiihrung des Geldes, dic Herausbildung einer sozialen Schichtung, die Verdichtung der »gTcat chain ofmutual dependenccll.147 Gcwiß begTüßtC Gibbon den Zustand, den Europa im späten 18. Jahrhundert, zumindest bis zur Französischen Revolution, cr-
M. &ridotl. Edwud Gibbon et le mythe de Rome: J-1iSlOire er ideologie an si~de des Lurnitre$.• ßd. 2. Lilie 1975. S. 490fT: 144 Im SO. K2pitcl (Dcdine aud Fall. ßd. 5. $. 333lT.). Zu Gibbons Deutung der Araber vgl. G. GÜlriao. Eduard Gibbon C la cultura europca dcl scneccmo, NeapcI1954. S. 478-512. Über Gibbons Mllhamn13d-Portät auch W. B. Canlodum. Gibbon's Solimde: The Inward World of rhe I-listonan. Stan(ord 1987. S. 117-121. 145 Gibbon. Dcclineand Fall. ßd. 3. S. 418lT.. 43fT: 146 Das hat SChOll/Hti,l«kt, EllIstehulIg des Historismus. S. 2291:. gewOrdigt: ,.Du ist einmal die llnivcmlhisrorischc Umgreifnng. Durchdrinb'l.lng und Gliederung seines GCbocnstandes, die siell nirgends mit der 2ußcrlich-kriegcrisch "erherrendell Einwirkung frcmder Völker auf das Schicks41 Roms begnügt, sondem jcdesdicscr Völker auch mit seinem eib'llell Wescn und Schicksal auftreten läßt.~ Gib/xm selbsf sctzte sich das Ziel. ,.to inrroduce the nations. the inllllcdi:HC or remo-fC :mthers of fhe fall of fhe IlOlm.n ernpite~ (lkc1ine aud Fall. Bd. 5, S. 273). 147 Ebd., Bd. I. S. 212(, $. 215.
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reicht h:me;ja, der langsame Aufstieg der Zivilis,ation im Europa der Neuzeit W3r ein Thema, das ihn zum Ende seines Lebens und Werks hin immer mehr beschäftigte. Von Robertson übcmahm er die Vorstellung, das plurale europäische Staatensystem schütze vor einem militärischen Despotismus, von Adam Smith den Gedanken, die IKommercial society« sei stabiler als frühere Gesellschaftsformen, beruhe sie doch mehr aufden handfesten Interessen als aufden prekärcn Tugendcn ihrer Mitgliedcr. Gleichzeitig billigtc er dem Leben der ltBarbaren_ nicht nur, mit relativistischcr Tolcranz, einen eigenen Wcn zu. Er vcrsuchtc, ihre Lebensform aus den Bedingungen der natürlichen Umwelt ursächlich zu erklären. Bei den Schottcn ist die von ihnen entdeckte und so genanntc pastorale Subsistcnzweise jcnc auf den Zustand der ltWildheitll folgcnde Stufc der Gescllschaftscntwicklung, in der sich Privateigentum, politische Unterordnung, arisfOkr.uische Hierarchie und eine Milderung vonlJmanners_ herausbilden: ein Schritt zu llpoliteness_ und Kapitalismus. Bei Gibbon bleiben die Hinengt.--sellschaften ohne teleologisches Potential; die Zivilisierung beginnt ftir ihn erst im Stadium des Ackerbaus. Eben wegen dieser Isolierung eines .Stadiums_ aus dem EntwickJungsprozeß kann Gibbon es als geschlossene Gesellschaftsformation analysieren.l~ Dies macht ihn - mehr noch als Ferguson oder Miliar - zu einem historischen Ethnographen. Die Geschichte der europäischcn Zivilisation wird verbunden mit ciner Analysc ihres wirkungs mächtigen Gegenteils. So trägt Gibbon eine größere Kontingenz in dic Gcschichte, und es gelingt ihm in dcr Komplexität sciner Erzählung einc Verdichtung der Erklärung. Der jüngste Aufstieg der Zivilisation in Europa wird UIIl so crstaunlichcr,je weniger cr heilsgeschichtlich verbürgt und evolutionär vorbestimmt ist. Darin, daß cr es nicht ist, stimmt Gibbon mit Hume überein.
v Sucht Edward Gibbon, der nicht allein einer der größten Historiker Roms und der kunsrvollste Artist unter dcn curopäischen Geschichtsschreibern des 18. Jahrhunderts war, besonders auch ein theoretisch versiertcr Vertreter der IIphilosophischen« Geschichtsschreibung dcr Aufklärung, in einer Synthese von Montcsquieu, Tacitus und schonischer Sozial- und Geschichtstheorie nach den inneren Bewegungskräftenjeweils besonderer vonnoderner Gesellschafts148 Nach einer Mt'thode. die spi~r Mill t'lIlpfehkn sollte: _1 .•. 1bt-fOf'(' Wt' Cln tnC(' Ihe filiarion of WICS ofsoOety one from anoth<'r. Wt' must ngluly underst2nd and c1early concel\'e lhem. <'ach ap.m from the rf:St ••j. S. Mill. MjcheklS _l-llSIOry ofFnnce.. IEdmbllrgh Rcvlcw 18441. in; ThcCollectedWorksofJohn Snun Mill. hg. v.j. M. Rob1DlI. ßd. 20. Toronto 1985. S. 225. PD(O(r. AJ1Ck'11l ConstilUlIOIl. S. 95-104. 120. findC't ein ihnlKhcs VC'rfahrell schon 1626 bei SIr Henry Spdnun.
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formen, so gingen andere einen zweiten Weg vom schottischen Sudiendenken zur Konkretion der Geschichte. In der nächsten und übernächsten Generation dominierte gegenüber dem weltoffenen kulturellen Relativismus, der Aufklärern und Romantikern, der David Hurne und Edmund Burke, Adam Ferguson und Walter Scott gemeinsam w;;ar, die Vorstellung von einem kumulativen, sich in den Errungenschaften des gegenmrtigen Nordwesteuropa erfUllenden Zivilisationsprozesscs. Vormoderne Gesellschaftsformen wurden foTtan weniger in der Perspektive ihres Eigenwertes und ihrer Eigenlogik betrachtet als unter dem Gesichtspunkt ihres zivilisatorischen Mangels und ihrer Rückständigkeit. Deutlich wird dies bei James Mill und Thomas Babington Macaulay: der eine nach dem Zeugnis seines Sohnes ~Ie dernier survivam« dcr schottischen Schule l49 und Verfasser eines Werkes, der »History ofBritish Indiat:, das als die ausrtihrlichste materiale Ausarbeitung der schottischen .philosophical historyll gelten kann l50, der andere schon weiter von der schottischen Tradition entfernt, aber nach Herkunft und Neigung einigen ihrer geschichtsphilosophischen Überzeugungen weitcrhin verbunden. Mill wie Macaulay schrieben nicht länger wie Hume, Robertson und Gibbon vor dem Horizont eines aufklärerischen Kosmopolitismus, sondern im ganz anderen Kontext der britischen nationalen und imperialen Siruation. Beide schrieben nach der Französischen Revolution, die das geistige Leben in Großbritannien tiefbeeinnußt'c. lsl Sie gab auch dem Zivilisationsproblem eine neue Wendung. Seit Edmund Burke die französischen Revolutionäre 1790 mit .barbarous conquerors« verglichen hatte lS2, stellte sich das Problem der .innerenk Barbaren in den fortgeschrittensten Gesellschaften Europas. Es wurde zu einem zentralen Topos konservativ-romantischer Zeitdeutung im 19.Jahrhundert.l~ Burkes innere Barbaren waren noch weniger die rabiaten Volksrnassen, die später in Carlyles »French Revolution..: zum historischen Subjekt erhoben werden sollten, als die machthungrigen Advokaten und Abenteurereiner sozial wie kulturell wurzellosen Mittelklasse: eine finstere Umdeutungjener ~midd-
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J. S. Mill ~n Auguste COlllte, 28.Januar 1843, in: CollCCtl-d Worb ofJohn Smart MiII, Bd.
13, S. 566. ISO Burrow, Evolution ~nd Sociel)', S. 48. 151 Vgl. dazu C. Crou/q u. /. SnUlII (Hg.), The Frcnch Revolution ~nd British Culture. Oxford 1989. Darin bes.J. C/illt, M~c:aulay ~nd the French Revolution, S 103-122. 152 E. Burkt, Rdlcctions on the Revolution in Fnoce, in: The Writings ~nd Spc«:hes ofEdmund Burke, ßd. 8, hg. v. L G. MiuhdJ. Qxford 1989. S. 165. M~cauby übernimmt diesen Ver· gleich 1848 ~m Ende ~incs zweiten Bandes. woer die gelungene Revolution \"Ofl 1688 ~Is Ursache rur das !\Usbleiben einer Revolution im J~hre 1848 deutel: .Europc hu b«n threatencd WHh sub. jug:alion by barbMi~ns. compHed wilh whorn the OarMnlllS who m:rorchcd under Amb :rond AJbom "....e u enligluend:rood hum~~ (MlItlluLry. HiS10ry ofEngbnd. ßd. 3, S. 1312). 153 Vgl. ruf die fDJlzösische literatur die gruodkgc.ode Untersuchung: P. Afilhtl. Un Mythe rOllUnliquc: lcs barwro; 1789-1848, Lyon 1981. Auch D. Orhkr. Em Höllcnslurzder Alten Weh. Zur Selbsterfonchungder Modtmen nx:h dem Juni 1848. Fnnkfun~, M. 1988.
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ling rJ.llksK, in dcncn die Schotten von David Hume bis zu den Edinburgh Reviewers der Jahrhundertwende ein progressives Element der Geschichte gesehen hanen. Bei Thomas RobeT[ Mahhus, der 1798 vor den verhängnisvollen Folgen des Multiplikationstriebs der Unterschichten warnte, erhielt das Problem der innercn Barbaren dann seine fiir Großbritannien zunächst charakteristische Gestalt, die des demographischen und ökonomischen Pessimismus. Fast gleichzeitigsteIlte indessen, aufBurke antwoT[end, Thomas Painc das Problem in neuer Weise. Hatte er noch 1792 in seinen IIRights of Man« ganz im Geiste von Hurne und Adam Smith die Wohluten der modernen Zivilisation gepriesenl$ol, so verkehrte eI drei Jahre später in ItAgrarianJusticc« seine frühere Position geradezu in ihr Gegenteil: Primitivität und Barbarei müsse man weder in ferner Vergangenheit noch unter den Wilden Amerikas und Mrikas suchen, auch würden sie nicht durch Burkesche Verschwörer von außen in die europäische Gesellschaften hineingetragen. Die moderne Zivilisation selbst produziert notwendig Massene1end, sie erzcuge in sich selber eine neue Art von ItsavagcryK: )lPoverty, thereforc, is a thing created by that wh ich is called civilized Iife I···) Civilization, [herefore, or that which is so called, has operated two ways: to make one part of society more affiuent, and the mher more wretched, than would have been the lot of either in a natural StatC.K I55 Diese Umdefinierung des Zivilisationsproblems unter dem Eindruck von Französischer Revolution und industriellem Frühkapitalismus, der Übergang von der Frage nach den Bcdingungen des Aufstiegs zivilisierter Vergcscllschaftungsformcn aus primitiveren Stadien zum Problem der inneren Zerrissenheit der moderncn Zivilisation und ihrer Bedrohung durch ihre inneren Widersprüche, hat die britische Geschichtsschreibung nur indirekt berührt. Aus Thomas Carlyles I,Chartism(( von 1839 spricht die Stimme dcs Sozial kritikers, nicht die des Historikcrs. Bei James Mill und Macaulay, den Nachfahren der schottischen Aufklärung, lebtc das schottische Emwicklungsdenken fort. Es tat dies allerdings mit charakteristischen Verschiebungen: Die Vorste1lungsweh der >lconjectural history«, im Zeitalter des »evangelical revival. vcrstärkt durch ein missionseifriges Christentum lS6, erlaubt es, eine wenetlde Rangordnung der gesellschaftlichen Formen aufzustellen, eine "Stufenleiter der ZivilisiertheitK l57 , wie sie bei den stärker kulturrelativistischen schottischen Klassikern noch nicht so deutlich ausgeprägt war; namentlich Adam Fcrguson war keineswegs von der vergleichslosen Vortreffiichkeit der modernen Gesellschaft überzeugt und 154 T. Paint. The RighlSofMan (Tei12). Harlllondsworlh 1%9. S. 163-167. 155 Dm.. AgruianJustiee. in: The Life and Wodu ofThomas Paine. !lg. v. W: M. Van der Wcyde.. Bd. 10, Ncw Rocheslcr 1925. S. 10. 156 Auch der streng purilanisch erzogene AlheistJamcs Mill konnte sich dieser Prigung nieht entledigtn. Vgl. Thomas, Philosophie IbdiClls, S. 100f. 157 _$cale ofcivilization.: MiII, Historyofßritish India, Bd. I. S. 458. Don S. 481f. zu den Kriterien von Zivili.sienheit.
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maß auch früheren Entwicklungsstadien, nicht zuletzt in außereuropäischen Erscheinungsformen, einen eigenen Wert bei. Zudem wurde das schottische Stadiendenken jetzt national, ja, nationalistisch vcrengt.lS8 Die schottischen Sozial- und Geschichtsphilosophen hatten sich von der alten und neuen WhigIdeologie der englischen politischen Diskussion durch ihr geringes Interesse rur den englisch-britischen Sonden.veg unterschieden. Seit Humes Kritik 3m "vulgar Whiggismil seiner englischen Zeitgenossen hatte man immerwiederdie gemeincuropäische·Erfahrung im globalen Rahmen betont. Von diesem schottischen Universalismus findet sich nichts mehr bei den Historikern Mill und Macaulay. England nicht bloß als Hort ehrwürdiger Freiheit, sondern als Inbegriffzivilisatorischer Vollendung inallell Lebensbereichen wird nun an die Spitze der Zivilisationsleiter gesetzt. Die Briten, schreibt Macaulay 1835, lIhave become the greatest and most highlycivilized pcople that ever the world sawll. l59 Sowohl die - freilich zunächst durch Erschöpfung gedämpfte - Triumphstimmung nach dem siegreichen Ende der napoleonischen Kriege und die weitgehende Durchsetzung einer maritimen Pa.x ßritannica als auch die Erfahrung eines Wirtschaftsaufschwungs im zweiten Quartal des Jahrhunderts und die Genugtuung über die Durchsetzungder Wahlrechtsrdorm von 1832 trugen zu diesem selbstzufriedenen Urteil bei. In der Objekte aus aller Welt ausbreitenden Kristallpalast-Ausstellung von 1851 samt ihren propagandistischen Begleiterscheinungen kulminierte dann der Zivilisationschauvinismus der hochviktorian ischen Epoche. 160 So erlebte eille Art vonllVulgar Whiggislllil seine Wiedergeburt in eiller ganz unromantischen Herablassung mehr noch als zum kontinentalen Europa zu den außereuropäischen Kulturen und - bei englischen Autoren - zunehmend auch zu denjenigen des innerbritischen "Ccltic fringell.161 Sofern sie britischem Regiment unterstanden, waren sie, anders als Gibbons frei schweifende Steppen- und Wüsten krieger, durchaus eine bcondere Spielart von ;/llIere/l Barbaren. Niemand bot sich fiir diese Rolle offensichtlicher an als die Untertanen der East India Company. James Mills lIl-listory of British In dia« kombinierte das schottische SL'ldiendenken in der besonderen Spätform der l)sca1e of civilization« mit dem unhistorischen, jede kulturelle Relativierung ausschließenden 158 Einc neucre Studie erkenlll seil der Mitte des 18.jahrhunderls eiTlen oEnglish quest for llaliOllal identity_. der um l83Qdas St;ldililTl eines ausgebildetcn nationalistischen PoplIbrbcwußIseins erreicht habe: G. Nnwldl1. The Rise ofEnglish N:lliOllJlism: A Cuhur.l1 HislOry I74Q-1fi30, Lolldoll 1987. S. 127. Vgl. auch H. Om/lirlgham, The unguab'C of PatriotiSIll. 1750-1914, in; I-lislOry Workshop,jg. 12. 1981, S. 8-33: L. CoIlry, Whose Nalion? Class lind National Consciousncss in ßriuin 1750-1830, in: P&P, Nr. 113. 1986. S. 97-117:}. Di,rwiddy, England. in: O. Da",r u.). DiI,wjddy (EI-Ig.), Nationalism in the Ase of (he Frendl Revolution, Lolldoll 1988. S. 53-70. 159 MIJ(Qulay, Sir jaml"s Mack.intosh, S. 443. 160 Vgl. die schöne Skizze /xi G. W. Suxkillg. Victorian Anthropology. New York 1986.5. 1--6. 161 Überdie ra5sislische Auf..venungder ':l.ngcls2chsischel1 ltasse_ gegenüber ihren k.eltischen Nachbarn in der LiteralUr des frühen 19. jahrhunderts vgl. clxl., S. 62f.
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Rationalismus Jeremy Benthams. Das Werk war in jenen Panien, mit denen es in der Öffentlichkeit und aufdie Ausbildungvon Kolonialbeamten wirkte, eine Aburteilung des hinduistischen Indien nach dem Maßstab utilitaristischer Ethik und Gesellschaftslehre, ein nach eigenem Verständnis IIwissenschaftlicher~ Beweis der barbarischen Zivilisationslosigkeit der indischen Tradition und ihrer Stagnation aufeiner primitiven Entwicklungsstufe. 162 An Indien vermißte Mill alles, "vas in seiner Sieht die Substanz der fiihrenden Zivilisation, der britischen, a.usmachte: Naturwissenschaft in Newtonscher Manier, eine von Magie und Kult gesäuberte Religion, eine akkumulationsorientiene Marktwirtschaft und die Regelung der gesellschaftlichen Verhältnisse - idealiter - im Sinne von Bemhams allgemeinen Prinzipien der Nützlichkeit. Mills Urteilsspruch über das einheimische Indien schufmaßgeblichjenes sendungsüberzeugte T..1bula-rasa-Bewußtscin, mit dem Macaulay, der Mills IIJ-IiStOryll 1832 mit freudiger Zustimmung studierte und sie pries als IIthe greatest historieal work wh ich has appeared in our bnguagc since that ofGibbon«'t.l, ab 1834 als einer der leitenden Kolonialregenten in Kalkutta die Anglisierung von nechtsordnung und Erziehungswesen in Britisch-Indien buchstäblich in Angriff nahm. Trotz der ganz offen kolonialistischen Position, die Mill und Macaulay in Theorie und Praxis bezogen, nahmen sie jedoch nur wenig vorweg von den imperialen Sentiments der zweiten Jahrhunderthälfte. Weder der Vertreter eines Universalität erheischenden utilitaristischen Menschenbildes noch der Sohn des rabiaten Sklavereigcgners Zachary Macaulay waren Rassisten. Fremd war ihnen, dabei Macaulay mehr noch als Mill, die Vorstellung von einem einerlei ob biologisch oder kulturell bedingten- grundsätzlich un3ufllebbaren Zivilisationsdefizit, auf das sich immerwährende Herrschaftsansprüche der Fortgeschrittenen und Überlegenen gründen ließen. So wie David Humc im Panciengezänk, das die Raufereien mittelalterlicher Barone fortsetzte, so sah Macaulay in innergcsellschaftlichen Zivilisationsdifferenzen ein fiir Wohlstand und politische Stabilität in der Gegenwart bedrohliches Erbe früherer Zustände. Dies galt generell. Es galt fiir die britische Geschichte, besonders fiir eine ihrer archaischcn Erblasten, die rechtliche Diskriminierung der Katholiken, dcrcn Aufllebung 1828 Macaulay lebhaft begrüßte, ebenso wie ftir das zeitgenössische Indien. In seiner indischen Erziehungspolitik setzte Macaulay die prinzipiell uneingeschränkte Bildbarkeit auch der Inder voraus. Mit der zivilisatorischen ging keine anthropologische Differenz einher. Als durchaus realistisches Ziel sah er die planmäßige Heranbildung einer kulturell und politisch 162 D. rorbes, Janu's Mill :lIId India, in: Cambridge Journill,Jg. 5, 1951, $. 28. 163 Zitiert in Oillt. MilclUlay, S. 310. Offenbar las Macaulay während seiner SchitTspassagc nach Indien das Werk noch einmal. MilClulay an Thomas Flower ElIis, I. Juli 1834, in: M!J((Jll/ay, leIters, ßd. 3, S. 62.
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aktionsfahigen anglophonen indischen Vermiulerschicht, Illndian in blood and colom, bm English in taste opinions, in Illorals and in imeileet«.If>4 Diese Schicht, das Produkt einer wohltätigen britischen Erziehungsdiktatur, sollte in wachsendem Maße selbst zum Träger der veT\.vestlichenden Reform in Indien werden und in ferner Zukunft das Land zu einem Verhältnis freundschaftlicher Unabhängigkeit von Großbritannien fiihren. Illt may bel(, vermutete Macaulay schon 1833, kurz vor seinem Aufbruch in den Osten, IIthat the public mind of India may expand under our system till it has outgrowll thar system.l(I65 Macaulay beharrte auf der Überlegenheit, ja, der alleinigen Gültigkeit der europäischen Zivilisation; er fand nichts Bewahrenswertes im einheimischen Indien. Gleichwohl lag ihm die Vorstellung mancher seiner Zeitgenossen und vieler seiner Nachfolger unter den Administratoren lndiens vollkommen fern, die Inder seien -wie alle "nativeslC - Kinder, die niemals erwachsen werden und stets der Bevormundung bedürfen würden. Das Ziel seiner indischen Erziehungspolitik war es, der einheimischen Elite den völlig unbehinderten Zugang zu den Bildungsinstiturionen der modernen llCol1lmercial societylC zu öffnen und dadurch die gesellschaftlichen Voraussetzungen rur die Erosion der überkommenen Barbarei zu schaffen. Demselben Zweck dicnte das indische Strafgesetzbuch, das Macaulay auf der Grundlage flexibel gehandhabter Benthamscher Prinzipien mit einem geradezu Montcsquieuschen Wirklichkeitssinn und mit schottischem Vertrauen in die Tragfähigkeit gradueller Modernisicrungsprozesse in den dreißigcrJaluen fast ganz allein entwarf, das dann 1860 in Kraft gesetzt wurde und das weitgehend noch hellte gilt: die größte Leistung des Staatsmanns lind legislatetl' Thomas B. Macaulay.l66 Das schottische Fortschritts- und Stadiendenken setzte sich um in ein Programm der zivilisierenden Reform.
VI. Auch als sich allenthalben lind selbst auf den Seiten der IIEdinburgh ReviewlC das Zivilisationsproblcm nicht länger in erster Linie als eine Frage des schottischen Nachholens, sondern als eine der Abstufungen von Barbarei und Zivilisation innerhalb des formellen und informellen Weltreichs der Briten zu stellen schien 167, behielt dennoch auch das Thema des i,ltIerb,itüc1lell EntwicklungsgefalIes fiir viele Historiker seine Faszination und aktuelle Bedeutung. 164 T. B. Maflllllay, Minute on Indian EduQHioll 12. Februar 18351. in: Dm" SdeC1ed Wrilings, hg. v.J. C/ive u. T. P;'lIIt'y, Chicago 1972, S. 249. 165 Mac:l\llay UlIlcrhausrcdc über die negierung Indiens vom 10. Juli 1833. zit. in &lll/Unh. Manulay, S. 23. 166 Vgl. ausführlich Clivt. Manulay. S. 427-478; E. SloA.on. Thc English Utiliurians and India. Oxford 1959, 5.184-233.
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David Hume hatte sich nur knapp dazu geäußert. Er überließ die Darstellung der schonischen Nationalgeschichte seinem Zeitgenossen William Robertson, mit dem er in den großen Linicn der Intcrpretation einig ging. Beide beklagten die feudale Anarchie und die Exzesse des religiösen Fanatismus aller konfessionellen Schattierungen. Nirgendwo im mittelalterlichen Europa, erläuterte Robenson 1759, sei die Balance zwischen König und Adel derart geStört gewesen wie in Schottland. I611 lm 16. Jahrhundert sei dann Schottland das prototypischc Land des politischen Mordes l69; und Hume weist grimmig daraufhin, daß noch in der Mitte des t 7. Jahrhunderts, als derlei in England schon lange unbekannt war, in Schottland große Hexenverbrennungen stattgefunden hätten. l7o Hume demontiert, unterstützt von Robertson, die Legende von Maria Smart als NatiOJ1alheldin und Symbolfigur der Jakobiten. Beide begrüßen jeden erfolgreichen englischen Versuch, mit harter Hand die Willkür des schottischen Adels zu brechen. Hume lobt Cromwell, der ihm sonst suspekt ist, daftir l7i ; und Rohertson feiert begeistert die Union von 1707, mit der die schottische Aristokratie entmachtet worden sei und Schottland endlich seine Ilpecularities« verloren und Anschluß nicht nur an die britische Nation, sondern an die gesamteuropäische Kulturbewegung gewonnen habe. In Für Hume und Robertson, die jedweden schottischen Separatismus verurteilen, war der politische Anschluß an England die Voraussetzung rur eine gesellschaftliche Entwicklung und kulturelle Blüte in den schottischen Lowlands, von der dann wiederum der Süden profitieren sollte. Nach erwa 1760 wurde die Transformation der Highlands zum Kern der Schottlandproblematik. Charakteristischerweise äußert sich Adam Smith in den llLectures on Jurisprudence« von t 752/63, in der erdie Vier-Stadien-Theorie entwickelt, noch kaum dazu, dann aber 1776, als die Veränderungen in den Highlands schon offensichtliche Ergebnisse gezeigt hatten, ausftihrlich im "Wealth ofNationsfl. Das Verhältnis Schottlands, besonders seines rückständigen Nordens, zum Süden wurde zum Paradigma der .,rich coumry - poor countryfl-Debatte in der politischen Ökonomie. 173 Es wurde auch zu einem der zentralen Themen in den Romanen Sir Walter $COtts. SCOtt war weder durchweg ein sentimentaler Verklärer eines verlorenen Mittelalters, noch war er ein 167 Zu C'incr solchcn symptomatischcn Akzcntvcrb~rung in der ..Edinburgh Revi(W. vg.l. FOrtlarul. Rethinkillg Ihe Politics ofConlTllCrcia[ Sociery. S. 68. 168 W. RobtrIsort. Th~ Bistory ofScotiand [17591. Bd. I. Lolldon 1761'. S. 25. 169 Ebd., S. 367. 170 HWllt. Bistory of England, Bd. 4, S. 27f. 171 Ebd., S. 91. 172 RobtrIsort. Bistory ofScotbnd. ßd. 2, S. 298-307. Mit 1707 becndct Robcruon denn auch seinc Darstellung. Vgl. auch M. Fttlmlt'y-Stlllikr. Philosophical History :l.I1d thc Scottish Ikfonnation: Williarn HobcrtSQn and the Knoxian Tradition. in: HJ.Jg. 33,1990, S. 323-338. 173 VgI.l. Hl'JIII, Thc ..Rich Coulltry-PoorCoulltry. ()ebat~ in Scottish Classical Political EcolIomy, in: Dm. u.lgrul/it1f(Hg), Wulth :md Virtue. S. 271-315.
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Fürsprecher triumphierender ModernitäL In einigen seiner besten Romane, am wirkungsvollsten wohl in .Wavcrley. VOll 1814, einer Verbindung von GeselischaftsgeschiclHe und ßildulIg"iroman, behandehe er in einer Hal[Ung, die besonders an Adam Ferguson erinnen, die Auswirkungen des Übergangs von einem gesellschafdichen Stadium zum nächsthöheren aufMenschen z\\!ischen den Klasscn und zwischen den Zeiten. Den Fonschritt von primitiven zu höher organisienen Gesellschaftsformen crfaßte er in den Spannungen zwischen sozialen Lagen: dem Klan-System, der feudalen Adclsgesellschaft, dem !leuen Tausch- und Arbeitszusammenhang der »commercial c1asses•. 114 Scott war mit den schottischen Verhältnisscn auf d3s genaueste vennut, und er verschaffte sich zusätzliche Einsichten durch Befragung älterer Landsleute. l7S Dies verlieh seinen im neue ren Schottland spielenden fiktionalen Werken einen hohen Grad an Authentizität, ebenso wie die Sprache der Sudiemheorie, deren sich Scott bisweilen bedicllle, sie kategorial mit dem Projekt schonischer GeschichlS- und Gesellschaftsdeutung verband. Der IIllomantikerlC Scon hatte die Vorstellungswelt der schottischen Aufklärung noch nicht verlassen. Auch bei den wichtigeren Historikern der ersten Hälfte des 19.Jahrhunderts blieb das Thema Schottland weiter gegenwärtig. Für den schottischen Steinmetzsohn Thomas Carlyle hörte sein rauhes Heimatland niemals auf, ein Fixpunkt seiner Kritik an der englischen Gegenwart zu sein. Carlylc, zeit seines Erwachsenenlebens ein »alienJtcd ScQtsman in London. 116, kultivierte als erste einOußrciche Figur im britischen Geistesleben bewußt den Habitus eines Magus des Nordens. Henry Thomas Buddcs beste Kapitel galten dem Versuch einer soziologischen Geschichte Schottlands und des schottischen Geistes. Dabei illleressierte ihn weniger die Bändigung des archaischen Schottland in der aufsteigenden Linie der Gesellschafrsentwicklung als der eigentümliche K3mpf zwischen Aufklärung und religiösem Obskurantismus, der im evangelikalen »revival. des frühen 19. JahrhundertS erneut zu einem Sieg des Aberglaubens über die .Wissenschaftll gcHihn habe. Für Buckle war Schottland ein Beweis nir die Schwäche der Aufklärung und die Fragilität des Zivilisierungsprozesses. In Auch Macaulay, dessen Familie aus den Highlands stammte und der VOll 1839 bis 1846 und erneut VOll 1852 bis 1856 die Wähler von Edinburgh in
174 I)as Nicht·llolmnuschc bei SeOH 1131 als crslcr hc... us~,'carbcilct: D. Forbes. The luuomIISIIl of Sir Wallcr SeOlt. 111: Cambndb'C Joumal. Jg. 7. 1953. S. 20-35: dann auf dieser lillTc D. IJroU'rI. Walter Seon and the Illstonol ImagnutJoIl, london 1979, S. 183(, 189t:. 203: Clllu,. Victom.n Mirror. S. 23-27. 175 Sir WlJltn Srotl, Wa"crley; or. Tls Sl~ Years Since. hg. v. C. umonl. Oxford 1981, S. 352( (Geoc...1Prcface 11829». 176 Romtbrrg. Carlyle and the Hurden of HislOl)'. S. 26In Budtk,I-listoryofClVliluuon. 13d. 3: dazu der KommenDr ~llllJnlrDm.Editors Introduc-
uon. S. XXVII-XXXIII.
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Westminstcr vertrat, kchrtc immer wiedcr zur historischcn Problcmlage Schottlands zurück. Seine _History ofEngl;mdlt ist in einem ungewöhnlichcn Maße britist"~ Geschichte, das Vcrhältnis der _races« auf den britischen Inseln zueinander ein roter Faden, der sie von Anf2ng bis Endc durchzieht. Die Sprache der-eonjectural history« und ihrerllComparative methodlt war flir Macaulay ein hilfreiches Mittel, um die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen in der Geschichte des 17. Jahrhunderts sichtbar zu machen. Die Fremdartigkeit schottischer und irischer Politik und gesellschaftlicher Spannungen ließ sich recht gut dadurch erklären, daß diese Völker auf einer anderen Zivilisationsstufe als die Engländer verham seien. Sowird et\v.a, um ein Beispiel unterviclen möglichen zu nennen, die Belagerungdcs irischen Londonderrydurch die Engländcr 1689 als Ausdruck eines Konflikts zwischen Zivilisationen erklärt: _It was a colltest, not bct\'lccn cngineers, btlt bct\'lcen nations; and the victory rcmains with the nation wh ich, though infcrior in number, was superior in civilisation, in capacity for selfgovcrnment, and in sttlbbornness of resollltion.lC l7ll Im 13. Klpitel der ~History« schildert Macaulay in grellen Farben dic Primitivität und Brutalität des schottischen I-Iochlandlebcns während des 17. Jahrhunderts. Nicht ohne Verständnis registrien er die Sicht aus dem Süden: ~It is not strange that the Wild Scotch, as they wcre sometimes called, should, in the seventeemh ccntury, have been considered by the Sa.xons as mere savages.41 179 So sehr er den Untergang der bardischcn Poesie, der er selbst in scinen .u.ys of Ancient ROllle« von 1842 ein Denkmal b
178 Mn(llIllay, HislOry ofEngl:md. ßd. 3, S. 1522. 179 Ebd.. ßd. 4. S. 1583-1598, ZiuI S. 1585. 180 Ebd.. Bd. 4, S. 1588. Schon in ~illcm CrslCII großen Essay greifl Mx::aulay diesen Topos :auf: 1: B. M«nlllay. MillOn (18251. in: Dm., Works. Bd. 7. S. 5: -I...J:as civilis.:auon ~v:aIlC~. poelry :almosI nccess.:anly dedines._ Edu'rJrrIs. M:ac:aul:ay, S. 74. skhl Mac:aul:ays .HISfOI"Y_ in :aher schottischer TndlUon: _dl(' lasl oftllt' grc:al buche achicvcmcnts-.. tkr Triumph des SchOllen MKaulay nm elllem kanonischen Meisterv.-crk der Erzählkunst in englischer Sprxhc. 18\ Besonders:am ItQlorischcn F:all des Massa rs \"on GlellCOl", 13. Februu 1692. M«aulay. !-I.story ofEngb.nd. Bd. 5. S. 2146-2166. Zum Hergang P. Hnp/tins, GlcncQC :and rhc End of thc !-lighland W:ar. Edlllburgh 1986.
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kommene kulturelle Gleichwertigkeit vorenthalten würde. l82 Daß die Söhne solcher schottischen ltselfmade-men.c wie Zachary Macaulay und James Mill es zu höchsten Ehren in der Metropole bringen können, ist ihm einer der schlagc:ndsten Beweise fur den Fortschritt der ZivilisatiOll aufden britischen Inseln. Nationalgeschichte als Zivilisationsgeschichte: mit dieser leitenden Idee steht Macaulay in einer smilhianisch bereicherten, einer schon 1759 von William Robenson am Ende seiner »HistoryofScotiand. ausgebreiteten, einer letztlich Humeschen Tradition, erweist er sich als Erbe der schottischen Aufklärung. Die Gegenprobe dar.mf zeigt, wie mächtig das nach Sdlottlands geglückter Zivilisienmg scheinbar triviale Prinzip auch noch Macaulays GegenW3n ergreift. Die Gegenprobe waren nicht so sehr die ..inneren Barbaren. aus den niederen Klassen. Ihren Ansprüchen in Gestalt des Chartismus trott Macaulay mit Gelassenheit entgegen. IIlJ Ganz anders als Carlyle und die liberal-anglikanischen Historiker um Thomas Arnold ließ sich Macaulayvon sozialen Krisenerscheinungen seiner Gegenwart kaum berühren, lUlllal nicht in seiner Sicht der Geschichte. Die Gegenprobe war Irland, der düstere Schauplatz ethnischen Hasses und religiösen Fanatismus'. resistent gegen die zarten Wohltaten des Zivilisationsprozesses, beinahe ein geschichtsloser Ort. I&! Schon David Hume hatte das englisch-irische Verh:iltnis einer schonungslosen Analyse umerzogen. Auch wenn er mit dem brutalen Aufstand der Iren gegen die englischen Kolonisatoren von 1641, den er maßgeblich aufdie Hetze btholischer Priester zUTÜckfuhrte, seine Sympathie rur die eingeborene irische Bevölkerung verlor l8S , so hane er immerhin dargelegt, daß bis in die Zeiten James I. die Barbarei der Iren nicht allein naturwüchsig, sondern durchaus auch ein Ergebnis englischer Unterdrückung gewesen sei: ..Being trealcd like wild beasts, they became sucl... ul6 Macaulay ist in seinem Urteil über die englische Irlandpolitik weitalls schärfer. Über bum ein anderes Thema hat er mit ähnlicher Eindringlichkeit geschrieben. Schon in der Einleicung zum Gesamtwerk unterstreicht er die Bedeutung, die er Irland beilllißt. In einer Epoche glorreicher nationaler EmwickJung seit 1688, in der auch Schottland »after agcs ofenmity, was at length united to England, not merely by legal bonds, but by the
182 EdWllrdS, Maauby, S. 74. 183 1832 war Mac:luJ.ay noch ein Gegner sozialpolirischer Maßnahmen des Stures gewescn (".flllllllllly, Leuers, Bd. 2, S. 117(.). Alx:r 1846 fnt er in einer Parlamems~degcgt"n die Mehrhell der p;lrbmenurischen Whigs fUr die Ten Hours Bill ein, die 1847 Gesetz wurde. Vgl. Dm., Works, Bd. 12, S. 199-221. 184 So ~hen es schon manche Elisabethaner. Vgl. LjrmJint. Masteringthe Uncouth; G;abncl Harvq. Edmund Spenser and the English ExpcrieflCe in Irrland, in:j. flm'Y u. S. fluttori (Hg.). Ncw Pe~i...cs on Ren;al.SS:lnce 11lougtn: Essays in thc: Hiswry ofSclC:flCe. Eduaüon and Phi· losophy, Landon 1990, S. 68--82. 185 HIl~, HistoryofEngbnd, ßd. 5. S. 343. 186 Ebd.. Bel. 4, S. 311.
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indissoluble ties ofinterest .:md afTcction*'ll7, habe die englische Politik allein auf Z'.vei Gebicten, aber solchen von außerordentlichem Gewicht,1cI.tastrophai versagt: Sie habe die ameri1cl.nischen Kolonien verloren und die Zivilisierung und Befreiung Irlands versäumt. So stellt sich der Autor der »Hisrory* an deren Beginn die Aufgabe zu zeigen, »how Irel.and, cursed by the domination of Tdce over nce, and of religion over religion, remained indeed a member of the empire, but a withered .:md distorted member, adding no strength to the body politic; and reproachfully pointed at by all who feared orenvied the greamess of Englandll.. '88 Schon im Jahre nach der Veröffentlichung dieser Zeilen besucht er Irland und schildert entsetzt seine Eindrücke von »a people, the most miserable that I cvcr fell in wirh in any part of world 1...1Then the dothes of the people: - YOll never SdW a bcggar in such things.*'tI'} Er haue immerhin Indien gesehen. Macaulay war sich des Außerordentlichen des irischen Phänomens deutlich bewußt. Das zivilisiertcste Volk der Welt - lind das 'wuen ihm die Engländer unter Queen Victoria - habe in seinen Grenzen die schlimmste Barbarei als Oauerzusund geduldet, ja, sie durch eine törichte und Tdchsüchtige Politik perpetuiert. Nirgends im modemen Europa habe es eine Konfrontation zwischen »dominant Tdce* lind »subject Tdce* in ähnlicher Schärfe und langlebigkeit gegeben, nirgends ci ne vcrgleichbare Herrschaft von .Spartanern. über »Heloten«.'90 Im Gegensatz zu Hurne mißbilligte er die harte Pazifi1cl.tion nach 1641 und dann abermals nach 1691. Die grausame Knechtung der Iren nach dem Fehlschlag von James 11. Versuch, die Insel zu einer katholischen Bastion gegen die protestantischen Monarchen in Landon auszubauen, mochtc er selbst den verehrten Monarchen William und Mary nicht verzeihen. Macaulay beschönigte hier nichts. Er schildert die englische Kolonialherrschaft'91 ohne Apologie und nimmt vor sciner Kritik selbst die Urheber dcr Glorious Rcvolution nicht aus. Oie Behandlungder Iren sei ein Schand neck aufden Leistungen von 1688, die Rechtfertigungsolcher Bchandlungein Ausdruck von Zynismus und Heuchelci: .[ ... ] thc Protestant masters of Ireland, while ostentatiously professing the doctrines of Locke and Sidney, held that the people who spake thc eeltic tongue and heard mass could have no cancern in those doctrines.• I92 Hintcr der Emphase des Historikers steht die Einsichtdes Politikers in die fortdauernde Virulenz des Irlandproblems. In den Überschwang des selbstzufriedenen und zukunftsfroheIl Whig-Ideologen mischt sich die düstere Prognose des realitätskundigen Betrachters der Gegenwart. Nachdcm die Beziehung zu 187 MIJ(Qul#y, I-listory of Engbnd. Bd. I. S. 1.
188 Ebd.• S. 2. 189 Mx:auby ~n Udy Hamuh Trnorl)';ln. 26. AuguSt 1849. in: !t.1IJ(QjIWy. Lttters. Bd. 5. S. 67. I'X) M/IlQuLzy. Hisrory ofEngbnd. Bd. 3. S. 1486. 191 Er ~nm sie so: Zur bit der Glonous Revolution sei Irl~nd allgemdn als Ita mere cok>n)'_ ~nG"Chen worden; ebd.. Ud. 3. S. 1428.
192 Ebd.. ßd. 4. S. 2078.
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den ehemaligen amerikanischen Kolonien längst ins reine gebracht sind, bleibt Irland als das eine große Fiasko der neueren britischen Geschichte.•The seventeenth ccmury has«, schreibt Macaulay in der Sprache David Humes, .in that unhappycoumry, left to the nineteenth a fatal heritage ofmalignant passions.«I9J Und er fUrchtet, daBein künftiger Historiker, selbst wenn die rechtliche Emanzipation der Iren gelingen sollte, kein sanftes Ende des Konflikts zu schildern, vielmehr zu vermelden hätte, .that it proved far less easy to eradicate evil passions dun to repcal evil laws; and th.n, long after every trace of national and religious animosity had been obliterated from the Statlltc Bock, national and religious animosities continued to rankle in the bosoms of millions.lll~
VII. Macaulay war der letzte britische Historiker des 19. JahrhundertS, der die Nationalgeschichte Großbritannicns vor dcm Hintergrund der europäischen und universalen Zivilisationsent\vickJung sah, wenngleich der Zivilisationsaspekt bei ihm schon cine weitaus geringere Rolle spielt als bei den Klassikern der AuCklärung: Hume, Smith und Gibbon. Seine besonderen biographischen Umstände als Sohn einer schottischen Familie, Schüler der schottischen Spätaufklärung und Sir Walter Scotts, Meister einer praktisch-pädago&rischen Geschichtsschreibung und aktiver Kolonialpolitiker in Indien begünstigten diesen späten Zusammenfall zunehmend einander widerstrebender Aspekte. Nach etwa 1860 tT"dten die Gesichtspunkte auseinander, die von den Begründern der schottischen AuCklärung zu einer haltbaren und ertragreichen Formel ZU5aIllmengeschmiedet worden waren. Die neue Fachhistorie bemächtigte sich des "atiotlOl-historischen Themas. Sie reduziene es auf politische Ereignisgeschichte und die Geschichte der rechtlich-administrativen Institutionen. Beides wurde mit bis dahin unerhöner Breite der Dokumentation und Sorgfalt des Verfahrens unter Verzicht aufjegliche »philosophischctf odcr gcgcnwartspolitisch relevante Kommentierung auf das Gründlichste erforscht und fiir den Gcbrauch der Fachgenossen in akademischer Form dargestellt. Vergleichende Bezüge über Großbritannien hinaus fehlten, von wenigen Ausnahmen abgesehen, ebenso wie Versuche des Briickenschlags zu Nachbardisziplinen; zu einer allgemeillcn Historisierung der Geisteswissenschaften - wie In Deutschland kam cs in Großbritannien nicht. Auch verlor sich, trotz der politischen Virulenz der irischen Dauerkrise, das Thema des innerbritischen ZivilisationsgcHilles aus dem Blickfeld deI'" Geschichtsforschung.
193 Ebd., ßd. 2. S. 782. 194 Ebd.. ßd. 4. S. 2082.
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Gleichzeitigwanderte die ZivilisatiOtlSproblematik in zwei andere geschichtsferne Bereiche des intellektuellen Lebens ab: Das Unbehagen in derenglischen Kultur des hochviktorianischen Zeitalters artikulierte sich in einer literacur-, rcligions-, und sozialkritischen Publizistik, deren herausragender Vertreter Matthew Arnold war. Arnolds wichtigste Bücher erschienen in den Jahren unmittelbar nach Macaulays Tod: ItOn Translating Homer41 1861, IlEssays in riticismlC 1865, .Culcure ;;md AnarchY41 1869, in einer Zeit beschleunigten politischen und gesellschaftlichen Wandels. Das drängende Thema war nun weniger der Aufstieg von Nation und Zivilisation bis hin zur fast geglückten Vollendung in der Gegenw:m als vielmehr die Frage der kulcurellen Substanz, aus der sich die Lebensfiihrung des einzelnen in einer von Materialismus und Vulgarität bedrohten Massengesellschaft speisen könne. Dazu war aus der Geschichte, zumal der neueren der Briten, kaum Rat zu erholTen. Gerade am maßgebenden Historiker der voraufgegangenen Generation, an Macaulay, mißfiel Manhew Arnold .a dash ofintellecru.al vulgarity 1... 1in all his pcrfonnance«.I95 Die Problematik der Zivilisation in der britischen und europäischen Gegenwart wurde nach etwa 1860 nicht mehr vornehmlich als historische Frage gestellt. Die andere Seite dieser Umdefinition des Zivilisationsproblcms nach der Jahrhundertmittc war die Entstchllngeines besonderen Diskurses vom llPrimitiven\( und einer Wissenschaft, die sich seiner professionell annahm, der Anthropologie. Auch hier wieder belegen Publikationsdaten den ideengeschichtlichen Bruch. Die Hauptwerke der neuen Anthropologie und Völkerkunde wurden ebenfalls unmittelbar nach dem Ende der mit Macaulays und BuckJes Tod abgeschlossenen historiographischen Epoche veröffentlicht: 1861 Sir Henry Maines .Andent LaWlC, 1865 John F. McLennans ItPrimitive Marriagell, ebenfalls 1865 John Lubbocks >lPre-historic limes« und 1870 sein »Origin of Civilisation and the Primitive Condition ofManlC, 1871 Edward B. Tylors ItPrimitive Clilture41. Fortan wardie Zivilisation vonnoderner und, wie es nun hieß, .prä-historischer« Gemeinwesen, ungeachtet möglicher evolutionistischer Rahmenkonzepte, das Bctrachtungsobjekt einer spczialisienen Literatur vom ItAnderen41. 196 Die universale sozialökonomische Geschichte der Zivilisation in aufsteigender Linie, die Naturgeschichte der menschlichen Gesellschaft, wie sie die schottische Aufldärungentworfen hatte und wie sie noch zwischen manchen von Mac.aulays Zeilen zu lesen waren, hane als Bezugstheorie endgültig ausgedient.
195 Zit. 1II S. ColliPli, Amold. Oxford 1988, S. 66. 196 Vgl. SIIKkiPlg, Victorian Anthropology. S. 144-273; A. K.,ptr. The Invcmion of Primitive Society: TransfornmiollS ofan Illusion, Landon 1988, S. 15fT.; C: Dollirill. C. Rt,ifmu, The Idea ofl'rehistory, Edinburgh 1988. S. 41 ff.; ß. C. Triggtr, AHistory ofArchacological Thoughl, C;unbrid~ 1989, S. 73ff.; I). &;n..iltr, Thc Invcntion of Progress: Thc Victori:lIIS ad thc I>ast, Oxford 1989, S. 75fT.
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So verteilten sich nach 1860 die Probleme neu auf der Matrix des Wissens. Die Nationalgcschichte, entblößt von ihren universelleren zivilisationshistorischen Beiklängen, wurde zum Reservat der Fachhistorie. Das Thema der Zivilisation fiel teils in die Zuständigkeit einer wcithin historisch indifferenten, unmittclbar gcgcmV3nsbczogencn Kulturkritik, teils in das einer neuen Wisscnschaft vom Primitiven. l97
197 Wi~ du Th~mll ZivilioUuon gq;en El1d~ des 19. JlIhrhundens - bei Nlelzsch~ und andercn Autoren KOnlillcllult'uropas -wu:dcrau(gcgriffC'tl wurden, wie es dann in die Soziologie hinflbcr'N.lndcrte (vgl. A. Bog'lrr. Zivilisation und Ralionalisierung. Die ZivilintiollSlhcoricll Max Webers.. Norbcrl Elias' und der Frankfurter Schule im Vergleich, Opllldcn 1989) -das wäre die Fonsctzung der hlCf lIufgczeiglcn Enr\l,;cklung.
ISO
6. Raumerfassung und Universalgeschichte
1. Das universalgeschichtliehe Denken wird im 20. Jahrhundert von vier Uß{CTschiedlichen Betrachtungsweisen bestimmt: (1) ZyklenmodelleIl des Aufstiegs und Niedergangs großer Kollektive, seien es ganzheitlich-morphologisch aufgeraßte Zivilisationcn (Oswald Spengler, ArnoldJ. Toynbec), seien es nach dem Vorbild der konjunktunheoretischen »langen Wellen« kausaJmechanisch interpretierte Imperien und Großmächte (George Modelski, Paul Kennedy); (2) Stufenmodellen der Menschheitsgeschichte, wie sie jenseits eines teils marxistisch, teils modemisierungstheorerisch inspirierten Evolutionismus etwa von Kurt Brcysig und Ernest Gellner entworfen wurden; (3) dem von Ma;< Weber, Ono Hilltzc und Mare Bloch kJassisch ausgeprägten rypologisicrenden Vergleich zwischen (Teil-) Strukturen in distinkten zivilisatorischen Einheiten; (4) einer räumlich-beziehungsgeschichtlichen Perspektive, die eine .vorgeschichte des gegenwärtigen globalen Zusammenhangs«' anstrebt. Ernst Schulin hat 1974 in seinem großen Überblick über die Universalgeschichtssehreibung des 20. Jahrhunderts die dritte und die vierte dieser ltGrundformen« als die in der Gegenwart maßgebenden herausgestellt, und er hat insbesondere die strukturell-vergleichende Betrachtungsweise als die »weitest anerkannte universalgeschichtliche Methode (oder Ersatzform einer gesamten Weltgeschichte)« hervorgehoben. 2 Diese Richtung hat unterdessen ihre Position weiter festigen können. Ein neues Interesse an historischer Soziologie universalen ZuschnittS, das um 1974 erst in Spuren zu beobachten war, hat während der letzten zwanzig Jahre zu einer Reihe von bemerkenswerten Entwürfen auf dem Gebiet transkultureller historischer Komparatistik geruhrt.3 Allerdings haben Vertreter der strukturellvergleichenden Betrachtungsweise Mühe, drei Fragen überzeugend zu beantworten: Wie lassen sich die Einseit.igkeiten einer Sicht ltvon oben« vermeideneiner Definition von Kulruren durch ihre »großen Texte«, einer Deurung politischer Verhälmisse von den Machtkonfigurationen im jeweiligen Zentrum
I E. &Iw/in, EinleilUllg, in: Dm. (Hg.). Univemlgeschichte, Köln 1974, S. 11--65, hier S. 44.
2 Ebd., S. 43. 3 Vgl. zur Übersicht ober diese Litef:aruf Kapilel 1 in dic:scm 8~nd.
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her? Wie können sodann die unterschiedlichen Chronologien und diachronen Verlaufsmuster regionaler Kulturen in einen Zusammenhang zueinander gebracht werden, der sie nicht einer europäisch bestimmten Weltzeit und Einheitsperiodisierung unterwirft? Schließlich: Wie ist eine isolierende Abgrenzung von Analyseeinheiten -lIEdlllienll, .Kulturcnit, .Zivilisationell41, lIKuhurkreisen41, »Nationalsu:ucnli, lISW. - möglich, die sowohl der im neuzeitlichen Geschidnsprozeß zunehmenden Berührung und Durchdringung zwischen ihnen gerecht wird als auch die Fallstricke einer IICssentialistischen« Kultur3uffassung umgeht, welche sich allzu selbstsicher zutraut, in höchster Verallgemeinerung das Wesen zum Beispiel lider islamischen Zivilisatiollll oder »
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Die räumlich-beziehungsgcschichtliche Betrachtungsweise profitiert hellte von einer anderen Entwicklung in den Humanwissenschaften, zu der sie ihrerseits anregend beiträgt: dem Wiedereinrücken des Geographischcn in den Gcsiclltskreis von Historikern und Sozialwissenschaftlern.s So sehr räumliche Aspekte in Landesgeschichte und Wirtschaftsgeschichte gegenwärtig blieben, so unverkennbar fehlen sie doch - zumindest in Deutschland - unter den leitenden Gcsichtspunkten der Itallgemeinen« Neuzeithistorie - mit der vielleicht einzigen Ausnahme der historischen Wahlgeographie. Die Schreckgespenster einer chauvinistisch maßlosen ItGeopolitik« und eines materialistischen »Geodeterminismus« haben ihre abstoßende Wirkung nicht eingebüßt. 6 Dic Rehabilitation des Geographischen nicht nur in regional historischen, sondern auch in universalgeschichtlichen - am wenigsten bisher in nationalgeschichtlichen Bezügen, wie sie vor allem in Frankreich und Italien zu beobachten ist, geht auf eine Reihe von Ursachen zurück. Sofcrn Geschichte, wie vor allem dieAlltlafesSchule es angeregt hat, in dcr »Iongue durt~e« gesehen wird, richtet sich die Aufmerksamkeit unweigerlich auf Faktoren, die von naturgeschichtlicher Beständigkeit und großer Trägheit der Entwicklung sind. Emmanucl Lc Roy Laduries Geschichte des Klimas und seiner Wirkungen auf menschliche Gesellschaften ist daher ein geradezu denknoewendiges Komplement seines Konzepts einer lIimmobilen Geschichte«.7 Die Annäherung zwischen großräumig denkender Geschichtswissenschaft und Geographie wird umgekehrt dadurch erleichtert, daß aus der Geographie Theorieangebote kommen, die formal genugsind lind sich von kausalen ErkJäTUngsansprüchen hinreichend weit entfernen, um den Verdacht kurzschlüssiger Naturanalogien zu vermeideIl. Dazu gehören Sacks Theorie der Territorialität sowie Modelle von Zentrum-Peripherie-Strukturen, wie sie Ilicht ausschließlich, aber doch in erheblichem Um4 K. Lampf('(lu, Univcrs,alb't':schichtliche Probleme, in: 1Jn'J.. Modeme Geschichtswissen-
schafI. Flinf Neu-Yorker VOTlTägc, Berlin 19()92, S. 103--1.30, hier S. 103. 104. In gleichem Sinne W. H. MeNrill. _The Risc: ofthe Wl'St_ aflee Twenty-Five Years, in: JWH.Jg. I, 1990, S. 1-21, bcs. S. 2. 47, 9f., 19. 5 Für die Gcschidu~"Wissenschaft vgl. den thematisch weit gefaßten Aufsatzb:md E. D. GI'rrovt'5f' u. L. Hochbrrg (I-Ig.), Geogrnphic Perspcetives in HislOry: Ess:ays in HOllour of Edmund Whiting Fox, Oxford 1989. Unter soziologischen Theoretikern, die über Räumlichkeit nachdenken, ist vor allem A. GidJl'ns zu nennen. Vg1. etwa The Nation-State and Violence, Oxford 1985. 6 Dic Diskussion Ulll _Geopolitik_ in ihren vcrschiedcnen Ilationalen Varianten ist in den neunzib't':r Jahrcn des 20. Jahrhunderts wieder aufgenommen worden. Vgl. j. Ostl'rluJwmtl, Die Wiederkehr des Raumes: Geopolitik. Gl"OhiSlOrie und historische Gcogn.phie, in: NPL, Jg. 43, 1998. S. 374-397: Drrr., Raumbe2iehungen.lnternatiollalc Geschichte, Geopolitik lind historische Geogn.phie, in: W. Lorll u.J. OsU'rllammd (I-Ig.), Internafionalc Geschidltc. Themcn - Ergebnisse - Aussichten, München 2000, S. 287-308; J. DiJ>kmarlll u. a. (I-Ig.), Geopolitik. Gren2~nge im Zeitgeist. 2 lkie., Potsdam 2000: K. JJc,Jds u. D. A/killSOfl (I-Ig.), Geopolitical Tndidons: A Century ofGeopolitical Analysis. London 2000. Rr.ry LAdun·t, Histoirc du c1imat depuis I'all miJ. Paris 1%7; Ckrr.. L'hislOire immo7 Vgl. E. bile, in: Anna1cs. E.S.C.Jg. 29,1974, S. 673-692.
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fang von Geographen entwickelt wurden. 8 Am wichtigsten fur die Universalgeschichte ist jedoch ein dritter Gesichtspunkt: die Aufwertung einer ökologischen Denkweise von der Marotte naturschwärmerischer Außenseiter zu einer nahezu unumstritten anerkannten Überlebensfrage der Menschheit. Unter den bekannteren universalgeschichtlichen Schriftstellern des 20. Jahrhunderts hat als erster Lewis Mumford das Thema der Unterminierung menschlicher Lebensgrundlagen durch zerstörerische Eingriffe in das, wasspäter IIUmwelt« genannt werden sollte, aufgegriffen,9 damit Gedanken aufnehmend, die der Universalgelehrte George PerIcins Marsh bereits 1864 formuliert hatte. 10 Mumford selbst erlebte noch die Anfänge eines breiteren Interesses an Umwehgeschichte (environmental history).ll Mittlef\veile sind Problembewußtsein und Realkenntnisse an einem Punkt angelangt, an dem das Programm einer planetarischen Geschichte des Verhältnisses menschlicher Gesellschaften zu ihren natürlichen Lebensräumen umrissen werden kann. 12 Der neben Fernand Braudei wohl am höchsten respektierte Universalhistoriker der letzten Jahrzehnte, William 1-1. McNeill, hat bereits die Menschheitsgeschichte als Abfolge immer wieder durch Epidemien (11Mikroparasitismus«) und Krieg (»Makroparasitismus«) zerbrochener »ökologischer Gleichgewichtell neu interpretiert. I) Nicht punktuelle Einflüsse der Natur, vor allem des Klimas, aufden Menschen, wie sie der ältere Naturdeterminismus hervorhob, stehen im Mittelpunkt solcher Konzeptionen, sondern großräumige und seit der europäischen Eroberung der westlichen Hemisphäre sogar interkontinentale Wirkungszusammenhänge.
8 Vgl. zusammcnfassend R. D. Sack. Human Territor;ality. hs Theory and 1-11SlOry. Cambridge 1986;]. GOl/lllallll (Hg.). Cemre and Pcriphcry: Sp3tial Variations in Polit;cs. ßcvcrly Hills 1980. Vgl. auch E. W. Soja. Posunodcrn GeQb'faphies: Thc Reasscrtion ofSpace in Crilical Theory. Londol1 1989. 9 Vgl. zu Mumford: P. Ces/rUo. World HiSlorians and Their Goals: Twelllieth-Celltury Answcrs 10 ModernisIll. DelUlb:1l1. 1993. S. 154--183. 10 G. P. Marsh. Man and NalUre: or. Physical Gcography as Modfied by Human Action. New York 1864. Dazu D. LcllJt1flllal. George Perkins Marsh: Versatile Vennonter. New York 1958. S. 246-276. 11 Vgl. I Silllmolls. Env;ronlllenull-l;story: A Concise Introduct;oll. Oxford 1993: H.Jä~r. E;nftihrung in die Umwcltgcschichte. Darmsudt 1994; H. KiiJlrr, Geschichtc der Landschaft in Miltcleuropa. München 1995: alle frühere Liter.ltur übcrngend:J Rildkau. Nalur und Macht. Eine Wcl~schichte dcr Umwelt. München 2000. 12 Etw:l bei D. !Vors/tr, The Vulnerable Eanh: Toward a Planeury I-listory. in: Dm. (I-Ig.). Thc Ends of the Eanh: Perspcctives Oll Modern Env;ronmenull-listory. Cambrid~ 1988. S. 3--20. lJ W. H. MtNrill. The I-Iuman Condition: An Ecological and l-lislOrical Vicw, in: Dm., The Global Colldition: Conquerors, Catastrophes and Community. Princcton. N.]. 1992. S. 67- 13 1. Über McNeilis EllIdeckung der ~Biosphäre_, die in seiner berühmten Weltgeschichte von 1963. •The Risc of the West_, noch kaum eine Rolle spielte. vgl. das Vorwort, bcs. S. XlII-XV.
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11. Eine von mct3physischen Schlacken und europa- bzw. nordatlamik-zentrischen Befangenheiten gereinigte Universalgeschichtssehreibung- neuerdings auch als _global hisrory« bezeichnet'~ -, steckt weirgchend noch in ihren überwiegend dekb.r.lcorischen Anfängen. Ältere universalhistorische Gedankengebäude vermögen ihr kaum Orientierung zu vemlineln. Die großen Visionen von Turgor bis zu Toynbee und Sorokin haben sich in ihrer inspirierenden Kraft verausgabt; Schlözers Programm von t 785 liest sich frischer als vieles Spätcre,lS taugt aber nicht als Wegweiser nir die Gegenwart.•Feierliche Rückbesinnungen auf die große Tndition der Universalhistorie verdeutlichen kaum ihren Erkcnnmiswen.«'6 Von solcher historiographiegeschichtlichen Abstinenz soll eine Ausnahme gemacht werden. Denn die Annäherung zwischen Geschichte und Geographie, wie sie sich 3m Ende des 20.JahrhundertS anbahnt, setzt, auch wenn sie dies nicht mit ausdrücklicher Traditionskritik tut, einen Dialog fort, der im späten 19. Jahrhundert angeknüpft wurde. Da er an der Peripherie der Fachhistorie stattfand, hat er die ihm zukommende Aufmerksamkeit bisher nicht gefunden. Er verdient sie aus eincm zusätzlichen Grund: Es läßt sich die These formulieren, daß die weltgeschichtliche Erfassung des Orients und überhaupt aller außereuropäischen Zivilisationen, die aufdem Höhcpunkt des klassischen Historismus als Aufgabe reputierlicher Universitätshistoriker diskreditiert und auch von den damals neu entstehenden orientwissenschaftlichen Fächern, die sich als Philologien definierten, nicht adoptiert wurde, in zwischendisziplinären Randzonen und intellektuellen Nischen gleichsam überwinterte: vor allem in historisch aufgeschlossenen Ausprägungen von Geographie und Völkerkunde. Wie Clarence J. Glacken in seinem ideengeschichtlichen Meisterwerk gezeigt hat, lassen sich drei Vorstellungen - in freilich oft unterbrochener KontiIlUität-von den Hellenen bis ins Zeitalter Buffons und Herders verfolgen: ltCiie Idee der lWCckvolJ eingerichteten Erde; die Idee des Umwelteinflusses; und die Vorstellungvom Menschen als geographischem Gestalten. l ? Bei Carl Riner (1779-1859), dem auch in Frankreich, Rußland und den Vereinigten Staaten beachteten Berliner Geographen, bündeln sich in der ersten Hälfte des 19. JahrhundertS diese Motive zu einer physiko-theologisch übcrfofmten Lehre
14 Vgl. M. KMsok. Von der Uni\'ersal- zur Globalgeschichte, in: ComJ»rativ.Jg. 2. 1992. S. 9"__ 104. IS A. L Sddöur. WdtGeschichlc nach Ihrt'n }'buptTheilcn im Auszuge und Zuummenrn.n· ge. 2 Bde.. Göningen 1785--89. 16 Sdtulirl. Emkitung. S. IS. 17 c.J. Clacltm. Trxcson lhe Rhodi~n Share: N~turt' ~nd Cuhurt' in Wt:Slcm Thought frorn Allele nt Timt:S tO Ihe End ofthe Eighlccmh Ccmury, Bcrkclcy 1967. S. VII.
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von der .Raumerfullung" durch historische Bewegung und von der Erde als dem .Erziehllngsh:ms des Menschengeschlechts".18 Riuer trennt, darin Kant folgend, die Geogr.lphie systcmatisch von Geschichte und Slaatenkunde und will sie als reine Wissenschaft von der ErdoberOäche konstituiercn, öffnct aber in eincmzweiten Schriu durch dic vage bestimmtc Idec des .Schauplatzesll, dic zum Beispiel einen strikten K1imadetenninismus nach der An Bodins oder Montesquieus ausschließt, neuen Raum fur eine historische Betrachtung. Das hat die deutsChen Historiker seiner Zeit wenig beeindruckt. Nur ausnahmsweise, ct\Y3 in Ernst Curtius' vie!gelesener .Griechischer Geschichte" (18521867) finden sich Darstellungen der naturriiumlichen Voraussetzungen historischen Geschehens im Stile landschaftSmalerischer Genrebilder. In der Generation nach Riuer wandten sich 3uch die Geographen von dcn Bestrebungen des Berliner Meisters ab, vor allem von seincr Aufmerksamkeit fur die Geschichte. Die dcutsChe Geographie der Reichsgründungszeit, rasch 3n vielen UniversiGiten mit Lehrstühlen vertretcn, suchte die Anerkennung der älteren Fächer durch streng naturwissenschaftliche Forschllngsleistungcn und die dcr Politik durch gegenwartsbezogenes kolonialkundlichcs E.xpertel1tl1111. Ein Außenseiter des Faches, der als Zoologe und Geologe ausgebildete Friedrich Ratze! (1844-1904), der seit 1876 als Profcssor an der Technischen Hochschule München, ab 1886 dann in Leipzig lehrte, knüpfte erneut an Herder und Ritter an. Eine Reihe umfangreicher Werke _Amhropogcographiell (2 ßde .. 188?~91),
.Völkerkunde. (3 ßde., 188'Hl8), .Politische Geographie. (1897),
.Die Erde und das Leben« (2 Bde., 1901-02) - fugen sich, ergänzt durch zahlreiche kleinere Abhandlunbocn, zwar nicht zu einem systematisch geschlossenen CEuvre, doch läßt sich über mandlc Widersprüchlichkeitcn hinweg Ratzeis Denkrichtung erkennen. die ihn als eincn der originellcren akadcmischen .Mandarine« im deutsChen Kaiserreich ausweist. Ranel dachte von Voraussetzungen her, die sich von denen eines Carl Ritter oder Alexander von Humboldt beträclnlich unterschieden. Erstens fand er am Beginn seiner Laufbahn cinen \VisscnschaftsbcgTiff vor, der ihn als gelerntcn Naturwissenschaftler auf die Suche nach RegelmäßigkeiteIl, möglichst sogar "Gcsetzen" in Natur und Menschellwelt verpflichtete. Jhtzd war allerdings von seincm ganzen Habitus her kein Dogmatiker, so daß er die Verbindlichkcit der .Gesetze., die er aufstellte - etwa dcr "Gesctze des räumlichen Wachstums der StaatcnllC '9 - in ihrer Anwendung aufgeographisch-historische Sachverhalte Itl Vgl. vor .1IlIern Riltn1 Abdemicvonng von 1836 .Ueber d.1ls hislonsche E1emem in der b'«lßl':lphlschen Wissensdl.1lfr_. m: C. Ritlrr. Einleitung ZIIr .1IlIb'tlllelllell vergleichenden Geogr:aphk. und Abh:llldlun~n zur Ikgründung einer mehr wissensch:lftlichen Ikh.1lndlung der Erdkunde. lkrlin 1852. S. 152-181. Vgl. .1Iuch meine Rilter.lntcrprel:llton: Gt-schichle. Geognplue. GeohislOrtc. in: W. Kiinkr u . .1I. (Hg.). GcschichlSdiskurs, Bd. 3: Die Periode der HislonsicfUng. Fnnkfun 3o.M. 1997. S. 257-271. 19 F. Rat--.d. DtcGcsctzc des räumlichen Wxhstums der Sw~n. Ein lkieng zurWlsscnsch.1lftlichen politischen Grognphtc. 111: PetWll.1Inns Grogn,phischc Mlttdlun~II.Jg. 42. 1896. S. t:Tl-
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dann doch zugunsten einer geschmeidigen Analyse immer wieder erheblich einschränkte - viel stärker jedenfalls, als diejenigen es wahrhaben wollten, die sich nach seinem Tode aufihn als den prophetischen tfgistaleurder ~Geopolitik.c beriefen. 20 Zweitens konnte sich der gewissenhafte EnzykJopädist Ratze! bei seinen geographischen und völkerkundlichen Studien dank der beispiellosen Zunahme von Forschungsreisen in nahezu alle Teile der Weh aufeine viel breitere und akkuratere Materialbasis stützen, als sie den Gelehrten der ersten Jahrhunderthälfte zur Verfugunggcstanden hane. In Ranels Generation wurde ein ethnographisch-historischer Universalismus ersnnals nicht bloß detlkbo,das war er schon bei MomC5quieu und Voltaire, bei Herder und Schlözer gewesen -, sondern auch rmpiristl, möglich. Drittens haue Ratzel teil an einer Revolutionierung des Raumbcwußtseins, deren Beginn man auf die siebziger Jahre des 19. Jahrhunderts datieren kann. Zumindest in der erdräumlichcn Wahrnehmung begann sich der neuzeitliche Prozeß »von dergcschlosscncn Welt zum unendlichen Universulll!< (Alexandre Koyre) ulllzukehren. Zu Lande und zur Sec warder größte Teil der Erdoberfläche entdeckt und kartographisch erfaHt. Kabclsystemc erlaubten einen schnellen Telegraphenverkehr zwischen den Metropolen aller Kontillente. AlsJules Verne 1873 seinen Phileas Fogg in nicht mehr als achtzig Tagen um die Welt reisen ließ, hane er realistisch kalkuliert. Erstmals stellte sich das Gefuhl der Schließung und folgenden Geschlosscnheit des planeurischen Zusammenhangs ein. Niemand gab ihm einen sinnf.:illigcren Ausdruck als im Jahre 1893 der amerikanischen Historiker Frcderick Jackson Turner mit seiner These von der Erschöpfungderamerikanischen Pioniergrenze. 21 Andere W;l.ren vornehmlich beeindruckt von der Erschließung der riesigen Gebiete Sibiriens und Zeotralasiens durch die Eisenbahn. Den Begründer der britischen ~New Gcogra.-
107; aust\ahrlicher Dm., Polilische Geognphie. München 1897, S. 19}""23 I. Zur Möglichk.dl der Aufsldlung hislorischer Gesetze iußert SIch Raud grund~fzJich in: Die Zeitforderung in den Entwickelungswissenschaftcn. In: Annalen der Nawrphilosophie,Jg. I, 1902, S. 309-363, hier S. 333-341. 20 Die posth ume Imhronis:lIion Rafze ls als Künder des dCUlschell 11Ilp<:ria1ismus erörtcrt /,.". J{orillma/l. Quand I'AlIelmglle p<:nsaif 11' monde: Gr.andeur ef d&:adence d\lI1e gtopolitique, Paris 1990. S. 84f., S. 272f. Ratzet wurde schließlich von fr.anzösischcll Geognphcl1 gebocll seine deutschell AnMnbocf in Schutz genommell (ebd., S. 2701:). Vgl. auch W. D. Smilll, The Ideologiel Origins of Nni Impcrialism. New York 1986, S. 146-152; K.-G. Fa,,", Zur Vorgeschichte def Geopolitik.. Sta:II, Nation und Lebensuum im Denken deuueher Geognphen VOf 1914, in; H. CMlIi"ß" u. a. (Hg.). Wehpolilik. Europa~..e danke, Regionalismus. Festsehrifl t\ar !-Ieinz Gollwitzef zum 65. Geburtstag, MünStef 1982, S. 389-406. 21 Raud hat Turners Arbeiten aufmerksam verfolgt: vgI. SC'ine NOliz Ethnographie und GeschichtsWiSSt:nschafl in Amerika, in: Dcutsehe Zcitsehrift t\ar GochKhtsWiSSt:nschaft. N.F.Jg. 2. 1897198. S. 65-72. bes. S. 68( 1895 kmte IUttd durch umpr«hl TufTl('rs .fronue,.-Konzepl ktllfl('ll. Umgekehrt bnnte Tumt'r St'it den neunzigcrJahren des 19.J:lhrhunckrts lUtzeis Werk. (Ich cb.nkc Dr. Mafthias Wxchttr rur diese Miuellung..)
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phyw:, I-Ialford J. Mackinder, drängte diese Erfahrung in Ratzds Todesjahr zu einer der einflußreichsten nicht nur zeit-, sondern auch universalgeschichtlichen Analysen der Epoche: seinem VortragltThe Geogr:aphicaI PivO( ofHislOry«, in dem er die eurasiatische Geschichte seit Skythen und Hunnen Revue passieren ließ und zu der Prognose gelangte, künftige Konflikte um die Wdtherrschaft würden sich aufdie Komrolle der innen.siatischen .pivot are:u (später in .heanl;;md. umbcnannt) konzcnrrieren. Z2
BI. Das Repertoire von Friedrich RatzeIs eigener Raulllcrfahrung reichte VOll eiIlem in gemütvoller Prosa zum Ausdruck b"Cbnchtcll l-Ieimatsinn 23 bis zur Überwältigung durch die immensen Flächen lind endlosen Horizonte der Ncuen Welt. Während einer Ilordamcrikanischcn Forschungsreise, die ihn zwischen 1873 und 1875 kreuz und quer durch den Kontinent fUhrte, ließ er sich von der Weile des amerikanischen Raumes fasziniercn, einer Weitc, dic in einem deudichen Kontrast zu der Kleinräumigkeit etwa der dicht bevölkerten chinesischen Küstenprovinzen stand, mit denen cr sich zuvor beschäftigt hane. Ratzel fragte nach den Zusammenhängen z'l.vischen Raumverhältnissen und gesellschaftlicher Charakterbildung. Durch zahlreiche Beobachtungen fand cr bestätigt, »dass der Geist des Nordamerikaners von keiner Eigenschaft seines Wohngebietes in so hohem Grade beeinflusst wird wie von der Weite dessclbem:.2~ Die Umweh prägt die Menschen, amerikanisiert etwa in kurzer Zeit Einwanderer verschiedenster Herkunft; sie lenkt aber nicht mcchanisch dercn Vcrhalten. Vielmehr stellt die Umwelt spezifische Aufgaben der .Raumbc",>ältigungtt, die unterschiedlich schwierig sind und mit unterschiedlichem Erfolg gelöst wcrden können. Wie Mackinder, so war auch Ratzcl einer der Pionierc des Großraumdenkcns im Zeitalter imperialistischer Weltpülitik. Aber cr sah, andcrs als manche späteren politischen Gcographen und Geopolitiker, keinen schicksalhaften Expansionszwang am Werke. Die besondere Raumaufgabe der Nordamerikaner sei die innere Kolonisation ihres Staatsgebietes bis hin zu dcs-
22 H.). Mlldrimltr. Thc Geogr:aphinl Pivot ofHistory. in: Geogr:aphinl Joum~I.Jg. 23. 1904. S.421-437. 23 Vgl. vor 4illem ~ille .W4illdcrbildcr. 4iUS deli J4ihrcn 1897-1898. ~S
339-90. 24 F. Rlltztl. Die Vereimgten SWlell von Nord-Amerilu. ßd. 2: CuhUlgeognphie der Verelmgt... n Swt... n von Nord-Alllenb. Münch...n 1880, S. 45f. Ausfilhrhch zu diCSf,"ßl MOtIV ...bd.. S. 542«' Dte Eriihrungd..-r w.. tt... wu ~Ibs(\~tsündlkhbei wropjisc.....n Amerilurciscndcn verbreI· lf,"(; Sie findel skh f."tWl 4ioch bei K umprrrht. Am...riaru.. RcISt't'indrück.... Iktnehtungcn. gcschichdic..... Gö
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sen "natürlichen Grenzentl und die Sicherung seines politischen Zusammenhalts; das Festhahen an der Union bewunderte er, noch vor der SkJavenbefreiung, als die weltgeschichtliche Leistullgdes Nordens im Bürgerkrieg. 25 Doch er warntc vor einer unangepaßten Übertragung des Großraumdenkens auf die dicht besiedelten Kulturlandschaften Miueleuropas: Hier verlange gelingende Raumbewältigung, so hieß es 1898 in dem nationalpädagogischen Buch "Deutschland., weniger ein eX'1ensives Ausgrcifen, das unvenneidlich aufKostCIl dcr Nachbarn erfolgen würde, als vielmehr ein intensivcs, »die eignen Kräftc zusammenhaltendes Wachstum. in den von Bismarck geographisch sachgemäß gewählten kleindeutschcn Grenzen. 2J6 Venneidet RatzeI, der oft fur seinen angeblichcn Materialismus geschohen wurde, die Annahme einer eindcutigen Determination menschlichen Verhaltens durch natürliche Gegebenheiten, läßt er also einen Spielraum fur die Meisterung von »Rallmbewähigung.c durch Staatskunst lIlld langfristiges gesellschaftliches Kollektivhandeln, so ist es gcrade die Vagheit und die im Spätwerk zunehmende Abstraktheit des Ratzclschen RallmbcgrifTs, die ihn lIniversalhistorisch interessant werden läßt. Ratzcl ist der erste Geograph, bei dem - vor allem in der "Politischen Geographie. von 1897 - sich die K..1tcgorie IIRaum.c von ihrem gewohnten Bezug auf "Landschaft. löst. Wie in anderen Bereichen der Kultur der Jahrhundertwende von Physik und Biologie über Malerei (Charme) und Literatur (Proust) bis zur Durkheimschen Soziologie,27 so wird auch bei Rauel der Raum abstrakt. Wenn Ratzel in den neullziger Jahrcn des 19. Jahrhunderts von llRaumtl spricht, meint er den llRaum an sicIllI, der nicht länger, wie in der Landschaftsgcographie Ritters und seiner Anhänger, durch jeweils besondere Oberflächen formen, klimatische Verhältnisse, Vegetation (usw.) charakterisiert werden kann, sondern nur noch durch die quasi-mathematischen Attribute .Weitetl und lIEnge., wie sie als elementare Kategorien dcr llRaumaufTassung« im Bewußtsein der Individuen und der Völkergcschichtlich wirksam werden. 28 Auch der zwcite SchlüsselbcgrifTin Ratzcls reifer politischcr Geographie der ncunzigerJahre ist kaum wcniger formal: die .Lage., die einen spezifischen Raum einerseits in Relation zu anderen, also andersarrw" Räumen, zunächst in der Nachbarschaft, dann aber auch im weltweiten Zusammenhang, bestimmbar macht (z. B.•Mitteleuropa.c), und andercrseits zur Be-
25 F. RDtztl. Land und Landschilft in der norcbmerikanischen Volkssttle. in; Dt-utsche Moniltsschrift rur du gcumte l..cbcn der G~nw:"".Jg.1. 1902, S. 523-538. hier S. 526. 26 F. RDtztl. Dt-utsChbnd. Einfiihrung in die Heimilikunde, l..clpzig 1898. S. 22. don auch S. 218f., 285. 301 f.. 311. 27 Vgl. S. Krm. The Culturc ofTime and S~e. 1880-1918, Dmbndgt'. Mus. 1983. S. 137152, 1n-I79. 223--240; P. KondyIiJ. Der Niedergang der bürgt:r1Khen Denk- und Ltbcnsform. Die hbcnle Moderne und die musc.ndemokr.nische Posunodemc, Weinhelrn 1991, S. 88f., 1()2[. 116, 146-150. 28 RJltztI. Politische Geographie. S. 334fT.
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schreibung seiner Binnenstruktur, et\Y3 der Verteilung von Großstädten, t3Ugt.29 Ihtze! gibt den älteren, den konkreten lind spezifischen Raum- und L:mdschaftsbcgriffkeineswcgs völlig au( Dort, wo seine Kritiker eine Naturalisierung von Gesellschaft, Kulrur und Politik winern. ist im allgemeinen diest' RaumvoTStellung im Spiel. Die Übergänge werden unklar gehalten, und der oft erhobene Vorwurf terminologischer Wirrnis trifft Ratze! gewiß zu Recht. Das Neuc des zweiten, des .amerikanischtl-abstrakten Raumbcgriffs haben aber schon einige der Zeitgenossen deutlich erkannt.JO Eine einseitige Etikeuierung Ihtzels als Hauptvertreter eines .geodetenninistischen. Denkensll trifft daher nur eine Dimension seiner geographischen Anschauungen. Ratzel betrachtet seine Geographie als einen Beitrag zur geschichtlichen Erkennrnis. Da er seine theoretischen Konzepte aufder Grundlage VOll Anschauungsmaterial aus Vergangenheit und Gegenwart aller Wcltgegenden entwickelt, kann diese Erkenntnis nicht andeTS als fmiJJeml/geschichtlich sein. Die abstraktcn Begriffe von llaum und Lage, die dem neucn Zeitalter der Globalisierung, des )lWcJrverkehrsl<., der )lWcltmächtclC und ihrer llWeitpolitik« entsprechen, eignen sich am besten dazu, makrohistorische Kraftlinien und Gewichtsverschiebungen auf einer purifiziertcn Weltkarte einzutragen. Ratzcl, mit zunehmendem Alter immer ungehemmter auf der Suche nach )lthc largcst of possible frameworks.,J2 wird damit. noch vor Mackinder, zum Bef,'Tünder einer Denkweise, welche die (neuere) Weltgeschichte als Prozeß der Her.lllsbildung und Verschiebung von Zentrcn und Peripherien deutet: von wechselnden Konzentrationszonen politisch-milit~rischerMacht, wirtschaftlicher Dynamik und kulturellen EinOusses. Die historisch orientierte Weltsystem-Theorie des :ullerikanischen Soziologen Immanuel WalleTStcin, die einer solchen Denkweise seit den siebziger Jahren dcs 20. Jahrhunderts zu großer Verbreitung verholfen hat, ruht, ohne es sich einzugestchen, auf RatzeIschen Fundamenten. Friedrich Ratzcl selbst hat vor allem das Kcrnstlick seiner Lehre, die Anthropogeographie, in großer N~he zur Geschichte konzipiert. Der erste Band seines gleichnamigen Werkes, der 1882 erschien, trägt: den Untertitel )lGrundziige der Anwendung der Erdkunde auf die Geschichte•. Damit ist in einem sehr entschiedenen Sinne eine )lerdumfassendll verstandene Geschichte gemeint. Ratze! sucht nach der Verbindung von Geographie und Geschichtswissenschaft
29 vgl. F. RllfZrl. Über dIe geographische Lage. Eine politisch-grognphische lktr.lchtung 118(4). in: Dm.. Kleine Schriften. hg. v.1-I. Hrlmolt. Bd. I. Mfinchcn 1906. S. 284-290. 30 Eme unübenrolTen .sch:arfsldui~ Amlysc findet Sich bei emem frühen Kritiker lutzcIs: C. lIoJIDu.-o:. Grographie soci~le. Lc sol Cl r~l2t. Paris 1911. 5.145-173. Die Schlußfolgerung: .Aiusl compns. l'espxe gfogIaphiquc dcvK'1U une sone d·entit~ m~l2phYS"lue.• (5. 146) 31 So z.B. w: Kihtn. Anlkd .Raum. pohtischer•. in:]. Ruin' 11. K CriitUkr (Hg.). HistOn.sches W, nerbuch der PhilosophK-. ßd. 8. ßascl 1992. Sp. 126. 32 IV. D. Smith. PolilicS3nd the SctcncesofCulturc 111 ~muny. 1840-1920. NcwYOI"k 1991.
5.223.
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mit den neuesten Ergebnissen der Völkerkunde. Die Geschichte dürfe nicht länger in jencm abendländischen Bereich gefangenblciben, »in dem sie, über Europa und die Mittelmeerländer kaum hinausschauend, dargestellt zu werden pflegt«.3J Ratzei, derJohann Gottfried Herder über alle anderen universalhistorischen Autoren stellt,J4 mißbilligt die europazemrische Verengung der deutschen Geschichtsphilosophie von Kant über Fichte bis zu Hege!. Bei Auguste Conuc, der ebenfalls über die lIVölker der weißen Rasse« kaum hinausblickt, findet er einen Ausweg aus solcher Beschränkung: in der Idee nämlich, die geschichdiche Emwicklung strebe hin zur lIBildung einer Gesellschaft aus der ganzen Menschheit« und es müsse daher eine stetig zunehmende Zahl von Völkern im Konzen der Weltgeschichte zu Gehör kommen. JS Ratzcl hält es für selbstverständlich, in eine »allgemeine Kulturgeschichte« nicht nur »Mexikaner, Peruaner, Japancr und Malayen(( einzubeziehen;~ sondern auch die lINaturvölker« aller Weltteilc. In seiner lIVölkerkunde«, die bezeichnenderweise umer dem utclllThe History of Mankindl( übersetzt wurde (3 Bde., Landon 1896-98), wendet er sich gegen "den vorwiegenden Gebrauch negativer Benennungen fLirdie Naturvölker, wie Kulturlose, Geschichtslose und ähnlicheI(, warnt: micht Klüftc, sondern Gradumerschiedc trennen die Teile der Menschheit«,J7 und formulicn programmatisch: MEs ist eine allgcmcine KulwrgeschichlC denkbar, welche die nationalcn odcr doch auf Einen Kulturst3mm beschränkten Gesichtspunkte beiseite läßt, um einen hohen, erdbchcrrschcndell Standpunkt einzunehmcn und von dieseln aus die Geschichtc der Verbrcitung dcr Kultur durch die ganzc Menschheit hin zu übcrschauen.~
Ratzcls energischcr Einspruch gegen die biologischen Rassenlehren seiner Zeit - 1903/1904 wendet er sich mit einer solchen Vehemenz gegen Gobincau und Houston Stewart Chambcrlain, daß der sonst loyale Herausgeber der »Kleinen Schriftcn« sich ängstlich von scinem Lehrer distanzierr39 - verbindet sich frei33 F. Rot«/, Anthropogt.'Qb'faphie. Bd. 1. Snmg.m 18l)(p $. 55. Die zweite Auflage des Werkes versürkte!:,'egenüber der erstell die historische Orientierung. 34 Vgl. den großen WürdigunguufS
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lieh mit einem allenfalls gemäßigten kulturellen Relativismus: ltKulturlich bilden diese Völker [die Naturvölker] eine Schicht unter uns, während sie nach natürlicher Bildung und Anlage zum Teile, soweit sich erkennen läßt, uns gleichstehen.~40 Die hochkulturelle Normativitiit des modernen Europa wird bei Ratze! ebensowenig wie bei fast allen seiner Zeitgenossen in Zweifel gezogen. ItKulturarmut« und ItKulturlosigkeit« sind aber keine biologisch oder geographisch schicksalhaft und unausweichlich festgelegten Zustände: Itl ...] vieles, was sich heute zum Kulturvolke der Russen zählt, war zur Zeit Peters des Großen noch reines Naturvolk,~-4l und umgekehrt finden sich in der Geschichtc zahlreiche Beispiele fiir die Regression ganzer Völker hinab von hohen Zivilisationsniveaus. 42 Ratze! entwirft Universalgeschichte in amhropogeographischcr Sicht als Bewegungs- und Beziehungsgeschichte: als die Untersuchung von Migrationen auf allen Ebenen - von Völkerzügcn größten Ausmaßes bis zum Auswanderungs- und Akkulturationsschicksal von Familien und Einzelpersonen - und als das Studium von kriegerischen Landaneignungen, herrschaftsbildenden Überlagerungen, wirtschaftlichen Erschließungs- und Kolonisationsvorgängen, ethnischen Vcrmischungen, kulturellen Übernahmcn, Prägungen und Durchdringungen. Spätestens 1899 rückt »geschichtliche BewegunglC als Schlüsselbegriffins Zentrum der Anthropogcographie. 43 Zur Signatur der Geschichte wird Mobilität in Frieden und Krieg; Dynamik ist die Regel, Statik dic Ausnahme. Falsch ist nach Ratze! jede Vorstellung von in sich ruhenden, klar voneinander abgegrenzten, unbeirrt ihrer eigenen Enrwicklungslogik folgenden Kulturen, also das spätere Spengler-Toynbee-Konzcpt: Es gibt im Grunde überhaupt keine isolierten, säuberlich arrondierten Kulturbereiche; Geschichte bedeutet Mischung. Unzulänglich ist in seiner Sicht auch die Beschränkung aufdie katastrophischen Nölkerstürme~ nach Artder Invasionen von Hunnen, Mongolen lind Arabern. Vielmehr sind die McnschenJonwiillretld in Bewegung: Sie breiten sich über den Boden aus lind ziehen sich von ihm zurück,
molts aufS. 486. Kritisch w R'llZelS Auffassung von mcnschlichcn Rassen: C. Marx• • Völker ohnt· Schrift lind Geschichte«. Zur hislorischen Erfassungdes vorkolonialeTl SchW3rufrik..a in der dem· schrn Forschung des 19. und frühen 20. JahrhundertS. Stuttg
41 Ebd .• S. 10. 42 Vgl. dazu besonders F. &1Zt!, Völkerkunde. Bd. 3: Dic Kulturvölker der Allen und Neurn Welt. Leipzig 1888. S. S-18. Über drn andcren Fall der Zerstörung.kulrurarmer« Völker durch die Ikrührung mit der westlichen Zivilisation vgl. RatZtI. AnthropogcOb'T:I.phie. Bd. 2. SlUttgart 19122. S.215ff. 43 R!ltztl. AmhropC>gCOb'T:Jphie. Bd. I. S. 73-134; zusammengcfaßt in: F. Ratzt!. Die Erde und der Mensch. in: H. Hdmoll (Hg.). Weltgeschichte. ßd. 1. Leipzig 1899. S. 63-104. bcs. S. 69-74. Vgl. auch die sorgf;iltige Inlcrprer:lIioli bei O. Schliitft. Die leitenden Grsichtspunkt der Anthropogeographir. insbesondere der Lehre Friedrich Rands. in: Archiv ftir Sozialwissenschaft und Sozi· alpolitik.Jg.22. 1906. S. 581-630. bcs. S. 599-605.
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hintcrlassen in der Umwelt Spuren von ganz unterschiedlicher Tiefe und Dauerhaftigkeit, schaffen politische Gebilde von schwankender Stabilität. Wenn es einc große Tendenz der Geschichte gibt, dann die zu stabileren Bindungen zwischen Mensch und Erde. Mit .zunehmender Kultune werden die Völker seßhafter und ihre Staaten beständiger, graben sich die Menschen durch Agrikultur und Indusuie buchstäblich tiefer in den Boden hinein, steigern aber zugleich ihre Ikweglichkeit minels der technologischen Fortschritte des modernen Verkehrs. 44 In Leipzig gehörte Ratzelmit Wilhe1m Ostw;;aJd, Wilhe1m Wundt, Karl Bücher und K.2r1 Lamprecht dem berühmten .Kränzchen« an, das sich nur ungenau als eines von .Positivistcn« charakterisicren läßt. 45 Fachgrellzen waren ohne Bedeutung; Ratzc1 etwa hat sich in einigen späten Aufsätzen, die zweifellos aus den Gesprächen im Kollegenkreis hervorgingen, zu theorctischen Fragen der Gcschichtswissenschaft geäußert. Es ist nach derJahrhundertwende gerade im Dialog zwischen Lamprecht und Ilatzel zum EinversLlndnis über eine Sicht der Geschichte gekommcn, die sich von der orthodoxen Universitätshistorie erheblich untcrschied: durch die ßcachtungvon Landschafts- und Ilaumstrukturen im Spektrum zwischen regionalem Schauplatz und kontincntaler Weite, durch ein Augenmcrk auf neuc Gcsichtspunkte aus Völkerkunde, Soziologie sowie Ur- und Frühgeschichte, durch starke Vorbehalte gegen eine Fixierung der Historiker auf Staat, Nation und europäisches Mächtesystem, schließlich durch ein Interesse rtir materielle und geistige .ÜbertragungenM (Lamprecht) sowohl zwischen benachbarten als auch zwischen räumlich entfernten Gesellschaften: Lamprechts Liebling-;bcispiel daftir war die Rezcption des Westens in Japan."6 Dabei war an keinc zwanghafte Schematisierung und Periodisierung der Weltgeschichte gedacht: Auch das Problem wechselnder Temporalstrukturen und Zeitwahrnehmungen, das gleichzeitig vor allem Kurt Breysig beschäftigte, wurde gesehen, die Auflösung von Universalgeschichte in .Multivcrsalgeschiclltc« (Odo Marquard) angedeutet.•So klein der Ilaum der Erde
44 Zur geschichtlichen Bedcumngdes Verkehrs bes. F. RDtztl, Einige Aufg;;lbcn der politischen Ethnogr.lphie, 111: Zeitschrift fiir Soci;tlwisSCllSCh;tfl, Jg. 3. 1900. S. 1-19, hier S. 2, 9-11; Offs.. Polilische Gcognphic, S. 403-444. 45 Zum Verhältnis L,unprecht-Iutzel vgl. R. Cilicktrirrg. K:arl ull1prcchr: A Germ;tll AC;tdemic Life (1856-1915). Atblllic Highbnds, NJ. 1993, S. 289-297. I-linzuzufilgen mre der Hinweis ;tuf einen Text umprechts,der ungcw6hnlich surke Anregungen durch Rattels polilische Geogr;tphie erkennen läßt: die Kapitel_Die Emwidclungdcs deutschen Volksgcbietes. vornehmlich außerh..lb des Reiches- und _Die Entwicklung der Auswanderung«, in: K l..Ampff'tht, Deutsche Geschichte der jüngsten Verg.mgenheit und Gcgtnwan. Dd. 2. Berlin 1913. S_ 369-412. 413-455. Zur in· teoulionalen SitUlerungder Leipziger Allianz von Geschichte und Geognphle siehe den ~i ~nden Aufntt K·G. Fflba, Gcschichtslandschaft - Region hislOnqUC - Scction in Hisrory_ Ein Bc:itngzur wrgleichenden W"~nsduf~hw:hte.in: ~lum.Jg. 30. 1979. 4-21. 46 Vgl. P. Gnu. Jlpan und Karl Umprechu ulll\"Crsalge:sc:hichthche Ansduuung 1900-1914. In: Companuv,Jg. 4.1991, S. 9+-107, bes. S. 95--97.102-104.
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ist,1C schrieb Ranel 1904 in seinem wichtigsten geschichtstheoretischen Aufsatz, ItCr ist doch groß genug, um mehrere Geschichten nebeneinander sich abspielen zu lassenlC. 47
Die Leipziger Anregungen haben am stärksten in der deutschen Landesgeschichte fortgewirkt, eine univers3lgeschichtliche Denkrichtung haben sie nicht zu gestalten vennocht. Ranels Schüler Hans F. Helmolt gab zwischen 1899 und 1907 eine gcographisch-ethnologjsch ausgerichtete, alle Kontinente umfassende »WehgeschichtelC in neun Bänden heraus, deren Autoren sich jedoch eher an den gröberen geodeterministischen »GesctzeslC-Proklamationen Ratzcls als an seiner feinsinnigen Kasuistik von Mensch-Natur-Bezichungcn orientierten. Die Entschcidung, das Werk nach geographischcn Regionen zu gliedern, zum Beispiel die Geschichte Nord-, Miucl- und Südamerikas von den )lNaturvölkern« über Mayas und Azteken bis hin zur Gegenwart in einem kontinuierlich erzählten Kapitel behandeln zu lasscl1, maclue es den Gegnern Icicht. Selbst Kurt Brcysig, der vielleicht am wenigsten europazC'l1trische unter den deutschen Historikern, fand wenig mehr zu loben als dic gute Absicht. 48 Mit del1 Mängeln der Ausfuhrung sind dann auch die leitenden Gesichtspunkte, wie sie Ratzd im ersten Band vorstellte, der Kritik verfallen. Ein Vierteljahrhunden später nahm Walter Goetz in den Einleitungsband seiner .Propyläen-WeltgeschiduclC einen Beitrag »Boden lind Geschichte« auf, den der Berliner Geograph Walther Vogel geschrieben hatte. Der Niveauullterschied zwischen Vogel und Ratze! ist unverkennbar. Vogel w:ar ein Vertreter der Politischen Geographie; seine Abl13ndlung beschränkt sich auf eine t3..xonomische Übersicht der Zusammenhänge zwischen Topographie, Klima und Formen staatlicher Organisation. Eine humangeographische Kulturgeschichte interessierte ihn wenig, und es ist nicht ersichtlich, daß sein Beitrag dem Goctzschen Unternehmen bedeutendere Impulse verliehen hättc. 49 Die Einladung an den Geographen war kaullllllehr als eine Pflichtübung des ulllsichtigen Hcrausgcbers. Geschichte und Geographie waren sich in Dcutschland nach dem Ersten Weltkrieg so fremd geworden wie niemals seit den l:1gcn earl Ritters.
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47 RJuzd, Geschieht(', Völkc-rkund~ und historiseh~ P~rs~ktive, 43. 48 Vgl. K. B~. Dlc Gesc:h)cht~ d~r Mensehheil, ßd. I. Ikrlin 1907. S. 63. 49 Kulwrgt:SChiehdieh orkn~" smd t:\l.'\"1 ;lnckrc Werke lI;1nlh;lfler Grognphen ~Jl('r Uu:A. HrtIMT, Der G;lngder Kuhur über dlc Erdc, Leipzig 19292. und vor ;Illern H. Hassingrr. Gcognplu. sehe Grulldbgc:n der Gesc:hKhre, Frciburg i.Br. 1931. Husmgcr 5Ctzt steh in semem Werk U.2. du Ziel, dl~ gt:oguphisc~n KrudiDt('n tkr Hdmoh:schcn .W~hgeschKhtt"oodurch den ..histQTlschrn GcsKlnspUllkt der kitcnckn Ideen und Krifte_ zu korrigicren (5. 10).
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Ihre stärkste Resonanz fand die deutsche Amhropogeographie in Frankreich. Paul Vidal dc Blache (1845-1918), das Haupt der »Ecole franc;aisclC, und seine Schüler begleitetcn in ihrer bahnbrechenden Zeitschrift »Annales de Geographie« Ratzc!s Arbeiten mit respektvoller Kritik. Sie wurden zum Maß, das es wissenschaftlich zu übertreffen galt. In den entschiedenen Widerspruch der maßgebenden französischen Geographen gegen die publikumswirksam agitierende deutsche »Geopolitiklt der zwanziger und dreißiger Jahre wurde aber schließlich auch Ratzcl einbezogen, aufden sich Karl Haushofer und scin Kreis verehrungsvoll beriefen. RatzeIs Werk berge, so faßte ein namhafter Gelehrter seine eingehende Auseinandersetzung vor allcm mit der .Politischcn Geographicj( kurz und bündig zusammen, zwei Gefahren: lIdeterminisme physique, nationalisme politique«.so Als vcrhängnisvoll abgelehm\.vurde insbesondere das dcutsche Großraumdenken, dem Ratzel in der Tat mit manchen seiner Äußerungen Vorschub geleistet hattc. Die französische Geographenschule stand der Geschichte ambivalent gegenüber: Vidal de Ia Blache hattc earl Ritters geographisch-historische Werke studicrt und verdankte der Lektüre Michelets ein beständiges Interesse an lebensformen der Vergangenhcir. sl Er illustrierte seine systematisch angelegten humangcographischen Schriften mit Daten aus einem reichen universalhistorischen Wissensschatz. 52 Zugleich wehrte er sich aber dagegen, die Geographie der Geschichte unterzuordnen; seine Schüler fühltcn sich der Soziologie näher als der Geschichtsschreibung. Diese such tc ihrerseits den Anschluß an die Geographie. Lucien Fcbvre, neben Marc Bloch der zweite Gründcr der IlAnnalesSchule«, sah eine Klärung des Verhältnisses zur Geographie als Voraussetzung fur die Neubegründung der französischen Geschichtswissenschaft. In einem umfangreichen Buch nahm er 1922 die Geographie gegen Angriffe scitens der Durkheimschen Soziologie in Schutz, erläuterte die Bedeutungder Vidalschen GeogTaphie der llcadres natureis« und llgenres dc viclt, dic er als einc llpossibilistische1l Lehre imerpretiene, Hir das Verständnis der Geschichtc und wandte sich zugleich mit polemischem Schwung gcgen Ratze! und dessen Anhänger, vor allem dic amcrikanische Geographin Ellen Churchill Sem pie, denen er Staatsfixierung und Geodeterminismus vorwarf!l3 So wurde etwa zur sei ben Zeit, als Geschichte und Geographie in Deutschland weiter denn je auseinanderstrebten, im innovativsten Winkel der französischen Geschichtswissenschaft die Geographie, gewissermaßen neo-rinerianisch, als eine unerläßliche PartnclVlissenschaft begrüßt, die nicht weniger - aber auch nicht mehr! - bercitzustellen habe als den »Rahmen« der historisch zu analysierenden Phänomene.
s.
50 j. Allul. Geopolitiquc. Paris 19385, 9. SI Vgl. V. BmJoll/ay, 1.4 formation dc I'&olc fr.lIl1;aisc dc gtognphie, Paris 1981. S. 187. 52 Z.B. P. Vidal d~ 10 Blalht. Principes dc gtognphie htllmine. Paris 1922, !>es. S. 199([ 53 L. ftblJrl, La tcrre Ct revolution humaine, Paris 1922 (vor al1clI1 S. 58fT. zur Krilikan Ratzcl).
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Fernand Braudei, der maßgebende Universalhistoriker der »Annales«-Gruppe, ist über Luden Febvres vorsichtige Kompetenzabgrenzung weit hinausgegangen und hat sich dessen Vorbehalten gegen einen geographischen Determinismus nur bedingt: angeschlosscn. BraudeI haue umer anderem bei Emmanuel de Martonne srudiert, dem Schüler und Schwiegersohn Paul Vidal de la Blaches. Er war mit dcr deutschen geographischen Literatur vertraut und nutzte bei seincn Srudicn über das Mitte!meer ausgiebig die Forschungcn dcs vielleicht wichtigsten historischen Geographen in der Generation nach RatzeI, Alfrcd Philippson. Es mag durchaus sein, daß Ratzcls Ausftihrullgen über Räume und Grenzen Braude! beeinOußt haben;S4 ohne Zweifel trägt: die im großen Einleirungsteil von »La Mediterranec et Je mondc mcditcrranccn a I'epoque de Philippe 11« entwickelte historische Geographic dcs Nomadisierens, der Inseln und dcr Küstcn RatzeIsche Züge. Aber die Behandlung dcr Gcographie durch den Historiker Braudcl ist in seinen drei großen Werken ganz originell, in keiner Weise schulorthodox oder epigonal. Als »u Mediterranee« 1949 veröffentlicht wurde, war sie einzigartig.
v Genealogien von Wirkungen und Einnüssen sind von begrenztcm Erkenntniswert, und so mag es müßig sein, in der neue ren Liter.ltur nach Ratzcl- (und vielleicht Lamprecht-) Spuren zu fahnden. In Friedrich RatzeIs Schriften wurden vicle dcr Zusammenhänge zwischen menschlichen Gesellschaften und ihren natürlichen Umweltcn von.veggcnolllmcn, die in neueren universalhistorischen Studien wicdercmdcckt und zum Teil ausgearbeitet worden sind. Dies verdiem bemerkt zu werden, auch wenn Ratzcls speziellere theoretische Beiträge, etwa der von ihm erstmals seriös vorgetragene ethnologische »Diffusionismus«, zumeist der wissenschaftlichen Kritik nicht standhalten konnten. Von Ratze! stammt dic erstc VlSioll, keineswegs aber eine zureichende Ausftihrung eincr transkontinentalen Universalgeschichtsschrcibung vom räumlich-beziehungsgeschichtlichen Typ. In der Gegenwart versprechen mindestens vier Ausprägungen einer solchen Geschichtsschreibung diskutable Ergebnisse: Erstem hat Braudcls liLa Mediterrancet<, ein Werk, von dem man gesagt hat, es vermöge »wie kaum ein anderes Buch zuvor, seinen Lesern einen Eindruck von
54 Das vennutel P. B'lrkt. OlTene Gcschidllc: Die Schule der Annales, dl. v. M. Fienbork. ßcrlin 1991. S. 42. Zu ßr;audcls ~gtohislOire. vgl. krilisch S. Kin.It'r, The CeQhistorical StructUn.1iSl11 ofFernand ßraudel. in: AHR.Jg. 86.1981. S. 63-105; Y.U(os/t. Braudcl gtogr.aphe, in: Dm.. Payuges poliliques: Braude!. Gracque. Redus, Paris 1990. S. 83--149; G. Gelt/tl/i. Fcrnand Bn.udel e l'Europea universale, Venedig Im. S. 45-50.
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dcr Bedeutung des Raumes fur die Geschichte zu vermitteln,(f5 den Anstoß zu historischen Längsschnitten durch solche maritimen und kontinentalen Großräume gegeben, in denen untcrschiedliche Zivilisationen aufeinandertreffen. 56 Allerdings hat nur ei"e der bedeutenderen Arbeiten aus jüngerer Zeit Braudels kulturgeographische 'Tiefenschärfe wiederholen können und einen historischen Anschauungsraum ähnlich dicht mit Landschaftsbildern und konkreten Details belebt.57 Es scheint Abstufungen von Schwierigkeiten in der Durchfhhrung großräumiger Synthesen zu geben: Am einfachsten lassen sich offenbar überseeische Zusammenhänge von H:mdel und Verkehr darstellen; an zweiter Stelle folgen Migrationen sowie Siedlungs- und Kolonisationsvorgänge; noch anspruchsvoller ist die Aufgabe, küstennahe und binnenländische Gebiete in ihrer Wechselwirkung zu zeigen; am schwierigsten dürfte schließlich die Erfassung der kulturellen Kontakte zwischen den an der Großregion partizipierenden Zivilisationen sein. Zweitem haben Immanuel Wallerstein in seinem Werk .Tbc Modern WorldSystelllt( und abermals Fernand Braude1 im dritten Band seiner Trilogie »Civilisation mau:rielle, economie et capitalismel( den abstrakten und formalen Raumbcgriff, der auf RatzeIs Idee des >Ireinen Raumest( zurückgeht und der seither in der Siedlungs- und Wirtschaftsgeographie eine gewisse Rolle gespielt hat, flir die Universalgeschichtsschreibung nutzbar gemacht. 56 Hier geht es nicht um dcn »Einflußt( der Natur auf die Geschichtc und um die spezifische
55 BI/rAlt, Offene Geschichte, S. 46. 56 0, H. K. Spart, The Pacific sincc Magcllan, 3 ßde.. Canbcm. 1979-88; D. W. Mti"ig, The Shaping of Amerin: A GeognphiC21 Perspeclive on 500 Years of HislOry, 4 Ode., New I-laven, bisher erschienen: Bd. I (1986), ßd, 2 (1993), ßd. 3 (1998); K. N. Chlllldlnln', Tn.deand Civitisa!ion in the Indian O(('an: An Economic History from !he Rise oflslam 10 1750, Cambridgc 1985; Dm.. Asia bcfore Europc: Economy and Civilisation of!he Indian Deean from the Rise oflslam 10 1750, Cambridgc 1990. Zum Atlantik vgI. die Problem- und Litcraturiibcrsicht: 1-1. Pktsthmollll. Geschichte des atlantischen Systems, 1580-1830, Ein historischer Versuch zur Erläuterung der .Globalisierung. jenseits nationalgeschichtlicllcr Perspektivcn, Hamburg 1998; Dm.. Geschichte der europ:iischcn Expansion - Geschichte des allantischen Raumes - Globalgeschichle, in: T. &11 tu. (Hg.), Übcrseegcschichte, ßcitrige derjüngeren Forschung, Stungarl 1999, S. 21-39. Grund· legend zum Al1alllik bleibt C. Vtrlirrdtrl, l...es orib';nes de Ja civilisation atlantique: De la Renaissance !I1'AI,-e des Lumieres, NeucMlcll966. 57 C. O. StllIl'f, The Early Spanish Main, Bcrkc1ey 1966. Sauer (1889-1975) war allerdings viel weniger ein .cnvirQnmenulisl. als Br.ludcl; ihn interessiene vor allem die Einwirkung des Menschen auf die Natur, nicht die umgekehne Prägung. Vgl. D. N. LivillgSfOlJt, The Geographical Tr2dition: Episodes in the HislOry ofa ConteStl-d Enterprisc, Oxford 1992, S, 294-298. 58 J. Will/rn/tin, The Modern World-SYSlel1l, New York. bisher 3 Bde.: Bd. I (1974), Bd. 2 (1980). Bd.3 (1989); F. Brolldtl, Civilisalion malerielle, &onomie et capiulisme, XVc-XVIl1e si~c1e, Paris 1979, bcs. Bd. 3: l...e Temps du monde. Zu heiden wichtige Bcill'igc in: H.-}. Ni12 (Hg.), The Early-Modern World-Sys!el1l in Geographical Perspcaivc, Stuttgm 1993. Die zunächst eher versleckte geographische Dimcnsion seiner Theorie hat Wal1ers!ein im Tilel eines seiner neue ren Aufsa!zbändedeutlich ZUIll Ausdruck gebracht: Geopolitics and GcocultUre: Essays on the ChangingWorld-System, Cambridge 1991.
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Wechsclwirkungen zwischen Menschen und Landschaften, sondern um die Verteilung ökonomischer Funktionen in Räumen jeglicher Größenordnung. Beinahe geomctrisch unterscheidet Wallcrstein zwischen den funktionalen, ihre geographischen Orte von Epoche zu Epoche wechselnden Positioncn von Zentrum, Semiperipherie, Peripherie und ~external arena«, und ßraude! Stellt sogar sehr allgemein gehaltene .Regeln« auf - etwa die der ~hierarchischen(( Staffelung der Zonen der Weltwirtschaft -, die Ratzcls räumlichen »Gesetzen(( verblüffend ähnlich sehen. Drittem hat das klassische RatzeIsche Thema der Wanderungen einen neuen Sinn durch die Entdeckung der Historiker- Naturwissenschaftlern waren solche Gedanken geläufig - erhalten, daß nicht allein Völker, Gruppen und menschliche Individuen ihre Lebcnsräume wechseln, sondern auch Tiere, Pflanzen, Mikroorganismen und Viren. Die Einfuhrung von Pferd und Schwein in Amerika, die des Schafes in Australien und Neuseeland, die Ansiedlung der Kartoffel in Europa oder die Ubcrtragung des Zuckerrohres in die amerikanischen Tropen waren Transfervorgänge von außerordentlicher Bedeutung rür die Geschichte der Menschheit. Nicht weniger wichtig und überhaupt nur im interkontinentalen Maßstab erfaßbar ist die Geschichte der Epidemien und ihrer parasitären Erreger. S9 Der entstehende globale Zusammenhang ist auch ein solcher der pathologischen Konvergenzen. Vienens hat sich die Vorstellung der ~Grcnze« (frontier/frontiere, boundary) als eines der fruchtbarsten geo-historischen Gedankenbilder erwiesen. Ihren Ursprung hat die Idee der Grenze als einer beweglichen Zone der Interaktion und Interpenetr:ttion von Gesellschaften bei den humangcographischcll Klassikern des Fin de siede. Sie findet sich dann breit ausgefUhrt in Braudels Portrait des llgrößeren(( Mittelmeerraumes und vcrsteckt bei Wallerstein dort, wo von der »Inkorporation« ex'terner Gebiete in das expandierende kapitalistische Weltsystem die Rede ist. Grenzbildungen und Grenzsituationen lassen sich an den Rändern aller Expansionsprozesse beobachtcn: nicht nur der europäischcn Überseekolonisation und imperialen Landnahme, sondern auch weltweit der Ausbreitungvon Religionen, Sprachen, Lebensformen (»urban frontier((), politischen Ordnungen, usw. Expansionen können auch zu langfristig relativ stabilen grenzartigen Gleichgewichtszustände fiihren, die ZUIll Teil geographischen Gegebenheiten folgen: zu denkcn wäre an die Polarität VOll st.ldtischcm Leben und Wüstenexistenz im nahöstlichen Raum, wie sie Ibn Chaldun im 14. Jahrhundert tief durchdachte, oder an das von Owen Lattimore mustergültig analysierte Verhältnis von chinesischer Ackerbaukultur und innerasiatischem Nomadislllus. 60 Grenzsituationen eignen sich besonders gut fiir einen kom59 Vgl. w. H, MrNtill. Pbgues ~nd Pcople, G~rdcn City 1976:A. W. Crosby. EcolObrjc~llmpe ri~[iSIll: Thc ßiologic~1 Exp~l\sion ofEuropc. 9(X)-1900. C~ll1bridge 1986. 60 Vgl. O. Laltimo", Inner Asi:lI1 FrOlltiers of China. LondOIl 1940: seither vor altem T. j. &rfrAd. The Pcrilous Froruicr: Nomadic Empires and China, Oxford 1989.
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parariven Zugang.61 Die numlich-bcziehungsgeschichdiche Spielart universalhistorischer Betrachtung kann sich zumindest an dieser Stelle mit der zweitell in der Gegel1\\ldn maßgebenden Grundfonn verbinden: dem strukturellen Vergleich.
61 Slchc Kapitel 9 in dicsem Ihnd.
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7. "Höherer Wahnsinn«: Universal historische Denkstile im 20. Jahrhundert
I. Don, wo er;l.m Ende des Mcthodillipitels seiner Trilogie die .vollendung der Forschung in der Geschichtsschreibung.,; erönert, weist Jöm Rüscn der Historik die Aufgabe zu, die Exzesse der Praktiker zu korrigieren. Die blindwütigen Szientisten und forschenden Maulwürfe bringt sie zur kommunikativen Raison, verweist aber auch den Erzeugern wurzellosen Sinns ihre Unarten. So schreibt nämlich jöm Rüscn: .Umgekehrt bnn die Historik eine Vorstellung narrativer Sinnbildung, die von der Anstrengung theoriegeleiteteT lind methodisch geregelter Erkennmisprozesse dispensiert (zumindest abstrahiert), nur als die Form eines höheren W1hnsinns kritisieren, in der man glaubt, den methodischen Verstand verlieren zu müssen, um die Vergangen.
heit historisch lebendig werden zu lassen.tl l Nur wer Verstand besit2t, kann ihn verlieren. Man sicht: die Historik geht freundlich und pädagogisch mit Dilettanten und Phantasten um. Solche Nachsicht haben die wissenschaftlichen Richter keineswegs immer geübt. 'iX'enn der Historiker, Macaub.y zufolge, das Amt des »hangingjudgcOl verwaltet, dann nicht allein im nachträglichen Vollzugan den Verbrechern und Dummköpfen der Vergangenheit. Auch Kollegen oder, unfreundlich gesagt, Konkurrenten auf dem Buchmarkt und in der Publikumsgunst, mußten sich Kapitales sagen lassen. Einige Historiker, allen voran der Amerikaner J H. Hexter, der sich fur »the (unniest historian of his agc" hieh,2 haben Ruf und Laufbahn geradezu auf Kritik und Polemik aufgebaut. Niemandem haben solche historiographischen Inquisitoren im 20. Jahrhundert schlimmer mitgespielt als den Universalhistorikern, Leuten, die Bücher schrieben, deren Thema -wenn auch nicht immer ihr agierendes Subjekt- die Menschheit als ganze war.' 1Ur! umprecht fiel nicht allein wegen seiner universalhistorischen InterI J. Rihm. Rekonstruktion Ikr Verpngcnhclt. Grundzüge emcr HislOrik 11: Die Pnnzipicn der hislOrischen Forschung. Göttingen t 986. $. 150. (I-Ig.). 11lc Blx:lcwdl DlCtiorury ofHislorians. Oxford 1988. $. 187. 2 J. 3 Im Hintergrund des folgenden SlC:hl die allgemeine Übersichuliter.uur: E. Schulin. Univcr~ salgeschichlS5Chrdbung im 20. Jahrhundert. in: DnJ.. Tndiuonskritilc und Iklconslruktionsversuch. $mdien zur Entwicklung von Gcschichtswisscllschafl und hislOrischem IXnkCIl, Göttingen
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essen in Ungnade, aber sie lagen erschwerend auf der Wagschale. Arnold J. Toynbce, der Verfasser von '/tA Study of History. (1934--61), war, als Forschungsdircktor am Royal Institute ofIntcrnational AfTairs außerhalb der historischen Zunft tätig, von der Fachhistorie lange kaum beachtet worden, wurde jcdoch seit et\va 1947 zum Ziel einer oft rabiaten Kritik. ~ Es war nicht einfach, ihm, einem der belesensten Menschen seiner Zeit, wirklich gravierende Sachfehler nac.hzuweisen. Aber ein immer deutlicher zur Schau getragenes Überlegcnheitsgefuhl über den ameiscnhaft begrenzten Gesichtskreis historischer Spezialisten und der seherische GestuS seiner späteren Bände, die zudem Spuren hastiger Produktion trugen, zogen gestrenge Zurechtweisung an. Dabei gab Toynbce seinen Kritikern, deren Urteil ihn stets berührte, oft erstaunlich weit nach. Die Korrektur durch Experten war ihm wichtig, die Haltung eines '/tUm so schlimmer fiir die Tatsachen. fremd. Oswald Spengler allerdings, desscn "Untergang des Abendlandes« (1918-22) in cinem maßgebenden Lexikon immerhin noch zu den 228 ItHauptwcrken der Geschichtsschreibung« gerechnet wird,s stand mit seinem lebcnsphilosophischen Willen zu Schau und Ausdruck und seiner Selbststilisierung als gocthescher Dilettant der Fachhistorie so fcrn, daß ihre Einwände ihm wenig anzuhaben vermochten. Für die gedichtete Geschichte galten Maßstäbe, die sich dcm Fassungsvermögen der Kathederhist0riker zu emzielten schienen. Mit großem Takt hat kein geringerer als Mare Bloch die Urteilskritericn fur Wcltgcschichtsschreibung fonnuliert. Bloch, der \vie kaum ein zweiter Historiker des Jahrhunderts Forschung und Gedanke, Arbeit und Anmut zu verbinden wußte, bespricht 1922 die einbändige Weltgesehichte .An Outline ofl-listory« des englischen Romanciers H. G. Welk' Mare Bloch begegnet dem Werk nicht ohne Sympathie, keincswegs mit der Herablassung des Meisters gegenüber eincm geschwätzigen Amateur. Er würdigt WeHs' aufklärcrische Motive, den ernsten Pazifismus, mit dem einer der meistgelesenen Intellektuellen EuTopas nach dcn Schrecken des Weltkriegs Lehren aus der Geschichte zu ziehen
1979, S. 163-202; P. Cosltllo, World HistoriallS alld Their Go;als: Twenticlh·Cclltury Ans.....-cr"S to Modernism. DcK:alb. 111. 1993;). Gal/lwg u. S. illayallillall (I-Ig.). Macrohislory and MacrohislOrians: Perspectivcs on Individual. Social and Civilizational Change, Ncw Vork 1997: R. 1. Moorr. World l-lislOry. in: M. &mlt')' (I-Ig.). Companion to Hisloriogn,phy. Landon 1997. S. 941-959: W: j. MOIIIIIIStrI. GeschicJlIc und Geschichten. Über die Möglichkeilcll und GrenzclI dcr Univers.:algesclllcJlIsschreibung, in: S:aeculum,Jg. 43. 1992. S. 124-135. Die marxistische UnivefS20lgeschichtsschreibung. im ~sfen Fall der übrigen illldlcklUell e«llbünig. iSI ein Fall fiir SIch. der hier leider vern:achlissigr: werden muß. 4 DIe niveau..'OlIsre Kriuk summl VOll P. Ct}'i. vgI. dcsscn Dcb:au:s wnh HIStori:ans. Groningtll 1955. IUp. >-8. Vgl. auch W: H. MrNnU. AmoIdJ. Toynbtt: A Life. Oxfotd 1989. 5 V. RnnNm/1 (l-Ig.). H:auptv.-erke
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sucht. Wic WeHs so sieht auch Bloch die Geschichtc als den wichtigsten Erfahrungsraum der Sozi:llwissensch:lften. 7 Bloch erkennt hintcr Wells' Verhältnis zur Universalgeschichte die Schulung des VerUsscrs in den Naturwissenschaften. WeHs macht es sich mit dem Erklären oft allzu einfach, doch verschmäht er - und Bloch vemlerkt es mit Achtung - ebenso die Verlockung, großspurig historische Gesctzmäßigkeitcn aufstellen zu wollen, wie die Flittereffekte der pittoresken Historie, die dem erfahrenen Autor fiktionaler Literatur leicht zu Geboee gest:lnden hätten.•M. Wells est loin de Walter Scott.J1 Daß Wells von Frankreich wenigweiß und sich manche schlimme Fehleinschätzungvor :Illern des französischen Geisteslebens leistet, kreidet Bloch, der übrigens die Mittelalterdarstellung des Engländers vornehm übergeht, ihm kräftig an, aber er verzichtet auf ein kleinkrämcrisches Irrrumsregister. Auch an der Idee, eine Geschichte der Welt schreiben zu wollen und an den Allzuständigkeitsanspriiehen, die damit verbunden sein müssen, nimmt Bloch kcincn Anstoß. Was ihn an H. G. Wells' Buch wirklich stört, ist eC\.vas anderes: ein Übcnnaß an moralischer und ein Mangel an wissenschaftlicher Krit'ik. Wells verteilt unentwegt gute oder schleclnc Noten. Er urteilt, bevor CI" überhaupt versucht hat, zu verstehen. Wertungen, die Bloch durchaus bis zu einem gewissen Punkt zu teilen scheint (etwa die Ablehnung des Imperialismus), werden auch politisch stumpf, wenn man sie zu krassen Einseitigkeiten vorantreibt: Es widerspricht jeder historischen Einsicht, Napoleon als nichts als ein Monster darzustellen.'! H. G. WeHs - und das ist Mare Blochs zweiter gewichtiger Einw:lnd gegen ihn - wendet seine schuhneisterliche Strenge indessen nicht auf das eigene Schreiben an. Seine methodische Sorglosigkeit sei viel schlimmer als seine faktischen Fehler.• Lc tl"3vail critique qui est a la base de nos recherehes lui est cvidemmellt tout afait etrangcu lO Nicht nur, daß WeHs sog:ardcn alten Gibbon als nach wie vor gühige Autorität zitiert; Er redet auch dort weiter, wo CI" schweigen müßte. Selbstverständlich kann, wie Bloch sicht, eine Weltgeschichte nicht aus den Quellen geschöpft werden, aber dann, wenn dem GeschiclHsschreiber nicht aufzulösende Widersprüche zwischen scinen Gewährsleuten auffallen, sollte er sich einer Entscheidung enthaltcn. IICimprcssion que ILc Dessin general de I'histOircl fera toujours aux professionncls ressemble acelle qu'un biologiste recevrait vraisemblablcmellt d'un trail'c de physiologie ccrit par un philosophc cxcellelH qui n'auraitjamais mis les picds dans un laboratoirc... l1 7 Ebd .. S. 224. 8 Ebd., S. 223. 9 Ebd.. S. "8f. VgJ.•lIIIch IJlochs sp.5tcre Wamung \"Or IctchtrcnJgcm Urteilen: M. 8l«h. Apologie pour rhistOirt' ou Meucr d·hisloMcn. hg. v. E. BlOlh. I}ans 1993, S. 156-159. 10 Bloch, Unc nouvclk lustolrt' unwcrselle-. S. 222. 11 Ebd.. S. Z22f. Mit Blochs IkzcnstOrl \"Ofl WdJs wire dlcjemgc E. Trorltsdu zu vcrglclChcn: ElIlc angdsächsischc Ansicht der WcltgtsehlChlC. in: HZ.Jg. 126.. 1922, S. 271-279.
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11. Marc Blochs vorsichtiges Urteil über ein Werk, das vielen Angehörigen des historischen Berufsstandes als Irrefuhrung eines MillionenpublikulUs erschien, deutctaufcin Trilemma hin, in dcm sich die Univcrsalgeschichtsschreibung im frühen 20. Jahrhundert befand. Erstens war ihr Sitz im Leben so gesichert wie niemals seit der großen Blüteperiode der Gattung, der Zeit zwischen etwa 1730 und 1830. Kaum eine andere Reflexionsform kam dcm Universalismus der Völkerbundsepoche weiter entgegen. Zweitens war die Universalgeschichtsschreibung dennoch eine Methodisierungsverliererin. Autoren wie Spengler, Wells oder Toynbee erschienen als Fossilien einerGeschichtsbctrachtung, die im besten Fall intellektuell anregend, aber niemals wissenschaftlich diskussionswürdig sein konnte. DritteilS wollten sich die besten Universalhistoriker nicht auf die Einfachheiten des Erzählens zurückziehen. Wie Bloch richtig beobachtete, hätte H. G. Wclls durchaus der WalteT Scott der Weltgeschichte werden können, der Erzähler genrehafter Bilder aus der menschlichen Vergangenheit. Ganz bewußt entschied er sich dagegen. Andere wählten einen ähnlichen Weg. Oswald Spengler bemühte sich um Anschaulichkeit und um eine lISprache, welche die Gegenstände und die Beziehungen sinnlich nachzubilden sticht, statt sie durch BcgrifTsreihen zu ersetzen«,12 doch mutete er den Lesern seiner lIKulturmorphologie« dann doch eine nicht immer leicht zugängliche, eine zuweilen sogar hermetische BegrifTswelt (»Pseudomorphoseli, »zweite Religiosität«, usw.) zu. Ein Geschichts- und Geschichtenerziihler war Spengler noch weniger als Wells. Arnold Toynbee, nur neun Jahre jünger als Spengler und von diesem stark beeinflußt, war erst recht ein ausgesprochener Ami-Narrativist, ein Autor, der seine großen Visionen in streng konstruierte Formschemata faßte und sich mehr um terminologische Genauigkeit bemühte als vielleicht jeder andere angelsächsische Historiker seiner Zeit. Es gibt auf TOYllbees Tausenden von Seiten kaum eine denkwürdige Personencharakterisierung, das Salz narrativer Geschichtsschreibung, und eben dies faszinierte seine anspruchsvollsten Leser - wie den jungen William H. McNeill: »ideas, expressed abstractly and withollt thc mediation of imagillary human charactersli. 13 So hatte also die Universalgeschichtsschreibung, ob mit optimistischer (Wc1ls) oder pessimistischer Botschaft (Spengler), nach dem Ersten Weltkrieg politisch Konjunktur und fand viel Anklang beim Publikum (nur der Ruhm des sprödenToynbee ließ noch auf sich warten), machte es aber unter den profes-
12 O. SpcPlglrr. Der Unlcrgang dcs Aocndlandes. Umrisse einer Morphologie der Wdtgeschichte, Miinchen 1923~. ßd. I. S. V111. 13 w: H. MeNtill. I-lislorians I have known: Amold J. Toynocc. in: Dm.. Mythhislory and Qthcr Essays. Chicago 1986, S. 174-198. hicr S. 176.
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sionellen Geschichtsschreibern weder denjenigen recht, die Clio ftir eine Muse hielten, noch denen, die sie lieber als eine methodische Zuchtmeisterin sahen. Wells, Spengler, Toynbee: Diese drei Namen standen zwischen 1918 und 1939, dem Jahr der Erscheinens der Bände 4 bis 6 der >tStudy of I-listory«, im ö(femlichen Bewußtsein zumindest Europas rur Universalgeschichte schlechthin. Man häne wenige andere Autoren außerhalb der marxistischen Theorietradition hinzurugen können,jedenfalls dann, wennl11an Geschichten Ellropas im Wehzusammcnhang tlidlf rur genuine Beiträge zur Universalgeschichtsschreibung haltcn möchtc. Das Genre war hochindividualisiert; von Traditionen, die man aus dem 18. und 19.Jahrhundert fortsetzte, konmc im Grunde keine Redc sein; die Unterschiede zwischen den cinzelnen Autoren waren mindestens so groß wie ihre Gemeinsamkeiten. Dabei läßt sich die singuläre Rolle Arnold J. Toynbees nicht übersehen. Toynbee war der erste Historiker seit I-Ierder und der Spätaufklärung, der jeglichen Europazemrismus hinter sich ließ.14 Allein deshalb und ganz unabhängig von der Qualität und Beständigkeit seiner Untersuchungen und konzeptionellen Vorschläge gebührt ihm ein Ehrenplatz in der Geschichte der modernen Geschichtsschreibung. H. G. Wells' Weltgeschichte hingegen war konvergent und fortschrittsoricmiert angelcgt. Ihn interessierten außcreuropäische Zivilisationen nur dann und nur don, wo sie seiner Ansicht nach zu >tthe general shaping ofhuman destinies« beitrugcn. 15 Weltgeschichte war die allmähliche Ausweitung der Sphäre der Geschichtlichkeil. Spengler ließ Außereuropäisches noch weniger gclten. Er schweiftc gern ins Islamische oder Indischc ab, doch hat er nur über d ie >tarabische Kultur« im längercn Zusammenhang geschrieben. Zweifel an der Universalität seiner Kenntnisse sind angebracht, vor allem wenn man ihn mit mit einem wirklich die Forschung überblickenden Zeitgenossen wie Max Weber verglcicJn. Toynbce hingegen legte ebenso Wert auf Unterschiede innerhalb Europas und wirkte so dcr Ideologisierung eincs homogenen »Abendlandes*< entgegen wie er auch verborgene Ecken der außereuropäischen Weltjcmcits des Miuclmecrraumes und des Alten Orients ausleuchtete; etwa das frühe Indicn oder die MayaKultur Mindamerikas. Nad, Toynbee ist ein Buchtitel wie Hans Freyers >tWcltgeschichte Europas« eigentlich nur noch ironisch möglich. Eine solche Schlußfolgerung wurde erst allmählich gezogen. In den runfzigerjahren erreichte Toynbce den Höhepunkt scines Einnusses, machte es aber auch durch die Pose des Weltorakels, in die ihn sellle Verehrer und die Medien drängten, seinen professionellen Kritikern allzu leicht. Paradoxerweise war es derselbe Toynbcc, der mit seinen Bänden der dreißiger Jahre die Universalge-
14 Zum VerlUSI von Universalität und Raffinesse in der Wcltgeschichtsschrcibung seil der Aufl:.l:irung vgl. A. P~~IIILI. China in der deUlschen Welt~,'cschidllsschrcibullgvom 18. bis zum 20. Jahrhundert. Wiesbaden \996. S. 155fT. Studien zu Fn.nkreieh und England würden zu ähnlichen Ergebnisscn gelangen.
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schichtsschreibung so kraftvoll vorangebracht hatte, der sie mit seinem schwächeren Spätwerk wieder in Mißkredit zog. Universalgeschichte überwinterte einstweilen als historische Kultursoziologie, etwa in den späten Werken Alfred Webers (dessen IlKulturgeschichte als Kultursoziologie«von 1935 imJahre t 950 neu aufgelegt wurde)l6 oder in Harvard bei Pitirim A. Sorokin, dessen empirisch breit fundiertes und immer noch erinnernswertes Werk IlSocial and Cultural Dynamics« bereits zwischen t 937 und 1941 erschienen war. 17 Als Neubegründung der Universalgeschichtsschreibung kann erst das Erscheinen von William H. McNeillsllThe Rise ofthe West: A Historyofthe Human Comlllunity« im Jahre 1963 gelten. 18 Das Buch wurde anfangs wenig beachtet, :mch deshalb, weil die Abneigungder Historiker gegen Toynbee um diese Zeit einen Höhe~unkt errei~ht h~tte19. ~s entfaltete se.ine Wirkung e.rst später. Wilham McNellls cmbänd'g
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oder moralisch in keiner Weise privilegierten Makroebene arbeitet lind dabei graduell andere Fragen stellt als seine Fachkollegcn, ohne deren eigenen Fragen den Respekt zu verweigern. Die Distanz zu den Quellen empfindet McNeill nicht als philosophischen Vorteil, sondern als Preis, der leider fur den großen Überblick zu zahlen sei. Immunisierungsstrategien gegenüber der Erfahrung sind ihm fremd. Im Unterschied zu früheren Universalhistorikem, so hat Raymond Grew in einer einsichtsvollen Würdigung gesagt, findet McNeill bei professionellen Historikern Gehör und Anerkennung, weillthe poses thc kinds of questions that historians recognize as historical ones and uses evidence in the ways they recognize and know how tO vet«.l0 Es paßt zu dieser undramatischen Haltung, daß McNeil1 nicht - wie einige andere Autoren 21 - den buchhändlerischen Erfolg seines Opus Ma...xjmum durch neue Weltgeschichten zu wiederholen versuchte. Er ist der Makroebene und dem Anspruch, alle großcn Wehkulturen zusammenzudellken, treu geblieben, hat sich aber seither immerwieder mit begrenztercn Themen beschäftigt: der Geschichte der Epidemien, des Militärs, des Tanzes. 22 Während Toynbce seinen Kritikcrn in Einzelheitcn recht gab, ohne die Basis seines Systems in Frage zu stellen, hat McNeill sein Konzept der Weltgeschichte von 1963 inzwischen einer gründlichen Revision untcrzogcn, auch dadurch seine Nähe zu neuen Forschungen und Diskussionen untcrstreichend (allerdings gestattet er weiter dic Verbreitung des wenig veränderten Tcxts von t 963).23 Heute bezeichnet ernThe Rise ofthe West« als eine zu stark curopazentrierte Geschichte der Sicger: "[it I shows scant cancern for the sufferings ofthe victims ofhistorical change....2~ Er sei Toynbee immer noch zu sehr in der Vorstellung isoliener Zivilisationen und überhaupt in dcr Bcvorzugung von »Zivilisation« als der fundamentalen Analyseeinheit gefolgt und habe die interkulturellen Beziehungen untersch:itzt, sehc aber seine alte Annahme bestätigt, Ilthat reaction to contacts with strallgers was the major motor ofhistorical change«.2$ Den Hauptdefekt seines alten Buches erkennt McNcill darin, das allmähliche Zusammenwachscn der Welt - er spricht von einem Ilecumcnical process«,26 20 R. Grrw. Rt'vicw ofr. Costello, "World
HislOri~ns ~nd
their Goals..., in: H&T,jg. 34. 1995.
S. 371-394. hier S. 385. 21 Etw:l L. S. Sfallriallos, der mehrere Anläufe zu einer Weltgeschichte unternommen 11:11. zulet21: Lifelines from Our r~st: A New World Hisrory. London 1m. 22 Vgl. W N. MeNtill. Plague~ ;lIId Peoples, Oxford 1976: Dm.. The PursU!' ofPowcr: Tt..ochnology, Anned Force ~nd Socicrysince A.D. 1000. Qxford 1982: Dm., KecpingTOb'Ctl1cr in Time. Danee :llld Drill in HUllian I-listory, C:unbridgc, Mass. 1996. 23 WH. MeNtill, 'Tht," RiSt."ofthe West' ~fter Twenry-FiveYe:m, in:jWH,jg. I. 1990, S. 121. 24 Ebei.. S. 3, ähnlich S. 7f. 25 Ebei., S. 7. MeNeills Begriff der Zivilisation war mit dem Toynlx"CS nielli ganz identisch. Sürker "Is Toynbcc w"r er VOll der EthnolO(,oie lx~einf1ußt. insbesondere von Il Redficld. 26 Ebd., S. 10. Seine neue Vision der Wcltb'Cschichtc skiniclI Md'./t·j1/ in: 1'11(" Global Conditi011. Conquerors, Catasuophes. "nd Communiry, Prillceton, NJ. 1992, sowie in Diffusion in Hi-
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der Tiefendimension von Globalisierung - nicht zureichend herausgearbeitet zu haben. Die Entmystifizierungvon Wehgeschichtsschreibung zumindest in den Vereinigten Sta:ucn, ihre Veralltäglichung zu so etwas wie einer Bindcstrichhistorie unter anderen ist in erster Linie das Werk William McNeills, der daftir auf einem renommierten Lehrstuhl an der Universität Chicago auch strategisch hervorragend plaziert war. Seit den neun ziger Jahren ist lIworld historytt nicht nur ein Standardbcreich der Lehre an amerikanischen Schulen und Colleges landauf und landab,:n sondern auch eine akademische Wachstumsbranche mit eigenen Zeitschriften, Buchreihen und Kommunikationsnetzen. Einige namhafte Historiker wie Philip D. Cunin, Michael Adas oder Michael Geyer haben ihren Namen mit diesem Programm verbunden. 28 In der Weltgeschichtseuphorie, die da und dort schon ausgebrochen ist, werden allerdings nicht immer McNcills strenb'C Disziplinarregeln beachtet: engster Kontakt mit der Spezialforschung, Literaturstudium in möglichst vielen Sprachen, Einsicht in das Hypothetische gerade makrohistorischer Aussagen, Mißtrauen gegen allzu simple Schemata und Supertheorien, selbstkontrollierende Vorsicht gegenüber Allwisscnheitsphanrasien.
111. Was aber, wenn das Absinken des höheren zu so etwas wie niederem Wahnsinn auch eine Verlustgeschichte wäre, eine Domestizierungwilder, unprofessioneller Impulse, eine Kapitulation vor dem Szientismus? Die Frage soll hier unbeantwortet bleiben. Es ist aber vielleicht nicht ganz unangebracht, das Feld universalhistorischer Er\'vägung in der Gegenwart so weit wie möglich zu überblicken. Erst dann wird der Kontext einzelner Beiträge sichtbar und eine Wahl zwischen ihnen rational begründungsfahig. Das Feld strukturiert sich (noch) nicht nach »Schulentt oder nach methodologisch klar profilierten Zugangsweisen. Auch die bcgriffiiche Abgrenzung zwischen ~Univcrsalgeschichtelt und »Weltgeschichte« ist im Fluß, zumal am Beginn der neunzigcr Jahre IIGlobalgcschichte« hinzugetreten ist und um Anerkennung kämpft. 29 Anstatt solche Etistory, in: P.J. Hligill u. D. B. Ditbm (Hg.), The Transferand Transformation ofldeas and Material Culmre, College St:l.tion. Tex. 1988, S. 7S-90. 27 Vgl. P. D. c.mi/l, GraduateTcaching in World HislOry, in:jWH,jg. 2,1991, S. 81--89. 28 Vgl. etwa die Interviews mil CUrlin und Adas in Blusst u.a.. Pilgrims tO the PaSI, S. 33--40, S. 271-282;M. Geyrr u. C. Brigln, World Hislory in aGIobai Agc, in: Al-1R,jg. 100, 1995. S. 10341060; C. Bright u. M. Cqer, Globalgc:schichle und die Einheil der Weh im 20. jahrhunden, in: Comparativ,jg. 4, 1994, S. 13-45; M. Cl)'" u. M. MidJrll, Weltgeschichte vor den Herausforderun· !,'C1l der Clobalisierung. in: Bcilliigc zur historischen Sozialkunde,jg. 28, Sondernummer, 1998,
S.21-34. 29 Vgl. B. MllZlish, An Introduclionlo Global History. in: Das. u. R. BllIIttjtm (Hg.). Concep-
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ketten mit präzisen Bedeutungen zu versehen, soll im folgenden der weniger strikt systematische Versuch unternommen werden, am Beispiel ihrer markantesten Vertreter einige universalhistorische .OenkstilelC zu unterscheiden. Die ersten heiden bleiben unbeeindruckt von William McNeills empirischer Wende und gehen buchsQblich aufs Ganze. Erstens ist die p1liloS<)p1liscllt Gtsl1liclUt, wie sie im 18.Jahrhunden -vor allem bei Turgot, Adam Smith, Adam Ferguson, Condorcet,Johann Christoph Adelung und lsaac Isdin - als innerwe1diche Deutung der Menschheitsenrwicklung ihren Höhepunkt erreichte, noch nicht völlig verschwunden. Unter .phiIOsOPhical history. kann heute die Absicht verstanden werden, Form und Richtung der gesamten Menschheitsgeschichte unter wenigen allgemeinen / Prinzipien zu fassen. Das :ml'k.lärerische Vertrauen in die Erzählbarkeit der Gattungsgeschichte hat sich längst verzehrt, doch hält es zumindest Ernest GeHner, der eindrucksvollste Vertreter dieser Richtung, fiir möglich, die Stadientheorien der Aufklärung wiederzubeleben und sie mit den klassischen Einsichten der Soziologie, insbesondere Durkhcims und Max: Webers, zu verbinden. Philosophische Geschichte, wie sie der Philosoph, Anthropologe und Soziologe Getlner ausgearbeitet hat, lebt von der Offenheit ihres Entwurfs. Sie bindet sich weder an narrative Muster der Sinnentwicklung noch an weitgehende kausale Erklärungsansprüche und betont den kontingenten Charakter historischer Innovationen.JO Dies ermöglicht einen spielerisch-undogmatischen Umgang mit dem Gegenstand. Vom Hauptstrom der westlichen Universalgcschiclne im 20. Jahrhundert unterscheidet sie sich auch dadurch, daß die Analyseeinheit .Zivilisation. verworfen wird. ll Geltner verbleibt in einer suprazivilisatorischen Allgemeinheit, die er mit Beispielen aus dem Okzident und daneben aus Indien und der islamischen Weh itlustr"iert. Sein Kulturbegriff, ohne den auch er nicht auskommt, ist bewußt offen und idealistisch (ltsystems of concepts or ideas which guidc thought and conduct.)l2 und dient vor allem der Erfassung kognitiver Entwicklungen. Wie die Werke aus der heroischen Zcit der Universalgeschichte, so kann auch Geltners Buch nicht schulbildend wirkcn. Es ist das solitäre Umernehl11en eines großen Einzelgängers.oll tu~lizing Glob~1
Hislory. Bouldcr. Col. 1993. S. 1-24; B. Milzlish: COlllp~ring Global HislOry!o World His[ory. in:JIH.Jg. 28. 1998. S. 385-395. 30 E. Gtll'ltr, Plough. Sword ~nd Book: Thc Structurc of Htllll~n 1-lislOry. Landon 1988. S. 16-18. 31 Nc~n Toyn~t: und dt:lll früht:11 McNdll iSI dn ~ndcT(:S Ikispld dc:s ZiviliS1llionS1lIWIZCs.: F. Bntudtl. Gralllm~irc dc:s clViliS1luons. P~ri5 1963. 32 Gtllnn. Plow. Sword ~nd Book. S. 14. 33 Ein nClIcrt:r Vt:r5uch ~1I5 pnz ~nderer (und bei weitem empiric.fenlCrcr) Richtung ISt G. GraMm. The Shape orme Pasl. Qxford 1997. Vgl. ~uch dt:n nro--hegdi~nischen EnfWUrf~1 F. Fuhlyoma. Thc End ofHislory ~nd Iht: Last Man. Landon 1992: Dm.. On the PossibihtyofWnung ~ Ul1Ivc.rsal Hiswry. in: AM. Mtlztr u_ ~_ (Hg.). History ~nd Ihe Idea ofPiOßJcss. hhaca. N.Y. 1995. S. 13-29.
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Zweitens trauen sich neuere Ausprägungen des soziale" E,lO/utiollis",,,s zu, die Weltgeschichte als ganze erklären zu können. Der anglo-amerikanische Evolutionismus war in vieler Hinsicht der große Gegenencwurf zu Hegelianismus und Historismus, freilich mit manchen ZusammenHihrungen, vor allem bei Kar! Marx. Im 20.Jahrhundert fand er in sehr abstrakter Form Eingang in die soziologische und anthropologische Theoriebildung, hatte jedoch wenig Einnuß auf die Geschichtswissenschaft. noch nicht einmal auf die Universalgeschichte. In den siebz,iger Jahrcn begann dann Immanucl Wallerstein, seine historische Theorie des IHnodernen Wcltsystems.c vorzulegen, bei der es sich im Kern um einc evolutionistischc Intcrpretation der großräumigen Umstfukturierung von Arbeitsteilung und Herrschaft seit etwa 1500 handelt. Wallerstein wurde unter Historikern beachtet, weil cr die Forschung bnme und respektierte und weil seine Tennino10gie (liZemrum-Peripheric-Semiperipherie.c) so einfach lind formal war, daß sie sich der )jnormalen.c Arbeit an engen Thcmen gleichsam zwanglos überstülpen ließ. Schließlich gewann Wallerstein den pontifik.1lcn Segen Fernand Braudels, der sich im dritten Band von "Civilisation materiellc, economie ct capitalismc.c (1979) ähnlichcr Systembegriffe bedieme. Ocr neucste Evolutionismus, vor allcm bei Stephcn K. Sandcrson, verallgemeinert Wallersteins epochal begrenztcs Schcma, reichen es durch weitere Theoriestücke an und gelangt schließlich zu einer lIgeneral thcory of historical developmenh., die die Weltgeschichte seit der neolithischen Revolution kausalanalytisch erfasscn will. 34 Das Ziel ist noch ehrgeiziger als das der philosophischen Geschichte Gellncrschcr Provenienz, die Distanz zur Denkweise von Historikern größer, da Sanderson einen totalisierenden AllcrkJärungsanspruch crhebt und die historische Empirie fast :msschließlich über bereits synthetisiercndc Teniär!iteratur zur Kenntnis nimmt. Gellner macht Historikern ein offencs Gespr:ichsangebot, Sandcrson konfrontiert sie mit einer geschlossenen Geschichtstheorie. Drittcns bindet sich ein ncuerdings viel Beachtung findender tlalllnvisset,slhajtlidler Bfilk auf die Geschichte oft, aber nicht immcr an cvolutionistische Voraussetzungen. Dieser Dcnkstil stcht in der Spannung zwischen Determinismus und Komingcnzannahmen. Mit dem sozialen Evolutionismus Sandersons und (wcniger gut begründcten) Versuchen einer rückwärtigen Verlängerung der Weltsystcmanalysc35 hat er eine Vision se"r langcr Zeiträumc gemcinsam. Eincr seiner überzeugcndstcn Vcrtrctcr, der Physiolob'C und Evolmionsbiologc Jared Dia mond, Stellt in einem großen universalgcschichtlichen 34 S. K &ndnJoll. Soci;r] Tn.nsfonn;rllons: A Genen.1 Thcory of Histone;r! Devdopmem. Oxford 1995; Dm., Soci;r! EvoluliolUsm; A Criltall-listory. OxfOl"d 1990. Zum Verhältnis von GeschIChte und E\"Olution vgl. ;ruch mehrere Bcitrigc in F. IVdz u. U. Wnsmbochn (I-Ig.). Soztologische Theorie und Geschichte. Opladcn 1998. 35 Etw:lI bdA. C. FronJr u. B. K. Cills (I-Ig.). Thc World Systcm: Flvc Ilundrcd Ye;lJ'S or Fi\'c Thous;rnd?l..ondon 1993. Vgl. meinc Kmik m: VSWG.Jg. 84.1997. S. 221f.
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EntwUrf die Frage, warum die Gleichheit der Lebensvcrhälmisse von Menschen auf allen Kontinenten, wie sie gegen Ende der letzten Eiszeit (ca. Il.()(X) v. ehr.) herrschte, um das Jahr 1500 einer Ungleichheit gewichen war, die Amerika, Afrika und die pazifische Inselwelt zu Opfem Europas werden und Asien gegenüber Europa zurückfallen ließ..l6 In einer empirisch sehr sorgfaltig abgesicherten Beweisftihrungschließt Diamond, dem es nebenei auch um eine historische Entkräftung des Rassismus gcht,jegliche anthropologische Unterschiede zwischen den Populationen der Welt als ErkJärungsursache aus. Eurasien und insbesondere Europa wurde begünstigt durch die Fortpflanzung besonders agwessiver Krankheicskeime, gegen die sich mit der Zeit eine weitgehende Immunität ausbildete, durch eine relativ große Zahl domestizierbarer Pflanzen und TIere - wären Nashörner domestizierbar, dann hätte eine europäische Pferdekavallerie gegen die Afrikaner keine Chance gehabt - sowie durch die Tatsache, daß biologische Arten und kulrurelle Innovationen viel leichter auf der fiir Eurasien charakteristischen Ost-West-Achse, also in verwandten Klimazonen, verbreitet werden können als in Nord-Süd-Richtung. Bereits Wilhelm von Humboldt Ilatte bedaucrt, »dass n1an die Geschlechterder Menschen zu sehr als Vcrnunft und Versundeswescn, zu wcnig als Narurproducte betrachtet«.J7 Die neuen Überlegungen bei Jared Diamond und andcrcn Naturwissenschaftlern rcvidieren dic historistische Abwehr natUralistischer Geschichtsinterprctationcn und schlagen willkommcne Brücken zwischen denltzwei Kulturentl. 38 Weder Toynbecs Vorstellung von sich unverbunden nebeneinander entfaltcnden Zyklen von Aufstieg, Blüte und Niedergang noch eine linear-konvergente Sicht, die den gesamten Gcschichtsprozeß seine Erfüllung im ItAufstieg des Westenstl finden sicht, spielen in den gegenwärtig wieder beginnenden Debatten um Welrgcschichrsschreibungcinc nennenswerte Rolle. Wichtigsind hingegen Versuche,dicse heiden Modelle miteinandcr zu verbinden. Dies kann etwa durch den an Hegel anschließenden Gedanken geschehen, weltgeschichtliche ßcwegungsci in "shifts ofinitiative41 erkcnnbar.:W Diese Initiativen müssen nicht als kumulative PrQb'Tessioncn aufgefaßt werden, bei denen ein NClIc36 j. J)illmo"d. Guns, Germs. :l.lld Sied. The Eue of l-Iulll;tn Socictics. Ncw York 1997. Eine Piol1icnrbcit der biologisch-ökolOi:\ischell M;tkrogcschichte ist A. J>Y. Crosby. Ecological Impcri:Jhsm: Thc Biologieal &':p;tllsioll ofEuropc. 900-1900. Cambrid!,.'C 1986. Schon l;ingcr gibt es eml' historische Klim;tforschung. Vgl. etwa E. Li' R"1' lAdlln·t. Histoirc du c1lnm dcpuis ran llIil. P;trlS 1967; 11. H. LI/nb, Klinu lind Kultllr~..e schichtc. Reinbek 1994; W. Wrislltrl. Die ökolO!:,t1schc lk· nKhtcIIIgtingder Tropen. Tüblllgt'li 1m; R. Rupptn. Klima und die Entstehung industn;t!lsIencr Volkswmsdl;tfll:n. in: Zeitschrift fiir Wirtsehaftsgt.-ugJaphk.Jg. 3 I. 1987. S. I-li. 37 IV. v. HumNldI.lkuxhtungcn über dIe Weltgeschichte. in: Drrs.• Werke- in fUnflUnde-ll. hg. v.A. Runn u.K.. Gin. Bd. J. Dannsudl 196Cr. S. 567-sn. hlC"r S. 576. 38 Dks tut auch die- uni\ocrsallustonsch angelegte Um\looclll,"CSChlCllte. Vgl. kritisch symhclIslc· n:nd:J. RJMJhtll. Natur und Macht. Eine Wthgcschichte der UI1I~oclt. München 2000. 39 F. FYmdnJa-ArrMIo. Mlllclllum. London 1995. S. 6.
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rungsschub den nächsten vorbereitet. Ebenso interessant sind abgebrochenen Ent\vicklungcn, kulrurelle Verluste oder GedächtnisbTÜche und das Überleben alter Strul.-mren - etwa der katholischen Kirche - in dynamischen Umwehen. Man könnte hier von einem vierten, dem divugtru-kotJIJft'gefJletl Denkstil sprechen. McNeills )tRise ofthe West.c war in m:mcher Hinsicht ein prägendes Beispiel daHlr, allerdings mit starker konvergenter Tendenz zu einer Großen Erzählung, die sich il11merwieder durchsetzt. Ein bemerkenswerter Repräsentant dieses Denkstil ist heute Fclipe Fernalldez-Armesco. Man hat seine Weltgeschichte der letzten tausend Jahre - )tMillenium.c (1995) - als postmodern bezeichnet, weil der Autor eine Geschichte der Sieger im Stile von H. G. WeHs oder, weniger extrem, auch des frühen McNeill durch ein Augenmerk aufAußenseiter, kleine Zivilisationen, entlegene Wcltgcgenden und ungewöhnliche Qucllen auszugleichen verstcht. Bei Fcrnandez-Anncsto ist von Äthiopien im 15. Jahrhundert, von den Biographien deutscher Amerikaauswanderer oder von Argenrinien unter Pcron die Rede. Der Gefahrdisp:uater Zerstreuung und bloß anekdotischer Veranschaulichung versucht Fernandez-Armesto dadurch 111 entgehen, daß er Expansions- und Kolonisationsvorgängc besonders stark betOnt, ohne dabei die formale Theorie des Weltsystcms zu bemühen. Expansionen von der AusbreiUlngdes Islam in Zentr.llasien bis zur Amerikanisierung der Welt im 20. Jahrhundert folgen in dieser Sicht keinen wiederkehrenden .patterns.c, wie sie die Sozialevolmionistcll zu sehen glauben. Der divergentkonvergente Ansatz fuhrt nicht 1lI Modellen der Wcltgeschichte. Er ist eine Dcnk- und Darstellungsweise, die bewußt in der Spannung zwischen unverbundener Gleichzeitigkeit des Partikularen und übergreifenden, verknüpfenden Prozessen verharrt. oIO Eine solche Balance zwischen Geschichte und Geschichten ist nur durch literarische Kunstgriffe auf der Grundlage außerordentlicher Quellenkenntnis möglich. Erreichbar ist sie nur einzelnen, etwa auch Fernand BraudeI in seiner Trilogie zur Weltgeschichte der Frühen Neuzeit... l Der vierte Denkstilläßt sich daher ebensowenig "vie die philosophische Geschichte in ein Brevier lernbarer Regeln gießen. Anders verhält es sich, fiinftens, bei der ölwmeuistherl Perspektive, wie sie der spätcre McNeill und die heutigen Vertreter der .global history« empfehlen. Hier wird nicht vordringlich nach dem Innenleben von Zivilisationcn gefragt, sondern nach den Vernetzungen, nach Diffusion, Austausch und lernprozessen zwischen ihnen - oft mit dem Ziel, der Geschichte der heute offenkundigen .Globalisierung.c auf die Spur zu kommen. c Dies geschieht in der Regel 40 Auch E. HobJba....".. Ace ofExtremes: The Shon Twt:ntlcth Ccntury 191 ......19'91. Loodon 1994. könnte tller gcn':l.Ilnl wt'rdcn. Hobsbawm stell! skh wl dcudicher .:l.ls Fcminda-Armt-sto .:l.ufdIe Seite der Konvergenz. 41 F. Brnudd. Civlliurion m.:l.h~ncllc. eoonomic C1 apiulismc.XVc-XVTIIc sik:lc. 3 ßdc.. Puis 1979. 42 Ein frOhes Ikispicl ist E. R. Wolf, Europc and Ihe Pcople wilhollt l-liSlOry. Bcrkeley. Ca!. 1982.
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nicht mit der Absicht, epochale Gesamtbilder zu zeichnen. Einzelne Vernctzungsbcreiche ...v erden mit den in der GeschichtsWissenschaft allgemein üblichen Methoden weltweit untersucht: Handel, Migration, Verkehr, Kommunikation, Kulturrransfer, usw. 4J Die Vorgehensweise ist vornehmlich synchron in dem Sinnc, daß langfristige Systcmbildungsvorgänge, wic sie der soziale Evolutionismus thematisiert, außcrhalb der Betrachwng bleiben. Dieser Denkstil ist nicht genuin univcrsalgeschichtlich, da er die langfristige Diachronie hintanstellt, vom gattungsgeschichtlichen Pathos der klassischen Universalgeschichtsschreibung, das noch bei Autoren wie McNeiJl, Gcllner und Diamond kräftig zu spüren ist, wenig übrigläßt und die _großen. Fr.agcn, etwa die nach dem europäischen Sonder.....eg in der Neuzeit allenfalls deskriptiv in Angriff nimmt. Vom niederen Wahnsinn gerih man hier in die Nähe der normalen Geistesverfassung professioneller Historikerinnen und Historiker. Vemetzungsanalyscn erfordern keine Allwissenheit, keine visionäre Begabung und keine hcr.ausragcnden schriftstellcrischen Fähigkeiten. Sie erfiil1en zu einem erheblichen Teil William H. McNeills Anforderungen 311 einen nüchternen und selbstkritischen global historischen Professionalismus. Legitimität als Teilbereich der Geschichtswisscnschaftcn kann sich Weltgeschichtsschreibung heute am besten durch die methodisch disziplinierte Denkform des ökumenischen Ansatzes er..vcrben. Sie sollte sich indessen nicht zu beflissen disziplinieren lassen. Die größten intellekwellen Hcr.lUsfordcTUngen gehen am Ende des 20. Jahrhunderts von naturwissenschaftlich-ökologischen Geschichtsinterpretationen aus. Historiker können sie freilich nicht in all ihren Aspekten sachkundig beurteilen."" Dem sozialen Evoltltionismus, der sich überwiegend der Forschungsergebnisse von Historikern bedient, kommt man leichter auf die Schliche. Er ist vielseitig anregend, gelangt aber letztcn Endes über schematische Makromodelle kaum hinaus und erreicht nicht die geschmeidige Argumentationsqualität der Gellnerschen Itphilosophical history•. Die ansprechendsten Werke universaler Geschichtsschreibung dürften nach dcm Vorbild FeTl1and Br.audels und Fclipe Fernandez-Armestos auch in Zukunft dcm diverf,'Cnt-konvcrgcntcn Denkstil entspringen, der letztlich in dialektischen Traditionen stcht. Es wird sich dabei immer um forschungsbcrrieblich nicht organisierbare Einzcllcistungcn handeln: oft oder meist um tlllinspiriertc Datcllkollagcn, im Ausnahmefall um maßgebende Te:tl:te der historischen Literatur.
43 Auch P. BurW sichl In elllcm uanskuhurellen lOC!lCOunter modcl.. dK' größte Zukunftseh:m«der Kullurgeschichte: V:metlC'S ofCullur.aJ HIstory. Call1brld~ 1997. S. 201fT. 44 Dies glh besonders ruf solche anspruchsvollen Bereiche wie dIe histOrische Genetik. dIe eine beispIellose Genauigkell etwa in der Rekonstruktion VOll Wanderungen lind DifTuslonspro%C'SSCIl erreichi: L L Cow/li-SJOT'ZQ u. a., The I-lislory and GcognphyofHuman Genes. PrilleelOn. N.J. 1994.
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8. Entdeckung und Eroberung, Neugier und Gewalt. Modelle frühneuzeitlichen Kulturkontakts
I. Kaum war der große Mann gestorben, da erschienen in ganz Europa nicht bloß
Nachrufe auf ihn: Broschüren, Bücher schienen nötig, um seine Lebensleistung zu erfassen. Auch in Ocutsdtland griff man unverzüglich zur Feder. W;as hcr.auskam, klang dann ecwa so: .von wessen Unternehmungen und Taten, kann man (ragen, haben neuerlich alle Menschen von Erziehung uber ganz Europa mit so vieler Teilnahme gelesen und gesprochen als von den seinigen? Wc~n Mannes Bildnis, der weder ein Prinz. noch ein Eroberer. noch ein Rcbel1e war, hai man mit so allgemeiner Neugierde angesehen und angeS[;I,UI1I? Alles. was er get:l.n hat, hat er zum Dienst seines V:l.lcrlandcs und zur Erweiterung nützlicher Ktnntnisse: getan. Feuer und Schwen haben keinen Anteil. Daher auch mancher, der ihm in unscren Tagen an Ruf gleichkam, ihm an Il.uhm nachstehen möchte, und wessen Tod, läßt sich also endlich fr.agen, ist neuerlich SO allgemein beklagt worden als der seinigd. l
Das Vaterland war Großbritannien, der Verewigte war der Sohn eines Tagelöhners aus Yorkshire und hieß Jamcs Cook, und sein Tod war etwas ungewöhnlicher, als Gcorg Christoph Lichtenberg hier zu verstehen gibt, denn der Kapitän war am 14. Februar 1779 in einem Handgemenge mit Einheimischcn an der Bucht von Kealakekua auf Hawaii ums Leben gekommen. Cooks Reisegefahrten brannten zur Str:l.fe ein Dorf nieder und entfernten sich, nachdem sie die bereits nach hawaiischen Tmenbräuchen zugerichteten sterblichen Überreste ihres Chefs an sich genommen h:men. 2 An eine Kolonisierung Hawaiis - ge1 G. C. Liclltnlbttg. Einige l..cbcnSUl1lsUnde VOll eapt. jamc5 Cook, grÖ551cnleiis aus schrift!. Nachrichten einiger seiner Bebnnten gezogen von G.C.L I t 780). in: Schriflen und Briefe. hg. v. ~v. PromiD. Bd. 3. DannSQch 1972. S. 57. 2 Capuin Cooks Ende beschreibt). C. &.rgIdwk. The Life ofCapuin James Coole. London 1974, S. 637f[ Zur Imerprcution des Vorfalls von einheimischer Sc=ite vgI. At. Sdh1illS. Der Tod des iUpiuin Cook.. Geschichte als Meupher und Mythos als Wirklichkeit in der Frühgeschichte des Königreiches Haw:aii. dt. v. H. Medick u. M. Schmidl. Bcrlin 1986: kritisch duu C. Obf)'tSlkm'. The Apotheosis ofCaptain Cook: European Mythmaking in die Pacific, Princeton 1992. Vgl. auch D. lGmjitltl/"'. Die .Wilden_ in Geschichtsschreibung und Anthropologie der .Zivilisierten_. Hislorische und akruclle Kontroversen um Cooles Südsurcisen und scinen Tod aufHa~ii 1779. in; I-IZ.Jg.260, 1995, S. 49-73.
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nauer: der Sandwich-Inseln, wie Cook sie nach dem Ersten Lord der Admiralität genannt hatte - dachte niemand. Dazu h:me die Expedition ohnedies kein M:mdat. Der Kolonialismus kam später nach Hawaii: 1820 aufmissionarischen SamtpfOten, 1887 in Gestalt der amerikanischen Kriegsnone. Die unvenneidliehe Annexion folgte 1898.) james Cook also: ein EJHdecker, aber kein Eroberer; ein Europäer, der, wie lichtenbergsagt, IIOhne Feuer und Schwert~ in die Ferne hinausfuhr, der Leiter einer von gelehrten Männern begleiteten wissenschaftlichen Expedition. Waren die Zeiten sanfter geworden seit der spanischen Mordbrennerei in Amerika, lIwhere a world conquered was sosoon to be a world desrroyed.~ Hatten dic Briten jener Gewalttätigkeit abgeschworen, die sie im Umgang mit Iren lind nordalllerik;lI1ischen Indianern an den Tag gelegt hatten?~ In gewisscm Sinne schon.jamcs Cook und seine Gefjhrtcn besaßen eine militärische Überlegenheit gegenüber den Einheimischen der pazifischen Inseln, die sie nicht einsctzten. Im Zeitalter der Aufklärung war nun bereit. auch mit den lIWilden. zivilisiert umzugehen. Dennoch wäre es übereilt, fur die jahrhunderte der frühen Neuzeit generell eine stetige Milderung europäischen Verhaltens gegenüber dem Rest der Welt anzunehmen. Neugier lind Gewalt blieben Zeitgenossen. Während Cook die geographisch-naturkundlichen Kenntnisse vertiefte, lagen Briten und Inder, Russen und Türken im Krieg; der Transport afrikanischer Sklaven überdcn Atlantik erreichte seinen Höhepunkt;' und die Lage der nordamerikanischen Indianer verschlechterte sich in dem Maße, wie sie als Bundesgenossen bei den Konnikten der Weißen untereinander entbehrlicher wurden. Das .zweite Zeitalter der Entdeckungen« war zugleich eine Epoche fortgesetzter europäischer Ge"valtanwendung in Übersee. Die Spannung zwischen Entdeckung und Eroberung ist somit ein Thcma, das die ganze Zcitspanne vom späten 15. jahrhundert bis zum Ausgang des 18. Jahrhunderts UJHer sich faßt. Zu welchen Mischungen von friedfertiger Neugier und raubendem Zugriffes im einzelnen kam, hing mehr noch als von den Absichten der Europäervon den militärischen und kulturellen Widerständen ab, die sie in Amerika. Asien und
3 19S9wurde Haw;lii der SO. BUl1desSl"at der USA. Vgl. den Überblick bd I. C. umpbtll, A History of the r"dfic Isl:lnds, Ikrkcley 1989: C. DaW1, Shoal ofTillle: A 1-lislOry of dl(~ I-f"w;lian Isl;mds, Honululu 1974. Ein äher($ Sunwrth';erk über die Region als ganze ISt W: P. Monril. ßncun 111 Ihe PXlfic Islands. Oxford 1%0. Zur inneren Gcschkhle Haw;liis insbcs. D. &a". Thc I-IISlory or die PXlfic Isbnds: Kmgdoms of die [(cers. Mclboumc 1990. S. 124ff. " J. H. Blioff. ~ Spamsh ConqUCSf "od Sctuknlellt of Amena.. 111: L &thtIJ (Hg.), The Ounbndb'C Hislory ofutin Amena. Bel. 1, Call1brid~ 1984. S. 172. S Dabei nahmelIsIch bnusche -empire blllldeT$« in Nordamerib blli\~..ellcn ausdriickJich die Methoden der verhaßten Spanier zum Vorbild. VgI.N. Sillislmry, ManitOll and Providencc: Indians, Europcans. :lnd the Making of Ncw England, 1.500-1643, New York 1982. S. 99. 6 Nach den Schättungcn bei I). D. Cunin. The Atblllic Slave Tr.Kle: A Cellsus, M:l.dison, Wisc. 1969. S. 266.
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Afrika antrafen. So erklärt sich das breite Formenspektrum des europäischüberseeischen Kontakts in der Frühen Neuzeit. 7
11. Im Anfang waren Koll1mbus und CorteS, der Seefahrer und der Conquistador. Das Alllerika"i.sche Muster prägt unser Verständnis von frühneuzeitliclter europäischer Expansion. Es ist freilich ein von historischen Sachverhalten kaum ablösbarer Mythos, ein erst im frühen 19. Jahrhundert im Spannungsfeld älterer »schwarzerll und »weißerl( Legenden gehärteter imaginativer Komplex. Die romantischen Schriftsteller Washington lrving (1783-1859)8 und William H. Prescon (1796--1859),9 bezeichnenderweise heide Nordamerikaner, sind im wesentlichen seine Urheber. Mindestens runf untrennbar miteinander verbundene Merkmale, die sich fest in der Vorstellungswclt Europas eingenistet haben, kennzeichnen dieses Amerikanische (genauer miuc1- und südamcrikanische) Muster. Sie sind zugleich Grundkategorien, auf die stets wieder zurückzukommen sein wird: (I) das Pathos des Uflverllo.Jfte'I, des Ent-Deckens im engsten Sinne: der Entdecker findet, was er in dieser Form gar nicht gesucht hat; (2) der atlthropologisdle SchOlk: die Europäer treffen auf llnackte WildelI, auf Menschen, fiir die im eigenen Weltbild keine Leerstelle vorgesehen war, auch wenn antike und mittelalterliche Lesefrüchte eine erste Hilfestellung leisten konnten; (3) die Kormpliotl des Erstko1ltakts: allffriedliche Entdeckung folgt gewaltsame Eroberung, ja, schon im Falle des Aztekenreiches wird beides geradezu identisch ,.10 (4) die Magie der Millderheit: eine winzige Zahl von Europäern treibt komplex organisierte und menschenreiche Staatswesen in kurzer Zeit in Niederlage und Zusammenbruch; die Cortes-Romantik, etwa bei Prescott, nährt sich großenteils aus diesem Wunder der kleinen Zahl; 7 Vgl. dazu auch in anderer Perspektive IUpitcl9 in diesem Band. 8 W. Twirrg. Tbc Life and Voyages ofColumbus, 4 ßde.. Landon 1828. Vgl. dazu K. Salt, Tbe Conquest of Paradisc: Christopher Coll1mbus and the Columbian l..cgacy, Landon 1991, S. 342348. 9 W. H. f'rtseOIl, I-listory ofthe Conql1eSf ofMexico, 3 ßde., New York 1843: Dm., I-listory of the Conquest ofPeru. 2 ßdc.. New York 1847. Vgl. R. A. HlImpllrrys. Wil1iam HickJing Prescon: The Man and the Historian, in: I-IAI-IR,Jg. 39,1959, $.1-19. 10 U. Bil/trli nennt dies den.Umschlagvon der Kuhurberührungzum Kulturzusarnmellstoßo:: Die .Wilden, und die .Zivilisiertem. Grundzüge einer Geistcs- und KultUrgeschichte dereuropi. isch·übcrsccischen ßcb~nung, München 1976. $. 130; vgI. auch Dm., Alte Weh - Neue Weh, Fonnen des europäisch-iiberseeischen KululrkoTlukt vom 15. bis zum 18.Jahrhundert, München
1986. s. nff.
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(5) die Verstaarlidultlg ,md ldeologisienmg der Erobenmg: sie erfolgt durch umgehende Errichtung territorialer Kolonialherrschaft und das Ingangsetzen eines Legitimationsapparates (der im 16. Jahrhundert naturgemäß ein theologischjuristischer sein mußte); neben den Seefahrer und den Conquistador treten im expansionshistorischen Typenkabinen der Priester und der Kronbürokrat Dieses Amerikanische Muster wäre auf seine weltgeschichtliche Venllgcmeinerbarkeit zu überprüfen. Die Schwierigkeiten beginnen mit dem Begriff der IlEmdeckung((. Verfasser von sogenannter elHdeckungsgeschichdicher Literatur definieren ihn in der Regel nicht, und sie mögen gut daran tun. Denn zwischen zwei extrem unterschiedlichen Begriffen von »Entdeckung~, cinem sehr engen und einem sehr weiten, bewegen wir uns in einer Zone semantischer Anarchie. In einem cngen und cmpiristischen Sinne bedcUlet ItEntdeckung« den reisend gewonnenen geographischen Augenschein, der zur Korrektur kosmographischer oder noch konkreter: kartographischer Unsicherheiten und Irrtümcr ftihrt. Idealiter ist dies eine geradezu Popperi:mische Laborsiruation, in der auch eine Nicht-Entdeckung wertvoll sein kann: James Cook falsifizierte durch Beobachtung die alte Hypothese »Es gibt eine Terra Australis((, einen Riescnkontinellt südlich von Afrika. 1I Das oft bewußt expcrimcmelle Suchen nach brauchbaren Schiffahrtsrouten und die entsprechende Präzisierung von Scekarten ist ein anderes klares Beispiel. Einige der besten Entdeckungshistoriker haben neben Dokumentenkenmnis auch eine solche Sinnlichkeit der Raumerfassung angestrebt. Der große Sal1luel Eliot Morison (1887-1976) erwa, übrigens ein Bewunderer Prcscons, ist (1st sämtliche frühen Amerikareisen persönlich nachgesegelt. 12 Am anderen Ende des Spektrums steht der ganz weite Begriff von IlEntdekkung«, wie ihn 1983 der Historiker Daniel J. Boorstin, in seinem Buch IIThe Discoverers« verwendet, wenn auch nicht ausdrücklich erläutert, hat: »Man the discoverer«.!J Hier wird der kolumbianische Moment zu einer geradezu anthropologischen Metapher gesteigert. Welterfassung ist kühne Ausfahrt ins Unbekannte: in den Makrokosmos des Weltraums, den Mikrokosmos der Elementarteilchen, die liefen der Erdgeschichte. Dieser gleichsam gesamtabendländische Begriff ist selbstverständlich älteren Ursprungs. Wir finden ihn im frühen 17. Jahrhundert bei dem englischen Philosophen Francis Bacon: Die Neue Philosophie segele aus der geschlossenen mittelmeerischen Welt verstaubter Gelehrsamkeit zu einem Neufund-Land der Naturerkennmis. 11 Zum Motiv der Tcrn Austnlis \,&1. N. BrrK. U gtogr.tphic des philosophes: G€ogr;lphC'S el voy;l.b'Curs frall~;ljS;tU XVllle siecle. Puis 1975, S. 173-185. 12 Dies bereichen seine klassische Dustellllng der Entdeckung Amcribs: S. E. Metriso". The Europcan Discovcry ofAmcrica. Bd. 1: The Northern VO)"lgcs. A.D. 500-1600, New York 1971; Dm.. The Europcan Discovcry ofAmerica. Bd. 2: The Southern VO)"lges. 1492-1616. Ncw York 1974. sowie Dm., Admiral ofthc QcC;l.11 SC;l.: A LifcofChristophcrCollimbus. London 1942. Vgl. G. M. PjiIZ". Samucl Eliot Morison·s HistoriC1l1 World: In QueslOh New P;trklll;l.ll. Boston 1991. 13 D.J. Boomin. Thc Oiscovcrers. NewYork 1983.
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Zwischen diesen beiden Extrcmbcgriffcn bedarf es sorgfaltigcr Abwägung. Ist schon der ein Entdcckcr, der sieht, oder erst derjenige, der begreift? Im weiten Fall wärc wohl, wie Boorstin vorschlägt, am ehestcn Amerigo Vespucci als der wahre Entdecker Amerikas zu bezeichnen. Hilft uns die Unterschcidung, wie sie oft getroffen wird, zwischen primärer, eher zufalliger und naiv verarbeiteter l'Entdeckungll und sekundärer, planvollcr und rcnckticrter llErkundungll?14 Wird »Entdeckung« dann nicht zu cincm punktuellen Spczialfall solcher »Erkundung« und solltcn wir viellciclu John H. Parry folgen, der »discovcry« und lIcxploration« ohne genauc DilTcrenzicrungdclll Oberbegriff»reconnaissance« unterordnet?IS Oder hatte nicht vielleicht schon Alexander von Humboldt die angemessene philosophiscbe Anschauung gewonnen, als cr im lIKosmos« nicht die Stufen von primärer und sekundärer Wahrnebmung betonte, sondern gerade die Einhcit von cmpirischer Fülle und synthetischer Zusammenschau? Schcn und Begreifcn wären dann sowohl individual wie cpochal kaum voneinander zu trennen. Humboldt schreibt über das späte 15. und frühe 16.Jahrhunden: .Wie in Alexanders Heerzügen, aber mit noch überwältigenderer Macht, drängte sich jetzt die Weh der Objekte in den Einzelformen des Wahrnehmbaren wie im ZusaJllmenwirken lebendiger Kräfte dem kombinierenden Geist auf Die zerstreuenden Bilder sinnlicher Anschauung wurden trotz ihrer Fülle und Verschiedenartigkeit allmählich zu einem konkreten Ganzen verschmolzen, die irdische Natur in ihrer Allgemeinheit allfgcfaßt, eine Frucht wirklicher Beobachtung, nicht nach bloßen Ahnungen. die in wechselnden Gestalten der Phantasie vorschwebelu 16 I-1umboldt stellt übrigens dic crsten Amcrikareiscn in einen Zusammenhang, der sie cntschieden relativiert. Er betont dic vorbereitenden Leistungen dcr arabischcn Astronomie und Erdbescheibung, verfolgt die cmpirische Erkenntnishaltungder Entdeckergeneration in die Spätscholastik zurück und zeigt, wie Europa durch die Asicnberichte Marco Polos und der Mönchsdiplomaten im Mongolenreich auf Nachrichten vom Fremden schon vorbereitet war. Und Humboldt sieht auch, bei aller geschichtsphilosophischcn Bestimmtheit, das Kontingente am Verlauf des Entdeckungsprozesses: die »wundersame Verkettung kleiner Begebenheiten und den nicht zu verkennendcn Einfluß einer solchen Verkettung auf große Weltschicksalcll 17 • Ware nicht am Abend des 7. Oktober 1492 eine Schar Papageien über die Schiffe der Spanier hinweggeflogen, hätte Martfn Alanso Pinz6n sie nicht gesehcn und hätte Kolumbus nicht auf 14 So bei U. Billtrii, Die Entdcckung Amcribs. Von Kolumbus bis Alexander von Humboldt, Mlinchen 1991,5. 11-24,jedoch ohne kbre Ddinitioncn. 15 J. H. Parry, The Ase' ofReconnaisunce: Discovcry, Exploration and Settlement 1450-1650, London 1963, bcs. S. 17. 16.1.11. Humboldl, Kosmos. hg. v. H. &tk (= Studienausgabe. Bd. 7. Teilbd. 2). Dammadt 1993. 5. 209. 17 Ebd., S. 243.
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den Rat des Kapitäns der IJPintal< gehön und den Kurs nach Südwesten korrigiere, dann wäre man vermutlich in Florida oder Virginia gelandet, und Nordamerika wäre katholisch-romanisch besiedelt worden. IB Die Annäherung der Alten an die Neue Welt stand, so Alexander von Humboldt, aufder historischen Tagesordnung, aber wie sie geschah, blieb sie vom Zufall regiert. Wenn der Begriff der Entdeckung sich in Wolkendunst zu verflüchtigen scheint, so birgt ein robusteres Merkmal des Amerikanischen Modells, die Erobenltlg, weniger Schwierigkeiten. Charakteristisch fiir das europäische Vorgehen in allen Teilen Amcrikas, einschließlich 'der Karibik, war, wie Urs Bitterli sagt, die "Gleichsetzung von Entdeckung und Aneignung«.19 Aneignung hieß stets VerfUgung über Menschen und Sacllen. Der herrschaftsfreie Kulturkontakt, von dem irenisch gesinnte Geister immer wiedcr getrnumt haben, die paradiesische Frische beiderseitiger Frcundlichkeit: Es hat dergleichen in Amerika nicht gegeben und spätcr als einen länger andaucrndcn Zustand nirgends, wo Europäer in zielstrebigen Kollektiven auftraten. Humboldt hat dies gesehen: "Oic Fortschrittc des kosmischen Wissens wurden durch alle Gewalttätigkeiten und Grellcl crkauft, welche die sogenannten zivilisierenden Eroberer über den Erdball verbreiten.~ Er selbst kritisierte in seincm großen Reisewcrk, das aufder Grundlage seines Amerika-Aufenthalts der Jahre 1799 bis 1805 CJ1(stand, das spanische Kolonialsystcm mit ciner Detailkundigkeit und Präzision, die seine Analyse viel geHihrlicher mach tc als noch so volttönende antikolonialistischc Gcsinnungsbckulldungen. Die cnglische East India Company wußte, was sie tat, als sie Humboldts Gesuch lun Genchmigung einer Reise nach Indien und Zenrralasicn abschlug. 21
111 . Humboldt hätte in/lldiell koloniale Zustände angetroffen, die sich bei manchen Gemeinsamkeiten von denen in Spanisch-Amerika erheblich untcrschieden. Auch war im europäischen Bewußtsein und in der europäischen Literatur eine Auffassung von Indicn verankert, die derjenigen von Amerika nicht nur inhaltlich kaum nahest3nd. Denn es hatte kein indisches Gegenstück zu den bcidcn großen Amerikadebatten der frühen Neuzeit gegeben: der theologisch-juristischen Mönchskomroverse des 16. JahrhundertsU und der Diskussion unter 18 Ebd.. S. 244. 19 Bi/ltrfi, Entdcd:ungAmcrikas. S. 14. 20 HumbolJl, Kosmos, S. 276. 21 Vgl. zu dIeser strilligcn Episode: l-f. &tk, Akx:.mdcr von Humboldl. Bd. 2: Vom Ueiscwcrk zum .Kosmos«, 1804-1859. Wiesbaden 1961. S. 52. 22 Vgl. aus einer umfangrcichcncn Litcr.nur zusammcnfasscndA. Pup", The Fall ofNawral Man; Thc Amcrican Indian and the OriginsofComparative ElhnoIOb'Y. Canlbridgc 1982.lxs. Kap.
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Aufklärullgsphilosophen um die physische und anthropologische Minderwert.igkeit Ameribs. 21 Die EroberunggroBerTeile Indiens durch die Briten, die um t 8 t 8 einen vorläufigen Abschluß fand, war von eher kolonialpragmatischen Meinungsverschiedcnheiten begleitet, bei dcnen es weniger um das Wesen der Inder und ihrer Kultur als darum ging, wle man sie zum Nutzen der britischen Nation behandeln solle.2A Erst nach der ]ahrhundenwende, als man mit dem Sanskritsrudium hinreichende fortSChritte machte, entbrannte ein ins Grundsätzliche gehender Streit zwischen den romantischen Lobrednern des alten brahmanischen Indien und seinen utilitaristischen Veräcluern.lS Ocr indische Fall weicht so deutlich vom lateinamerikanischen ab, daß man von einem zwciten »Muster. der europäischen Expansion sprechen kann. Gemeinsam ist beiden die militärische GewaltJnwendung großen Stils,26 verbunden mit der vorübergehenden Prominenz von Conquistadortypen, die vom Streben nach Ruhm und Reichtum getrieben wurden. noben Clive, der den Höhepunkt seiner Ludbahn zwischen 1757 und 1765 erreichte, ist das prägt13llteste britisch-indischc Beispiel. Das demographische Netto-Ergebnis solcher Gewalranwendung war freilich weniger dramatisch als im amerikanischen Fall. Ein wichtiger Grund liegt darin, daß sich in Indien - wie überall in der Alten Welt - der ItMikrobcnschoc.h oder überhaupt die schädlichen Folgen eines »ökologischen Imperialismus. viel weniger krass bemerkbar machten als in Amerika, wo mehr Indianer durch Krankheiten als durch das Schwen umkamen. Auch vennieden die Briten in der Regel solche genozidähnlichen Greue1tJten, wie ihre eigene Propaganda sie den Spaniern gerne vorwar(
4-5. Grundlegend immer noch: L U. Hllnkt. Anslode :md Ihe Amenam Indians. Bloomington 1959J. H«jfnn, Kolonialismus und Ev.mgclium. Spanische Kolonialethik im Goldenen Zciulter, Trier 1972'1. Ein bedeutender interpretierender Aufsatz iSI). H. Blioll. The Disco\lcry ofAmeric:a and the DiscoveryofMan. in: Dm.. Sjnin and IIs World 1500-1700: Sc:lcclCd Essays, Ncw Ha\len 1989, S. 42-64. 23 VgI.A. Gnbi, Thc Dispme ofthc New Wodd: The I-lisloryofa Polemie, 1750-1900, trans!. by J. Moyle. Pinsbllrgh 1973; S. Lmdl,({;, I filosofi c i scl\laggi 1580-1780. Ihri 1972, bcs. Kap. 5. 24 Nielli zuf;i11ig wurdc diese Diskussion weithin auf dem Felde der Polilischell Ökonomie geführt. Vgl. W.). lJarbf'r. British Economic Thougln ~Ild India 1600-1858: A Study in thc Hislory of lk\lel0plllellt EcoTlomics, Oxford 1975: S. Ambiflljtlll. Classic~1 Polilical Economy and ßrilish Policy in India. Cambridb'e 1978: R. Glllltl, A Rule ofPropcrty for Ikllgal: An E.ssayon Ihe Idca of Pcrmancl1I Sc:ulemelll. Paris 1963. 25 Vgl. c. SlOkts, Thc English Ulilil2rians alld lndia, Oxford 1959: G. D. 8aJrrt. Brilish AtrifUdes towards Il1di~ 1784-1858, Landen 1961: L. .l.a.uoupil.John Sfwn Mill and India, Sunford 1994, S. 31-50: Dm. u. M. MtI~(Hg.), ThcGrcallndian Eduolion DemlC': Documents Rdafing tO Ihe OnC'llulisl-Anglicisl Comrovcrsy, 1781-1843, Landon 1999:). Qi,lC', Mxaulay: Tbe Shaping cf 1M HIslorian. Ncw Vork 1973. S. 342-399:). RlWC'Ili, Lord William IkmilKk: TIle Maklllg of a LibC'nllmpc:rU1ist. 8C'rkdey 1974. S. 208-221. 26 Vgl. für Indien S. rorstn, Die mxhligc:n Diener der Easl India COl\l}»ny. Unachc:n und HimC'rgrOn
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Die militärische, auf planmäßige Reichsbildung abzielende Phase des europäischen Vordringens stein in Indien am Ende eines langen Infiltrationsprozesses. Gleich nach der Ankunft Vasco da Gamas in Calicut 1498 hatte der europäische Seehandel mit Indien begonnen, in den sich nach der Gründung der East India Company im Jahre 1600 langsam auch die Engländer einschalteten. Dieser Handel war ein bewaffneter Handel von miliriirisch gesicherten Stünpunkten :aus, der viclf:ach ohne Duldung und Mirwirkung örtlicher Machth:aber an der Küste nicht möglich gewesen wäre. Der großen Landmacht des Mogulreiches konme er wenig :anhaben. v Erst :als seit dem frühen IB.Jahrhundert die M:acht des Großmoguls in Agra zerfiel und sich in Indien ein dezemrales, ziemlich instabiles System der politischen Kräfte herausbildete, eröffnete sich ftirdie europäischen Handelsgcsellsch:aftcn die Chance, bei diesem Machtspielminumischen. 28 Die Basis ihrer jeweiligen militärischen Apparate bildeten indische Hilfstruppen. Die einheimische Kollaboration, die schon bei der Eroberung Mexikos und Perus eine gewisse Rolle gespielt haue, wurde in Indien entscheidend. Hier finden wir deutlich, wenngleich in den Berichten nicht mit der gläubigen Emphase der spanischen Chronisten vermerkt, die Magie der Minderheit. Die Europäer, namentlich die schließlich die Oberhand behaltenden Briten, fielen also nicht - wie die Leute des Cortes - aus heiterem Himmel über eine ahnungslose einheimische Bevölkerung her, sondern waren in Indien bestens bc.kannt.lndien wurde nicht durch eine Invasion von außen erobert, sondernein wenig nach dem Prinzip des Kuckucks im fremden Nest - durch eine (gewisse wirtschaftliche und Clktische Vorteile genießende) Regionalmacht, die sich von ihrem peripheren Stützpunkt Bengalen aus Hegemonie und Herrschaft über den Subkominent erkämpfte. Europäische GeW31t kam also recht allmählich ins Spicl- und dies in einer ohnehin militarisierten einheimischen Umwelt. Von einer Korruption eines friedfertig-unbefangenen Erstkomakts kann daher kaum gesprochen werden. Überhaupt fehlt im europäischen Verhältnis zu Indien das Pathos des Unverhofften. Von verläßlichem imaginativem Reiz ist die Szene, in der das makedonische Heer sich 326 v. ehr. im Norden des heutigen Pakistan den Kriegsclefanten des Königs Poros gegenüber sah. 29 Aber wir haben keinen Bericht von einem lIErstkomaktlc zwischen Europäern und Indern in historischer Zeit. Daftir ist der indische Abschnitt des Alexanderzuges bei antiken Autoren verhäh-
v
Vgl. als Zusamm~nfas5ungelll~r rrlc~n ForschungK N. Clwudhuri. Tnde and Civiltsallon 1Il the Indian Occan: An ECOnOlTIlC HlstOry from the Ri~onsbll1tO 1750. Cambridge 1985. S. 80118. 28 DICS uigt:un wichtl~ten ~nalcn Bcispid: P.). MllrJhaIl. Bcn~I; Th~ BritlSh Bndgl"· he~. estern India 1740--1828. Cambridg'(' 1987. 29 Dito Sun~ schild~n. nx:h
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nismäßig breit dokumentiert. Vasco da Gama brauchte also Indien nicht zu »entdecken«. Es genügte, daß er eine praktikable Schiffsroute dorthin fand. Wenn es so etwas wie eine .Entdeckung« - Urs Biuerli würde sicher sagen: IIErkundung« - Indiens gegeben hat, dann in einem g:mz anderen, einem doppelten Sinne. Die am Ende des 18. Jahrhunderts beginnende Vennessung des Subkominents wareine der großen Leistungen moderner Geodäsie und Kartographie. Gleichzeitig, sogar in ihrem Beginn genau datierbar mit der Gründung der Asiatic Sociery of Bengal durch den genialen Philologen und Oberrichter von Kalkutta Sir William Jones im Jahre 1784, kam es zur Erschließung der altindischen literarischen und religiösen Überlieferung. JO Allein der Buddhismus, eine fur Europäer offenbar besonders schwer zugängliche Religion, wurde erst im 19. jahrhundert aus den originalen Schriftquellen dargestellt. Die Literatur spricht hier mit Bedacht von .discovery« des Buddhismus und auch des Hinduismus. J1
IV Wiederum anders gestaltet sich das Verhältnis z'l,vischen Entdeckung und Eroberung in einem dritten Muster. Es ist gekennzeichnet durch eine ziemlich abrupte und spektakuläre geistige "Entdeckung«, die eine ganz eigentümliche Weh fur Europa erschloß, in der Dramatik der Neuheit nur dem AmerikaErlebnis ebenbünig. Zugleich fehlen jedoch Gewaltanwendung, Eroberung, Besiedlung und Koloniebildung völlig. Haben wir es in Indien, grob gesagt, mit verzögertem Imperialismus ohne eigentliche .Entdeckung« zu tun, sojetzt mit ausgiebiger Entdeckung und Erkundungohne Imperialismus. Gemeint ist Ostasit'1I,Japan mehr noch als China. Über China wußte man am Beginn der Frühen Neuzeit einiges recht Genaue aus Marco Polos Bericht, über japan eigentlich kaum mehr, als daß es existierte und ein ungemein reiches Land sein mußte. Dort war anscheinend nie ein Europäer gewesen. Die Entdeckung oder Wieder-Entdeckung der ostasiatischcn Reiche - Korca blieb bis 1876, als japan die Öffnung von drei
JO Vgl. G.
(AmiD,.. Th~ Lif~ ,md Mind of Oritnul Jon~s: Sir Willi:J.l1l JOlles, th~ F.nhcr of
Mcxlern Linguistics. C.:Imbridb>e 1992. S. 195fT. Ober die Sondercnrwicklung des rom.:llllisch~n Indienbildes in DeutsChland \'g!. A. L. Will.Km, A Mythical Im.:lgc: Th~ Id~:J.1 of India in Gt-mun ROIll.:lllticlsm. Ourham. N.e. 1964: ~v. HQ/bfass. Indit'n und Europa. Pcrs\Xkrivrn ihr~r geistigen ~1Ung. Ibscl 1981, S. 86fT: UnübemofTen :J.ls inspiri~"t Symhes«: ist R. &hU'Qb. 1..:1 rcnaisS:J.nc~orknule, P.:Iris 1950. Vg!.auchM.AdaJ. M.:IChin~as th~ M~asur~ofM~n: ienu. T«hnology. :J.IKt ldeologu$ ofWestem Domin:J.llCc. Ithac:a 1989. S. 95-108. 31 P.). MQrJMU (Hg.). ~ Bntish DiSCO\'CryofHinduism in th~ EightC'Cmh Ccnrury, urnbndge 1970: P. C. AlrMfld. ~ 8ritish D~ry of8uddhism. umb~ 1988: cb.ndX"n im~ IIOCh H. dt ubot:, Sj.. 1..:1 recom~ du BouddhisltlC' ~t dt' I'Occident. Paris 1952.
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Hafenstädten erzwang, völlig verschlossenp2 - ist ein Verdienst der Jesuiten. Schon 1548, ftinfJahre nachdem erstmals portugiesische Seeleute nach Japan verschlagen worden waren und davon kurz berichteten, traf Franz Xaver, einer der Mitbegründer der Societas Icsu, über Goo und Malakka in Japan ein. Damit beg:mnen intensive Missionsanstrengungen, die um die Jahrhundertwende durch erste Christenverfolgungen behindert und in den dreißiger Jahren des 17. Jahrhunderts durch eine bnu.ale Unterdrückung alles Christlichen und dic Abschottung des undes abrupt beendet wurden. JJ Auch in China profiticrtcn die Europäer, wie in Japan, zunächst von der p0litisch wie kulturell plastischen Situation am Ende ciner Dynastie. Hier begann die Jesuitenprisenz mehr als eine Generation später.J.4 1582 traf Maneo Ried, eine der großen Gelchrtcngcstalten des Zeit.alters, an dcr chinesischen Küste ein. Nach gründlichen Sprachstudien begab er sich 1601 an den Hofdes Kaisers zu Pcking. Die Jesuiten blicben bis zur AuOlebung ihres Ordens 1773 durch den Papst in China, verlorcn dort aber seit spätestcns 1720 an Einfluß lind hancn mit wachsender Christenfeindlichkeit Zll kämpfen. Es kam freilich in China niemals zu Verfolgungen vom Ausmaß der japanischen. Auch wurde: das chincsische Kaiscrreich nie ganz so gründlich gegen die Außenwelt abgeschlossen wie Japan. 3S In Japan durfte seit 1639 allcin die Holländische Ostindische Kompanie unter cxtrem restriktiven Bedingungen Handel treiben. In China handhabte man die Kontrolle der Frcmden um einiges lockerer, ließ Kauflcute aber nicht aus den südchincsischen Küstenstädten hinaus; nur dcr russische Karawanenhandel hatte Zutritt zur Hauptst.adt. Abgesehen von wahnwitzigcn spanischen Plänen, von Manila aus in einer An von Conquisradoren-Hand32 Ki·bo;Jik Ur. A New }-hstory ofKorc... umbridgl:. MOI5$. 1984, S. 268(. Dit: t:rsten dirt:.ku-n NOIChnchtcll ..us Kore.. summtcn \'On dcm Holl5nder I-Iendrik Hamd, dcn 1653 t:ill Schifibruch llxh Kort:a vcrschlug. VgJ. scmcll Bericht in G. UJyYni, Tht: DUlCh Com~ 10 Kor~... Scoull97l. S.171-226. 33 Vgl. die monulllcnuic Dokul1lellution P.1GJpilZl:l (Hg.),Jap..n in Eur~. Texte und ßilddokum~llte zur t:uropliiischen J ..p..nkenntnis von Muco Polo bis Wilhdm VOll Humboldl. 2 Bdc. und Bcgleitwnd. Milnchcn 1990. Zur J~suilcnmission im Überblick:J. EIiwrnu, Chrisli..nity ..nd Ihe D..illlYO, in: j. W Hall (Hg.). The umbridge History ofJ"p:llI. Ud. 4: E:lrly Modcrn J"p:ll1. Cambridgc 1991, S. 301-372. Zur Präsenz europliiischcr K..uneute \'g1. D. MQJ.$llmla. A World Elscwhcre: Europc's Ellcoulllcr with Japan in the Sixtccllth ..nd Scvelllcenth Centuries, Ncw I Ja. \'cn 1990; G. K. GooJmllll. J..p:m: The Dmeh Expcrience, london 1986. Vgl...uch j. Krri"rr, Das Uild J..p..ns in der ~urop:iisch"'l1 GciSIt:%'t:schichtc, in: J ..p..nstudien,Jg. I, 1990, S. 13-42. 34 Über dicJesuitcn in hin.. gibt es einc ..ußcrgc'o\'Öhnlich umf..ngrcichc literatur. Als Über. blick vgI.j.-P. Dulril, l.c: m..nd.. t du cid: Lc r61~ d($Jesuitcs ~n Chine, P..ris 1994: Umf:wt:nd ZUIll ellrop:hschcn Chin..bild R.. E/imtbk. l'Europc chinOlsc, 2 Ude., P..,is 1988-89: W Ckmd. Als Frcmdt: In Chin... Das Itelch dcr Miu~ im Spit:gd frühnt:uzeitltcht:r ~1r0p5ischcr Rt:ist'bcrichte. München 1992: D. F. LJtIt \L E. K Va,. Klq, Asi.. in Iht: M ..kmgofEliropc, Bd. 3: A untury of Wonder. Teilixi.4: E..stAsu..Chtago 1993. 35 Zu dcn chincsischt:n Aulknbczichungt:n vor der nun&" durch den Opiumkrit:g von 1840-42 \~.J. OswIulmmd, ChllU und dit: Wdtgcsdlsduft. Vom 18. J..hrhunden bis in unscre' un. MünclKn 1989. S. 86-124.
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streich das Imperium der Ming-Dynasrie zu bezwingen,J6 dachte kein Europäer der Frühen Neuzeit an Militäraktionen gegen Japan und China. Sie hätten nicht die mindeste Chance gehabt. Daß in Ostasien auf die Entdeckung keine Eroberung folgtc, liegt nicht an einer gebremsten europäischen Aggressionsdynamik, sondern an der Stärke der einheimischen Regime. Beide bewältigten die Dynastiewechscl um 1600 zur Tokugawa-Dynastie und 1644 von den einheimischen Ming zu den mandschurischen Qing zwar nicht ohne größerc Turbulenzcn, aber doch so, daß nicht, wle in Indien nach dem Tode dcs Großmoguls Aurangzeb 1707, ein Machtvakuum entstand, das die Ausbnder sich hätten zunutze machen können. Keine Chance also rur die europäische Rittcrschaft. Die Jesuiten - zunächst Spanier, Portugiesen und Italiener, seit den achtziger Jahren des 17.Jahrhunderts in China vornehmlich Franzoscn- berichtctenmit ungemeincr Akribie und Ausfuhrlichkcit aus dcm Fernen Osten. Sie erlernten die einheimischcn Sprachcn passiv und aktiv und fertigtcn Wörterbücher und Grammatiken an. J ? Sie übersetzten europäische Texte, vorab natürlich die Bibel, in die Landessprachcn und umgekehrt Chinesischcs und Japanisches ins Lateinischc. In deuillierten Briefcn an dic Ordcnszemralen berichteten sie von Land, Leutcn und politischen Zuständen. In China konntcnJesuiten zu hohen Hofwürden aufsteigen, besondcrs im Astronomischen Amt; der KJiscr Kangxi ließ sie um 1700 sein gesamtes Reich kartographieren. In Japan hatten sie zwar kcincn Zugang zu dcn Shogunen, also zur zentralen Staatsmacht, dafiir aber einen direkteren Kontakt zur einfachen Bevölkerung. Viel von diesem Material, besonders übcr Japan, blieb unveröffentlicht; manches andere aber wurde rcdigiert, publiziert, in andcre europäische Sprachen übersctzt und curopaweit verbrcitet. Seit 1615 lag Matteo Riccis cmpirisch gesättigte chinesische Landeskunde vor: das erstc ciner langen Rcihe ähnlicher Wcrkc.3lI Selbstverständlich tcilten die Jesuiten vielc Vorurteile ihrer Zcitgenosscn; unzuverlässig vrorden sie oft dann, wenn es um einheimische Religioncn ging, mit Ausnahme dcs Konfuzianismus, der cher eine inl1crwcltliehe LcbensfUhrungslehre als cin transzendentes Glaubcnssystcm ist. Dcn36 Vg1. c..L. dt la Vrga y dt Luqut. Vn proyecto ut6pico: l:l conquist:l de China por Esp:ll1:1. in: ßolctin de b Asociaci6n EspaflOla des Oriemalisus.Jg. 18. 1982, S. 3-46. 37 Vgl. C[W;l. als Fallstudie: M. Cool't'r, SI, Rodrigues the Interpreter: An E:lrly Jesuit in J:lp:lll :lud Chin:l. New York 1974. 38 Die deutschc Ausg:oabc erschien zwciJahre naeh dem lateinischen OriginOlI: Malltc! Riai u. Nullolas TrigaulI. l-lislOria von Einfuchnlllg der Chrislliehell Religion in das grossc Königreich China durch die Societef lesu 1... 1, Augsburg 1617. Leicht zug;inglich ist heute eine französische Ausgabe: Dies.• Histoire de rexpedition ehrctiennc au royaumc dc Ia Chine 1582-1610. Eublisselllellt du texte Cf :UlIlOt:ltions par G. Bcssicrc, Paris 1978. Die wichtigsten untcr den späteren Wcrken: Martin Martirri, Novus Atlas Sinensis, Amwerpen 1655; umu Count, NOllveallx memoires sur rcUt prcsclll dc la Chinc, 2 Bdc., Paris 16%Jtall.Baplull Dll HaUf, Dcscriptioll g&>graphiquc, historique, chronologiquc Ct politiquc dc l'Empire dc la Chinc ct de l:l Tamric chillOise, 4 Bdc.. Paris 1735;Abbi Grositr.Dcscriplion generale dc Ja Chinc. Oll T:lble:lu de l'cUt actuc1 de CCt empire, Paris 1785.
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noch erhielt die europäische Gelehrtenwelt ein ziemlich akkurates Bild OStasiens. Dazu trug im Falle Japans der Umstand bei, daß über dieses Land auch Nicht-Missionare sorgfaltig berichteten. Die Vertreter der Holländischen OStindischen Kompanie standen zwar im Hafen von Nagasaki unter eincr Art von permanentem Hausarrest, warcn aber verpflichtct, zweimal jährlich dem Shogun, dem wahren Herrscher des Landes, in Edo, dcm hcutigen Tokyo, ihre Aufwartung zu machen. (Den westlichen Kaufleuten in Südchina war dergleichen, wie gesagt, vcrwehrt). Wcr bei diesen Hofreisen aufpaßte und wcr zudem noch japanische Informanten auszuhorchen verstand, der konnte eine Menge erfahren. So entstanden einige vorzügliche Japanbcrichte auch noch aus der Zeit nach der Vertreibung der Missionare.'w Der berühmteste und einflußreichste ist der des westfalischen Arztes und Naturforschers Engelbert Kaempfer. Kaempfer hielt sich von 1692 bis 1694 in Japan aue Seine lIGeschichte und BcschreibungJapanslC erschien 1727 zunächst in einer cnglischen Fassung und wurde ein Jahrhundert lang als landeskundliches Standardwerk konsultiert.4/) Welche Bildervonjapan und China diese Textc im einzelnen zeichneten, soll hier nicht interessieren. Es genügt, die Abweichungen vom Amerikanischen Modell zu verzeichncn. Gewiß gab es einen Kulturschock, abcr keinen ))anduopologischen SchocklC wie in Amerika. Die Ostasiatcn wurden nie als "WildelC und selten - die Japaner offenbar niemals - als lIBarbarcnlC bezeichnet. Es vcrstand sich von selbst, daß man es mit Zivilisationcn zu tun hane, die der europäischen zumindest ebenbürtig waren - abgesehen von der Religion, versteht sich. Das ethnisch-rassische Element kam nur sehr langsam ins Spiel. Es ist faszinierend zu beobachten, wie die Chinesen und vor allem die Japaner, die man anfangs ftir das helle Weiß ihr Haut anschwärmt, sich in den europäischen Texten allmählich verfarben, bis sie in der Mitte des 19.Jahrhunderts in europäischen Augen »gc1blj geworden sind.· l Der Ers.tkontakt mit allem, was in Amerika an Wünschen und Ängsten an ihm hing, scheint in der rückblickenden Rcchenschaft keine besondere Rolle gespielt zu haben. Franz Xaver und Matteo Ricci konnten niemandem, wie Kolumbus den Bcwohnern der Bahamas, mit Glasperlen und bunten Kappen imponieren oder damit rechnen, als Weiße Götter bestaunt ZI.I werden. Sie mußten achtgeben, daß sie nicht im nächstbe39 Aus dem früheIl 17. Jahrhundert vor allem der 1645 aufl-loll;andisch erschienene Japanberiehl des fiir die Holländische Ostindienkompanie inJapan läli!,'Cn Hugcnoltcn Fnm.ois Dran: Po Gmlfl. Beschreibung dcs m;aehtigen KönigreichsJapan. hg. v. D. Habcrlalld, Stmtg:m 2000; Auszüge (in zeitgenössischer deUischer Übersetzung) auch in Knpilza, Japan in Europa, Bd. I, 5.533563. 40 E. KAempJrr. Geschichte und BeschrcibungJapans. Aus den Originalhandschriftcil dcs Verfassers hg. v. C. W DcHIII/. 2 Bde., ~mgo In7-79, Nachdruck Stung:r.rt 1964. Vgl. auch D. HabrrIalld. Von Lcmgo nachJapan. Das ungewöhnliche ~ben des Engdbcrt Kaempfer 1651 bis 1716. ßielefcld 1990. 41 Vgl. W DrrrttI, Wie die Chinesen gelb wurden. Ein Beitrag zur Frühgeschichte der Rasscntheorien. in: HZ. Jg. 255, 1992. 5.625-666.
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sten Gefangnis landeten. Dies odcr noch Schlimmeres hatten Fremde bis 1842 in China und bis 1854 in japan zu gewärtigen. Der alte Immanuel Kant, der 1795 fur eine allgemeine Hospitalität auf der Welt warb, hatte dennoch ein gewisses Verständnis fur die strcnge Frcmdenpolitik der Chinesen lIndjapaner: Nergleicht man hiemit (mit dem Idealzust:md friedlicher Gastlichkeit I das inhospitale Betragen der gesitteten, vornclllnlich handeltreibenden Staaten unseres Weltteils, so geht die Ungerechtigkeit, die sie in dem Besuche fremder Länder und Völker (welches ihnen mit dem Erobern derselben fiir einerlei gilt) beweisen, bis zum Erschrecken weiL.c 42
Die Ostasiaten hätten »weislich« den Zugang zu ihren Ländern beschrän.kt lind aus guten Gründen das Prinzip der Freizügigkeit außer Kraft gcsetzt.-4J Kamwie vor ihm VoltaireoW - folgt hier Kacmpfcrs Ansicht, der seinem japanwerk cinen (schon 1713 vorab auf Lateinisch veröffentlichten) )lBeweis, daß im japanischen Reiche aus sehr gutcn Gründen dcn Eingeborenen der Ausgang, fremdcn Nationen der Eingang, und alle Gemeinschaft dicses Landcs mit der übrigen Welt untersagt sey« beigefügt hatte.~s Zweifellos handeh sich bei der »Begegnung« zwischen Ost und West in OStasien primär um lIKulturkontakt«, wie man heute oft sagt. Aber die Kultur konnte nur deshalb so stark in den Vordergrund tretcn, weil die einheimischen Herrscher das politischc Heft in der Hand behielten. Ein weiteres ist an Ostasien bemcrkenswert. So genau wie nirgendwo sonst in der Frühen Neuzcit kann man hier die oft eingeklagte "Sicht der Anderen« rekonstruieren. Wirwissen inzwischen nicht nur, was dic jesuiten von den chinesischen Mandarinen dachten, sondern auch, wie man die Dinge in umgekehrter Richtung sah. 46 Noch reicher ist das Bild für japan. Schon 1952 veröffentlichte Donald Keene seine Pionierarbeit »The japanese Discovcry of Europc«Y Er meint damit nicht die Eindrückc des erstcn japaners, der - im jahre 1555 - nach Rom gelangte,ol8 sondern die Europastudicn, die seit etwa 42 I. Kam, ZUII1 ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf. in: Dm.. Werke in zehn Binden, hg. v. UI. WeisllleJd, Dannsudl 1970. Bd. 9. S. 195-251. hier S. 214. 43 Ebel.. S. 216. 44 Zitiert bei Kapitu.japan in Europa. Bd. 2.• S. 468f. 45 Katmpfer. Geschichte und Beschreibung. Ud. 2. S. 394-414. 46 Vgl.]. Grrntl. Chine el chrislianisme: Action Cl rcaction, Paris 1982;) .B. Htlldmo,r. Ch'ing Scholm' Vicws ofWeSlem Astronomy. in: HjAS,jg. 46, 1986. S. 121-148. 47 D. KWlt, Thcjapanese DiscoveryofEuropc. 1720-1830. Sunford 1%92. Vgl. auch Gocdmau,japan, Kap. 5-15; M. B.)
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1720 in Japan gründlich betrieben 'wurden. Die japaner besorgten sich über die Holländische Ostindien-Kompanie in beträchtlichem Umfang medizinische, naturkundliche und technologische Fachliteratur in holländischer, später auch in englischer Sprache. Sie ,"vurde systematisch ausgewertet. Die Japaner haben die Europäer gewiß belustigt angestaunt, aber sich nicln allzu tief von ihnen beeindrucken lassen. Letztlich sind die Weißen ihnen aber wohl doch als arge Barbaren und obendrein als ziemlich häßlich erschienen. Andcrs als die Chinesen, die sich von den Missionaren Kalender ausrechnen, Bilder malen lind Stücke auf dem Cembalo vorspielen ließen, ohne sich danach selbst um die Aneignung solcher Fcrtigkeüen zu bemühen, haben es die Japaner aber nicht verschmäht, von dcn Fremden nützliche Dinge zu lernen und sie praktisch anzuwenden. Als 1860 die erste jap:mische Delegation in die USA reiste, waren ihr zur Überraschung der Gastgeber viele der technischen Verf...hren, die sie zu sehen bekamen, bereits aus der Literatur vertraut. 4'1 Einiges an westlicher Technologie war bereits vor der Öffnung des Landes im Jahre 1854 nachgehaut, installiert und in Betrieb genommen wordcn. so
v Ein viertes Muster findet sich vornehmlich im nahöstlich-isla",üchclI Raulll. Gegensatz wic Verbindung zum amerikanischcn Fall sind hier besonders groß. Die Verbindung ist offensichtlich und wohlbekannt: Die Eroberung Amerikas setzte in vielem dic spanischc Reconquista gegenüber den Mauren aufder iberischen Halbinsel fort. Ähnliche gesellschaftliche Interessen, persönliche Motive und ideologische Hechtfcrtigungen finden sich auf den Schauplätzen bciderseits des Atlantik. Im gcsamteuropäischcn Rahmen indessen verlagern sich die Gewichte ein wenig. Nur in Spanien und nirgendwo sonst konnten die christlichen Mächte nach der Vertreibung der letzten Krcuzfahrer aus Palästina um 1300 nennenswerte Erfolge verbuchen. sl Im östlichen Mittclmeer sahen sie sich seit langem in der Defensive. Die Wiederbelebung der neconquist:l war nicht allein eine Folge der Vereinigung der Kronen von Kastilien und Aragon im Jahre 1479, sondern auch eine Rcaktion aufdie Eroberung Konstantinopels durch die Osmanen ein Vierteljahrhundert zuvor: das machtpolitische Ende des Mittelalters. Erst spät im 17. Jahrhundert - 1683 mißriet den Türken die
49 Dies berichtel ein prominenter Teilnehmerder Gesandtsehaftrcisc: F,ik'lZtJw'O YI/kiflr;, Eine ~utobiographischc Lebcnsschilderung, dt. v. C. LillZbitlr/n. Tokio 1971, S. 133--137. 50 VgL E. PtJlltr",J~P~I1S industrielle Lehrzeil, ßolln 1983. 51 Einen Überblick über die zahlreichen Schaupliitze christlich-isbrnischen KonfliklS im Spiiuninelaher gibt). Rilq-Smilh, Thc Cnlsades: A Shon Hislory. London 1987, S. 208-240: vgl. aueh N. HOllsll")', Thc utcr Crusades 1274-1580: From Lyons 10 AJcazar. Oxford 1992.
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Bclagerung W1ens - beganncn sich allmählich die machtpolitischen Verhältnissc zuungunsten der muslimischen Welt zu verschieben. Das christliche Europa hat in der Frühen Neuzeit den Islam nicht imperial beherrschen können. Nirgendwo gerieten islamische Populationen nennenswerten Umfangs unter christliches Regiment. Auf dem Balkan war sogar das Gegenteil der Fall. Der osmanische Sultan wurde zum Oberherrn zahlreicher nichtmuslimischer Völker, denen in der Regel weder der Islam noch die türkische Kultur aufgezwungen wurden. S2 Erst mit der französischen Besetzung von Algier 1830 begann, sehr allmählich, die Epoche direkter europäischer Herrschaft in der islamischen Welt. Ebensowenig gelang es der katholischen oder protestantischen Mission, im Oricnt Fuß zu fassen. Der Abfall vom Islam wird bekanntlich mit dem Tode bestraft. RCllegatCnrulll war selten, viel seltener als der Übertritt von Christen im Osmanischen Reich und in den (dem Sultan nominell unterstehenden) Barbareskenstaaten Nordafrikas zum Islam. In der Regel habcn islamische Staaten in ihrem Herrschaftsbereich christliche (d.h. meist ostkirchliche) Gemeinschaften gegen Zahlung der im Koran (Sure 9, 29) vorgesehenen Sondersteuer für Nichtmuslime (gizya) geduldetY Wie das Schicksal der Araber auf Sizilien oder der Mauren und später der Morisken in Spanien zeigt, hanen umgekehrt muslimische Bevölkerungsgruppen in christlichen Lälldern längerfristig keine Überlebenschancen. Wie Europa den Islam nicht zu beherrschen vermochte, so hat es ihn eigentlich auch nicht »entdeckte!. An geographischen ))Entdeckungelw im kolumbianischen Sinne bestand im Bereich der antiken Hochkulturen des Mittelmeerraumes ohnedies kein Bedarf Bis hin zu den Wüsten Nordafrikas und Arabiens waren diese Gegenden im Groben bekannt. Der im frühen 7. Jahrhundert entstehende Islam selbst wartete nicht auf Europäer, die ihm zufaJlig begegnctcn oder die den Kontakt zu ihm suchten. Er rückte den Bewohncrn des Nordens direkt aufden Leib. Hundertjahre nach dem Auszug des Prophe[en von Mekka nach Medina überschritten muslimische Hecre die Straße von Gibraltar und errichteten bald darauf eigene Staatswesen auf der iberischen Halbinsel. Italien, Süd frankreich und selbst dcr Alpenraulll waren bis zur Jahrtausendwende immer wiedcr dcn Übcrgriffen sarazenischer Kommalldotrupps ausgesctzt. Zu einem tieferen Interesse am Islam als Religion und Lebensfonn fehlte einstweilen der Anlaß. Drastische Erfahrungen nährten das Feindbild von der »gens perfida SaracenOrUm(l.Sol
52 R. M'lIIlrllll U.3 .. Histoire de I'Empire Ottom311. Paris 1989.5.136; c. '·Iöscll. Geschichte der ßalk:mI3IJder. Von der Frühzeit bis zur Gegenwart. München 1988. S. 94-%. 53 Vgl. A. No/li. Früher Islam, in: U. 1·lannuotm (Hg.). Geschichte der anbischcn Welt. München 1987. S. 64--66. 54 Vgl. d3zu grundlegend: E. Rolta-. Abcndbnd und Sanzellen. D:Ios okzidenule AnIberbild und seine Emstehung im Frühmiuclaltcr, ßcrlin 1986.
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Auch als dann 1095 mit dem Aufrufzum Ersten Kreuzzugchristliche Kirche und Rirterschaft zum Gegenangriff übergingen, blieb eine intellektuelle Emdeckungserfahrung auf seltene inviduelle Ausnahmen beschränkt. Aus den Kreuzfahrerstaaten in Palästina - europäischen Kolonien avant la lenre S5 - ging weder eine vertiefte LslamkenntnisS6 noch gar eine europäisch-arabisch-jüdisehe Kultursymhese hervor, wie sie zeitweise - und stets auf prekären Grundlagen - in Spanien gcJangY Ein tieferes Interesse am Islam ergab sich erst, als der Angriffsschwung der Kreuzzüge durch den Widerstand der Muslime gebrochen war und die Kirche sich auf eine sorgfältigere Apologie des Christentums einzulassen begann. Sll Von der ersten Übersetzung des Korans ins Lateinische 1142 bis in die frühenjahre des 14.Jahrhundens dauerte eine Phase der ersten partiellen Entdeckungdes Islam im christlichen Europa. Einige AutOren der Hochscholastik setzten sich ernsthaft und gründlich mit der gerade durch ihre theologische Nähe zum Christentum so bedrohlichen Religion der Araber auseinander. Im SpätmittcJaher kam es zu einer Entdiffercnzierung der Islamwahrnehmung. Erst im 16. Jahrhundert knüpfte mall wieder an das Niveau des 13. Jaluhunderts an, nun aber weniger von der Theologie als von der neu entstehenden arabischen Philologie ausgehend, wie sie in Holland, Frankreich und England betrieben wurde. 59 Viele Stereotype und Irrtümer über den [siam und seinen Propheten hielten sichjedoch zäh. Erst das 18.Jahrhundert gelangte hier zu einem offeneren Urteil. oo Mehr als Hir die Religion der Muslime interessierte man sich in der Frühen Neuzeit allerdings Hir die weltlichen Quellen ihrer Macht. Während lllan die politische Ordnung Chin3s, verstanden als Herrschaft weiser Mandarine unter bewährten Gesetzen, zeitweise mit der Absicht studierte, ihre Vorzüge für Eu-
55 Diescn Aspckl hat in \lielcn seincr Schriftcn Joshua Prawer bc[QlH. präzise zusammenfassend in:). PraIUff, The RootsofMcdie\lal Colonialism. in: V. P. Goss (Hg.), The MeelingoITwo Worlds, K:alarmnzoo, Mich. 1986, S. 23--38. 56 Mit der einzi!:,'Cn Ausnahme des Wilhe1m von Tyrus. in den Jahren 1174-84 K:mzler des KönigreichsJemsalem. Vgl. R. C. Stlrwitlgts, Kreuzzugsideologie und Toleranz. Studien zu Wilhelm \Ion Tyrus, StlItigart 1977. 57 Vgl. R. I. Bunu, Muslims. Chrislians, and Jews in du~ Crusader Kingdolll ofValencia: Socielies in Symbiosis. Cambridb'C 1984. S. 174ff. Vgl. die umfasscllde Enzyklopädie der llluslimischell Erfahrung in Spanien: S. KJayyusi (I-Ig.), The Lcg:lcyofMuslim Spain, Leiden 1993 (= Handbuch der Orienulistik. Abt. I, Bd. 12). 58 Zur Islamsicht des Hoclllmudalters \lgl. N. Da"id, Islam and the West: The Making of an Imab'C. Edinburgh 1960; R. W. SOII/llenr, Das lslambild des Mittelalters. dt. v. S. Höfer, StuttS"r1 198 I; W. M. Wau. Dt.'r Einfluß des Islam aufdas europäische Mittelalter, cll. \I. H. Fließbach, Ikrlin 1988. 59 J. FluAt. Die arabischeIl Srudien in Europa bis in deli Anfang des 20. Jahrhundcrts. Leipzig 1955. S. 29fT. 60 Vgl. etw2 D. A. Pai/i'l, Attitudcs 10 Other Religions: Comparative Religion in 17th- and 18th-Celllury Briuin. M:mchesler 1984, S. 81-104: M. Rodi,lroll. Die Faszination des Islam. dt. \I. I. Riescn. München 1991 1, S. 64-71.
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ropa nutzen zu können, betrachtete man das näher liegende Osmanische Reich mit dem kühlen Blick des militärischen Gegners. bl Erst als sein Stern zu sinken begann und es auf scharfe Realitätswahmehmung nicht mehr so sehr ankam, konnte man sich ein eher romantisierendes Orientbild leisten. So war die europ3ische Ann3herungan die benachbarte islamische Zivilisation keine plötzliche Offenbarung einer neuen Welt wie im Falle Japans oder dem der EntsChleierung des sanskritischen Indien seit den achtziger Jahren des 18. Jahrhunderts, sondern ein Jahrhunderte \v.ihrender, diskontinuierlicher Prozeß.
VI. Das fonfte Modell im Spannungsfcld von Neugier und Gewalt ist jenes, mit dem dieser Aufsatz begann. Nach Lateinamerika, Indien, Ostasien und dem Islamischen Bereich nun abermals die Siidsce und die sogenannten Wilden. James Cook und die Mitreisenden auf seinen drei Expeditioncn in den Südpazifik, darunter der berühmtc dcutsche Naturforscher Johann Reinhold Forster- lichtenbcrg nennt ihn Jtrlen außerordentlichsten Mann, den ich fast in England gesehen habc.f'2-und sein Sohn Georg, waren Profis der Exploration: Leute, die wußtcn, was sie wollten, ahntcn, was sie erwartete, und die auf beinahe alle geistigen und logistischen Eventualitäten vorbereitet waren. Cook reiste zu einer Zeit, als England die nordamerikanischen Kolonien noch nicht ganz verloren haue und gleichzeitig im Begriffe stand, Indien zu gewinnen. Sein exakter Generationsgcnosse war Warren Hastings: nicht der militärische Gründer (das war der bereits erwähnte Roben Clive), aber doch der politische Schöpfer des indischen Empire. Mithin war Cook ein Agent der ftihrenden kolonialistischen Macht der Erde. Sein Auftrag war indessen ein prim3r wissenschaftlicher. Zun3chst sollten astronomische Beobachtungen angestellt werden, dann standen botanische und zoologische Untersuchungen auf dem Programm, und schließlich wolltc man die Gelegenheit nutzen. so viel wie möglich über die ~Sitten und Gebriiuche« der Bewohner der Südsee zu erfahren. Daß dic Kartographierung der südlichen Meere der ftihrcnden Seemacht der Welt auch irgendwie nützlich sein würde. W3.r offensichtlich, doch haue 61 Zureuroplischen WahmehmungdesOsmanischen Reiches vgl. R. Sthwot'bd. The Shadow oflhe CrescellI; The Renaisunf(' Image ofthe Turk (1453-1517), Niellwkoop 1967: B. &k, Frol1l the Rising ofthe Sun: English Imagd ofthe Ottoman EmpiTC' tO 1715, NC'W York 1987: K KrriJn (Hg.), Germano-Turdca. Zur Geschichte dC'S Türkisch-Lcmens in den deulSChsprachigcn Ländem, Bamberg 1987; 1-1. uurms, Lcs origines intdlectoc1s d(' l'('xp&tition d'Egyple: L'orienalismc islamiullt en France. 1698-1798.lsClnbull987: S. Ymuimas. Lcs voyageurs dans I'Empire Ollooun, XIVe-XVle siklcs. Anun 1991. 62 LlChtenbc:rg an Johann Andr(':l5 Schcmhage:n, 16. Oktober Ins. in: G. C. Lich~, Schriflen und Briefe. Bd. 4, München 1967, S. 249. Vgl. M. E 1-100". The Tacdcss Philosopher. Johann Rcmhoki Forster (1729-98), Mdboume 1976 (S. n([ übc:rdie 2. Cook-Rcisc=).
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Cook darüber hinaus keine direkten l+imperialistischenll Aufträge - mit Ausnahme der Generalklausel in den Instruktioncn ftir seine erste Reise, llwith the Consent of the Natives to take possession of Convenient Situations in the Country in dle Name of the King ofGreat Britaint(.63 Seine Reisen standen in Konkurrenz zu gleichzeitigen Unternehmungen der Franzosen, aber auch ihncn ging es damals nicht um koloniale L'mdnahme.64 Cook ist in den Augen der spiiren frühen Neuzeit der Entdecker schlechthin gewesen: das, was Kolumbus oder vielleicht noch deutlicher Magellan flir die fn'jhc frühe Neuzeit waren. Sein junger ReisegeCihne Georg FOfSter hat ihm einen der schönsten Essays der deutschen Aufklärungsliteratur gewidmet: llCook der Entdeckerti. 65 Vcrmutlich haben nur der Mrikareisende David Livingstonc im 19. Jahrhundert und die Polarforscher der Jahrhunderrwende seinen Iluhm wieder erreicht.66 Dieser Ruhm gründet teilweise auf der sehr sorgfaltigcn literarischen Aufarbeitung der drei Expeditionen, von Cooks eigenen ausftihrlichen 'T.'lgebüchern über Georg Forstcrs Bericht llRcise um die Weltt( bis zu den Erinnerungen des pf.ilzischen Seemanns Heinrich Zimmermann. Auch mit Stift und Pinsel wurde das Gesehene umf.'lssend festgehaltenY Das Cookschc Muster unterscheidet sich vom Amerik:anischen Modell nicht nur darin, daß die Entdeckung ohne direkte koloniale Folgen blieb, sondern auch in der mentalen Einhegung des Erstkontakts. Cook und seine Leute sind nicht eigentlich überrascht, als sie auf die Bewohner der Südsee treffen. Sie waren aufder Suche nach ihnen, hanen ein ziemlich klares Konzept vom lIWiIden« im Kopf und brachten den aufgeklärten Vorsatz mit, diesen IlWilden\1 behutsam und mit Sympathie entgegenzutreten. Der llWildc« wird zum Forschungsgegcnstand, die Südsee zu einer Art von anthropologischem FreilichtIllUSelIl11. 68 Die gelehrten H.eisenden kontrollieren ihre GefUhle und einige von ihnen, besonders Forster junior, ftihren Buch über die Zustände ihrer Seele angesichts einer allenthalben als >lursprünglich« empfundenen Natur- und Menschenwelt. Infolge solch wohlpräparierter Reflexivität fehlt bei Cook, den Forsters, Sir Joseph Banks und manch anderen literarisch faßbaren Teilnehmern der &'PCditionen im Grunde der >l3nthropologische Schach, den wir in 63 Zitierl nach &1l,l!/rlroJe. Life ofCaplain J:I.I11eS Cook, S. 149. M Deuil1ien zur Entdeckungsgeschichte des Puifik: 1/. R. Friis (Hg.), The Pacdic Basin: A !-listory oflts Gcogr.Iphical Explonliun, Ncw York 1967. 65 In: G. Fomer. Werke. Sämtliche Schriften. Tagebücher. Briefe,l3d. 5, Bcrlin 1985.S. 191302. 66 Am deutschen Beispiel: L. Bodi.James Cook in der deutschen Literatur. in: W. Gmp u. HoW. Jägt'r (Hg.), n.eise und sozi3lc n.ealitiil am Ende des \8. Jahrhunderts, I-lcidcJberg \983, S. 218235. 67 Vgl. R.JOPllil·1l u. B. 5m;/h. The An ofCapt:lin Cook's Voyagcs.2 ßde.. Ncw I-bven 1986; B. 5",1/11. Imagining the Pacifk; In the Wake of the Cook Voya~,'es, Ncw Haven 1992. 68 Vgl. etwaj. Gl1SCoW'lt.Joscph Banks and the English Enligillenmcnt: Useful Knowledgc and Palitc Cuhurc, Cambridgc 1994. S. 160ff.
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Amerika feststellten. Er wird zu einer im eigenen europäischen Weltbild genau zu veronenden anthropologischen DifTerenzwahrnehmung geläutert, der Voraussetzung vergleichender Kulcurforschung. th Von einem sehr grundsätzlichen Standpunkt lassen sich die Cookschen Unternehmungennatürlich kritisieren. Schon Georg Forster beobachtete die Korruption des Erstkomal-rs: nicht durch Feuer und Schwert, sondern durch die Zügcllosigkeiten des SchifTspersonals. Und er seufzt auf: liEs ist würklich im Ernste zu wünschen, daß der Umgang der Europäer mit den Einwohnern der Süd-See-Inseln in Zeiten abgebrochen werden möge, ehe die verderbten Sitten der civilisirten Völker diese unschuldigen Leute anstecken können, die hier in ihrer Unwissenheit und Einfalt so glücklich lebell.«70 Die Südsee-Bewohner haben Cook dennoch durchweg günstig beurteilt und seine schonungsvolle Freundlichkeit gelobt. 71 Sein Tod auf Hawaii war,jc nach Sichtweise, ein Unfall oder die zwangsläufige Folge eines interkulturellen Mißverständnisses, auf jeden Fall kein antikolonialistischer Tyrannenmord, und so wird es in der Region selbst bis heute meist gesehen. Zu Cooks fortwirkender Faszination gehört der Pioniercharakter seiner Unternehmungen am Beginn einer Epoche der wissenschaftlichen Erkundungder Weltmeere, die bis etwa 1840 reicht. Die Cookschen Reisen waren keine Wagnisse unabhängiger Einzelgänger wie gleichzeitig oder wenigspäter die Reisen von Jamcs Bruce zu den Quellen des Nil (176g.....73) und von Alcxander von Humboldt nach Spanisch-Amerika (1799-1805), sondern aufWendige und kostspielige Projekte des britischen Staates. Wenn er gesollt und gewollt hätte, wäre es Cook vermutlich cin Leichtes gewesen, englische Südseekolonien oder zumindest Missionsstationen zu gründen. Das unterscheidet das Cooksche Muster vom Japanischen. Auch dort sahen wir sozusagen lIreine« Entdeckung ohne kolonisatorische Beimischung. Freilich aus ganz anderen GrÜndcn. Der hochgerüstete japanische Feudalismus, verbunden mit so c{Was wie einem unerschütterlichen Nationalgcftihl, ließ eroberul1gswütigen Ausländern kcinc Chance.
VII. Im Spanl1ul1gsfc1d zwischen Entdeckung und Eroberung lassen sich zwischen dem 15. und dem 18.Jahrhllndert fiinfverschieden kombinierte Mustererkennen. Weitere wären denkbar, etwa das Siedlertum in Südafrika und in Nordamerika, eine Situation der landnehmenden Grcnzverschiebung mithin, dic 69 Vgl. etwa flir Gcorg FOrslcr: E. &rg, Zwischen den Wehen. Über die Anthropologie der Aufklämng und ihr Verhältnis zu EllIdcckungs.Rcisc lind Weh-Erfahrung mit besonderem Blick aufdas Werk Georg Forsters, Ikrlin 1982. 70 C. FofJft"f. Werke. Sämtliche Schrifl(:n, Tagebücher, Briefe. Bd. 2. ßcrlin 1965, S. 254. 71 Vgl. CQlllpbcll, History of Ihe Pacific Isl:lllds, S. 55.
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weniger zur Conquista lateinamerikanischen oder indischcn Typs als zur Verdrängung der Einheimischen Hihrte. Ganz schematisch Icmn man die ninfTypen so charakterisieren: I. 2. 3. 4. 5.
Entdeckung plus unverzüglicher Eroberung: Süd- und Mittelamerika. Entdeckung ohne Eroberung im Kontakt mit .Wilden«: die Südsee. Entdeckung ohne Eroberung im Kontakt mit .Zivilisierten«: Japan und China. Eroberung ohne zeitlich präzisierbare Entdeckung: Indien. Weder Eroberung noch Entdeckung: der islamische Raum.
Die Geschichte hat uns den Gefallen getan, eine Epoche säuberlich abzuschließen und eine neue akkurat zu eröffnen. 1798 erobert Napoleon, um den Erzfeind England an seincr mittelmeerischen Flanke zu treffen, das islamische Ägypten, ohne es zu kolonisieren. Ihn begleitct ein Stab von mehreren Dutzend hochkarätigen Gelehrten alls vielen Disziplinen. Napoleon will ein lebendes Archiv seiner Heldcntaten anlegen. Zugleich soll der Fcldzugwissenschaftlich organisiert werden. Vor allem will dcr Korse die ägyptische Oberschicht fur sich gewinnen, indem er zu beweisen versucht, daß er rur den Islam lind nicht gegen ihn kämpft. Landeskunde steht im Dienst von Propaganda und Machtpolitik. Die Forschungsarbeiten, die der General in gTößtem Stil in Auftraggiht lind die in der gigantischen .Oescription de I'Egypte«n münden, fuhren zu einer zweiten Entdeckung eines Landes, das im Norden Z'>.V3r geogr-aphisch bekannt, aber von Mythen unl\'voben war. Als erstes außereuropäisches Land liegt Ägypten vor den Augen der fongeschrinencn europäischen Wissenschaft wie ein aufgeschlagenes Buch. Gcnau hier sind die Anfänge des modenlf71 imperialistischen Bewußtseins greifbar: in der Verbindung von Macht und Wissenschaft, beim GeneT31 der Französischen Hevolution im Kreise seiner Professoren vor der Pyramide von Gizeh.7)
72 Erschi~n~n zwischen 1809 und 1828 in 23 Binden. Die BildtafC'ln des Wcrkes slIld nachge. druckt word~n: Ikscnpuon
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9. Kulturelle Grenzen in der Expansion Europas
I. Kulturkomakt Die frühen europäischen IIEmdeckerll dcr übersceischen Welt und dic philosophischcrcnllnter ihren Eroberern, Heman Cortes zum Beispiel, waren sich der Tatsache bewußt, nicht auf transhumanc Fabelwesen odcr auf unstrukturierte Primitivität gestoßcn zu sein, sondern auf menschliche Kollel.."tivc, deren Lebcnsführung Zusammenhang und Regelhaftigkeit erkennen ließ, kurz: aufandere Kulturen. I Gelehrte der Hochrenaissance wie Jose de Acosta, der Verfasser einer lIHistoria natural y moral de las Indiasll (vollendet 1590)2 und Maueo Ricd, der erste unbefangen analysicrcnde europäische Auge'lZeuge der chinesischen Zivilisation,) vermochten den systemischen Zusammenhang einer nichteuropäischen Kultur zu erkennen und wurden so zu Vorläufern oder Begründern einer komparativen Ethnologie. Aber schon aus den ersten Kontakterfahrllngen entstand vielfach der Eindruck, die Fremdartigkeit der Anderen sei nicht allein ci ne Zerrspiegelung des Eigencn, nicht bloß Ausdruck einer absurd verkehrten, die natürliche Ordnung pervcrtierenden Welt; sie sei vielmehr mit durchaus komplexen Sinngcbungcn verbunden. Wie diese zu bewerten seien, blieb eine zweite Frage, die von Anfang an in der Spannung zwischen Relativismus und Universalismus strittig beantwortet wurde. So ließen sich die Menschenopfer der Azteken schon im 16. Jahrhundert nicht nur als Verbre-
I Im folgenden wird ohne eigenen Definitionsversuch ein weitgefaßter nicht-normativer und pluraler Begriff von KulturlKultllrell im Sinne der Amhropologie verwendet. gcm.uer: im Sinne der dritten von drei I-Iauplrichtungcn des Verständnisses von .Kultur.: als Akkumulation von Wissen, als Ensemble von Instilutionen, als kollekrivelllworfener, verbindlicher SinnkOSIllOS. Diese Umerscheidung nach R. G. D'Audrtltk, Cultural Meaning Systems, in: R. A. SIllIlf'drr u. R. A. LcVi"r (Hg.), Culture Thcory: Essays on Mind. Seit: and Emolion, Cambridgc 1984, S. 88-119. hier $. 115.•Zivilisation. wird davon nicht Icrminologisch scharf ullIcrschit-dell. Vgl. dazu als bcgrifTsgcschichtliche Begründung). Fisch, Zivilisalion. Kulmr, in: O. BrWlIlff u. a. (I-Ig.), Geschichtlichc Gnllldbcgriffe. HiSlOrisches Lexikon zur politisch-sozialen Spr:achc in DeutsChland, Bd. 7, Stuttgart 1992, S. 679-n4. bcs. S. n1f: 2 ). dr AtOSIa. HislOria mlllral y moral de las Indias, hg. v. E. O'Gomro", Mexioo-S13dt 1962. Vgl. zum Werk und seinem Autor: A. Pllgdell. Thc Fall ofNalUral Mall: Thc American Indian :lI1d Ihe OrigillS ofComparativc Edlllology, Cambridgc 1982. S. 146-197. 3 Die maßgebcnde Tcxtgrundlagc iSI P. d'Elio (Hg.), Fomi Hicciane. Documellti originali cOllcemanti Maueo Il.icci e la storb. delle prime Relazioni lra l'Europa e la Cina (1579-1615), 3 l3de.. \{Olll 1942149.
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ehen, die »über das Maß anjeder menschlichen Verderbdleit hinausgehen~ und hinreichende Gründe rur einen Ullterwcrfungskrieg lieferten, interpretieren Uuan Gines de Sepülveda),4 sondern schwächer auch als ein eher aufVerstandesträgkeit zurückfiihrhares Mißverständnis des gönlichen Naturgesetzes (Francisco de Vitoria)S oder verständnisvoll als »wenig mehr als irregeleitete Frömmigkeit« (Bartolome de las Casas).6 Um die fremden Sinnwelten zu erschließen, wandten die Europäer eine transkulcurelle Hermeneutik an. Diese konnte unterschiedlichen Zwecken dienen. Heman Cortes, wie Tzvetan Todorov ihn ponrätiert, vermochte seine militärische Schwäche gegenüber der Aztekenmacht dadurch zu kompensieren, daß er urteilstrübende und handlungshemmende Rigiditäten im aztekischen Weltbild durch ein vinuoses Spiel mit Symbolen rur sein unbeirrt verfolgtes Eroherungszic1 instrul11emalisiene.1 Missionare gingen bei der spirituellen Seelen nah me im Prinzip ähnlich vor. Ihrvornehmstes Medium war die Sprache. Sie erlernten einheimische Idiome, um sich in ihnen predigend verständlich zu machen und, unterstützt durch den Einsatz bild lichen Materials, ein religiöses Detttungsmonopol zu eriangen. B Don, wo sie, wie in Japan und insbesondere in China, aufwiderständige Eliteku!turell stießen, unternahmen sie heroische Anstrengungen philologischer Gelehrsamkeit mit dem Ziel, durch behutsame »Akkomodatiolltt Elemente des chrisdichell Glaubens in die Diskurse der selbsrbcwußtell Gastzivilisationen hineinzuschmuggeln.'} Meist, aber keineswegs immer gelang es, die hermeneutischen Voneile des Europäers erfolgreich auszuspielen. Der Tod von Kapit.'in James Cook in der KealakekuaBlicht am 14. Februar 1779 ist, selbst welln man einige der Einwände gegell Marshall Sahlins' berühmte Interpretation gelten läßt, ohnc Zweifel durch Fehlinterprctationen hawaiianischcr »Zeichentt ausgelös[ worden, dic dcm sonst so urtcilssichercn Entdecker-Ethnographen ullterliefell. 1o 4 j. G. J( Srprill/roll, Dcmocrates scgundo 0 0" lasjUSt;lS c.:HlS3S de Ia gU('JT:I cOlHn los Indi(V-, IverfaßI CI. 15441. zil. nach C. S,roM'uki (I-Ig.). Der GrifTllach der NeueIl Welt. Der Umergangd('r indianischen Kulturen im Spiegel zcilgCllössischerTcXlc, Frankfurt a.M. 1991, S. 210-269. Zit:lt S. 239. 5 Vg!. Pagdnl, The Fall ofNanmd Man. S. 90. 6 Ebd., vg!. auch S. 143-145. 7 Vgl. T. TOJOroll, Die Eroberung Ameribs. Das Problcm des Andcren. dt. v. W. Uöhringer. Frankfurt a.M. 1985, S. 69fT. 8 Vgl. S. Gmzi,rslou. u. colonisatioll de l'imaglnairc: Soci6cs indig?:ncs Cl occidcllIalis;ttiol1 dans Je Mexique cspa~'nol XVk-XVIlle sil'c1e, Paris 1988. S. 15fT. 9 Zur UcdCUlllllg von SprachslUdieIl air die europäische Expansion vgl. W. Rt'illluJr(J. Sprachbeherrschung und Wehherrschafl. Sprache ulld Spradm1issclischafi in der europäisclwll Expansi011. in: /)(T1. (Hg.), Humanismus und neue Weh, Wcilll1"im 1987. S. 1-36: R. Wmdt (Hg.). Wege durch Babyion. Missionare. Sprachsmdien und illlerkulturclic KOlTll1lunibtion. Tübingen 1998. 10 Alkrdin~ ..s hauen Cool. lind seine Bcg1eilerdie größlen Schwicrigkeitcn der KOT11l1lunibtiOll in der lkb"Cgnung mit Australil'rn und Tasm:miern, welliger mit den Ikwohnern Hawaiis. di" dem Kapitän zum Verhängnis wurdell.
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Es bedurfte also nicht erst des modernen anthropologischen KulturbcgrifTs, der den distinkten Ensemblecharakter von Symbolen, Verhaltensregcln und materieller Existenzsicherung betont, um unter Europäern die Einsicht zu fOrdern, daß man nicht mit einem "villkürlichen Chaos, sondern anderen Ord"''''gen menschlicher Lebensgcstaltung konfrontiert war: seien es nun diejenigen von schriftlosen ltWilden«, schrifthcsitzenden .Barbaren!! oder gar andersartigltZivilisiertentc. Schon viele Praktiker der Exl'ansion erkannten also, was ihre Historiker erst langsam lernen sollten: Die Ausbreitung von Europäern über den Globus ftihrte zu Kuhurkontakten mannigfaltiger An. Die europäische Expansion, von ihren Wirkungen her betrachtet, war ein umfassendes Phänomen interkultureller Begegnung. 11 Die Überseegeschichtsschreibllng hat dies lange nicht hinreichend gewürdigt. Als Entdeckungsgcschichte war sie auf die Taten heroischer Einzelner fixiert, als Kolonisatiollsgeschichte auf die Leistungen siedelnder und staatengründender Gemeinschaften, als Kolonialgeschichte auf politische Form und wirtschaftliche Flinktionsweise von Kolonialreichen, als Imperialgeschichte aufdie Auseinandersetzungen der Großmächte im Zuge der Globalisierung europäischer Politik. ZlisLindig flir Kulturelles war überwiegend die Missionsgeschichte, diejcdoch bis in die siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts hinein einem engen Evangclisierungsparadigma verhaftet blieb und die über Christianisierung hinausweisenden Aspcl"1e eines von Missionaren geplanten oder ungewollt in Ganggcsctzten Kulturtransfers nur beiläufighehandelte. Von der neuen Differenziertheit, welche die Exl'ansionsgcschichte während etv...a der letzten heiden Jahrzehnte erlangt hat,I2 hat eine kulturgeschichtliche Perspektive bis vor kurzem, als die Analyse »kolonialer Diskursetl in den Vordergrund trat, wenig profitiert. Nur im Falle Lateinamerikas, wo seit den ftühen achtzigerJahren der überkommenen Vorstellung von der ltEntdcckullgAmerikaStl mit politischem Nachdruck der Begriff der ltBegegnung zweier Welten. (encllemro de dos mundes) entgegengesetzt wurde, U hat sich ein breiteres Arbcitsfcld interkultureller Beziehungsgeschichte elln....ickelt. 11 Ulller Expallsion soll hier, d{,11\ f1blichell Spnchgebnuch folgend. die iibcnceische Ausbreitung von Europ:iern seit Kolumbus versulldell werden, Daß freilich schorl ill1 Mittelalter dem Prazeß des Vordringcns in P{'ripheriel1l11af%,-cbend{' Bedeutullg bei der homogenisierenden For1l1ierungdes christlichen Europalllkomml. iSineucrdinßS, von Mediävislen bckrlftigl worden. vor allem VOll R. Bar/ittt. Thc Malcillg ofEuropc: Collqucst, Colollintion alld Cuhunl Change. 9501350. Londoll 1993. Vgl. auch die universal hIstorische Imerpreuton mittelalterlicher Exp.msionsvorgä11b'C bci A. R. l...n4tU. Nornads and Crusadcrs, A.D. 1000-1368. Bloolnillgtoll 1988. 12 Eine Summe di~r Ileuerell Forschung ZK'IIIl-V. Rri"hard. Gescilldlle der eu~ischen Exp.!nslon.4 Ikk.. Sttlttgan 1983-90, 13 VgI.1-I. PidKhlPlD,m. Die Ibcrisdl( Expansion in Amerika in der neue ren Forschungsdiskussion. In: Penplus. Jahrbuch für ;lUßcreurop:hschc Gcschichlc.Jg. 2. 1992. S. 72-3). hier S. 72; l-v. L &nt«ktT.• Ibuchender Spiegel•• DuJublUurn der .Emd«kung_ An\('rlkas 1111 Wtclersueil der Melllungm. in: IV. Rrinlusrd u. P. W.dd""'nPl (11g.). Nord und Süd 111 AnlC"nb. GcmclßsamkcilCTl - GcgcnsitzC" - curopilscher Hllllcrgrund. Frciburg I.Br. 1992. ßd. 2, S. 1299-1316. hier S. 1302f.
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Die Gründe fur den rel:aiven Rückstand liegen in den Widerspenstigkeit des Sache: Erstens fordert interkulturelle Beziehungsgeschichte im Idealfall von Historikerinnen und Historikern eine bikulturelle Kompetenz, das Vennögen also, die Perspektive nicht allein der Entdeckenden, sondern auch die der Entdeckten (und meist rasch Erobenen) einzunehmen"· Zweitens sind kulmrelle Phänomene eigensinniger. lokaler, partikuldrer, schwieriger einem strukturierenden Zugriff zu unterwerfen als etwa die Zusammenhänge des interkontinentalen Handels oder des organisatOrischen Aufbdus kolonialer Staawppante. Drinens machen sich konzeptionelle Defizite besonders nachteilig bemerkbar. Die anspruchsvollere Win:schafts- und Politikgcschichte der europäischen E.xpdnsion kann von einem Idecnbesrand profitieren, der, gemeinhin unter dem Titel »lmperialismllstheorien41 subsumien, sowohl »große« Theorien der Wcltemwicklungals auch fiir Spczialfragen der Expansionsgeschichte begrenztere Erklärungsmodelle (»Sozialimperialismus«, Itunruhige Grenze«,ItKollaboration 11, lIsw.) bereithält. Ähnliches fehlt für das, was man pauschal und vorläufig als lIkultu reHen Imperial ismusll bezeichnen iGtnn. 15 Soll ein Rückfall in eine bloß illustrierende, ihr bildkräftiges Material sto(Thllberisch auf den bunten Effekt hin arrangierende Kllltllrgcschichtsschreibung vermieden werden, so sind umf.lssende und kritisch auswählende Sichtungen des Theorieangebotes, wie es vornehmlich von der Kulturanthropologie, daneben neuerdings auch von der Literaturwissenschaft bereitgestellt wird, unerläßlich. Angesichts dieser Schwierigkeiten hat ein kulturgeschichtliches Interesse an der europäischen E.xpansion zunächst den Weg der UmeTSuchung europäischer Perzeptionen außereuropäischer Gesellschaften gesucht. Die ungeheure Fülle überlieferter Äußerungen von Europäern über außcrokzidenrale Gesellschaften in Reiseberichten sowie in deren Al1thologisierungcn und sekundären Verwenungen, in Akten von Diplomatie und KolonialregierungeIl, dazu ein reiches Bildmatcrial haben hier einen fruchtbaren Forschungszwcig eröffnet. Allerdings stehen Untersuchungen dieser Art in eincm schwer auflösbarcn Dilemma. Suchen sie, aufdem Wcge über die europäischen Quellen zu einem Verständnis realer interkultureller KontaktSituationen vorzudringen, so verstrickcn sie sich, wcnn keinc unabhängigcn Zcugnissc dcr »andercn« Seite herangezogen werden oder wenn nicht mit äußerster textkritischer Vorsicht zu
14 Vgl. crn':l die große SYnlhcsc von Wdtslchl und GCSCllldusbcwußISCIll Im vor- ulld frilhkololllakn ..... mcnjg bei G. Bro/JInJ'Ofl. Book ofrhe FOllnh World: Hcadlllg the NaU\'c AmenC2S through dlCI' Lilcnmrc. Call1bndgoe Im. 15 Oll.' unter diesem Sc:hlab'WOn b'Cfiihncll DiskUSSionen lasscn oft IIlSlonschcn Tlcfgang \'cnmSSC'lI. Em IkupKI dafiir ISt). To".li/Wl1. Cultunllmpenahsm. london 1991. Anregender ISt etw:ll der Versuch Usncss: ~yson Cultunl Decok>mullon. LoodOfl 1978.
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Werke gegangen wird,I6 zirkulär in den Bcfangenheiten der zeitgenössischen europäischen Bcobachtungsquellen. Zieht man jedoch, wie einige Autoren des ltnew historicism«, aus dieser Schwierigkeit den Schluß, europäische Texte über Außereuropäisches überhaupt nicht mehr auf ihren möglichen Sachgehalt hin zu lesen, sie also ausschließlich als Spiegelkabinett okzidentaler Vorurteile und Phantasmagorien aufzufassen, als eine Sonderfonn von Itfictionti, dann verschwindet die Realität des Kulrurkontakts hinter dem Vorhang ihrer textlichen Verschleierung. Was in der Tendenz der wertenden Aussage zu einer ungemildenen Verurteilung europäischer Verblendung fuhrt, resultiert methodisch dann häufig in nichts als deren Verdoppelung: einem Narzißmus, der nicht länger nach der WirkJichkeitsadäquathcit europäischer Fremdbilder und nach ihren realen Folgen fragt, sondern nur noch nach ihren innerteAlUellen Generierungsregeln und ihrem ideologischcn Gdlalt. Selbst wcnn eine solche ltrcduction of eA-perience to the meanings that shape it«17 mit der Brillanz ihrer virtuosesten Praktiker geschieht,I8 läßt sich darauf schwerlich eine Kulturgeschichte der europäisch-außereuropäischen Begegnung aufbauen. Die historische Untersuchung ursächlicher Konukte zwischen Europäern und Nicht-Europäern umer dem Gesichtspunkt ihrer kulturellen Voraussetzungen und Konsequenzen bedarf anderer konzeptioneller Hilfen, als der Itnew historicismlC sie anbieten kann. Ein bewährter Ausgangspunkt ist die Taxonomie von Formen der ItKulturbegcgnungll, die Urs Bitterli vorgeschlagen hat. I') Bitterli unterscheidet t. die »KulturbcrührunglC, d.h. den punktuellen Erstkontakt, Itdas in seiner Dauer begrenzte, erstmalige oder mit großen Unterbrechungen erfolgende Zusammentreffen eincr Gruppe von Europäern mit Vertretern einer überseeischen Kulturti;2Il 2. den aus der friedlichen Kulturberührung oft durch unmittelbare oder von den Einheimischen (venneindich) provozierte Gewalunwendungder Europäer hervorgehenden ItKulturzusammenstoß«;
16 A.JOlla. Zur Qucllenproblematik der Geschidnc Wes12fribs 1450-1900. SlUllgart 1990. S.3OfT. 17 j. E. Totu'1. Intelleetual History after the Linguistic Turn: The AUlOnOnlY ofMeaning and the IlTCducibilityofExpcrie.nce, in: AHflJg. 92,1987. S. 879-907, hie.r S. 906. 18 Für den Ikrdch iOlerkulturdler Wllhmehmung e~ S. Crlm'fflm. Man~k>us Posscsstons: TheWonde.rofthe NewWorld.Oxford 1991. 19 U. Biunli. Die _Wilden_ und die .Zivilislenen... Grundzüge einer Geistes- und Kultur· geschIChte der europ:iisch-übenecisc:hen Begegnung. München 1976, S. 811T.; 1JaJ.• Ahe Welt Neue Weh. Formc:n
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3. als relativ gewahfreiell Dauerzuscand die »Kulturbeziehungll, also >tein dauerndes Verhältnis wechselseitiger Kontakte auf der Basis eines m3chtpolitischen Gleichgewichts oder einer Pan-Situatiol14l.;21 schließlich 4. als selten erreichten irenischen Extremzusund die aus Akkultufationsprozesscn hervorgehende ltKultUiverflechtungtl.Z2 Bitterli benutzt, ohne größere theoretische Ambitionen dann zu knüpfen, diese Klassifikation von Konukttypen, um ein weltweit gesammeltes, zumeist aus einer naiven, also auf die Raffinessen von Diskursanalyse und dekonstruktivistischer Literaturwissenschaft verzichtenden Lektüre von Reiseliteratur geschöpftes Belegmaterial zu ordnen. Innerhalb dieses 'lasters lassen sich dann die Geschichten einzelner Kulrurbegegnungen erzählen. Den Chancen einer durchkomponierten Gt'Satt/tgcschidlt'e der europäischen Expansion muß Bitterli von seiner typisierenden VorgehenS\yeise her skeptisch gegenüberstehen, wenngleich aus anderen Gründen, als die Kritiker von lunaster narrariveslf sie vorbringen. Seine Perspektive ist beltJl!ßt europazemrisch; Kulturkomakte werden vor dcm Hintergrund der europäischen Geistesgeschichte betrachtet. Binerlis einf.lche und einleuchtende Taxonomie, die im Hinblick auf die Epoche zwischen Kolumbus und Cook entwickelt wurde und deren Brauchbarkeit fur spätere Phasen stabiler Kolonialverhälmisse noch nicht geprüft worden ist, unterscheidet Grundformen des Kulturkomakts nach den beiden Kriterien von Dauer und GC'walcsamkeit. Die Skala reicht vom genozidalen Überfall bis zur dauerhaften Symbiose der Kulturen. Die Trennung zwischen Europa und Nicht-Europa, die den Rahmen aller erfaßten Konuktsiruationen bildet, wird dabei als unproblematisch vorausgesc[Zt. Die Abgrenzung zwischen Europäern und den ltAnderentl scheint den Zeitgenossen wie auch dem Historiker unmittelbar evident zu sein. Der Kontakt findet statt zwischen den Angehörigen deutlich identifizieroorer zivilisatorischer Einheiten. Gerade dies jedoch müßte überprüft werden. Differenzen und Distanzen zwischen Kulturell sind historisch variable Größen, Konstrukte wechselnder Selbst- und Frerndwschreibungcn. Aufbeiden Seiten des interkulturellen Zusammentreffens kOllllllt es zu Prozessen von Identitätsveränderung und Gruppcnbildung, von Abgrenzung und Annäherung. Imaginative Entwürfe vom Anderen - »Bilderll kcinest:llls im schlichten Sinne VOll Abbildungen - unterliegen, was auch ßitterli anerkennt, keinem langfristigen Enn....ickJungsgesetz der allmählichen ment:l.lcll Annäherung zwischen Kulturen im Zuge der Herausbildung eines kommunikativen Globalzusammenhangs. Mit zunehmcndem Wissen voneinander kann die Verständnislosigkeit wachsen. Kulturelle Unterschiede, darauf hat Fredrik ßarth in einem einflußreichen Aufsalz hingewiesen, können durchaus trotz intensiver illlerkuhurcller Beziehungen und Abhängigkeiten dauer21 Ebd.• S. 42. 22 BilltTli. Die _WikIen... S. 161-173.
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haft fonbestehen. 23 IlKulwrbeziehung« kann leicht Zum IlKulturzusammellstoß« regredieren. IlBilder« vom jeweils Anderen formieren und verändern sich in einem engen Wechselverhältnis mit den tatsächlichen Umgdngsweisen. Perzepüonen und Imeraktionen bedingen einander auf eine Weise, die nicht in lineare Kausalitätsrelationen aufzulösen ist. Zum Spektrum der Möglichkeiten gehän sowohl die Stabilisierung und lernpathologische Radikalisierung anfanglicher IlMißverständnisselC im Sinne von 'IIself-fulfilling prophecics«, die Umsetzung also von Differenzwahrnehmungen in Differenzierungspraktiken, als auch umgekehn die nachträgliche Ideologisierung konkreter Macht- und Herrschaftsverhältnisse; bcides läßt sich etwa an den verschiedenen Ausprägungen von Rassismus beobachten. Urs Binerlis Typologie von Kulturbegegnungen im Zuge der neuzeitlichen E.xpansion Europas kann in dreifacher Weise weitergedacht werden: in Richltlllg auf I. eine Verfeinerung der Mischformen und Übergänge zwischen den Grundtypen, 2. die historisierende Problemaüsierung von Ver- und Emfremdungsprozessen zwischen Kulturell und 3. die flexiblere Zuordnung zueinander von Perzeptionen und Praktiken. Als theoretischer Fokus kann dabei das Konzept der »kulturellen GrenzelC dienen.
11. Drei Begriffe von »Grenze« Die Vorstellung von »GrenzenlC - mit dem semantischen Feld Begrenzung, Entgrenzung, Grenzüberschreitung - gehört zu den schillerndsten Metaphern-Konzepten in den heutigen Sozial- und Kulturwissenschaften, zugleich zu denen, von welchen man sich neuerdings zusammenfassende Oriemierungen in der Gegenwart zu erhoffen scheint. Als Begriff ist sie teils der Philosophie, teils der Geographie entlehnt worden. Gcorg Simmcl, der wiederholt auf die Idhumbedelltung der Dinge und VorgängelC hinwies,2. übersetzte die Vorstellung räumlicher Begrenzung in die Idee der Ilsoziologischen Grenze« und postulierte in einem oft ziüerten Satz: /lDie Grenze ist nicht eine räumliche Tatsache mit soziologischen Wirkungen, sondern eine soziologische Tatsache, die sich räumlich formt.~ Die Systemtheorie, insbesondere bei Niklas Luhmann, sicht die Bestimmung von Grenzen als lIdas wichtigste Erfordernis der Ausdifferenzierung von SystemenlC. 216 Eine solche Grcnzbcstimmung sei nicht 23 F. &nll, Imroduction. in: fXn. (Hg.), Ethnic Groups :md BOllnd:lries: The Soci:ll Organization ofCultural Difference, Ikrgcn 1969, S. 9-38, hier S. 10. 24 G. SimIlIrI, Soziologie. Umersuchungcn üocr die Formell der Vergcscllsch:lfwlIg [19081, hg. v. 0. RllmrnsteJt (= Georg Simmcl Gesallltausg;ioc, ßd. 11), Frankfurt :I.M. 1992, S. 689. 25 EIxI .. S. 697. 26 N. Lulmlllrlll, Soziale Systeme. Gnmdriß einerallgemeineIl Theorie, Frankfurt a.M. 1984, S. 54. lnr. Vgl. die übersichtliche Darlegung bei H. Willkt, SysteTluheorie. Eille Einflihrung in die Gmndprobleme der Theorie sozialer Systeme, Stuug;trt 1993', S. 56-75.
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allein eine analytische Leistung des unterscheidenden Betrachters, sondern werde bereits von den Systemen selbst geleistet. Der Ed1l10loge Fredrik Banh sieht in »boundary maintenance« die wichtigste Anpassungsstrategie einer ethnischen Gruppe; charakteristisch fiir eine solche sei ihr Grenzverhalten, nichl so sehr ihre durch konstante Merkmale beschreibbare kulturelle Substanz.?? Es ist wichtig, sich solche allgemeinen und abstrakten Bestimmungsmöglichkeiten vonllGrenze« zu vergegenwärtigen, wenn man nach den spezielleren Verwendungen des Begriffs als geschichtswissenschafdiche Kategorie fragt. Vor allem drei Grenzformen sind zu unterscheiden, auch wenn sich in historischen Situationen die Reinheit der Typen selbstverständlich nicht durchhalten läßt: die imperiale IIBarbarengrenze«, die nationalstaatliche Territorialgrenze und die Erschließungsgrenze. 28 Die imperiale IIBarbarel/grenze, wie sie sich an der Peripherie des Imperium Romanum, an der durch die Große Mauer gesicherten Nahtstelle zwischen chinesischer Ackerbau- und innerasiatischer Hirtenkultur, in Gestalt der habsburgischen Militärgrenze gegenüber dem osmanischen Reich 29 oder am nordwestlichen Rand Britisch-Indiens (der lINorth-West frontier« gegenüber Afghanistan) findet,30 ist eine defensive Sicherheitszone, durch welche sich Imperien am Punkt ihrer maximalen Ausdehnung gegen zumeist tribaI organisierte, eine hochmobile Kriegfiihrung praktizierende Nachbarvölker zur Wehr
27 &"'1, IntroduClion, S. 14(. Vgl. auch R.)l'lIkins, Social AnthropolOl,01cal Models ofllllerethnic Hclations, in:]. Rtx u. D. MIUOJI (Hg.), Theories ofRaee and Ethnic Relations. Cambridge 1986, S. 170-186, hier S. 170-178. Auch Turners Theorie des Liminalen und des Liminoidell ist in diesem Zusammenh:mgvon Iilteres~: V. Tunm, Vom Ritual zum Theater. Der Ernst des menschlichen Spiels. dt. v. S. M. Schomburg·ScherfT, Frankfurt a.M. 1989. S. 28-94. 28 Andere. wesentlkh kompliziertere Typologien sind vor~schlagen""'Orden, SO etwa in einer noch immer anregenden Abhandlung von S. B. )OIlI'S. Boundary COllcepts in lhe Setling of Place and Time, in: AllIlais of the Association ofAmerican Geographers. Jg. 49, 1959, S. 241-255. Zur GrenzlitCT;l.tur vgl. auch]. OSlCrlUlltlllld, Die Wiederkehr des Raumes. Geopolitik, Geohistorie und hislorische Geogr:lphie, in: NPL.Jg. 43, 1998, S. 374-397. bcs. S. 375-379; Dm.. Raumbeziehungen. Internalionale Geschichte, Geopolilik und historische Geographie. in: W. 1...0111 u.]. OSlmIQI1Inrd (I-Ig.). Internationale Geschichle. Themen, Ergebnisse. Aussichlen. München 2000. S. 287-
308.
29 Die Militärgrenze wurde von österreichischer Seile vielfach als ~Barbuellgrellze. interpretiert. war aber t:.ltsächlich ein Verteidigungsgürtcl gegenüber einem hochorganisierten NachbarimpcriuTIl. Vgl. G. E. RCl/lll'lfbng. Die &terTeichische Militärgrellze in Krootien 1522 bis 1881. Wien 1970;]. NOllzillt. I-listoire des frontieres: L'AUlriche et rErnpire ouornan, Puis 1991. bes. S. 57([ In manchen der neuzeitlichen Imperien treten die drei Grcnzforlllell nebencinander auf. So besonders ausgcpr.igt im Falle des Russischen Reiches. Vgl. D. R. BrolWf (I-Ig.), nllssia's Orielll: Imperial Borderlands and Peoples, 1700-1917. Bloomington, lud. 1997;j. P. LtDoII/lt, The Hus· sian Empire and lhe World, 1700-1917: The Geopolitics of Expansion and Cont:.linment, Ncw York 1997. 30 Die Nortll-West Frontier war allerdings nicht mit durchgehenden Vertcidigungsanlagell befestigt. Sie war ~a zone or belt of moullt:.linOIlS COUlllry of varying width, suclching over a dist:.lncc ofabout 1.200 miles from Ihe Pamirs 10 thc shores of the Arabian ~a•. P. Mtll'Q. A Diclionary of Modern Indian I-lislory 1707-1947. Delhi 1985, S. 525.
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setzen. Diese Grenze kann über längere Zeiträume stabil sein, muß also nicht als Sprungbrett zu weitercn Eroberungen dienen. Sie ist oft durch aufwendige militärische Grenzanlagen vom linearen ~Limes\(-Typ charakterisiert, denen, unabhängig von ihrer tatsächlichen Wirksamkeit, eine hohe symbolische Bedeutung als Trennungslinie zwischen imperialer, kosmisch geordnetcr "Zivilisation\( und frei schweifendem, anarchischem »Barbarentum« zugemessen wird. J ! Trotz ihrer spektakulären Undurchdringlichkeitssymbolik ist die impcriale IlBarbarengrcnzc« in der Praxis meist durchlässig für kleincn Grenzverkehr aller Art; ohnehin stalTeh sie sich diesseits sichtbarer Mauern, Walle und Palisaden in die liefe eines bikulturcll durchdrungenen Hinterlandes. In Phasen, die auf imperiale Expansion und erste Grenzsicherung folgen, kann es zum wichtigsten Zweck linearer Barrieren werden, die MBarbaren.c jenseits der Grenze von denjenigen auf imperialem Gebiet zu trennen, die im BegrilTe sind, sich kulturell zu romanisieren, zu sinisieren, usw..l2 Schon fiir die römische H.epublik ist bemerkt worden, »daß die H.ömer eher versuchten, die Einheimischen in Römer zu verwandeln, als ihre eigencn Leute in verlassene L'lI1dstrichen zu bringenll.l l Ähnliches ließe sich Hir China sagen. Oft dienen One entlang der Grenze als diplomatische Stützpunkte fiir ein lIManagement« militärisch nicht dauerhaft pazifizierbarcr tribaler Nachbarn, die als KJienten in Reziprozitätsverhältnisse eingebunden werden; Ziel solcher Politik ist oft die Transformation von militärischem Gleichgewicht in kulturelle Abhängigkeit. Die imperiale IIBarbarengrcnzc\( ist kein antiquarisches Konzept, Sie ist Anfang der ncunziger Jahre als geopolitische Leitmetapher zum Verständnis der Wc1tlage nach dem Ende des Ost-West-Konflikts wiederbelebt worden: der reiche Norden rcpräscntiere das neue, sich vom Elend des Südens abschottende und sich zugleich normativ auf einen halbierten Universalismus zurückziehende Imperium.J.I Die lIatiotlafstolltlic1le 7i?rriton'algrenze ist dcmgegenüber eine Demarkationslinie zwischen zwei im Prinzip ähnlich organisierten politischen Gebilden. Grenzen sind in diesem Verständnis nicht Distanzierungszoncn zwischen Imperien und ihren Umwchcn, sondern Staatsgrcnzen,35 genauer: durch Ho31 Die - je nach ZlIschreibuug wechselnde - symbolische Bedeutung der Grellzbauwerke betont am chinesischen lkispiciA. Wllldrofl, The Great Wall ofChina: From I-lislory 10 Myth, C'llnbridgc 1990. 32 E. N. Lllllwak, The Grand Str:ltcgy of the n.oman Empire: From the First Ccmury A.I). 10 Ihe Third. Baltimore 1976, S. 78, 33 S. L. Dy50II. The Crealion orthe n.omall FrOlHier, Princcton 1985. S. 5, 34 j.-.c. Rlifitl, L'empire elles nOll\'eaux barharcs: Hllpture Nord-Sud, Paris 1991 (5.225 über den halbierten Universalismus des Nordens). Ähnlich S. Hll/llillgloll, The Clash ofCivitiulions?, in: Foreib'11 Aff:lirs,Jg. 72,1993, S. 22-49, 35 Diesen Grcnzbcgriffverv.'enden die meislen Ikitngc in A. [Hmalldf (Hg.). DClIlSChbllds Grenzen in der Geschichte, München 1991 1. Eine weltweile historische Übersicht über den .ocl.ecoupagc du monde« gibt M. FOlldll'f. FlOms Cl fronti~rcs: Un tour du monde gtopoliliquc, Paris
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heitssymbole und Organe staatlicher Machtpräscnz nurkiene Linien zwischen territorialen politischen Verbänden, oder noch anders: Maximalpunkte durchsetzbarer Jurisdiktions- und Souveränitätsansprüche - spätestens seit dem 19. Jahrhundert in der Regel von Nationalstaaten.J6 Ihre Festlegung erfolgt als Kodifizierung der Ergebnisse von Wanderung, Krieg und Staatsbildung meist durch rechlSformigc Übereinkünfte zwischen Regierungen. Schon der Gcognph Fricdrich Ratzel machte jedoch darauf aufmerksam, daß neuzeitlichI.' politische Grenzen trOlZ mitunter früher vertraglicher Festlcgungsich vielfach erst allm.ählich von .Grenzs2umcn. zu eindeutigen und allgemein anerkannten Grenzlinien pr.izisieren. l7 Ratzel betOnte auch die vielf;iltigen Funktionen der Grenze als _peripherisches Organ. eines zentralisierten Staatsgebildes: .Durch diese Funktionen wird die Grenze zu einem höchst eigentümlichen Organ dcs Gcbictes, das von ihr umschlossen wird, und nimmt zu seinen anderen Teilen eine Stellung ein, die sich durchaus nicht in der Vorstellung erschöpft, daß in ihr die äußersten Punkte des Gebietes gelegen seien.~ Der Grenzc wird damil als randständigcm Raum trotz des Bezugs auf dominierende Zemralstaatlichkeil ein gewisses Eigenleben als Folge lIperipherischer Aunockerung~ zuge· sprochen. Oft sind es solche sch\vächcr kontrollierten Zwischengüncl, an denen sich politische und ethnische Neubildungen ergeben und mitunter zu Herausforderungen fiir die beidcrseitigen Zcntren entwickeln. In Auseinandersetzung mit RatzeI und scinen Nachfolgern in der deutschen politischen Geogr.aphie und Geopolitik haben besonders Lucien Febvre und die französischen Geogr.aphcn Albert Demangcon und Jacques Ance1 ein umfassendes kulturhistorisches Konzept der Z\vischensta.atlichcn Grenze entwickeIt..t(l Neu19912. S. 99-LH: Wnd,.,.n nunter noch P. Cllillumnn lL C. R4Jfrstm. Grognphie des fronuercs. P~ns 1974. S. 82-145. SO\lo'lC ws klassische Werk emes Grenun Ziehenden Pn.ktikc.rs: Si, 1JtomIu Holdilh, Pohtic~1 Fronlicrs alld Uounwry M~king, londoll 1916. 36 Cmndlcgcnd 1'. &hlins. IJoundaries: Tbc Making of France alld Sp~m in the Pyrellccs. lkrkc.ley 1989: fkrs.. N~lUral FrontIers Rrvisitcd: Francc's BounwnesSllIcc lhe Se"c-ntC'Cllth Qntury. 111: Al-lltJg. 95, 1990, S. 1423-1451. F1711th" (Fronts ct froiltlhes. S. 115) weiSt dn:lUfhm, daß im Zciu.lter des ImlX'nallsmus ....'('Itere Typen politischer Grenzcn cntstanden: zwischen KoIOlllen verschiedener Mächte (z.B. Nigcria-lUmcrun), zwischen lksu.ndtl'ikn desselben Kololll· ~Irelchs (z.B. lndicn-lJunm). ZWIschen Kolonien und selbsländlgen Sluten (z.B. Vietmrn·Clu11~). Zu neUl'n kuhurwisscllschafdichen Gesichtspunkten vgl. T M. l.vjl,wll u. H. DoII/IIlIl (Hg.). Horder Idcntitics: Nation ~nd State al IIlIerna60nai Frontiers, Ounbridge 1998. 37 F IWlztl. Polilische GCQbrr:tphic, Miinchen 1897, S. 457-468. Von Grellzs:tlllllcn spricht ~lIchJ. R. V. 1'rr:stOiI. Eillftihrung III die polilische Gcogr.tphie. Milncheil 1975 (eng!. Im). S. 70f[ 38 RtJlZtI. Politische Geographie. S. 510. 39 Ebd.. S.513. 40 Aufdie Bedeutung der französischen Ikllrigc Vl't'ISI H. "'-Itdilk hm: Zur politischen Sozl~l gtsehlChte der Grt'nzen III der Neuzell Europas. 11I: SozlalW1sscnschafdlChe Illfonnauonen Rh Wisscnsch~fi und Umemchl. Jg. 20. 1991. S. 157-163. bcs. S. ISS( 0<15 PK)ni(-rwerk war A. Dr· mlI,t\'"'" u. L Ftbvrr. Lc Rhll1: l'robl~mes d'histOirt' Cl d·&ononue. Pam 1935.: von Feb\Te ~uch .FrorlU~rt'.- Won und Bedeutung (1928(. 11I: Dm.• Oas~'lsscn des HISlorikers. hg. v. U. Rilulff. ßcrhn 1988. S. 27-37.
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ere Beiträge betonen die Ambivalenzen in Begriff und Wirklichkeit zwischenstaatlicher Grenzen (...borders.c, .boundaries.c), deren jeweilige Geschichte aufgefaßt werden könne als-ein komplexes Wechselspiel zwischen Z\vei Grenzkonzepten - zonal und linear - lind zwei Ideen von Souveränität - jurisdiktional und cerritorial.c. 41 Grenzen haben zur Fonnicrung von Identitäten und Gegenidcntitäten Anlaß gegeben; sie sind nicht selten zu Kristallisationssträngen rur besondere Grenzgesellschaften gewordcn. 42 Die ErscllließlltlgsgmlZt! oder I+frontiertl ist die Expansionsgrenze par exccllence. Sie ist in der Regel eine agrarische Sicdlungsgrenze,43 kann aber etwa auch die Form einer Grenze der bcrgbaulichen Ressourcencrschließung annehmen oder etwa als .co11l11lcrcial frontiertl~ oder Urbanisierungsgrenze verstanden werden. 4s Sie ist, anders als die im Grunde defensive und stationäre imperiale ltBarbarcngrenze.c, in ständiger Bewegung, eine ltwandernde Grenzc•. ol6 Die E.'\l'ansion kann durch staatliche Instanzen gestellen oder gefordert werden, etwa mirte1s rechtlicher Garantien rur den landerwerb und in extremen Fällen sogar durch Zwangsansiedlllng. Oft wird sie militärisch abgesichert: Bis zum Ende des 19_Jahrhunderts \varder Kampfan der Indianergrenze
41 So!l1iru. &uTldaries. S. 7. Vgl. ;wch D. Non/millI, FrOlltitrn de Fr:lIlce: Oe l'C'Space au terrimire. XYle-XlXe siede. !)ans 1998. 42 Leider gibt es noch keine ncuzcilliche Elll$prechungsolch neuer lIlcdi:ivistischer Ulltersuchun~;clI wie R. Banll'll u. A. MI/(Kay (Hg.). Medieval Frontier Societies. Oxford 1989;A. Goodll1l/ll u. A. Tu(k (I-Ig.). War aud Border Societies in the Middle Agcs. 1...ondon 1992 (bcs. über die anglosch()(tisclle Grenze). 43 D,cs ist die hauptskhliche Bq;rifTs\'erwclldung in der Ku1tu'b'COßl":lphie. Vgl. etw20 1'1.-). NilZ. underschließung und Kulturlandschaftswandel an den Sicdlungsgrellzcll der Erde: Wege' und TIlelTlen der Forschung, in: Göttingc.r Geographische Abhandlungen.Jg. 66. 1976, S. 11-24. Vgl. auch die mit der FfQnuer-ProblelTlatik "erwandee wirtsduftsgr:scillchthchc Fragcs1ellung bei S. Pollan/. Mug;nal Europc: Thc Contributloo of Margi,ul unds sintt thc: Mkklk Agcs. Oxford 1997. bcs. S. 9-17. 44 Die .tradmg fron tiere Ist seit TunlCfS klassischem Aufsatz oft als Merkmal der franZÖSischen Kolollisation in Nordamcnb \'ersanden worden. 1111 Gegensatz zurenghschen .f:mmng fronuer-: F.J. Tl/mN. The Slgnlficance of the Frontier in Amerian History 118931. in: lJtTJ.. The Fromier in Amcrican I-listory. Tuesoll 1986. S. 1-38. hier S. 13f. HeUle WIrd der BcgrifTweil über den ursprünglichen amerikanischen lkzugsbereich hlnaus\'e,,"endet. Eine zentrale Holle spielt erctw20 bei R. AlllU'/l, African Economic Ilistory: IInernal [kvclopmellt alld External Depcndency. 1...ondoll 1987. S. 31-102. 45 Vgl. etwa D. Hamf'r, Ncw Towns in the Ncw World: Im;agt-s and PcrceptiollS oflhe Nine· eecmh-Ccmury Urban FrontIer. New York 1990. Manche andere Men \'on ..frontiefS
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die wichtigste reguläre Aufgabe der Annce der USA. In der Regel geht die eigentliche Erschließungs- und Kolonisierungsdynamik aber »anarchisch. von privaten Individuen und Gruppen aus. Im Gegensatz zum Imperium, das gegenüber den externen »Barooren. das Recht der Eroberung fur sich in Anspruch nimmt und sich oft auch selbst zivilisatorische Missionsaufträge erteilt, beruft sich eine landnehmende Siedlerschaft aufdie naturalistische Vorstellung, »unberührte Wildnis.'" durch Arbeit zurückzudrängen und sich damit einen Rechtstitel auf vorgeblich herrenloses Land, te"a '1III/ius, zu erwerben.-48 Die Existenz von Rechten der Ureinwohner wird bestritten, ihre IIZivil isierunglC oft fur aussichtslos gehalten. 49 Die Erschließungsgrenze als bewegliche lIfrontierlC im engeren Sinne ist noch weniger als die heiden andercn Grenztypen eine dcutliche Demark3tionslinie. In der neueren Grenzforschungwird sie betrachtct .nicht als Grenzlinie, sondern als ein Territorium oder eine Zone gegenseitiger Durchdringung von zwei zuvor getrennten Gescllschaftentt. so Zu einer Fromier-Situation gehören drei Elemente: »ein Territorum, zwei oder mehr ursprünglich voneinander unabhängige Völker und der Prozeß, durch den Beziehungen zwischen den Völkern innerhalb des Territoriums entstehen, sich entwickeln und schließlich zu Kristallisationen flihren ..s l »Frontiers., so heißt es in ähnlicher Tendenz in David J. Webers vorbildlicher Darstellung der spanischen Grenze in Nordamerik3, seien aufzufassen als .Zonen der Interaktion zwischen zwei unterschiedlichen Kulturell, als
47 Daß cr kClIle Spurcn in der Undsch.:l.ft lumerbssc. ISI elll altcr europilscher Topos bc-I der Idcmifik:uion des .Wilden_. Er findel sich schon früh bc-i der Ikunellung der Indl:.&ller. Vgl. etw
S.68. 48 Vgl.). Fi.rlh. Der Mythos vom Ittrt'1l und in Süd:afnla oder Die \"erspJreu: Elllded:ungder Afrilancr durch die Afrik;uncr. in: I-l. DuthJwrdl u. a. (Hg.). Afnb: EllIdcckullg und Erforschung eines Kommcnts. Kölll 1989. S. 143-164. Wtc zih sich der Mythos von der unbewohnten Wildms des vor- und frühkolofll,',llen Amenb biS hcllte III der Gcscillchtsschrcibung der USA b.:h:.&uptel. zel~;t). I-l. Mtrrrll. Some 1llOughlS on Coloni.:l.1 Histonans ;lnd Amerinn Indl.:l.ns. 111: Wilh:.&1ll & M:ary Qumerly. 3rd ser.. Jg. 46. 1989. S. 94-119. hier S. 98f.. 101 f.. 112. 49 Dies gih besonders deutlich rur Nordamerib biS elW,',l zum Bürgerkneg. - ElIle solch brut;)lc N:.&tur:lliisierung von ZiviliS:l.l1onsdifferenzen hat all der östlichen .fromicr~ ßmlfXll eine b'<"rinboere nolle b'Cspiell. Die viel1eiclll bck:lIl1l1eSte neuere Interprct:1rioll des PhänOlllens der .Ostkolo-nisation_ (in einem sehr wcit~n Sinlle) h3t vielmehr gt"r,',lde die ku/wrrllt Tr:.&nsforlll:IflOIl Osleuropu unterstrichen. Vgl. 0. HIIIHki, Europa: Grenzen und Gliederung semer Geschichte. Dmnsudl 1957 (zuerst eng!. 1950). bes. S. 74f[ Vgl. im Überblick: Kbus Zcnuck. ooOslkoloniS:l.tion_ m universalgcschichtlicher Perspc:kti\·c. m: G. Hijbillgn U.;I. (I-Ig.). UlIlveulb'CSoChlchre und N:.&tiolUlgcschlchten. Ernst Schuhn zum 65. GcburtSDg. Freiburg I.Br. 1994. S. 1O~116. Du Problem der kuhurcllcn Grt'nzc Im Osten und Südosten EurOl»S \l,1rd im folgenden nICht \'('rorf, werden. Es ISI schon früh bexhtet worden. efW3 bei). Anrd. Peupln Cl IUllOtIS des B:albns. P.:l.ns 1930. 50 H. Lmuu u. L 11lompson. Comp:l.r.llu\"(, Fronttcr l-hstory. 1Il: Dia. (Hg.). nie FrOlllier in IIISIOry: North Amenca ,',lnd Southcm Afric:l Comp.:l.rcd. Ncw I-bvcn 1981. S. 3-13.lller S. 7f. 51 Ebd.
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Orte, wo die Kulmr der Invasoren und die ihrer Opfer [the invaded] miteinander ringen und im Rahmen ihrer physischen Umwelt eine nach Zeit und Ort spezifische Dynamik hervorbringenc. S02 Im Gegensatz zu einer solch doppelseitigen, anthropologisch imeressierten Grenzauffassung. die voraussetzt, daß eine wandernde Grenze unweigerlich auf die eigene Grenze einer lwdfrt" Zivilisation stoßen wird, nahm die ältere Geschichtsschreibung in der Nachfolge FrederickJackson Turners ausschließlich die Perspektive der siegreichen Weißen ein. Turner sah die amerikanische Fromier lakonisch als IIthe meeting point bctween savagery and civilizationll und als tierin die IIWildnis« ausstrahlende Zerstörerin der "primitiven indianischen Lcbensweise4l. s3 Ihn imeressierte nicht die zwischenkulture1le Grfllzgesellschaft, sondern die weiße Grenzfrgesellschaft, in der sich, die gesamte Nation beeinflussend, die Eigentümlichkeiten Amerikas ausprägr:en. 5ot Die Turnersche Vorstellung von der voranrückenden Pioniergrenze ist zur vielleicht bildkräftigsten Metapher der europäischen Wclteroberung geworden. Walter Prescon Webb. einer der frühesten umwelthistorischen Interpreten der amerikanischen Fromier, gab dem Konzept der ltGreat Frontier41 eine universale Bedeutung und erkJärte das neuzeitliche Westeuropa zur globalen Metropolis. die ihre Grenzen in Übersee suche.~ Diese Denkfigur übernahm der Soziologe hnmanuel Wallerstein in den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts in seine historische Theorie des »modernen Weltsystems". Die wichtigste Funktion der Außengrenze dieses zyklisch expandicrenden Systems bestcht, Wallcrstein zufolge, in dcr Illnkorporation« bisher unberüluter Zonen in die globale Arbeitsteilung. Eine solche Einvernahme ist nicht nur mit einer sozialäkonomischen Umwälzung in dcn erfaßten Gebieten verbunden, sondern auch mit dem Umbau ihrcr staatlichen Strukturen, in der Regel der Aufzwingung kolonialer Herrschaft. 56 Deutlicher als Wallerstcin hat schließlich der ftihrende amerikani-
52 D.J. Wtbtr, The Sp:mish Frontier in Nonh Ameria, New I·laven 1992. S. 11. 53 Tumn, SigniliC2llce, S. 3. 13. Eine besonders einflußreiche Fommlierung Turnerscher Onhodoxie ist R. A. Bjl/jngroll, Westwud Expansion: A History of lhe Americ:an Frontier, New Vork 1982s. 54 Die Kritik an Tumer setzte allerdings schOll bald nach seinem Tod im Jahre 1932 C'in. Die heutige Forschung zur ameriunischen Frontier - vgl. als Synthese: C. A. MillU:r u. a, (I-Ig.), The Oxford History ofthe Americ:an West, Ncw Vork 1994 - baut vielfach aufsolchen frühen Alternativen zur Tumer-These: auf. Vr).J. M. F.mJgMr, The Frontier Tn.il: RethinkingTumerand neima· gining dle Americ:an West, in; AHn.Jg. 98, 1993, S. 106-117, hier S. 109. Zur T umer-Diskussion vgI. auch die kritischen, originell v,'t'itt:rfilhrenden Übersichten bei D. Worstn, NC'W West. True West: Intt:rpreting tlK nt'ßlO"'S History, in; Western Historic::al Quanerly.Jg. 18. 1987. S. 141-156; W. Cronotl, Revisiting the Vanishing Fronuer: The Lcgxy of Frederick Jackson Turner, in; ebd., S.157-176. 55 W P. Wtbb, Tbc Greal Frontic:r, Austin 1951, S. 7( 56 Eine besonders prigname Formulierung bei I. WalJmuin, The Politics of ehe World-EconOIllY; The SQtes, ehe M~mems and ehe CivJlizations, C~mbridgc 1984, S. SO(
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sche Universalhismriker der Gegenwart, William 1-1. McNeill, seine Überlegungen zu einer welcweitenllGreat Fromien in die Tumer-Webbsche Tradition gestellt.S7 Er definiert die Erschließungsgrenze insofern enger als Wallerstein. als er darunter nicht jede Einbeziehung marginaler Gebiete in das von Europa geforillte kapitalistische Weltsystem versteht, sondern nur die Ausdehnung europäischer Kontrolle über dünn besiedeltes Land zum Zweck seiner unmittelbarcn Nutzung; dies zog in der Regel Formen VOll Arbcitszwang nach sich, wie sie in der europäischen MctTopolis selbst nicht länger vorkamen. Sll McNeil1 geht indes dadurch über Wallcrstein hinaus, daß cr die kulturellen Aspekte der E.xpansion zumindest 30m Rande bedenkt. Die Erschließungsgrenze war eine Front kulturellen Anpassungsdrucks und kultureller Zerstörung. Der -drastisch einseitige Charakter der kulturellen Begegnung, der entlang der Grcat Fromier vorherrschte«,59 sei um die Mine des 2O.Jahrhunderts zu seinem Ende gekommen. Der Offensive derokzidcmalen Zivilisation trätennunll1ehr andere Weltkulturen aktiv entgegen.
111. Kulturelle Grenzen Der konkreteste Gehalt des Begriffs der kulturellen Grenze ist deJjenige der Sprachgrenze. Nur die räumliche Verteilung von Sprachverwendllng kann einigermaßen exakt ermittelt und auf KaTten fesrgchalten werden; schon die Geographie der Ileligionen ist ein schwierigeres Unternehmen. Phantasie produkte waren die suggestiven lIKulturgrenzen« des lIDeutschtums«, die die pangermanische Geopolitik der Zwischenkriegszeit enewarf. Deren schJrf.~ter zeitgenössischer Kritiker bemerkt denn auch, die deutschen Geographen seien mit ihrem Bemühen um die Spiritllalisierung von Grenzen .Meister in der Kunst der Kartographie des Ungreifbaren« gcwescn. 60 Der im folgenden dargelegte Begriff der kulrurellen Grenze bezieht sich nicht auf flächige kulturelle Kolonisation und die daraus abb'Cleiteten nationalpolitischen Herrschaftsansprüche, sondem in einem umfassenden Sinne aufdas Problem der Konstruktion von Differenz zwischen zivilisatorischen Einheiten. So gesehen kallnjedcf der drei gcschichtswisscnschaftlichcn Grcnzbegriffc mit Konllot'atiollcn k\lltu-
57 IV. 11. M(NriJl. Th~ Gr~..t Fromi~r. Fn'Cdom ..nd I hcruchy in Modern TinlCS lzuerst 1983J. 1II: Dtn.. Th~ GIol»I Condiuon: Conquerors. Dustrop~...nd ComJllunlty. PnIKe10tl 1992. S. 3-63. 58 .Bef()f"e 1750 the- ft«dolll .. nd ~whty W(' Ii~ tO USOCUte- wnh fronuer hfe- ....'Cr~ mUg'ln..1. TIlC' IIOflll .......5 ~nsla\'~mcnt SIIICC only 1I1 dlal W'2ycould thlllly POPUb.IOO frontlC'f lands partlClpnc
..cti\·c1y in the world ll1ark~l. .lind. ifnced bc:. also Sustalll .. cosdy military establlshmcnt... Ebd.• S.
33. S9 Ebd .. S. 62. 60 J. AIIlt'/ Gcogr:tphic des frolllieres. Paris 1938'. S. 106.
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reller Unterscheidung aufgeladen werden: Die territoriale Grenze, meist von beiden Seiten her geformt, trennt neuzeitliche Nationalkulturen. Die um ein dominierendes Zivilisationszentrum gezogene imperiale lIBarbarengrenze« vom Limes-Typ ist selber schon sichtbarer Ausdruck einer Kluft zwischen kulturellen Welten. Die erschließende Itfrontier« treibt im Namen von überlegener Naturbeherrschung und höherem Daseinsrecht des weißen Mannes scln.vächere Kulturen, die als Elemente natürlicher Wildnis betrachtet werden, vor sich her. An der Great Frontier der europäischen Expansion - also der universal verallgemeinerten Erschließungsgrenze - kommt es teils zu so etwas wie »kultureller Inkorporation", teils zu Abwehrhaltungcn sowohl der Europäer wie der Einheimischcn. Ökonomische und politische Inkorporation im Sinne Wallersteins kann mit kultureller Abgrenzung und Ausschließung einhergehen. Kulturelle Grenzen verlaufen häufig entlang sichtbarer Scheidelinien: Man überschreitet eine Staatsgrcnze und befindct sich in einem anderen Sprachgebiet. Ebenso oft sind siejedoch unsichtbare Grenzen, wie sie sich in Dcnk- und Verhaltensweisen ausdrücken, nicht aber in Grenzanlagen und Siedlungssäumen. Zu unterscheiden ist weiterhin zwischen den Binnengrenzen einer Zivilisation, also ihrer inneren Strukturierung nach räumlichen Verteilungen, sozialen Lagen, ethnischen Identiuten, Religionszugchörigkeiten sowie GcschlechfSlllustern, und ihren AI!ßellgrell.zetl. Krzysztof Pomian meint beides, wenn er erklärt: »Die Geschichtc Europas ist die Geschichte seiner Grenzcn.«61 Durch die Expansion Europas,jencn Prozeß, der im Zeitalter von Kreuzzügen und Ostkolonisation begann, und im 20. Jahrhundert mit der universalen Verbreitung europäisch-amerikanischer Kulturformen Höhcpunkt und Ende crreichtc, ist die Bcstimmung des Unterschiedes zwischen Europa und NichtEuropa zu eincr konstitutiven Frage der Herausbildung eigcner und fremder Idemitätcn geworden. Europäcr beginncn dort, über sich selbst nachzudenken, wo sie auf Zivilisationen trcffcn, mit dencn sie wenig unmittelbar Selbstverständliches verbindet.lr.2 Was »Europa« ausmacht, erweist sich erst aus der Kontrasterfahrung. Umgekehrt bcschränken sich die Reaktionen der Bewohner Asiens, Amerikas und Afrikas nicht auf die polarcn Möglichkeiten von schroffer Abwchr des Europäischen und völliger Kapitulation vor ihm; die machtgcstütz[e Herausforderung gibt vielmehr oft Anlaß zu kulturellen Neubestimmungen. Die Erfahrung des Frcmden ist Voraussetzung rur die Bewußrwerdung des Eigencn. Dabei ist »das Fremde~ kcine der Gcschiclne cnthobene Vorstellung: Was als »andersanig« und lIfremd« wahrgenommcn wird, ist nicht anthropologisch festgelegt, sondcrn kulUlrspczifisch nach Ort und Zcit variabel: Die Chinesen, um ein deutliches Beispiel zu nennen, sil/d 61 K. Pomi.w. Europ:l und seinc Nationcn.lkrlin 1990. S. 7. 62 Vgl. :luch R. WrrnJo1f. Drittt" Weh und wesdichc Zivilis:llion. Grundproblcmc dcr Entwicklungspolitik, Opl:ldcn 1984, S. 413.
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nicht IIgclb«, sie 14If,den es im Auge des frühneuzeitlichen europäischen Betrachters.t.l In Situationen des Kulturkontakts werden Abgrenzungen vorgenommen, die es zuvor nicht gab; zugleich kann es zum Abbau von Grenzen und zu Vorgängen gegenseitiger kultureller Anpassung kommen. IIKultUfZUsammenstoßIl und »Kulturbeziehung«, um an Urs Binerlis Begrimichkeit zu erinnern, liegen dicht beieinander, sie können koexistieren und von einem zum anderen abrupt oder allmählich übergehen. Kulturelle Grenzen stimmen keineswegs immer mit geographischen oder politischen Grenzen, mit "bordersll und Itboundariesl<, überein. Selbst im Ausnahmefall Japans, wo sich Nationalstaat und Zivilisationsraum zu decken scheinen, hat die Ausgrenzung der aufder Nordinsel Hokkaido lebenden Ainu und ihre Distanzierungals das fremdethnische Andere während derTokugawaZeit eine wichtige Rolle bei der Herausbildung des früh modernen Staates und seiner Sclbstau{fassung als Garant ethnischer Homogenität gespielt. bI Erst recht deckt sich das Europa der Historiker nicht unbedingt mit dem der Geographen. 6S IIln der Tat gehen uns Neuyork und Lima näher an als Kiewoder Smolensk«, schreibt 1824 der junge Lcopold Ranke. 6ft Ranke artikulien hiermit anti-russischer, auch ami-türkischer Tendenz - ein atlantisches Se1bstbewußtsein: Amerika nicht als eine lIandere«, eine auch indianisch geprägte Welt, wie sie kurz zuvor Alexander von Humboldt porträtiert h:me,67 sondern als eine transozeanische Erweiterung des romanischen und germanischen Europa. Demographisch und kulturell war das nicht unrichtig beobachtet; ökonomisch wird Wallersteins Idee des lImodemen Weltsystems« vorweggenommen. Das christliche Europa hat sich wie keine andere Zivilisation in die Weh hinaus projiziert. Umgekehrt beherbergte es in seinem geographischen Umf.'lI1g kulturell Fremdes, als nicht-europäisch Aufgcfaßtes: den Islam auf dem osmanisch beherrschten Balkan, namentlich in Bosnien, wo die Islamisierung beträchtlicher Bevölkerungsgruppen im späten 15. Jahrhundert begann, und bis zur Vertreibung der Morisken 1614 auch in Spanien; als Europas ~innerc Wilde« betrachrete tribale Gesellschaften in H.andzonen wie Lappland, dem »celtic fringcll 63 Vgl. ~v. lNrutl. Wie die Chinesen gelb wurden. Ein ßciuag der Frühgeschichtc der lus~n theorien. in: HZ.Jg. 255.1992, S. 625--666. 64 Vgl. D. L. HouJfll. Ainu Ethnicity and Ihc Boundaries oflhe furly ModcrnJapanese State. in: P&P, Nr. 142, 1994. S. 69-93. bcs. S. 72-74. 6S Vgl. auch H.-D. Sc/milZ. Europa als b'COb'f:l.phisches Konstmkl.Jena 1999 (= Jenaer gCOb,,"aplüsche Manuskripte, 20). 66 L. v. Rmlkr. zit. nach E. Srhlilill, Die weltgeschichtliche Erfassung des Orients bei Hegel und Ranke. Göttingcll 1958, S. 160. 67 Vor allem in A. v. Hllmboldf. Essai sm Ic r0Y'lume cle La Nouvclle Espab'11C, 3 Bde.. Paris 1811: sowie in Dm.. Vues de Cordill~rcs, et monumens des peuples illdi~llcs de rAml:riquc. 2 Bdc., Paris 1810. Vgl. auch J. Ostrrllammtl. Alex.andcr von J-1umboldt: Historiker der Gesellschaft. Historiker der Natur. in: AKG,Jg. 81, 1999. S. 105-131.
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(Irland, Schottland, Wales) der britischen Inseln und den östlichen und südlichen Gebieten des Russischen Rciches (Baschkiren, Kalmücken, Krimtataren). Für Reisende des 17. und 18. Jahrhunderts waren umgekehrt dic großen Kolonialmctropolcn wie Batavia Oakarta), Mexiko-Stadt oder Kalkutta, von Boston ganz abgesehen, kaum weniger ~europäisch« in ihrem äußeren Erscheinungsbild als osmanische Städte wic Athen oder Sarajevo, wo die Kirchenglocken schwiegen und allenthalben Minarette anzutreffen waren. Die klassizistische Architektur des Hochkolonialismus bekräftigte dann die zumindest symbolische Europäisierung überseeischer Brückenköpfe mit sichtbarem Nachdruck. Die kulturellen Außengrenzen Europas lagen also durchaus zum Teil auf dcm Kontinent selbst hitlter dessen geographischen Umrissen, während sic in Übersee ungefjhr den Frontlinien von Besiedlung, militärischer Eroberung und kommerzieller Durchdringung entsprachen. Jenseits solcher Kontaktzonen, die sich vor 1800 in Asien und Afrika mit wenigen Ausnahmen 3ufKiistcnrcgioncn beschränkten und in Amerika zumindest bis zur Mitte des 18. Jahrhundert den kontinentalen Kern seltcn erreichten,68 sorgten allein Missionare rur cine punktuelle curopäische Kulturpräsenz. 69 So dramatisch aber in den Erfahrungen und Schicksalen einzelncr Ordcnsmänner im kanadischcn Urwald, in Japan (bis zum Beginn der großen Christenverfolgungen 1614) oder am Hofe des Kaisers von China die Begegnung zwischen christlich-europäischer Kultur und derjenigcn der IIAndcrenll ausgetragen wurde, so wenig kann doch von einer ~Missionsgrenze«gesprochen werden. Nirgendwo kam es während der frühen Neuzeit außerhalb der (iberischen) Kolollialrciche zu dauerhafter Christianisierullg und zur Prägunggrößercr Kollcktive durch säkulare curopäischc Kultureinflüsse.7{l Dies ändcrte sich erst im späten 19.Jahrhundert, als die Mission etwa in China beträchtliche Konversionserfolge erzieltc. Eine Kultur crreicht dort ihre Grenze, wo die ihr eigcl1tümlichen Regeln und Symbole die LcbcnsfUhrung und die Weltbilder der Menschen nicht länger bestimmen. Reisendc machten diese Erfahrung im Übergang etwa von der
68 Vgl. zur Geognphie der frühen ErschließungAmerikas dureh Europäerjetzt umfassend D. w. Mrillig, Thc Shaping ofAmerica: A GCogr
298-329. 69 Vgl. H. Gn'jltda, Welteroberung lind Christentum. Ein Handbuch zurGeschicille der Neu· zeil, Giitersloh 1992. Vorziiglich zur Mission auch die Regionalkapilel A. Hastillgs (Hg.), A World History ofChrislianil)', London 1999. 70 Wie stark eine solche Prägung im kolonialen Rahmen nicht nur in Amerika sein konnte, zeigt das fiir die Kulturgeschichte der europäische Expansion übe...us inSlruktive Beispiel der Philippinen. Vgl. R. Wmdt, Fiesta Filipilla. Koloniale Kultur zwischen Imperialismus und neuer Iden· lit3l, Freiburg i.Br.I997: Dtn.. Kultureller KonOikl, kulturelle Mischung. Die Philippinen unter spanischer und .1I111erik..anischer Kolonialherrschafl, in:). Osta/lammt! (Hg.), Asien in der Neuzeil. Sieben historische Slalionen, F...nkfurt a.M. 1994, S. 47-64.
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christlichen in die islamisch-osmanische Weh oder dort, wo man eine geschützte Kolonialmetropole verließ und sich den Ungewißheiten ihres Hinterlandes aussetzte. An ihren Grenzen verliert eine Kultur ihre Verbindlichkeit. Sie tritt in ein Spannungsverhältnis zu den andersartigen Verbindlichkeiten einer als ~Ifremd« empfundenen Umwelt. Diese Spannungkallll auch in kulturellen Mehrdeurigkeiten aufgelöst werden: 71 im verhältnismäßig sehenen Phänomen eines religiösen "Synkretisl11usll oder-charakteristischer- in der Mehrsprachigkeit und den multiplen Identitäten, wie sie in vielen der großen vormodernen Imperien verbreitet waren. n Angehörige von Völkern, die nicht der mehrheitlichen ethnischen Kerngruppc angehörten, vcnnochten dort zu hohen Positionen in Staat und Gesellschaft aufzusteigen: Deutsche im Zarenreich, Mongolen unter der mandschurischen Qing-Dynastie in China, Angehörige von Balbnvölkern im Osmanischen Reich, Kaukasicr im Iran der Safawidcn. Die kulturelle Grenze trennt vom Fremden. Sie ist meist eine Zone des Übergangs, manchmal eine scharfe Linie. Kulturen unterscheiden sich zu bestimmten Zeitpunkten durch das Maß an Schromleit, mit dem sie sich vom Fremden abgrenzen, durch ihre Exklusivit.'it. Einige sehen eine radikale Opposition - Christ oder I-leide: tertium non datur; andere nehmen Abstufungen von Differenz in Beziehung zur Maßstäblichkeit des Eigenen an, so etwa die alte chinesische Hochkultur, die fein abgewogene Grade des "B:lrbarentums« unterschied;73 wieder andere sind so inklusiv, daß sie Außenstehende mühelos in die Wir-Gruppe integrieren und ihnen Möglichkeiten zur kulturellen und ethnischen Konversion eröffnen. Kulturen variieren in den Kriterien, nach denen sie Fremdes vorzugsweise definieren - religiös als U nglauocn oder Ketzerei, säkular-zivilisatorisch als ßarbarcnrum, biologisch 3ls rassische Minderwertigkeit, usw. Sie unterscheiden sich in der Intensit.'it der Widerstände, die sie dem Eintritt Fremder in den eigenen zivilisatorischen Kreis entgegensetzen, insbesonders dem religiöscn Glaubenswechsel: So sind Religionen, die Ahnenkult oder Reinkarnation betonen, ~geschlosscncr« als solche, die auf individuellem Bckenntnis und der Anerkennung von Schriftautoritätcn bc-
71 Man hai rnrdie Grenze zwischen christlichem und islamischem Spanien von IICultural confusion. gesprochen: A. MalKay, Hcligion. Cuhurc and Ideology on the ute Medicv:lI C:lSlliallGranadi:U1 Fromier, in: BaI1/rtl u. MIUKay (I-Ig.), Medil,.'val Fromier Societics. S. 219-243. hier S. 222. 72 Im OSlTl
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ruhen. Schließlich lassen Kulturen in unterschiedlichem Maße Übergänge, schwebende Zwischenzustände, Ambivalenzen oder mehrfache Identitäten zu. Grenzgängertum und Grcnzüberschreitung in der umgekehrten Richtungvom Eigenen zum Fremden hin -wird teils geduldet, teils scharfsanktioniert: 14 Der Abfall vom Islam galt und gilt als todeswürdiges Verbrechen, während die Ausschließlichkeitsansprüche im Buddhismus viel schwächer emwickelt sind. Britische Kolonialherren hieltcn eine deutlich größere Distanz zu den Kolonisierten als zum Beispiel portugiesische, spanische und selbst holländische: AJs Niederländisch-Ostindien 1811 vorübergehend unter britische Verwaltung b'Criet, zeigten sich die neuen Regenten entsetzt über die asiatisierten IIMestizo manncrsjl der Holländer (und namentlich ihrer Betel kauenden Frauen); die sozialen Gräben zwischen Europäern und Asiaten wurden mit langfristigen Folgen tiefer gezogen. 1S Überhaupt unterschieden sich die europäischen Kolonisatoren durch das Ausmaß, in dem sie gemischtrassige Verbindungen und das daraus folgende Mestizelltum duldeten, sowie auch darin, ob Geld, Bildung oder Macht den Makclllunreinerj( Geburt tilgen und Farbige sozial zu IIWeißen«, Indianer zu Spaniern, Afrikaner zu Franzoscn machen konmen.16 Pauschal gesagt, spannte sich der Bogen von den in hohem Maße (allerdings in Asien stärker als in Afrika) inklusiven Portugiesen bis zu den extrem exklusiven Briten, die bis zum Ende dcr Kolonialzeit von rassistischer Brüskierung etwa jener anglisicrten indischen Oberschicht nicht abließen, der man im übrigen relativ günstige kulturelle und auch politische Entwicklungschancen einräumte. Kulturelle Grenzen sind nicht etwa als selbstverständlicher Bedingungsrahmen von Kultur natürlich gegeben. Sie sind selber als Teil einer Kultur deren Artefakte. Deshalb verändern sich Abgrenzungen historisch. Dies zeigt zum Beispiel die außerordentliche Beweglichkeit von Feindbildern. Es kann VcrFremdungen von vordem friedlich Bcnachbartcm geben wic auch umgekehrt einen raschen Abbau von Fremdheit und ncgativcn Wahrnehmungsstereotypen; die jüngere Geschichte Europas gibt flir beides Beispiele. Im gesamleuropäischen Verhältnis zum Rest der Welt ist im späten 18. Jahrhundert ein neuartiges, nicht mehr aufreligiöse Heilsgewißheit, sondern aufmateriell-zivilisatorische Überlegenheit gestütztes Superioritätsbewußtsein zur Geltungge-
74 Vgl. K.-H. Kolli, _Travestie der Lcbensfonnen. oder _kulturelle Konversion.? Zur Geschichte des kulturellen Übc:rHiufenums, in: CHrs.• Abwehr und Verlangen. Zur Geschichte der Ethnologie. Frankfurt a.M. 1987. S. 7-38. 75 VF).J. G. Taylor. Thc Social World ofOal"via; Europcan and EUl'3sian in DUich Asia. M:ldisoll.Wisc. 1983. S. 100-102; P.J. MafJlla/l. Brilish AsSt"ssments of the DlIIch in Asia in the Agc of rtaffit'S. in: Dm. (Hg.). Comparative I-listory oflndi:l and Indonesia. Bd. 3: India ;l.Jld Indonesia during thc A/lcien Regime, Leiden 1989. S. 1-0. 76 Vgl. G. V. StammeII, The Firsl Imperial Age; European Oversels Explllsion c. 1400-1715, Landon 1989. $.185-190.
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kommcn, das überall die kulturellen Grenzen vertiefte. n Nachdcm sich im früllcn 19. Jahrhundert das von einigen europäischen Intellektuellen - im Gedächtnis geblieben ist vor allem Goethes Programm der 'IlWeltlüeratunc - verfochtene Ideal einer pluralistischen Wcltkultur nicht durchsetzen konntc,78 kam es zur Antiquarisierung und Musealisierung: der orientalischen Kulturen, die sich mit der Abwertung außereuropäischer GegelllVarr.skultur verband. Im späteren 19. Jahrhundert setzte dann der in manchen kolonialen Milieus virulente Rassismus durch eine verstärkte Biologisierung sozialer Distanzen diese Tendenz zur Abgrenzung zwischen Europäern und Nicht-Europäern verschärfend fort. Dies machte sich nicht nur innerhalb des kolonialen Herrschaftsverhältnisses in den »farbigcnll Kolonien selbst bemerkbar, wo sich etwa die Aufstiegschancen von Einheimischen im kolonialen Staatsapparat verminderten, sondern zunehmend auch in den »weißel1l1 Siedlungskolonien, die sich gegen asiatische Überfremdung zur Wehr zu setzen versuchten. Eine hysterische, freilich auch mit politischem Kalkül manipulierte Furcht vor der »gelben Gefahr« erfaßte gegen Ende des 19. Jahrhunderts vor allem pazifische Anrainerländer wie Kanada und Australien (sowie Kalifornien) und fuhrte dort zu einer Politik der rassischen Exklusion, die wiederum zu Protesten von Öffentlichkeit und Regierungen in asiatischen Ländern fiihrte. 79 Als nach dem Ersten Weltkrieg infolge einer langsam einsetzenden Immigration aus den Kolonien der Anteil von Nicht-Europäern an der Bevölkerung der Metropolen allmählich stieg, wurden kulturelle Grenzen und rechtliche Schranken auch in den sich vordem liberal gebenden imperialen Mutterländern -Inder machten immer wieder die Erfahrung, in Großbritannien selbst zuvorkommend behandelt zu werden, nicht aber von den Kolonialbriten in ihrem eigenen Land - verstärkt.~ Dies geschah zu einer Zeit der wissenschaftlichen Diskreditierungvon Ibssedokrrinen;81 aufeine rassisch begründete Einwanderungspolitik blieb dies ohne Wirkung. An einer kulturellen Grenze kommt es, wie diese Beispiele zeigen, zu Grenzverhalten: zu AbgrellzlIlIgspraktikw oder umgekehrt zur Verringerung einer zunächst großen Distanz. Gesellss;-haften steht dabei ein Grundrepenoire des Umgangs mit dem Fremden zur Verfugung:82 77 Vgl. M. Adas. Machincs as the Measurc of Men: Selencc. TechnoIOb'Y. ami IdeolOb>ies of Western Dominance, ithaC3 1989. 78 Vgl. grundlegend: R. Stlwmb, La renaissance orienl':llc. Paris 1950. 79 Vgl. den konzisen Ü~rbliek ~iA. Offir. The First World War; An Agrarian Illterprel':ltion. Oxford 1989, S. 164--175. 19S-214. 80 Vgl. fiir Großbritannien P. B. Rieh. Race and Empire in ßritish Politics. Cambridgc 19902. S. 120fT. 81 Vgl. E. &rkau. Thc Retreal ofScientific Ibcism: Changing Concepts oflbce in Britain aud lhe United StatCS betwecn the World Wars. Cambridgc 1992. 82 Ich greife modifizierend ein Schema auf. das Christoph Marx vorgeschlagcn hat (in: Brtlmill~r u. Bmwillgt'f [Hg. I. Der Umgang mit dem FremdeIl. Anhallg).
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1. seine lllklusjOtl (oder Jmegration): das friedliche, mit keinem Bekehrungsoder Anpassungsdruck verbundene Hineinnehmen des Fremden, wie es ist, unter Sicherung seiner Rechtssphäre: gastfreundliche Aufnahme, strukturelle (nicht unbedingt auch gesinnungsmäßige) Toleranz, ethnisch-kultureller Pluralismus; 2. seine Akkomodatioll: die Herausbildung eines auf gegenseitigem Nutzen beruhenden modus lIilIClldi zwischen selbständig bleibenden Gruppen, die sich lernend aufeinander einstellen, aber ihre jeweilige Idemität im Kern nicht aufgeben; 3. seine Assimifienmg: die Angleichung des Fremden an das Eigene bis mitunter hin zur Aunösung einer eigencn Identität der Fremdgruppe: religiöse Missionierung, weltliche Zivilisierung- nicht immer mit gewaltlosen Mitteln;83 4. seine Exklllsion: die Abschonungdereigencn Gesellschaft durch Abwehrvon Fremden, obrigkeitliche Schließung der Grenzen (so Japan zwischen 1639 und 1854), scharfe ausländerrechtliche und frel11denpolizeiliche Maßnahmcn,Immigrationskontrollen; 5. seine Segregmioll: die Ausgrenzung des Fremden, seine Isolierung von der einheimischen Umwelt - typischerweise unter Bedingungen rechtlicher und materieller Benachteiligung: also Vertreibung, Zwangsumsiedlung, Ghenoisierung, Apartheid, Einrichtung von Reservaten, uS\.v.; manchmal aber auch in konfliktmildernder Absicht die Einkapselungdes Fremden z.B. in Handelsenklaven (wie den chinesischen Treaty Ports des 19. Jahrhunderts), die zum beiderseitigen Vorteil den Austausch zwischen inkompatiblen Wirtschaftskulturen ermöglichen; 6. seine E.wen"itltltioll: durch Pogrome und Genozid (z.B. die fast vollständige Vernichtung der Tasmanicr oder zahlreicher indigener Völker in Nord- und Südamerika), aber auch - schwächer - Kulturzerstörung durch radikale kulturelle ReproZwangsassimilation oder durch Entzug der Chancen duktion der Gruppe (»cuhural genocidc«),84 ein Schicksal, das bis in diejüngsce Vergangenheit etwa den australischen Aborigincs widerfahren ist; A.l1leri-
rur
83 _Assimilierung. wird hier :tls Oberbegrirrrlireine g:mze Klasse VOTl Angleiclmnß!>vorgiingcn ein~,.efiihrt. Üblicher iSI die Verwendung von oAkkultUn.tion. :tls übergeordneter K:lIegorie. Vgl. die Diskussion bei F. HtckFllallll, Ethnische Minderheiten, Volk und N:tlion. Soziologie inter· ethnischer Beziehungen, SUlI!g:m 1992, S. 167-172, S. 176-78. Gegen den Ikgrirrder .Akkultuntion. spricht nielli :tHein der b;lbylollische Dcfinilionswirrwur, der ihn umgibt, sondern :tuch seine Belastung :tls Teil der Ideologie eiTles o:tufgek15rten. Koloni:tlismus in der Zwischenkriegszeit. Vgl. G. Ln/tri", Anthropologie und Kolonialismus, Fr:tnkfurt a.M. 1976 (fn. 1972), S. 52--61. 84 L. 11,ompJ<1It tl. H. LAlIliJr, The North Americ:m :tnd Southern Afric:tn Frollliers, in: LAmar u. Thompsoll (Hg.), Frontier in History. $. 14-40. hier $. 32. D:lS bcbnntesle Ikispiel ist die Politik der tot
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ka und Ozeanien, nicht Asien und Afrika, waren die wichtigsten Schauplätze solcher extrcmen Entwicklungen. Jede dieser Formen kann im übrigen eine reJlexillf Note erhalten, also SclbstImcgTation, Selbst-Assimilierung, auch Selbst-Abkapselung als Schutz vor eincr feindscligen Umwelt. Im Prozeß der weltweiten Expansion Europas haben Europäer jeden der sechs Grundtypen praktiziert: von dcr seltenen Haltung ciner kulturclle Barrieren auf ein Minimum abnachenden Imegrationsbereitschaft bis zum ebenso seltenen anderen Extrem der Herstellung von grenzen-loser Homogenität durch Auslöschung des Frcmden. Zwischenformen und zeitliche Sequcnzen verschiedener Formen - von der Akkomodation zum partiellen Genozid in der Erfahrung der nordamerikanischcn Indianersind air die historische Realität charakteristisch. In manchen Fällen hat die überseeische Welt als Laboratorium fur Verhaltensweisen gediem, die später nach Europa re-importiert wurden.
rv Kontaktsituationen Welche der Möglichkeitcn des Umgangs mit dem Frcmden an der kulturellen Grenze in eincm besonderen Fall in Erscheinung trin, welche also in Verhalten, Handeln oder gar Politik umgesetzt wird, hängt von einer Vielzahl von Faktorcn ab, zunächst von den demographischen Relationen zwischen Selbst- und fremdgruppe und von den inneren Dispositionen derjenigen Gruppe, die mit dem Fremden umgeht. Wichtig ist daneben die Art der Kontaktsituation, vornchmlich die MachrveTteilung, die in ihr manifest wird. Die Spezifik interkultureller Grenzziehung bestimmt sich maßgeblich nach dem, was man das jeweilige Grcnzregime nennen könme. Kulturkontakt ist kaum von den harten Realitätcn des Machtkonnikts, in dcn er in allcr Regel eingebettct ist, zu isolieren. Im Prozeß der Expansion Europas, vornehmlich während der frühen Ncuzeit, findet man vor allem vier typische SitUationen: I. Die Begcgnungeuropäischer Kaunellte, Missionare und Diplomaten mit gesc!l/oSSel/ell Reid,etl (z.B. China, Japan, Korea) führte bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts zu verfestigten Fromen, die sich bereits in der physischen Einschränkung der Mobilität der Fremden ausdrückten. Die Gasrkulturen wahrten ihre politische Souveränität und ihre symbolische Autonomie, bestätigt in der erzwungenen Befolgung einheimischer Rituale durch die Europäer, die nie anders denn als zeitweilig geduldete Gäste verstanden wurden. Kulturelle Grenzen wurden teils stabilisiert (durch Christenverfolgungen oder durch Verbote, Ausländer dic Landessprache zu lehren), teils kontrolliert durchbrochen (die lIHollandstudien.... die in Japan am Anfang des 17.Jahrhunderts begannen, im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts intensiviert wurdcn, und die erhcbliche 224
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Kcnntnissc über Wissenschaft und Tcchnik des Westens erbrachten).8S Die Segregation dcr Frcmdcn konnte gelegentlich durch pragmatische Zugeständnisse seitens der cinheimischcn Machthabcr gemildert wcrdcn, so im HandeIsstützpunkt Macau, der sich frcilich nie zu einem Brennpunkt von Kulturtransfer enC\vickclte. 86 Kulturelle Grcnzen waren als Folge einheimischer Widcrständigkcit in diesem Situationstyp klar gezogen. Sic waren aber kcine wanderndcn Ilfrontiers~ der Verwestlichung, sondern eher exklusive imperiale IlBarbarengrenzcn«, dic bis zur machtpolitischen IlÖffnung~ im Zeitalter des Freihandelsimperialismus von den asiatischen Staaten gegenüber dem Wcsten aufrechtcrhalten wurden. 2. In semi-t.ICnlleablcn m!ßcrcuropäi.stllctl Lii"dcm, also lockerer strukturicrten pluri-ethnischen Agglomcraten, wie vor allem den islamischen Imperien der frühen Neuzeit, standcn Europäer untcr wcniger strengcr Kuratel. Ähnliches gilt fiir große Teile Süd- und Südostasiens. Die vorhcrrschendc Form europäischer Anwescnhcitwar- neben ciner großcn Zahl VOll Einzelreiscndcn (wie sie in Ostasien undenkbar war)81 - dic IlHandelsdiaspora«,8il die unter Umständcn zum Kristallisationskern regionaler wirtschaftlicher Vorherrschaft wcrdcn konnte.8'I Im islamischen Bercich wurden dic altcn christlichen Ostkirchen zwar mit dem Hir Nicht-Muslime vorgesehenen Minderstatus gcduldet, cs gab aber keinen Spielraum fiir die katholische odcr protestantische Mission. Die religiösen Außengrcnzen waren höher, die Barrieren zwischen unterschiedlichen kommerziellen Kulturen niedriger als ctwa in China. Wo ethnisch-kulturelle Vielfalt an der Tagesordnung war, wo etwa (wic im Osmanischen !leich) Griechcn, Armcnier oder Albaner bereits eine große Rolle spielten und es eine gewisse Tradition der Integration von ethnisch und religiös Fremden gab (im Osmanischen Reich etwa durch die Rekrutierung von Militärkadern aus dcm Knabentribut unterworfener christlicher Grenzbevölkerun85 Vgl. T. Yoshida. Ihngaku- Dit' Holländischen Wissctlscll:lflclI, in: D. CroWlJIII u. L. Ltddffl/~ (Hg.),J:lp:lll und Europ:l 1543--1929, ßcrlin 1993, $. 94-106. Die Ambivalenz von Abgrenzung und partieller Öffnung wird dt'utlich in dcn »Neuen Thesen" des jap:lnischen Konruzi:lnen AiuW:l Seishisai. vgl. B. T. WlIkllb<Jyaslri, Anti-Foreignisrn :lnd Western Leuning in E:uly ModemJ:lp:ln: The .New Thcscs. or 1825, C:lrnbridgc, M:lss. 1986. 86 Vgl. W. Ixmtl, Als Fremde in Chin:l. Du Ileich der Mitte im Spiegc:l rrühncuzeitlicher europäischer Heisebericille, München 1992, S. 52-73. 87 Die :lulkrordendiche bhl europäischer Heisender im osmanischen Ileich beleb'1 eine det:aillierte Studie. die allein rur die Zeit vor 1700 0. 450 Reiscbeschreibullgc:n n:lchweiscn hnn: S. Ytrasimos,l.cs vOy.lgcursd:lns l'Empire ottom:ln (Xrve-XVle siccles): ßibliogr.aphie, itinCroliresct invcmaire des lieux h:lbites, Anhrol 1991, S. 9. 88 Zum Ikgriff »tnde di:lspon. vgl. P. D. Gilrlin, Cross-Cultural Trade in World l-liSlOry, umbridgc 1984, 1-3. Eine t'tw:lS :lndt're Deutung des Ph:inomens bei F. MallfD, MerelUni COIlllTlunities, 1350-1750, in:). D. T ml}' (Hg.). The Risc or Mercl13nt Empires: Lollg-Disunce Trade in the E:lrly Modern World, 1350-1750, Cambridge Im, S. 255-286. 89 Dies zeigt:ln einem Beispiel B. Masf~. The Origins orWcstcm Economic Domin:lncc in the Middle E.ast: MerC:lmiliSIll :lnd the Islamic Economy in Aleppo, 1600-1750, Ncw York 1988.
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gen), waren West- und Nordeuropäer weniger unvertraut als in Ostasien. Die geographische Nähe trug zu solcher Vertrautheü bei, der militärische Amagonismus zum Reich des Sultans minderte sie wiederum. Insgesamt geriet fur beide Seiten der »choc de mondes« weniger dramatisch als bei der Begegnung mit Amerika und dem ferneren Asien im 16. und 17. Jahrhundert. Kulturelle Grenzen waren also nicht so sehr sichtbar demarkierte und statische Umrisse fremder Enklaven (wie in Ostasien) als vielmehr von Fall zu Fall virulent werdende kulturelle Distanzen, die durch den Kosmopolitismus des Fernhandels gemildert wurden. Erst der Philhellenismus des frühen 19. Jahrhunderts konstruierte die islamisch-türkische Zivilisation erneut als anti-abendländische Gegenwelt. 3. In kolollialen Herr5{haftsverlliilttlissen 90 verläuft die offensichtlichste kulturelle Grenze zwischen den kolonisierenden Invasoren und der altansässigen kolonisierten Bevölkerungsmehrheit. Die Kanarischen Inseln im spanischen, Irland im englischen Expansionsbereich bieten dafur die Urbilder der neuzeitlichen Kolonialgeschichte. Einen Sonderfall stellen die Immigrantengesellschaften der Karibik dar, deren abhängig arbeitende nicht-weiße Bevölkerung überwiegend aus Afrika zwangsimportiert wurde. 91 Die Grenze zwischen Herren und Unterworfenen kann mit ganz unterschiedlicher Eindeutigkeit gezogen sein. Der Abgrenzungspegel hängt ab von den exklusionistischen oder inklusionistisehen Dispositionen der beteiligten Kulturen, ihren demographischen Proportionen zueinander, von Zweck und Imensitätder Herrschaftsausübung, der Art der naturräumlichen Umgebung, der ideologischen Begründung kolonialer Herrschaft und den Beziehungen der Kolonisierer zu ihrem Munerland.92 In der Regel bilden sowohl die Kolonisiercrals auch die Kolonisierten distinkte, in sich jeweils hierarchisch geordnete Gesellschaften, die jedoch an Nahtstellen miteinander verknüpft sind. Im iberischen Kolonisationsbereich, am 3USge-
90 Vgl. dazu dic definitorischen Überlegungen bei). Osttrllaltlltlel. Koloni~lismus. Geschichte, Formen, Folgen, München 2001 3 , S. 7-28. 91 Vgl. die konziSt' Analyse der karibischen Sklavereigcscllschaften Ixi F. W Ktlighl. Thc Caribbean: Thc Genesis ofa Fragmented Nationalism, New Vork 199()2, S. 66-158. Unter Verwendung neu~Slcr Forschungen: B. 8r('1'1'/011, Caribocan Race nclations. in: S. Dnsthff u. S. L. E",-~rltlall (Hg.), A HislOrical Guide tO World Slavery. New York 1998. S. 11'1-125. Urasihen zeigt eine Verwandtsehafi mit diesem Typ. Ribciro spricht übergreifend von _neuen Völkern" als solchen. >tdic in den letzten Jahrhunderten aus der Vermischung und Akkulluralion von indianischen, afrikanischen und europäischen Elementen als Nebenprodukt der europäischen Expansion cnUlanden sind". Er zähh dazu auch Chilenen und _Groß-Colulllbianer" (d.h. die ßcwollller Kolumbiens und Venezuelas): D. Ribriro, Amerika und dic Zivilisalion. Die Ursachen der ungleichen Emwicklung der amerikanischen Völker, Frankfurt a.M. 1985 (zuerst span. 1969), S. 108 (Zitat), 350, übcrhaupl S. 264-482. 92 Ein ähnliches, erwas einfacheres Fakwrellmodcll verwcndel: R. ~v. Wi,rks". A Systcm of Commands: The InfrastructUre of Race Contacl. in: G. Marlei (Hg.), Studies in British Imperial History: Essays in HOllOur of A. P. Thomton, London 1980, S. 8-48, hiel S. 20ff.
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prägtesten in Brasilien, Chile und dem Nordosten Südamerikas, aber auch in Mexiko, entstanden nach langen Integrationsprozessen relativ einheitlich hicrarchisierte Ilmestizische« Mischgcsellschaftcn, deren Eliten schon in kolonialer Zeit eine (proto-) nationale, die verschiedenen Ausgangsclememe über·.völbcnde Kultursynthese propagienen.93 Die vor allem auf dem Lande lebende indianische Unterschicht, die zwar in irgendciner Weise christianisiert war, aber die spanische Sprache nicht erlernte, bliebjedoch aus dieser gesellschaftlichen Integration ausgeschlossen. Zwischen der kaum akkomodierten oder assimilienen Indiobevölkerung und der spanischen bzw. hispanisienen höheren Gesellschaftshierarchie verliefdie tiefste kulturelle Kluft, die Spanisch-Amerika durchzog. 9oI Erst sie ermöglichte, daß sich eine Identität des »Indianischen« herausbildete, wie es sie vor der Kolonialzeit nicht gegeben hatte. Generell gilt, daß in der KJammerdes kolonialen Herrschaftsverbandes separatc Gcsellschaften fonexistierten, die durch bikulturell kompetente Vermittler. »cultural brokers«,9!l miteinander in Verbindung traten: Dolmetscher, Missionare, sprachkundige Angehörige der Kolonialverwaltung, kommerzielle Zwischenschichten vom Typus des indischen Banian oder des chinesischcn Kompradors,\l6 westlich erzogcne »evolues«. In sozio-kulrurellen Grenzzonen kam es zu Akkomodations- oder gar Assimilationsvorgängen, deren sinnfalligster Ausdruck die Herausbildung von Kreol- und Pidgin sprachen sein dürfte.'17 Kulturelle Angleichung muß dabei nicht notwendigsoziale und ethnische Homogenisierung bcdeuten. Sie kann mit zunehmender Beachtung der Hautfarbe, mit der Insistenz auf lIracial prestige!! und der Errichtung neuer Schranken einhergehen, wcnn sozial aufsteigende Farbige Status, Bildungsprivilegien und Marktpositionen sowohl der kreolischen Oberschicht als auch von llpoor whites« zu bedrohen scheinen. 9t1 93 Für Mexiko zeigt dicsA. PagdnJ, Idrl1tity Formation in Spallish Amcrica, in: N, Ca/lllY u. A. PllgdNI (Hg.), Colonialldemity in the Atlantic World, 1500-1800. Princcton 1987, S. 51-93, bcs, S. 66ff. Eine bcsondersdcutliche Fonnulierungdcr Thcse vom neuartigen ImCßlöltionscharakterder mexikanischCI\ Gesellschaft findet sich bei C. M. MllcLatlrlmr rl.). E. Rodrigl/tZ 0 .. Tbc Forging of Ihc Cosrnic luee: A Rcintcrprct:ltion ofColoni:l.l Mexieo, Bcrkc1cy, Los Angcles 1980. 94 Vgl. C. Gibs~m, Indian Societies undcr Spanish Rllle, in: L. &/IILI/ (Hg.), Thc Cambridgc History of utin Anlcriea. ßd. 2, Cambridb'C 1984, S. 381-414; M. A. Brlrklroldt'T u. L. L. Jo/mS(JlJ, Colonial ulin AmcriC:l., NcwYork 1990, S. 190f. 95 B. Bai/pr u. P. D. Mo.gorr,lutrodllction, in: D;a. (Hg.), SIr:l.ngers wilhin the Realm: Cllimral Margins of the First British Empire, Chapcl Hili 1991, S. 1-31, hier S. 21. 96 Vgl, P, I MllnIJall, Mastcrs and Banians in Eightcemh·CclIIllry Ca!cUII2, in: B. B. K/illg u. M.N. Ptllrsorr (Hg.), The Age ofPartuership: Europealls in Asia before Dominion, I-Iollululu 1979, S. 191-213; Hilo Yt,J.p'illg. Thc Comprador in Ninctcenth-Ccnlury China; Bridge belWCen E:uit and Wt'St, Dmbridge, M:I.5S. 1970. 97 Vgl. S. ROI1Ul;nt, Pidgin and Crcole unguages, London 1988; P. H. MiiltlJlIi'l/sf"" Pidgin and Creole Liuguistics, London 19912. 98 Für historischc Am.lyscn VOll Situationen dieser Art wären die Übcrlcb'llllgcn Ix-i M. &rr/oll, lueial and Ethnic Compclition, Cambridgc 1983, fruchtbar zu machen.
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Kulturelle Grenzen verliefen auch zwischen Segmenten der kolonialen Untertanenbevölkerung. Nicht wenige Kolonialregime verstärkten nach dem IIDivide-et-impera«-Prinzip bestehende ethnische und kulturelle Differenzen oder gaben Anlaß zur Entstehung neuer Gegensätze innerhalb von »plural societies«, in denen ethnische Gruppcn auf dem Markt in Wettbewerb miteinander treten. Die Ethnisierung einheimischer Politik ist vielfach erst ein Ergebnis kolonialstaadichcr Eingriffc gewcsen: des Ausspiclcns begünstigter Minderheiten gegen eine Bevölkerungsmehrheit (wie in Burma),99 der Trennung zwischen IIStämmen«, die zum Teil crst IIcrfunden« oder zumindcst zu Vcrwalrungseinheiten konsolidicrt wurden, und zwischen direkt und indirckt verwalteten Landesteilen, der Vcrtiefung von Konnikten zwischen rcligiös definierten »communities« (wie in Indien).loo Ebensowcnig homogen wie die unterworfene Bevölkerungwardie Front der europäischcn Invasoren. In Rcgionen intensiver inter-imperialer Rivalität - der Karibik, Nordamerika, Südostasien, Westafrika - trafcn katholische und protestantische Mächte aufeinander und bekämpftcn sich auch Konfessionsgcnossen mit oft großer Brutalität, häufig unter Mobilisierung einheimischer Verbündeter. 101 Ein Beispiel dafür sind die Allianzen, die sowohl Franzosen als auch Briten scit etwa der Mitte des t 7.Jahrhunderts und vor allem während des Siebenjährigen Krieges mit nordamcrikanischen Indianerstäm111en eingingen. 102 Die Vorstellung eincr natürlichen zivilisatorischen und/oder rassischcn Solidarität der Weißen, wie sie trotz al1er machtpolitischen Konnikte bei der Aufteilung Afrikas oder der Niederschlagung des chinesischen l3oxeraufstandes (1900) zum Ausdruck kam, ist ein Produkt erst des 19. Jahrhunderts. Kulturelle Grenzcn trennten schließlich auch die überseeischen Siedler
99 Vgl. R. Blas. ~Divide 1.'1 impcrn_? Britische MinderlJeitenpolitik in Burma 1917-1948. StlItigarl 1990. 100 Dies ist ofl d~rgeslellt worden. elWl! bei). Ilffft, A Modern History ofTanganyika. Cambrid~,'e 1979. S. 318 fT.. K &rk. Süml11e im Schalten des Staats: Zur Entstehung adminiSlr.loIiver I-I;tuptlingsrilmcr im nördlichen Sudan, in: Sociologus. Nr. 39, 1989, S. 19-35. bes. S. 25fT.; C. UIlfZ•• Tribalismus_ und Ellmiziüt in Afrib. Ein Forschllngsbcricill. in: Lcvialll:U1.Jg. 23. 1995. S. 115--145; Din.• Die Konstruktion von Ethnizit;tt. Eine politische Geschichte Nordwestghal1as 1870-1990. Köln 1998. Der weitcre ZUS3ll1lllenhang iSI derjenige der SchafTung spezieller SealS· slrukturen fiir die .Eingeborencn_. Vgl. M. Mllmoomi. Citizen and Subjcct. COI1tCIIlPOn.ry Africa ,md the Lcg;lCY of L,lIe Colonialislll. PrmcclOn 1996. S. 62fT. 101 Mcinig beln.chtet in seiner bcnlt'rkenswerten ge<>b'r.l.phischen Interpretation des Imperialismus.a complcx aud unsuble fn.gmentalioTl ofc\lery brood rropial regioll ofimpcrial intcrcst_ generell als chan.k1erislisch fiir die frilhneuzdtliche Expansion Europas. D. W. Mrinig. A Macrogcogrnphy ofWcSlcm Impcrialism: Same Morphologics of MO\ling Fromiers of Politic:al Control. in: F. Galt u. G. H. LmViOtl (Hg.). Seltlcment and Encoullter: Grographical Studies Prescntcd to Sir Grenfell Price. Melbourne 1%9. S. 213-240. hier S. 223. 102 Vgl. vor allem F.jtmli'!js. The Ambiguous Iroquois Empire: The Co\lenarlt Chain Confeden.lion of Indian Tribcs with English Colonies, New Vork 1984: Dm.. Empire of Fortune: CroWIlS. Colonies ,md Tribcs in thc Seven VC:lrs War in America, Ncw Vork 1988.
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(lIKreolenK in einem weiten Sinnc) von ihren HcrkunftsgeselJschaften. Häufig bildeten sich besondere koloniale Idcntitäten unter überseeischen Gruppen in offener oder stillschweigender Abgrenzung von der Kultur des Mutterlandes. In Fällen einer großenteils abscntistischen, die eigenen tropischen Betriebe durch Agenten bewirtschaftenden Herrenschicht, die sich - wie in der britischen Karibik - nicht oder erst spät zu einem stabilen Kreolentum entwickeltc, 10.1 spielte dies kaum eine nolle, und in reinen Beherrschungskolonien ohne ein nenncnswertes permanentes Siedlerelemem (wie z.B. in Britisch-Indien) konnte sich allenfalls ein besonderer esprit de corps der Kolonialbürokratie clltwickeln. 1lW In Sicdlungskolonien hingegen wurde die Abgrenzung von jener Heimatgesellschaft, deren einf.1Che Reproduktion in Übersee zunächst beabsichtigtgewescn war, fiirdic kollektive Bcwußtseinsbildunggcradezu konstitutiv. Immer wieder folgte dabei aufdie kulturelle Entfremdung vom Mutterland die politischc SczessionY15 Dabei verstanden sich die Kolonistcn nur ausnahmsweise, wie die neuenglischcn Puritaner, als Schöpfer einer utopisch visionicrtenllne\V worldll; viel häufiger waren sie Träger traditioneller, im Mutterland bcreits überlebter politischer Vorstellungen und kultureller Werte -nicht nur in der früh neuzeitlichen atlantischen Welt, 106 sondern auch in den afrikanischen Siedlermilieus des 20. Jahrhunderts - in Kenia, Algerien und zuletzt in Süd-Rhodcsien (Zimbabwe).I07 4. WeIche Kontaktvorgängc sich im einzelnen an einer Erscllließlltlgsgrenu (»frontierK im engeren Sinne) abspielen, hängt u. a. davon ab, ob es sich um eine von Ackerbau oder Viehzucht bestimmten Siedlungsgrenze (Britisch-Nordamerika, Südafrika, Australien), eine I-Iandelsgrenze (Pclzhandel in Französisch-Nordamerika),ll18 eine Beutegrellze (im Inneren Brasilicns)IO'l oder eine andere Variamc handelt. Das Voranschieben der Grenze geht oft der Etablierung kolonialer Herrschaftsverhältnisse voraus. In anderen Fällen zieht die
103 Vgl. E. Brutillvaitt'. Thc Dcvclopmclli ofCrcole Society in Jamaica, lnO-1820. Oxford 1971. der Krcolisierung als die Herausbildung einer eigenständigen -.greal tradilion_ definiert. Vgl. als vorzügliche Übersicht: M. era/Olr, RelucullI Creoles: Thc Planters' World in the Brilish West Indies, in: Bai/yrr u.Mo~1I (Hg.). SIr:lllgers within Ihe Healm. S. 314-362. 104 VgI./). Masc/l, The Mell Who Hulcd India. LondOIl 1985, S. 234f[; C. D~wt:y, Anglo--Indian Allitudcs: The Mind ofthe Indian Civil Service. London 1993. 105 L Hanz hat in einem einOußrcichell Buch VOll der .Fngmenlicnlllg der europäischen Kulmr und Ideologie_ gesprochen: Thc Founding orNew Sociclies: Sludies in Ihe Hislory ofthe Unilcd Stiles, Latin AmeriCll. South Arrica, Canada. and Australia. Ncw York 1964, S. 3ff 106 So die These von A. Pagtkll u. N. Cormy, Aftcrword: From Idelllity 10 Indcpcndcnce, in: Dils. (Hg.), Cotonialldcmil)', S. 267-278, hier S. 275. 107 In diescn Zusammenhang gehört auch die kulturelle Grenze zwischen dem burisch und dem britisch geprägten weißen Südafrika, die den .Burenkricg. (South African War) von 18991902 ennöglicluc. lOB Von fur trade fronticr- spricht w,). Ea/ts, Thc Canadian Frontier. 1534-1760, Albuquerque 198J2, S. 103ff
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Grenzkolonisation die Verdrängung der Einheimischcn bzw. dic Segregation verbliebener Minderheitsgruppen in Reservaten nach sich. Eine Froncier-Situation unterscheidet sich von einem kolonialen Verhälmis dadurch, daß diejenigen Völker, in deren Lcbensraum hinein die Grenze vorangetrieben wird, sich nicht durch direkte Fremdherrschaft in ihrer Existenzweise eingeschränl..:t sehen. Sie sind, solange sie jenseits der Grcnze bleiben, im Prinzip im Besitz ihrer politischen Autonomie, also »frei«. Die zersetzenden Wirkungen der vordringenden Ilweißcn~ Zivilisation, die die Völker der »Wildnis« vielfach zu tmfreiwilligen Agenten weltweiter Handelsinteressen machte, stehen außer Frage. Doch hat es über die Grenze hinweg nicht nur Übernahmen in die jeweiligen kulturellen Codes gegeben, etwa Entlehnungen aus dem Vokabulardes Gegenübers,l10 sondern auch pragmatische Anpassungen, welche die konkrcte Grenzsituation unmittelbar bestimmten. So haben die neusecländischen Maori, die chilenischen Araukaner, die Chichimeken im Norden Mexikos und manche Indianervölker Nordamcrikas curopäische Methoden der Bewaffnung und Kriegfiihrung zeitweise erfolgreich ftir die eigene Verteidigung einzusetzen vermocht. Umgekehrt wiesen schon früh weitsichtige Kolonialtheoretiker darauf hin, wie wichtig es sein würde, den Einheimischen die Geheimnisse etwa ihrer landwirtsChaft abzuschauen. 'll Solche Übernahmcn erfolgten aufbeiden Seiten meist selektiv und in rationaler Auswahl: Indianer in Nordamerika zum Beispiel bemächtigten sich des unmittelbar Nützlichen, verzichteten aber auf eine umfassende Assimilation und verhielten sich meist ablehnend gegenüber christlichen Missionierungsversuchen, zumal dann, wenn diese - wie die protestanische Mission - einen radikalen Bruch mit dem Herkunftsmilieu verlangten. 112 Erst die »Sch ließung« der Grenze und die Immobilisierung der eingeborenen Amerikaner als "captive minoriry« setzte diese wehrlos den Assimilierungsprogramll1en der Weißen aus. Die neuere ethnohistorische Forschung zur nordamerikanischell IndianergTenze hat das Turnersche Bild eines unvermeidlichen Zusammenstoßes unvereinbarer Lcbenswelten in Frage gestellt und unterstrichen, daß nicht a priori eine kulturelle Inkompatibilität von Weißen und Indianern bestand. 1l3 109 Vgl.J. HrnrmilJg, Iled Gold: Thc Conqucst ofthe Brazilian Indians. C:l1nbridgc, MOiss. 1978. S. 217fT. 110 Eine mbnz solcher kulturellen Wechsclwirltungen zwischen Engländern und Indianern zieht). Axfrll, The EuroJ'COIII OInd Ihe IndiOln: Essays in the Elhnohistory ofColoniOiI North Amenca, NewYork 1981, S. 245--315. 111 So Thomas HOiriOI und die lx-iden HOIkJuyrs in den achtzigerJalucn des 16. Jahrhunderts. Vgl. K. O. Kllpprmum. lloOlnoke: Thc Abandoncd Colony, SaVOlf:,'C, Md. 1984, S. 104f. 112 Vgl.j. H. Mtrnll, _Thc Customcs ofOur Cou!lrrey...: IndiOins and Colonisls in Early Amc· rio, in: Bai/rn u. MOfgOn (Hg.), Strlll1gcrs Within Ihe ReOllm, S. 117-156. hicr S. 152, S. 155;). Iv.:ull, Thc Invasion Within: The COlllesl ofCultures in Colonial North AlllcricOl. NewYork 1985, S.131fT. 113 Vgl. etwa N. S,,/isbllry, ManilOu and Providcnce: Indians. EuropcOins. and thc MOIking of
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Konflikte erwuchsen aus Mißverständnissen und wurden nicht selten auch provoziert. Aus ihrer Eskalation, meist angetrieben von dem Bestreben der Europäer, Situationen unter ihre eigene Kontrolle zu bringen, entwickelten sich dann Feindbilder und verhärtete Stereotype, Il~ die wiederum zu Segregation und schließlich beiderseits zum Willen zum Vemicheungskrieg ftihrten, in dem die Weißen obsiegten. Dies geschah schon anfangs des t 7.Jahrhundens in Neuengland und Virgina. m Unter anderen Bedingungen war es aber auch möglich, daß sich in der An von Urs Binerlis »Kuleurbeziehung« über längere Zeiträume stabile Machtgleichgewichte einstellten, in deren Schatten es zu Akkomodation, Assimilation und sogar zur Entstehung einer integriertinklusiven Grenzzivilisation kam, zur Abflachung kultureller Grenzen durch kulturelle Kompromisse. 116 Derlei konfliktarme Lösungen konnten sich indessen auf längere Sicht nicht behauptcn. Dcr langfristige Trend seit ctwa dcm spätcn 18. Jahrhundcrt begünstigte an fast allen Erschließungsgrcnzen des expandierenden Europa die Aufstockung kultureller Barrieren. Ein Ergebnis dieser Prozesse scheint die Entdifferenzierungder Fremdwahrneh11lunggewescn zu sein: Die Amerika-Sicdler des 17. Jahrhunderts unterschieden noch genau zwischen den einzelnen indianischen Völkern und Gruppen, mit denen sie sich auseinandersetzten. Immer mehr wurde ein solch viel faltiges, lokaler Erfahrungentstammendes Bild durch das abstrakte Klischee des Indianers überdeckt, dem ebenso wie dem Afro-A.I11crikaner der Anspruch bestritten wurde, Teil der amerikanischen Nation zu sein. 1I7 Nicht erst bei Frederick Jackson Turner sah er sich von der Bühne der ameribnischen Geschichte verwiesen und auf eine Statistenrolle als abschreckendes Emblem von »savagery« reduziert. Die Kontaktsituation der Erschließungsgrenze ist, insgesamt gesehen, diejenige mit der weitesten Amplitude von AbgTenzungspraktiken. 1m interkulturellen Zwischenreich der Pelzhändler, (Ollreur5 dt bois ,Jesuitenmissionare und indianischen Diplomaten lösten sich die Grenzen zwischen Kulturen auf; von Ncw Engl:md. 1500-1643. New York 1982, S. 12;Jnmings, Thc Ambiguom Iroquois Empire, S.83. 114 Das große Gebiet der Grcnz-Mythologclllc und Indiancr-Feindbildcrerkundel: R. Slolkin, Regeneration Ihrough Violencc: The Mythology ofthe Americ.l.II Frontier, 1600-1860, MiddleIOWlI. CI. 1973. 115 Vgl. die Fallsludie eincr solchen Eskalation von Mißversündnisstn und Machtkalkiilell im früheIl Virginia bciJ.A.udI, The Risc and Fall ofthc Powhaun Empire, in: Dm" Aftet Columbus: Essays in Ihc Elhnohistory ofCo1oniai Nonh AmeriC
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»Kulturbegegnungl( kann hier allenfalls als persönlichcs Zusammentrcffen von Individuen unterschiedlicher Herkunft gesprochen werden. Dic Erschließungsgrenze hat aber auch kulturelle Barrieren ermöglicht, höher als in jedcm Kolonialsystem. Dic weißen nfromier societiesl< der Neuzeit haben Menschengruppen, deren Arbeitsleistung rur die Produktion an der äußersten Peripherie des ökonomischcn Weltsystems nicht ausbcutbar war und deren Subsistcnzansprüche auf ihre gewohnte natürliche Umwelt dem Landhunger von Siedlern und Bcrgbaupionieren im Wege standen, in einer Fremdzuschreibung als .Wilde. eingekapselt, ihnen jene minimalen Rechtsgarantien, wie sie fast überall nicht-versklavte koloniale Untertanen genossen, verweigen und ihnen die Chance zur kulturellen Reproduktion genommen. Der IIKultufZusammenStoß\( endete in solchen Fällen mit der Ausgrenzung der Unterlegenen aus jeglichem lIonllative I Verständnis von Kultur.
V Reflexionsformen kultureller Abgrenzung Kulturelle Grenzen an den Rändern der weltweit expandierenden europäischen Zivilisation fanden konkret faßbaren Ausdruck in Sprachverwendung und religiösen Praktiken, in Bildungseinrichwngen und Formen von alltäglicher Geselligkeit und öffentlicher Kommunikation,"M in Festen lind Ritualen, '19 in Siedlungsmustertl, Stadtanlagen und Architektur, im Zusammentreffen ulllcrschiedlicher Systeme praktischen Wissens (etwa europäischer lind einheimischer Medizin), la. in unvereinbaren Rechtssystemen samt ihrer realen Auswirkungcn, in Weiscn der Kriegftihrung und überhaupt der Konfliktaustragung, usw. Alle dicse Aspckte stellcn Aufgaben fiir eine Geschichtc interkultureller Bcziehungen, die zugleich eine komparative Perspektive nicht außcr acht läßt. Die außerordentliche Vielzahl kultureller Grenzsituationen wäre am einzelnen Fall zu studieren, der dann wiederum in diachrone Verlaufsmuster und synchrone Vergleichsraster eingeftigt werden müßte. Die Untersuchung interkultureller Perzeptionen rande ebenfalls hier ihren On, Durch die leitende Frage nach den Arten und Weisen der Konstruktion kultureller Diffcrenz vor dem Hintergrund tatsächlichcr Komaktcrfahrungen 118 Zu denken ist hier auch an dit, verborgenen GeboenöOcmliehkcilen der Umerdrüeku,'n, wie sie]. C. S{oIt sichtbugennclll hat: Domination and the Ans ofllesistal1ce: I-lidden Transcr;plS, New HavelJ 19lXl, S. 4r. 119 Vgl. 'Zur Herstellung \'on Distanz durch cxOlis;erende Rituale arn Beispiel der SCil.nsaudienzell in Britisch-Indien die l1Iuslerboültib't" Allillyse bei B. S. UJlIl, Heprescnting Authority 1II Victor;an India, ;n: E. Hob500lllfll U. T Ranger (Hg.), The IllvelltiOll ofTndition, Cambridge 1983, S. 165-209, bes, S. 179-207, Den umgekehrlCn Fall. die Anverwandlullg eines Kulturimports durch die einheimische ßcvölkenmg. zeige WmJI, Fiesta Filipina. 120 Am Beispiel Indiens: D. Amold. Colonizing thc Body: StalC Medicinc aud Epidemie Discasc in Ninelccmh-Ccmury Indiil, Bcrkelcy 1993, bes. S. 43fT.
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ließe sich eine theorielose Inventarisierungvon Textstücken vermeiden, wie sie manche Studien über die ~SpiegclungOi fremder Sachverhalte in europäischen Schriften so unergiebig mache '21 Aufdiesem Wegwäre der Anschluß sowohl an die neue re Menulitätsgeschichte als auch an jene Ansätze der ~ill(ellectual history.c zu finden, die von der Imerpreution kanonischer KJassikerte;l,:te zur Darstellung quasi-transzendentaler ~DiskllTsc. oder rhetorisch bestimmter überindividueller Idiome und Denkstile übergegangen ist. Es wäre zu beginnen mit der Beobachtung, daß nahezu alle Europäer-selbst die Verfechter eines nach den Maßstäben der jeweiligen Zeit weitgehenden kulturellen Relativismus - seit dem Beginn der überseeischen Expansion um 1500 den Angehörigen anderer Zivilisationen im Bewußtsein eigener Höherwertigkeit gegenübertraten. l22 Die gesteigerte Wcltoffenheit im Zeiulter der Aufklärung hat daran grundsätzlich nichts geändert; anschließend wurde im 19. Jahrhundert das größte Ausmaß an ~weißcr.c Distanzierullg von den übrigen Kulturen erreicht. Dieses europäische SOPIClerbet'I/ifltseill, welches sein U niversalitätsanspruch über einen beliebigen, selbstverständlichen Ethnozenrrismus heraushebt, speist sich ursprünglich aus vorneuzeitlichen Qucllen: einer Kombination von hellenischem Barbarendiskurs und christlicher Heilsgewißheit, die später durch neue ßcstätigullg
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So wäre denn das Problem des europäischen Sonderbewußtseins, wie es sich nirgends so extravagant artikulierte wie in der Kontemplation anderer Zivilisationen, in eine Reihe von Untersuchungsfragen aufzuschlüsseln, die, :m Texte wie Reisebeschreibungen, Missionarsrelationen, (proto-) ethnographische Untersuchungen, diplomatische Berichte oder gelehrte und künstlerische Verarbeitungen des primären Beobachnmgsmaterials gestellt, zu differenzierten Einsichten in die Reflexionsformen kultureller Disunz und Abgrenzung führen können: I. Wie fremd ist jeweils das Fremde? Nach welchen Kriterien wird Andersartigkeit bcstimmt?Worin sehen Europäer, möglichst mit unmittelbarer Kontakterfahrung, die spezifische Differenz zwischen der beobachteten nichteuropäischen Zivilisation und dem kulturell Eigenen? Worin erblickt man die Besonderheit und immer mehr auch die Überlegenheit Europas? ln der Ileligion, in der Stärke seiner Waffen, im Stand seiner Technik und Wissenschaft, seiner produktiven Kraft, der Zivilisienheit seiner Lebensformen, in seinen relativ freiheitlichen Zuständen, in der biologischen Beschaffenheit seiner Menschen? Wer wendet diese Kriterien unter welchen Umständen an? Wie verschieben sich über längere Zeiträume die maßgebenden Parameter? 2. Welches ist die dominante Bezugsgröße individueller Sclbstw'3hrnehmung, etw:l. des Conquisudors, Ileisenden oder Missionars, angesichts einer unmittelbar erfahrenen fremden Umwelt? Fühlt man sich primär - oder in welchem Mischungsverhältnis und mit welchem Ilollenrepertoire? - als Christ, Europäer, Angehöriger einer bestimmten Konfession, sozialen Schicht, Nation? 3. Mit welchen sprachlich-rhetorischen und bildlichen Mitteln wird die Grenze zwischen Europa und Nicht-Europa bestimmt? Welche .rhetorique de I'alteritc.: wird verwendet?IZ. Welches sind die semantischen Leitposten: .Zivilisation.:, .Barbarei., .Wildheit., .Orient.:, .E."otik., usw.? Unter welchen Bedingungen werden solche Vorstellungen, etw'3 auch als _asymmetrische Gegenbegriffe.:,I25 auf eine deskriptive Erfassungsweise fremder .Sitten und Gebräuche.: projiziert? Werden sie dynamisiert (Zivilisierung als transitiver ProzeB, umgekehrt Verwilderung und lIVcrsinken in BarbareilI, Orientalisierung
124 Der Ausdruck find~1 sich in ~iner methodisch vorbildlich~l1 Sludie zur _Konslruklion« von fremdkultUr~llen Wdlen: F. H~rteg. U miroir d'HerodOl~: E.ss.ii sur b represencuion de rauIre, Paris 1980.00. S. 225fT. Zur Analyse von bildlichcn Repräscnudon~n des Fremden vgI. ~tw<1 B. B'Khn, La sau~ aux seins pernbnts. Paris 1m.~in~ Unl~rsuchungder Kupf~rsliche in Theodof" dc Brys .collcctiones percgrinalionum in 1ndiarn on~ntll~m Cl Indiarn occidcna.1cm« (1590-1634); B. F. Tobi". Picturing Imperial Power. Colonial Su~«u in Eightct'nth-CcnlUry Brilish Painring. Durham 1999. 125 R.. KDstU«1t. Zur historisch-poliuschcn Stnuntik asymmcmschcr~nbq;rifTc.in: Dm.. Vcrgangenc: Zukunfl. Zur Stnumik gc:schichdichtt Zcil~n. Fnnkfun J.M. 1979. S. 211-259. bes. S.218ff.
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und Exotisierung)? Welche Bedeutung wird historischen BewegungsdifTerentialen beigemessen (Ilgeschichtslose Völker~, dynamischer Westen versus stagnierender Osten)? 4. Wie sind Abgrenzungskonstrukte in der Spannungzwischen ltAbwehr und VerlangenlC l26 affektiv besetzt? Paradiesisch-utopische Erwartung und Furcht vor dem Ullbekanmcn; der naturhafte llWildelC als Projektionsobjekt der eigenen Triebnatur, usw. 5, Welche Theorien europäischer Besonderheit entstehen aus primären Kontakterfahrullgcn und bei deren sekundärer Verarbeitung durch europäische Gelehrte und llarmchair travelJcrslC? Wie werden Differenzen - wertend als Manifestationen europäischer »Überlegenheitll. verstanden -er1.!lii"? Zu denken \väre an frühe ethnologische Systematisierungsversuche angesichts süd- wie nordamerikanischer Indianerkulturen, an Vorstellungen von >lasiatischcm Charakter« und llorientalischer GesellschaftI'., an Rassedoktrinen und Ansätze zu einer politischen Ökonomie der Unterentwicklung. Dieser letzte Gesichtspunkt läßt sich weiter ausfiihren, wenn man versucht, die möglichen Renexionsformen kultureller Abgrenzung in einer unabgeschlossenen Systematik von Diskursen zu ordnen. Fürdie Neuzeitwären dabei die folgenden Weisen des Redens über andere Kulturen idealtypisch zu unterscheiden: Ocr etflllogmpftisdic Diskurs, wie er sich bereits bei Herodot findet,127 zieht kulturelle Grenzen dort, wo Zivilisationen sich durch llcustoms and mannersll. in ihrer alltäglichen Lebensfiihrung und in öffentlicher Zurschaustellung unterscheiden. Darunter kann Verschiedenes verstanden werden, fast immer gehören zum Repertoire ethnographischer Aufmerksamkeit aber Fragen nach Nahrung, Kleidung und Wohnung, nach Sexualverhalten und Familienbeziehungen, der Stellungvon Frauen in der Gesellschaft, der Erziehungder Kinder, nach Formen von Abhängigkeit (besonders Sklaverei), Begräbnisriten, Strafjustiz und der Unterscheidung von sozialen Rängen. l28 Hervorstechende Eigenarten der jeweils kommentierten Gesellschaft ziehen ein besonderes Augenmerk auf sich: die Jagd- und Kricgsmethodcn der nordamerikaniscben Indianer, das Kastenwesen in Indien, die herausgehobene Stellungder Gelehrten in China. Der ethnographische Diskurs ftihrt vor dem Ende des 19. Jahrhunderts so gut wie nie zu einer Überzeugung von der völligen Gleichwertigkeit aller ZivilisationeIl, doch enthält er das Potential zu einer Dämpfung des
126 Vgl. Kohl. Abv.'Chr lind Vcrbngcn. 127 Vgl. W. Nippel. Elhnognpbie lind Andlropologic!xi Hcrodot. in: Dm.. Griechen. S. 11-
29. 128 Eine rur die frühe Neuzeit rcpräscllclIivc Systenmik lißI sieh einer clllhnographischell Enzyklop:idie clltllchlllen:J.-N. J)emn",itr. L'cspril des usagcs Cl des coummes des differcns peu· pIes. Oll Qbscrv.lItions lirees des voy:agrurs & des hislOriens, 3 Bdc.. London 1776.
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europäischen Sonderbewußtseins, da sich nach der An von Momesquieus ItLcttrcs persanes« (1721) die Perspektive umkehren und der ethnographisch distanzierende Blick sich aufEuropa zurücklenken läßt. 1?9 Zu den Sitten und Gebräuchen gehören auch Praktiken der Rcligionsausübung, die sich ohne eine Bewertung der jeweiligen religiösen Gültigkeitsansprüche darstellen lassen. Dies ist bereits im 16. Jahrhundert in der Auseinandersetzung mit den Indianerkulturen Minelamerikas möglich gewesen 1JO und hat seit der Mitte des 17.Jahrhunderts zu einer umr.lnßTeichcn quasi-religionsethnographischen Literatur geflihrt. 131 Davon zu unterscheiden ist der rheologiseIle Diskurs über das Fremde, der in seinen Grundfiguren aus der Abwehr der islamischen Herausforderung entstand, aber dann auch offensiv zur Rechtfertigung von Kreuzzug und Mission dienen konnte. 132 Die theologische Erfassung des Fremden muß nicht unbedingt ein schroffer Abgrenzungsdiskurs sein. Viele der rabiatesten anti-islamischen Äußerungen richteten sich nicht gegen den Glaubensgchalt des Islam, sondern gegen den angeblich ullInoralisehen Lebenswandel des Propheten Muh:ullmad.13J Im Hochmittclalter war eine Haltung großer theologischer Offenheit gegenüber dem Islam möglich, die aufder Hoffnung gründete, die Überlegenheit des Christennllns lasse sich den Muslimen in rationaler Argumentation plausibel machen.13-4 Die frühe Neuzeit hat der theologischen Beurteilung des Islam wenig Ncues hinzugefligt, sie gegenüber dem Hochmittclaltcr vielmehr deutlich emdifTerenziert und den Islam abermals der Pauschalkategorie des IIHcidentums41 zugeschlagcn. 135 Überhaupt wurde die Auseinandersetzung mit der islamischen Weh, die sich vornehmlich in Gest'altder türkischen Militärmacht präsentierte, bum auf theologischem Gebiet gcftihrt. Ein theologischer Umgang mit dem FremdeIl
129 VgJ. zu diescr Arl von Lilent\lr umf:rossend W. Wtw/lallll'. Europa sieht sich mit rrt·mdem Blick. Werke nach dem Schellla der .Lenres pcrsalles_ in der europäischen, inslx-sondcrc der deutschen Litentur des 18. JahrhunderlS. 3 Bdc.. FnnkfUrl a.M. 1979. 130 Zuerst lx-i ßartololllc de las Casas. So C. &mmrd u. S. Gnm"/lSki, De I".dol;iuic: Une 3rehcologie des scienees religiellscs, Paris 1988. S. 41 ff. 131 Ein MonumelU dieses Imeresses iSI das aus verschiedenen Quellen kompilierte Werk B. Pirard, C€remonies Cl cOutumes re1igieuscs de touS !es pcuples, 8Ude.. AnlStcrdam 1723-43. 132 Vgl. B. Z. Krdaf. Crusade :llld Mission: Europcan Appr03chcs IOward the Muslims. Prince1011 19lH Oe:.. S. 970: 133 Vgl. N. amitI, Islam aud the WeSt: The Makmg ofan hnab'C. Edinburgh 1960. S. 79-108. 134 Etw:llx-i Rogrr &011 und RamOF. LIlII. Vgl. A. Sr/r;mmel. Europa und der islamische Orient. in: Der Islam. Bd" 3: Islamische Kulwr-Zcitgcnössische SuölIIungcn - VolksfrörTlll1igkC'11 (= Die Religionen der MCllschheil, ßd. 2513), SlUugm 1990, S. 336-387. hier S. 351-353. Vgl. 3\1ch den bemerkenswert friedfertib'Cll Kreuzzugskritiker Radlilfils N~fJ:Cr lind sein Werk De re milruri el triplici via pcregTlll3loris ierosolimiune (1187188). Einleitung und Edilion von L. Sclmwggt'. ßcrhll 19n. 135 Man haI diescn Umbmch schon aufden frühen Zeitpunkt von 1290 dauert: J. Muldool/, Popcs. uwycrs. ;oIIld Inlidels: The Cllurch and the Non-Christian World. 1250-1550. Philadelphia 1979. S. 52, 69.
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erlangte dann neue Bedeutung in der Debaue um die verborgenen GlaubensW3hrheiten dcr chincsischen Religion, die seit dem späten 17. Jahrhundert gcfUhrt wurde. l36 Auch hier wieder wurde, wie im Islam-Räsonncment des Hochmittelalters, theologischcr Scharfsinn aufden Nachwcis kultureller Konvcrgenzen verwandt. Die gelehrten Missionare des 17. und 18. JahrhundertSob Jcsuitcn in China, Japan und Amerika, ob dänisch-hallcsche Pietisten in Indien 1J7 - äußenen sich über dic Kulturen, die sie studierten, ohnehin eher in ethnographischer als in theologischer Hinsicht. Die entsChiedenste Verdammung des Fremdkulturellen und damit zugleich die Begründung eigener Bcsitzansprüche in theologischer Sprache, die es in der Frühphasc der europäischcn Expansion gab, findet sich bei den Pilgervätern und Puritancrn in Nordamerika: Satan benütze die Indianer als seine Werkzeugc.lJ8 Erst das ltEvangelical RevivalK, das große Teile der protestantischen Mission in Asien, Afrika und Ozeanicn während des 19. Jahrhundert bestimmte und Parallel erscheinungen im katholischen Bereich fand, radik.llisiene dann wieder - wenngleich nicht mit der genozidalen Konsequenz purit..lnischer Extremisten - den theologischen Diskurs zur rigiden Exklusion des verworfcnen MHeidentumsK. Der j/lristiscll-polilisfl/e Diskurs drehte sich im Kern um drei Probleme: Sind die Bewohner außereuropäischer Länder vollwertige Rechtssubjektc und halten sie insbesondere gültige Rechtstitel an ihrem Grund und Boden? Wird in dicsen Gesellschaften Herrschaft legitim ausgeübt? Unter welchen Umständen sind Eroberungskriege gegen diese Völker ltgerechte Kriege.? Die meisten Vers3tzStückc dieses Diskurses, der selbstverständlich wie die bereits genannten ebenfalls antike Grundlagen hat, "vurdcn bereits im 16. und frühen 17. Jahrhundert ausgebreitet: zum cinen in den Amerikadebauen der spanischen Spätschoiastik,I)9 zum anderen in den Begründungen des englischen Dominium über das g;ilischc Irland. Das anglo-irischc Beispiel ist besonders interessant, weil hier an der '-'mercuropijisfl,eu Peripherie dic Demarkation einer kulturellen Kluft, teilweise ethnographisch begründet, zwischen dem gälischen Recht der Iren, also dem Brchon Law, und dcm englischen Commoll Law durch engli136 Vgl, aus eincr .sehr umfanJVeiehell Litcratur: C. IJ. Collaui. Die FiguriSlt'n in der Chinamission. Frankfun a.M. 1981; f R.J Clil'mblt. L'Europc chilloi.sc. Bd. I: Oe l'Empire romain ~ Lcibniz. Paris 1988. S. 2800: 137 Vgl.J. C. Gn·iudll'f u. B. Z~Ib.31g. Die Malabarische Korrespondenz. Tamilische Briefe:1O dcutsche Missionare. hg. v. K Ut/"'III. Sigmarinb't'll 1998, 138 Vgl, R. 1-1. Ptaftt. ROI und Weiß. Die Erfindung des Indiancrs durch dlc Zivilis:llion. dl. \1. w. Bick. Stuttgan 1991. S. S. 46-52. 139 Vgl, Im Überblick Rrirrhanl. Gt-scluclnc der curopäisc~1l Expansion. ßd.2. S. 64--67; O. Kimminllh. DIe Entstehung des neuzeilhchcn Völkcrr«:hts. in: I. Fnschtr u. ". Miinkkr (Hg.). Ilipers Handbuch der politischcll Ideen. Gd. 3. MÜIlC~n 1985. S. 73-100. hier S. 79-90. AlI~ mein gnmdl~nd!urdic gesamte Neuzeit Ist). Fun.. Die curoplisc~ ExpallsK>l1 und chs Völkerrttlu. DIe A~lI1anckrseaun~n um den Satm der iibersttisclw:n GcbKtc \1Om 15. Jahrhunden bis zur ~Ilwan. Stuugan 1984.
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sehe Kronjuristen unmittelbar zur Rechtfertigung umfassender kolonialer Landemcignungen benutzt wurde. HO Juristisch-politische Diskurse sind offenbar meist dichotomisierender Natur gewesen. Die Gegenüberstellung von außereuropäischen kollektiven und europäischen individuellen Eigemumskonzepten hat ebenso bis ins frühe 20. Jahrhundert hinein eine große - auch kolonialpolitische - Rolle gespielt wie die zwischen den legitimen Herrschaftsfonnen der europäischen Tradition und der angeblich illegitimen .Despotie« in Asien und Mrika. Ein lIistorisdlu Diskursl~l wird überall dort geHihn, wo fremdkulturelle Gesellschaften in Bcziehungzu Entwicklungsmodcllen gescnt werden. Er wird in ausgeprägter Fonn erst möglich, nachdem es zu einer Säkul:uisierung der universalhistorischen Auffassunggekol1llllcn ist. Die fundamentale Grenzziehung ist die um die Sphäre des Historischen herum, also die Ausgrenzung einiger oder der meisten nicht-okzidentalen Gesellschaften als Nölkerohne GeschichtelI. Diese Exklusion gewinnt erst im 19. Jahrhundert größeres Gewicht. Bis dahin ist das frühneuzeitliche europäische Geschichtsverständnis, wie es bei Autoren der französischen und schottischen Aufklärung in ~tadienmodellen der universalen Gesellschaftsemwicklllngseinen Höhepunkt erreicht, eher inklusiv. Eine Zwischenstufe der Abgrenzung ist die Umerscheidung zwischen .jungem und .alten«, zwischen sugnierenden oder gar niedergehenden und dynamischen Völkern, zwischen sterilen und kreativen Kulturen. Sie läßt aher die Möglichkeit von Wiederbelebung und Zivilisierung offen, die den vollkommen .geschichtslosen« menschlichen Gemeinschaften abgesprochen wird. Ein biologistlr-rassisl/lfr Diskurs schließlich, 1012 dessen Ursprung in der Antike strittig ist, 1.0 geht in seinen Sachallssagen über den Bereich kultureller Abgrenzungen hinaus, postuliert er doch die E.xistenz von Unterschieden, die vorkulturell gegeben und kulrurellen Einwirkungen ennogcn sind. Ein Denken in biologischen Rassekategorien gewinnt dort an Virulenz, wo nicht länger nur inncrhalb von Gesellschaften einzelne Gruppen nach ihrer HaUtfarbe unterschieden werden, wie dies mit eincr zunehmend verfeinerten Rassciltermino140 Vgl. H. S. Pall'lis(h. Sir )01111 Davi{'$ alld the Conquest oflrcland: A Study in Legal 11111'1,'n:llism, Cambridge 1985; R. G. AstIl. Kuhurkonnil'l und Ikchl. Irland. das .Common u\\'« \lud dl~ .Ancu::m ConsliuuioT1«. 11\; Jus COllln1Unc.)g. 21. 1994. S. 169-212. 14\ Vgl. Kapitel 4 III diesem Band. 142 Er muß mdllllljcdcm Fall auch rassiSlisch scm. also desknp"v C'rfaßtC' UmC'rschiede der menschhchen Physis we:neod und hIerarchISierend imerpreueren. DIC' AboIiuonsbcv.'C':ßtlllg zum lklsplcI argumC'miC'ne lelMISC aufderselben blOlogisch-alllhropolOßlschcn Ebene W1C' dIe lkfilrwonC'r der SkJ
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loglc c[Wa im spätkolonialen Mexiko geschah, sondern ganze Zivilisationen auf ihren unveränderlichen biologischen ltRassecharakter41 als ihre alles detenninierende Grundeigenschaft reduziert werden. Sobald dies geschieht, ist der Schritt vom vormodernen Rassedenken zum modernen exkJusionistischen Rassismus gean. Diese runf Diskurse - und womöglich noch andere, die hinzuzuftigen wären - bilden das Grundrepertoire von Refle.xionsformen kultureller AbgTenzung. Mehrere von ihnen können sich in einem einzigen Text zusammenfinden; manche der großen Reisebeschreibungen etwa kombinieren Elemente aus verschiedenen Redeweisen über das Fremde. Es lassen sich separate Geschichten der einzelnen Diskurse schreiben, doch manchmal um den Preis der willkürlichen Auflösung komplexer Gemengelagen. Mit Mut zur Spekulation mag es sogar denkbar sein, die epochale Dominanz einzelner Diskurse herauszuarbeiten: vielleicht des juristisch-politischen im 16. und 17., des ethnographischen und historischen im 18., des biologisch-rassischen im 19. Jahrhundert. Auch kann gefragt werden, welche Erfahrungen Anlaß zum Rückgriffaufweichen Reflcxionsfyp gaben. So fallt auf, daß ein ethnographisches Interesse früh in Amerika geweckt wurde, dann in der Völkervielfah Süd- und Südostasiens Ansatzpunkte fand und schließlich die Südsee und Afrika zu Schwerpunkten erkor, daß ein biologisch-rassisches sich zuerst an die schwarzen Afrikaner knüpfte, daß der Islam und später der Buddhismus zu besonders wichtigen Herausforderungen ftir die Theologie wurden, während sich das Osmanische Reich samt seiner europäischen und nordafrikanisdlen Ausläufer, den einst glorreichen Ruinenländern Griechenland und Ägypten, im 18.Jahrhundert als klassisches Beispiel rur .Rückstiindigkeit. und .Niedergang41 in ein Lieblingsobjekt ftir historisches Räsonnement verwandelte. Doch sollte die Suche nach den großen Konfigurationen nicht davon ablenken, daß Sonderbcwußtsein und Abgrenzungspraktiken an den kulturellen Grenzen Europas vor allem in der Besonderheit des einzelnen Falles studiert werden müssen.
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10. Wissen als Macht. Deutungen interkulturellen Nichtverstehens bei Tzvetan Todorov und Edward Said
Daß Wissen Macht ist, haben Eroberer lind koloniale Herren immer schon verstanden. Wer erobert, braucht Infonnation. Je besser er unterrichtet ist, desto erfolgreicher wird er JufUnvorhergcsehcncs reagieren können. Daten können WalTen nicht ersetzen, doch vermögen sie, deren Wirksamkeit zu steigern. Der informierte Eroberer wird zum Herrn der Überraschungen. Dcr Widerstand der AngegrilTenen ihrerseits kann um so wirksamer sein,je besseres ihnen gelingt, dem Aggressor seine InfoTmationsüberlegcnhcit streitig zu machen. Zumindest können sie sich seinem Wissensdrang vcnvcigcrn, können schweigen, sich dumm stellen, täuschen, eine Taktik der Spurcnlosigkcit verfolgen. 1 Hat die Eroberung zur Errichtung eines kolonialen Herrschaftssystems geftihn, dann bedarf diescs System der ständigen Zufuhr von Geld, Arbeit und Wissen. Steucrn, Arbeitskraft und Informationen sind dic Ressourcen, die es der llInerworfenen Gesellschaft emzieh[. Es kann niclH verwundern, daß die Archivc der spanischen Kolonialbürokr3tic und der englischen und holländischen Ostindicnkompanien we1cwcit zu dcn größten der Frühen Neuzeit zählen. Im 19. und 20. Jahrhundert haben Kolonialverwaltungen - etwa die britische oder die japanische - gigantische Kataster angelegt und aufwendigste kartographische und geographisch-geologische Erhebungen anstcllen Iasscn. Bcfreiungsbewegungen vcrsuchten, ihrc Gegner am empfindlichen Datenncrv zu treffen und Nctze dcs Gegenwissens aufzubauen. Die Macht der Kolonialherren ist gcbrochen, wcnn sie nicln mehr crfahren, was im Landc geschieht. Manch ähcre J-ferrschaftssystcme gerictcn ins Wanken, als Höflinge und Kollaborateure unges.[faft zu lügen begannen; ncuere sind am eigcnen Wissensdurst errrunken. Die sammelnde Kontrollmanie eines sich permanent bedroht ftihlenden Staatcs kann - unter kolonialen Bedingungen wie untcr denen eines tOL11itären Polizeiregimes - zum Informationsinfarkt fiihren. Dann weiß man alles, aber erkennt nicht länger, was davon wichtig ist. Rationales Handeln
1 Vgl.j. C. 1990.
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Domination :lIld the Ans ofll.csisclIlce. l-liddcII TranscriptS. New
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wird fatal erschwert. So ließe sich die Geschichte der europäischen E>.'Pansion nach Asien und des spätercn europäischen Rückzugs von dort als eine der Aneignung, Akkumulation und Verarbeitung, der Instrumenu.lisierung, M:lIlipulation und Monopolisierung von Wissen schreiben, schließlich auch als eine des Kampfes um Infonnationshegemonie, den die Befreiungsbewegungen am Ende gcwannen. 2 Oie Qualität einer Information bemißt sich daran, in v"elchem Maße sie mit der Wirklichkeit übereinstimmt.,) Korrektes Wissen über Tatsachen oder richtige Einsichten in Denk- und Verhaltensstrukturen anderer Individuen und Gruppen bilden die Grundlage rationaler Entseheidungcn.~ Anders gesagt: die Meisterung unvorhergesehener Situationen hängt wesentlich von einer Prognosefahigkeit ab, die durch angemessene Einstellung aufKommendes die eigenen materiell begrenzten I-Iandlungsmöglichkeiten optimiert. Nun wäre es ein naiver rationalistischer Trugschluß, zu glauben, den Unwissenden und den Gmgläubigen, den Wahnhaftcn lind den lügner bcstr3fe das Leben. Ger3de wenn sich Realitätsverlust und Furcht verbinden, sind die Folgen unabsehbar. Dcshalb können Gerüchte und ihre paranoiden Aufbauschungen geschichtsprägende Wirkungen entfalten. Manchmal glauben die Menschen dabei an das bedrohliche Gerücht und steigern sich in einen Zustand der Panik, der in politische Aktion umschlagen kann: Nicht nur in der Französischen Revolution und in der chinesischen Boxer-Bewegung von 1900 hat die ltgrande peUT« eine bedeutende Rolle gespielt. In anderen Fällen werden Gerüchte manipuliert, werden sie von denen ausgestreut, die sowohl um ihre Haltlosigkeit als auch um ihre Wirkung wissen. Die Resultate nähern sich einander an. Die nonnative Kraft der 1I1usion gehört zu den großen Mächten der Geschichte. In kolonialen Siruationen treffen unterschiedliche Kulturen aufeinander, die dcr Kolonisierten und die der Kolonisatoren. Wie bei allen Fomlen der Berührung verschiedenanigcr Sinnsysteme sind d~bei ltMißverständnissctC 3n der Tagesordnung. W3S aber ist ein kulturelles Mißverständnis? Diesc Frage läßt sich allein durch eine noch so lKIiclHetC Beschreibung einzelner Fälle nicht zurei-
2 Eincn Allf:lIlg macht C. A. &yly. Knowing thc COlllltry. Empirc and Information in I"dia, in: MAS,jg. 27. 1993. S. 3-43; Dm.• Empire :md Information: Intcllib'CIlCC Ga.thcring and Socia.1 ComlTlunicatioll in India.. 1780-1870. C:unbridb'C 1996. 3 .'Wissen' ddinicrcn wir als dic Gewißlldt, daß Phänomenc wirklich sind und bestimmbare Eigc'fISchaflen haben... P. L &rgn 11. T. Lwlmumn. Dic gesellschaftliche Konstruktion dcr Wirklichkeil. Eine 1111:oric der Wissenssoziologic. Frankfurt a.M. 1970, S. I. ;f l:>tc Rauon.a.litätsdc:bane in Phlklsopluc und Sozi.a.t-MssenscluftCll. dic im Himergrund dieser Übcricb'\lIlgcn stchl, Iann hier nicht expliZIt einbezogen ~rden. Vgl. für grunds.itzliche PosiUOnsbcslllllll1Ungcn. die noch \wekr posmlOdemclI Hcnusforderung~hrtcbenwurden: B. R. WrlJon (I-Ig.). Ihllona.hty, Oxford 1970: M. I-lollis u. S. ~m (Hg.). Rationahty and RclacivislIl. Oxford 1982.
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chcnd klären. Dic kulturthcoretischen Voraussetzungen solcher Beschreibungen bedürfen einer vorgängigen Erörterung.!>
I. Der Begriff des interkulturellen Mißverständnisses läßt sich jenseits der Ebene individueller Orientierung in zwei Weisen auffassen. Wir wollen sie das aufklärerische und das romantische Modell nennen. Nach dem AufkJärungsmodell kann mm Mißverständnisse als siruative Fehlvcrständnisse betrachten. Man nimmt Einverständnis oder korrektes Verstehen zwischen einzelnen und Gruppen als den Normalfall an und hebt davon vorübergehende Kommunib.tionsstörungen oder hennenclltische Pannen als Ausnahmen ab. Mißverständnisse in diesem Sinne sind beweglich und flüchtig. Sie können sich rasch aufbauen und vermögen ebenso schnell wieder zu verschwinden. Im besten Fall genügt einc Nachfrage, um ein solches Mißverständnis zu korrigiercn. Die LernHihigkeit und Lcrnwilligkeit aller Beteiligten wird in diesem Modell der vorübergehenden Verständnistrübung vorausgesetzt. Selbst Gerücht und Lüge sind verderbliche Güter. Nur dann gewinnen sie ein alphaftes Eigengewicht. wenn sie sich wahnhaft stabilisiercn. Doch sogar in solchen Fällen ist Korrektur durch Belehrung und vernünftiges Zureden nicht unmöglich. Die Idee des situativen Fchlverständnisses setZt die Thcrapierbarkeit von Mißverständnissen, so schwer sie ::auch zu verwirklichen sei, immer schon voraus. Dies betrifft ::auch Mißverständnisse zwischen Angehörigen unterschiedlicher .Kulturen., also von Menschen. deren Erw::artungshorizonte weiter voneinander entfernt sind als das, was der einzelne ::als den Norrn::alfall seiner Lebcnspraxis betrachtet. Aus dem aufklärerischen Modell folgt das Ideal des Auf-einander-Zugehens. Da die anthropologische Beschaffenheit des Homo sapicns im Prinzip überall die gleiche ist. kann nach dieser Auffassung der .zivilisierte. Europäer den »Barbaren. oder .Wilden. durchaus verstehen - wenn er es nur will, wenn er von Unarten wie der Reduktion von Komplexität durch ~Stereotypisierenl(abläßt, wenn er sich selbstkritisch aufEthnozentrismus und Vorurteile prüft_ Zog der Entwicklungsstand europäischer Welterfassung solchen Bemühungen Grenzen, die der einzelne in früheren Epochen nicht übersteigen konnte, so ermöglicht doch zumindest der Fortschritt in den Kulturwissenschaften die allmähliche Annäherung an das unverstellte Verständnis des Anderen. Das höchste lde::al eines solchen pädagogisch abgestützten transkulrurellen Konvergenzglaubens ist die Fähigkeit. sich in Angehörige fremder Kulturen Ithineinzuversctzem. Toleranz steigert sich zu Identifikation: Man 5 IXr Verfnscrwar von den Henusgebem des fundes. in dem dieser Aufna zuefSl erschKn. um lhcorerische Überlegungen zum Thenu .imerkullUrelle Mißvenlindnissec gebeten wonten. Ocr Text varikn 2150 dn gestelltes Them:ll.
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läßt im Idealfall den anderen nicht nur leben, wie diescres will, sondern erwirbt sogar die Fähigkeit, die Welt lKIurch die Brille« des anderen zu betrachten und dadurch die Gründe fur dessen Verhalten zu erkennen. Wo durch beliebigen Pcrspcktivenwcchsel alles relativ \vird, bestätigt sich der absolute Glaube an die Einfönnigkeit der menschlichen Natur. Die Welt tendien zur Transparenz des völligen Einverständnisses. Ein solches Ergebnis ist indessen interpretierbar. Es kann sich mit tiefstem weltbürgerlichem Humanismus verbinden, aber auch mit der Überzeugung, im Zeicaltervon Globalisierung, amerikanischer Kulturhegemonie und schrankenloser Kommunikation nivellierten sich die Unterschiede zwischen den Kulturen bis zur Unkenntlichkeit. Anhänger dieses Modells vertreten die Auffassung von der Universalität zumindest eines Grundstocks von Werten, aus heutiger Sicht besonders der Menschenrechte. Das zweite Modell, das romantische, geht von anderen Voraussetzungen aus. Es findet Mißverständnisse nicht erst im situativen Handlungsvollzug, sondern bereits in den Tiefenkodierungen der einzelnen Kulturen. Statt um situatives Verständnis geht es hier um subst.1nticllc Kulturdistanz. Imerkulturalität und Mißverständnis sind in dieser Sicht unauflöslich miteinander verbunden. Während Modell I sich nicht ohne weiteres zutraut, die Grenzen zwischen Kulturen deutlich zu erkennen und eher Vorstellungen wie Durchlässigkeit, Anpassungsfahigkeit und Akkulturation betOnt, nimmt das romantische Modell die Ganzheitlichkeit und Geschlossenheit von Kulturen an. Jede Kultur ist einzigartig, deutlich profiliert, nach innen homogen und von der Spezifik von Sprache, Religion und Ritus geprägt, kurz: ein in sich abgerundetes Ganzes. Kulturen sind von außen klar voneinander unterscheidbar, doch gibt es keinen kultuTÜbcrgrcifenden Wertc- und Sinnkosmos. Der kulturellen Pluralität auf der Phämonenebene entspricht ein Relativismus der Werte. Jede Kultur weiß selbst. was rur sie gut und richtig ist, und sie hat ihre eigenen Rationalitätsstrukturen. Überlegenheitsansprüche gegenüber anderen sind illegitim. Keine Religion, keine Rechtslehre. keine Ethik, kein Begriff von Wissen und Wissenschaft ist wertVoller als andere, obwohl sich selbstverständlich im realen Kampfder Kulturen Starke und Schwache herausbilden. Jede Kultur pnegr ihren eigenen Ethnozentrismus. Die Geltungsansprüche der einzelnen Ethnozemrismen neutralisieren sich gegenseitig und lassen keinen Raum des Universalen jenseits der Relativität der Normen und Lebensformen. Wenn Angehörige unterschiedlicher Kulturen aufeinander treffen, sind nach diesem Modell Mißverständnisse der Normalfall; sie sind durch unterschiedliche zivilisatorische Codes »vorprogrammiertll.. Harmonische Koexistenz und verstehende Würdigung der Eigenart des Fremden kann nur unter seltenen und meist nicht dauerhaften Ausnahmebcdingungen gelingen. Dergleichen ist eher eine Leistung besonders einfuhlsamer Ausnahmepersönlichkeiten als eine Kulturkonvergenz, die von ganzen Völkern getragen würde. Kulrurkontakt manifestiert sich selten ,mders denn als Kulturkonnikt. Ein .dash of culrures« 243
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wird sich allenfalls dämpfen und aufschieben, aber nicht verhindern lassen. Mißversündnis ist nach dem romantischen Modell kein behebbares Fehlverständnis, sondern ein unumgängliches Unverständnis. Die Kulturen schweigen sich an. Im schlimmsten Fall werden sie Opfer ihrer Wahnbilder vom Anderen und fallen geWdItÜtig übereinander her. In inviduelle Wahmehmung und individuelles Handeln nach dem zweiten Modell viel sürker als nach dem ersten kulmrell determiniert sind, lassen sich Kontakte bum simationslogisch interpretieren. Das Primäre an einem Europäer ist danach, daß er .europäisch« wahmimmt, denkt und handelt, an einem Chinesen, daß er aH dies -chinesisch« tut. Es gibt keine gemeinsame Schnittmenge einer llllmrneutralen Rationaliüt. Das erste Modell tendien dazu, kaum ver.inderliche kulturelle Prägunb"Cn zu unt'erschätzen, das zweite Modell, sie zu verabsolutieren. Da das romantische Modell deterministischer ist und daher wenig Raum fiir erklärbares Handeln vorsicht, läßt es sich weniger gut mit der eingangs ellrworfenen Infonnationsperspektive aufdie Geschichte des Imperialismus verbinden. Wenn die Menschen an den Marionenenfaden ihrer jeweiligen Kulrur zappeln, hält ihr Verhalten kaum Überraschungen bereit. Ereignisgeschichte ist daher in diesem Konzept nur am Rande vorgesehen. Umgekehrt kann das aufklärerische Modell die Kollision von Weltbildern, verkörpert in den handelnden Personen, nur unzureichend erfassen. Mißversündnisse wcrden d:mn leicht zu kurzannig gedcutct, zu sehr aus Zufallen. persönlichen Eigenarten, aus der Taktik des Augenblicks, zu wenig vor dem Hintergrund stabiler Ideologien, Dogmen und Werthaltungen. Historiker düften solche Überlegungen, die eher in das Ilevier von Philosophen und Anthropologen gehören, selten ansrellen. Sie mögen aber hilfreich sein. weil sie davor schütZen können, einen schillernden Begriffwie den des ltkulturcllell Mißverständnisses« allzu sorglos zu verwenden. Es gibt, wie zu zcibocn versucht wurde, mindestens zwei ganz verschiedene Auffassungen von Mißversündnis, die sich bei genaucrcr Betrachtungdurch die gesamte europäische Ideengeschichtc verfolgen ließen. Dabei macht cs einen nicht unwichtigen philosophischen Unterschicd aus, ob man annimlllt, Mißverständnissc seien Ausnahmen oder sie seien der Normalfall im Kontakt dcr Kulturen. Was unter Kultur zu verstchen wärc, ist einc weitere, noch viel schwierigere Fragc, an die sich Folgeprobleme anschließen: Wie bnn man Grenzen zwischen Kulturen erkennen? Wie cindcutig ist die Zuordnung von Subjekten zu lIihrer~ Kultur? Wie wichtig sind ltkulturellc. im Kontrast zu anderen Unterschieden zwischen dcn Menschen? Wie lassen sich die einzelnen Differenzkriterien voneinander unterscheiden: Sind wir uns z.B. deutlich darüber im Klaren, wann wir von ltkulturellen., wann von JtCthnischen« oder ~rassischenlC Konflikren sprechen sollen? Die suggestive Knft des Begriffs ltkulrurelles Mißvcrsündnis« sollte nichtvergesscn machen. daß er recht Unterschiedliches bedeuten kann.
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11.
Es lohnt zu fragen, wo in der bisherigen Literatur Zusammenhänge zwischen Imperialismus auf der einen, kulrurellen Mißverständnissen auf der anderen Seite mit besonderer Eindringlichkeit und öffentlicher Wirkung aufgezeigt worden sind. Dies ist nicht bei Fachhistorikern geschehen: Eine Kulturgeschichte des Imperialismus steckt erSt in den Allf:ingcn. Vielmehr wird die Debatte seit geraumer Zeit im Zeichen eineT Postmoderne, die Fächergrenzen nonchalant mißachtet, von Literaturwissenschaftlern bestimmt. Zwei international besonders cinOußrcichc Entwürfe sollen im folgenden diskuticn werden. Sie sUmmen von Tzvct:lll Todoroy und Edwud Said. Beide Autoren vertreten Spielarten des »romantischen. Dcutungsmodclls. ßcidc gelangen dabei an die Grenzen dieses Modells. In seinem Buch _Die Eroberung Amerikas. Das Problem des Anderen* (im Original t 982)6 hat der bulgarisch-französische Litcraturtheoretiker und Philosoph Tzvetan Todorov nicht als Historiker, wie er sagt, sondern als ~Moralish unter anderem die Frage nach den Ursachen der Übcrwältigungeiner komplexen Kriegerkultllr w;e derjenigen der Azteken durch eine kleine Schar spanischer Ritter gestellt. Eremwickclt dabei einen Erklärungsansatz, der mit ge"vissen Anpassungcn auch auf Fälle imperialer Reichsbildung in Asien und Afrika übertr.lgen werden könnte. Todorov ist sich der Gründe, denen üblicherweise der spanische Erfolg zugeschrieben wird, wohl bewußt:? das zögernde Verhalten des Aztekenherrschers Moctezuma, die Überlegenheit der spanischen Bewaffnung und insbesondere die SchockwirklIng der in funerika unbekannten Pferde, die Ausnutzung der inneren Streitigkeiten der Illexikanischen Völker durch Cortes, die Schwächung der amerikanischen Bevölkerung durch Epidemien, usw. Als Semiotiker konzentriert er aber seine Aufmerksamkeit aufeinen einzigen Aspekt: die Beherrschung der Zeichen. Cortes begreift r.lSCh, daß die Azteken, durch Prophezeiungen vorbereitet, die Wiederkehr des Goues Quetzalcoatl elW3nen, und er nutzt die Chance,diese Rolle Hirsich zu reklamieren.' Auch in vielen anderen Situationen entdeckt Todorovdie Fähigkeit der Spanier und vor allem die ihres genialen fulHihrers, Wone strategisch einzusetzen, um ihre Ziele zu erreichen. Mehr noch als Concs der Kämpfer ist es Cortcs der RhetOr, der nil' die Spanier den Sieg erringt. Die Spanier besitzen ein Übergewicht an kommunikativer Kompetenz, nicht zuletzt durch ihre Schriftlichkeit; stets übernehmen sie die aktive Rolle im Kommunikarionsprozeß; sie inszenieren mit großer Verschlagenheit ein Machttheater, das die Azteken blufft
6 T. ToOOWI'. Die ErobrnlllgAllleribs. Das I~lem des Anderen. dl. v. W. ßöhrmgcr. Fn.nkfun ;I.M. 1985. Ich kommentiere nur K.:Ipitd 2 dieses Iluchcs. 7 Ebd.. S. 71-79. 8 Ebd.. S. 92-95.
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und blendet und sie von der realen Schwäche der Invasoren ablenkc 9 Alles bei Cortes ist Kalkül und Manipulation, alles bei den Azteken Naivität und HiJnosigkeit. So kommt Todorov, ein lupenreiner Vertreter des .romantischenModells des Mißverständnisses, zu dem Schluß, daß die Azteken zwangsläufig unterliegen mußten. lhre eigene Kultur ließ ihnen keine Chance.•Den Indianern wird nicht bewußt, daß Worte eine ebenso gcHihrliche Waffe sein können wie Pfeile.te lO Denn fhr sie ist Sprache Ausdruck. nicht Instrument. Ihre Kultur bindet, ja, lähmt sie durch Rituale, während die Spanier freie, handlungsfahige Al"teure sind. Allein die Spanier agieren, sie diktieren den Gang der Dinge; die Indianer, die keine offensiven Ziele haben, keille andere Vision als die, daß der spanische Albtraum zu Ende gehen möge und alles wieder so werde. wie es war, können nichts als reagieren. 11 Eine geschlossene und "übcrdeterminiene.,;12 wird von einer offenen Zivilisation notwendigcrweise bezwungen. Nur die Spanier durchschauen das kulturelle Mißverständnis und sctzen es listig ftir ihre Zwecke ein. Bei den Indianern reduziert sich das Mißverständnis aufeine dumpfe Irritation durch das lInbegriffene Fremde. Cortes aber, der Hermeneut lind Anthropologe, versteht alles. Die Idee siegt über die Mentalität. Soweit Todorovs auf den ersten Blick sehr überzeugende Interpretation. Dank Todorovs großer literarischer Begabung ist ihm eine unb"Cmein plausible Erklärungsskizze gelungen, die immer wieder als Beweis fiir die leistungsfähigkeit einer semiotischen Analyse zitien wird. 'T.1tsächlich ist kein besseres Beispiel denkbar air die Vervielfachung dürftiger eigener Machtmincl durch Erringung von Hegemonie im H.eich der Symbole. So ähnlich. möchte man glauben, muß Kolonialerobcrung und später koloniale Herrschaft überall funktiOlliert haben: als gigantischer Bluff Ein Unbehagen an Todorovs Interpretation wird jedoch schon den beschleichen, der sich nicht die Mühe macht, die Quellen. die Todorov gründlich studien hat, selber zu prüfen. Denn man staunt, alle jene selbstgefälligen anthropologischen Mythen von der angeborenen Uberlegenheit des Renaissance-Europäers und umgekehrt von der naturhaften Befangenheit des »primitiven Denkens«. die seit Jahrhunderten die Kolonialapologie bestimmen, nunmehr im Modcgcwand semiotischer Theorie wiederholt lind bekräftigt zu finden. Nur in Nuancen untcrscheidet sich Todorov etwa von William H. Prescotts hochdramatischcIll Bestseller llHistory of the Conquesl of Mexicoll von 1843. Waren aber die Azteken wirklich so irrational, wie Todorov sie d,ustcllcn muß, damit sie in seine Theorie passen? Öffnete sich z'\vlschen den bciden Kulmren (oder vielmehr ihren Vertretern) 9 10 11 12
Ebd.• S. 138-51. Ehd.. S.112. Ehd.. S. 135. Ebd.. S. 83. Zur Knuk:m Todoro\' vgt auch B. Mitlnvslt. u. S. M. Stho,"bu~hnff. Das Probl~m des Anderen In der Innldlung ethnologischC'n V~nl~hC'ns. In: Anthropos.Jg. 85. 1990. S.558-564.
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•
tatsächlich ein derart tiefer a.nthropologischerGraben? Könnte die Asymmetrie zwischen naiven Eingeborenen und sentimentalisch-reflektierten Europäern nicht viellcicht doch weniger kraß gewesen sein? Und waren, wie Todorov meint, die kulturellen Mißverständnisse nach 1519 von einer Art, die die Azteken geradezu zum Untergang verdammte? Eine bedenkenswerte Kritik an Todorov, in die sympathische Form einer voll ausgearbeiteten Alternative gekleidet, summt von Inga Clendinnen. Da sie ein vielgelobtes ethnologisches Standardwerk über die Azteken geschrieben hat lJ , steht sie über dem Verdacht, es fehlc ihrdas Verständnis ftir historische Anthropologie.'· Clendinnen geht kritischer an die Quellen heran als Todorov. So kommt sie zunächst zu der Vennutung, die Theorie von der .Rückkehr der Göner«, die sich so elegant in Cortes' Selbstimcrpretation einftigte, sei auch in den auf indianischen Infornurionen beruhenden Quellen, etwa der EnzykJopädie des Bernardino de Salugiin, eine erst nach der Eroberung ernstgenommene Rationalisierunggewesen.,sVor allem gelingt es Inga Clendinnen, dic Logik hinter dem Verhalten des Aztekenherrschers und seiner Aristokratie sichtbar zu machen. So kann auch Cortes seinerseits alsjemand erscheincn, der die von dcn Azteken ausgesandten Signale mißdeutet. .ln diesem Durcheinandcr vcrpaßter Hinweise und falsch verstandener Botschaften,« folgert Clendinnen, Ilscheim die )Kontrolle über die Kommunikation( [ein TodorovZiutJ beidcn Seiten gleichernußen entglitten zu sein.•'6 Damit ist die Symmetrie zwischen Spanicrn und Indianern wiederhergestellt und Todorovs einseitige Aktion-Reaktion-These korrigiert. In den ersten Phasen des Konflikts manipuliertcn die Azteken die Spanier mindestens ebenso erfolgreich wie umgekehrt. Todorov übersieht dies, weil er der geschickten Ex-post-Sclbststilisierung des Cort~s aufsitzt. Die Azteken, so Clendinnen, waren keineswegs durch die Rigiditäten einer andersartig-exotischen Kultur gelähmt; rationalcs uktisches Kalkül gehörte durchaus zu ihrem Verhaltensrepertoire. So war der Sieg der Spanier auch keineswegs durch EntwickJungsdifferenz zwischen den Kulturen schon garantien - wie eine Geschichtsschreibung der Triumphatoren es allzu gerne sieht. Er war weitgehend ereignisgeschichtlich kontingent, also vom Zufall bestimmt: Ila very dose-run thing•. 17 Was schließlich am Ende einer langen Auseinandersetzung den Ilmoralischen Zusammenbruch«18 dcr aztekischen Vcrteidiger auslöste, war nicht ihre menule Unbeweglichkeit, sondern die schiere Bruulität und Hemmungslosigkeit der spanischen Kriegfuhrung, 13 I. OmdillnDl. Thc AzICCS: An Inlcrprct:uion. Cambridgc 1991. 14 Dia.• • Ficrcc and UnnalUral Cruchy.: Conb and ehc Conqucst ofMcxico. in: S. Crm'fblatt (Hg.). Ncw World EncoulIlcrs. Bcrkc1cy 1993. S. 12--47. 15 Ebd.• S. 16. 16 Ebd.. S. 18. 17 Ebd.. S. 24. 18 Ebd.• S. 33.
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die jeden aztekischen Begriff von militärischer Auseinandersetzung verletzte: Schlächtereien unter der Zivilbevölkerung, Mißachtung einer rituellen Zeitordnung (z.B. durch nächtliche Angriffe), Hungerblockaden und eine Taktik der verbrannten Erde. Daß Cortes immer mehr seine Zuflucht zu solchen Exzessen nahm, daß er ohne militärische Notwendigkeit die glanzvolle Stadt Ten6chtitlan, die er eigentlich seinem Kaiser unversehrt darbietcn wolltc, dem Erdboden gleichmachte, deutet Clendinllen eben nicht als Ergebnis b'Ckonnter Manipulation, sondern als das genaue Gegenteil: Die Aztekcn hatten sich als geschickte, der Manipulation letztlich unzugängliche Gegner crwiesen; dcr Herr dcr Zcichen war am Ende seiner Kunst angelangt. Nur der schrankenlose Terror, den Cortes mit Hilfe seiner einheimischcn Hilfstruppcn entfesseltc, schien als ultima ralio zu bleiben. 19 Die Eroberung Mexikos war die Ursituation des neuzeitlichen europäischen -empire-building_, Cortes der Prototyp aller spätcren Konquistadoren. Deshalb sind die Kontroversen, die sich an den Ereignissen von 1519-21 entzündetell, auch unmittelbar für die Thelll3tisicrung kultureller Mißverständnisse in Asien lehrreich. Ob nun Todorov ooer Clcndinncn ooer vielleicht keiner von beiden ..recht hat_, ist für unseren Zweck unerheblich. Es kam darauf an, zwei ganz unterschiedliche Betrachtungsweisen nebencinandcTZustellen: hier die -romantische_ Position eincs Holismus, der geschlossene und einandcr VOll A,!fallgall fremde Kulrurwelten 3ufcinanderprallen sicht, don eine lIaufklärcrischeu Auffassung, die Andersartigkeit und vorgegebene Konfliktpotemialc nicht leugnet, aber eine kulturalistischc Argumcntation apriori zugunsten einer Untersuchung der sich von Situation zu Situation entwickelndcn Auseinandersetzung vermcidet. Hier wird, was Urs Bittcrli den lIUmschlag der Kulturberührung in den Kulturzusammenstoß« nennt,2'Q 31s Prozeß deutlich. Die Mißverständnisse nehmen zu, und sic gewinnen erst mit der Zeit einc stärker kulturelle Akzentuiemng. Nicht am Anf.ang, sondern am Ende einer längeren Phase der Interaktion steht die Selbst3bschotrllllg der Kulturen. Dies ist fraglos llicht überall so gewesen. Doch ergeben sich, wie die historische Forschung zu bestätigen scheint, kulturelle Mißverständnisse nicht schon aus dcr Zerstreuung und Panikularisierung der Völker, wie sie der Mythos vom Turmbau zu Babel ausdrückt. Mißverständnisse sind nicht zwangsläufige Produkte einer zersplittertcn Welt. Sie werdcn - lind darall erinnert uns das lIatl(klärcrische~ Modell - von Menschen gemacht.
19 Ebd.• $. J6--.11. 20 U. Bi,,",i. Alte Weh - neut" Wdt. Form<"n dcs t"uropJlSCh-übcrseelschell Kuhurkonakts vom 15. biS zum I8.Jahrhunden. Münchl."11 1986. S. 28.
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BI. Die Anregungen und Provokationen, die von Edward W Saids Buch 1I0rienulism« seit seinem Erscheinen im Jahre t 978 ausgehen 21 , sind von einer anderen Größenordnung als die Impulse Tzvecan Todorovs. Auch untersucht Said nicht die realen Kontakte zwischen Europäern und Nicht-Europäern, sondern ausschließlich die westliche Wahrnehmung und Beurteilung anderer Zivilisationen, vor allem der islamischen Welt. Said, der an der Columbia Univcrsity Vergleichende Literaturwissenschaft lehrt und auch als Musikkritiker hervorgetreten ist, hat, vor allem in den USA, eine der stürmischsten Kulturdebanen der Nachkriegszeit ausgclöst. 22 Hinter Said hat sich eine große Anhängerschar formiert, die gcgenjeglichcs Anzeichen einer imperialistisch-«oriemalistischell« Gesinnung zu Felde zieht und die Analysen des Meisters - nicht immer ganz auf dessen eigenem Niveau - auf immer neue Gebiete überträgt. Von seiner Wirkung her gesehen, gehört »Orient."disllllC gewiß zu den »great bocks« der letzten Jahrzehnte. Die Asienwissenschaften, die im akademischen Leben des angelsächsischen Raumes eine weitaus größere Rolle spielen als in Deutschland, sind durch Saids polemische Attacken zur Überprüfung ihrer unbefragten Voraussetzungen, ja, sogar zur Rechtfertigung ihrer Existenz gezwungen worden. Niemand wagt es zum Beispiel nach Said, wie es noch 1970 ein namhafter Orientforscher tat, von der »Überlegenheit der westlichen Methode historischer Forschung über ihre Tlluslimischen oder chinesischen Äquivalente« zu sprechen.2J Alles, was nach westlicher Arroganz und Besserwisserei aussieht, ist unter den Bannfluch der Saidianer geraten. Vor allem die Auffassung, außereuropäische Kulturen seien zur wissenschaftlichen Reflexion über sich selbst unfahig und bedürften der geistigen Stellvertretung -vielleicht die lange Zeit verbreitetste der Haltungen, die Said kritisiert - ist unhaltbar geworden. Eine zweite Konsequenz von »Orientalismu besteht darin, daß das Verhältnis des »Westensu zu nichrwestlichen Zivilisationen erstmals zu einem zentralen Thema auch nicht-asienbezogcner 21 E. W. Said. OriellUlisl11. London 1978. Da die deutsche Übersetzung (Frankfurt a.M. 1981) nur einen matten Abglanz des Originals bietet, zitiere ich Il~ch dem englischen Text. Daß Said inzwischen m;lTlche seiner radikaleren These gcmilden oder zurückgenommen hat. soll hier niclu imercssiercn. Weltweit bocwirla haben die Formulierungen von .Orienutism_. 22 Als Gcsallltlibersicht über S;lids Werk vg!. G. H. urrz, Edw;l.rd W. S;lid, in: 1-1. H/'UrmlQml u. H.-P. LJIlgr (Hg.), Colllemporaries in Culmral Criticism, Frankfurt a.M. 1991, S. 443-470. Ergänzende Überlegungen zum vorliegenden Beitrag in:]. Ostmlilllrmtl, Edward W. S~id und die ,.Qrientalismus.-Debaue. Ein Rückblick. in: Asien Afrika L:ltein3merika,Jg. 25,1997, S. 597-007. 23 D. Sillor, Imroductiol1 in: lArs. (Hg.), Orienulism and HislOry, B1oomington.1nd. 197()l, S. XVII. Ähnlich. aber milder im Ton, ß. 1Al.u: Eurozcnrr1smU5. in: Merkur,]g. 49, 1995, S. 644651. 00. S. 650. Leider hat der Siegeszug der Orientalismuslrritik die berechtigte (und auch in Asien und Afrika gestellte) Frage nach der Univcrsalisierbukcit eines westlichen WisscnschaflSVcrsundllisses IIl11er das Tabu imperi;llistischer Anmaßung gestellt.
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Kulturwissenschaften geworden ist, jedenfalls in den USA. In seinem Buch IOCulture and Impcrialism IIvon t 993 versucht Said weitergehend zu zeigen, wie die Abwehr und Fehldeumng des orientalischen Fremden nahcw die gesamte hohe Literatur Europas von Jane Austen bis Alben Camus durchzieht. 2• Auf Saids Spuren haben sich Scharen von Literamrwissenschaftlern dem Smdillm westlicher Oricntauffassllngen verschrieben. Wo in einem von Said erst wenig betroffenen Wissenschaftsmilieu wie dcm deutschen immer noch bieder von "Bildcrn" die Rcde ist, die man sich in eincr Kulmr von einer andercn macht, reden Autorinncn und Autoren, die sich als lIpost-oriemalistisch(( oder »POStkolonial« verstehen, von der lIorientalistischcn Konstruktion des Anderen«. Der Saidsche Impems hat der amerikanischen Literaturwissenschaft zur e>...pal1Siven Erschließung neuer Themenfelder verholfen; darumer der Reiseliteramr und sogar der Wisscnschaftsgeschichtc der Orientalistik. Inzwischen sind Edward Said und seine Ansichten nicht nur zu einem Objekt teils der Verehrung, teils vcrbittertcr Ablehnung geworden, sondern auch zum Gegenstand einer wachsenden Sckundärliteratur. 2S Man kann Saids Theorie des ),kulturellen Mißverständnisses(,- er selbst würde, wic sogleich verständlich werdcn wird, diese Formulierung vermutlich fur sich ablehnen - nicht vorstellen und diskutieren, ohne den öfTemlichen Einfluß anzusprechen, den seinc Ideen erlangt haben. Selbst entschicdenc Gegner gestehcn Said zu, daß cr es wie kein andcrcr Autor der Gcgenwan vcrmocht hat, die Frage der Haltung des Okzidents zum Islam und darüber hinaus auch zu den anderen Zivilisationen Asiens als ein zentrales Problem der Selbstbestimmung des Westcns ins allgemeine Bewußtsein zu heben. Kulturelle Mißverständnisse erlangen dadurch eine ganz neue Bedeutung. Sie trcten nicht nur in punktuellen Kommunikationsproblemen zutage, die Reiscnde oder Imperialagenten in der Ferne erfahrcn. Der Westen als ganzer ist in Saids Augen seincm Wesen nach unfahig, anderc Kulturen unverzern wahrzunehmcn. Das Mißverständnis des Frcmdcn und damit letztlich auch die Schwierigkeit, mit sich selbst ins Rcine zu kommen, ist seit dem Beginn des modcrncn Imperialismus - Said zufolge um 1800 - ein zentrales Merkmal der westlichen Zivilisation. Wie erklärt sich die immense Wirkung von 1I0ricntalismusII, nachdem das Buch 1978 erschicn? Zunächst sicher aus den unmittelbaren Zeitumständen. Drei Jahre nach dem Ende des Viemamkriegs und angesichts ncuer Wirrnisse im Libanon schien ein Sündenbock fur das Versagen des Westens (einschließ24 E. W. SaiJ, Cuhure :,IIId Impcrialism, LondOIl 1993. 25 Vgl. etwa zwei (extrem Said~freundliche) Übersichten über dic bisherige Kritik: L Malli u. R. Fral1krtllH'rg. The Challcllb't' of_OrienulislllOl, in: Ecoilorny:md Socicty,Jg. 14. 1985, S. 174-192; G. Prakasll. •Oriellu1ism. Now, in: H&T,Jg. 34, 1995. S. 199-212. Zahlreiche Arbeiten der SaidSclm1c werden vorgestellt und disklilierllH'ij. M. Mar1V:'/I.z~. Oriemalism: I-listory, Thcory:ll\d thc Arts. Manchester 1995, S. 1-42. Vgl. 2uch M. SprillA."ff (Hg.), Edward Said. A Critical Reader. Oxford 1992: Z. Samar, Orient21ism, Buckingharn 1999.
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lich Israels) gegenüber den Nationalismen in der Dritten Welt gefunden zu sein: ein kollektiv pathologischer Vcrb1endungszusammenhang, eine Verschwörung von Wissen und Macht, die unbeschädigt das Zeitalter der politischen Dekolonisation überstanden hatte. Ein Meinungsfuhrcr der liberalen amerikanischen Kulturszene, noch dazu politisch engagierter Palästinenser und daher Kolonialisllluskritiker mit Authentizitätsanspruch, hatte den Anti-Imperialismus (und Anti-Zionismus) zum Kulturproblem veredelt und damit salonfahig gemacht. Saids Thesen allein erklären den Kultst3tus, den »Orientalismus« rasch erlangte, noch nicht. Ganz neu waren sie keineswegs. Mit dem Vorwurf des Ethnozentrismus oder Eurozentrismus, gar dem ihrer kolonialistischen Verstrickung hatte die Wissenschaft vom kulturell Anderen längst zu leben gelernt; cr war beinahe so alt wie sie selbst. Um 1978 hatte zum Beispiel die Ethnologie die Diskussion um ihre Beziehungen zu imperialer Herrschaftspraxis weitgehend hinter sich. 26 Auch waren die Orientwissenschaften keineswegs durchweg so selbstgefallig, wie Said sie mit seiner nicht allzu profunden Kenntnis der Wissenschaftsgeschichte darstellt. Der große russische Orientforscher Vasilij V1adimirovit Banol'd zum Beispiel, den Said an keiner Stelle nennt, hatte bereits vor dem Ersten Weltkrieg zahlreiche der ideologischen Beschränkungen seiner Fachkollegen kritisiert, etwa lIdie Geringschätzungder Geschichte der modert/eil orientalischen Völker«.'ZI Und der nicht minder bedeutende, ebenfalls klassische Studien und Gegenwartsinteresse verbindende Islam ist earl Heinrich Becker, bekannt als preußischer Kultusminister, war gleichzeitig eincr der schärfsten Kritiker der Kolonialpolitik des kaiserlichen Deutschland. 211 Neu war bei Edward Said zweierlei: Zum einen begnügte er sich nicht damit, die offensichtliche Indienstnahme der Wissenschaft fur die Zwecke imperialistischer Herrschaftssicherung abermals nachzuweisen. Er zeigte vielmehr, wie ))himer dem Rücken der Subjekte« eine machrverwandte Denk'weise am Werke war, die auch noch die vorgeblich reinste und interessenfemste Wissenschaft
26 Die Argumente faßt ZU52mmen: G. LLdm. AllIhropologie und Kolonialismus, dl. v. 1-1. Zischler, München 1973. Zur spätercn Diskussion um Ethnologic und Koloni:lllismus vgl. H. KlIkli(k. The S:IIV:lge Within; The Sodal History of British AnthropolOb'Y 1885-1945, Caillbridb>e 1991, S. 182-241, sowie die Gegenposition bei). Goody. The Expansive Momem: Amhropology in Briuin :lind Mric:II 1918-1970, C:IIlllbridge 1995, S. 3, S. 191-208. 27 v. V. Ban/lold:. Die gcogr:aphischc und historischc Erforschung des Orients unter besonderer Berücksidnigung der russischen Arbeitcn, Leipzig 1913, S. 88. I-Iervorh. J.O. 28 Vgl. Verhandlungen des DeutsChen Kolonialkongresscs 1910 zu Bcrlin. Berlin 1910. S. 638--651; G. Mii/lv, Weltpolitischc Bildung und akAdemische Reform. Carl Heinrich Beckcrs Wis5ellschafts- und I-Iochschulpolitik 1908--1930, Köln 1991. Zu Bccker und andercn OrientalistC'n des frühen 20. Jahrhunderts vgl. auch ).-). Waardttrbl''R. L'lslalll d:llils Ic miroir dc l'Occident, Den Hug 1962. Zu den M:ingdll VOll S:IIids WisscnschaftsgetchichtsschrC'ibungvgl. C. S,all/h, Islnn und westlicher R:IItionalisllms. Der Beitr.lg des OrienuliSlllus zur Entstehung der Soziologie, Fr.lIlkfurt a.M. 1993, S. 57 f.
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infizierte. Die Unschuldsvermlltung, welche die akademische Orientforschung vom Trivialschrifttum dcr Pseudo-Experten zu unterscheiden schien, wurde radikal in Zweifel gezogen. Zum anderen bediente sich Said bei seinem polemischen Unternehmen der Termini und Argumentatiollsmuster fortgeschrittener Kulturkritik. A. L. Tibawi und Albert J-1ourani, Maxime Rodinson und Anouar Abdel-Malek., Frantz Fanon und Aimc Ccsaire mochten längst - und wenig gehört - Ähnliches gesagt haben: 29 Said wiederholte es. rhetorisch brillant, theoretisch anspruchsvoll und mit reichem Matcrial illustriert, aufeine Weise, die das Problcm alls den Berechenbarkeiten angeblicher Dritte-WcltRessentiments heraushob und Kennern des frühen Lulclcs, des späten Gramsci und des mittleren FOllcauh schmackhaft machte. Wer auf der Höhe der Zeit sein wollte, redete nun über 1I0rientalism\<..lO Was außerdem noch - abgesehen von cinigen polemischen Attacken auf bekannte Islam forscher wie ßcrnard Lewis31 -an dem Buch f.lsziniene, war die nahtlose Verbindung von grandiosen AJlgemeinaussagen mit der genaucn Lektüre einzelner Texte. Arrrabiv war auch die Vermischung der Gattungen, denn »Orienralislllus« ist rur Said eine Bewußtseinshaltung, die sich gleichermaßen in Reiseberichten, Romanen und Opcrnlibretti, in historischen Abhandlungen, Grammatiken und Politikerreden auffinden läßt. Der llDiskurslC kennt keine Gattungsgrenzen. Er ist allgegenwärtig, und ebenso ubiquiüir sind die Bewußtseinsblockaden, die er produziert. Am engsten verbindet sich Edward Said den theoretischen Vorlieben und kulturkritischen Stilllmungslagen der siebziger Jahre dort, wo er das, was er bewußt uneindelltig >lOriental ismus\< nennt, in Gegensatzpaaren oder llbinären Oppositionen\< beschreibt. Es war dies eine Denkform des Spätstrukturalismlls, die Said mit gTOßcI11 Erfolg anwendet. Vor allem drei solcher Gegensätze charakterisieren ihm zufolgc den Ilorientalistischen" Diskurs. Erstens: Monolog, nicht Dialog. Der Orielltalismus redet über die zur Stummheit verdammten Orientalen so, wie bei Michel FOllcaulr die PsychiJter über die bloß murmelnden Irren reden ..ll Der Orient WJr llnicht Europas Ge29 Kurz vordelll Erscheinen von Saids Buch etw
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sprächspartner, sondern sein schweigcndes Anderes.~ Der Orientalismus ist ein Monolog, ein von jeder Erfahrung nicht-okzidentaler LebellswirkJichkeit entfremdetes, besserwisserisches, ein unent\Vegt etikettierendes, kJassifizierendes und methodisierendes Geschwätz. Anders gesagt: er ist ein geschlossener, mit sich selbst rückgekoppelter, ein homogener und im Bezug auf selbstgeschaffene Prinzipien reduktionistischer Wissenskosmos. Fakten vermag er mühelos zu verarbeitcn, Erkenntnisse kann er nicht gewinncn. Einmal, im frühen 19. Jahrhundert, durch eine Generation von einOußreichen Gründern etabliert, wird der Orientalismus zu einem die g:mze Gesellschaft durchdringenden >lSystcm von Wahrheiten~ (also von Glaubenssätzen), das durch Erfahrungen nicht mehr korrigjcrt werden kann. Auch die Reisenden, selbst der geniale Schriftsteller Gustave Flaubert, >Ischen« im Orient nur, was sie zuvor bei den Orientalisten gelesen haben. So kommt Said zu dem Schluß, lKiaß [im 19. Jahrhundert Jjeder Europäer, in dem, was er über den Orient sagen konnte, ein Rassist, ein Imperialist und ein fast vollkommener Ethnozentriker warll. 3S Zweitens: Konstruktion, nicht Abbild. Die selbstgeschaffenen Prillzipien des Orielltalismus sind solche der Objektivierung und Distanzierung. ObjektivieTUng bedeutet, die östlichen Kulturen ohne jeden persönlichen Enthusiasmus auf den Sezienisch der Wissenschaft zu legen. Die Schlüsselprozedur des orientalistischen Monologs aber ist die Konstruktioll von Differenzen. Die allgemeinste dieser Differenzen ist die zwischen uns und dem Fremden, zwischen »West(! und »Ost((, »Abendland« und »Morgenland«, »Okzidentll und II0rient«.36 Diese Erfindung eilles Erkenntnisobjekts namens »Orient« erfolgt nicht willkürlich, subjektiv und regellos. Der Orient der Orientalistcn ist kein reines Wahngebilde. Er entsteht nach 1800 - Said sicht Napoleons Invasion Ägyptens (1798) als einen epochalen Einschnitrl7 - vor dem doppelten Hintergrund einerseits der realen Beherrschung östlicher Völker durch die europäischen Großmächte, andererseits eines neuartigen Wissenschaftsbegriffs, der, wie Ronald Inden später präzisiert, am Vorbild der positivistischen Naturwissenschaften orientiert ist. Jll Wenn Edward Said den Orient der Orientalisten als Konstrukt begreift, dann impliziert er, was dieser /licht ist: ein Abbild der Wirklichkeit. Aus Saids Sicht ist dies kein Einwand gegen die Orientalisten; einige der erfolgreichsten unter ihnen waren selbst stolz darauf, den Orient aus Trümmern und Texten überhaupt geschaffen oder re-konstruiert z.u haben. 39 Er 33 E. w. Said. Oricll(:llism Rcconsidcrcd. in: S. K. Parwrm (Hg.), Anb Socicty: Colllinuity :lud C1mlgc. London 1985. S. 105-122. hicr S. 109. 34 Said. Oricnulislll. S. 204.
35 Ebd.. S. 204. 36 37 38 39
Ebd.. S. 43f. Ebd., S. 79-88. 122. Vgl. R./tldtn, Irnagining Indi:l, Ox(ord 1990. S. 12-21. &lid, Oricmalism. S. 86f.
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wirft ihnen vieles vor, aber nicht, die Realität verzerrt oder verkehrt wiedergegeben zu haben. Die in der Literatur über Fremdbilder beliebte Konfrontation von europäischen Te>...1:en, ctwa älteren Reiseberichten, mit dem ~tatsächli ehen« Oricnt, wic wir ihn heute zu kenncn glauben, wäre im Rahmen des Saidschen Denkens absurd. Denn nach dem DiskursbegrifT Michel Foucaults, dem Said hier folgt,-lO ist es unzulässig, eine Aussage über den Orient als empirisch )lfalschll zu bewerten. Wo es keine Bilder gibt, kann auch nicht von falschen Bildern und Fehlrepräsemationen die Rede sein. Saids Erkenntnistheorie ist konstruktivistisch; sie ist also gegen die Vorstellung eines subjektiven Bewußtseins gerichtet, das sich einen bild lichen Eindruck von einer unabhängig von ihm existierenden Realität schafft. Übrigens berührt sich Said hier mit einem gleichzeitig erschienenen vielbeachteten philosophischen Entwurf: Richard Rortys lIPhilosophy and the Mirror of Naturell (1979), einer Kritik am cartesianischen Dualismus von subjektivcm Bewußtsein und objektiver Außenwclt.~l
Drittens: Essenz, nicht Kontingenz. Saids Dcnken - und noch konsequenter das von Ronald Inden in seinem Buch llimagining lndia«, das Saidsche Analysemethoden auflndien zu übertragen versuche2 - ist ami-essentialistisch. Was ist daruntcr zu vcrstehen? Zu den Axiomen des orientalistischen Diskurses gehört die Vorstellung, es gebe durch unveränderliche Attribute bezeichenbare kulturelle Substanzen, die sich eindeutig voneinander abgrenzen und womöglich in Relation zueinander bewerten ließen; sie gingen dem Handeln der Menschen bindend und gleichsam tr:1I1szendelHal voraus. Überall, wo z.B. von der seinsmäßigen Andersartigkeit des Morgenlandes, vom llWesenll der indischen Zivilisation, vom »islamic mind« oder von der »konfuzianischen PersönIichkeit(( die Rede ist, stellt sich der Verdaclu auf solches verdinglichende Substanzdenken einY Es ist ein Markenzeichen ftir das, was oben das »romantische« Modell des kulturellen Mißverständnisses genannt wurde; Tzvet:l.11 Todorovs Aussagen über die Besonderheiten der aztekischen Zivilisation sind ein gutes Beispiel dafUr. Über mögliche Alternativen zu einer solchen Denkweise äußern sich Said und die übrigen Orientalismuskritiker nur höchst vage: Ronald Inden will mit vielen anderen nhuman agcncyo<, also die Handlungsinitiative von Individuen und Gruppen, in den Vordergrund stellen, verrät aber nicht, wie er dabei die Rückkehr zu einer schliclHell Ereignisgeschichte ver40 Vgl. über SJids Verhältnis zu Foucault:J. Cli.fford, Rezension VOll E. W. Said, ..oriellulislll., in: H&T,Jg. 19. 1980, S. 204-223. insbes. S. 212-219; L. Bi"dt'r, Islamic Libcralislll: A Critique of Dcvelopment Ideologies. Cl1ic:lb'O 1988, S. 109-122. 41 R. Rony. Spiegel der N:Hur. Eine Kritik der Philosophie. Frankfurt a.M. 1981. 42 b,derr, Imagining India. Die Thcsen des Autors sind leichter zugänglich in R. lI/dm. OriellrnHst COllStrllclions oflndia, in: MAS, Jg. 20. 1986, S. 401-446. 43 Ein krasses Ikispiel iSt O. W~/. Die Asiaten, München 1989. wo mit unkritischer Selbslgewißheit die wildesten Pallschalbchauptungen über -.die Asiaten• .aufgetischt werden.
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meiden kann." Gyan Prakash, der einen inhaltlich umgekehrten Essemialismus auch in der nationalistischen indischen Geschichtsschreibung findet, fordert eine .relational historiography«, die die Freiheit und Wandelbarkeit kultureller Formen betom. ö Monolog, Konstrukt, Essenz und die GegenbegrifTe Dialog, Abbild und Ge nachdem) Kontingenz. Relation oder .human agency«: dies sind drei Kemkonzepte bei Edward Said. Sie verbergen sich hinter dem sichtbareren Begriffdes .Diskurses«.46 Der orientalistische Diskurs, SO kann man im Anschluß an Said definieren, ist ein interesscngestütztes Konstrukt, das in monologisierender Form die essentielle Andersartigkeit, oft sogar die Minderwertigkeit des Fremdkulturellen bekräftigt und daraus häufig politische HerrschaftSansprüche, mindestens aber die kulturelle Hegemonie des Westens ableitet. Von den Konsequenzen aus diesen Überlegungen fur die Untersuchung interkultureller Wahrnehmung sei nur eine genannt: Nach strcnger Foucaultscher Diskurstheorie dürfte eigcntlich von individuellen Autoren gar nicht, von einzelnen Texten nur ausnahmsweise und im Grunde allein VOll .diskursiven Formationen« die Rede sein:H So weit geht der Polemiker Edward Said nicht. Ausdrücklich gegen Foucauh bekennt er sich zu .der maßgeblichen Einwirkungeinzelner Schriftsteller aufdas ansonsten anonyme Kollektiv-Corpus von Texten, das eine diskursive Fonnation wie den Orientalismus ausmacht«.4 Eindeutig ist aber, daß subjektive Einstellungen, Haltungen und Motive von Bilder-Produzenten in dieser Denkweise keinen Platz haben dürfen. Ausdrücke wie .Vorurteil., .Befangenheitll, .Objektivitit«, .Sympathie« und .Antipathie«, ja selbst ein wertender Begriffvon .Toleranz4l; haben in eineT Diskursananalyse nichtS zu suchen. Hier liegt einer ihrer großen Vorzüge: sie ist anti-intentional und anti-hermeneutisch und ermöglicht dadurch eine große Genauigkeit in der strukturellen Beschreibung von Äußerungen. Daraus ergibt sich aber auch: Die Werthaltungen von Autoren und die Metaphorik und Argumentationsweise ihrer Texte stehen in keinem eindeutigen Verhältnis zueinander. Gute und fortsChrittliche Menschen sind nicht immer und unbedingt die besseren 44 I"drll. hnaglning India, S. 23f., 52. 45 G. f>mluul•. Wriling Post·Orielllalist HiSloricsofthe Third World. Pcrspcclivcs from Indian HislOriognphy. in: CSSJ-I.)g. 32, 1900. S. 383-408. bes. S. 399. Dazu der Diskussionsbeilfag von R. O'HOl1/01l 1I. D. Wotl'hbrook. Afler OriClIllllism: Cullllre. Cr;ticisill. and Polilics in the Third World. in: CSS!-I. )g. 34. 1992. S. 41-67. Zur Esscntialismusproblemalikallg.vgI. C OJIJuml1. Social Throry and Ihe Polidcsofldemity. in: Dm. (Hg.). Social Theoryand the Polilics ofldemily, Oxford 1994. S. 9-35. bes. S. 12-20. 46 Vgl. zur Problematik und vielßJti~nAuslcgbarkeil dieses BcgrifrsM. Fml1k. Zum Diskursbt-gri1Tbt. Foucault. in:). Fchmwl1l1 u. H. MülJrr (!-Ig.). Diskursdlro~n und Luenrurwissensehafl. Fnnkfun a.M. 1988. S. 25-44. 47 So vor allem M. Fowaull. Archiologtc des Wissens. dt. v. U. Köppen. Fnnkfun a.M. 1973.
5.48-60. 48 S.id. Oncnllliism. S. 23.
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Beobachter - und umgekehrt. Sympathie klärt nicht unweigerlich den Blick. Wenn Edward Said selbst bei der Analyse einzelner Autoren und vor allem im dritten, dem polemischen Teil seines Buches, die Diskurs3nalyse gcsinnungsethisch, ja geradezu voluntaristisch unterläuft, indem er die Möglichkeit vorsicht (etwa am Beispiel der pro-islamischen Leidenschaft des großen lslamisten Louis Massignon), durch einen Akt interkuhureller Solidarität in die Authentizität der anderen Zivilisation hineinzuspringen, dann unterminiert er seine eigenen theoretischen VOfaussetzungen 049 und öffnet Tür und Tor rur die alten wertenden Klischees, nach denen »positivc4I und »negative« Bilder fremder Kulturen auseinandersortiert werden. Und im übrigen: Gibt es eine essemialistischere Kategorie als »Amhemizität«? Das »wahre Wesen« einer Kultur muß nach Said unerkannt bleiben, weil Kulturen kein »wahres Wesen« besitzen. Das ist ein Grundsatzjeder Orientalismuskritik.
IV Die Debatte über Saids Thesen, seine eigene Entwicklung seit 1978 sowie die zahlreichen Versuche seiner Schüler und Anhänger, die Fahndung nach orientalistischen Splittern in immer neue Zonen der europäischen Bewußtseinsgeschichte voranzutreiben, brauchen hier nicht im einzelnen nachgezeichnet zu werden. Auch genügt es, pauschal auf Autorinnen wie Gayatri Chakravorty Spivak...50 und Autoren wie Homi K. Bhabha 51 hinzuweisen, die Saids Anregungen und daneben vor allem die des Philosophen Jacqucs Dcrrida zu eigenständigen, freilich in ihrer Empirieferne oft rur Historikerwenig nützlichen kulturtheoretischen Entwürfen weitergefiihrt haben.~ Bei der Kritik an Said kann es nicht darum gehen, den Saidschcn Ansatz pauschal zu verwerfen oder ihn ebenso pauschal zu der Weisheit letztem Schluß zu erklären. Weder die Abweisungjeglichen Selbstzweifels durch manche Vertreter der orientalistischen Fächer noch die eifernde Gesinnungsinquisition 49 Vgl. die Kritik von C/ijfurd, Ileview, $. 216-2\8. 50 Vgl. D. LAmlrr u. G. Ma(Uall (Hg.), The Spi~k Ileader: Sclected WorksorGay:mi Chamvony Spivak, Londoll 1996: G. C. Spivak, A Critique orPost-Colonialll.e:ason: Toward a History or the V:anishillg Prcsent, C:arnbridge, Mus. 1999; d:azlI die rulminame Kritik von T. &g/tlOll, in: London ll.evieworBooks, 13.5.1999, S. 3--6. 51 Vgl. H. K. Bhablla, The LOC:ltion orCulture, London 1994. Weithin berechtigte Kritik daran bei N. 171OII/as. ColonialiSIl1'S Cuhure: AllIhropology. Tr:wcland GovernmCIll. Cambridgc 1994. $.39([ 52 Par:al1ele Bestrebungen rur Arrika finden sich etw2 bei V. Y. MllJilllM, The Invention or Arrica. Gnosis. Phil050phy, and the Order or Knowlcdgc, ßloolllingtoll. Ind. \988. Einen guten Überblicke über die Weiterflihrungcn der S:aidschen Anregungen geben die 15 Kapitel in: K. A,l~1l-Pf'afSD" 1I.a. (Hg.), CultUr.l.lll.eadings orlrnpcrialism: Edw:ard Said :and the Gr:avity orHislOry. London 1997.
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und die anti-westliche Aggressivität einiger Said-Jünger verdienen Sympathie. So hat der Philosoph und Anthropologe Erncst Gellner gegen die bei Said verborgen angelegte und bei einigen Said-Anhängern ausgesprochene Auffassung, um ein angemessencs Verständnis einer Kultur zu garantieren, dürfe z.B. nur ein Muslim den Islam interpretieren, nur ein Afrikaner die Geschichte Afrikas schreiben (usw.), die aufklärerischen Prinzipien eines erkenntnistheoretischen Universalismus gehend gemacht: _1 ... 1Muslime und alle anderen Anen von Leuten haben manchmal recht und manchmal nicht. Man kann dies nur beurteilen, wenn man sich ansieht, l41QS sie sagen, und nicht, wercs sagt. Es gibt keine natürlichen Wahrheitsbringcr und keine natürlichen Bringer des Irrtums.~ Gerade die leidenschaftliche Reaktion Ernest Gellners, eines der wichtigsten Denker der Gegenwart, beweist die Bedeutung der Probleme, die Said anspricht. Am Grunde der Kontroverse, die Gellner und Said 1993 in scharfer Form austrugen,S
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werden kann? In Gellners Auffassung läßt sich eine Bekräftigung des aufklärerischen Modells kultureller Mißverständnissc sehen: Solche Mißverständnisse kommen vor, auch hat sie sich der Westen bei seiner Expansion immer wieder auf Kosten nicht-europäischer Völker zunutze gemacht, doch sind sie kein unausweichliches Schicksal, sondern durch ein aktives Bemühen um überkulturelle Vernünftigkeit grundsätzlich (wenngleich in der Praxis oft unter großen Schwierigkeiten) therapierbar. Edward Said, der in kognitiven wie moralischen und ästhetischen Universalitätsansprüchen stets den alten imperialistischen Überlegenheitswahn wittert, läßt sich auf den ersten Blick dem romantischen Modell kultureller Mißverständnisse zuordnen. Da er aber ein Kernelement dieses Modells, den »EssentialismuslC, welcher eine Kultur als organisches Ganzes auffaßt und glaubt, Aussagen über ihr lIWesen.. machen zu können, entschieden ablehnt, ist seine Position ambivalenter und weitaus weniger eindeutig romantisch als diejenige zum Beispiel Tzvetan Todorovs. Dies macht sie besonders interessant. Bei reinen Romantikern treten Mißverständnisse schon allein deswegen auf, weil es zwischen unterschiedlichen, als voneinander isoliert gedachten Kulturen mit je eigenen Lebensformen und Weltbildern zunächst keinen Boden rur Gemeinsamkeiten geben kann. Ein strukturelles Mißverständnis bildet die Ausgangslage; es kann nur durch sehr beschwerliche Anstrengungen vorübergehend abgeschwächt werden. Todorov verfeinert dieses Modell, indem er zeichentheoretisch den jeweiligen kommunikativen Handlungsspielraum zur unterscheidenden Variablen im Kulturkontakt erhebt. Als überlegen erweist sich, wer nicht im Mißverständnis gefangen bleibt, sondern sich über es erhebt und es instrumentell zugunsten eigener Ziele und auf Kosten der anderen zu nutzen weiß. Ocr erfolgreiche Imperialist ist einer, der das Mißverständnis versteht. Todorov verbindet also den Determinismus des romantischen Modells mit einem gewissen situativen Handlungsspiclraum, wie ihn das aufklärerische Modell annimmt. Bei Said wird das Mißverständnis allgegenwärtig. Da der Westen in weltgeschichtlich einzigartiger Weise politisch-wirtschaftlichen Expansionismus mit kulturellem Autismus verbindct, kann es zu wirklichen K"ltur-Kontaktcn nicht kommen. Die Herrschaftsbeziehung, die der Wcsten (aus Gründen, die Said nicht erörtert) offenbar überall und geradezu zwanghaft gegenüber Nichteuropäcrn aufzubauen bestrcbt ist, vereitelt von vornherein cine l-ulturelle Begegnung auf der Grundlage gegenseitiger Anerkennung. Macht gebiert Mißverständnis. Jeder westliche Spiegel des Fremden muß ein Zerrspiegel sein,jedcr Anspruch auf wissenschaftliche Objektivität entlarvt sich als Selbsttäuschung. Während sich bei Todorov kommunikative Kompetenz deshalb in Macht umsetzen kann, weil ein Heman Cortes - praktisch-intuitiv, nicht wissenschaftlich - eine im Prinzip .richtige« Einsicht in das Funktionieren des aztekischen Bewußtseins gewinnt, fchlt bei Said die Chance der manipulativen Begegnung.
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Auch ;aus unvollständigem, f;alschem oder übertriebenem Wissen (etw;a dem Gerücht) kann unter besonderen Umständen M;acht eJW:Ichsen, doch ist n;ach S.aid alles westliche Wissen über d;as konstruierte Erkenntnisobjekt ~OrienttC Trug und Schein. M.anipulieren k..:mn nur der, der über empirisch korrek'tes (HerTSChafts-) Wissen verfugt. D;as aber ist Europäem spätestens n.ach dem imperi;alistischen Sündenfall (N;apoleon, nicht schon Cortes!) nicht länger zugänglich. Nun fUhrt eine soldle Position, die S;aid tituli 1978 in nunchen Stellungnahmen gcmilden hat, zu vielen zweifelnden Fn.gcn und zu einigen offensichtlichen Widersprüchen und Absurditäten. Erstens: Wie konnte ausgerechnet ein ;amerikanischer Literamrprofessor dem universalen Zwangs- und Verblendungsdun.kter der westlichen Kultur entrinnen? Zweitens: Wie läßt sich der re;ale europäische Imperi.alismus erklären, den S;aid nicht, marxistisch gesprochen, .aus dem ~Überbaul( ableitet (allenfalls habe der Oriemalismus koloni;ale Herrschaft »vorauseilend gcrechtfertigtl(),~7 sondern den er als unabhängige Variable bereits voraussetzt, ohne ihn jemals auch nur andeutungsweise zu lllltersuchen?S8 Driuens: Übersicht Said bei seiner Konzentration aufdie innere Struktur und die selbstrefercnticllen Eigenschaften des Diskurses nicht das, w.as.am Beginn dieses Aufsatzes umrissen wurde: den Umstand, daß imperiales Wissen vorallem dann furdas Imperium nützlich sein kann, wenn es empirisch gehaltvoll ist? Daß Wissen, welches aus der systematischen Bcob;achtung kolonialer Realität hervorgeht, später doktrinär erstarren und die Wahmehmung einer sich verändernden Wirklichkeit behindern kann, steht auf einem .anderen B1.au. Said .aber geht so weit, die Beziehung zwischen Texten und Realität, zwischen der Geschichte des Wissens und deljenigcn des Imperialismus ganz zu kappen. w Viertens: Ist es wirklich so - es widerspricht jeder historischen Kennmis und Erfahrung -, daß sich der Westen dem Osten ohne Vermiulung, ohne einheimische Helfer, ohne kulturelle Kompromisse aufgezwungen hat? Handelt es sich hier nicht um eine Dämonisierung angeblicher westlicher Allgewalt (wie sie auf individueller Ebene Todorov bei seinem heroisierenden Cones-Portrait unterläuft), um eine An von Idemifikation von Edward Said, dem Sprecher der verstummten Dritten Welt, mit dem Aggressor? Fünftens: Wie selbstsicher waren die Träger des orientalistischen Diskurses, wie triumphal waren sie tat57 Soid.Orienl:llism. S. 39. 58 Auch in .cuhure ;rnd Im~ri;rhsm. bleibt ~id bc-i ;rllgcmcinsten Aus~n su:hen, ebc-nso in E. w. &lid. Secul;rr 1nterprel:ltion. the Geognphial Element.. and the Methodology of Im~ri;r lism. in: C. Pr,;rltash (Hg.), Mter Coloni;rhsm: Imperi;rl Histories and Ilostcoloni;rl Displaccmcnts.. PnncelOfl 1995. S. 21-39. 59 Vgl. D. L.udtkn. Orienl:llist Empincism: TransromucionsorColoni;r1 Knowkdgc. in: c.A.. BmJmr~ u. P. 11. d. VM' (Hg.). Dmnl:lhsm ;rnd the Postcoloni;rl Pm:hcamem: Perspecti'l.'CS on Saudi Nu.., Philadelphia 1993. S. 250-278. bes. S. 252-263.
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sächlich gestimmt? Neuere Studien haben, zum Teil in bewußter Fortftihrung Saids, die Zweifel und Ängste herdusgearbeüct, mit denen sich weniger die Schreibtisch-Orient3listen, aber doch große Teile des kolonialen Personals vor On herumschlagen mußtcn.(f) Sechstens: Begeht Said nicht selber ausgerechnet jenen Kardinalfehler, den er dem Orient3lismus vorwirft - die Essenrialisiertlng des Anderen? Said lehm ein Denken in Subsbnzkategorien ab; er will Essenzen in Relationen und Praktiken auflösen. Nicht zuletzt darin soll die erstrebte _neue Art des Wissenstl bestehen.'l Indes schreibt Said Europa eine ganze Reihe von Fähigkeiten und Eigenschaften zu, die so etwas wle sein unveränderliches .Wesentl auszumachen scheinen. etwa das Vermögen, den Orient in ideologische I-Ierrschaftsstrukruren (»dominating frameworks.) einzuzwängen.62 Der impcrialismuskrüischc Schwung kippt zuweilen um in die geradezu bevrondernde Beschwörung einer offenbar einzigartigen Zivilisation, die nicht nur die Welt real beherrschte, sondern dazu noch die enorme geistige Ordnungsleistung aufbrachte, sie zum Wissensobjekt zu degradieren. Früllere Kolonisatoren, so könnte man Karl Marx' elfte Feuerb:lchthese abwandeln, haben die Weh bloß verändert, das moderne Europa hat es auch geschafft, sie zu interpretieren. Der Dekonstruktioll des europäischen Orientdiskurses müßte nun aber die Anwendung desselben Verfahrcns auf Europa folgen: die Entzauberung des Okzidents, der aus .Orientalism. noch in seinem ganzen finsteren Glanze hervortritt./l,) Erst danach dürfte eine post-orientalistische Geschichtsschreibung möglich sein. Siebentens schließlich: Ist das Bedürfnis nach Idenritätsst:3bilisierung durch Abgrenzung und Differenzkonstruktion wirklich nur rtirdas moderne Europa charakteristisch? Findet es sich nicht auch in China, Japan, im Mittleren Osten - wo auch immer? Hier hat Said selbst später eingeräumt: _1 ... 1die Entwicklung und ßc"YJhrungjcder Kulrurverlangt die E.xistenz eines anderen von ihr unterschiedenen lind mit ihr in Wettbewerb tretenden aJrer tgo..,b4 60 Vgl. e[W;ll S. S'l/m. The Rhetoric of English India. Chicago 1992; K. Ttltsth«. India Inseribcd: Europc:an and Brilish Writing on India 1600--1800, Ddhl 1995. 61 Saw, Orielltl.lism Ikcollsidcrcd. S. 107. 62 Said. Oricmalislll, S. 40. 63 Dies forden zu Reell! R. ScllIILu, Das isl:nnische 18.J:lhrhunden. Versuch einer historiographischen Kritik, in: Die Weh des Islams.Jg. 30, \990, S. 140-159, hier S. 148. S:lid spricht selbst neuerdings von .Western civl1iudon_ als .inlarge mcasure an idcological fiction •. E. ~v. SaiJ. Wt ISII't Easl: The Illlpending End of the Age of Orient:l.lislIl. In: Tlllles Litenry Supplelllelll. 3.2.1995, S. 3--6, hier S. 5. Ein Versuch emer solchen _Ockonnrukllon_ Eu~ ist). NNmJMI p~, UnpKking Ihe West: How Eu~an is Europt'? in: ..... R4wmsi u. S. Westwood, Ibcism. Modernity,ldcrnity: On the Western From. Cambridgc 1994, S. 129-149. Wahmehmung\"11 und Konstruktionen de:s Okzidents aus _anderer« Sicht \\o'trckn heute Ullter dem StKhwo" ..ob.ide.nl· :lhsmus-o behandelt, "gi). C. QJrritr, OccidcllClolism: The WorldTumcd UpsKie-Down. m:Amencan Ethnologist.Jg. 19, 1992. S. 19S-212; DnJ. (Hg.). Occidcntalism: Inugcsofthe West, Oxford 1995 - em vicl"crsprC'Cheodcs Forschungsfeld. Siehe aoch unlen Anm. 79--81. 64 &lid, Easl Isn't East. S. 3. M:ln hal Zclg\"11 können. WK' SICh J:lpln Sl."il dem ~Icn 19. Jahr-
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Zu diesen sieben Nachfragen komlllen eine Reihe speziellerer Kritikpunkte hinzu: Said habe sich der Fülle westlicher Anregungen aus dem Orient in Literatur, Kunst und Musik gar nicht geöffnet, sondern das historische Material voreingenommen in seine apriori gegebenen Denkschablonen gepreße 65 Er habe die Rolle der Orientalisten, die ja im t 9. Jahrhundert zumeist Sprachforscher waren, als ideologischer Kadertruppe des Imperialismus66 bei weitem überschätzt und nicht gesehen, daß ein orientalistischer Diskurs, der politisch wirksam wurde 67, sich eher außerhalb der Orientalistik fand, erwa bei Historikern und Geographcn. 68 Außerdem lassen sich manche der Thesen Saids, die am Verhältnis zwischen Europa und der islamischen Weh entwickelt wurden, auf die Beziehungen zwischen Europa und den fernerliegenden asiatischen Zivilisationen nur mit erheblichen Modifikationen anwenden. Fassen wir zusammen, so läßt sich sagen, daß Edward Saids Vision, um nicht zu sagen Theorie, von der maclHberausclHen Selbstbezogenheit des modernen Europa fUr interkulturelle Begegnungen und damit auch fiir Mißverständnisse, die bei ihnen auftreten können, keinen Raum läße Erst Demütigung und Selbstkritik Europas und des Westens überhaupt, zu dem Said auch Israel zählt, würden die Voraussetzungen daftir schatTen. Vom aufklärerischen Modell kultureller Mißverständnisse unterscheidet Said sich radikal. Das romantische Modell steht diesem Vertreter eines eigentümlichen kulturellen Relativismus wesentlich näher, doch ftihrt die Verbindung von Herder und FOllcault zu der These, das offenbar von vornherein gegebene unerhörte Machtgefille zwischen Europa und den Anderen ermögliche Europa den Lu,l(us, andere Kulturen gar nicht verstehen zu müssen und sich einer Phantasiewelt des sich selbst als Wissenschaft mißverstehenden Mißverstehens hingeben zu dürfen. Saids Übertreibungen und Ungereimtheiten lassen seine Ideen als seriöse theoretische Basis fiir interkulturelle Studien wenig geeignet erscheinen. So wundert es nicht, daß aus der Eloquenz und Brillanz des Meisters rasch der enge Dogmatismus VOll Epigonen geworden ist. Dennoch kOllllm Said ein mehrfaches Verdienst zu, das sich nicht überschätzen läßt und das »OricntalisllllC den Rang eines Schlüssel textes fiir das letzte Quartal des 20. Jahrhunderts verleihe Erstens hat Said die unverwüstliche Debatte um Wesen und Identität Europas im buchstäblichen Sinne geöffnet: Es genügt fortan nicht mehr, darüber zu hunderl im koloni
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spekulieren, was das gemeinsame "Erbe« des Abendlandes sei und darüber den weiteren Zusammenhang zu übersehen. Europa hat sich stets durch Abgrenzung von anderen Kulturen definiert. Das Studium der Texte und Kunstwerke, in denen es dies tut, bedeutet daher keine Erkundung exotischer Randzonen des europäischen Bewußtseins, sondern führt zu zentralen Fragen der immer erneuten europ:iischen Vergcwisserung über sich selbst. Das Thema ist daher zu wichtig, um es akademischen Randgruppen w;e .Außereuropahistorikem., .Reiscforschem. (uS\v.) zu überlassen. Zweitens. Saids gering ent\vicke!tes Gespür rlir Ambivalenzen und lronie09 rührt zu einem Freund-feind-Weltbild, das dann in den Kulturwissenschaften verheerende Konsequenzen haben kann, wenn die Entlarvung und Denunziation der vermeintlichen Träger eines falschen Bewußtseins zum Hauptzweck akademischer Bemühungwird. JO Immerhin hat Said aber ganz zu Recht darauf aufmerksam gemacht, daß Eurozcntrislllus nicht allein dort zu finden ist, wo er als imperial istische Ideologie und !lassismlls offen zutage liegt. Dort läßt sich er sich isolieren, als uncharakteristisch abtun und als historisch überholt ins Museum menschlicher Narrheiten einordnen. Said weist aber mit !lecht auf die weite Verbreitung und das zähe Nachleben einer abwertenden Auseinandersetzung mit den Menschen anderer Zivilisationcn und ihren Leistungen hin. Drittens. Aufder Grundlage von Foucaults Diskurstheorie hat Edward Said mit großer Berechtigung dic hausgemachten Erkenntnistheorien in Zweifel gezogen, mit denen in der Literatur über europäische .Bilder. vom Fremden üblicherweise umgegangen wurde. Nach Said wird man mit der Möglichkeit rechnen müssen. daß solche _Bilder« nicht nur Abbildungen von Wirklichkeit sind, sondern auch Konstrukte und Projektionen.•Verzerrte. Spiegelungen des Fremden lassen sich nicht einfach individualpsychologisch durch .Vorurteile. und .stereotype« Wahrnehmungsrasterung der Beobachter oder gar durch deren Gesinnungen erkl:iren.•Kulturelle Mißverständnisse« unterliegen einer überindividuellen Regclhaftigkeit, ohne vollkommen determiniert und daher vorhcrsehbar zu sein (w;e der Vulgär-Saidianismus glaubt). Viertens. Said hat sich an seine eigene Kritik an der essentialistischen Verdinglichunganderer Kulturen nicht immer selbst gehalten. Sie bleibt abcreiner seiner wichtigsten Beiträge. Es ist wichtig und lohnend. nicht nur ältere Texte. sondern auch heutib"C Kommentare zu nicht-europäischen Zivilisationcl1 darauf zu befragen, inwieweit sie durch voreilige Pauschalaussagen über die Japaner. de" Islam, den Konfuzianismus (usw.) alte Klischees über Volkscharaktere. Religionen und Kulturen pcrpctuieren oder neue Feindbilder aufbauen. Solcher Essentialismus ist rur viele attraktiv, weil er schnelle AntwOrlen auf 69 vgl. duu). M. M~~, Edwan:! SaKl and rnt' Hi~onan. 111: NIIlt'tttnth-Cenlury Contcxu.Jg. 18. 1994. S. 9-25. htt'r S. 2()( 70 EIW3 bd M. L Prall, Impt'ru.1 Eya: Tr.wd Wricing and Transculturation. london 1992: R. IGJbbolni, Europt"s Myths o(Orient: DtviSt' and Rule. Basingstokt' 1985.
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komplizierte Fragen zu gewährleisten scheint. Wer zum Beispiel glaubt, das Wesen des Islam verstanden zu haben, wird sich mit Einzelheiten nicht lange aufhahen wollen. Solcher Essentialismus ist eine der stärksten Quellen kultureller Mißverständnisse und interkultureller Gewalt. Er ist kein europäisches Monopol, sondern findet sich weltweit in nationalistischen, religiösen und ethnischen Sammlungsideologien und identitätsstiftenden Bewegungen. 71 Fünftens. Foucaults Diskurstheorie beansprucht als einen ihrer großen Vorzüge, Texte und Praktiken, also tatsächliches Handeln, gleichermaßen berücksichtigen zu können. Said sieht diesen Zusammenhang selber vor, wenn er in einem von zahlreichen Definitionsversuchen ))Orientalismusll bestimmt als lKias Wissen vom Orient, das orientalische Dinge in KJassenräume, Gerichtshöfe, Gef;tngnisse oder lehrbücher sperrt, um sie analysieren, studieren, aburteilen, diszplinieren oder regieren zu können«.n Allerdings liegt bei Literaturwissenschaftlern wie Edward Said und den meisten seiner Anhänger der Akzent doch einseitig auf Texten. Man versucht in dieser Schule kaum, reale Begegnungen zu analysieren, wie etwa Todorov und [nga Clendinnen es mit der Eroberung Mexikos getan haben. Saids Konzeption läßt aber eine solche Erweiterung durchaus zu. Es kann dann zum Beispiel untersucht werden, wie Kolonialregime ihre Untertanen nach den Vorstellungen zu formen versuchten, die sich orientalisierende Theoretikern zuvor gebildet hanen. So betrachteten die Briten ihre indischen Untertanen nach dem großen Sepoy-Aufstand von 1857 viel mehr als in der Zeit davor als fremde »Orientalen« und bemühten sich in vielfältiger Weise, sie zu lIorientalisieren,;.74Von der Aufgabe, die Inder zu »zivilisierenll und ihnen westliche Denk- und Lebensweisen nahezubringen, war fortan weniger Rede. Die Inder sollten sich gefälligst so )jindisch/( benehmen, wie die Briten es sich vorstellten. Der westlich akkulturierte Inder, noch in den dreißiger Jahren des t 9. Jahrhunderts ein erstrebtes Ideal, verwandelte sich nun in einen verunglimpften Negativtyp.7S Eine aufwendig betriebene Kolonialamhropologie gewann normative Kraft. 76 Auch waren die Briten nun stärker als zuvor bestrebt, ihre Herrschaft mit der Symbolik einheimischer Tradition zu umgeben: Das britische Regime sollte den Indern als legitimer Nachfolger des untergegangenen Kaisertums der Mogul-Dynastie nahegebracht 71 Vgl. etwa w: Reill/Ulfd (Hg.), Die fund:llllcnulislische Itcvolution. P:lnikularistische Bewegungen der Gegenwart und ihr Umgang mit der Geschichte, Freiburg i.Br. 1995. 72 Sllid. Orient:llism, S. 22. 73 Ein Beispiel gibt R. OlVm, Imp<'rial Policy and Theories ofSocial Change: Sir A1fred Lyall in India. in: T. Arod (Hg.), Anthropology and the Coloni:ll Encounter, London 1973. S. 223-243. 74 Vgl. T. R. MtUlllJ, Ideologies of the Raj, Cambridge 1994, S. 66-112; hervomgend: L D. WW'graji, The Imp<'riallmagination: Magic and Myth in Kipling's India, MiddleloWJI, Ct. 1983. 75 Ebd., S. 105f.; M. Si"ha, Colonia! Masclilinity: The .Manly Englishman. and the »Effeminate Bellg;lli. in the Late Nincleemh CenlUry, Manchester 1995. S. 17-19. 76 Vgl. C. Pjnll~, ColOllial Anthropology in the .Laboratory of ManIcind., in: C. A. Bayly (Hg.), The luj: Lndia :Ind the British 1600-1947, Londotl 1990, S. 252-263.
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werden. n Dabei kam es zu einer camounicrenden Selbst-Oricntalisierung der Kolonialmacht. Solche Differenzkonsrruktion größten Stils - Beispiele lassen sich überall in der kolonialen Welt finden 78 - wurde dann selbstverständlich zu ei ner »self-fulfilling prophecy«. Sechstens. Bei Said ist der Osten stumm, weil der mächtige Westen ihn zum Schweigen verurteilt hat. Dies dramatisiert gewiß die historisch faßbaren Asymmetrien. Der Eindruck des schweigenden Orients entsteht zu einem beträchtlichen Teil aus dcm Versäumnis westlicher Historiker, sich aufQuellen nicht-europäischer Herkunft einzulassen. Saids Absicht, die intellektuelle Hegcmonie des Westcns erst zu denunzieren und dann zu brechen, würde aber durch kaum ctwas so wirkungsvoll unterstützt wie durch das Hörbarmachen der Anderen. Erstaunlicherweise hat Said selbst, der nicht müde wird, die epochale Bedeutung der napoleonischen Agyptenexpedirion hervorzuheben, die Chance nicht genutzt, daß gerade dazu ein umf.lssendes einheimisches Dokumcnt vorlie6>t: die zeithistorische Chronik des cAbdarrahman AI-Gabarti (1754-1829).79 Die Spurenlosigkeit der schriftunkundigcn ,.Wilden«, wie sie Cf\VJ dic Begegnungen zwischen westlichen Reisenden und den Völkern Sibiriens oder der Südsee kennzeichnet, ist keineswegs der Normalfall. Osmanische, persische, chinesische, japanische und viele andere Bcgegnungen mit Europäern sind von der Seite dcr Andercn her durchaus rekonstruierbar. So existieren zum Beispiel ausfiihrliche chinesischc Quellen zur Gesandrschaftsreise des Lord Macartney zum Kaiser Qianlong 1792-94, die erst in jüngster Zeit neben der reichen westlichen Dokumentation ausgewertet wurden.lI) Die kurzfristige britische Besetzungjavas (181 1-16) erscheint dank der Veröffentlichung der Chronik eines javanischen Aristokraten und I-Iofbcamten nun in einem ncucn Licht. sl Dic Dokumentation wird um so dichter, je näher man 77 Vgl. B. s. Cc/IIl. An Amhropologisl :lll1ong thc Hislorians and Other Essays. Dclhi 1987, S. 632lT. Allc Tcxtc COhllS lohncn gründlicllc Lcktürr, auch Dm.. ColonialiSlH and hs Forms of Knowlcdb>e: Thc Brilish in lndia. Pril1CCIOll 1996. 78 Ausgesprochen saidianisch gehl z.B. vor: T. Miulrtll, Colonising Egypl. Dmbridge 1988: Dm.. The World a.s Exllibilion, in: CSSH.Jg. 31. 1989. S. 217-236, 79 Vgl. Al-Gabmi's Hislory of Egypl, hg. v. T. Philipp u. M. Ptrl,rultl, 4 ßdc., Stuttgart 1994: Auszüge in: AI-Gaboni. I30napme in Ägyptcn, ülx-rs. v. A. I-Iouingcr. Zürich 1983. 80 VgI.A. PryrrfiUt u. P.·H. DIlf(lIId. Un choc: de cultures: La vision des ChillOis, Paris 1991 (ein Ul1lfJnb'TCidlCI BJIIJ mit übcrsclztcn ehincsi.schrn Qurllen); S. Dabringhalls. Einlcilllllg, ;n:). C. Hii/lll('r, Nachricht von der brilischell Ges.andtschaftsreise nach China, SigmaTIngen 1996. Nötig lind vcrdieJlslVoll sind spezielle Sllld;cn zur Rezeplioll des Westcns. z.B. D. SadlStmna~r, Die Aufnahme curop:iischcr Id~'ClI in dir chincsischc Kultur durch Zhu Zongyuan (ca. 1616--1660). phi!. Diss. Freiburg 1999. 81 P. Can')' (Hg.). The British in Java 1811-1816: AJavanesc ACCOlllll, Qxford 1992. Sc..'chs lUpitcl in einem umfangreichrn Sammelband Ix-handcln .Europe;ans in the vision ofother pcople_: S. B. Schwanz (Hg.). Implicil UndersuTIdings: ObsclVing. nepo"ing, and Ilcflccling on the EncOlllller. bcrweel1 EUTOI>cans and Other Pcoples in the Early Modern Era. Cambridgc 1994. VgJ. auch T. Nagrl (Hg.), Asien blickt aufEllropa.lkgcgnungen und Irriutionen, Bcirlll 1990;A. 811,lall, Al thr Hean ofthe Empire: Indians and lhe Colonial Encotlllter;n ule-Vietorian Londoll.
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sich aufdie Gegcnwan zubewegt. Wo einheimische Quellen rar sind oder ganz fehlen, kann, wie Inga Clendinnens Interpretation der Aztcken zeigt, die Ethnohismrie zwischen den Zeilen westlicher Texte Aufschlüsse über die Beschriebenen finden, die den rein liter.nurwissenschaftlich geschulten lIIuer ihren Lesern entgehen. Über Said hinauszukommen, heißt auch, kulturelle Mißverständnisse nicht nur zum zahllos wiederholten Male in den Imümern, Befangcnheiten und Obsessionen von Europäern zu suchen, sondern ebenso in Begegnungssituationen, in denen jede Seite das Recht auf ihre tigt'tlerr Mißverständnisse behält.
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11. Markt und Macht in der Modernisierung Asiens: Japan, China und Indien im Vergleich'
l. Die vier Innovationsschübe der Moderne Die we1t\veite wirtschaftliche Entwicklung während des letzten halben Jahrtausends ist vor allem durch vier InnoV
.. Di~r I\UfsalZ ist ~m~ Skizz~. dl~ zur Erklärung d~r unl~rsclll~lich~n wlnsch..ftsgc-schichdichen Wege von drei der größlen Und~r der Wdt kiu2~1l soll. Die deullli~n~ l\uSJirbel· lUllg muß ~incr späu::r~1l Gde~nh~lt überlasscn bleiben. Angestchts der Füll~ der liler.tfUr wir~ CIIl(' I\nllocuion willkflrlieh. Gen..nnt sci~n nur im Sinne ~ilerfUhr~nder lcsccmpf~hlungcll~I· nigc .. Ilgcm~inerc W~rke zur Wiruch..ftsgcschichle der drei bch..ndehen Under. Zu Indien: D. ROlhmmmd. Indiens wlrlScluflliche Entwicklung. Von der Kololli..lherrsclufl bIS zur Gegenwart. p..derborn 1985; D. K/lFruJr (I-Ig.), Thc C ..mbridgc EcOllOlllic History oflnd;.., ßd. 2: c. 175710 c. 1970, C..mbridgc 1983: ß. R. Tom/iIlSO/I. The EconolllY of Modern Ind,.. 1860-1970. C ..mbridgc 1993 (mit goler bibliogrophit ruiso,mu). Zu Chill..: L. E. Eas'mtlll. F.. mily, Field, .. nd Anceslors: Consuncy ..nd Ch.. nge in Chin..'s Soci..1.. nd Economic l-liSIOry. 1550-1949, New Vork 1988: A. F~tr\litrl«r. Eronolllic Trends 1912-1949. in:). K FaitballJ.· (Hg.), The C..mbridb't' History of Chin.., Bd. 12, c..mbrid~ 1983. S. 78-127;). Ostc#uJmmd, Sh..ngh..i, 30. M..i 1925: Die chinesische Ikvolmion. München 1997. Zu japan: E. S. CralllrOUr, Economic Ch..ngc in the Ninet«nth Cc-ntury. in: M. B.JtllUm (I-Ig.). The ümbridgc Hislory ofj..p..n, ßd. 5. umbridge 1989, S. 571617; die IUpitd von E. S. Ctllllt'our, T. Naktlmurtl u. Y. KDsai. 11I: P. Dt,US (Hg.), The umbridge History ofj..p..n. Bd. 6, Dmbridge 1988: immer noch br.tuchbar ist IV. W. Locltwood, The EcoI'K)omlc Dcvdopmcnt ofj ..p..n. PriocelOO, Nj 19682: R. Mill4mi. Th~ Economtc I)c,.·elopmcnt of Chin~: 1\ CompMison with the- J.. p.. n~ ExpcricnCC', London 1994. Infornuciv zu neueren Forschungstrt'nds: F. B. 1iplOll. Ncucl't' Itrbcite-n zur Winsch..fts- und Sozl..lgcschichte Asiens. in: GG,jg. 22. 1996. S. 267-298.
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(4) die elektronische Revolution, also die Steuerung von Produhion, Märkten und Kommunikationsvorgängen durch global vernetzte, den Zeirfaktor minimierende Datenverarbeitung (seit etwa 1960). Die ersten heiden dieser vier Prozesse gingen von Europa aus, der dritte von den USA und Europa, der vierte von den USA mit starker europäischer und japanischer Beteiligung. Alle vier Prozesse hatten weltweite Auswirkungen. Durch sie wurden die »entwicke1tcIHI Weltgcgenden oder, wie man in der Theorie der imernationalen Beziehungen sagt, »Metropolen«, von denen die Impulse jeweils ausgingen, mit »rückständigen« Empfangerregionen oder »Peripherien« verbunden. Die frühe europäische Expansion schuf einen HandeIszusammenhang, der Europa, Nordamerika (Pelzhandel), Süd- und MitteIamerika (Edelmetallausfuhr, Sklaveneinfuhr), die Karibik (Sklaven import, Zuckerc>..'port), Afrika (Sklavenhandcl) und Asien (Ede1mctalleinfuhr, Export von Gewürzen, Seide, Te>.'tilien) miteinander verknüpfte. Die globalen Warenströme - auch Sklaven zählten allein als Waren - waren in der damaligen Welt unübersehbar: Sie materialisierten sich in militärisch geschützten Handelsflotten auf den Weltmeeren, in dem lebhaften Treiben in den Überseehäfen aller Kontinente, in den Kolonialwaren, die die Europäer nun konsumierten. Daneben gab es aber auch nahezu unsichtbare Zusammenhänge, die den Zeitgenossen verborgen blieben. Ein gutes Beispiel sind die Silberzunüsse nach Ostasien, die auf unterschwellige Weise etwa die chinesische Binnenkonjunktur des 16. bis 18. Jahrhunderts regulierten und deren vorübergehendes Stocken man sogar für die terminale Krise der 1644 gestürzten Ming-Dynastie mitverantwortlich gcmacht hat. Dic Industrialisierung, also der zweite Innovarionsschub, führte zunächst dazu, daß die Produkte der europäischen Lei(htindustrie, vornehmlich Textilien, in alle Welt verkauft wurden. In einer zweiten und folgenreichercn Phase e>.-portierten Europa und die USA dic Erzeugnisse ihrer Sdllvenndustrie: Fertigungsmaschinen und komplette Fabriken, Dampfschiffe, Artillerie sowie die weltgeschichtlich wichtigste Apparatur des 19. Jahrhunderts: die Dampfmaschine auf Rädern, die Eisenbahn. 1906, am Ende der heroischcn Phase der Schienenerschließung des Inneren aller Kontinente, besaßen nur wenige kleine, randsrändige oder dünn besiedelte Länder keine Bahnen: Finnland, das Baltikum, Albanien, Britisch-Bomeo, Französisch-Marokko, Neukaledonien. Nach den USA (dcm nach dem Umfang seines Strcckennetzes mit Abstand fUhrenden Land), Deutschland, Rußland und Frankreich verftigte Indien über das fUnftgrößte Eisenbahnsystem der Welt: ein Beispiel massiven Tedltljktransfers in ein lIunrerentwickcltes« Land. Von Tedltlologietransfer kann allerdings weniger die Rede sein. Zwar waren indische Werke seit 1865 imstande, Lokomotiven herzustellen, doch kam es nicht zum Aufbau eincr nennenswertcn indischen Eisenbahnindustrie. Bis 1941 wurden nur siebenhundert
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Loko1l1oriven in Indien gefertigt, aber zwölftausend aus Großbritannien importlert. Prozesse Nummerdrei und Nummervierwaren und sind weniger anschaulich faßbar. Die Jlcorporate revolution« kann man, wenn man den Begriff sehr weit faßt, schon in der frühen Neuzeit beginnen lassen: die am weitesten ausgebauten unter den europäischen ~Chartered Companies«, nämlich die englische East India Company (Eie) und die holländische Verenigde Oostindische Compagnic (VOC), waren auf dem Höhepunkt ihrer Entwicklung, etwa in dem Jahrhundert nach 1680, die größten und am kompliziertesten organisierten Einrichtungen des nichtstaatlichen Handels aufder Welt. Sie waren bereits bürokratisch organisiert, multinational und sogar transkontinental tätig und durch Finanzierung über Frühformen des K1pilahnarktes von Familienvermögen und politischer Gunst unabhängig. Mit anderen Wonen: Sie konnten nicht ohne weiteres bankrott gehen. Die eigentliche »corporate revolutionll war jedoch diejenige, die gegen Ende des 19. Jahrhunderts zum Entstehen riesiger Industriekonzerne fUhrtc. Sie waren nicht länger Familienbctriebc, sondem wurden von angestellten Managern im Namen und Auftrag einer oft breitgef.i.cherten Eigentümerschaft geruhrt. Diese Konzerne mußten nicht nocwendig »multinational« sein, wurden es aber häufig im Zuge der enormen Expansion der Weltwirtschaft, die im achten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts einsetzte. Anders als die Charter-Kompanien in der Epoche des frühneuzeitlichen Merkantilismus, verfiigten sie nicht über staatlich verbriefte Monopole, konnten sich aber oft durch schiere Marktmacht monopolartige oder oligopolistische Stellungen sichern. Im Unterschied zu Eie und VOC brachten sie nicht nur den Handel, sondern vielfach auell die Urproduktion unter ihre Kontrolle, indem sie selber in die Gewinnung und Herstellung von Handelsf,riitcm investierten. Mit oft erheblichem KapitalaufWand legten sie Plantagen und Fabriken an, Bergwerke und Ölförderinstallationen. Die frühen multinationalen Konzeme der Zeit zwischen et\va 1880 und 1920 tätigten also in großem Umfang Direktinvestitionen in den Ländern, die man um die Mitte des 20. Jahrhunderts als liDritte Welt« bezeichnen würden. Spezielle Kolonial- und Übersecbanken wurden gegründet, um neben dem Handel mit Lateinamerika, Asien und Mrib auch das Anleihengeschäft mit diesen Ländern und den direkten K:tpitalexport in sie zu organisieren. Schließlich waren diese multinationalen Konzerne viel besser als frühere Unternehmcnsformen geeignet, überseeische Märkte tiefen wirksam zu lIerohernK Zu diesem Zweck bauten sie eigene große Vermarktungsnetze auf Dadurch wurden sie von einheimischen Händlern unabhängig und konnten zugleich durch Reklame und Serviceangebote ihre Markenanikelnamen bekannt machen und durchsetzen. Imperial Chemicallndustries (ICI) unterhielt fUr den Verkaufvon Kunstdünger und Farben in Indien Mine der dreißigerJahre des 20.Jahrhunderts über den ganzen Subkontinent verstreut 1.500 Depots und beschäftigte 2.500 Angestellte und 15.000
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Verteiler. Die British-American Tobacco Corporation (BAT) betrieb in China ein noch umfangreicheres Vertriebssystem fiir Zigaretten. Sie verkaufte aufdiesem Wege in zunehmendem Maße Produkte, die sie in sieben großen Tabakfabriken in Shanghai und anderen chinesischen Städten herstellte - ein Lchrbuchbcispiel konzerninterner Importsubsirution. Die neue Gewohnheit des Zigarettenrauchens brachte sie den Chinesen in aufV"rendigen Werbekampagnen nahe. Mao Zcdong, eincr der rabiatesten Anti-hnperialisten des 20. Jahrhunderts, war bekanntlich ein großer Freund des Nikotins. Ob er ausländische Zigaretten konsequent verschmähte, ist nicht bekannt. Der vierte der großen Innovatiollsschübe, die elektronische Revolution der letzten Jahrzehme, bedarfkeiner näheren Erläuterung und fallt auch aus dem Rahmcn unserer Diskussion. Es mag aber dar.1.I1 erinnert werden, daß die rur diesen Prozeß charakteristische Reduzierung des Zeitfaktors in der weltweiten Informationsübermittlung, die es heute ermöglicht, große Datenmengen innerhalb von Sekunden um den Globus zu schicken, einen Vorläufer hat: die Verkabelung des Erdballs durch transozeanische Tiefseeleirungen rtir den Telegraphenverkehr. Sie begann 1866 mit einer Verbindung zwischen Irland und Neufundland, also zwei britischen Besitzungen. Einen wichtigen Anstoß zur Einrichtung von Te1egraphenverbindungen zwischen den Kontinenten gab ein offen imperiales Motiv: der Wunsch, die Verbindung zwischen Landon und Indien zu verbessern. Dies gelang 1870. WenigeJahre späterwurdcn Australien und Neuseeland, also der fUnfte Kontinent, von Indonesien (Holländisch-Indien) aus an das Kabclnetz angeschlossen, nach 1879 schließlich die Zentren des europäischen Kolonialismus in Afrika. Die Einfiihrungdcr interkontincntalen Telegraphie kam einer frühen Nachrichten revolution gleich: Waren Briefe von London nach Hongkong 1860 noch im günstigsten aBer Fälle - aufeinem schnellen Teeklippcr bei guten Winden43 Tage unterwegs, so verkürzte sich nach der Verkabclungder südchinesischen Kronkolonie im Jahrc 1871 die Übermittlungszeit auf wenige Stunden. Die telegraphische Erreichbarkeit der außereuropäischen Peripherien legte eigenwillige Kolonialbcamte an die Kandare ihrer Vorgesetzten in den Hauptstädten; es war nun schwieriger, Willkürlichkeitcn durch das Fehlen von Instruktionen aus Landon oder Paris zu entschuldigen. Sie verbesserte die Chancen aktueller Reportage: Über den gigantischen Taiping-Aufstand, der in den Jahren 1850 bis 1864 das Chinesische Kaiserreich erschütterte, erfuhr man in Europa verhältnismäßigwenig; spektakulärc Ereignisse derJaluhundertwcndc wie der chinesische Boxeraufstand von 1900, der Burenkrieg oder der Spanisch-amerikanische Krieg von 1898 konnten hingegen dank ncißig kabelnder Korrespondenten in den neuesten Ausgaben der TageszeitUngen mirverfolgt werden. Auch rur den Wirtschaftsverkehr bedeutete die Telegraphie einen tiefen Einschnitt. Die Märkte in Übersee reagierten fortan weitaus schneller und empfindlicher auf Signale aus den Metropolen; Zahlungsmodalitäten ließen sich 269
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durch telegraphische Anweisung erheblich vereinfachen; und die Möglichkeit des raschen BestelIens beim Erzeuger verminderte die Kosten teurer Lagerhaltung und öffnete manche Geschäftszweige fur gering kapitalisierte Neueinsteiger. So trug auch schon die ))kleine~ - die elektrische vor der elektronischen Kommunikationsrevolution des spätcn 19. Jaluhundcrts dazu bei, daß Europa und die USA ihren ZugriffaufLateinamerika, Asien und Afrika um einen weiteren Schritt verstärken konmen. Es gibt keine anschaulichere Illustration der Macht des britischen Empire als eine Weltkarte, die zeigt, daß 3m Vorabend des Ersten Weltkriegs 6O%der Seekabel, darunterdie wichtigsten, zwischen Stationen verlicfen, die dem Schutz der Royal Navy unterstanden.
11. Kolonie - Halbkolonie - souveräne Nation Der zweite und der dritte Innovationsschub sind besonders wichtig und interess:mt, weil sie in engem Zusammenhang mit der Entstehung und Entwicklung eines einheimischen Kapitalismus in den größeren Ländern Asiens steheil. Unter Universalhistorikern ist es ein beliebtes Gedankenspiel darüber zu spekulieren, warumllOr Nordwesteuropa nicht zum Beispiel die Region am Unterlaufdes Y.1.ngzi, also das Hinterland Shanghais und Naltiings, den Durchbruch zur Industrialisierung schaffte. Oder man mag Phantasien darüber ausspinnen, was passiert wäre, wenn in den dreißigerJahren des 15.Jahrhunderts die großen See-Expeditionen des chinesischen Admirals Zheng He im Indischen Ozean fortgesetzt und zum Aufb3u eines chinesischen Überseeimperiums vorangetrieben worden wären: Hätte China, nicht Europa das »moderne Weltsystemu (Immanucl Wallerstein) geschaffen? Solche Überlegungen sind reizvoll, bringen aber letztlich keinen größeren Erkenntnisgewinn. Es bleibt eine Tatsache, daß die Industrialisierung asiatischer Llnder erst durch die Einwirkung Europas während des 19. Jahrhunderts angestoßen wurde. Dies freilich geschah nicht im Kunstraum eines L.1.borexperimcnts, sondern auf der Grundlage jeweils besonderer Voraussetzungen: zum einen der Verhältnisse in den einzelnen Regionen Asiens vor dem Kontakt mit dem europäischen Kapitalismus, zum anderen der spezifischen Formen des politischen Vorgehens der WestIn3chte. In dieser zweiten Hinsicht finden sich große Unterschiede zwischen den historischen Erfahrungen lndiens, Chinas tlndJapans. Indien (im Sinne von Südasien, also unter Einschluß der nachkolonialcn Staaten Pakistan und Sri Lanka) wurde zum Prototyp der tropischen Kolonie. Es war nicht nur die bevölkerungs- und ressourcenreichste aller europäischen Kolonien, sondern auch ein besonders lange von Fremden regiertes Land. Nach einer Periode sich stetig verstärkender Handelsbeziehungen erlangten die Briten in den sech ziger Jahren des 18. Jahrhunderts den unmittelbaren Zugriff auf die Reichtümer Bengalens und begannen dann von dort alls eine
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Politik des Krieges und der Intrige, die sic gegen 1820 zu Herren über die wirtschaftlich leistungsfahigsten Regionen des Subkontinents gemacht hatte. Sie blieben es bis 1947. China konnte sein Territorium länger und erfolgreicher gegen die Europäer verteidigen. Bis zum Opiumkrieg von 1840-42 gestattete es den europäischen Ostindienkompanien cinen regen Handel, aber zu seinen eigenen Konditionen. Die europäischen Kaufleute, die vorwiegend an Tee, Seide und Porzellan interessiert waren, mußten sich in der südlichen Hafenstadt Kanton aufualten, durften das Landesinnerc nicht betreten und hanen es mit einem halbstaatlichen chinesischen Monopol zu tun, das im allgemeincn die cigene Position zu wahren verstand. Nach seiner Niederlage im Opium krieg wurde China lIgeö[fneh,jedoch nur in kleinen Schritten. In IIUngleichen Verträgen 11 ließen sich die Ausländer Sonderrechte verbriefen: Zulassung ausländischer Handelstätigkeit in einigen genau festgelegten Städten, den sogenannten IITreacy Ports«; Extraterritorilität, d.h. die Immunität von Angehörigen der Vertragsmächte gegenüber chinesischem Recht und gegenüber Steuerforderungen des chinesischen Staates; Einräumung von städtischen Gebietsenklaven, den llKonzessionen« oder IINiederlassungen«, die de facto von ausländischen Behörden regiert wurden; Verzicht Chinas aufselbständige Festlegung seiner Außenzölle, also Freihandel. Dieses Privilegicnsystem wurde in seinen Grundzügen bis 1860 aufgebaut. Es galt mit seinen Kernbestimmungen zumindest auf dem Papier bis 1943. Auch wenn sich nach der Niederlage Chinas im Krieg gegen Japan 1895 der Zugriff der Ausländer festigte und man fur die Zeit von da an bis zum japanischen Überfall aufdas chinesische Küstenland 1937,ja, bis zum Zusammenbruch des japanischen Raubimperiums im Sommer 1945 ohne Übertreibung von der Epoche des Imperialismus in China sprechen kann, wurden nur Randgebiete des chinesischen Reiches fur längere Zeitoffener Kolonialherrschaft unterworfen: Hongkong (1842-1997), Talwan (1895-1945), die Mandschure; (1905/311945). China war nicht, wie Indien, eine Kolonie, sondern ein eigentümliches Gebilde gemischter Souveränitäten, das man mangels einer besseren Alternative als lIHalbkoloniell bezeichnen kann. Kein Teil Japans - sieht man von den Kurilen ab, um die Rußland und Japan sich seit langem streiten- ist jemals kolonial besetzt worden. Auch eine »Halbkoloniell im chinesischen Sinne ist Japan nie geworden. Es hatte sich unter den Shogunen aus dem Hause Tokugawa (1603-1868) während der frühen Neuzeit eher noch stärker von der Außenwelt abgeschottet als das Reich der Qing-Dynastie (164+-1911) und war nach einer friedlichen KOllukuufnahme amerikanischer Kriegsschiffe im Jahre 1853 dann 1858 ebenfalls )lgeöffnet~ worden. Auch Japan mußte Ungleiche Verträge unterzeichnen, Treaty Ports einräumen sowie Extraterritorialität und Freihandel zugestehen. Doch schon 1895 war es dieser Bürden so gut wie ledig und konnte sich mit seinem Vorgehen gegen seinen alten kulturellen Lehrmeister China selber unter die imperialistischen 271
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Mächte einreihen. Der Chinesisch-japanische Krieg von 1894/95 war ein Scheidepunkt in der Entwicklung heider Länder. Sie drifteten nun nicht mehr, wie in den Jahrzehntcn zuvor, langsam auseinander, sondern gerieten aufeinen Konfrol1tationskurs, der im Grunde erst mit der Normalisicrung der diplomatischcn Beziehungen 1972 becndet wurde. Die Befreiung von ausländischcm Druck war Japan aus mehrercn Gründen möglich gewesen: Die Westmächtc erhofften sich von dem klcinenjapanischen Markt weniger als von dem großen chinesischen und vertraten daher ihre Forderungen mit geringerer Nachdrücklichkcit. Die japanischcn Machthaber hatten das Schicksal Chinas nach 1840 vor Augcn und vcrhandeltcn deshalb von Anfang an vorsichtiger. Vor allem nutzte Japan nach einem Machtwechsel inncrhalb seiner politischen Klasse, dcr sog. Meiji-Restauration von 1868, das Intcrmczzo eines vorübergehend nachlassenden curopäisch-amerikanischen Interesscs an Ostasien, um sich durch Reformen dcm Westen ähnlicher zu machcn und sich ihm als Partncr cher denn als Umerdrückungs- und Ausbcuttlngsobjekt anzubicten. Diese Strategie gelang. Drei Fälle also: eine Kolonie, eine Halbkolonie und ein im wescntlichen souverän bleibendes asiatisches Land, das in dcn Jahren seiner größten wirtschaftlichen Transformation selber zur Kolonialpolitik überging. Das langfristigc Resultat ist bek.1nm: Japan, das um 1850 scinc "industriclle Lehrzcit~ begonnen hatte, überschritt Mitte der achtziger Jahre dcs 19. Jahrhundcrts die Schwelle zu »modernem~, industricll angetriebencm Wirtschaftswachsttllll und wurde inncrhalb eincs Jahrhundcrts zum größten industriellen Produzenten der Erde, zu cincm Land, das seinc )/nachholendc!! Modcrnisierung längst abgeschlossen hat und inzwischen die Konkurrcnz einer ncucn Generation asiatischer Aufstciger - Süd korea, Taiwan, Singapore, Malaysia, u.a. - furchtcn IllUß. Indien hat sich aus dem schlimmsten Elcnd befreit, k..'mpft aber seit den siebzigcr Jahren des 20. Jahrhunderts weiterhin ohne hofTnungerweckelldc Wachstumsperspektiven mit Problemen, die nicht mehr aUe dem Erbe dcs Kolonialismus angelastet werden könncn. China - gcnaucr: dic Volksrepublik China - hat nach Jahrzehnten von Kricg, Bürgcrkrieg und wirtschaftlich ruinöscn kommunistischen Expcrimenten Wachstumsratcn crreicht, die Respekt, abcr noch kein Vertrauen in ihre Dauerhaftigkeit und in die Stabilität der sie tragenden Strukturen einflößen. Das relative Gewicht der Industrie innerhalb scincr Volkswirtschaft ist größer als in Indien, das Bruttosozialprodukt pro Kopf liegt geringfiigig höher als don, beträgt: aber nur ein Sechzigste! des japanischen. Nach dcmllHuman Developmcl1t IndexlI dcr Vereintcn Nationen, dcr die Mcrkmale Lebensdauer der Menschcn, Bildung und matericllen lebensstandard kombinicrt, rangierte Japan 2000 auf Platz 9 der Weltliste, die vn. China auf Platz 99, Indien an 128. Stellc. Seit China in erheblichcm Umfa.ng markt'..virtschaftliche Elementc zugelassen hat und voml)Sozialismus« zu einer Art von fragtnel1tiertem Staatskapitalismus übergegangen ist, unterscheiden 272
sich die drei Länder nicht mehr grundsätzlich nach der An ihrer wirtschaftlichen Systeme: Es handeh sich um drei Spielarten vor organisiertem Kapitalismus.
111. Kaufleute Es kann in einem kurzen Aufsatz nicht darum gehen, komplette Erklärungen daftir anzubieten, warum Japan die Impulse aus dem Westen nahezu umgehend verarbeitete und zur Übcrwindungeiner Krise nutze, in die das Ancien Regime des Tokugawa-Feudalisllllls seit etwa dem Ende des 18. Jahrhunderts geratcn war, warum hingegen in Indien und China im 19. und frühen 20.Jahrhundert fur ähnliche Krisen keine konstTliktiven und tragf:ihigcn Lösungen gefunden wurden. Diese höchst diffizilen Fr.lgen sind unter Fachlemen nach wie vor heftig umstritten. Es sollen hier allein einige vergleichende Überlegungen zum Thema "Macht« und _Markt« angestelh werden. Sofern man den polyzentrischen, multikulturellen Flickenteppich Indien, das nur mit größter Anstrengung von einer kleinen Bürokratie zentralistisch regierte Kaiserreich China und den ethnisch und kulturell homogenen, relativ wohlgcordncten InsclstaatJapan mit seiner Bevölkerung von weniger als einem Zehntcl der chinesischen überhaupt miteinander vergleichen kann, läßt sich feststellen: Alle drei Länder konntcn im 18. Jahrhundert ihre Bevölkerung auf demjenigcn niedrigen Niveau auskölllmlich ernähren, das man auch vom vormodernen Kontinentaleuropa kennt. Demjapanischen oderchinesischen Bauern ging es um 1750 nicht schlechter als dem französischen. Alle drei Länder kannten starke markC\Virtschaftliche Elemente. Ein erheblicher Teil der bäuerlichen Produktion ging aufden Markt; Fcrnhandel 'wurde von leistungsfahigcn Kaufm3nnsfamilien lind -organisationen über große Distanzen erfolgreich organisiert. In Indien waren die I-Iandelsnetze vielfach infolge der chaotischen politischen Zustände zerrissen worden, die nach dem Tod des letzten zentralisierenden Mogulkaisers, Aurangzcb, im Jahre 1707 um sich gegriffen hatten. Die indische Marktwirtschaft war daher stärker lokalisiert, während sich in den innerlich befriedetcn Herrschaftsgebietcn derQing- und derTokugawa-Dynastie (samt der ihr untertänigen Territorialfursten) gegenläufige Tendenzcn in Richtung aufdie Intcgration eines ~nationalen Marktes« abzeichneten. In allen drei Ländcrn kann von einem ~asiatischen Dcspotismus«, der den Handel systemansch unterdrückt und ausgesaugt hätte, im 18.Jahrhunden keine nede sein. Überall griff der Staat allcnfalls punktuell in die Wirtscllaft ein, gab es große Spic1r.iume fur die freie Entfaltung von Privatinteressen. Innerhalb der japanischcn Gesellschaft der Tokugawa-Zeit bereiteten sich zahlreiche Entwicklungen vor, die sich sp:iter beim Kontakt mit dcm Westen günstig auswirken solltcn. Vier davon sind besonders wichtig. Erstens erlebtc 273
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Jap:m seit ctw:l der Mitte des 17. Jahrhunderts einen Urbanisierungsboom, der es nach England und den Niederlanden zu der Gegend der Welt mit dem driuhöchsten Anteil von städtischer Bevölkerung machte. Die großen Städte, besonders EdcVTokyo und Osaka, wurden zu dynamischen Kraftpunkten des WirtSChaftslebens. In China hingegen waren die großen Städte meist primär Verwaltungssitze. Das kommerzielle Leben spielte sich eher in Städten kleinerer Größenordnung ab, es war weniger konzentriert, breiter verteilt. Zweitens war die Kaufmannschaft, die in den Städten saß, in Japan eine stabilere soziale Schicht als in China. Die chinesischen Kaufleute waren meist Zuwanderer von auswärts: Die einzelnen Branchen des Fernhandcls lagen in den I-länden von Händlern aus jeweils besonderen Landesteijen: Die meisten Bankiers stammten aus der Provinz Shanxi, die meisten Salzhändler aus der Stadt Yangzhou, usw. Außerhalb ihrer Heim:atprovinz waren sie daher nur Gäste und konnten sich nicht zu einem ortsansässigen Patrizi:at entwickeln. Auch wollte der chinesische Kaufmann nicht Kaufmann bleiben. Er strebte für sich selbst, zumindest aber für seine Söhne nach Lebensstil und Prestige eines grundbesitzenden Gelehnen, der in den st:l:ltlichen BcamtenpTÜfungcn einen litel erlangt oder ihn sich gekauft haue. Pan.doxerweise rührte das in unseren Augen moderner erscheinende chinesische Gesellschaftssystem, in dem es keine feudale Aristokratie gab und sozialer Auf- wie Abstieg an der Tagesordnung war, dazu, daß eine Kaufmannschaft kaum Profil gewinnen konnte. Sie war eine flüchtige Zwischenschicht. Drittens war der japanische Handel ohne die vielen Zwischenhändler und Makler organisiert, die in Indien lind China die I-I:mdelskctten in die Länge streckten und jede Übersicht verhinderten. In japan hingegen gab es integrierte Systeme: Ein und dasselbe Handelshaus besorgte sidl die Ware beim Erzeuger und bn.chte sie ohne zusätzliche Makler und Vermittler an den Endverbn.ueher. Die Folge war ein hohes Maß an Markttransparenz. Dies "virkte sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts besonders günstig auf Produktion und Export von Seide aus, einen der großen Wachstumsmotoren der Meiji-Zeit: Durch niedrige Preise, regelmäßige Lieferung und gleichbleibend hohe Qualität fegte japan die bis dahin dominierende chinesische Seidenwirtschaft, die all das nicht bieten konnte, vom Weltmarkt. Viertens schließlich lagein wichtiger Vorteil japans darin, daß ein größerer Teil der bäuerlichen Bevölkerung als in China lind Indien Bekanntschaft mit Itproto-industriellemll Hausgewerbe gemacht hatte. Die Initiative dazu lag hauptsächlich bei eher ländlichen Händlern, die sich eine neue Betätigung als scmi-kapitalisrische »Verleger« schufen. Dadurch entstand ein Reservoir an erfahrenen Arbeitskriften, aufdas die Industrie des 19. JahrhundertS zurückgreifen konnte.
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rY.Japan Lange herrschte die Ansicht vor, die wirtschaftliche Modernisierung Japans nach der Landesöffnung sei ausschließlich eine Leistung des Staates, also einer kleinen Gruppe weitsichtiger Ex-Samurai, die 1868 als Parteigänger des bis dahin machtlosen Kaisers die Macht ergriffen hatten. Das ist nicht falsch. Aber es muß gesehen werden, daß zum Zeitpunkt dieser .Meiji-RescauratioIHI in Japan als einzigem Land Asiens eine soziale Schicht existierte, die starke Ähnlichkeiten mit dem westeuropäischen Bürgertum aufwies. Um überzogene Parallelen zu vcnncidcll, ist es vielleicht besser, sich mit der Vorsicht des Ökonomen auszudrücken: In Japan gab es eine relativ große Anzahl von Menschen, überwiegend Kaufleuten und reichen Farmern im südtischcll Umfeld, die gelernt hauen, tmtt'me"merisd, zu handeln, sich also (im Sinne joseph A. SChUlllpcters) neue "vinschaftliche _Kombinationentl auszudenken. Zugleich verfugten viele von ihnen über angehäufte Kapitalien oder über Zugang zu den InstitutiOTlen des ßankgc'\verbes. Es \Y:lren vornehmlich diese _bürgerlichentl Proto-Untcrnehmer und erst an zweiter Stelle wirtschaftlich \Y:lgemutigc Mitglieder des niederen Adels, der Samurai, aus denen die erste Generationjapanischer Unternehmer hervorging. Als die LandesäfTnung neue Chancen des Außenhandels bot und als man in japan direkten Kontakt mit westlicher Technologie fand, die man bis dahin hauptsächlich über holländische und englische Bücher kennengelernt hatte, da war in höherem Maße als in China und Indien das ulllcrnchmerische Potential vorhanden, um eigene moderne Wirtschaftsorganisationen aufzubauen. Die Impulse des industriellen Innovationsschubs fanden daher rasch ein Echo in derjapanischen Wirtschaftskultur. Ohnehin war der Sta:n in der letzten Phase (1853-1868) des Tokugawa-Shogunats kaum mehr handlungsF.lhig. Die frühesten \virtschaftlichen Reaktionen aufdie LandesöfTnung bcruluen nahezu alle auf privaten Initiativcn. Freilich darfder Gegensatz _staatlich-privattl nicht übertrieben werden. Man neigt dazu vor dem Hintergrund der europäischen Erfahrung. Weder vor noch nach 1868 gab es in japan eine neutral über den Niederungen der Privatgeschäfte schwebende Bürokratie. Die wirtschaftlich aktiven (Ex-) Samurai und die um politische Protektion ersuchenden Kaufleute und Finanziers brauchten einander; es kam im letzten Drittel des 19. jahrhunderts zu einer in ganz Asien einmaligen Symbiose von Geschäft und Politik. Die fur Meiji-Japan charakteristischen großen Familicnkonzerne, die zaibatsll (der berühmteste war und ist Mitsubishi), gingen überwiegend auf politisch besonders wohlverbundene Kauneute zurück. Ihnen übertrug der Staat zeitlich befristete Monopole. In der nächsten Phase betrieb er dann eine aktive Industriepolitik: Der Staat initiierte und finanzierte Pilotprojekte, um sie preiswert zu verbufen, sobald sie in Gang gekommen waren lind das Interesse privater Geschäftsleute gefunden hatten. Weiterhin kümmerte sich der Staat im Rahmen einer umfassenden Reform, die
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auch rur die Modemisierung der Verwalrung, des Ilechtswesens, des Militirs, des Bildungssystems und vieler anderer Berciche sorgte, um den Ausbau der Infn.struktur. Die Meiji-Regierungen setzten zudem geld- und mhrungspolitische Instrumente bereits zu ciner Zeit gezielt ein, als dies in Europa noch keineS\vegs üblich war. So wurde Anfang der achtziger Jahre des 19. JahrhundertS das Mittel der Deflation benutzt, um die Wirtsehaftsstruktur auf eine gesunde Basis zu stellen. Trotz solcher Interventionen lag der Schwerpunkt der Mciji-Reformen auf der Bereitstellung eines institutionellen Rahmens, der möglichst günstige Bedingungen für die Privatwirtschaft schaffen solltc. Die Mciji-Pol itik war also nicht dirigistisch im heutigen Sinne, und sie strebte 11 icht nach staatlicher WirtsChaftsmacht als Selbstzwcck. In China hingegcn haben Regierungen immer wieder versucht, die ihnen verdächtige Sphärc des privaten Unternehmertums unter ihre Kontrolle zu bringen. Da dies vor 19491licht mit positiven Vorstellungen von einer Entwicklungs:aufgabc des Staates verbunden war, löste es unweigerlich Verwirrung aus. Zu den erstaunlichsten Seiten Japans im 19.Jahrhundert gehön die Fähigkeit eines unkorruptcn Staates, bei allcr Nähe zu privatcn Interessen immer wieder eine Politik zu konzipieren und auszuruhrcn, die gemeinwohloriemien war, also - sowcit das in einer K1asscngesellschaft möglich ist - den nationalcn Vorteil im Auge behielt. Um dies zu erklären, muß man über die Ökonomie hinausblicken: Die Meiji-Oligarchcll segelten geschickt unter dcm Banner der wiedcrbelebten kaiserlichen Institution, konmcn aber dcnnoch nicht vcrgesscn machcn, daß sie die Macht im Grunde ohne Mandat usurpiert hatten. Niemand hatte sie beauftragt oder gewählt, und um ihre Lcgltimität stand es keinen Deut besser als um dicjenige der abgescrzten Tokugawa-Dynastie. Dieses Defizit versuchten die kleinen Herrscherzirkel der frühen Meiji-Zcit dadurch auszugleichen, daß sie sich als Lristllugselite definicrten. Ein weiteres kommt hinzu: Der japanische Nationalismus prägte sich früher .aus als der indische und erst recht .als der chinesische und stellte schon bald den Gedanken in den Mittelpunkt, daß die Kräfte der Nation auf den wirtschaftlichen Aufb.au konzentriert werden müßten. Dahererhieltjedes staatliche Reformdekret und jede private Firmengründung die Weihc einer patriotischen Tat. Dicse Verbindung von Kapitalismus und Nationalismus findet sich in keinem der andcrcn großen Länder Asiens. Dcn ersten, dCII industricllen Innovationsschub nutztc Japan, um zu lerncn. Ausländische Fachlcute wurdcn ins Land gchoh, aber nicmals in Positionen installiert. von denen sie wirklichc Macht hätten ausüben könncn. Sie blieben hochbezah Ite Berater. Anders als gleichzeitig die ägyptischen oder osmanischen Modernisierer, hüteten sich dic Meiji-Strategcn vor der Abhänglgkeit von ausländischen Krediten. Bis zurJahrhundertwende finanzierte sich dasjapanische WirtsChaftswunder weitgchend selbst. Als die ltCorporate revolutionll Asien erreichte, traf sie in Japan auf beträchtlichen Widerstand. Die großen zaibarsll276
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Umcmehmen konnten es mit den westlichen Konzemen durchaus aufnehmen und kapimlierten keineswegs vor deren Organisationskraft. Sie fanden dabei staatliche Unterstützung. In Japan ging daher der Einfluß ausländischer Firmen während der letzten Jahrzehnte des 19. JahrhundertS kominuierlich zurück; sie wurden marginalisiert. In China verlief ein umgekehrter Prozeß. Erst die um die Jahrhundenwende auftretenden multinationalen Konzeme durchdrangen den chinesischen Markt in seiner Tiefe und überrollten die scl1\Yache einheimische Konkurrenz. Auf dem Höhepunkt der ausländischen WirtSChaftspräsenz in China, ca. 1920-1937, bedurften die stärksten .Multis.. schon nicht mehr der Instrumente des alten Impcrialimus, also der Privilegien der Ungleichen Verträge. Sie wußten ihre Interessen mittels ihrer Mark,moc1l, selbsundig zur Geltung zu bringen. Die lICorpor.lte revolution.., die an Japan 3bpralhe, ergriff China mit Vehemenz, ohne allerdings zu nennenswerten Lcrneffekten zu fUhren.
V China Wie verhielten sich Markt und Macht im China des 19. Jahrhunderts zueinander? Die Macht der bewaffneten Europäer haue den Opium krieg fur sich entschieden, konnte aber den chinesischen Markt nicht öffnen. Mit Kanonenbooten ließ sich erzwingen, daß der chinesische Hof einen Ungleichen Vertrag nach dem anderen unterschrieb, immer neue Städte zu IITreaty PortslC erklärte und schrittweise wichtib'C Souveränitätspositionen räumte. Ein Kanonenboot im Hafen. das droht und schlimmstenfalls ein Massaker anrichtet, ist jedoch nicht unbedingt ein guter Werbeträger fiir europäische Exporte. Das Gegenteil war oft genug der Fall, und die chinesische Bevölkerung gewöhnte sich mit der Zeit an die Methode des Boykotts, um dies auch deutlich zu machen. Wu also erst einmal der Rahmen fremder Wirtsehaftsbetätigung festgesetzt, vor allem durch die Einmhrung eines Freihandelsregimes mit extrem niedrigen Zöllen, dann wollte der Mar~1: auch mit marktko'ifonnl:t1 Mitteln erobert werden. Unter .halbkolonialentl Bedingungen gerieten außerökonomische Einwirkungsmöglichkeiten bald an ihre Grenzen. Hier (raten nun fUr die Europäer einige Problemc aur. Zwar wurdcn dic wachsendcn Treaty Ports, vor allcm Shanghai, selbst bald zu Absatzmärkten fiir europäische Produkte, doch war cs schwierig, Märkte im Landcsinnercn zu erreichen. Das Problem hatte zwei Aspekte. Auf der einen Seite blieb die Nachfrage nach Importgüt'ern begrenzt. Es ist eine Legende, daß Importe aus Lancashire die hausgewerbliche Spinnerci und Wcberei von Baumwolle in China zerstört hättcn. Die Hausindustrie, die aufgrenzenloser Sclbstausbeutungder Bauernfamilien beruhte, konnte allemal billiger produziercn als die europäischen Anbieter. Diese f.1nden sichere Absatzchanccn nur bei den feinsten und teuersten Qualitäten, im Prestigekonsum der chi277
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nesischen Oberschicht. Auf der anderen Seite war der Importeur, der den Fuß niemals über Shanghai, lianjin oder Hongkong hinaussetzte, rur alle Transaktionen mit Chinesen auf einheimische Vemlittler, die sog. Kompradore, und aufbinnenländische Händler angewiesen, über deren Geschäftspolitik er keine Kontrolle hatte. Kurz: Die importierten Waren wurden in den (großen) Treaty Pons an chinesische Händler verkauft, die damit machen konnten, was sie wollten. Das Resultat war aus der Sicht der Ausländer start der erhomen 100fTencnlC nur eine angclehme Tür zum chinesischen Markt. So weit entsprechen die Verhältnisse in China ungefahr dcnen in japan. Auch don fanden Ausländer nur schwer den direkten Zugang zum einheimischen Markt. Die chinesischc Wirtsehaftskultur schien aber damit zufrieden zu sein. das Fremdc abzuwehrcn. Gewiß \v.:llr japan seit jahrhundcrten auf das Lernen vom Ausland eingestellt, hatte es doch wescntliche Elemente seiner Zivilisation - vor allem die Schrift - von dcm lange bewunderten großen Bruder China übernommen. Aber das erklärt noch nicht die LcrnunwiJligkeit ClIinas. Warum beließ man es dort bei einigen st.1atlichen Rüswngsbetriebcn und Werften und baute nicht, wie in Japan, in Windeseile Fabriken, um die Ausländer mit ihren eigenen Waffen zu schlagen? In den Ungleichen Verträgen war dies nicht verboten worden. In der Regel haben Interprct:3tionsversuche kulturell-ideologische Entwicklungshemmnissc in den Vordergrund gestellt worden. So hat man China - sicher nicht zu Unrecht - vorgeworfen, es habe sich nur panieIl modernisieren wollen und den lIPaketcharaktcr41 der Moderne übersehen. Oft wird in diesem Zusammenhang die zeitgenössische Formel lIChinesisches Wissen für die grundlegendcn Dinge, wcstliches Wissen ftir die Itechnische I Anwendung« zitiert. Aber Mciji-japan folgte demselben Motto. Die Meiji-Führer hielten gar nichts von einer totalen Verwesdichung, wie sie etwa zur gleichen Zeit dic ägyptische Elite unter dem Khediven (König) Ismail (reg. 1863-1879) unternahm, einem traditionsfeindlichen Radikal-Europäisierer. Die Anpassung des Fremden an das Eigene zeichncte die Modemi ierungjapans von Anfang an aus. Eine weiter gefaßte Erklärung macht die Erwerbsfeindlichkeit der konfuzianischen IlWirtsehaftsethik« ftir das chinesische Desinteresse an westlicher Modernität verantwortlich. Aber auch das ist problematisch. Niemand weiß heute mehr gcnau zu sagen, was lIKonfuzianismusf< eigentlich ist: Die Worte des Meisters Kong und die Kommentare seiner Interpreten? Eine außcrreiigiösc Melltalitätslage, die zu Arbeitsfleiß, Genügsamkeit, Familiensinn und Gehorsamkeit gegenüber der Obrigkeit verpflichtet? Einerlei - seit man den Konfuzianismus neuerdings als das Erfolgsgcheimnis vieler ost- und südosusiatischer Schncllentwickler (Taiwan, Singapore, Korea) entdeckt hat, ist nicht einzusehen, weshalb derselbe Konfuzianismus, der heute angeblich die wirtschaftliche Entwicklung vorantreibt, sie im 19. jahrhundert behindert haben soll.
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Ma.n wird also anderen Erklärungsfaktoren größeres Gewicht beimessen müssen: Die chinesischen Kaufleute, darunter die Gruppe der Kompradore in den Tre;lCY Ports, wußten die neuen Chancen des erweiterten Außenhandels so geschmeidig zu nutzen, daß sie die Risiken industriellen Unternehmertums wenig anziehend fanden. Anders gesagt: handelskapitalistischer Erfolg stand einer industriekapitalistischen Neuorientierung im Wege. Auch änderte sich nichts an ihrem traditionellen Streben über das Handelsmilieu hinaus. Sie wollten auflängere Sicht nicht zu Winschaftsbürgern werden, sondern ftihlten sich aufgehoben in einer wachsenden Nähe zu der dem kaiserlichen Beamtenapparat verbundenen landbesitzenden Oberschicht (ltgentry.). Wahrend der chancen reichen Jahre zwischen etwa 1865 und 1895 fehlte zudem in China der WirtschaftSnationalismus, derdamalsjapan bdlügclte. Die Idee der Sammlung aller Anstrengungen zur Rettung der Nation wurde erst durch den Kriegsschock von 1895 und die da.mit geöffnete Pandorabüchse des allerneuesten Imperialismus geweckt. Jent begann die Gentry-Kaufmanns-Elite zum Beispiel, ausländisch finanzierte Eisenb.ahnlillien zurückzukaufen. Doch das war cher eine Tat patriotischer Symbolpolitik als ökonomischer Zweckmäßigkeit. Und der Staat? Zwischen 1644 und 1949 erlebte China keinen Bruch seiner politischen Ordnung - sagen wir: keine Revolution - von der Dramatik der Meiji-Restauration. Der Sturz des Kaisertums 1911 und die Errichtung einer Republik im folgenden Jahr tauschten die Spitzenetage des politischen Personals aus, ftihrten aber nicht zu einer Zentnlisierung des politischen Systems. Den die Kräfte bündelnden, zielstrebigen, entwicldungsorientierten Staatsapparat, den Japan 1868 erhielt, gab es in China erst nach 1949 unter dem Vorzeichen sozialistischer Marktfeindschaft. Alle Regierungen Chinas -die kaiserliche einschließlich ihrer seit etwa 1850 immer selbständiger werdenden Provinzgouverneure, die der lIWarlordslC zwischen 1916 und 1927, dann die der Nationalpartei (Kuomintang) des GeneralsJiang Kaishek in Nanjing (19281937) - fanden keine Mine zwischen zwei E.xtremen: Untätigkeit und willkürliche Gängelung der Wirtschaft. Niemand in China betrieb die von dem Revolutionsftihrer Sun Yacsen (1866--1925) in seinen letzten lebensjahren geforderte vorausschauende Aufbaupolitik - in der Art ecwa, wie Kemal Atatürk sie seit 1923 in der Türkei praktizierte. Nach 1895 verengte der wachsende Druck des Imperialismus ohnehin die I-Iandlungsspielräume chinesischer Politik. Sobald sich Nischen auftaten, etwa infolgc des ausländischen Rückzugs vom chinesischen Markt während des Ersten Weltkriegs, machte sich im frühen 20. Jahrhundert ein vitaler einheimischer Kapitalismus neuer Industrieller und Bankiers bemerkbar. Er verband in einigen Fällen mit eindrucksvollem Erfolg importierte Technologie lind Managememtechniken mit den Solidanugenden der traditionellen chinesischen Familienfirrna. Aber zwischen ausländischem Kapital und einer entwicklungsindifTerenten oder -feindlichen, in sich zersplitterten Staatsmacht konnte sich diese Untemehmerklasse niemals ent279
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falten. Sie wurde durch den Krieg von 1937 und die kommunistische Revolution von 1949 aufgerieben - ein Opfer politisch-militärischer Macht. Wer sich in Sicherheit bringen konnte, trug zum Aufschwung Hongkongs und später Taiwans bei. Einige der alten, aufdas Itgoldene Zeitalter der chinesischen Bourgeoisie. (1915-1922) zurückgehenden Umernchmcrfamilien spielen in der Volksrepublik seit dem Beginn der wirtschaftlichen Liberalisierung 1979 wieder eine gewisse Rolle.
VI. Indien Auch der indische Staat, der ein britisches Implantat war, hat sich mindestens bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs nicht als Entwicklungsinstanz verstanden. Neben wirtschaftlichen Interessen spielten Strategie und Prestige eine große noUe bei Aufbau und Bewahrung der britischen Herrschaft in Indien und verhinderten, daß das Ökonomische einen zemralen Platz im Selbstverständnis der aristokratischen britischen Machthaber gewann. Der koloniale SWt hielt etwa die Mitte zwischen dem Aktivismus des souveränen MeijiStaates und der oriemierungslosen Wirrnis chinesischer Politik unter halbkolonialeIl Bedingungen. Wie der Meiji-Staat setzte er einen Ordnungsrahmen ohne ihn aber durch eine konstruktive Politik zu fiillen. In der Winschaftspolitik der Kolonialmacht st.anden administrative Ziele an erster Stelle: Emwicklungsiniriativen waren nachrangig. Die offiziellen Vertreter der britischen Herrschaft, des Raj, waren hauptsächlich darum bemüht, die Selbstfinanzierung ihres Apparates sicherzustellen, also einen regelmäßigen Steuerfluß von den indischen Untertanen in die Kassen von Kalkutta, Delhi und London zu gewährleisten. Wenn die Interessen britischer Privatfirmen dem emgegenstanden, wurden sie ignoriert. So nahm es die britisch-indische Regierung mit dem geheiligten Prinzip des Freihandels nicht so genau, wC'nn sie durch Zölle ihre Einnahmen verbessern konnte. Überhaupt tnu der koloniale Staat selten in offener Weise als Agent metropolitancr Wirtschaftsinteressen oder als Förderer und Erfiillungsgehilfe britischer Firmen, die in Indien niedergelassen waren, in Aktion. Daß er umgekehrt indische Unternehmcn begünstigte, geschah noch wcniger häufig. Das industriclle Mustcrunternehmen des modernen Indien, die 1907 gegründete Tata lron and Steel Cornpany, genoß Wohlwollen und Förderung der Kolonialmacht; andere Firmen und Branchen machten gegenteilige Erfahrungen. Insgesamt war der private Industriesektor in Indien vor dem Zweit'en Wehkrieggrößer und dynamischer als der chinesische. Ocr Krieg selbst war dann Hir die modeme chinesische Privatwirtschaft, dercn Zentren entlang der Küste von der japanischcn Armee überrannt und fast acht Jahre lang besetzt gehalten wurden, eine Katastrophe, während die indische Industrie, vom Kriegsgeschehen unbehelligt, prospcnerte.
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Der koloniale Staat sorgte in Indien immerhin rur die friedlichen Umstände und den rechtlichen Rahmen privatindustrieller Tätigkeit, die in China fehlten. Der industrielle Innovationsschub ftihrte trotz dcr bereits eT\....ähnten Erfahrungen mit einheimischer Eisenbahnproduktion zu einem umfangreicheren Technologietransfer als in China. In beiden Uindem schwächte das reichhaltige und billige Angebot an Arbeitskräften den Drang, fongeschrinene Technik einzusetzen. Immerhin: Es gab den modem ausgestaneten Stahlkonzern der Tata-F:unilie, dem China nichts Privatwirtschaftlichcs - sondern nur die staatlich-militärische Schwerindustrie in der von Japan kolonisierten Mandschurei -an die Seite zu stellen vennochte. Die !Korporate revolmion.c machte sich in Indien noch stärker als in China bemerkbar. Zum Zeicpunl..-t der indischen Unabhängigkeit (1947) befand sich die Hälftc dcr britischen Dircktillvestitioncn in Indien unter der Kontrolle der Tochtergesellschaftenll1ultinationaler Konzerne. Anders als in China, war aber nicht die einheimische Industrie das I-lauptopfcr der Konzern-Invasion, sondern die ältere Generation der britischen Kolonialfirmcll. Mit den leistllngsfahigcrell ulltcr den indischen Konkurrentcn mußten sich die Multis arrangieren. Das kall1 in China vor 1937 seltener vor. Es wäre frivol, aus den verschiedenen in diescm AufS
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renz ausgesetzt. Der industrielle Innovationsschub des 19.Jaluhundert machte sich in China gedämpfter bemerkbar als anderswo, die »corpora te revolution« der Jahrhundertwende daHir Ul11S0 vehementer. In ihr verschmolzen die heiden Elemente unseres Gedankenspiels: zu Markl-Macllt. Sie wurde 1949 von revolutionären Führern gebrochen, die sich eines nicht träumen ließen: die triumphale Rückkehr der multinationalen Konzerne nach China am Ende des 20. Jahrhunderts.
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12. Krieg im Frieden. Zu Form und Typologie imperialer Interventionen
I. Imperialismus und Intervention Eine GeschichfSschreibung jenseitS des Nationalswtes k:mn alles Mögliche sein: Geschichte des Weltsystems und der ökonomischcn Globalisierung, interkulturelle Transfergeschichte, vergleichende Geschichte, globale Kultur- oder Sozialgeschichte. Aber sie wird immer und vorrangig auch ctwas sein müssen, das seit langem aus deutschen Theoricdcbanen verschwunden ist: Geschichtc der intern:nionalen Beziehungen oder Internationale Geschichte. ' DieVerlcugnung des Imernationalen durch die intcllektuell tonangebendcn Strömungen der deutschcn Geschichtswissenschaft - von der neo-webcrianischen Gesellschaftsgcschichte bis zur Itneuen_ Kulturgeschichte - hat vier bedenkliche folgen: Erstens ist das Gebäude der Historischen Sozialwissenschaft lange auf einer ausnahmsweise ungeprüft gebliebenen Voraussetzung errichtet worden: der Prämisse vom Nationalswt als dem naturgegebenen Gehäuse gesellschaftlicher Prozesse. Das aber war ein stillschweigendes Erbe viel eher der deutschen historiographischen Tradition als der klassischen Sozialwissenschaften, auf die man sich sonst mit so viel Erfolg berie[ Keiner der Meisterdenker der Soziologie seit Montesquieu oder COll1te hat nationalgesellschaftlich gedacht. Zweitem hat die Historische Sozialwissenschaft ein riesiges Feld sozial\visscnschaftlicher Theoriebildung unbeachtet und ungenutzt gelassen: »international relations. im weitesten Sinne. Dic neue Globalisierungsdiskussion hat die deutschen Historiker, abgesehen von Migrationsforschcm und wenigen Wirtschaftshistorikern vornehmlich der älteren Generation, daher unvorbereitet erwischt. Daß Nationalgesellschaften in vielfaltige Austauschprozesse eingebunden sind, daß kulturelle Transfers allenthalben in der Neuzeit zu Mischungen, Überlagerungen und IlHybridität. gefUhrt haben, bleibt im Grunde erst zu entdecken.
I Vgl. :;lIIs Vcrsuch cincr ncuc.n ~lrog...ph)Crung dieses Feldes: W Loth u.J. OstcrlJammtl (Hg.). In~m1t1Ofl11c Geschich~. Thc:rmn. Ergebnisse. AussKhrcn. Münchcn 2000.• In~nu~ ruk: GeschkhlC'. soU 1n die cnglischC' Bezclchnung .intcnuOOrul histoty. 1nschlkfkn. Dvnil ist C'rhC'blich mehr gemeint ili Diplonuricgrsc:hKhtt oder Sw~ngcschich~.
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Drittens hat die endlose deutsche Debatte um den ItPrimatlC der äußeren oder der inneren Verhältnisse zu eincm halbicrtcn Vcrständnis von Macht geruhrt. Dascinc historiograph ische Lager hielt an dem abstT3kten und engen Machtbegriffdcr Diplomariegcschichte und des außenpolitischen .RealismuslC fcst, das andere ließ Macht nur als Derivat sozialer Lagen und cvcntuell noch als manipulativ eingeseczte Ressource von Eliten politik gelten. Die großen Machtumbrüche der GegenW2rt aber - auch die deutsche Wiedervereinigung - lassen sich, wie etwa. CharIes S. Maier gezeigt hat, '2 ohne ein Verstindnis rur die Verschränkung innerer und äußerer Faktoren überhaupt nicht erfassen. Im Zeitaltereiner Internationalisierungaller Lebensbcreiche, nicht zuletzt auch der Entmächrigung nationalstaatlicher Politik, ist die Primatfragc im Sinne eines kontradiktorischen Widerspruchs gegenstandslos geworden. Viertens - und dies folgt verallgemcinernd aus dcm Ictztcn Punkt - kann es spätestens nach dcr Rückkehr des Krieges auf den europäischen Konrinem nicht lällger angchcn, daß dic Geschichtswissenschaft sowohl in ihrer sozialgeschichtlichen wie in ihrer kulturgeschichtlichen Variante Fragen von Kricg lind Fricden weiterhin ignoricrt. Solchc Fragcn in einer allgemcinen Kulturgeschichtc und historischcn Anthropologic von Gcwalt aufgehcn zu lassen,J ist ein Fortschritt gegenüber strikter VCl"\vcigerung und bringt vielc wichtige Einsichtcn in Gcwa.ltursachclI und Kricgserfahrungen hervor, riskicrt aber die Entpolitisicrungdcr Konfliktproblematik und dic Einschränkung von Gewahwahrnehmung auf anthropologischc Grundbcfindlichkeitcn. Man kann nicht über KricgserfaJmwg rcdcn und glcichzcitig über KricgS"'~Uj,t'l1schweigen. Dic Historische Sozialwisscnschaft ist in eincm einzigen Fall von ihrer Gerin~hätzungdes Internationalen abgewichen: Dic Erklärung des Imperialismus, insbesonderc des deutschen, amerikanischen und russischen, war eine Weilc eine ihrer bevorzugten Aufgaben. Dies war dadurch möglich, daß die Impcrialismusthcmatik scit den Itklassischen« Impcrialismustheorien des frühen 20. Jahrhunderts außcrhalb des Machtstaarparadigmas aufhohclll Niveau theoretisch behandelt wordcn war. Da dic imperiale Expansion der Zeit zwischen c{Wa 1880 und 1914 jenseits des curopäischen Staatensystems stattfand, war es zudcm nicht nötig, sich mit den Mechanismen der Allianzsystcmc, also mit Diplomaricgcschichtc in cinem cngen Sinne, zu beschäftigen. Eine ~ozial ökonomische Interprctation lag daher besondcrs nahe, zulllal im dcutschcn Fall die Verbindung zur wilhclminischen »Weltpolirih, an der innovative Vorläufer wie Eckart Kehr die Vorzüge des »Primats der InncnpolitiklC bereits dcmonstriert hatten, auf der Hand lag. Was die USA betraf so fand man dort in den Arbeiten von William Applel1lan Williams ein Muster fiir die kritische Über2 Vgl. C. S. Alliin. Dissoluuon: Thc Crisis ofCommulIIsm :lIOd lhc End PrincclOfll997. 3 Z.ß. R. P. Siqcrk (Hg.), Kulturen dcr ~It. Frmkfun :II.M. 1998.
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Of~1
c;c,nn,',1ny.
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w;ndung diplomatiegeschichtlicher Konventionen vor. Die kurze Blüte der dcutschcn Imperialismusforschung wähne von Hans-Ulrich Wehlers ltBismarck und dcr Imperialismus« (1969) über Dietrich Geyers ltDer russische Imperialismus« (1977) bis zu einer Synthese, die Gusuv Schmidt 1989 veröffentlichte. In diese Zeit fallen auch wichtige Aufsätze von WolfgangJ. Mommsen und Gilbert Ziebura über britischen und französischen Imperialismus.~ Daß sich gleichzeitig, angeregt durch Rudolf von A1bcrtini in Heidclbcrg und später in Zürich, eine ganze Schule einer eher ltperiphere, also auch an den Verhältnissen in Übersee interessierten Erforschung von Kolonisation - auf zuweilcn höchstcm intcrnationalen Niveau - eublicne, wurde in dcr Historischen Sozialwissenschaft - mit Ausnahme WolfgangJ. Mommsens - ebensowenig wahrgenommen ..vie die grandiosc Symheseleistung, dic Wolfgang Reinhard mit sciner vierbändigen ltGeschichte der europäischen Expansion«
(1983-1990) erbrachte.' Unterdessen hat die Imperialismusforschung international eine Renaissance erlebt. 6 Das Ilat verschiedene Gründe: die Globalisierungsdiskussion, zu deren frühest'en historischen Beiträgen hnmanuel Wallersteins Theorie des ltmodernen Weltsystems« (1974) gehörte; die Entdeckung rassistischer und eurozentrischcr Gehalte in den Tcxtcn dcr westlichcn Tradition durch cine postmoderne Literatun.visscllschaft; cine neue sozialhiscorische Aufmerksamkeit fur koloniale und nachkolonialc Gesellschaften als soziale Formationen SI/i getleris;' schließlich die Erweiterung des Gesichtskreises auf den zuvor kaum beachteten, dabei aber hochbcdcutcndcn Fall dcsjapanischen Imperialismus und Kolonialismus.' Die ältere Frage n:ach dem Warum der intensivicrtcn Aneignung 4 Vgl. H.-U. IVthln. ßismarck und dC'r Imperl.1.lismus. Köln 1969: DrrJ., DC'r Auf:o>ticg dC's ameribnischC'n Imperialismus. Studien zur EnfWicklungd~ Imperium An~flOllum 1865-1900. Göttlllb't'n 1914: Dm.• Grundzü~ der ameribnischcn Außenpolitik 17~ 1900. Fr.lukfun a.M. 1983: D. Cryrr. Der russischC' Imperiahsmus. SlUdiC'n übC'r dC'n Zusammenhang von innC'rer und aus~nib'Cr Politik 1860-1914. Göl:lingcn Im: W.). MolPlmsnt (Hg.). Der modC'mC' ImperialisITIUS. Snm~rt 1971: Dm.. Der europ~ischC' Imperialismus. Auf~t'Zc und Abhandlungen. Göltingen 1979: G. Sr/Imid,. Der europ~ischC' Imperialismus. München 1989. 5 W. Rri"lumJ. Geschidue dC'r europ~ischC'1l Expansion. 4 Bde.• StIlll~rl 1982-1990. Mehr als eine ZUs;J.rnmenfassung ist lXn.. Kleine Geschiehte des Kolonialismus, Stuugart 1996. 6 Vgl. neue Aufgabcnstellungen beiA. G. HopkillS, Back tO the FuturC': From National HislOry to Imperial History. in: P&P. Nr. 164. August 1999. S. 198-243. 7 Vgl. lUs;J.tllll1enfassendj. OSfffllOlPlmtl. Kolonialismus. GeschichtC'. FormC'n. Folgen. Mün· ehen 2(~W. S. 89-99. 8 Zum Sund der Illlperialismusforschung vgl. P. Woljt,l-listory .lind Imperia1ism: ACcmury of Theory from Man; tO Postcolonialism. in: AI-IR. Jg. 102. 1997, S. 388-420:). ~rlwmlPltl. JC'nseits ckrOnhodoxiC'. Imperium. Raum. Herrschaft und Kultur als DimC'nSKmcn von ImperialismustheoriC'. in: Periplus,Jg. 5. 1995. S.119-131: Dm.• lmpenalgeschKhtC'. in: C. ComtIgkn (I-Ig.). GeschKhtswissenschaflCn. Eine Einfilhrung. Fnnkfun a.M. 2000. S. 221-232; B. &1th, IntC'tlUtionalC' GcschichlC und C'UropiischC' Expansion: Die ImperialistnC'n des 19.Jahrhunckns. ill: 1...,,11, u. OsItrIwmnvl (Hg.). InlCmauonak GeschlchlC. S. 309-327. Vorbildhch ist die AufarbC'i· tUng der LilCr.llUr zum gröBlCn der f'lC'uttithchcn ImperiC'n in: IV. R. I...ouis (Hg.). TbC' Oxford
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von KoloPliell durch die industrialisierten Nationalstaaten im Zeitalter des IJHochimperialismus« spielt heute längst nicht mehr die dominierende Rolle, die ihr in dcn sechziger und siebzigcr Jahren zukam. Stärker beachtet als das Problem des »<:olonial take-over« werden Zusammenhänge zwischen IIformal« und lIinfonnal« empire,' langfristige Konrinuitäten hinter 1870 zurück und über 1914 hinaus sowie kulturgeschichtliche Aspekte aller Art. Bei all ihrem innov:aiven Schwung hat jedoch gerade die unter llpostcolonial studies« finnierende Kulturgeschichte von Imperialismus und Kolonialismus den Eindruck einer hemlctischen Sonderweh des Kolonialen eher noch verstärkt und damit auch die übliche Isolierung der Expansionsproblematik von der allgemeinen Geschichte der inten13tionalen Beziehungen betont. Das Koloniale erscheint als eine exotische Sphäre rur sich, Imperialismus als eine trOt'z andaucrnder Langzeitfolgen - abgeschlossenc Epoche. Einer solchen Sicht kann man nicht nur mitjellell Argumcnten der marxistischcn Imperialismusdeumng, einschließlich der zein.veise populären Dcpcndenztheorien, widersprechen, die in der gcgenwärtigen EntwickJungdcr Weltwirtschaft nur eine Verlängerung jenes Trends zu immer schärferen Nord-Süd-Gegcnsätzen schen, der bereits iml;crsten« Kolonialzeitalter cinsctzte und dann vor allem im 19.Jahrhundert deutlich hervortraL Auch ein jedes Ihdikalismus unverdächtiger Zeuge hat sich in einem ähnlichen Sinne geäußert. Zbigniew Brzezinski. der Sicherheitsberater Präsident Jimmy Cmers. sieht in der heutigen Vormachtstellung der USA die Krönung einer Geschichte des ltCmpire-building«, die er bis zum Imperium Romanum zurückverfolgt. In seiner Sicht hat das IJAmerican global system. das Erbe des von ähnlichen ideologischen Überzeugungen getragenen britischen Impcrialsystems anb"Ctreten. Selbst Großbritannicn mit seinem weltumspannenden Reich sei niemals _a tmly global powertl gewesen. IIlt did not contrei Europe, but only balanced it.«'O Die USA hingegen seien nach dem Ende des Kalten Krieges lIthe onlycomprchcnsive global superpower. der Weltgeschichte" - in Brzczinskis Augen selbstverständlich ein Reich des Guten, das der Weh Friedcnund Wohlstand bringt. Wcnn man hier einiges an selbstzufriedener Rherorik und kruder Geopolitik zu übersehen geneigt ist, dann bleibt festzustellen, daß Brzezinski eine politische und auch eine historische Wahrheit ausspricht. Die historische Wahrheit besteht darin, den weltpolitischen Aufstieg der USA - eine der elementaren Tatsachen des 20. Jahrhunderts- in die Geschichte der ncuzeitlichen Rcichsbil-
}-IiSIOf)' of lhe British EmpIre. ßd. 5; Hislonognphy. hg. v. R. W lYinks. Oxford 1999. ein Ihnd von über 700 Seilen. 9 Vgl. vor allem P.J. Qlin u. A. G. Hopkif'lS. British Impcnahsm. 2 ßde.. I-Iarlow 1993. 10 Z. BRainslti. The Gr.r.nd Chcssbwrd; Amcrican Primacy .lind Its Gcosu:;ucgic Impcnuvcs. NewY~k 1997. S. 21. 11 Ebd.• S. 24. ähnlKh D. Qlnrt«/iM. Omamelltahsm.london 2001. S. XIII.
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dungen einzuordnen. Dies läßt sich ohne polemischen Anti-Amerikanismus tun. Es ist auch eine eher scholastische Frage, ob man die Begriffe ,.Imperium« und ,.lmperialisll1us« so weit dehnen möchte, daß sie auch das internationale Verhalten der ltComprehensive global superpower« einschließen. Der analytische Befund dürfte kaum zu bestreiten sein: Die USA übemahmen trorz ihres traditionellen, zuletzt von FrankIin D. Roosevelt in der Konfronution mit Winston Churchill anikulienen Ami-Kolonialismus seit dem Beginn des Kalten Krieges an vielen Stellen der Welt die Ordnungsrollen der Briten und Franzosen, auch wenn sie die Inhalte dieser Rollen zumeist neu definierten. 12 Oder in etwas anderer Sicht: die USA imitierten und perfektioniertenjenes liberalkapiulistische Globalsystem, das Großbriunnien im 19. Jahrhundert aufgebaut hane. Die Methoden der Einflußsicherungen waren andere, und der formelle Kolonialismus spielte kaum eine Rolle, doch wurden die Ziele, die sich mit dem viktorianischen ItBritish imperial system«lJ verbanden, ins Anlerikanische Zeitalter hinein übernommen und den technischen Möglichkeiten des 20. Jahrhunderts angcpaßt: (1) eine freihändlcrische Welrwirtschaftsordnung, in der das lIimperialc« Zcntrum die Spielregeln bestimmt, (2) eine selbslauferlegre Zivilisierungsmission zur Verbreitung westlicher (britischcr/amcrikanischer) Wcne und Lebensformen; (3) die Fähigkeit zu punktueller Machtentfaltung welrwcit. Eine solche Fähigkeit zu globaler punktueller Machtentfaltung sicherte sich Großbritannien durch die Allgegenwart seincr Kriegsflone, die wiederum durch die Kontrolle von Marinebasen an nahezu allen strategischen Punkten des Erdballs ennöglicht wurde. Das Innere der Kontinente war der britischen Macht jedoch weitgehend entzogen. Geopolitische Theorien über den welthinorischen Gegensatz von Land- lind Seemächten, die von Hegel über Sir HalCord Mackinder bis zu earl Schmitt entwickelt wurden,!' waren daher fur die Zeit der britischen Hegemonie lind insbesondere Hir die Zeit des britisch-russischen Gegensatzes nicht aus der Luft gegriffen. Unter den technischen Bedingungen des 20. Jahrhunderts konntcn die USA ihrem Arscnal die interkontinental operierende Luftwaffe hinzufiigen. Prinzipiell ist jeder Punkt der Erde heute aus der Luft angreifbar. Das British Empire vermochte demgegenüber
12 Einc illlercssante Diskussion der Verschicbung von brilischer zu :l.Inerik.anischer HegemoIlIC iSI: T. Smir/•. The Pmem of Impcriatism: The Unitcd SUICS. Grcal ßriuin aod (he uteIndus-rrializlIlg World since 181S. Cambridgl: 1981: auch W R. Louu u. R. Robimon. The Impcria· lism of [kcololllulion. in: jICH. jg. 22. 1994. S. 462-511. Vgl. auch U. uhmltuhl. Pax Anglo-Amcnana. MachlSlrukturcUc Grundla.~n anglo-amerikanischcr Asien- und FemostpOlitik in den 195(kr jahrC'n. München 1999. 1J Zu dlCSC:m Ikgriff vgI.J. DtJ,win. ßnulIl and Dttolonisation: Thc Ikmal from Empire in the POSt-war World. Basingstokc 1988. S. 25-33. 14 Vgt G. Panm, Western Geopolitical ThougtulIl die T~ucth Crnlury. London 1985; R. Sprtngrf. Knuk dtr Geopolitik. Ein deulSCher Diskurs 1914--1944. Ikrlin 1996.
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erst in der letzten Phase seiner E.xistenz die Flugtechnologie zu Zwecken imperialer Kontrolle zu nutzen. 15 Der tentlitlUs (<
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nicht in Diplomatie- und Militärgeschichte. Es unterläuft die »Primat.-Frage und kommt gar nicht umhin, »metropolitane. und »periphereIl Ansätze zu verbinden. Schließlich bietet es der neuen Kulturgeschichte weiten Raum, denn wo spielen Perzeptionen und Repräsentationen, Feindbilder und ...kulturelle. Konstruktionen von Souveränität und Erlösungsbedürftigkeit eine größere Rolle als in der Sphäre des Internationalen und Interkulturellen, besonders in seiner Zuspitzung im Phänomen der Intervention?" Dieser Aufsatz setzt sich maßvolle Ziele. Er wird weder einegesdllossn'l Systematik von Interventionen anbieten, noch eine globale Entwicklungsgeschichte der Macht skizzieren. Das erste würde das Feld zu herrisch strukturieren und Entdeckungen an seinen Rändern erschweren. Für das zweite ist es noch zu früh. Ein großer Teil der Literatur über Interventionen geht nicht über die ßeschreibungvon Ereignisabläufen hinaus und bietet keine gute Grundlage für weitergehende Schlußfolgerungen. Neue Studien sind nötig. Dazu möchten die folgenden Überlegungen und Funde anregen.
11. Zum Begriffder Intervention Die Balkankriegc der ncunzigcr Jahren begannen im Juni 1991 mit dem Eingreifen Jugoslawien-Serbiens in Slowenien und erreichten im März 1999 mit dem Bombardement serbischer Militännlagen und Städte durch eine NATOLuftflotte ihren Höhepunkt. In heiden Fällen sprachen journalistische und wissenschaftliche Kommentatoren von .Intervention«. Gemeint war damit ungefahr »das militärische Eingreifen eines Stärkeren zur Erreichung begrenzter Ziele«. Betrachtet man die Weltgeschichte der Nachkriegszeit als ganze, dann fallt auf, daß Intervention in diesem zunächst vage bestimmten Sinne der vorherrschende Modus des gcwaltfonnigen Umgangs der Staaten miteinander gewesen ist. Nicht die Invasion nach Art des Beginns der beiden Weltkriege ist das vorherrschende Kriegsmuster gewesen, sondern die Intervention, die allerdings in einigen Fällen, vor allem in Vietnam, zu einem langwicrigen Krieg eskalicrtc. Die Militärplanungcn der Großmächte stcllen sich immer mehr auf intcrveniercnde Einsätze durch hochprofessionelle »rapid dcployment forcesll ein.'~ In ihrem näheren oder manchmal auch weiteren Umfeld imcrvcnicrt haben nach 1945 bis auf DeutsChland, Japan, Italien, Kanada und Australien beispidh~ft
C. Wtbtr, Simubting Sovert'ignty: Imervemion. Ihe State :md Symbolic Exdun~, C~mbrid~ 1995. Zur Ikdeutung von Wt]tsichten in der lntem~lion~len Geschichte vgI. ~lIgt'meIllJ. Agnn.', Gropolitics: Rt-V1sioning World Polilics. London 1998. 19 Zum _neueIl lnten-entionismus- n;ach dem Ende: des füllen Krieges gibt es bereits eine n~httu uferlose litcr.llur. Vgl. t!W2 R. CoMlIuJL'fIo". Military Intervention in Ihc 19905: A Ne"," LogicofWar. London 1992: R. G. HQ4SS,lntcrvcntion: Thc UscofAImrian Miliwy Forcc in mc Post-Cold War World, W~hington, D.C. 1994. 18 Vgl.
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sämtliche größeren Staaten. Die USA griffen welcweit ein, die UdSSR versuchte es ihr mit weitaus geringeren Mineln und begrenztem Erfolg nachzutun. Frankreich war ein eifriger Intervenient in Afrika; Großbritannien verhielt sich n:lch dem Abschluß der Dekolonisation seines Empire zurückhaltender, aber auch erst dann. Israel machte die perm:lneme Imerventionsdrohung zum Grundstein seiner Sicherheitspolirik. Die Volksrepublik China griffin Vietnam ein, dieses wiederum in Kambodscha. Kuba schickte Sold:lten nach Angola, die Türkei ihre Truppen nach Zypern, Syrien die seinen in den libanon. Die liste der Hlle ist lang, und ihre Länge hängt im einzelnen davon ab, wie m:m Intervention definiert und von benachbarten Phänomenen abgrenzt. So hat man zum Beispiel fur die Zeit von 1945 bis 1985 insgesamt 591 Fälle von ltOvert military intervention« in 269 »international armed conflicts« identifiziert. 20 listen dieser Art sind auch deswegen nützlich, weil sie an »kleine\( Fälle erinnern, die sogar Historiker zu übersehen oder zu vergessen pflegen. Die gcschichtsWissenschaftliche Kriegsursachenforschung konzenrriert sich weiterhin auf die berühmten Exempla, allen voran den Ersten Weltkrieg. Die kleineren verdienen indes nicht geringere Beachtung. ZUIll einen macht erst die möglichst vollständige statistische Erfassung die Gewaltdichte einer Periode anschaulich, zum anderen sind viele Konflikte von enger zeitlich-räumlicher Beschränkung und geringer Destruktivität pou!fItielle große Kriege und können daher unter dem lehrreichen Gesichtspunkt der Kriegsvermeidung studiert werden. 21 Im übrigen bleibt ein Hinweis von Hedley Bull zu beherzigen: Der Eindruck einer wihrend der letztenJahrzehnte steigenden Interventionsbereitschaft der Großmächte sei nicht zuletzt die Folge einer geschärften Wahrnehmung der internationalen Öffentlichkeit für Souveränititsverletzungen; der ImervcntionsbegnfT sei mit der Zeit weiter gefaßt und deutlicher mit einer negativen moralischen Bedeutung belegt worden. 22 Wie der Kosovo-Kricg von t 999 gezeigt hat, wird die Diskussion um Intervemion heute aus guten Gründen vorzugsweise als eine normative gefuhrt, als eine Debatte um Recht und Moral imernationaler Ordnungseinsätze, besonders dann, wenn sie humanitären Zielen dienen. Selbst Politikwissenschaftler. die ansonstell historischen Vorgchensweisen nicht abhold sind, nehmen gegcn-
20 1-1. K Tillnna Forcign Ovcn MilItary Intervenlion In thc Nuelear Agc. in: Jounul of Peacc Research,Jg. 26.1989. S. 179-195. _Forcign O\Icn miliury lIUervtllUOIl. \\ird definitTI als _all COI1lb:aI.rc~y forcign miliury operations uodcmken by regular mlliury fOrCtS4 (S. 181. vgl. S. 190-195 filr dK Lislt dtr FliUe). Duu auch ~ .• Imemauonal Armtd Conflia since 1945: A Bibliographie Handbook ofWars aod Military IlIteT\OCnUOIlS. Boolder. Co!. 1991. 21 Vgl. dic \\ocrtVOllc SlUdlC). DiUffir u. a•• Vcrmiedenc ~. Dttslubuon von Konfliktcn der Großmächte zwischen Knmkricg und Erstem Weltkrieg (185&-1914). München 1997. 22 H. BufJ.lntcT\ocntion in thc Third World, in: Dm. (l-Ig.).lmcrvelluon in World poliucs. S. 13~156, hicr S. 141.
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über der Intcrventionsfragc eine normative Haltung ein.~ Sofern Interventionen empirisch untersucht worden sind, überwiegt, unabhängig von der Fachzugehörigkeit der Autoren, die monographische Fallstudie, also die detaillierte Untersuchung einzelner Interventionsakte und ihrer Hintergründe auf der Grundlage eines möglichst breiten Spektrums von Quellen. Dies ist ohne Zweifel die angemessenste Methode des empirischen Studiums von Interventionen. Dennoch bleibt es bedauerlich, daß nicht mehr Versuche unternommen worden sind, in systematisch testender Absicht eine große Zahl von Interventionsfällen über einen längeren Zeitraum hinweg zusammenzustellen und nach Mustern ihrer Verteilung in Zeit und Raum zu befragen. Auf diese Weise könnten manche Korrelationen zwischen Bedingungen, Formen und Folgen von Interventionsakten sichtbar gemacht werden. Auch ließen sich näherungsweise die relative Häufigkeit und die Intensität von Interventionen ennitteln. Es solltc auf einer solchen Grundlage möglich sein zu erkennen, in welchen Zeitcn lind Räumen mchr, in wclchen weniger interveniert wurde. Strukturen lind Zyklen des internationalcn Systems könnten dadurch klarer in Erscheinung tretell. Die Sozialwissenschaften haben zwar seit langem und mit Recht ein naives Vertrauen in Gesetzmäßigkeiten aufgegeben, sollten aber an der Möglichkeit der Ordn"ng großer Fallmengen festhalten. Die Ergebnisse solcher Untersuchungen bestätigen allerdings oft nur die Vermutungen, die schon eine nicht-quantitative Betrachtung nahelegt. Raymond und Kegley haben 1987 eine Studie veröffentlicht, die rur die Zeit zwischen 1816 und 1980 eine besondere Art von Intervention seriell untersucht: die äußere Einmischung in Bürgerkriege. Die Ergcbnissew:aren zum Teil wenig übern.schcnd: Interventionen würden in der Regel von einem ..preponden.llt state.c zugunsten der ursprünglich herrschenden, von Rebellen angegriffenen Bürgerkriegspartei, also dem Ancien regime, unternommen. Raymond und Kegley zeigen aber auch - und dies ist aufschlußreicher-, daß überhaupt nur in 21 von insgesamt erfaßten 106 Bürgerkriegssituationen eine Intervention von außen stattgefunden hat.2-4 Keineswegs wirkten also die Bürgerkriege der Vergangenheit durchwegals Interventionsmagneten. Auch Herben Tillema betont - fUr den Umersuchungszeitraum von 1946 bis 1971 - die Häufigkeit der Nidlt-Intervemion in Fällen, in denen eine Intervention militärisch möglich und aus der Sicht der Intcrvemionsmacht politisch aussichtsreich gewesen wärc. 2S 2J Erw:a E-O. C-"Tmpid.
Di~ In~...,r~ntion. Polirisch~ NOl;\\."Cndigk~it
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Möglichkcoit~ll. in: PVS.Jg. 35. 1994. S. 402-422. Eill~ intC'ressante Diskussion nommi\"('f Aspdcr~ ist At. Dr",tI4n. EI('m('llts o( International Political Theory. Oxford 1990. S. 137-156. 24 Vgl. G. A. RD)'I"CPw u. C. w. IV#Y. Long Cycks and International Civit War. in; Journal o( Polillcs.Jg.49. 1987. S. 481-499. 25 Vgl H. K TJInM. Appeal to Fora; ArnC'oon Military In~"Cnuon in Im Era ofContainment. New Vork 1973. S. 131 f[; Dm. u.j. Van lVi"!'"'. law and ~f m Military Int~n"Cnrion;
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Zwischen solchen Generalisierungen und der sorgfaltigen Rekonstruktion von einzelnen Fällen steht das, was der sU"ukturgeschichtlich vorgehende Historiker als seinen spezifischen Beitrag anbieten kann: eine offene, also nicht vollständige Typologie von Interventionen zu entwerfen und zugleich in gTöbsten Strichen die Entwicklung der Imerventionspraxis aufzuzeigen. Vor jeder weiteren Diskussion muß abcrder Begriffgeklärt werden, von dem sie ausgeht. Wie könnte - als provisorisches Arbcitswerkzeug verstanden - eine Definition von .Imerventionc aussehen, die ftirdas 19. und das 20. Jahrhundert bis hin zur Epoche von Dekolonisation und Ost-West-Konflikt brauchbar zu sein verspricht? Deramerikanische Politihvissenschaftler PcterJ. Schraeder formuliert sehr allgemein, Intervention sei .the cakulated use ofpolitical, economic and military instrumems by one coumry to influence the domestic or the foreign policies of another country•. 26 Diese Bestimmung des Begriffs hat den Vorteil, daß sie nicht ausschließlich am extremen Bild der militärischen Invasion orientiert ist. Andere Instrumente werden eingeschlossen: Wirtschafts-und Militärhilfe, lnassive Propaganda, ökonomische Sanktionen, Geheill1dienstoperationen, Umerstützung rur einheimische Insurgenten (ltfreedom fighters. in der Spraclle der Reagan-Adll1inistration). All dies war charakteristisch fiirdas breite Interventiollsinstrull1ent.:lrium in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts, findet sich aber teilweise auch schon in früheren historischen SituatioIlen.l? Allerdings grenzt diese Definition den Merkmalskomplex .Intervention« nicht deutlich genug an seinen bciden rUndem ab: gegen regelrechten .Krieg« einerseits, andererseits gegen Ver\vickJungen von schwacher Intensität und geringer Zielgerichtetheit - .involvemel1t« oder .interference«, um die Termini der englischen Sprache zu verwenden, in der das Thema bisher vor allem diskllfiert worden ist. 28 Interventionen können sich zu Kriegen ausweiten - Vietnam wäre ein Beispiel daftir -, aber es widerstrebt dem Sprachempfinden, von der deutschen Intervention in Polen am t. September 1939 oder der japanischen Intervention in l>earl Harbor 3m 7. Dezember 1941 zu sprechen. Beides waren kriegsauslösende Aggressionsakte. Wo liegt der Unterschied? Intervention ist in einem
Major Seiles
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doppelten Sinne asytllttletrisdl: Zum einen setzt sie ein allgemeines, d.h. nicht unbedingt auch im lntetventionsgcbiet lokal wirksames, Machtgefalle voraus. Zum anderen hat sie in der Regel asymmetrische Fofgell: Im Unterschied zu einem Krieg zwischen Staaten, der unter modernen Bedingungen von tendenziell totalem Krieg tiefgreifende Auswirkungen auf heide (oder alle) beteiligten Gesellschaften hat, trifft die lntetventioll in voller Schwere nur den Zielstaat, während sie dem imetvenierenden Staat allenfalls Kosten verursacht; niemals wird der Zielstaat selbst imstande sein, über Abwehr und Widerstand hinaus zum Gegenangriff auf das Heimatterritorium des Aggressors überzugehen. In der Luftschbgsphase der Kosovo-lntelVention von 1999 wurden sogar Verluste unter den NATO-Alliierten vollständig vermieden; auch die So\'detunion erlin 1968 in der Tschechoslowakei keinerlei Verluste. ImelVemion ist niemals eine Form des Umgangs unter Gleichen. IntelVcntionen werden in der Regel als begretlzte Aktionen unternommen. Wenn sie sich dennoch in einigen Fällen zu Kriegen steigern, geschieht dies durch eine Eskalationslogik, die über die ursprünglichen Motive hinausfuhrt. Dies läßt sich sowohl in Vietnam als auch in Afghanistan bcobachtcn. 29 Hier wie dort es war der Widerstand einheimischer politischer Kräfte bis hin zu einem Volks krieg gegen die Invasoren, der zum Hochschaukeln des Konflikts in Kriegsdimensionen fUhrte. Intetventionen unterbleiben deshalb in der Regel dort, wo ihre kriegsauslösende Wirkung von Anfang an feststeht. Es gab sie in der starketl Form des militärischen Eingreifens daher relativ selten in delikat ausbalancierten Gleichgcwichtssystcmen: weder im multipolaren Konzert der Mächte während des 19. Jahrhunderts noch in der bipolaren Welt der Nachkriegszeit. Spätestens seit der Kubakrise vom Oktober 1962 imetvenierten die Supermächte nur in dem, was sie fur ihre eigenen Hinterhöfe hielten (die So\\jetllnion sprach vom »Nahen Auslandl(), außerdem vorübergehend im noch nicht eindeutig zugeordneten Afrika, nicht aber im Hegemonialbcreich der jeweils anderen Macht.lntetvcntion findet sich daher häufig in weniger stabilen historischen Perioden von reduzicrtem weltpolitischem Ordnungszwang, so etwa wieder nach dem Ende des Kalten Krieges. Sie ist - nun recht eng definiert - eine Weise nicht des Umgangs von hochgcrüsteten Nationalstaaten miteinander, sondern die Aktionsform eines imperialen Zentrums gegenüber einer machtpolitischen Peripherie, die zumeist auch wirtschaftlich dem Zentrum untergeordnet ist. Nichts anderes soll mit imperialer Intetvention gemeint 29 Vgl. zum Überblick unter dem Gesichtspunkt der Inlerventiollsproblemalik vor allem L. ßmllllll, From Intervelltion 10 Discllg2gemelll: Thc Unilcd SUtcS in ViclIlam. in:A. E. Lnrilt u. a. (Hg.). Forcign Miliury Imervemion: The Dynamics of Protractcd ConfliCI. Ncw York 1992. S. 23-64; R. S. Utwilk, Thc Soviet Union in Afghanisun. in: cbei., S. 65-94. sowie R. Hj!stlllJII. VicUlam: Thc Dccisions to IlUcrvCIIC, in:). R. Adrl'nllIl (Hg.), Supcrpowers and Revolution, New Vork 1986. S. 112-144; C. L. CibsclI, The Soviel Invasion ofAfghanisun: Pursuing Stability and Securiry. in: clx!.. S. 266-285.
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sein - in gewisser Weise ein Pleonasmus,jedenfalls bis zum Auftreten der humanitären und friedenswahrendcn multilateralen Interventionen der Gegenwart:lO Alle IlHcrventionen, von denen in diesem Aufsatz die Rede sein wird, waren in diesem Sinne »impcrial•. Einzelne Fälle untcrschieden sich nach Raum, Zeit, Akteurcn und Ausmaß. Vor allem aber müssen vier analytische Dimensionen beachtet werden: (I) das Verlaufsmuster dcr IlHervclHion, (2) die Motive und Ziele der IlHcrvenicrenden, (3) dic möglicherweise davon abweichendcn offizicllen Reclufertigungsgründe, also die dahinter stchende »Ideologie., (4) die Folgen ftir alle Beteiligten.
Diese Kriterien verbinden sich nicht säuberlich zu einer kleinen Zahl von Grundcypen. Eine große Menge von Kombinationen findet sich in der historischen Wirklichkcit. Die elementare Typologie von vicr Grundformcn, die im Folgenden vorgeschlagcn wird, ist daher mit einem guten Maß an Willkür und Vcreinfachung behaftct. Die größte Unsicherheit der Intcrpretation entstcht aus der Nicht-Kongruenz von Zielcn, Ideologien und Ergebnissen. Die wahren Absichten waren oft nicht die öffentlich proklamierten und plakatiertcn, und das tatsächliche Resultat konnte in der Wcise unbeabsichtigter Handlullgsfolgen in eine abermals andere Richrung fUhren. Wie zum Beispiel die kollektive Somalia-Intervention von 1992-1994 zeigte, kann eine Intervention, die zur Herstellung von Ordnung unternommen wird, 3m Ende das Chaos noch weitcr vergrößern.)1
111. Interventionsbindung und Intcrvcntionsfreiheit im Staatensystem nach 1815 Vor einer Erörterung imperialer Intervcntionen ist ein Blick aufdie innereuropäischen Verhältnisse erforderlich. In dcr neuzeitlichen europäischen Sraatcnordnung wurde die Frage der Intervention normatil' geklärt und praktisch in einer Wcise geregelt, die bis zur heutigen Intcrventionsdebatte maßgeblich geblieben ist. Das Völkerrecht zunä~hst in seiner naturrechtlichen, dann in seiner positivistischen Ausprägungentwickelte das Prinzip der Souveränität und Unabhän-
30 Vgl. auch Übcrlegun~,.en aus anderer Richmng: D. SltJltr. SituatingGeopolidcal Heprescnutions: Inside/Omside and the Power oflmpcriallmerventions. in: D. Mllssry u.a. (Hg.). Human GeQb'Taphy Today. Cambridge 1999. S.62-84. 31 Zu Versuchen. diesen Vorgang zu erklären. vgl. D. D. U1iti". Somalia: Civil War and IlIIernationallntervclltion. in: B. F. WllluT u.j. SlIyder (Hg.). Civil Wars. Ins«:urity. and Intervention. NewYork 1999. S. 146-180.
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gigkeit eines Suates im Verhältnis zu seinen Nachbarn unter der Bedingungdes Fehlens einer übergeordneten Autorität. Es leitete daraus den Imperativ der Nichteinmischung ab, der freilich in einem Spannungsverhältnis zum KriegfUhrungsrecht souveräner Suatell sund.32 Daß sich solche Nichteinmischung zusätzlich sowohl pragmatisch aus der Interessendefinition einzelner Staaten wie prinzipiell aus Vernunftgründen begründen ließ, legte weitere Sinnschichten über den juristischen Intervemionsdiskurs.)J Obwohl der Frieden von Münster und Osnabrück die Idee der Herrschaft des Rechts in die internationalen Beziehungen Europas einfiihrte, begründete er keinen programmatischen Konsens zwischen den Staaten, der sich über etablierte Ansprüche zugunsten der Normierung eines fiir alle erträglichen Systems kollektiver Sicherheit hinweggesetzt hätte; auch wurde die Anarchie der Staaten durch keinerlei Sanktionsmechanismus abgemildert.J.4 Europa trat daher nach 1648 keineswegs in ein goldenes Zeitalter der Friedens ein. Interventionen geschahen häufig und führten zum Verschwinden ganzer Staaten - man denke vor allem an Polen - von der Landkarte. Wesentlich erfolgreicher war die Friedensstiftung des Wiener Kongresses. Keineswegs war das 19. Jahrhundert - unter internationalem Aspekt die Zcit zwischen 1815 und 1914 - eine Epoche irenischcr Seligkeit. Aber die großen kollektiven Gewaltcxzesse fanden außerhalb Europas statt: als Bürgerkriegewie in China zwischen 1850 und 1864 oder in Mexiko nach 1910, als Sezessionskriege wie in den Vereinigten Staaten oder um dieJahrhundertwende in Südafrika, als koloniale Eroberungskriege wie zwischen 1825 und 1830 aufJava, nach 1830 in Aigerien (und später in vielen anderen Teilen Mrikas) und das ganze Jahrhundert über im Verdrängungs- und Vernichtungskampf weißer Siedler und ihrer staatlichen Organe gegen die Ureinwohner Nordamerikas, schließlich in Gestalt eines Falls von außereuropäischcm Großmächtekonflikt: dem folgenreichen Russisch-Japanischen Krieg von 1904/05. Währenddessen herrschte in Europa Frieden. Zwischen 1815 und dem Beginn des Krimkrieges 1854 wurde überhaupt kein Krieg geführt, und der Krimkrieg selbst sowie die deutschen Einigungskriege stehen an Gewaltsamkcit hinter vielen außereuropäischen Militäraktionen und vor allem hinter den großen Kriegen der Frühen Neuzeit und erst recht des 20. Jahrhunderts deutlich zurück. Unter den zehn verlustreichsten Kriegen zwischen Großmächten seit 1500 fand kein einziger zwischen 1815 und 1914 statt. Es gab keine Parallele etwa zum Spanischen
32 Vgl. R.J. Vinmll. NoninteT"VCl1tion :l.I1d Intern:lliOIl.:l.l Order. PrillCctol1 1974. S. 20-44. 33 Ebd.. S. 45-63. Seine Revision Yo'ird heute vor allem aufder Grundlage einer (auch historischen) Kritik am SouvcränitätsbegrifTbctricbcn. Vgl. crwa das Spektrum der Positionen in G. M. Lyo"s u. M. MaslD/ldmro (Hg.), Bcyond Westphalia? Sute Sovercignty and Imcrn:Hionallntcrvention. Balrimore 1995. 34 Vgl. A. Ositlrrdl"1'. Thc Sates System of Europc 1640-1990. Oxford 1994, S. 38--43.
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Erbfolgekrieg der Jahre 1701-1714, der auf zahlreichen Schlachtfeldern 1,2 Millionen Todesopfer gefordert haben soll. Vollends überwältigend ist der Kontrast zu den Kriegen zwischen 1792 und 1815, die vermutlich zu 2,5 Millionen milit1.rischen Opfern führten. 3:; Insgesamt gab es im 18. Jahrhundert sicbcnmal mehr Kriegstote in Relation zur GesamtbevölkcrungEuropas als im 19. Jahrhundert. 36 Die Ordnung dcs Wiener Kongresses erneuerte nicht die internationalen Zustände des 18. Jahrhunderts. 37 Es war die vielleicht wichtigste Einsicht der politischen Klasse Europas nach einem Vierteljahrhundert von Revolution und Krieg, daß nicht der itlllcre Umsturz allcin dcn Zusammenbruch der altcn Ordnung herbcigefiihrt hane. Vielmchrwar die vorrevolmionäre Staatenwelt selbst labil gewesen und hanc immer wieder mit Notwendigkeit Kriege aus sich hervorgetrieben. Der Mcchanismus des Machtgleichgewichts hane nur die Konflikunustcr immer wieder neu gemischt, die Konflikte selbst aber nicht verhindert. Napoleons hemmungslose Kriegspolitik hane ihn zerstört. Nun hieß es Konsequenzen zu ziehen. Sobald man sich entschlossen hatte, Frankreich nicht cinem Strafdiktat zu unterwerfen, sondern ihm mit einem Versöhnungsfrieden entgegenzukommen, war das alte Aktcurspersonal europäischer Politik wieder beieinander: die fiinfGroßlllächte England, Frankreich, Preußen, Österreich und Rußland. Aber zwischen ihnen wurden nun ganz neuartige Beziehungen aufgebaut. An die Stelle einer anarchischen Gelegenhcitsbalance von Staaten, die nur dcm folgten, was sic als ihren momentanen Nutzen ansahen, tratenwie Paul W. Schroeder gezeigt hat - Idee und Wirklichkeit eines rechtlich gebundenen, systemisch verstrebten Gleichgewichts:ill Es war dies noch keine Ordnung kollektiver Sicherheit, sondern ein Konstrukt, das auf dem Prinzip des Auswiegens von Machtressourcen beruhte.3'J Doch wurde nun aus dem labilen ein stabiles Gleichgewicht.
35 Zahlen nach). S. UlI)'. War in thc Modcm Grc:n Po\\.'Cr Systt'lll. 1494-1975. Lcxingtoll 1983. S. 90: auch K. A. Rasier u. W. R. 11lOrtlp$OII. War and Statc Making: Thc Shapingofthe Global Powcrs, BostOn 1989. S. 13 (Tab. 1.2). 36 P. 1--11: Sd'rof(/"f. The N;nelccmh-Cellt\lry Intern;u;onal SYSlcm: Chanb't'$ in Ihe SrruCf\lre. in; wp,Jg. 39.1986. S.I-26. hier S. 11. 37 _Gleichgewicht und Restauration waren eben mein dasselbe._ bemerkl mir Recht T. Nipperdry. Deutsche Geschichte 1800-1866. Biirgcrwelr und Sl.1rker SI:aat, München 1983, S. 363. 38 Vgl. P. W. Sdll1~dtr. Thc Transfornl:lt;oll ofEurope:an Polirics 1763-1848, Oxford 1994. S. 443ff. 39 Nur vorüber~,.chclld(1820-22) halte die Wiefler Ordnung durch das _KongreßSYSlem. eIne dn;b'Cnnaßcn feste illsriul/iolldlt ß:lsis. Es wurde :lbt'r bald durch d:lS lockerert' _Concerl ofEuropc. :lb~,'clösl: Vgl. A. ~ri/l~ll-M(lIltCliffil, Vom Wiener Kongreß zur P:lriscr Konferenz. England. die dculSChc Frage und du Mädncsystem 1815-1856, Göu;ngen 1991. S. 52f. Vor allem der britische Premier Callning lorpedierle nach 1822 das Kongreß-SYSlem. Schr~dcr Stell! Canning als egoistischen MaelJlpolitiker alten Stils dar. der im KOlizerlnicht lllilSpielcn will. So Srhrotdv. Transformarion, S. 640.
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Die Vorstellung, ein polyzentrisches Mächtesystem könne seine Fonexistenz und im Idcalfall sogar den Frieden dadurch gewährleisten, daß aUe beteiligten Staaten zweckrational ihr jeweiliges Eigeninteresse verfolgen, wurde in Wien verworfen. AJl die Stelle eines vagen und immer wieder enttäuschten Vertrauens auf Vorsehung, Mächtemechanik und das geheime Walten einer itwisible IUJlld trat eine andere Leitidee, die bis dahin eher in dcr utopischen Literatur beheimatet gewesen war: Frieden ergibt sich nicht automatisch aus dem freien Spiel der Konkurrenz; cr muß politisch!'CStijtcl werden. Aus dem zwischenstaatlichen Naturzustand dcs 18. Jahrhunderts heraus, wie ihn Napoleon genutzt und impcrial überwunden hane, wurdc in Wien durch eine An von internationalcm Gesellschaftsvertrag eine rudimentäre Ordnung konstituiert: selbstverständlich kein Weltstaat und noch nicht einmal die europäische Föderation, die Kant sich 1795 gewünscht hane, aber doch ein Konsenszusammenhallg, wie es ihn gcsamteuropäisch bis dahin nicht gegeben hattc. Auf Napoleons Integration Europas im Zeichen von Krieg und Ilevolutionsexport folgte nun ein friedlicher Integrationsschrin mit maßvoll gcgcnrcvolutionärem Akzent. Dies geschah in einer Atmosphäre allgemeiner Kriegsmüdigkeit und wirtschaftlicher Erschöpfung, die allenthalben Demobilisierung und Abrüstung unabweisbar machte.«! Die Völker waren ausgeblutet, die Staatskassen leer. Eine weitere Voraussetzung Hir den posrnapoleonischcn Konscns war eine vorübergehend ungewöhnlich große weltanschauliche Harmonie unter bedingt rcformwilligen konservativen Machthabern und Oligarchicn. Konfessionelle Gegensätze spieltcn keine große Rolle mehr;41 der nicht nur in Frankreich schon vor 1815 öffentlich sichtbare oder gar politisch wirksame Nationalismus war außenpolitisch eirlStl4I(';len neutralisiert; und eine ideologische Blockbildung zwischen liberalen WcSt- und autoritären Ostlllächten, "vie man sie -ohne dies überbcwenenlU dürfen - etwa seit der gcsamteuropäischen Revolutionsbcwegung von 1830 feststellen kann;t2 zeichnete sich 11«" lIil'" ab. Eine Übereinstimmung dieses Ausmaßes hat es bei den anderen großen Friedensregelungen der Neuzeit -1648, 1714,1763,1919,1945 - nicht gegeben. 4)
40 Zu dCII Kricgsvcrwiistungen vgl. G. lksl. War ,md Society in ltevohltionary Europc. 1nO1870. London 1982. S. 193ft. am Beispiel Preußens: H.-u. Wtlrltf. Deutsche Gescllschaüsgcschieillc. Bd. 2: Von der nc(ormiin. bis zur induslricllell und politlschcn .DeutsChen Doppclr~o lution. 1815-184~49. München 1987.5. 380fT. 41 Zu einer der seltenen Ausnahmen vgI. E. H. Kosmumn. The low Countries 1780-1940. Oxford 1978.5.154. 42 Vgl. H. GolIwit:(T. Ideologische Blockbildung als Besanchellllllemauonak:r Politik Im 19. jahrhunden. m: HZ .jg. 201. 1965. 5. ~333. der aber bclOllI. chß Sich Im ZwelfelSDlk doch wemgoc:r die I~ als dlt' Mxlnpolitik durchsetzle (5. 328f:). 43 Schon die impenale Mxhtpn.gmalik Napoleons und seines HauprwidersachCT'S. der konse~uvcn englischen Oli~rchie. haue dem ideologischen Wehbt1rgerkrieg. wie er don von den jakobmcrn.luer von Edmund Burke propagien worden W2f. die Spine b~nOlTlmen.
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Der wichtigste systematische Verbindungspunkt in Theorie und Praxis zwischen Innen- und Außenpolitik wurde nach 1815 das Problem der lntervetltio". Nach 1815 wurde der Intervention eine klare Funktion zugeordnet. Es ist wichtig zu sehen, daß dies nicht schon in den Wiener negclungen selbst geschah, sondern erst in den Versuchen der folgenden Jahre, sie in Politik umzusetzen.... Wenn neue Stutenkollisionen planvoll vermieden werden sollten, dann mußten, so dachten die Interventionsbeftirwoner, begrenzte Ordnungsmaßnahmen möglich und Iegitimierbar sein. Da innere Unruhe in den Suaten des Mächtesystems als potentiell bedrohlichste Kriegsursache gah,45 ja, da man die nevolution als Krieg ftirchtete, würde die Beseirigung von AufstJ.ndsherden zugleich der Friedenserhaltung dienen. Der kleine Krieg sollte zum Ersatz fiir den vermiedenen großen werden. Die konservativen Mächte nußland, ÖSterreich und Preußen, die 1815 die Heilige Allianz - ursprünglich eine hochromantische Caprice des sonst durchaus realistischen Zaren Alexander 1., die von Mcncrnich geschickt ins nealpolitische umgebogen wtlrde~ - ins Leben riefen, sahen durchaus richtig, daß nach der Zähmung des Glcichgewlchtsautomatismus die größte Gefahr fi.ir die Stabilität der bestehenden gesamteuropäischen Ordnung weniger von zwischenstaatlichen KonOikten als IIvon unten\( ausgehen würde. Deshalb wurde die Heilige Allianz als ein Instrument der kollektiven Aufsundsunterdrückung konzipiert. Die Betonung muß auf ltkollcktiv\( liegen, denn der Intervenient sollte keineswegs auf eigene Initiative handeln. sondern im Gesa.mtJ.uftra.g der sich bedroht fohlenden Mächte.~7 Der Konsenschankter, der das Neue der Wiener Ordnung ausmachte, bewies sich also auch in der Fra.geder illllere1l Defensive. Wer immer den Genmnnen Europas jeweils spielen mochte, er legte nunmehr Wen auf ein Mandat, zumindest ein stillschweigendes. Dies gah weniger als ftir andere ftir GroßbritJ.nnien, das ein Interventionsrech'. vor allem in der je eigenen EinOußsphäre (ftir die Engländerecwa Portugal) anerbnnte, aber schon 1820 Mettemichs weitergehende Vorstellung einer 1nterventionspflicllt abgelehnt hatte. 48 Doch auch Groß44 IXr Ausgangspunkt w:ar du PrOlOkoll von Trop!»u (19. November. 1820) ~us AI1I~ß der italienischen Revolution (Sthrortkr, Tnnsfonnatioll, S. 610f.). Text in ~v. G. Gmut (Hg.). FOTllcs Historiae luris Gcntiutn, Od. 3/1: 1815-1945. Berlin 1991, S. 110-113. 45 Zur Semantik von .Ruhe. und .Unruhe. in der Dcnkwclt des Wicner Kongresses vgl. R. Rit. IXr Wiener Kongreß und du Völkerrechi, Bolln 1957, S. n-97. 46 R. KMdkrk. Die Rcstaunlion und ihre Ereigniszus.unmenhänge 1815-1830. in: L. &wron u. ~., Fischer Weltgeschichte, 13d. 26: Das üiraher der europäischen Ikvolurionen 17~1848, Fnnkfurl a.M. 1969, S. 199-229, hier S. 218 (eine unübenroffene Analyse der Rcsraunliollspcn. ode). Sehr gut auch H. GoIlu"t-"'"n, Geschichte des wcltpOliuschen IXnkcns, ßd. I. Göningen 1972.
S.3474. 47 So gesc~hen 182CV21 bei der Intervention ÖSterreichs in laliell...'CrgleKhbar ~uch 1823 das Emgreifen Fr:atlkrcichs in Spanien sowie die britische Umentüttung der liberalen Knfte in Portugal 1826'27. 48 VgI.M. E. CMmbNf4in . • Pu Bnunnia.? British FO«'ign PoIIC)' 1789-1914, london 1988.
S.57.
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britannien trieb Politik in den Kategorien von Intervention und Nicht-Imervention. 49 Wie sah die Intervemionspraxir in der Zeit zwischen 1815 und den frühen drcißiger Jahren aus? Sie folgte keinem eindeutigen Muster. Ein Sonderkomplex ist zunächst die Orientalische Frage. Es gingdabei darum, wie man sich auf Kosten des angeblich zerfallenden Osmanischen Reiches (es hat bis 1923 weiterbestanden) saturieren könne. 50 In zwei Fällen von großer Tragweite lind Brisanz kam es zu kJassischen militärischen Eingriffen in die inneren Angelegenheiten eines Drinsraates: Zum einen vernichteten England, Rußland und Frankreich 1827 in einer gemeinsamen Aktion bei Navarino eine türkischägyptische Flotte, die den aufständischen Griechen den Garaus machen wollte und dies venlltltlich auch geschafft hätte. Die Gründung eines unabhängigen griechischen Staates unter tatkräftiger Mithilfe besonders Großbritanniens wurde danach unausweichlich. 51 Zum anderen schritt während der Orientkrise von 1839-41 eine Mächtekoalition unter britischer Führung zugunsten des osmanischen Sultans gegen Muhalllmad cAli, den von Frankreich unterstützten abtrünnigen Pascha von Ägypten, ein, damit übrigens einen erfolgversprechenden frühen Versuch eigenständiger wirtschaftlicher Modernisierung am Rande Europas vereitelnd. 52 Die gesamte europäische Orientpolitik war ein zynisches Mächtespiel außerhalb von Wiener System und Heiliger Allianz. Die realpolitische Kontinuität von den russisch-türkischen Kriegen des 18.Jahrhunderts bis zu den europäischen Rivalitäten im Osmanenreich am Vorabend des Ersten Weltkriegs wurde durch keine normative friedenspolitische Läuterung unterbrochen. Daß es in Amerika nicht zu ähnlichen Manövern kam, verhinderten die USA mit der
49 Vgl. K Hildtbralld. No Imcrvclllion. Die Pu BritanniCl und Prcußen 186S166-1869nO. Einc Umcrsuchung zur cnglischen Wehpolitik im 19. Jahrhundcrl, Münchcn 1997. 50 Deutsche Liberale rechnClen seit 1840 mit dem bcvor~aeht'lIdenZusammcnbruch des Os· manischen Heicht.'S lind spekulierten üocrdie Vcrtcilungdcr Ikute. VgL H. Fl'lIskr.lmpcrialislische Tendcnzen in DeutsChland vor 1866. Auswanderung. überseeische Bestrebungen. Wehmacht· träulIle. in: Historisches Jahrbuch, Jg. 97/98. 1978. S. 336-38.1, hicr S. 351, 357. 36Of.. 365. Zur Orielllalischen Frage vgl. M. S. AlldeßO". The Eastcrn QueStiOll In4-1923: A Study in Imernational HelatiOIlS. London 1966: W &m"gan. Europliisches Konzert lind nationale ßcwegung. Intcrnationale Beziehungen 1830-1878. Paderborn 1999, S. 287-301. In größeren. geradczu gcschichtsphilosophischcn ZusalllJllenhlingcn: D. Di,,". Dasjahrhundert verstehen. Eine IlIliversalhislOrische Deulung. München 1999, S. 12-16: C. V. Albmh" Gt.'Opolitik und Gcschiclllsphilosophie 1748-1798. ßcrlin 1998. 51 Vgl. J. c. K Daly, Russian Seapower and •Thc Eastcrn Question•. 1827-41. ßasingstokc 1991. Kap. I. 52 Vgl. A. L. tll-Soyyid Marsol, Egypt in Ihe Rcign of Muhammad Ali, Cambridgc 1984: K. M. ell/w. The Pasha's I>easants: Land. Sociery and EcoTlomy in Lower Egypt. 1740-1858, Cambridge 1992: F. N. !..AlIISOlI, The Social Origins ofEgyptian Expansion dunng thc Muhammad rAli Period. NewYork 1992: K. Fa/wIY. All the Pasha's Men: Mehmcd A1i, his Army :llld thc MakingofModcrn Egypt, Carnbridge 1997.
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Monroe-Doktrin von 1823.5..1 Selbstverständlich unterlagen auch die AngTiffskriege, die in dieser Epoche etwa gegen Algcrien, China, Burma, den unabhängigen Sikh-Swt im Panjab und die nordamerikanischen Indianergefuhn wurden, keinerlei moralisch-rechtlicher Mäßigung. Man brauchte diese sogenanntcn .Pazifikationen« nicht zu zivilisieren, da sicja angeblich im Namen der Zivilisation geschahen. Innerhalb Europas fällt im Gegensatz zur turbulenten Peripherie auf, wie zurückhaltend vom Instrument dcr Intervemion Gebrauch gemacht wurde. Mangels solide fundiereer Revolutionen fehlte es zunächst an konterrevolutionären Anlässen. Klassischc, kollektiv abgesegnctc Eingriffe zugunstcn desstalfls q/loame erfolgten 1820121 durch Frankreich in SpanienSol und durch Österreich in Ncapel und Sizilien. 55 Dic dortigen Aufstände waren freilich nicht immer tiefverwtITzclte Sozialrevolutionen, ihre Führer, darunter zahlreiche Militärs, waren oft hoffnungslos zerstritten. Allzu großen langfristigen Schaden haben diese Interventioncn trotz erheblicher Brutalitäten wohl auch nicht angerichtCt. Sb Was aber würde 1830 mit dem Frankreich der Julirevolution gcschchen?S7 Der Übergang von der minimal konstirutionellen Herrschaft der Bourbonendynastie zur parlamentarischen Monarchie des Bürgcrkönigs Louis-Philippc verletzte das Lcgitimitätsprinzip, provozierte aber sogar den zwar doktrinären, doch taktisch geschmeidigen Metternich kaum zu ernsthaften Drohungen. Selbst er konnte nicht umhin, den offensichtlichen Willen der französischen Nation anzuerkennen; eine internationale Krise blieb aus. Die bürgerkriegsartigen Querelen in der Schwciz hielt man- mit gutem Ausgang-einvernehmlich mlter der Glasglocke der Nicht-Intervention. Und diejenigen polnischcn P:arioten und deutschcn Liberalen, die aus der Untcrstützungder Westmächte fiir dcn griechischcn Unabhängigkeitskampf 183013 J Hoffnung fur ihren cigenen Widerstand gegen dcn Zarcn schöpften, hatten die neue europäische Ordnung gründlich mißverstanden. Manche schreibende, aber kcinc kämpfcndc
53 OfTenbn ~r dies elll Ausspielen der europäischen M5ehtc bocb'CnclIlander. Denn nun wußle. daß Großbritannien nichl (aus k-gilimistischcll Grllndcn) 111 ulelllamcrib intervellleren wUrde. aber als elllzib'C Mach, dlC Mittel (Royal Na\!}') besaß. 11111 eine hllervemion der 1cboltimislischell Mädne und Frankreichs:tu verhllldem. Die USA scll>S1 waren duulloch 'Zu schwach. 54 KllSt'II«k. Rest:mration. S. 225: S
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Hand rührte sich rur Polen; niemand riskierte den großen westeuropäischen Kreuzzug gegen den Zarismus. 58 Bleibt der intcressanteste Fall: die südlichen Niederlande. Hier gelang 1830 unter Mithilfe der preußischen Diplomatie, die dabei auf deutliche Distanz zu ihren Partnern in der Hciligen Allianz ging,59 die Schaffung des neuen Staates Belgien, wie ihn die Mehrheit des belgischen Volkes in revolutionärer Sezcssion von den Vcreinigten Niederlanden gewollt hatte: eine höchst riskante Operation am Hande des Abgrundes. 60 Das Interventionsprinzip wurde dieses Mal zlIglllIste" einer nationalen Emanzipationsbewegung nicht an der Periphcrie (wic die griechische), sondern im Herzen des europäischen Staatensystems interprcticrt. Großbritannien, Frankreich und Prcußen bewährten sich als Geburtshelfer eines Staates, der seine Legitimität aus nichts anderem als dem Volkswillen bezog. Österreich und schließlich Hußland akzeptierten die Tatsachen und erkanntcn ein politisches Gebilde an, das sich die freiheitlichstc Verfassung des Kontinents gab. Diesen Spielraum erlaubte eine Ordnung, die den sla/lls quo schützen sollte, ohne ihn um jeden Preis in allen Einzelheiten zu konservieren. Insgesamt wurde in der politische Praxis das Mittel der Intervention in Drittstaaten restriktiv gehandhabt, ohne daß die Regime selbseverständlich vor massiven Zwangsmaßnahmen zu ihrer Selbsrverteidigung im eigenen Herrschaftsbereich - wozu Metternich seit 1820 mit Billigung dcr außerdeutschen Mächte auch den Deutschcn Bund zählen durfte - zurückgeschreckt wären. Es läßt sich, wcnn man das Problem in seiner Entwicklung vcrfolgt, beobachten, wie sich allmählich eine Präferenz fUr Nicht-Intervention durchgesctzt hat. Dieser Standpunkt war nicht zufallig derjenige der französischen Julimonarchie, die ihre problemlose Etablierung einer solchen llatlds-ojJpoficy verdankte. Der alte Talleyrand, 3m Ende seiner diplomatischen Laufbahn (1830-1834) Botschafter in London, hat ihn maßgeblich forrnulieft. 61 Ironischerweise konnte er hier zu seinen revolutionären AnHingen zurückkehren, denn der erste Staat, der den
58 DieAufständischen t'Tu'tUT/'le" die IlIIervention: Silo wußten. daß sie andernfalls keine Chance auf Erfolg hatten. In diesem Fall \.\r,lr Meuernich selbstverständlich nielli fiir eine hllervelllion, sondem sah die Sache als eine innere Allb'dcgcnheit des Z:arenreiches (Miiller, Krise, S. 38fT.. S. 47). Vgl. H. H. Halm. Der polnische Novemberaufstmd VOll 1830 angesielils des zeitgenössischen Völkerrechts, in: I-IZ,Jg. 235, 1982. S. 85--119, hier S. 105, 106, 116fT.: E. Kolb, Polenbild und Polenfreundschaft der deutschen Frühlibcralen. Zur Motivation und FUTlklioll außenpolitischer Parteinahme im Vonnärz, in: Saeculum,Jg. 26,1987, S. 111-127, bes. S. 113ft 59 VgI./. Mirck. Preußen von 1807 bis 1850. Reformen. Resuuration und Revolution. in: O. Biistll (Hg.),I-I:l.I1dbuch der preußischen Geschichte. Bd. 2, ßcrlin 1992, S. 161. 60 Kosdkck, Iksl3ur3tion, S. 267: Krieg wurde hauptsächlich vermieden. weil Preußen aufdie britische Linie einschwenkte. Man einigte sich auch deshalb schnell, um einer neuerlichen Intervention. besonders Rußlands. zuvorzukommen. 61 Ebd.. S. 266. Pikant darin ist, d:lß Tal1eyra.nd der eigentliche Urheber des Prinzips der .Lc· gitimitito: gewesen war.
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Grundsatz der Nicht-Einmischung in innere Angelegenheiten proklamiert hatte (und ihn schon zwci Jahre später, 1792, wieder verriet), war das revolutionäre Frankreich gewesen. 62 Es ist interessant, daß die liberale Vormacht, seit 1830 nachJahrzehntcn zum ersten Mal wieder auch liberal regiert, Talleyrand dabei nur bedingt folgre. Ihr Außenminister Lord Palmerston sah sich entschiedener als seine weniger ideologisch inspirierten Vorgänger als IIchampion of libcrtyl< und entsandte zum Beispiel die Royal Navy 1833 nach Portugal, um einen Illiberalem, also englalldfreundlichen Kronprätendel1tcn zu unterstützen.63 In Zcnrraleuropa mußte er vorsichtiger operieren, nahm sich aber immerhin das Recht zur verbal-propagandistischen lIinterferenccl<. So protestierte er 1832 und wieder 1834 gegen die vcrschärfte inncnpolitische Repression im Deutschcn Bund.bI Nachdem diescr Protcst abgeschmcttcrt worden war, arrangierte sich Großbritannien erneut mit dcn Realitäten und fand zur ideologiearmen Kooperation der Großmächte im curopäischen Mächtekonzcrt zurück. In der britischen VölkerrechtsaufTassung und Staatspra;'I;:is cntwickelte sich nun aber in der Folgezeit ein Intervenrionsverständnis, das über den Wicner Kongreß und die Heilige Allianz hinausfiihrtc: die Überzeugung von der Rechtmäßigkeit »humanitärer« Interventiollcn. 65 Die Urformulierung dieses Prinzips findct sich bereits im Londoner Vertrag vom 6.Juli 1827. Dort wird die Imervemion der europäischcn Mächtc zuglillSten der Griechen 1I.a. mit dcm Wunsche begründet, lIof putting an cnd to thc sanguillary strugglc which l... 1 abandons the Greek Provinces and the Islands of thc Archipelago tO all the disorders of anarchy«.66 Damit beginnt einc neuc Epoche von Völkerrcchtsdenken und Imervenrionspraxis. Das Humanitätspostulat wird dem Lcgitimitätsprinzip im Zweifelsfalle übergeordnet, die Zivilisation rüstct nicht nur faktisch, sondern auch mOr.llisch gegcn das, was sie zur IIBarbarei(( erkJärt. Die Menschcnreclue will man schützen, aber zugleich können mit dcnselben Argumcnten alle Arten von imperialem Zugriffgerechtfertigt werden. Wir finden uns mittcn in ciner heure aktuellen politischen Diskussion. Sie gchörteiner anderen Welt an als der moderat legitimistischen der Wicner Ordnung.
62 Vgl. w: G. Grt"l(~. Epochen deI" Völkem:c1usgeSl.:hiclne, ßadcll-B;I,dcn 19882• S. 487f. 63 Vgl. K ßtmnl(. PalmerslOn: The Early Years 1784--1841. London 1982. S. 395fT.: zu PalmerslOlls IllIerventioll1smus auch E. RribSfdn. Välkerrtthl. Eine Geschichte seiner Ideen in Lehre und Pr2.'<1s. ßd. 2. Frciburg 1%3. S. 659-669. 64 Vgl. Docring-Mameu§tl. Vom W;ellcr Kongreß. S. 67-72. 65 ZurCellesc des Prinzips vgl. C. Ho/braad, The Concen ofEurope: A SUldyon GerTllan and British IIlICnl;ll;Ol\al Theory 1815-1914. LondOIl 1970. S. 162lT. Holbr.lad unlerscheidet zwei Formen: dnl' Imervelll;on zur ncfonn des UOIl'rdriickers innerhalb des C1cichgcwichtssystellls und eine solche zur Befre;ung der UnterdrOcklen. 66 Franco-Anglo-nussian Trcaty for Ihc P;I,cifical;QIl ofGrccre. London. 6.Juli 1827. zit. nach GTt'lI~ (I-Ig.), Fontes J-1islOr;ac luris GcntiUlll. Bd. 3/1. S. 150.
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rv Besitzergreifende Interventionen Die Ordnungdes Wiener Kongresses hane einen Ort fur Interventionen innerhalb des europäischen Staatensystems festgelegt, sie war aber keine Weltfriedensordnung; ihr geographischer Geltungsbereich war sogar noch enger umschriebcn als derjenige früherer Friedensregelungen. Daher fehlte es ftir die außereuropäische Welt an rechtlichen und mächtesystemischen Beschränkungen der Intervention. Diese Zweiteilungder Handlungssphären stand in einem paradoxen Verhältnis zum gleichzeitigen Versuch, die ganze Welt von der Allgemeingültigkeit europäischer Völkerrechtsnormen zu überzeugen. Europa erlegte sich in Übersee keine Schranken auf, verlangte aber, daß sich die Regierenden außereuropäischer Länder dem »standard of civilization(( des europäischen Völkerrechts unterwarfen, also etwa ihre Länder ftir Freihandel und christliche Mission öffneten, ihre Rechtsordnungen im westlichen Sinne reformierten und »nonnale« diplomatische Beziehungen zu den europäischen Großmächten aufnahmen. 67 In diesem Widerspruch gediehen die imperialen Interventionen des 19. Jahrhunderts. Die besitzergreije'lde lnrervemioll ist ein Instrument zur Befriedung turbulenter Grenzen und zur Expansion des imperialen Herrschaftsgebietes. Schon das antike Rom nutzte Instabilitäten und Nachfolgekrisen in seinen asiatischen und nordafrikanischen Klientelkönigtümern, um notfalls von »informal\( zu »formal empirclC überzugehen, von indirektem Einfluß zu direkter Herrschaft. Nicht selten \vurdcn Instabilitäten, die zum Eingrcifen einluden, manipulativ herbeigefuhrt. Meister darin waren die Briten, seitdem Warren Hastings, 17731785 erstcr Generalgouverneur Britisch-Indiens, den britischen Einfluß durch kunstvolle Intrigen und darauffolgendc Interventionen in benachbartc Herrschaftsgebiete ausgedehnt und gefestigt hane. 6Il Die Position als »paramount powef((, als Vormacht inmitten einer Vielzahl indischer Staaten, erreichte Großbritannien zwar letzten Endes durch ausgedehnte Kriege gegen einheimische Widersacher, Kriege, die erst 1818 in der Hauptsache abgeschlossen wurden; doch bediente man sich daneben auch weiterhin eines reichen Arsenals von Subvcrsionstechniken, um indische Fürstentümer reif rur den »imperial takc-ovcflI zu machen. 69 Nach etwa 1830 genügte in Indien der Vorwurf der ItMißwirtsehaftlC gegenüber einem einhcimischen Fürsten, um die Annexion durch die Briten zu rechtfertigen, so etwa 1856 im nord indischen Awadh, das 67 Vgl. G. w: Gcmg, Thc Sundard of .Civiliz:ltioll~ in IllIernational Socicl)'. Oxford 1984. 68 Vgl. immer noch K Friling, Warren I-lastings, London 1966. Nicht zuletzt diese Methoden waren Anlaß des parlamentarischen AnHscmhebungsverfahrens. das Edmund Burkc gegen Ha· stings anstrengte. Vgl. P. J. MarsIlall; The Impeachmem ofWarren Hastings, London 1965. 69 Vgl. S. Försltr, Die mächtigen Diencrder East India Comp.lIlY. Ursachen und Hintergründe der britischen Expansionspolitik in Südasien, 1793--1819, Swttgart 1992; M. H. FisJlfT (I-Ig.), The Politics of thc British Annc:otiOIl oflndia, 1757-1857. New Delhi 1994.
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auch aus diesem Grunde zu einem der beiden Zemrcn des großen Aufstandes, der Indian Mutiny, des Folgcjahres wurde. 70 Die besitzergreifcnde Intervention ist ein besondcres, kcincswegsdas einzige Mittel imperialer Expansion. Sie setzt voraus, daß es überhaupt so etwas wie indigenc Politik gibt, in die man sich einmischcn kann. Die reinc militärische Inbesitznahme, die pure Invasion, die keiner manipulativen Vorbereitung bedarf, wäre ein davon zu unterscheidender Fall. Zweck dcr besitzergreifenden Intervention ist die Annexion oder zumindest die längerfristige Okkupation eincs fremden Gemeinwesens im Glacis des Imperiums. Meist geht ihr der Zusammenbruch bewährter Kollaborationsbeziehungcn voraus, durch welche die Sicherheits- und Wirrschaftsintercssen des Imperiums billiger gewährleistet worden waren als durch formellen Kolonialismus. Das Muster ist alt; seine Urform dürfte die Ausnutzung dynastischer Nachfolgekriscn sein?' Wir finden es zum Beispiel im Jahre 25 v. Chr., als nach dem Tode des - aus römischer Sicht - fähigen und zuverlässigen Klicntclkänigs Amyntas das inneranatoIische Königreich Galatien, das indirekter römischer Kontrolle zu entgleiten drohtc, kurzerhand in cinc Provinz des Imperium Romanum umgewandelt wurde. 72 Nicht selten wurdc auch das benachbartc Rcich von Prätcndenten in Nachfolgestrcitigkeitcn zur Intcrvention eingeladen: Hilferufe, die selten unerhört blieben. Die Unterminicrungvon RandstJateIl durch Intrigen und Ullder-coverAktivitätcn schuf nicht selten selbst erst jenes »ChaoslI, in das man dann ordnend eingreifen konntc. In anderen Fällen sah das Imperium bewährtc Kollaborationsbcziehungcn nicht durch Anarchie gefährdct, sondern durch national- und zuglcich meist auch sozialrcvolutionäre Herausforderungen des jeweiligen Klientelregimes in Frage gestellt. Dcr prototypische Fall in der ncucrcn Geschichtc ist der nationalistisch motiviene, von großen Tcilen der Bevölkerung getragenc Offiziersputsch gegen den ägyptischen Monarchen, dcn schwachcn, dem Westen hörigcn Khediven Tawfiq, im Jahre 1882. Dadurch sah sich ein ehcr widerwilliges Großbritannien zur Wiedcrherstellung von Ordnung und von Sicherheit ftir ausländisches Leben und Eigentum veranlaßt; ein weiterer Gesichtspunkt war die Prävcntion eincs französischen Eingrcifcns. 73
70 Vgl. M. N. FUI'ff.lndircet Rule in Illdla: Residellts and the Resldt'ncy SYSlcm 1764--1858, Dclhi 1991. $. 385. 71 Em Extrt'lllfall w:u dic in den f'ilnfzigcr Jahren dt's 19.JahrhundeTts in Indlcn propab>lertc und praklizicrtc .odoctrint' oflapsc., wonach die Briten auwmatisch das Erbe eines indischt'n Fiir· sten anlraten. Vgl. ebei.. S. 257-260. 72 Vgl. K. Christ, Gcschiclltc der Römischen K.a.iscrzcit. VOll Auguslus bis zu Konsu11t1l1. München 1988, S. 122. 73 Vgl.J. R. J. Coir. Colonialislll and Revolution in thc Middle EaSt: Sodal and Cultllral Origins of Egypt's cUnhi MovcmelU, PrincctOIl 1993: D. M. Rrid, The 'Urahi Rcvolt ;md lhe Brilish Conqucst. 1879-1882, in: M. W. Daly (Hg.). The Cambridgc I-lislory of Egypt. Bd. 2: M<XIern Egypt. rrom 151710 Ihe End oflhe Twcntielh Cenmry, Cambridge 1998, S. 217-238.
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Die daraus entstehenden protektoratsähnlichen Verhältnisse ftihrten dazu, daß Ägypten bis 1922 defoao wie eine Kolonie des British Empire regiert wurde. Daß besitzergreifende Imervemionen vor der zeitgenössischen Öffentlichkeit einer Rechtfenigung bedurften, war nicht selbsNerstiindlich. Oft, ecwa im Rußland (Expansion im Kaukasus) und Fr.mkreich (Eroberung AJgeriens) des 19.Jahrhunderrs, genügte die patriotische Vollzugsmeldung. Bei den britischen IJrcluctant imperialistste der Freihandelsära verhielt es sich etwas anders. Hier zwang ein verbreiteter Anti-Annexionismus und Anti-Intervemionismus, wie ihn in extremer Form Richard Cobden venrat,7~ schon früh zu jenen verschleiernden Legitimationsbemühungen, die dann alle Imervemionen des 20. Jahrhunderts begleiten sollten. ~Peccavi", soll in schöner Ambivalenz und cäsarischer Kürze 1843 Sir CharIes Napier nach Landon gekabelt haben, nachdem er eigenmächtig mit einer Armee von sechstausend Mann dem Empire das Land Sind am Unterlauf des Indus zugcftihrte hatte; IJPcccavi: I have Sind•. Ihm wurde vergebcn. 7S Symbolische Provokationen waren besonders willkommen: er-va der 1868 vom Emir von Buchara leichtfertigerkJärte »Heilige Krieg. gegen Rußland 76 oder der Schlag mit dem Griff eines Pfauen federwedels, den der zuvor heftig beleidigte Dey Hussein von AJgier am 29. April 1827 dem französischen Konsul Pierre Deval versetzte und der zum Auslöser fur die französische Invasion Nordafrikas wurde. n In diesem Fall kam indessen eine ernsthaftere Begründung hinzu: die Durchsetzung zivilisierter Rechtsnormen gegenüber einem - in der Sprache der amerikanischen Außenpolitik der t 980er Jahre - Schurkenstaat (»rogue statete). Zwar lag der Höhepunkt der Verschleppung christlicher Korsarenopfer in die nordaCrikanische Sklaverei eine Weile zurück: 1816 haue eine anglo-holländische Flotille AJgier bombardiert und die Abschaffung der Sklaverei sowie die Freilassung der letzten 1200 christlichen Sklaven erzwungen. 78 Abcres war um 1830 durcha.us noch möglich, den nominell weiterhin osmanischen Barbareskensraat als ein IJPiratennestte zu porträtieren, dessen Ausräucherung im humanitären Interesse der Völkergemeinschaft liegc.19 Französische Großmachtambitionen verbanden sich elegant mit der Verbeugung vor delll liberalen Zeitgeist. 74 Vi/umt, NonilllcrvtntiOlJ, S. 46-54; GolluJitzfr, Geschichte des wcltpolitischell Denkens, Ikl. I. S. 500-510. 75 Vgl, H. T. LAmbrifN, Sir Ch:arles N:apit'r :lIld Sind. Oxford 1952. S. \34-176, Die AnekdolC st:lnd im Satireblau .Punch. und ist nicht verbürgt - aber schlimmstellf:alls gUl erfunden. Vg1.J. i\'foms. He:a\'CIl's Command: An Imperial Progress. H:annondswonh \979, S. ISO. 76 VgL D. Dahl""lrI". ZWischen Europ:a und Asien. Russischer Imperi:alisnms im t 9.Jahrhunden. 111: W Rrinlu1rd (Hg.). Inlpcri:alislische KominuiUI und nationale Ungeduld 1Il1 19.J:ahrhunden. Fnnkfun :I.M. 1991. S. 50--67. hier S. 57. J. M. Alnm-Nasr, A l-hstoryofdlC' M:aghrib in the Isbmic Penod. C:ambrid~ 1987. S. 249. 78 J. B. Wolf, The Ibrb:ary Co:ast: AI~ri:a under Ihc Turks 1500 tO 1830. N~ York 1979.
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S. 331. 79 Vgl.J. RuMy. Modem Algcria: Thc Origins :lnd Dcvclopmellt of a N:atioll. ß1oomillgton
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Ganz neu war diese humanitäre Denkweise freilich nicht. Schon bei der großen, in Kategorien von scholastischem Naturrecht und aristotelischer Anthropologie geftihrten Debatte in der Mitte des 16. Jahrhunderts, bei der es post fest",,, um die Rechtmäßigkeit der spanischen Eroberungen in Amerika ging, hatten .Falken. wie der scharfsinnige Juan Gines de Sepulveda aus den Menschenopfern der Azteken, die~n .über das Maß an jeder menschlichen Verderbtheit hinausgehenden. Verbrechen.110 das Recht einer »Nation. die die Menschenwürde peinlich genau beachtet....• hergeleitet. die Mexikaner zu unterwerfen. Die Expedition des COrteS war keineswegs unternommen worden, um die rituellen Schlächtereien im Großen Tempel von Tenochtithl.n zu unterbinden, von denen man 30m Beginn der Expedition nichts gewußt hatte. Aber im Rückblick fand sich hier ein recht surkes Argument rlir die spanische Conquisu.•Welcher fromme Mensch •• so fragte der Interventions-Theoretiker Sepulveda. "könnte behaupten. es sei nicht Aufgabe eines ausgezeichncten und frommen Fürsten. so vielc unschuldige Menschen vor derartig großen Ungerechtigkeiten zu schützen. wenn er es vcrmag?~ Dem konnte der Indianerfreund ßanolomc de Las Casas nur etwas gewunden widersprechen, wenn er die aztekischen Menschenopfer als "irregeleitete Fröm m igkeitlt interpretierte.!13
V. »Big Srick41-lnterventionen Der Übcrgangvon diesem ersten zu einem zweiten Typus imperialer Intervention ist gleitend. Die Big-Stifk-lmervnuio1J ist die vorherrschende Imerventiollsfonn des nicht- oder post-kolonialen Imperialismus.&! Man wird deshalb daflir Beispiele bis in die jüngste Zeit entdecken. Die reichste Fallsammlung findet man in der Haltung der USA gegenüber den Staaten Mittelamerikas und der Karibik - von der Entsendung amerikanischer Truppen zur Unterstützung der
1992. S. 47. Zur Vorgeschichte dieser llahung vglA. 111Omsoll. Barbary :l.Ild EnlightcnmclH: Europcan Anirudes towards Ihe Maghreb in the l&h CelUury. uidcn 1987. 80 Zil. in C. S'rusttzh (I-Ig.). Der Griff nach der Ncuen Weh. Der Untergang der indianischen Kuhuren im Spiegel zeitgenössischer Te"'te. Frankfurt a.M. 1991. S. 239.
81 Ebd. 82 Ebd., S. 247. 8J A. Pagtkrr. The Fall o(Namral Man: TheAmerican Indian and thc Onginso(Col11paratlVe Edlllology. DlIlbndge 1982. S. 90. Vgl. fiir spätere Phasell der Amcrik.a-Dcbimej. A·luldooll. The Americas in the Spanish World Order: The justifotion for Conquest III the 17th Ccmury. Ph.lxlclphia 1994. 84 Man denlce an dl'n amcrik.amschen Präsidenten Theodorc Roose'{elt (Anltsuit 1901-1909. und seilten Wahlspruch .spcak so(dy and carry a big stick.). Rede III Chtcago. 2. April 1903. hier nxh: Addrcsses and Ptcsidemial Messages o(Theodorc R~·elt. 1902-1904. New Vork 1971 (Reprint). S. 121.
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von eincm Sklavenaufstand bedrohtcn französischen Sicdler in Saint-Dominguc (dem späteren Haiti) im Jahre 1791 bis zur Panama-Intervention gegen General Noriega von 1989 und zur Haiti-Operation vom eptember 1994.85 Die Big-Stick-Intervention wird von ihren Urhebern als eine zeitlich begrellZte Ordnungsmaßnahme zur WAhrung klar definierbarer Interessen konzipiert. Sie zielt nicht auf die Errichtung dauerhaüer Kolonialherrschaft, also die direkte Übernahme staatlicher Funktionen durch den Großen Bruder. Sie ist ein Phänomen weniger der Hemt"IJaJuausübung :als der Maclltdemonstration. Ocr eigentliche Interventionsakt ist der Intention nach von kurzer Dauer, auch wenn sich daraus gelegentlich - wie in Vietnam und Afghanistan-Iangw-ierige Kriege oder auch zählebige quasi-koloniale Okkupationen, so etwa die 3merikallische Besetzung der Dominikanischen Republik 1915--1924 und Haitis 1915-1 934,1l6 ergeben können. In anderer Hinsicht - und vor allem im unmittelbaren Hegemonialbereich einer Großmacht - kann die Big-Stick-Intervention freilich eine Art von Dauerzusund werden: Manifeste Intervenrionel1und latente Intervemionsdrohungen wechseln sich, oft kaum voneinander zu trennen, phasenweisc ab. Das Schwert des Damokles bleibt in Position. Die verbliebenen indischen Fürstenstaaten vor 1947 ooer Nicaragua seit spätestens 1894 machten diese Erfahrung. 1n Die Big-Stick-Intervention wird grundsätzlich VOll zwei miteinander verbundenen Begründungsmustern getragen. Das spezifischere der beiden ist ein ideologisches: auf der einen Seite ein präventiver Antikommunismus, wie er seit dem amerikanisch-japanisch-britischen Eingreifen in den russischen Bürgerkrieg 1918 vielfach in Interventionsaktejeglicher Art umgesetzt wurde,88 au f der anderen Seite spiegcJsymmetrisch der sich so nennende Anti-Imperialismus derselben Epoche: von der Besetzung Azerbajdschans durch die !lote Armee 1920 bis zum Eingreifen der S0v1ctunion bzw. Kubas in Afghanistan und
85 In der allgemeinen Utcr,ltur zur Geschichtc der US-Aulknpoliul:: betOm den Imt'rvt'mionsgcslChlSpunkt besonders: W. LAFron. The Amcrkan ~: Unitcd SlatC$ Forcigll I>ollcy at HOll1c and AbrO
1996. 86 Vgl. E. WiIIiDms. Ftorn Colurnbus tO Castro: Tht' History o( tht' Caribbean 1492-1969. 1.ollOOn 1970. S. 424f.; W. L Bmltd~tr. Kleine Gesdudne Haius. Frankfurt a.M. 1996. S. 120fT. 87 Vgt I. CopIaruf. The Bnlish Ibj and the Inthan Pnnces: Paramountcy in Westt'm ludla. 1857-1930. Bombay 1982: R. A PtISIOr. Condemnro 10 Rrpeliuon: The Unilt'd SClIC$ 1II NICaragua. New Havcn 1987. 88 Die Intervention 1Il dt'1l russischen ßü~rkncg wird Inl Folgendt'1I niehl bdunddl. Vgi. \IOt allem M. Kmk, Russla aud the A1lies 1917-20. 3 Bde., London 1981-92: D. S. Fogkscng. Amenca's $ccrt"t War agalllSI Bolshcvism: US. Intl:rvcnüon In lhe Russiall CWll War. 1917-1920. Chapell·h11. NC 1995.
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Angola.89 Das .:I.l1gemeinere und ältere - bis zum Imperium Romamull zurückreichende - Bcgründungsmustcr ist die Sicherung des Lebens von Swwngchörigen der t-Iegemoni.:l.Im.:l.cht und ihres Eigentums sowie die Gewährleistung freier winschdftlicher Betätigung durch Ausländer. Diese Sicherung soll duf indirektem Wege durch .befreundctcM einheimische Regierungen besorgt werden. Die Intervention dient der Beseitigung feindseliger Std.:l.ts3l1toritätcn und der Instdll:ltion bzw. Stützung von Kollaborationsregimen. Motive und Rcchtfertigungsgründe nähern sich in diesem Punkt weitgehend .:I.n. Intervcntionen zur Abwehr unmittelbucr Gcfahrcn fur Leben und Bcsitz von Ausländern sind in der Regelullzweideutig als solche deklariert worden. Man denke dabei nicht allein an die notorischen »ßanana Warsll der USA in ihrcm südlichcn Itt-linterhoff.,oo dic durch einseitige Erklärungen wie die Monroe-Doktrin von 1823, das Roosevelt-Corollary von 1904, in dem sich die USA zum Polizisten der westlichen Hemisphäre crkJäncn,91 und dic Rcagan-Doktrin der frühen achtziger jahre des 20. jahrhunderts, die weltweitc COlltilerill.Sllt;gc"Ilcy-Aktivitäten absegnetc,92: strategisch, wenn auch kaum völkerrechtlich abgesichcrt wurden. Die schrittweise Öffilung Chinas,japans, Thaildll(ls und Koreas fur Ansiedlung und Handclstätigkeit von westlichen Ausländern, die mit dem anglo-chincsischcn Opiumkrieg von 1840-42 begann, wurde im Kern mit der Notwendigkeit der EinfUhrung westlicher Rechtsvorstcllullgcn und des Schlltzcs der durch sic gcschaffcncn Rechtssphäre begründet. Mehr noch als in den amcribnischcn Fällen kam in Asien freilich noch cine fortschrittsphilosophische Verbrämung hinzu: Die Asiatcn sollten zur Anerkcnnungltzivilisiertefll, sprich: von Europa zur Norm crklärter, Umgangsweisen in imcrnationalen Verkehr gezwungcn werdcn. Der Eigcntumsschutz ist auch noch in ncuerer Zeit in flagrantcr Weise zur Geltung gebracht worden, besonders folgenreich durch eine indirekte BigStick-Intervention: 1953 den konspirativ von Großbritdnnien unter Mitwirkungder Eisenhower-Adminisrr.uion betriebenen Sturz des Ministerpräsidcn89 Einen Überblick. über die Zclln:ach dem Zweiten Weltkneg gtbl: A. P. Sthmid, Sovlet Mlh[:ary Interventions since 1945, New ßrunswick 1985. bcs. S. 73fT. 90 Vgl. M. L. COIIQIII, Im:ages :and 1Iltcrv{'llIion: U.S. !'olkies in utin Amenca, Piusburgh 1994 (iiber die Zeil des IUhen Krieges): I. Mluitam. The Ban;ma W:ars: A J-1IStOry of Uuited $1:lleS Miliury IllIcrvel1[ion in LHill Amenca from dIe Sp:anish-Amerk:m War tO the Inv:aslön ofP:all:ama. Ncw York. Im. sowie nir Zentnl:ameribJ. Dlwktrky. P~r 111 Ihe Isthmus: A Pol1l101 History ofModem Ccmnl Americ:a. Landoll 1988: LaFtbt'r.lncviublc Hc...olutions. 9\ Die Lnen.tur zu Theodo~ Hooscvehs Imervt'nuonspolitlk 151 bunt noch nbcrschaub:ar. Vb"'. vor :allem R. 11. Co1Ii". ~rc ROOSC'-"C'lt's C:anbbc:an: Thc Panama Omal. thc Momoc Docmnc:and the LltIn Amcric:an Conte:«. BalOn Rougt" 1990 (S. 563-584 eIn nützlicher .Blbhogr:aphic:al essaY.): vgl. :auch Dm.. Thcodore Rooscveh. Cuhurc, Dlplomacy. and Exp:anslOn: A Ncw VtcWofAmerianlmpcrialism. B:aton ROl.Igt" 1985. Vgl. dant'bcn auch 1/. K. &aIr, TIleodon: ROOSC'-·c:lt and [he RiS(' ofAmeric:a 10 World P~"C'r. Ihlmno~ 1984. 92 Zur Rug:m-Doktrin vgI. P.J. &hrDtdn. P:anlllilitary Imcrvelluon.lI1: Dm. (I Ig.).Imen,'ention imo the 19<Xk. S. 131-151, bcs. S. 137-149.
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ten der iranischen Nationalen Front, Muhammad Mussadiq, nachdem dieser 1951 die Anglo-lranian Gil Company, die Vorläuferin von 6rirish Petroleum (6P), verstaatlicht haue. An der Stelle eines halbwegs demokrarischen Systems wurde die persönliche Autokratie von Schah Reza Pahlevi installiert, der sich als zuverlässiger Verbündeter und später auch größter Waffenkunde des Westens erweisen sollte und erst bei der Administration PräsidentJimmy Caners (19771981) Anstoß wegen der Menschenrechtsvcrleuungen unter seinem Regime erregte.')J Man Illag versucht sein, nehcn den Interventionen, die ihr Ziel erreichten, die mifJI,mgenetl zu übersehen. Bekanntlich gibt es wenige gescheiterte Aktionen vom Typ der besitzergreifenden Intervention; allenfalls Afghanen und Äthiopier haben sich dem vordringenden Kolonialismus dauerhaft widersctzen können. Big-Srick-Imerventioncn trafen wesentlich häufiger aufunüberwindliche Widerstände. Die Suez-Krise von 1956 ist ein Fall fiir sich; Briten und Franzosen scheiterten damals nicht nur 30m ägyptischen Widerstand, sondern auch an einer komplexen internationalen Situation, die die USA aufdie Gegenseite trieb.~ Die Supcnnacht-Abenteuer Vietnam und Afghanistan schlugen nicht als Interventionen fehl, sondern im Stadium ausgewachsener Kriege. Spektakuläre Desastcr waren John F. Kennedys Schwcinebuclu-Invasion von 1961 und Ronald Reagans Engagement im Libanon 1982/83. Folgenreicher war in den Jahren 1946-1948 das Mißgli.icken des Versuchs, durch Unterstützung Jiang Kaisheks den Sieg der Kommunisten im chinesischen Bürgerkrieg zu verhindern. 9S Insgesamt läßt sich sagen, daß die ftihrende interventionistische Macht nach dem Zweiten Weltkrieg ihre Ziele in den größten der Imcrventionsfalle nicht erreichte: Die komlllunistischen Regimes in Nordkorea, Vietn31ll1lnd Kuba wurden eben so wcniggcstiirztwie Saddalll Hussein und 51000dan Milokvic, die Hallptfeinde der USA in den neunziger Jahren des 20. JahrhundertS, durch Kriege enunachtet werdel1 kOl1l1tel1.% Big-Stick-Imervemionen sind in aller Regel realpolitisch motiviert gewesen und auch so begründet worden. Es ging um eigene Wirtschaftsintcressen und um die eigene Machtposition im internationalen System. Sie waren, anders als die Interventionen im Zeitalter der kolonialen E.xpansion, zumindest während 93 Über die Mussadiq.AfT'irc vgl. D. \'trgil', The Prize: Thc Epic Quest for Gil. MOIlL'Y and POwer. NcwYork 1991, 5. 456-478J. A. Bill u. W. R. Lmlis (I-Ig.), Musudiq, lr.ll1ian Natiol1alism. aud Gil, Ncw York 1988: R. Sth'l!zt', Gf:schjehte der islamischen Weh im 20. Jahrhunderl, Müncht:n 1994. S. 180-185; IGJ,."brlI. An::hilects of Inter"elilton, S. 50-91. 94 Vgl. W: R. Lot'U u. R. Ow."", (I-Ig.), Suez 1956: The Crisis and its Conscquencn. Oxford 1989; S. UK4J (I-Ig.). ßnulIl and Suez: TIlc Uon's Lasf Hoar, Manehcstcr 1996 (mil Forschungsbericht: S. 118-130):,.1. Gorn u. L.Johliltlall. Thc Sucz Crisis. London 1997. 95 Vgl.J. OsltrllaltUlU'I, China und die Wdlgcsdlsc!ll(t. Vom 18.Jahrhunderl bis in unsere Zeit, München 1989, S. 330-342. 96 Die HlIc vergleicht unter dicscm Gesichtspunkt: C. A. Dol/aldSllll. America al War sincc 1945: Politics and Diplomacy in Korea, Vietnam. and fhe GulfWar. Weslpon, Ct. 1996.
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des 20. JahrhundertS mindestens ebenso oft von defensiven wie von offensiven Absichten geprägt: Man könnte sagen, sie waren IJComainmemtl-lmervcmionen, die vor allem der Abwehr von Nationalismen jedweder Couleur diemengewiß oft auch Reaktionen prävemiver Defensive in der Art dessen, was Karl Kraus einmal lKIie verfolgende Unschuldtl genannt hat. Dabei stand ..her ..uf westlicher Seite stetSjener forrschrinsfroh-universalistische Anspruch im Hintergrund, wie ihn zuerst die britische Außenpolitik des frühcn 19.Jahrhundcrts vertrat, und wie er dann von Präsidem Woodrow Wilson- dessen Praxis, etwa gegenüber Mexiko, nicht immer auf der Höhe seiner Prinzipien stand - mit weltweiter Wirkung formuliert wurde. 97 Großbritannien und erst recht die USA wollten nicht bloß ordnungsstiftende Büttel, sondem auch Geburtshelfer einer neuen Weltordnung sein, in der die Grundsätze der Zivilisation, des Völkerrechts und der Demokratie obwalten würden. Jeder lokale Eingriffließ sich im Prinzip in universalisrischer Sprache begründen. Es gibt schließlich eine Sonderspielart der Big-Stick-Intcrvention, die sich bereits mit dcm noch zu besprechenden vierten Typ der hier vorgeschlagenen Typologie, der proto-humanir.iren Imervemion, berührt: die Kommando-Aktion, die unter Verletzung der Souveränität des Fremdstaates das Leben - ganz unabhängig vom Eigentum - von bedrohten Ausländern rettet. Oft, besonders auf dem Höhepunkt des Imperialismus. sind Übergriffe auf Ausländer zum Anbß Hir massive Imervemionen genommen worden, deren Ziele dann weit über den Schurz von Individuen bzw. die Durchsetzung verhältnismäßiger Kompensationsforden.lI1gen hinausgingen. So reagiene das Deutsche Reich auf die Ermordung zweier deutscher Missionare in der nordchincsischen Provinz Shandong 1898 mit der Besetzung einer strategisch wichtigen Bucht und der Erzwingung kolonieähnlicher Gebietsabtrerungen.98 Man scheint auf einen derartigen Zwischenfall ge'oV3rtet zu haben,jcdcnfalls war man daraufeingestellt. ihn auszunutzen.•Operation Just Cause«, die lange vorbereitete Invasion von General Noriegas Panama, wurde am t 7. Dezember 1989 in Gang gesetZt, nachdem am Tag zuvor ein amerikanischer Leutnant von Unbekannten erschossen worden war. 9J Erst damit, nicht schon mit den Noriega vorgeworfe97 Aus der ricsi~n Litcr:atur zu Wil.sen: F. S. OJIJWlllt, I)owcr :md Prinelple: Amu.,d Imcrvcn· [iOll in Wilsomiln Foreign Policy, Keilt (Ohio) 1986; (/IifkrdtmJ. M. CooJXr,Jr., Thc Warrior aud the Priest: Woodrow Wilson :l.I1d Thcodore Uoosevch, Call1bridge, Mass. 1983; M. r Gild",IIII$, PallAmcrican Visions: Woodrow Wilsoll in !he Western l-Iell1isphere, 1913-1921, TUCSOI1. Ariz. 1986. Grundsälzllch wichtig zu Wilsol1s Denken, aber ohne nähere Ausführungen zum Imervcllliollsproblem; T.J. KIJOCN. To End all Wars: Woodrow Wilson alld Ih(' QUCSt ror a ewWorld Ord('r. New York 1992. Zu Wilsons Eingreifen m Mexiko \"&1.). S. D. EiJmhoWN", Imcn,('lluon! Thc United SUtes and d~ M('XK:m R('volullon 1913-1917, New York 1993. 98 Vgl. Osrnlulmmd. Cluna, S. 204 f. 99 M. E. SmJrlt(m, Panama, in: Sth~ (I-Ig.), InteT\~nuon mto !he 1990s. S. 357( Vgl. ausiuhrlich Dia.. The NonCß2 Ye:trs: U.S.-Panama!lian nclauons, 1981-1990. Bouldcr. Co!. 1991; B. IV: WO/SOll U. P. G. Tsollras (I-Ig.), Opc:r:ation _JUS! Causc«: ThC' U.S. Intcrvcmion m P:tna.Ill3.. Bouldcr, Col. 1991.
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nen Verbrechen, schien ein vor der amerikanischen wie der internationalen Öffentlichkeit vorzeigbarer Imerventionsgrund gegeben zu sein. In beiden - sonst wenig vergleichbaren - Fällen war der Tod eigener Staacsangehöriger der Auslöser größerer Militäraktionen. Ein Sonderfall ist in diesem Zusammenhang die befreiende Intervention. Französische und belgische Fallschirmjäger haben verschiedentlich Europäer aus afrikanischen Spannungsgebieten evakuiert. Im April 1980 scheiterte in der iranischen Wüste der Versuch, mehr als fünfzig in Teheran als Geiseln festgehaltene Amerikaner durch ein Kommandounternehmen zu befreien. Der Mißerfolg crug zur NiederlagcJimmy Caners in der folgenden Präsidcntsehafcsw3hl bei. In all solchen Aktionen schwingen Resonanzen des dramatischsten Ereignisses dieser Art mit: der Befreiung der im Gesandtschaftsviertel von Pcking von sogenannten IIBoxern«, d.h. Mitgliedern des Bauernbundes der Yihctuan, und chinesischen Regierungstruppen belagerten Ausländer durch ein 18.()(X) Mann su.rkes, von :acht Nationen gemeinsam gestelltes Expeditionsheer im August des Jahres J<x)(). Die fremdenfeindlichen Übergriffe in Nordchina waren durchaus vom rücksichtslosen Vorgehen der Europäer provoziert worden; n:ach der Befreiungder Gesandtschaften kam es zu brutalen Strafmaßnahmcn. 1OO Aber bei dem gewaltsamen Vorgehen gegen staatlich gebilligte Geiselhaft von Ausländern - und darum handelte es sich im Iran \980 wie auch in China J900 - scheint eine Itchirurgische« Big-Stick-Imervenrion noch am ehesten vor moralphilosoph ischen und völkerrechtlichen Maßstäben bestehen zu können.
VI. Sezessionistische Interventionen Imperiale Interventionen des späteren 19. und vor allem des 20. JahrhundertS haben sich immer wieder gegen Revolutionen und nationale Unabhängigkeitsbestrebungen gerichtet. I01 Dies gilt Hir die sowjetischen Einmärsche in Polen t 956 und in der Tschechoslowakei 1968 ebenso wie fur das Vorgehen der Vereinigten Staaten gegenüber Vietnam seit der Kenncdy-Administration, gegenüber der RegierungAJlende in Chile 1973 oder den Linkskräften in der Dominikanischen Republik 1965. Eine weniger bekannte Episode ist die große Geheimdiensuktion, mit der die Cemral Intelligcnce Agency (elA) mittels Geld und Propagand:a daran beteiligt war, 1948 einen Wahlsieg der Kommunisten in Italien zu verhindem. 102 100 vgl. S. DdbringluJUJ, An Amlyon V~tion?ThcGcnn;lnW;ar in Chin;l. 1900-1901, in: M. Botmt:kt U.;I. (Hg.), Anticip;lting TOClI W;ar: Thc Gcrnun ;lnd Amcric;tll ~ricnccs, 1871-1914, ;tmbridgc 1999, S. 459-476. 101 Vgl. duu },(:sonders Adrl,"~" (Hg.), Supcrpowcrs ;lnd Revolution. 102 Vgl. H. H. Ral\JOm, Covcn Intcrvcntion, in; SlhrtUtkr (Hg.), Intcrvcnlion into lhe 1990s, S. 113-129, hier S. 12fr, IGJr<Jbtl/, Architcets, S. 37-49.
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Es gab aber auch den umgekehrten Fall von Interventionen zflgwJSten nationaler Unabhängigkeitsbewegungen. Er kam gelegentlich in der Auseinandersetzung der Imperien untereinander vor. Der realpolitische Zweck war dabei meist die Schwächungdes Rivalen oder Gegners. Man kann vonsuess;o"isris
103 j. S. MiH. A F~Words on Non-lllIcryclltlon 118671. 1Il: Colle
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nahm das Ereignis zum Anlaß, um das Prinzip der Selbstbestimmung der Völker zu präzisieren, das er zuvor schon aufItalien angewendet hatte. 'Oo4 Für die bulgarischen Christen konnte nichts getan werden. Überhaupt blieben Intetventionen zugunstcn frcihcitlicher Kräfte unter den Bedingungen des festgefugten Mächtesystems so gut wie aus. Die lntetventionsfrage hatte sich vornehmlich am Beginn des Jahrhunderts gestellt: in Lateinamerika und in Griechenland. Großbritannien hatte zwar auch nach 1815, als es den spanischen Verbündeten nicht länger im Kampfgegen Napoleon benötigte, die Unabhängigkeitder Lateinamerikaner nicht offiziell unterstützt. Es hatte aber stärker als die legitimistischen Mächte Europas seine Neutralität im Konflikt zwischen Spanien und den Kolonien bewahrt, auch wenn die britische Öffentlichkeit mit den Lateinamerikanern sympathisierte, ein englischer Admiral die junge chilenische Flotte gegen die Spanier kommandierte und sogar eine britische Legion an der Seite der Truppen Simon Bolivars k..1.mpfte. Von einer britischen Intervention zugunstcn der kolonialen Rebellen kann keine Rede sein, doch verhinderte die strikte Nilht-Intetventionspolitik der im Atlantik dominierenden Seemacht umgekehrt die Einmischung drittcr Parteien, etwa der restaurativen französischen Bourbonendynastie. 105 Die Royal Navy schirmte mithin in den entscheidenden Jahren des Freiheitskampfes Lateinamerilg von cxternen Kräften ab. Als erstc der europäischen Mächte stellte sich Großbritannien dann auf die neuen Realitäten im spanisch sprechenden Atnerika ein und erkannte (bald nach den USA) die jungen Republiken diplomatisch an. Sie wurden fortan zum Ziel energischer wirtschaftlicher Durchdringung durch britische Firmen. '06 Politisch konkreter waren die Ergebnisse in Griechcnland, dem deutlichsten Beispiel überhaupt fur eine sezessionistische Intetvention. ' (17 Die schwachen Kräfte, die seit dem Ende des 18. Jahrhunderts auf eine Befreiung Griechen104 Vgl. H. C. G. Maullnv. Gladstone 1809-1898. Oxford 1997. S. 266ff.: R. SlramlOu. GladslQne, Bd. 2: Heroie MiniSICr 186S--98. London 1999. S. 164-195. 105 Vgl. D. A. G. Waddtll, IllIemational Politics and Latin Alllcrican lndependellce. in: L. Ek/lld/ (Hg.), Thc Call1bridge HistOry of utin America. Bd. 3: From Independencc to c. 1870, Cambridgc 1985. S. 197-228. hier S. 210. 106 Vgl. A. K"tl!'u, Bril:lin and utin America. in: W. R. Louu (I-Ig.). The Oxford l-listQryofthe British Empire. Bd. 3: The Nincteellth Cenlllry. hg. v. A. Porltr, Oxford 1999. S. 122-145. bes. S. 1270: 107 Das Folgende nach C. M. Woodlro/l$t. Modem Greece: A Shorl History. London I99P, S. 125-156; R. Clogg. A Concisc Hislory ofGreeee. Cambridgc 1992. S. 23-46; Dm. (Hg.). Thc Movemelll for Creek Independence 1770-1821: A Col1ectioll ofDocllments. London 1976; D. /fiJld". The Creek Stn,ggle ror Illdepcndence 1821-1833. London 1973, S. 109-132. Zum Philhellenismus vgl. C. HaI/sn. Anfänge biirgerlichcrOrganisation. Philhellenismus und Frühlibcralismus in SüdwestdeutsChland. Göllingcn 1990; C. f-ItydtlFlaml. Philhellenismus in Deutschland und Großbritannien. in: A. M. Birk"t u. G. f-Ityd..maml (Hg.). Die Herausforderung des europ;tischcn Su:ucnSYSlcms. Nationale Ideologie und staatliches Intercsse zwischcn Resuuralion und Imperialismus. Göttingcn 1989. S. 31-60.
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lands von der Türkenherrschaft hofften, hatten bestenfalls gewisse Amonomicrechte innerhalb des Osmanischen Reiches im Sinne, kaum aber die Utopie eines souveränen Staates. Oie sehr heterogen zusammengesetzte griechische Unabhängigkeitsbewegung, die überwiegend vom Ausland her operierte, war sich des Umstandes bewußt, ohnc die Umerstützung durch mindestens nt/i" europäische Großmacht chancenlos zu sein. Zunächst hoffte man aufdas griechisch-orthodoxe, traditionell anti-osmanische Rußland. Als 1821 der griechische Aufstand begann, kam Unterstützung jedoch weder von Rußland noch von Großbritannien, der seit Nelsons Sieg bei Trafalgar (1805) im Mittc1meer maßgebenden Seemacht, die ebenso wie Österreich den stallls qflo favoriSIerte. Nicht das Freiheitsbegehren der Griechen, sondern die außerordentliche und über Jahre unvermindert andauernde Brutalität der osmanischen Repression -von der Hinrichtungdes ehrwürdigen Patriarchen Georgios V. 1821 über das von Eugene Delacroix aufwühlend gestaltete Massaker an den Christen VOll Chios bis ZUIll Terror, einschließlich »ethnischer Säuberungen«, des ägyptischen HeerrLihrers Ibrahim Pascha aufder Peleponncs. Dankder teils politisch, teils kulturnostalgisch motiviertcn philhellenischen AgiL'ltion baute sich in der curopäischen Öffentlichkeit ein Interventionsdruck aur, der 1826 einen Kurswechsel der Großmächte herbeifiihrte. Inoffiziell traten britische Sec-Offiziere in dcn Dienst der griechischen Sache, doch kann von einer Intervention wohlgemerkt: einer multinationalen Intervention - erst gesprochen werden, als Großbritannien, Frankreich und Rußland im Vertrag von London vom 7.Juli 1827 die Durchsetzung eines Waffenstillstandes zwischen den griechischen Ilebellen und dem Sultan verlangten und eine Lösung des Problems auf der Basis der Teilautonomie Griechenlands als eines Staates unter nomineller türkischer Oberhoheit ins Auge faßten. 108 Vor allem die russische Politik f;md sich in dem Dilemma, einerseits den alten Konkurrenten am Bosporus schwächen zu wollen, andererseits aber dem Hause Osman, einer der am längsten herrschenden und daher, formal gesehen, legitimsten Dynastien Eurasiens, das Recht zur Züchtigung rebellischer Untertanen nicht absprechen zu können. 109 Am 20. Oktober 1827 nahmen die vereinigten Seeverbände der drei Mächtc Ibrahim Paschas Angriff auf ein Boot mit Parlamentären zum Anlaß fur die Vernichtung der osmanisch-ägyptischen Kriegsflotte; darauf folgte die Vertreibung türkischer Truppen von der Peleponnes. Griechenland war frei. Es schlossen sich langwierige Verhandlungen über Grenzen, innere Verfassung und internationalen Stams des neuen griechischen Nationalstaates an, die 1832 in der Errichwng des Königreiches Griechenland mündeten. Zum Monarchen er108 Vgl. Im einzelnen D.Jkin. Creek Strugg.lC'. S. t82f. 109 VgJ.F. W. IVIgtln. The Miliury RefonnsofNicholas I.:TheOngmsoflhe Modem RUSSI1.11 Army. 8,uingstoke 1999. S. 78f.
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wählten die Großmächte den siebzehnjährigen bayerischen Prinzen Ono. Der neue Staat, längst noch nicht in den viel weiteren Umrissen des heutigen Griechenland, wurde per Vertng unter die Ganntie der .Protecring Powers« geSteilt, die dann rasch das Interesse an ihm verloren. Griechenland wurde dennoch auf Jahrzehnte hinaus nicht zum Herrn seines eigenen Geschicks, sondem verblieb unter einem faktischen Condominium der Großmächte. IIO
VII. Humanitäre Interventionen Der griechische Fall ftihne erstmals eine Reihevon Elemente zu.sammen, die in späteren Interventionsszenarien oft sepante Rollen spielen sollten. Er tnf in ein Klima genercller Imcrvcmionsbereitschaft der Großmächte, wie es im 18. Jahrhundert -jedenfalls IJ'Ordcr rabiat intervemionistischen AgiL"ltion Edmund Burkes gegen die Französische Revolution - noch nicht bestanden haue. Die europäischen Großmächte waren aus Gründen nicht primär der realpolitischen Machtexpansion, sondern der ideologisch begründeten Systemverteidigung gegen die französischen Revolutionäre eingeschrincn, die selber - wie später ihr Erbe Napoleon - ohne Sknlpel in die inneren Angelegenheitcn anderer Staaten eingriffcn. Bonaparte überfiel 1798 sogar Ägypten, eine Provinz des Osmanischen Reiches, um angeblich sowohl den Sultan wie die ägyptische Bevölkerung von der usurpatorischcn Hcrrschaft dcr Mamluken zu befreien. Nach dem Sturz des Kaisers zog sich die britische Außenpolitik unter Lord Castlereagh zunächst aufeine gleichgewichtspngtnuisch begründete Position der Nicht-Intervention zurück,lII während die kontinentalen Großmächte ein Interventionsrecht gegen revolutionäre Bestrebungen zu universalisieren tnelneten. Unter George Cannings Führung trat dann aber die britische Diplomatie rur die Duldung oder bestenfalls vorsichtige Unterstützung nationaler Sezessionsbewegungen ein. Davon profitierten Griechen und lateinamerikaner. 112 Die Intervention im östlichen Mittelmeer war ein multinationales Unternehmen unter britischer Führung. Sie unterstützte eine Elllanzipationshewegung, die aus dem Lande selbst hervorgegangen war und breite Zustimmung unter der sich politisch artikulierenden einheimischen Bevölkerung fand. Damit erfullte sie, was John Stuan Mill später als Grundbedingung legitimen Intervenierens herausstellen sollte. Schließlich spielte - vielleicht erstmals - die Öffentlichkeit eine bedeutende, vielleicht eine entscheidende Rolle. lhr Ruf
110 Soloueh die Schlußfolgcrungbei S. D. Knunn, So"creignty: Organized l-Iypocrisy. Prinee· IOn 1999. S. 163. III VrJ.J. W. Dtrby. C;r,sd~rugh. 1.oOOon 1976. S. 209f. 112 VrJ. W. Hindt. Gcorg G.nning. 1.ondon 1973, S. 384fT., S. 405fT.
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nach eincm Ende der türkischcn Massaker gab wohllctztlich den Ausschlagfur den Interventionsbeschluß. Weder wirtschaftliche noch strategische Interessen waren im griechischen Fall dominant. Großbritannicn und Frankreich waren mit dem ohnehin geschwächtcn und militärisch wenig bedrohlichen Osmanischcn Reich gut zurechtgekommcn; sie benötigten es weitcrhin als Gleichgewichtselement gegen cin erstarkendes Rußb,nd und sahen keinen Grund. es unnötig zu demütigen. Als Absal:Zmarkt und Rohstorrquelle war Griechenland - im Gegensal:Z zu einigen der jungen Republiken Lateinamerikas - uninteressant, der Einsatz zu seinen Gunsten mithin ohne ökonomischen Sinn. Nur indirekt spielten wlnschaftliche Faktoren hinein: Die langwierigen Seekämpfe zWlschen der türkisch-ägyptischen Flotte und griechischen Korsaren hatten die meditcrrane HandelsschifTahrt in Turbulenz versetzt. Eine Pazifikation der Region war daher auf längere Sicht unvermeidlich. Daß sie aber politisch ZlIgunsten der Griechen ausfiel, lag hauptsächlich an dcr durch die Presse bekanntgemachten Barbarei der türkischen Ullterdrückungsmaschine. In dieser Hinsicht hatte dic sczessionistischc Intervention der zwanziger Jahre des 19. Jahrhunderts einen humanitären Hintergrund. Sie kommt daher dem vierten und letzten Fall der hier cmwickcltell Typologie nahc: dcr Ilfwuwitöretl Intervemion semu stri(lU. Eine solchc mag zu definieren sein als ein äußeres Eingreifen in einen Staat, das nicht durch egoistische Absichten nationaler Machten..veiterung oder Interessenwahrung motiviert ist, sondern allein durch die Absicht, entweder (1) die Bevölkerung eines anderen Staates vor dessen eigencr, durch Handeln oder Unterlasscn verbrecherischen negierung zu schützen und die Ablösung dieser negierung herbeizuftihren oder (2) durch militärisch gestÜl:Ztc Zwmg:sschlichtungdas Ende eines Bürgerkrieges oder ethnischen Konnikts zu erreichen. Humanitäre Interventioncn in diesem Sinne hat es in der Geschichte sehr sehcn gegeben. Da einzelne Akteure der intemationalen Politik nahezu per defitlitio"em partikulare Interessen verfolgcn und selbst bei universalistischer Rhetorik kaum je ihrem machtpolitischen Egoismus zuwidcrhandcln, setzen humanitäre Interventionen im Grunde funktioniercndc internationale Organisationcn sowie die Anerkcnnung entsprechender Völkerrechtsnormen voraus. Sie sind deshalb vor allem eine Angelegenheit der Gegenwart und vermutlich der Zukunft. Das Eingreifen der Staatcngemeinschaft auf dem Balkan, insbesonderc 1999 im Kosovo, hat diese Art der Intervention ins Zentrum der Debatten gerückt. Mehr Erfolg als die Suche nach ausschließlich humanitär motivient'" Interventionen verspricht diejenige nach solchen, hintcr welchen ein kompliziertcrcs Motivgemenge verborgen liegt, das durchaus realpolitisch-cgoistische Elemente enthält, die aber insgesamt zu humanitär wohltätigen Folget, gefuhrt haben. Ein Beispiel dafurwäre das Eingreifen Vietnams im benachbarten Kambodscha im Januar 1979, das den Massenmord der Roten Khmer an der Bevöl-
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kerung ihres eigenen Landes bcendete. lIJ Vietnam begründete seine Invasion mit der Notwendigkeit, das Mordregime Pol Pots zu beenden. Tatsächlich aber hatte Viemam zu den Menschenrechtsverletzungen in Kambodscha, die schon mit der Eroberung Phnom Penhs durch die Khmer Rouge im April 1975 und dem sich anschließenden Zwangstnnsport der südtischen Bevölkerung aufdas Land begonnen hauen, so lange geschwiegen, bis es politisch opportun wurde, das humaniüre Argument zu aktivieren. Stntegisch stand hinter der vietnamesischen Intervention eine An von südosusiatischer Brdncv-Dokmn: die Vormacht Südoscasiens habe das Recht und die Pflicht, im Interesse indochinesischer sozialistischer Solidariüt innerhalb einer großräumigen Kontrollzone fur Ordnung zu sorgen. IH Es hat denn auch in der Välkergemeinschaft an enthusiastischer Zustimmung durchaus gefehlt. Angcfuhrt von China und den ASEAN-Staaten, die sonst ideologisch wenig miteinander verbindet, fanden sich während der achtziger Jahre wachsende Mehrheiten in der UN zusammen, um das viem:unesische Vorgehen zu verurteilen. Trotz der alles andere als lupenrein humanitären Motive der vicmamesischen Regierung und der ablehnenden Rechtsstandpunkte zahlreicher Drinst.1atcn muß aber anerkannt werden, daß die Intervention humanitär begrüßenswerte Ergebnisse zeitigte. Ob der Fall der Intervention Tanzanias 1978/79 gegen das Terrorregime Idi Amins in Uganda, die formal gesehen die Inanspruchnahme des Rechts auf Selbstverteidigung gegenüber einer militärischen Provokation Ugandas war, ähnlich zu beurteilen ist, bliebe zu diskutieren;jedenfalls war Tanzania selbst vorsichtig genug. seine Mililär:lktion "ic/'l als humanitäre Maßnahme zu dekJarieren. lls Auch die US-Invasion Grenadas im Oktober 1983 ist trotz ihres offensichtlichen Big-Stick-Himergrundes von der großen Mehrheit der Bevölkerung der Karibik-Insel offenbar als Befreiung, in diesem Fall von einer einheimischcn Links-Diktatur, cmpfunden wordcn. 1I6 Die Beendigung der Menschenopfer in Mexiko durch Heman Cortes in den zwanziger Jahren des 16. Jahrhunderts würde in denselben Zusammenhang gehören.
113 Vgl. M. Uiftr, Viemam's Intervention in Kampuchca: The Rights ofSutc vs. lhe Rights o( Pcople, in: Forbts u. Hoffmatl (Hg.), POlilic;l1 Thl'ory, S. 145--156. Zur hllcrnalionalisicrung des Kambodscha·Probltms vgl. S. R. Rllfllrr, The Unilcd Nalions in Cambodia: A Model for Rcsolu· tion oflnternal ConfliC15? in; L. F. DIlltJl'l'JS(lr (Hg.), En(oreing Resu';lim: Collective Intervention in Imernal Conflic15, Ncw York 1993, S. 241-273; M. W. Doylt, War and Pcacc in Cambodia. in: Wll/tn u. Snyckr (Hg.), Civil Wars, S. 181-217. Zum kambodschallischcll I-limcrgrund vgl. D. P. ChIlndltr, Thc Tragt."CIy o( umbodian History: Politics, War, and Revolution sincc 1945. Ncw !-laven 1991, S. 236fT. 114 LriJtr, ViC'tnam's In~rvenrion. S. 146. 115 Den Fall stellt vor. C. ThomtJs, Ncw St:lles, $ovt'rdgnty and Imervemion, Aldershot 1985, S. 90-121, bcs. S. 119. 116 Vgl.M. W. Dayk. Grenada: An Imernatlonal Crisis in Multila~nlS«urity. in:". R. Dar u. M. W. Dt1yV (Hg.). Escalarion and In~rvclltion:MultiLatenl Securityand 115 Alternatives. BouIdC'r,
Cot 1986. S. 138.
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Schließlich wäre ein vielfältiger und bei den Zeitgenossen ebenso wie noch in der heutigen Forschung umstrittener Komplex zu diskutieren: die Unterdrückung von SkJavenhandcl und Sklaverei. Es können kaum Zweifel daran bestehen, daß das von Großbritannien angcfiihrte Vorgehen gegen den Sklavenhandel seit dem frühen t 9. Jahrhundert nicht kurzschlüssigaufdie Modernisierungsbedürfilisse der .first industrial nation« zuruckgcftihrt werden kann. die ihre welrweiten Intercs en der IUpitaIvcrwertung olme Sklaverei besser zu realisieren hofTte. 117 Am Ursprung der Abolitionsbewegung steht vielmehr ein genuin humanitäres Interesse, das sich aus den Werten der Späuufklärung und viel stärker noch aus dem religiösen -evangelical revival« seit den achtziger Jahren des IB.JahrhundertS speiste. 11' Daß die politischen Entscheidungsträgerauf diese Linie eingeschworen werden konnten, verdankte sich nicht zuletzt intensiver lind beharrlicher Lobby-Bemühungen der Sklavereigegner in Westminster. Oie konkrete Folge war das Verbot des Sklavenhandcls mit nicht-britischen Kolonien 1806, mit britischen Kolonien 1807 lind schließlich 1832 die Abschaffung der Sklaverei als Rechtsinstitut im gesamten britischen Kolonialreich. Nach dem Parlamentsbeschluß von 1807 übernahm die britische Kriegsmarine auf allen Weltmeeren Polizeiaufgaben, braclue Sklavenschiffe auf, beschlagnahmte sie und befreite ihre menschliche Fracht. Der Kampf gegen die Sklavelltransporte verband sich besonders vor Nordafrika und im Indischen Ozean mit dem gegen irreguläre bewaffnete Kräfte zur See, die pauschal unter dem Sammelnamen .Piraten.. rubriziert wurden. Ebenso wie das Imperium Romanum sah sich das britische Weltreich als Ordnungsmacht der Meere. Der Kampf gegen die Sklaverei wurde dann im späten 19. Jahrhundert in Afrika fongesetzt. 1I9 Er ftihrte immer wieder zu Eingriffen in einheimische Staaten, die des Sklavenraubs und der Sklavenhaltung bezichtigt wurden,ja, das Vorgehen gehen die Sklaverei wurde zu einem mehrfach verwendeten Legitimati117 Du dürfte du Ergebnis der langen Dchme um Erle WillulIIu' berühmtes Buch -<:.1Iplt:lhslll .1Ind SIa"ery_ (1944) sein. Vgl. M. Gmzi/liu1. Eric WiIli.1lms: C.1IpH:ahsm .1Ind SIa"cry. Gcsclnchts· schreibung .1Ils Mine! zur kulturellen I)ckolontS.1ltion. in: Penplus.Jg. 5. 1995, S. 85--97. 118 Noch frühere religiöse Anflingc können in der Kritik der QlI:iker an der Skla\'crci gesehen werden. Vgl.A. Wirz. Skbwrci lind k;apit::llislisches Weltsystem. Fr.mkfurt a.M. 1984. S. 188. Vgl. zum Diskussionsst::lnd: D~J(II". Trends in der I-lisloriognphie des Abolitionisnlus. in: CG.Jg. 16. 1990. S. 187-211; Dm.. Whosc Abolition? PopuLu Pressure .1Ind the Endingofthe British 51.11"e Tt:lIde. 111: P&P. Nr. 143. Mai 1994. S. 136-166. Grundlegende Werke sllId R. Blolkbllnl. The Ove"hrow ofColoni,,1 Sbvcry Inb--lfW8. Landon 1988: D. lJ. DaviJ. Thc Problem ofSIa"cry 1Il Ihe Ase of Revolution. InO-I823. Ith.1lCl 1975: Dm.. SIa"cry .1Ind j-lumall Progress. New York 1984: S. Drathn. Capiohsm and Anusbvery. Bntish Mobiliution III Com~t:lItI\'e Perspcctl"e. Landon 1986. Siehe .1Iuch K..pllell4 1Il dicsc:m lbnd. 119 Vgl. S. MinI. Briolll :md the Endlllg ofthc Sb\'C Tooe. Landon 1975: [)in. u. R.. RdJmJ (Hg.). The End ofSbvery 111 Afria. M.1idison. WISC. 1988: R. HC7Vd1. The n.öy.l1 .1IVY.1lnd the Sb"'e Tooe. Landen 1987. Vgl. .1Iuch 1-1. &nJi"S. Dk AchtUng des Skl.1I\'Cnh.1lnde!s "uf dem WiellCr Kongress. 111: HZ.Jg. 219.1974. S_ 265-89.
s.
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onsargument bei der territorialen Expansion im Zeitalter des Hochimperialismus. Die Deutschen benutzten es in Osufrika, die Briten in Sansibar. l20 Kolonialskeptische Teile der europäischen Öffentlichkeit, etwa viele deutsche Katholiken, konnten über die .humanitärelC Brücke der Antisklavereikampagne ftir die Kolonialpolitik gewonnen werden. 121 Der vierte Typ imperialer Intervention läßt sich, so wäre zusammenzufassen, alsgnmdsiüzlillr humanitär - also nicht bloß durch die Bedrohung des Lebens eigener Staatsangehöriger - inspirierter Eingriff einer Mächtegruppe in einen Driu:suat in der Geschidne kaum oder gar nicht finden. (Auch die Unparteilichkeit der Intervenienten hat sich stets als Illusion erwiescn.)l22 Dies verwunden nicht angesichts des spätestensscit dem großen Völkerrechtler Emmeric de Vattcl allgemein anerkannten Grundsatzes der Nicht-Intervention sowie der späten Einfiihrung von Menschenrechtsnormen in das Völkerrecht, angesichts des Fehlens wirksamer übernationaler Organisation (gar mit eigener militärischer Exekutive) sowie angesichts der Tatsache, daß solche Imerventionen in der Regel kostspielig und aufwendiggewesen wären und, wie heutige Beispiele zeigen, das Problem dauerhafter Stabilisierung offen gelassen hätten. Hingegen findet mall reichlich Beispiele dafHr, daß Regierungen ihre Untertanen, oft ethnische oder religiöse Minderheiten, unter den Augen des untätig zuschauenden Auslandes drangsalierten oder abschlachteten. Der Völkermord an den Armeniern im Osmanischen Reich während des Ersten Weltkriegs ist ein besonders krasses Beispiel aus einer größeren Klasse von Fällen. Die AntiskJavereibewegungstellt insofent einen Sonderfall dar, als sich die Abolition rechtlich nur auf den eigene" Herrschaftsbereich beziehen konnte - das Parlament von Westminster verbot die Sklaverei nur im britisll,en Empire - und in der Durchftihrung oft gegen pn·vatf Sklavenhändler exekutiert wurde. ie ist aber deS\.vcgen fur die heutige Imervemionsdebatte nicht ohne Interesse, weil schon in den großen Auseinandersetzungen um die Abolition viele derjenigen Gedanken vorgetragen wurden, von denen die gegenwärtige Diskussion immer noch zehn. Die Intervention ist die bevorzugte Aktionsform des Stärkeren in einer asymmetrischen Machtbezichung. Genauer sollte es heißen: desjenigen, der sich ftif dcn Stärkeren hält, denn manche Intervention machte Groß-, Weltund Supermächten die Grenzen ihrer Handlungsmöglichkeiten schmerzhaft bewußt, entlarvte sie gar, nach eincm berühmten WOrt Mao Zedongs, als Papiertiger. Das Ideal der Intervention ist die möglichst verlusurme Blitzaktion, 120 Vgl. Kj. 8«k. AmiskJ.. ,,·~r~ibcwqung In Dcurschl<Jnd und Koloni.. tkrit'g in DcurschOstlfrika 1888-1890. in: GG.Jg.3, 1m. S. 31-58:011. Shnijf. Sbvcs. Spiccs... nd lvory in Zmzibu. Loodon 1987. S. 223-38. 121 Vgl. H. Cründn. Gcschi~htC' der d~ulSCh~n Kok>ni~n. p.. d~rborn 1991 1, S. 68 ( 122 Vgl. R. K Btas. ThC' Dclusion oflmtnm..llmc....-ention. in: FA,Jg. 73:6., Nov./Dc:z. 1994.
S.20-33.
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der Itchirurgische. Zugrin~ der mit möglichst geringem Mineleins3lz die Machtverhältnisse zugunsten des Intervenienten korrigiert. Dieses Ideal ist nicht allzu häufig verwirklicht worden. Daß, wie 1956 in Ungarn oder 1989 in Panama, die Hauptziele innerhalb weniger Stunden errcicht wurden, ist uncharakteristisch. Interventionen haben sich zuweilen über Jahre oder gar Jahrzehnte hingezogen und zu hohen Opferzahlen geftihrt: Die USA verloren in Viernam 58.159 Soldaten, die Sowjetunion in Afghanistan vennutlich um die 75.000. 123 Die Verluste unter der einheimischen Bevölkerung der betroffenen Under wa.ren um ein Vielfaches höher. Man rechnet mit bis zu 1,7 Millionen vietnamesischen Toten durch Kriegseinwirkung fiir die Jahre zwischen t 964 und t 975. 124 Sofern länger andauernde militärische Interventioncn aufeinheimischen Widerstand stoßen, ist GuerilIa- oder Partisanenkrieg dic vorherrschendc Form. Besonders im städtischen Umfeld treten - vor allcm im 20. Jahrhundert - daneben passiver Widerstand und ziviler Ungehorsam. Das Gewaltprofil der Intervention unterscheidet sich zwar nicht eindeutig, aber doch erkennbar von dcm des zwischcnstaatlichen Krieges. Die Intervention ist einc Art von Krieg im Frieden. Sie wird nicht unternommcn, um die Gewichte innerhalb einer gegebenen internationalen Ordnung deutlich zu verändern, sondern überhaupt nur dann, wenn kriegerische Reaktionen anderer Großmächte nicht zu erwartcn sind. Dies eben ist das Imperiale an der Intervention: Der Intervenient handelt nicht im spieltheoretisch faßbaren Interdependenzsystem von ungefahr gleichrangigen machtswtlichen Akteuren; er verhält sich vielmehr als Zentrum zu einer Peripherie. Handelt es sich gar um eine innere Peripherie, der gegenüber ausschließliche Kontrolle oder gar Souveränität beansprucht wird - Rußland im Verhälmis zu Tschetschenien \.'I2re ein Beispicl-, dann kann die Intervention im Inneren durch das Beharren aufNicht-Intervcmion von außen abgcschitlm werden. Sie erscheint dann propagandistisch als intra-imperiale Polizeiaktion. Auch besitzergreifende Interventionen sind bisweilen aufdiese Weise gcreclnfertigt worden. So versuchteJapan, seine Okkupation der Mandschurei im Herbst 1931 als gleichsam stellvertretendes Eingreifen einer »zivilisicrten. Ordnungsmacht in das .Chaos. und die »Barbarei« Chinas anzupreisen. Teile der Öffentlichkeit im Westen folgten ihm dabei und wiegten sich in der Illusion, die eigenen Interessrn durch das japanische Militär angemessen vertreten zu schcn. l25
123 S. J. Kudu (Hg.). Encyck>pedl:l of the Vietn:lOl W:ar. Ncw York 1996, S. 104: B. W Jmdtsotl 1I./t E. l..nitt, Thc An:llYSls ofProtlXtcd FOrC'ign Miliury Intervention, In;A. E. Uvi" lI.:I. (Hg.), Fordgn Miliury Im('rv('mion; TI'l' Dytumics of Protractcd ConfliCl. Ncw York. 1992, S. 1-22. hi('f S. 10. 124 j. P. H,miSOfl, 11lc Endlcss W:lr; FiftyYe:anofStrugglc '" V~m:llll, Nl'WYor-k 1982. S. 301. 125 Dies zeigt:lm 8dsp~1 FnllkrC'lChsj. ~VI«Jr, Wl'ß in d)(' .Decxknc('_. Fnnkreich und dIe nundschurischl' KriS(' 1931-1933. Bonn 1995.
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Der alte Streit zwischen politischen und sozio-ökonomischen Deutungen des Imperialismus ließe sich entschärfen, würde man der imperialen Intcrvention größere Aufmerksamkeit schenkcn.lnterventionen gehen mitunter aufdie lokale Initiative von .men on thc spot. zurück, die sich von Tatendrang und Ka.rrierehoffnung antreiben lassen; der Überfall aufdie Mandschurei vom IR September 1931 wäre dafür ein lkispicl. l26 lntervenrionen können aber ebensogm explizit der Veneidigung und Auswcirung wirtSChaftlicher Interessen dienen, zumal dann, wenn diese sich als Interessen der nationalen Sicherheit zu camouflicren verstehen. Die Intcrvenrion ist in der geschidnlichen Wirklichkeit oft ein polyvalenter Akt. Eben das macht sie gecignct, dogmatisch und mit Ausschlicßlichkcitsanspruch verfochtene Interprctationsmuster zu relativlcren.
126 Vgl. d.... kl.lSSisc~ Studk s.~. Ddiana: in Manchuria: Thc MilingofJlpancsc Forcign Policy 1931-1932. Bcrkelcy 1964.
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13. Der europäische Nationalstaat des 20. Jahrhunderts. Eine globalhistorische Annäherung
Zu Nation, Nationalstaat und Nationalismusscheint einstweilen alles gesagt zu sein. Ein reichhaltiges Instrumentarium theoretischer Analyse, das zu eklel1:ischem Umgang einlädt, liegt bereit.' Daß der Nationalismus in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts einen Höhcpunkt seiner lveltlveilen Bedeutung erreicht hat, wird allgemein anerkannt. Zugleich haben der Zusammenbruch der DDR und die Osterweiterung der Bonner Republik das Problem des deutschen Nationalstaates und damit die Kominuitätsfrage wieder aufdie Tagesordnung politisch-historischer Dcbaucn gesetzt, ohne daß sich gänzlich neue Bewertungen offcnbart hätten. Die folgende Betrachtung will weder der Nationalismusforschung, die der Autor nur in Ausschnitten überblickt, ein ncucs Glanzlicht 3ufstecken noch zur Urteilsbildung über Nation und Nationalismus der Deutschcn beitragen. Sie verdankt ihre Entstehung der ungewöhnlichen Idee Christian Meiers, einen Historiker Außereuropas und dcr Imperien U111 einen Kommentar zu Europa und seinen Nationalstaaten zu bittcn. Ich nähere mich dieser nicht untückischen Herausforderung mit der respektlosen Naivität des Dilettanten, lIwelcher sich cin Vergnügen aus dem macht, woraus Andere sich eine Qual machen. (Iacob Burckhardt).2
I. Anl 20. Mai 2000 schrieb das Londoner Wochcnmagazin 71u' &otlomisl in einem Leitartikel: .Evell the founding fathers ofthe Ellrope:m Union, Francc and Germ:my. sceln 1I1lSlire now what they want from il. The old imperative of post-war rcconciliation has fadcd aud Ilothing comparablc has taken its place.~
1 Es gIbt mzwischen bereits dne umf:mgreiche Einfuhrungslltef2tur. Ein ~nden breltC'S Spektrum an thcoretischen Positionen priscntienJ. Huu:hinsoJ1 u.A. D. Smuh (Hg.). N:nionallsm. Oxford York 1994. Unembchrhch in D. UJ1grwitslllC'. Nalion. Nationalismus. N:ltion:llstur: Forschungsstand und Forsc:hungs:pc:rspc.kti\"~n.in: NPl.Jg. 40,1995, S. 190-236. 2 ]. BurrHumlz, Ük'r das Studium der Geschichte. h. v. P. GDru', Münchenl982. S. 1223 Tbc Economisl, 20. Mai 2CXXl. S. 39.
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71.e Etonomist vertritt seit jeher eine europafreundliche linie. Es spricht hier also nicht die Stimme des »British euroscepticismlC. Auch spiegeln diese Sätze nicht allein die jüngste in einer langen Reihe unvenneidlicher Krisen der europäischen Gemeinschaftsbildung. 4 Das Ziut, umfassender interpretiert, macht an der JahrhundertWende deutlich, daß das 20. Jahrhundert keineswegs durch eine kontinuierliche und stetige Entwicklung vom Nationalswt zu suprastaatlichen Verbünden gekennzeichnet wu. s Obwohl es einen solchen Trend unzweifelhaft gibt und er aus europäischer Sicht sogar als eine der bedeutendsten und erfreulichsten Entwicklungslinien der Epoche betrachtet werden könnte, besteht auch hier - wie in vielen anderen Hinsichten - kein Anlaß zu selbstgerilliger Fortsehrittszufriedenheit. Es ist nämlich während des gesamten 20. JahrhundertS weltweit zwar zu Verflechtungen aller Art. und zur Entstehung unzähliger intemationaler Organisationen gekommen, in keinem spektakulären Fall jedoch zu einer dauerhaft beständigenJreiu/illige" Amalgamation von Nationalstaaten und nur in Westeuropa seit den frühen ftinfziger Jahren des 20. Jahrhunderts zu der historisch beispiellosen Erscheinung von SupranationaliÜt, also der institutionell verankerten »verfassungsrechtlichen Durchsetzbarkeit öffentlicher Gemeinschaftsgewah gegen SuatsgewahlC,6 anders gesagt: der Herausbildung einer bürokratisch teilautonomen H:mdlungssphäre oberhalb der Einzclstaaten, die Gesamtimeressen vertritt, Souveränitätsbefugnisse wahrnimmt, ohne dabei aber die Mitgliedsgesellschaften einem größeren soziokulturellen Homogenisierungsdruck zllllnterwerfen. 7 Man wird bei einem Thema wie diesem nicht ohne begrimiche Vorklärungen auskommen. Sie betreffen zum einen den »Nationalsta.atlt, ZUIll anderen das Konzept dersuprasuadichen oder supranationalen Integration. Damit wird bereits etw3S von der Argumenutionsstrategie deutlich, die hier verfolgt werden soll: Ausgangspunkt sind nicht »Nation« und ItNationalismus«, von denen dann, \v1e es oft oder gar meist geschieht, »Nationalstaatlt abgeleitet werden würde. Wir beginnen beim Nationalstaat. 4 Soeben halle der französische IllllenministerJe:m.Cbude Chcv~nelllentaufeiTle Europan:de des deutsChen AußenministersJoschka Fischer vom 12. Mai 2000 mit der Ikmerkung reagien. himerden deutsChen Föclerationswünschcn verberge sich der alte Traum von Heiligen Römischen Reich deutscher Nation. ja sogar der Nations~grifTdes Nationalsozialismus. Vgl. Frankfurter Allb't'l1leine ZeilUng. 23.5.2000. Kurzfassung der Rede des Bundesaußellmillisters in: ebd .•
15.5.2000. 5 Das diskominuierliche Verlaufsmuster der wirtsChaftspolitischen Integration Europas macht z.B. deutlich: G. Ambmrius, Winschaftsraum Europ.:a. Vom Ende der Nationalökonomien. Fnnkfun a.M. 1996. S. 641I 6 So die Definition von Supranationaliut durch den Europ.:arcchtlcr H. P. lpxn. zit. nach G. ~,Supr:uutionaliut als NO\IUm in derGeschKhtc der internationalen Politik der fiinfzigcr Jahre. in:Joumal ofEuropcan Imcgr:ation History,Jg. 4,1998, S. 5-21. hier S. 5f. 7 Vgl. auch M. R. Lqnius. Die Europäische Gemeinschaft und die Zukunft des Natioru.lsw· tes, in: Dm.. Demokratie in Deutschland. Sozio&ogisch.hi5torische Konstelbtionsanalyscn. Ausgcwi1hc Aufs3tze, Gö«ingcn 1993. S. 249-264.
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Mit welcher der zahlreichen Definitionen von ItNationalstaatll man anfangt, ist ziemlich gleichgültig. Kritik fuhrt in jedem Fall zum Ziel. 1995 hat OttO Dann eine, wie er sagt, Itdefinitorische Umschreibunglldes Nationalstaates vorgeschlagen, die folgendermaßen lautet: liDer moderne Nationalstaat ist ein Staat, in dem die Nation als die Gesamtheit der Staatsbürger der Souverän ist, jdcr} die politische Herrschaft festlegt und kontrolliere. Die gleichberechtigte Teilhabe aller Bürger an den Institutionen, Leistungen und Projekten des Staates ist sein leitendes Prinzip. i! Das ist eine wohldurchdachte und ftir viele Zwecke brauchbare Begriffsbestimmung, aber doch eine, die mit solch hohen nonnativen Ansprüchen an politische Partizipation daherkomlllt, daß sie eine übergroße Zahl von Fällen ausschließt. Polen uIHer kommunistischer Herrschaft, Spanien unter Franco, Süd afrika bis zum Ende der Apartheid: das wären dann alles keine Nationalstaaten gewesen - eine Kategorisierullg, die der Intuition zuwiderläuft. Und wie wäre Großbritannien einzusrufen, das erst 1928 das allgemeine Wahlrecht fiir Frauen einftihrte, und das Frankreich der 111. Republik, das dies erst 1944 tat?9 Für manche Argumentationszusammenhänge empfiehlt sich eine formalere und zugleich historisch konkrcter verortete Definition. Hagen Schulze hat dargelegt, wie in Europa zuerst der »modeme Staat« auf den Plan tritt, wie sich in einer zweiten Phase lIStaarsnarionen« und dann . N olksnationen« herausbilden oder sich selbst als solche definieren und wie erst in der Zeit nach der Französischen Revolution ein gesellschaftlich breit fundierter Nationalislllus - Schulze sagt ItMassennationalislllus« - das Formgchäuse des Staates annektiert. Hagen Schulze vermeidet eine explizite Definition von »Nationalstaatl~, verdeutlicht aber, was er meint, in einem ,..grand rccit«, das in säubcrlicher Pcriodisicrung den Itrevolutionären« (1815-1871), den »imperialen*( ( 1871-1914) und schließlich den »totalen« Nationalstaat (1914-1945) aufeinander folgen läßt. lO Injedem Fall erscheint der Narionalstaar hier als das Kompositprodukt oder die aufhehcnde Synthese von Staat und Nation: nicht einer virtuellen, sondern einer mobilisierten Nation. Wolfgang Reinhard hat der Diskussion um den historischen Ort des Nationalstaatesjüngst eine andere Wendung gegeben, wenn er, im Einklang mir einer offenbar erstarkenden Srrömung in der neueren Nationalismustheorie, formulien: »Die Nation war die abhängige, die Staa[Sgewalt aber die unabhängige 8 O. DiJllII. Zur Theorie des Narionalsu;nes. in: Deutsch-Norwegisches StilX'ndicnpro~ gramm rur Geschichtswissenscharten. Bericht über du 8. deutsch-non\lcgischc l-lislOrikertrdTen in München, Mai 1995. Oslo 1996. S. 59--70. hier S. 69. Eine solche IXfinition fehlte noch umer den ~GrundbegrifTen. in O. Ofl,lll. N;;l!iOll und Nationalismus in Deutschland 1770-1990. MÜII~ ehen 19942, S. 11-21. 9 In lulien und Belgien mußten Frauen sogar bis in die N
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Variable der historischen Entwicklung.«l1 Demnach wäre - ebenso allgemein gesagt -dcr Nationalstaat, den auch Reinhard erst im 19.Jahrhunden erkennen kann, 12 nicht das nahezu unvcnncidlichc Resultat eincr massenhaften Bewußtscinsbildung und Idcl1titätsformierung ~von unten« - so sah es schon die politische Romantik -,sondern das Produkt eines konzentricrenden MachtwilIens .von oben«.1J Die Träger eines solchen MachtwiJlens bedienen sich dessen, "V3S der Soziologe Craig Calhoun als »the rhetoric of the nation« in zehn Punkte oder Topoi zerlegt h.:n: (I) (2) (3) (4) (5) (6) (7) (8) (9) (10)
Idee der eindeutigen Grenzen; Souveränität nach außen;'· Unteilbarkeit; Idcal von Regierung als Ausdruck des .Volkswillens« (wic auch Illlmer dieser sich artikulicrt); Mobilisicrung der Bevölkerung durch Propagierung nationaler Ziele; Unmittelbarkeitsstellung des Individuums zum Ganzen der Nation; Ideal eincr homogenen Kultur; kollektivc Überzeugung von einer gcmeinsamen ethnischcn Herkunft; zeitlichc Tiefe und Kontinuität (suprahistorische nationale lIMythelllC); Glaube an die besondere Bedeutung und Aura nationaler Orte. 15
Der Nationalstaat wärc demnach nicht die staatliche Hülle einer gegebenen Nation. Er wäre ein ItProjekt« von Staatsapparaten und machthabenden Eliten, auch, wic man ergänzcn müßte, von revolutionären odcr amikolonialen Gegene1iten. Der Nationalstaat knüpft meist an ein bercits vorhandcnes Nationalgefuhl an, instrumentalisicrt es dann aber fur eine Politik der Nationsbildung. Er setzt es sich zum Ziel, eine homogene Kultur mit eigenen Symbolen und Werten zu schaffen. 16 Daher gibt es nicht nur Nationen auf der Suche nach 11 IV. RtinmmJ. Geschichte der Wtsgew;Ill. Eine vergldchende Verfassungsgeschichte Europas von den Anf;illboen bis zur Geg«nw:ron. München 1999, S. 443. 12 Zur Frage der ,.Moderniut_ von N'llionsbildung und d" Epochcl1bruchs um 1800 vgl. resümierend lind zugllllsten dcr Diskontinuiutsdll:SC: argumcmierend: D. utlgnltKsclw, »Nation_. »N~tion~lismus_. »N~tionalsu:l.t_ in der curop~ischcJ1 Geschichtc seit dem Mittelalter - Vcrsuch einer Bilanz. in: fkn. u. G. Sthmid/ (Hg.), Föder:l.tive N~tion. DcUlschlandkolizepte von der Refor* nmioll bis zum Ersten Weltkrieg. Miinchell 2000. S. 9-30. 13 Man hat dies ide:dtypisch in einem Gegcns:l.tz zwischen Pcrennialisrnus (der romantischen Idee von der Ursprünglichkeit VOll Nationen) und Modernismus (der Vorstellung von Nalionen als Konstruktionen) zu fassen \/ersuchl:A. D. Smilh. N~tionalism 211d Modemism: 1\ Critial Sur· ver of Uccent TIlwrics of Nalions and N~lionalism. London 1998. S. 22(.: Dtn.. The Nation in HIStory: HislOriographial Deb.ucs abaut Edilliciry and Nuionahsm. I-Ianovcr. NH 2000, S. 27-
SI. 14 Man könllle mil Hobsb:;awtll und unl,ocw;csche V<"rsch.ärfen: »F.ähigkcit zur Eroberung_ (ungnuitscN. Nation. S. 195) - in der Rhetorik bi~ilen zur DrohunggoK~n. 15 C. GJhoun. Narionalism. Minuc2po1is 1997. S. 4f. 16 Vgl. At. G",ilJtma",. Nariorulisms: 1bc Nuion*SUlC and Naltonaltsm in the T~ntiethCc.n* tW)'. Cambridg.: 1996, S. 48. Mit dieser Betonung des innen:n »nation.buikting. und überhaupt
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einem eigenen Nationalstaat, sondern umgekehrt auch NatiOllalstaaten aufder Suche nach der perfekten Nation, mit der sie sich im Idealfall zur Deckung bringen könnten. Wie Wolfgang Reinhard richtig beobachtet, sind die meisten Staaten, die sich heute als Nationalstaaten bezeichnen, in Wahrheit multinationale Staaten mit erheblichen Anteilen sich zumindest im vorpolitisch-gesellschaftlichen Raum organisierender Minderheiten." Diese Minderheiten unterscheiden sich vor allem dadurch voneinander, ob ihre politischen Führer die Existenzdes Gesamtstaates separatistisch in Frage stellen \vie Basken und Tamilen oder ob sie sich mit Teilautonomie zufricdengebcn wie etwa Schotten, Katalanen oder Frankokanadier. Ein weiterer Fall sind die Diasporaminderheitcn, wie sie vor allem durch Arbcitsimmigration entstanden sind, etwa die Polen im Deutschen Kaiserreich oder die türkische Bevölkerung in der Bundesrepublik Deutschland. Es bringt gewisse Vorteile mit sich, den Nationalstaat von seinen Zielen und seinen ideologischen Grundlagen (oder besser: seiner Rhetorik) her verstehen zu wollen. Erst dann gewinnt man, weltweit gesehen, eine hinreichend große Zahl von Fällen. Erst dann werden auch die allgegenwärtigen Spannungen zw1schen Programm und Wirklichkeit sichtbar. Nicht zuletzt erleichtert ein solches Modell den Zugang zu Suprastaatlichkeit und Supranationalität. Noch mehr als Nationalstaatsbildung ist dies ein politisch angestoßenes Elitenprojekt, das keineswegs natulWüchsigaus wirtschaftlichen Zwangslagen und mentalen Substraten - etwa der viel beschworenen europäischen Identität 18 - cmporsteigt. Ebenso stellt sich die Frage, in welcher Weise sich in dcr Rhetorik der Supranationalität die des Nationalstaates wiederfindet. Wodurch unterscheidet sich programmatisch - und viel weiter sind wir in Europa noch nicht - »nationbuildingt< von der Formierungsupranationalcr Verbünde? Wie lasscn sich Craig Calhouns zehn Topoi auf höherer Organisations- und Identifikationsebcne wiederfinden? Welche Homof,>enitätsansprüche werden dort zum Beispiel erhoben? Dies fUhrt zur zweiten VorkJärung, derjenigen des Integrationsbegriffs. Hier muß man grundsätzlich zwischen zwei Formen der Zusammenftihrung politischer Großverbände unterscheiden: von -objektiven_, nidll.askr;pt;ven FaktoreTlulUerscheide ich mich von W. Corrrror (Elhnon:uionalism: The Quest for Undemanding, Princelon 1994), mil dessen reslriktivem Ikgriffvon .Nalio-nalSI""h es ansonsten manche Berührungspunkte gibt. Vgl. die faire Einsch~lzung ConTlors bei LAngtWitsfht, Nation. S. 202-204. 17 ReirrlumJ, Geschichle der Sl:latSgew:ah, S. 443. 18 VgI.elW:a H. KM/bit, Europäische und nalionale Idemität seit dem ZWclten Weltkrieg, in: W. 11. Kir.snitzky u. K.·P. Siek (Hg.), Demokratie in DeUtschland: Chancen und Gcfahrdungcn im 19. und 2O.Jahrhundert. Historischt': Ess:ays. München 1999, S. 394--419 (mit ausführlichen Literaturan~ben). Vgl. aber auch die grunds:i12liche Kritik am IdelllitätSbcgriffbei L Nietmllnmer. Kollektive Identität. Heimliche Quellen einer unhcimlicht':n Konjunklur, Rt':inbek 2000 (zu Europ:a
S.525-551).
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(1) Die erste Form ist die Zwangsimegration »von oben«, die im übrigen niemals ganz ohne die Mithilfe von einigen der Integrierten auskommt. Man kann sie die impen'ale lmegratioll nennen. Sie geht bei Lockerung der Bindung und größerer Selbständigkeit der Teileinheiten fließend in den Typus der hegemollialen Integration über. (2) Die zweite Form ist freiwilligen und assoziativen Charakters und zeigt größerere Anteile einer Initiative lIvon unten«, wobei auch hier meinungsbildende und organisierende Eliten unerläßlich sind. Es bietet sich daflir verfassungsgeschichtlich der Name der fdderaletl ltlfegratiotl an. Beide Formen kommen in der historischen Wirklichkeit oft in Verbindung miteinander vor. So haben sich in Kanada schrittweise seit 1867 und in Australien imJahre 1901 unter dem imperialen Schirm des britischen Weltreichs einzelne Kolonien zu Föderationen zusammengeschlossen, die sich - in Austnlien deutlicher als in Kanada - von Anfang an als Nationalstaaten verstanden. Ähnlich vollzogen sich die Anfange der europäischen Wirtschaftsintegration nach 1945 im Zusammenhangder hegemonialen Integrationspolitikder USA. deren Beginn man auf die Schaffung des Systems von Bretton Woods datieren kann. Geir Lundesud hat treffend von It«empirell by integration« gesprochen. 19 Auch die deutschen und italienischen Nationalstaatsbildungen des 19.Jahrhunderts, die Theodor Schieder in einer vielverwendeten Typologie als »unifizierendelC Nationalstaatsbildungen gekennzeichnet hat,2l'l geschahen im Zusammenspiel beider Integrationsrypen: die preußischen lIEinigungskriege« trugen einen deutlich imperialen Charakter und flihrten nicht grundlos zu einem deutschen liRe ich«, nahmen aber Bestrebungen eines assoziativen deutschen (nicht preußischen) Nationalismus auf, so daß das Endresultat ein föderativ geordnetes Reich war. Alle diese Beispiele belegen auch, daß Integrationsvorgänge stets von innen wie von außen betrachtet werden müssen. Die europäischen Nationalstaaten des 19. Jahrhunderts definierten sich maßgeblich durch souveräne Handlungsfreiheit im internationalen Raum, locker gebunden durch das ungeschriebene Regelwerk eines Gleichgewichtssystems, welches nach der Jahrhundertmitte zunehmend an Verbindlichkeit verlor. 21
19 G. LUlldtsflld, .Empire" by Integr.alion: The United SUles and European Integralion, 19451997. Oxford 1998. 20 Vg. Th. Sthinkr, Naliomlismus und Naliomlsual. Sludien zum nationalen Problem im modernen Europ:l.. hg. v. O. ~1l11 und I-l.-U. Wthln-, Göuingcn 1991, S. 69f. 21 VgI.A. Dotring-Mmlltllffd, Vom Wiener Kongreß zur P:l.tiscr Konferenz. England, die dcmsehe Frage und das Mächlcsystcm 1815-1856, Göttingen 1991, S. I87ff.
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11. Das 19. Jahrhundert gilt im Rückblick der Historiker weithin als das »klassische« Zeitalter des Nationalstaates. Man denkt vor allem und zu Recht an die staatlichen Aspirationen von Nationalbewegungen22 und daran, wie sich innerhalb des europäischen Staatensystems den lIalten(( Nationalstaaten England und Frankreich die Neugründungen Deutschland und Italien hinzugesellten. Blickt man aber über diesen Kern hinaus, dann fallt es schwerer, eine Dominanz des Typus ~Nationalstaat« festzustellen. Zum europäischen Staaten-»Systeml<. selbst gehörten neben den vier genannten Großmächtcn 23 drei weitere, die sich kaum als Nationalstaaten apostrophieren ließen. Das Osmanische Reich, spät auch offiziell in das europäische Staatensystem kooptiert,2 4 war ein seit sechs Jahrhunderten bestehendes Vielvölkerimperium, in dem in den fünfziger Jahren des 19.Jahrhunderts nur etwa 60 % der Bevälkerungder muslilllischen Gbubensgemeinsch:lft angehörtcn 25 und unter den Muslimen ethnische Türken nur eine Gruppe unter mehreren bildeten. Ähnlich strukturiert war das durch nichts als das zarische Kaisertum und seine abhängigen Herrschaftsinstrumeme Bürokratie und Militär zusammengehaltene russische Reich, in dem nach der Volkszählung von 1897 Russen nur einen Anteil von 44 % ausmachten - bei rückläufiger Tendenz. 26 Die Modemisierung des Reiches, die nach der Jahrhundertmine begann, führte keineswegs zu einer Angleichung von Lcbensverhältnissen und Weltsichten unter den verschiedenen Völkerschaften, sondern bewirkte durch einen verstärkten internen Kolonialismus eine Zunahme von struktureller Heterogenität. v Auch das Habsburgerreich war ein dynastisches Kontinentalimperium von polyethnischer Zusammensetzung. Es verdiente allerdings viel weniger als das Zarenreich das Etikett eines »Gefangnisses der Völker«, ließ es doch zumindest den magyarischen Magnaten nach 1867 Spielräume zu einer qU3si-nationalstaatlichen Politik und den slawischen Völkern vergleichsweise große kulturelle Entfaltungschancen.2lI Schließlich Großbritannien. Es wird gemeinhin 22 Die Zus:nnmenhängc zwischen n:,uionalen Bewegungen und der SchalTung von Staatlichkeit sind in der systeillatischen Literatur bisher wenig beachtet worden. Vgl. aber). Brruilly, Die Voraussetzungen erfolgTc:icher Natiollalbcwcgungen, in: Comparativ,Jg. 8, 1998. S. 14-46. 23 Aueh einige kleinere Su.uen gehörten dazu und spielten zeitweise !iOb';l.r eine wichtige Holle, man denke an Belgien. 24 Vgl. 1k NtlJf. The OttomaTl Empire alld Ihe Europeall SI::lIes SYSlem. in: H. Bull U.A. WtltJOII (Hg.), The Expallsion oflntemational Society. Oxford 1984. S. 143-169, hier S. 168. 25 D. Qua/am, The Agc ofReforms. 1812-1914, in: H. /IIDltik (Hg.), An Economic and Social History of the Ouoman Empire, Bd. 2: 1600-1914, Cambridgc 1994. S. 759~ 943, hier S. 782. 26 A. Kappdu, Rußland als Vielvölkerreich. Entstehung. Geschichte. Zerfall. München 1992. S. 323 (Tabelle).
27 Ebd., S. 264f. 28 Vgl. R. A. Kaml, A History ofthe Habsburg Empire, 1526-1918. Bcrkeley 1974, S. 404f.: H. M"rmrlSt'll. Die habsburgische Natiollaliütenfn.ge und ihre Lösung'lvcrsuche im Licht der Gegen-
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mit Frankreich in einem Atemzugals eine der beiden »alten" Nationen Europas genannt. Anders als Frankreich war esjedoch das Zentrllm cines weItumspannenden Großreichs, an dessen Eroberung und Regierung Angehörige der zweitwichtigsten Nation im United Kingdom, die Scharren, überproporrional beteiligt waren. Die Machteliten in London pflegten mindestens ebenso sehr imperial-kosmopolitische wie kleinbritische oder gar europäische Idemifikationcn.2'9 Auch wird zu oft übersehen, daß Großbritannien eine der ältesten Nationen Europas, die Iren, in quasi-kolonialer Abhängigkeit hielt. Kurz: GroßbriclIlnien war durchaus kein lupenreiner ltmodernertl europäischer Nationalstaat. Blickt man über die Grenzen Europas hinaus, dann findet man gegen Ende des 19. Jahrhunderts: drei fast galiZ von Europa kolonisierte Welrreile: nämlich Afrika, Süd- und Südostasien und Ozcanien; sowie ein altes polyethnisches Großreich: China. Hier gab es keine Nationalstaaten, wohl aber in Hispanoamerik.l, wo zumindest Brasilien, hile, Argcntinien und Mexiko so etwas wie Ilnation-buildingll in Gang brachten. Nahezu ein Bilderbuchfall für eine solche interne, anf.ll1gs auf Außenpolitik geradezu verzichtende Nationsbildullg war Japan nach dem Beginn der Meiji-Restauration im Jahre 1868: ein ethnisch sehr weitgehend homogener, kulturell geschlossener, unitarisch regierter Nationalstaat, der dazu noch seit 1895 cine aggressive Machtpolitik betrieb und sich damit in den Augen seiner bedrohten Nachbarn und vor allem der Europäer als Großmacht qualifizicrte. Vielleicht ist es nur mäßig übertrieben, in Frankreich und Japan die am deutlichsten ausgeprägten Nationalstaaten des späten 19. Jahrhunderts zu sehen. Schließlich der Sonderfall der Vereinigten Staaten von Amerika: Nach dem Ende des Bürgerkrieges im Jahre 1865 wurde dort unter dem Mono der ltreconstTllctionlt mit Eifer anjenem Ordnungs- und Zivilisationsmodell gearbeitet, das die Welt im 20. Jahrhundert trotz unterschiedlicher Wahrnehmungen und Wertungen als Iltypisch amerikanischtl identifiziert. Bis zum Bürgerkrieg freilich kann von einem Nationalstaat USA nicht die Rede sein. Um 1850 läßt sich eher mit einer Formel aus dem Kalten Krieg von Mcinem Land, zwei Systcmen« sprechcn. Global gesehen, war das 19. Jaluhundert nicht unbedingt das Zeitalter des Nationalstaates. Gab es dennoch jenseits der alten und neue ren Imperien so etwas wie supranationale Neubildungen? Einige solcher Zusammenhänge von den verschicdcnen sozialistischen, pazifistischen und fcministischen Imernationalen über das Rote Kreuz bis zum Weltpostverein - werden hellte unter dem Stichwort »Internationalismus" beachtet und erforscht. JO Es verdient dabei wart. m: I-I. A. U'inkltr u. H. Katlbk (I-Ig.). Nlt10ll1hsmus - Nauonahuten - Supnnationaliul,
SlUltgm 1993. S. 108-122. hier S. 110. 29 Dies ISI eine der zcnlr.l,len Aussagen Ixl P. J. (Ain u. A. G. I-Iopkins. Briush Impcrulism. 2 Bdc.• londOIl 1993. 30 VgI.M. H""".I-limenürcn zur Macht Iinemltiolulismusuod modemisicrungsoric:ncicrte
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übrigens Beachtung, wie Emanzipationsbewegungen auf nationaler lind internationaler Ebene sich gegenseitig stärken konnten. Aber es fehlten SUPfd-stootlitllf~ Organisationen. Daneben darf indes jener Internationalisierungsschub nicht übersehen werden, den die weltweite Verbreitung des Kapitalismus im Zeichen des Freihandels mit sich brachte. Zu den stillen Revolutionen des 19. Jahrhunderts gehön das Verschwinden nahezu ~mtlicher Zollschr.mken in Europa von Portugal bis zu den Grenzen des Zaren reiches. Zwischen l860und 1871 entstand eine Freihandelszone, wie sie erst in der Gegenwan wieder geschaffen wird.ll Die britische Handels-, Finanz- und Seemacht exportierte das Freihandelsprinzip zudem auf andere Kontinente, und der - durchaus unter staatlicher Mithilfe und nicht allein als marl"tWinschaftliche Jungferngebun entsundene - Mechanismus des Goldstandards trug zusätzlich zur Integration der Weltwirtschaft bei.J2
BI. Mit der imperialen Implosion des frühen 20. Jahrhunderts beginnt das eigentliche Zeitalter des Nationalstaates. Das Zarenreich erlebt das Ende des Weltkriegs nicht. Der deutsche Traum von einem gigantischen Ostimperium währt nach dem Dikntfrieden von Brest-Litovsk nur wenige Monate.» Die Doppelmonarchie geht als Vcrliercrin des Weltkriegs unter. Das osmanische Sulnnat, dessen bevorstehendes Ende in Europa seit dem 17.Jahrhundert immer wieder I\ulknpoluik in Bdgi~n, nll Economy 1500 tO 2OCM>, Chdt~nhlm 1999, S. 102-128, ~s. S. 102-113. Zum Imcrnl110nllismus im 20. Jlhrhund~n vgl. di~ konziS(' Skizze vOIIA. lri}'l', Th~ Int~rnltionl1 Ordcr. 111: R. u.~ BI/l/in (Hg.), The Columbil Hi5tOry o(the 20th Ccmury, NcwYork 1998. S. 229-247. Zu ll1tertl1lionllismU5 im ellger~n Sinlle 11s cin~ lufdieJlhrhundenv,"ende zurückgehcnd~n Str:1leg.~ und I-bltung lß1erik:lIlischer Weltpolitik vgl. E Ni"kovith, The Wilsoni~n Century: U.S. Fordb'll Policy 5ine~ 1900. Chiclgo 1999, S. 16ff. 31 Vgl. C. P. Killdlbrgrr, The RiS(' ofFft'e Tr:1de in Western Europe, 1820 to 1875. in: J EH,Jg. 35,1975, S. 20-44, wioocrveröffentlicht in Dm.. Complr;uivc PolitiC21 Economy: A R~trospcClive. Cll11bridge, Mm. 2OCM>, S. 74-105. 32 Vgl. B. Eick,tgrm!, Glolnlizing upitlol: 1\ I-listory of rhe Imemltionll MOlleury SYSlcm. Prin«lon 1996. S. 7....044. Die 5Uldich~n Initilti\'~n hinter d~r Emst~hung d" Goldsunduds bt'tOll! dn~ imn~r noch ....'('rtvolle Ar~it: M. dt (Arco, Mouey lnd Empift': Th~ Jm~rnlrionl1 Gold Sundud, 1890-1914, Oxford 1974. S. 39f[ Vgl. luch 11s 5Ozillhistonsch~ Erpnzung C. A. Jonn, Jn~mltK>nllBusiness in Ih~ Nin~lttmh Ccnrury: Th~ RiS(' md Fll1 of1Cosmopoliun Bourgroisie, ßrighton 1987. 33 Vgl. K Hildtbrand. Du
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vorhergesagt wurde, hält sich einige Jahre länger als die Häuser Habsburg und Romanov. Seine jungtürkischen Nachfolger leisten gegen die drakonischen Friedensbedingungen der Westmächte erfolgreichen militärischen Widerstand und sichern 1923 dem neuen türkischen Nationalstaat einen günstigen territeriaJen Rahmen rur die bald beginnende Refonnpolitik des KemaJismus.~ Die nellen Grenzen im vordem osmanischen Nahen und Mittleren Osten. wojetzt - als britisches Mandat - die politische Einheit Palästina entsteht. waren schon während des Krieges gezogen worden. Wahrend und nach der Pariser Friedenskonferenz läßt Präsident Woodrow Wilson von seinen Fachleuten die Grenzen in Ostmineleuropa und aufdem Balkan nach einer widerspruchsvollen Verbindung von Selbstbestimmung und Ethnopolitik neu bestimmen.J5 Nach der globalen Krise der Jahre 1918 bis 1923 hat sich die Weltkarte deutlich verändert. Ein neuer Kranz von K1cin- und Mittelsraatcn erstreckt sich von Finnland bis zum Pcrsischcn Gol[ Welchen dieser Staaten man welchen Grad von Nationalstaatlichkeit zusprechen m&hte, wäre von Fall zu Fall zu crörtern. Nicht weniger wichtig ist jedoch das fiir viele unerwartete Überleben einiger dcr großen Imperien. Die Entente hat unter anderem deshalb den Weltkrieg gewonnen, weil es Großbritannien gelang, die Ressourcen seiner intern schon lange autonomen Dominions Kanada, Australien und Neusecland heranzuziehen ..l6 Wahrend Irland sich endlich selbständig macht und die britische Kontrolle über Ägyptcn reduziert wird, läßt sich der Rest des Empire bewahren; die indischen Unruhen von 1919 bleiben zunächst folgenlos. Frankreich verliert keine seiner Kolonien, gewinnt sogar, ebenso wie Großbritannien, ehemals deutSChe lind osmanische Kolonialgebiete hinzu. China, seit 191 I eine von den Großmächtcn bedrängte schwache Republik, bricht wider Erwarten nicht auseinander, sondern übersteht die folgenden kriegerischen Jahrzehnte und lebt umer kommunistischer Führung 1949/50 nahezu in den maximalen Grenzen des 18. Jahrhundert wieder auf: bis heute ein Mittelding zwischen Imperium und Nationalstaat. Schließlich die vielleicht folgenreichste dieser Entwicklungen: Die Bolschewiki gehen aus Bürgerkrieg und Großmächteintervention gestärkt hervor und bringen große Teile der alten zarischen neichsperipherie wieder unter ihre Herrschaft: die Ukraine, den Transkaukasus, Mittelasien. Nationalstaatsemwicklungcn werden überall im Keime erstickt. So hat sich im Widerstreit zwischen Nationalstaat und Impcrium der Nationalstaat kcineswegs so eindeutig durchzusetzen vermocht, wie es bei Kriegsende 191&'19 weithin erwartet worden war. Man könnte sogar die These wagen, der ..imperiale Nationalstaat«, dcn Hagen Schulze 1914 verschwinden sicht, 34 Vy). E.]. Zütrltn, Turkey: A Modem 1·listory. london 1998, S. 158- I70. 35 A. SMrp. The Versaillcs St:u1clllem: Pe2Cenuking.11 PUls. 1919. Ihsin~tokc 1991. Eine zus:ammcnsch.1uende Interprculion ckr Nt'uordnung von P.1ris bietet D. Dinn. DasJ.1hrhunden \1:rstehrn. Eine univcrsalhistorische Dcucung. Münc~n 1999. S.79ff. 36 So die 11lCSt' bciA. Ojfcr, The Firsl World W:ar. An Agrari.1n Imerpreulwn, Oxford 1989.
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habe erst in der Zwischenkriegszeit seine wahre Blüteperiode erlebt, kaum gezügelt durch die schwache supra-staatliche Liga des Völkerbundes. Die Liberalisierung der Weltwirtschaft in der Mitte der zwanziger Jahre war von kurzer Dauer. Als 1929 die Welwirtschaftskrise begann, wurde Autarkie zur beherrschenden Parole. Schrumpfende Märkte warfen die Metropolen auf ihre nunmehr durch Zölle und Handelspräferenzen bewehrten Kolonien zurück. Nie waren dic Imperien fur Großbritannien, Frankreich und die Niederlande ökonomisch so wichtig wie in den dreißigerJahren. 37 Glcichzeitigerlagen die lIneuenlC Nationalstaaten, die zwischen 1861 und 1871 entstanden warenItalien,Japan und Deutschland -unter rechtsautoritär-faschistischcn Regimen der imperialen Versuchung zur Eroberung und Ausbcutung benachbarter Großräume. Auch wcnn es sich leider noch nicht eingebürgert hat, von einem "Nazi imperialism~ zu sprechen, so ist doch unübersehbar, daß Deutschland spätestens seit dem Einmarsch in die Tschechoslowakei im März 1939, Italien seit dem Überfall auf Äthiopien 1936 und Japan bereits nach der Invasion der Mandschurei 1931 aufhören, "normale« Nationalstaaten zu sein. Nicht der Erste, sondern erst der Zweite Weltkrieg, vor dessen Beginn eine noch viel schlimmere internationale Anarchie herrscht als vor 1914, wird zum titanischen Kampf der Imperien.J9
rv Die Zäsur am Ende der nächsten Nachkriegszeit, um 1949, war mindestens so tief wie die von 1923. Das deutsch-nationalsozialistische und das japanische Imperium, die übelsten Exemplare dieser Spezies, welche die Geschichte kennt, waren zwischen Stalingrad und Hiroshima niedergekämpft, ihre einstmaligen Metropolen in 3merikanische bzw. ges3mwestliche Protektor::ate verwandelt worden, allerdings solche eincs ganz neucn Typs: nicht Ausbeutungsprotektorate oder geopolitische PufTerprotektorate, sondern Erziehungsprotektorate, in denen das Besanungsregime demokratische Institutionen aufbaut. Die westeuropäischen Uberseeimperien waren verschwunden (so das niederländische) oder dem Unterganggeweiht. Die So~etunion hatte sich um ihr neo-zarisches Reichsgcbiet herum einen Kranz von Satellitenstaaten zugelegt: Nationalstaaten, aber solche mit erheblich eingeschränkter Souveränität. 37 Vgl.). MIlr1til/t. Empire colonial el capitalismc fr;U1~ais: HiSlOire d'un divorcc. Paris 1984. s. 159: D. K Field"oll~. The Mccropolilan Economics ofEmpire, in:). M. Hrolllll u. WrIl. R»gf'r umu (Hg.). The Oxford HislOry ofthe ßritlsh Empire. Bd. 4: Thc Twclllieth Ccmury. Oxford 1999. S. 88-113. bcs. $. 89-98. 38 W Smilll. The Idcological Origins of Nazi 1111JX'rialislll. Ncw York 1986. 39 Soauch die Perspektive beiA. D. Hanlrf. Collision ofEmpires: Briuin in Three World Wars 1792-1945. London 1992.
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DiejUJlge Volksrepublik China holte sich Tibet und Ost-Turkestan zurück, die im 18. Jahrhundert in das Kaiserreich eingegliedert worden waren. In einem Wort: nach 1945 setzte sich zwischen Eibe und Gelbem Meer noch einmal der imperiale Integrationsmodus durch. So jedenfalls sah es aus. Aber das im Westen so genannte IlSowjetimperium« war eine Mer~-würdigkeit. Moskau konnte in dem Raum zwischen OStdeutschland und der Mongolei bis 1989190 kommunistische Statthalter- oder Kollaborationsregime im Sattel halten und seine eigene militärische Präsenz bewahren, ohne indessen dauerhafte ökonomische Abhängigkeicsbeziehungcn aufzubauen. Die ostmitteleuropäische Peripherie innerhalb des 1l0stblocks« war höher entwickelt als das russische Zentrum, und diese Differenz verstärkte sich mit der Zeit noch. Der IlRat fur gegenseitige Wirtschaftshilfe« (Council for Mutual Economic Assistance) war ein Zwangsverbund, in dem die Sowjetunion keineswegs immer ihren Willen durchzusetzen vermochte. In den achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts lag nach Ansicht vieler westlicher Ökonomen kaum noch so etwas wie ein Ilkoloniales« Dependenzverhältnis vor. 40 Umgekehrt bemühte sich die Sowjetunion durch billige Energielieferungen um das Wohlwotlen ihrer Satelliten. Mit KJaus von Beyme läßt sich daher von einer verfallenden hegemonialen Integration sprechen.~l Anders als westlich des Eisernen Vorhangs wurde im Ostblock keine supranationale politische Integration angestrebt. Wie tief eine gesellschaftliche und kulturelle IlSowjetisierung« jeweils vordrang, ist gegenwärtig Gegenstand der Forschung.~2Sie war wohl nur in geringem Ausmaß mit einer kulturellen Hussifizierung von der Art verbunden, wie sie das späte Zarenreich praktiziert hatte. Da sich die ostmitteleuropäischen Nationalkulturen in der nachstalinschen Zeit einigermaßen frei entfalten konnten und nationalkommunistische Regime einen beträchtlichen Handlungsspielraum erlangten, blieben Polen, Ungarn, die Tschechoslowakei, das politisch besonders selbständige Rumänien und andere Länder im Satellitengürtel der UdSSR im Kern Nationalstaaten, auch wenn einige von ihnen, aBen voran Polen, bedeutende Grenzverschiebungen erlitten. Sie konnten sich daher sofort nach dem Kollaps der Sov.jetmacht ohne größere Schwierigkeiten als solche Nationalstaaten mit neuen politischen und wirtschaftlichen Ordnungen neu konstituieren. Einem
40 Vgl. K. vlm Bqmt, Dic hegcmoni31e Integration Ostcuropas und ihr Verfall. in: Wink/tr t1. IGJelb/t (Hg.). Nationalismus, S. 224-235, hi~r S. 232; P. M(Jrtr' u. K. Z. Pozn(JIuki, CoslS ofDomination. ßenefilS ofSubordination, in:). F. Trisko (Hg.), Dominant Powers and Subordinalc Sl:lIcs: The Unitcd S~ICS in urin Amcrica and the Soviet Union in Easlern Europe. Durham, Ne 1986, S. 371-399, hier S. 385f.; O. A. WalDd u. a. (J-1g.). The Sovicl Union in Ea:stcrn Europe. 19451989, ßasingsloke 1994. 41 Vgl. 11. &ymt, Die hegemoniale Inlegration. S. 224. 234. 42 Vgl. elWa K.J(JfOljS(h u. H. Sirgrisl (Hg.). Amcribnisierung und Sowjclisicnlllg in DeulSChland 1945-1970, Frankfurt a.M. 1997.
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hartnäckigen Klischee und andauerndcn pessimistischen Erwartungen zum Trotz ist es im Zerfallsprozeß von Ostblock und Sowjetunion tlicllt zu nationaIcn und ethnischen Nachfolgekämpfen großen Stils gekommen. Die Krisen auf dcm Balkan, zwischen Armenien und Azerbajdschan und zwischen Rußland und Tschetschenien haben jeweils spezifische lokale und hiswrische Ursachen und beweisen nicht das Gegcmeil.
v. Im »Westen«, also im Macht- und Einflußbereich der USA, wurde das Prinzip nationalstaatlicher OrganisJtion nach 1945 auf beispiellose Weise gestärkt. In Palästina entstand nach dcm Rückzug der Briten unter amerikanischem Patronat der ganz besondere Nationalstaat Israel als Heimstätte einer verfolgten "Oiaspora-Natioll«.4.lJapan wurde unter der benevolenten Erziehungsdiktatur General Douglas MacArthurs reformiert, demilitarisiert (bald freilich teilweise remilitarisiert) lind in einen unsinkbaren Flugzeugträger der USA verwandelt. Es wurde ihm gewissermaßen gestattet, seinen Entwicklungsweg als industrialisierter Nationalstaat in nunmehr demokratischen Verfassungsformen dort fortzusetzen, wo es spätestens 1931 mit dcm Beginn seiner Kontinentalexpansion den Pfad politischer Tugend verlassen hatte. Gleichzeitig mit dem Abschluß eines Friedensvertrages war bercits 1951 einigen Indikatoren zufolgc das ökonomische Vorkriegsniveau wieder erreiche"" Besonders bemerkcnswert waren die Entwicklungen in Wcsteuropa, dem historischen EntstehungsoTt des Nationalst...ates. Der imperiale Nationalstaat der Deutschen hatte sich Anfang der vierziger Jahre zu einem kontinentalen Raub- und Mordimperium ausgewachsen, dem ein nur sekundär nationalistisches, primär aber rassistisches "Projekt« zugrunde lag: eine eigentümliche und anachronistische Mutation imperialer Ausgangsimpulse. 45 Anders als das territorial so gut wie unversehrteJapan wurde Deutschland als trunk.ierter Weststaat in die amerik.tnische Hegemonialsphäre aufgenommen, als ein Staat allerdings, an dessen wirtschaftlicher Lcbensfahigkeit von Anfang an niemand zweifelte. Den Westdeutschen wurde erlaubt - spätestens mit dem Ende der Besatzungs43 2um ßq,'TifT der Diaspora-Nation vg!. J-l. Srloll·WaLWtI. Nations and StllCS: An EnqUlry imo the Origins orN~tions :lIld the Politics or Nationalism, 1..o1ldOll 19n, S. 383fT. 44 Vgl. C. TSla"ki, The Pursuit or Power in Modern Jap~1I 1825-1995. Oxrord 2000. S. 519. 45 In dl'n iiberscclschen Kolonialrclchcll der westl1chen Mächtc läßt sich nach dClll Erstell Wehkricg generell eine :lllmähliche Abschwächung eines virulelllcn Rassismus beobachtcn. Zum Verhältnis von N:ltiomlislllus, Imperi:llismlls und Rassislllus verdient wil'tlerellldcckt zu werden: I-I. Arrlldl. Elemente lind Ursprünge tot:ller Herrschaft. Frankrurt a.M. 1951. Kap. 5-9. Vg!. auch die Übcrlq,'ungcn bei I. Griss. Imperien und Nationen. Zur universalhislorischell Topoguphic von Macht und Herrschaft, in: Tel Aviver Jahrbuch rur deUlschc Geschiclllc,Jg. 28, 1999. $. 5791.
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zeit und dem Eintritt in die NATO 1955 war dies auch symbolisch vollzogen -, sich wie ein Nationalstaat zu benehmen. Tatsächlich ist die Bundesrepublik denn auch recht bald ein Als-ob-Nationalstaat geworden. Die kollektive Sehnsucht zurück nach dem Bismarckschen Reich, das überhaupt nur eine Existenzdauer von wenigen Jaluzehnten vorzuweisen hatte, hielt sich bei der Mehrheit der Bevölkerung ebenso in Grenzen wie ein täglich durchliuenes Mitgefuhl mit den benachteiligten Landsleuten östlich der sogenannten 20nengrenze. Die Raison des Als-ob-Nationalstaates Bundesrepublik war westlich und präsemistisch. Für die politische Rhetorik nützliche Behelfe waren daneben die staatsrechtlichen Konstruktionen des "Provisoriums« und der »Rechtsnachfolge des deutschen Reichesl<. Westdeutsch land wurde ein Als-ob-Nationalstaat, weil die damalige Regierung der USA dies so wollte und weil die Mehrheit der deutschen politischen und wirtschaftlichen Elite sich diesen Wunsch zu eigen machte; die Mehrheit der Bevölkerung folgte ihr dabei bald. Die amerikanische Generosität gegenüber Deutschland war von Anfang an Teil einer Strategie Hir gatlZ Europa, die in den Beraterstäben des Präsidenten Harry S. Truman erdachtworden war. Diese Strategie ruhte auf drei Säulen: (1) der militärischcn Abschreckung und Eindämmung des Kommunismus; (2) der institutionellen Absicherung einer freien kapitalistischen Weltwirtschaft; und (3) der dauerhaften Pazifizierung Westeuropas, konkreter: der radikalen Beseitigung von zwei Grundzügen des alten europäischen Mächtesystems - des deutsch-französischen Dauerkonflikts und der Distanz Großbritanniens vom Kontinent. Für das driue dieser Ziele benötigte man keine hilflosen Vasallen, sondern ökonomisch vitale Nationalstaaten, die lernen mußten, ilue nationalen Interessen nicht-nationalistisch zu definieren und zu verfechten. Eine solche Politik hätte kaum Erfolg haben können, wäre sie nicht von post-nationalistischen Politikern wie jean Monnet, Roben Schuman und Konrad Adenauer aufgegriffcn und wcitergeführt worden, politischen Gestaltern, die nationale Interessen in größeren Zusammenhängen am besten aufgehoben sahen. Es mag kleinere europäische Ländern, insbesondere die Skandinavier, wenig betreffen, aber wichtig ist es zu sehen, daß die renovierten Nationalstaaten Westeuropas auch pos/-imperiale Staaten zu sein hauen, die nicht länger den zentrifugalen Versuchungen überseeischer Bestandssicherung (von Ilellen Abenteuern war selbstverständlich nach 1945 keine Rede mehr) erliegen würden. Im Falle Deutschlands haue sich das imperiale Problem 1945, im Falle der Niederlande 1949 erledigt.46 Die übrigen Imperien schleppten sich hin. Hier war die amerikanische Politik keineswegs immer in sich stimmig. Zwar haue Präsident Roosevclt 46 Vgl. die brillante Skizze von H. L. WtJ.U'lillg, Post-Imperial Holland, in: JCH,Jg. 15, 1980, S. 125-142, wieder abgedrud:.1 in Dm., Imperia1ism and Colonialism: Essays on the Hislory ofEuropcan Expansion, Westport. Ct. 1997, S. 126-139.
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in der rhetorischen Tradition des amerikanischen Amikolonialismus während des Weltkrieges Druck auf das britische Empire ausgei.ibt,~7 doch hatten die USA dann in einer fatalen Fehleinschätzung Stellung gegen die nationalkommunistische Revolution in Vietnam bezogen und die französische Rückerobcrungder altcn Kolonie unterstützt. Bis zum Debakel des Ersten Indochinakrieges 1954 in Oien Bien Phu waren der RealitätSsinn der französischen Politik und ihr Handlungsvermögen in Europa erheblich eingeschränkt. Erst General de Gaullc beendete 1962 mit dcm Rückzug aus Algerien die imperiale Epoche der französischen Geschichte. Nicht zufallig - aber mit ein wenig historischer Ironie - war die Symbolfigur des französischen Nachkriegspatriotisl11us, der Urheber dcr anti-amerikanischen Vision von einem »Europe des patrics«, zugleich der Abwickler der außereuropäischen Erblasten. Die britische Konrraktion aufEuropa hin und damit der Weg von der imperialen Metropolc zu einem »normalcn!( Nationalstaat verlieflangwieriger, wcniger blutig lind insofern undramatischer, als im Umcrschied zu Frankreich ernsthafte Erschütterungen des politischcn Systems in der Metropole ausblieben. Seit der Suczkrise von 1956 war unmißverständlich klar, daß die USA nichts zur Vertcidigungdes verbliebenen Empire gegen cinheimische Nationalismcn unternehmen würden, selbst dann nicht, wenn diese sich kommunismusfrcllndlich gerieren solltcn. Trotz Suez hielt Großbritannien an der Übcrzcugung fest, mit den USA eine »special relationship« bewahren zu können eine bis heute dic britische Außenpolitik VOll Zcit zu Zeit bestimmende Illusion. 1961, mitten in der anlaufenden Dekolonisierungswelle in Afrib, bcmühte sich Großbritannien dennoch, von den USA ermutigt, erstmals um Aufnahme in die Europäischc Wirtsehaftsgemeinschaft.# Auch wenn der Beitritt - man hat ihn Hthe most profound revolution in British foreign policy in the twel1tieth cenrury« gcnannr-9 - erst 1973 erfolgte und selbst wenn der frühen EWG-Politik der Briten auch Blockadeabsichten unterstellt werden dürfen, so läß( sich doch bereits fur die sechzigerJahre von »post-imperial Britainl< sprechcn. SlJ Um auch den kJeinen Kolonialmächten Gerechtigkeit widerfahren zu lassen: Belgien hatte 1960 seine Kolonie im Kongo fluchtartig und ohne Vorkchrungen fur die Zcit danach verlassen. Sl Portugal hielt bis 1976 an Mrika fcst und stellte im
47 Vgl. Wrn. R. umis, BriUJlnia at Bay, 1941-1945: Thc United St:lleS :md the OccoloniUliOll ofthc British Empire, Oxford 1977. 48 Vgl. D. Rqrrolds. ßrilannia Overrulcd: British Policy :md World Power in the 20th Cellmry, London 1991, S. 220. 49 Ebd .. S. 238. 50 Es bribt einen gewissen Konsens unter J-listorikcm. das Jahr 1959 als den Anfang vom Ende des britischen Empire zu belracillell. Vgl die Begründung bei). /)Qnl,;rr, Briuin and DccoIOlliS3li· on: Thc Retrcat from Empire in the Post-war World, Basingstoke 1988, S. 235-256. 51 Vgl. C. 711. Mollill. Die USA und der Kolonialismus. Amerika als I)artncr und Nachfolger der belgischen Macht in Mrika 1939-1%5, Ikrlin 1996, S. 361ff.
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folgenden Jahr sein Beitrittsgesuch zur Europäischen Gemeinschaft; der Beitritt erfolgte gemeinsam mit demjenigen Spaniens zum l.Januar 1986. Der europäische Nationalstaat, wie er nach 1945 in zivilisierter Form wieder erstand, tat dies selbstverständlich nicht als Monade. Vor 1914 hatte es zwischen den Swten und Reichen so etwas wie ein »System. gegeben, das
Beziehungen bei H. KltillSf/llIlid/. Geschichle der imCrn
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an die europäische Integration unterstützten. (Strittig ist dabei etwa, ob sie es versäumt haben, das an einzelne Regierungen adressiene Marshallplanprogramm von 1947 mit der Schaffung supranationaler Institutionen zu verbinden.)Sol Nicht zuletzt sund dahinter vielfach die Erwaffung, die Europäer können dazu gebracht werden, eine den USA vergleichbare Föderation zu schaffen und damit ein historisches Erfolgsmodell zu kopieren. S5 Auch die supranationale Rhetorik. die den Einigungsprozeß von Anfang an brgleitete, war nicht ausschließlich europäischer Herkunft. Zu pragmatischen Argumenten und Abendlandparolen gesellte sich die ameribnische Vision einer weltweit verbreiteten Kultur der demokratischen Massen- und Konsumgesellschaft.56 Die Politik der USA, innerhalb ihres Itlmperiums« oder ihrer Interessensphäre Kooperation und Zusammenschluß zu fordern und nicht per lKiivide et impera« Kontrolle auszuüben, war historisch ohne Vorbild. s7
VI. Der europäische Nationalstaat erreichte seine H.eifepha5e im Moment seinC'f post-imperialen Rekonstruktion nach dem Zweiten Weltkrieg. (Nebenbei sei angemerkt, daß gleichzeitig die Gesellschaften Europas einen beispiellosen Grad von ethnischer Homogenität erlangt hanen. Dies war die Folge von Völkermord, Zwangsumsiedlungen, Vertreibungen, Repatriienmgcn und Grenzveränderungen.S8 Mit dem Beginn neuer Arbeitsmigrationen nahm dieser hohe Homogenitätsgrad wieder ab.) So wie der frühe Natioll31sClat der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts unter bestimmten Wachstumsbedingungen von Staatlichkeit und kapitalistischer Produktionsweise binnen kurzem seinen Charakter imperia/verändene, so trat der NationalsClat nach dem Zweiten Weltkrieg bereits im Anfangsstadium seiner post-imperialen Reife in die Phase der Supranationalität ei", ohne bislang in solcher Supranationalität afifgegangen zu sem. Es kann nicht die Aufgabe dieses Versuchs sein, auch noch die Entwicklung der europäischen Integration seit den Römischen Verträgen von 1957 zu kOIll54 G~schalT~n wurde nur ein~ Or~nizatioll for Europc~n Economic Co-opcratioll (OEEC). in der ~llerdings manche die Keimzelle einer sp:itercn ~urop:iischen negi~rung sehen ....,olhen (vgl. H. Jama. lumbouil1el, 15. November 1975: Die GlohalisieTUng der Wi"schaft. München 1997.
S.77). 55 VF).J. Hriikking, Pragnmismus und kolllinenul~Vision. Der M~rsh~II-Pbnals AnSIOß wr europ:ii5Ch~n 1ntegnllion. in: l"yta u. Rith/tf (Hg.), Gcsultungskraft des Polili5Ch~n. S. 30';"327. hier S. 312.
56 So ebd., S. 321. 57 Lumftst..d• • Empire.. by IntegTation. S. 3 (d~r in ihnlichem Sinll~J~~n Monn~t. den .Vater der ~uropii.schen Einigung_. zilie"). auch S. l54lT. 58 VF). C. TItnbom. Europcan Modemity ~nd Bcyond: The TrajecfOry ofEuropran Soci~tles 1945-2000. London 1995. S. 47.
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mentieren. In globalhisfOrischer Sicht ist es bemerkenswen, daß es nirgendwo sonst aufder Weh in ähnlichem Umfang zur Schaffungsupranationaler Organe wie einer exekutiven Kommission, eines rechtsetzenden Parlaments und einer über den Einzelstaat hinauswirkenden Judikatur gekommen ist, sieht man einmal von dem heroischen Versuch der Indischen Union ab, den autoritären Rahmen des britischen Kolonialsystems nach 1947 halbwegs demokr.atisch zu fullen. Dies ist nichts als ein rein deskriptiver Befund, denn man hätte wohl nichts anderes erwarten dürfen. Kein anderer Großraum der Erde hat eine ähnlich dichte Geschichte von Gemeinsamkeit und Entzweiungerlebt wie Europa, nach Jacob Burckhardt ItStänc der Entstehung der reichsten Gesultungen, [...] Heimat aller Gegensätze•. 59 Überall außerhalb Europas ist der Nationalstaatein hupon gewesen. ro Strukturell ist er in den meisten Fällen zu schwach fur eine supranationale Überwölbung; die verschiedenen Pan-Bewegungen sind niemals über wolkiges Ideologisieren hinausgedrungen. Einige der größten Staaten der Erde, China und Indien voran, halten Souveränitätsabtretungenjeglicher Art für undenkbar und schrecken vor nationalistischer Drohpolitik nicht zurück. Eine cngere Zusammenarbeit zwischen den ftihrcnden Nationen Asiens - Japan, China und Indien - ist einstweilen aus historischen und politischen Gründen kaum vorstellbar. Hinsichtlich von ASEAN, der noch immer an den Folgen der dramatischen Wirtschaftskrise von 1997 leidenden Association ofSouth EJ;st Asian Nations, die man am besten als einen lIintergouvernementalen Kooperationsverbundtl charakterisiert,61 sowie der regionalistischen Bestrebungen in Lateinamerika resümiert eine vergleichende Studie, man sei .bisherweder in Lateinamerika noch in Südostasien bereit gewesen, zumindest Teile nationaler Souveränität abzugcbcn«.62 Das Anfang 1994 von den USA.
59 ). BurrHumlf,
Historisch~ Fr
Nachboß ~ß1mdt von E. Dürr, Nördlin-
gen 1988, S. 204. 60 oEuropa hat d~n SWt ~rfund~n.• Rti,.harU, ~schicht~ der Su:nsgcwah, S. 15: vgI. :luch W RrinlumJ (Hg.), Verslutlichllng der Weh? ElII'opiische Staatsmodelle und allßerelll'opiischc M:lchtprozessc, München 1999; Dm., Europiische SU:ltsmodelle in koloni:llen und postkoloni:lJen Mxluprozesscn, in: J:lhrbuch der I-Ieidclbcrger Abdemie der Wissensch:lften für 1999, l-Icidelbrrg 200), S. 4~ 1. 61 M. Mob, Imel,'T:lnon und Koopcr:nion in zwei Kontinenten. Das Strdx:n nach Einheit in Lalemamcrib und in Slidoswien, StlIug:art 1996. S. 276; vgl. auch Dm.. M. WiIIltlmy 1'0/1 Wo!ff u. H. Glllifflu. Ilegionalisllllls und Koopcr.uiol1 in Lateinamerib und Südostasien. Ein politikwis. senscluflhcher Vergleich. Münster 1993. 62 Mols, lntegntion. S. 470. Vgl. auch An~tzc zu ~iTleß1 Vergldch zwischen d~r EU und ASEAN m: 1). MaJItl(kt U.:l. (Hg.), ASEAN and the EU in the Intenmional EnvirOllmenl. BadenBadm 1999: M. T. Ynmg u. a., Hcgional Tnding B10cs in Ihe GloI»l Economy: The EU and ASfAN, Chc1tenham 1999. Anders als IIn Falle d~r europiisch~n Doppdimq;r.nion muß sich ASEAN mangtls ande~r Strukturen :luch um sIcherheilSpolitische Aufgaben bemühen: vgl. S. Ft:Sltt, ASEAN: ElII Modell für rcgiofule SICherheit. Ursprung. Entwicklung und Blbnz sich~r h~iupolinscher Zugnlln~tUrbeit in Südoswkn, ßad~n-Backn 1991. Prognmmalisch-<>ptimi. stisch 15t M.AnJOiiJr, ASEAN 2nd th~ Dipk)lllxyofAccomodation, Annonlc. N.Y. 1990
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Kanada und Mexiko gegründete NAFTA (Nonh American Free Trade Agreement) ist im Unterschied zu ASEAN eine Freihandelszone, erreicht aber nicht den Freizügigkeitsgrad des europäischen Binnenmarktes und bietet derzeit keine Grundlagen Hir politische Föderationspläne.63 Die Urimpulse hinter der europäischen Integration waren politischer Natur. bI D;lS Ziel wu der Frieden in Europa durch Einbindung der Deutschen.60S Am Anfangstand die Einsicht, daß kein Gleichgewichtssystem, keine kollektive Sicherheit, keine Völkerbundsorganisation und kein Morgemhau-Plan dieses Ziel n:iherbringcn würde, sondern nur die Koordination IvacJlSc"der Volkswirtschaften. Diese Koordination ist mittlerweile bis zur Stufe der Währungsunion gediehen. 66 Europa bietet damit ein vergleichsweise sehr erfolgreiches Beispiel Hir d;lS, was Politik.-wissenschaftler IlRegionalismus~ nennen. Die staatlich-foderativen Momente sind in keinem anderen Fall von Regionalismus auch nur annähernd ähnlich weit entwickelt. Die Vereinigten Stlaten von Europa sind zumindest vorstellbar geworden. In anderen Teilen der Welt mögen zwar die Krifte der Globalisierung die ohnehin schon schwachen Staatsapparate weiter unterhöhlen; dennoch üben dort die Ideen von Nation und Nationalstaat eine Anziehungskraft aus, die sie in (West)-Europa verloren haben. Auch wcnn immer wieder mit Recht beront wird, der europäische Nationalstlat sei nur als schwacher Abglanz seines klassischen Originals imitiert worden, so ändert dies doch nichts an der T..usache, daß der winschaftlichc H.egionalismus außerhalb Europas eine Angelegenheit von Nationalstaaten ist, die ihre Souveränitäteifersüchtig verteidigen. Heißt dies nun, daß Europa - wie es sich selbst zu sehen liebt - abennals an der Spitze des zivilisatOrischen Fortschritts marschiert? Ja und nein. Ja. wenn man in der Befriedung Wcsteuropas ein Modell nir den Rest der Welt sieht. Nicht unbedingt d.ann, wenn man Regionalismus skeptisch betrachtet. Wie der Politologe Robert Gilpin bemerkt hat, fOrdert die Veniefung der europäischen Integration, namentlich seit der 1987 in Kraft getretenen Einheitlichen Euro-
63 vgI, R. KDim. !legionale IßlegnlUOß in Europa und Nordamerib. ßaden·ßadell 1998. S. 22. S. 181([ 64 So auch das Urteil des vielleicht filhr("ndcn deutsChen Historikers der IllIegr.alion:.Sieht man einmal von dem lllcderländischen Imercssc :m einer Zollunion und einem europäischen Agnrnurkt fiir den Abs2tz niederländischer Produkte ab. so w:ar die Europäische Winschaftsgemeinschafl also vorwiegend ein politisches U!lternehmen._ W: LoIh, Von PolSdam nach Mus· nicht. Die Grundlagen der europäischen Einigung. in: 194~1995, AnBn&\" und Erfahrungen. 50 Jahre nach dem Ende des Zweuen Weltkriegs (= Schriften der Univcrsiutsbibliothek Erlangen. Nürnb..-rg. ßd. 84). Erlangrll 1998.5.61-74. hier S. 68. 65 Daß damu auch \"t:rslecktc fr.mzÖSlSchc Hoffnungen auf eme rcgtonak Vorrangstellung verbunden waren. sol he nicht üb..-rsc:hcn VOoTrden. 66 Originelk hlslorische Panlkkn eröfTnetA.. Ltrlllltr. UnpolitIsches Gdd. Die WcchsdwirkUllgen von Wlhrungsumon und Politischer Union 20m Beispiel des Deutschen Rc.ichs vor 1914 und der VereinIgten Swten, Fnnkfun a.M. 2000.
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päischen Akte (Single European Act), rund um den Globus regionale Wirtschafts;;abkollllllen und leistet eher der Rivalität von Wirtschaftsblöcken als globaler Ölkonolllischer Offenheit Vorschub. »Regionalizarion.., so urteilt Gilpin, .actuaUy incorporates national concerns and ambitions rather than provides an alternative to a sClte-centered international system.«'7 Man mag dies anders sehen.lill Plausibel ist aber die Möglichkeit, daß sich supranarionale Verbünde wenig anders verhalten werden als vordem Narionalstaaten in einem kompetitiven ystem.
67 Vgl. R. Gi/pi". Thc Ch.tllcnge ofGlob.tl Oapil2lism: The World Economy inlhe 2151 CcllUlry. PrinCCIOII 2000. S. 43. Auf US-Seite erkc:nm Gilpin Mine der achnigerJ.thre unler P'risidem Re.tglln eine bis heute: .tlld.tuemde Abkehr VOll ökonomischem Mullil.tlenlismus 'I.ugunSlen einer _multlll'Xk Irade policy. (S. 11. 232ft). Den I-linlergrund einer flIIell-) Ccschichle von W1rtSCh
70fT. 68 Nkht nur oplimislischer. sondern auch III einer Vuunu: \"On P~ismismus. Siehe etwa Spd:ul.tuonen über einen ~Ien Klasscnkonflikt. ntehl nur bei Ilco-oumsrischc.n AUlOren. sondern auch beI R. Münm. Das Projekl Europa. Zwischc.n N.thOlulismus. regKHukr AUlonomic und Wdqpdlsduft, Fnnkfun a.M. 1993. S. 243ff.
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14. Aufstieg und Fall der neuzeitlichen Sklaverei. Oder: Was ist ein weltgeschichtliches Problem?
I. Weltgeschichte. in Deutschland mit Kar! Marx und Oswald Spengler oder auch mit dem Kultursoziologen Alfred Weber - eher als mit seinem älteren Bruderassoziiert, hat hierzulande einen solch schlechten Ruf, daß es mit ihr nur noch bergaufgehen kann. Das ist ein großer Vorteil. Ein zweiter Vorzug der Lage am Beginn eines neuen Jahrhunderts ist es, daß man da und don einen noch ungeformten guten Willen erkennen kann, nationalhistorische Selbstbeschränkungen zu überwinden und sich sogar mit Visionen einer turopiiisc!letl Geschichte nicht zufrieden zu geben. Ob und wie man ,.Universalgeschichte., »Weltgeschichte« und, wie neuerdings hinzukommt.•Clobalgeschichte« unterscheiden kann und muß,! ist ein reizvolles systematisches und ideen historisches Problem, soll uns aber hier nicht näher beschäftigen. Von IlMakrogeschichte. zu sprechen, wäre eine weitere Möglichkeit,2 wenn das nicht unvermeidlich eine wolkige »Mesogcsehichte41 nach sich zöge und wenn man damit nicht den hochverdienten Mikrohistorikern den Verdacht suggerierte, man fuhre in offensiver Absicht das genaue Gegenteil dessen im Schilde, \V3S ihnen selbst wen und teuer ist. Ein solches Mißverstindnis sollte gleich anfangs aus dem Wege geräumt werden. »Welcgcschichte. darf nicht auf einer cinfdrmigen und eintönigen Ebene des Großen und Allgemeinen verharren, sie muß sich im Kleinen lind Spezifischen verankern. Einige Soziologen nennen das heute Ilglocalizatioll.,J aber es iSI auch schOll ein Gebot schlichter Darstellungstechnik.~ I ElIlc diskllt:llble Ulltcrscheidungschl.5gt vor' B Maz/isn. Crosslllg ßounduics; EcllmeniaL World and GIob:llJ H,story. m; P. 13(ml!," IU. (Hg.). World H,SIOry: Idcologles. Structurcs :lind Idcmities. Qxford 1998. S. 41-52. 2 Vr).j. &hlumbchm (Hg.). Mlk~llldlte-M:IIkrogochichre; komplcmenur oder mkommensurabel? Götlin~n 1998; R. CoIlllu. MKtOhislOf'y. Sbnford 1989. 3 Zum Begnrrogioahsallon. vgI. R. Robtroon. Globhsierung: llomogcmül und lleterogcmÜl m Raum und Zelt. m; U. &fit (I-Ig.). Penpckuvcn derWd~lIschafl.Frankfuna.M. 1998. S. 192-220. .. Das \'cnnsduuhchl als gdungcncs Iklspid F. Fmuil'fda·AnrteJIC. Millemum; A Hislory of Dur La.sl Thouund Ycars. London 1995; lU~ schon CITl Melsler des sprechenden Dc-ulls; E. H. Gombrith. Eine kurze Wdtgnchichlc fur Junge u-scr 119351. Köln 1985.
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Das Etikett magalsowra postm'or bleiben und der Ausdruck .,.Weltgeschichte.. einstweilen genügen. Ebenso wird eine Letztbegründung aus dem Zeitgeist unterlassen. Denn es wäre von geschmackloser Einfalt, die Historiker zu emlahnen, doch bitte die Globalisierung nicht zu verschlafen, oder sie in eine Empirieferne zu locken, bei der ihnen im Zweifelsfall die bestcn Soziologen überlegen sind. Vorweg einige pragmatische Festlcgungcn: (1) Weltgeschichte benötigt kcin sinn haftes Apriori, also keine materiale Geschichtsphilosophie, etwa neo-hegelianischer, christlicher oder evolutionistischer Art. (2) Weltgeschichte muß nicht unbedingt: eine Geschichte sehr langer Zeitr2ume sein; sie muß nicht zur .neolithischen Revolution« zurückgreifen und sich damit in die Tr.adition aufklärerischer Ganungsgeschichten .des Menschgeschlechts4t stellen. Als Weltgeschichtsschreibung kann auch eine tpodrale Geschiclne synchroner Zivilisationen gelten wie Fernand Braudcls Kapitalismustrilogle s oder eine Bestandsaufnahme des weltweit punktuell Gleichzeitigen. 6 (3) Weltgeschichte ist kein besserwisserischer Mctadiskurs, sondcrn eine besondere Weise der Hinsicht und Problemformulierung, die sich in eklektischer Manier aus der Vielfalt vorhandener Theorien und Zugangsweisen be· dient. Weltgeschichte ist keine zusammenhängende En:ählung und darf nicht der Illusion der .,.scheinempirischen Synthese.. verfallcn.' Daher lautet die entscheidende Frage: Was ist ein weltgeschichtliches Problem? (4) Die .,.Kunsh der Problemformulierung ist nur begrenzt methodisierbar und damit intersubjektiv übertragbar. Sie beruht auf spezifischem Vorwissen und einer - fraglos erlernbaren - kosmopolitischen Aufmerksamkeitsstruktur, anders gesagt:: der Bereitschaft, sich immer und bei jedem kulturellen Phänomen daHir zu interessieren, wie sich Ähnliches anderswo verhält. (S) Der Horizont von Weltgeschichte ist die Welt. llirunter erstreckt sich aber die venikale Stufung der Analysceinheiten vorn Großr.aum oder Kontinent ülx:r Nation, Region und Gemeinde bis hinab zu Haushalt, Familie und Individuum. Daher reden (gute) Welthistoriker nur selten yon .Weltll an sich. (6) Die naheliegenden Großbausteine yon Weltgeschichte sind Kontincnte oder Zivilisationen. Dercn Abgrenzung sowie Sclbst- und Frcmddcfinition muß jedoch selbst zu einem geschichtswissenschaftlichen Problem werden. Was wann und von wem als .,.Europa4t verstanden wurde, ist durchaus diskussionsbedürftig, und das gleiche gilt fur Asien oder fur AnlCrik..a, den Kontinent 5 F. B,awdd. CMlisuioo m~t~ridlc,«onomi~~t api12lism~.3 Btk. P~ris 1979. Hißl~r Bralld~h Ep<x:h~n~~nzllng ,,~rbt:~n sich S('in~ ~rühmt~n Ü~rlegungen zur historischen ZeiL: Dm., La longu~ durfe 119581. in: Dm.. !..es ~mbitions de I'Histoln~. P~ris 1997. S. 191-230 6 Etw1J. E. WiIIiJ,j,., 1688: AGloI»l Histol)'. NewYork200l; F.:I. Brii~u. ~v. SdwddIlhll (Hg.). Di~ Welt im J~hr 1000. Frciburg i.Br. 2000. 7 L Mt/Nmrmn. Posthistoire. Ist die Geschichte zu Ende?, n~il1bck 1989. S. 171.
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»neo-curopäischenc Neubildungen.' Die in Deutschland eingebürgerte Residual kategorie _Außereuropäische Geschichte. ist eurozentrisch grundiert; Unvereinbares zusammenzwingend und es zugleich marginalisierend. Sie sollte als Notbehelfverstanden und möglichst vemlieden werden. (7) Wehgeschicluc läßt sich in gewissem Maße über die Methode des Vergleichs von unten herauf aggregiercn. Vergleich verlangt jedoch randscharfe Abgrenzungen zwischen den zu vergleichenden Einheiten (etwa )lKullUren«) und verfuhrt oft auch zu problematischen AUSs.1gcn über deren »Wesenskern«, also zu einem gewissen Maß an )lEssentialislllus«. Eine bloß räumlich gedachte _Er\veiterung« - von der deutschen zur europäischen, von don zur atlantischen, von dort zur globalen Geschichte - verspricht wenig, da sie irrtümlich von der Möglichkeit linearer Maßstabvergrößerung nationalhistorischer Fragestellungen ausgeht. (8) Die Gewinne der anthropologischen Neuorientierung der Geschichtswisscnschaft dürfen nicht verlorengehen. Diese Gefahrwird vermieden, sobald man von der Fixierung auf den monadischen Kulturbegriff extremer nichtungen innerhalb der amerikanischen Cultural Amhropology abrückt und ßceinnussung. Akkulnaration, (modisch gesprochen) lIHybridität« mitbedenkt. (9) Die Anerkennung von Wehgcschidue nicht nur in der Öffentlichkeit, sondern auch innerhalb der GeschichtsWisscnschaft beruht weniger auf der Plausibilität von Grundsatzüberlegungen als auf Ergebnissen. Gelungene Weltgeschichtsschreibung ist (a) (b) (c) (d)
so forschungsnah wie möglich; muhipcrspektivisch, synthetisch, nicht additiv-enzyklopädisch,9 und kategorial konsistent auf der Grundlage einer universalistischen Begrifflichkeit (nach Art der Ma.x Wcberschcn).
Sie hat nur dann eine Chance auf ernsthaftes Gehör, wenn es gelingt, die Berechtigung genuin und unverwechselbar weltgeschichtlicher Fragestellungen nachzuweisen. Möglichkeiten ihrer konkreten Bearbeitung werden sich dann schon finden. (10) "Unmöglichkeit fur Einen Einzelnen. mit gleichmäßigem necht von allen Dingen zu reden, daher wir auf Manches gerne und offen verzichten werden.«10
8 Vgl. At. IV. LnviJ 11. K E. IV'!'"'. Tbc Myth ofConunents: A Cnuquc of Meusrobonphy. Ikrkelcy 1997. 9 Ein Beispiel rur einclI solchen EnzyklopJiidismlls wäre dic neue" ßrockh31lS Wcltb'Cschichtc.
6 Bde.. M31111heilll 1997. 10 J. lJurrklIQro/. Über d3S SlUdiull1 der Geschichlc. hg. v. P. GQ'~' München 1982. S. 122.
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11. Die Fragestellung, die im Folgenden skizziert werden soll, ist nicht willkürlich gewählt. An der politischen Bedeutung des Themas Sklaverei und an seinem Fortleben im historischen Gedächtnis vieler Völker dürfte kein Zweifel möglich sein. Man kann die Resultate eines der seit etwa drei Jahrzehnten vitalsten Gebiete der internationalen Geschichtsforschung nutzen. 11 Und nicht zuletzt handelt es sich mTI ein Phänomen, das bereits den Zeitgenossen auffiel. Einige der unentvvegtvergleichenden Asienreisenden des 18.Jahrhundens wunderten sich darüber, daß es im Orient trotz der überall verbreiteten »Despotie" so wellige Sklaven gebe; die schlimmsten Sklavenhalter in Asien - und das war vermutlich richtig beobachtet - seien die Holländer aufJava. Am nachdrücklichsten wies dann 1770 der AbbC Raynal in seiner vielgelesenen Geschichte .der heiden Indien« daraufhin, daß die Europäer in größtem Stil Unfreiheit in die überseeische Welt exportiert hätten. 12 Skizzieren wir also dic Zusammenhänge! Mit der Emdeckung, Eroberung lind Besiedlung der Europa zugewandten Küstcnzoncn des amcrikanischen Kontinents und der gleichzeitigen punktuellen Festsetzung von Europäern entlang der westlichen Küsten Mrikas entstand im 16.Jallfhundert als historisches Novum ein atlantischer Interaktionsraum. 13 Ähnliche kultufVerbindende maritime Räume haue es zuvor schon gegeben, vor allem die Mittelmeerwelt spätestens seitdem Auftreten der Phöniziersowie die Welt des Indischen Ozeans zwischen Mozambique, dem Persischen Golf lind dem Indonesischen Archipel.l~ Auch sie wurden durch Handel und Krieg, Migration lind kulturellen Transfer zusammengehalten und verdichtet. Auch hier strahlten dic meeresnahen Regionen und Metropolen tief in die angrenzenden Kominentalzonen hinein und trafen dort auf eigenständige kulturelle Kräfte. Nicht in einer einzelnen Nationalgcsellschaft, sondern in der adantischcn Welt des 16. bis 19. Jahrhunderts cmstand in einem diskontinuierlichen und widerspruchsvollen Prozeß die westliche Moderne. Das mag in solcher Allgemeinheit trivial klingen, birgt abcreine methodische Pointe. Es ist vollkommen statthaft, wie es oft geschieht, die Eigenarten des euro-amerikanischen Okzi11 Eine Bilanz dieser Forschung zieht S. Drnthu u. SI. L. Engmnan (Hg.). A Historical Guide tO World Slavery. NewYork 1998. 12 Vgl.j. 05fulialllmel. Die Enlzauberung Asiens. Europa und die asiatischen Reiche im 18. Jahrhunden. München 1998. S. 322-325; G. Rayrllli u. D. DU/mI. Die Geschichte bcider Indien. hg. v. H.:1. Lii.IdJrirlk. Nördlingen 1988. S. 206([ 13 Vgl. die anr~nde Forschungsbilanz und Problemsk.izze: H. I'irtschnumn, Geschichte des atlantischen SYSlems. 1580-1830. Ein histOrischer Versuch zur Erldärung der ..Globalisierung_ jenS<'its nationalgeschichllichef Perspek.tiven. I-Iamburg 1998. 14 Dazu etwaA. lfiu Gupla (l-Ig.).lndia and Ihe Indian Ocean: 1500-1800. Oxford 1987; R. Hall, Empires of lhe Monsoon: A History of the Indian Ocean and Its Invaders. London 1996; K MlllPlrmcm. The Indian Ocean: A History of Pcople and Ihe Sea, Delhi 1993.
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dents durch Vergleich mit anderen großen Zivilisationen (erwa dcr chinesischen, der indischen oder der islamischen) zu bestimmen und dabei Merkmalslisten aufzustellen, die das lIWesenlC und die lIBesonderheit..: des Okzidents erfassen sollen. Wenn man es nicht mit äußerster Delikatesse handhabt, bleibt cin solches kulturvergleichendes Verfahren indessen zu statisch und in Raum und Zeit zu ungenau. Auch lassen sich gegenseitige Beeinflussungen nicht leicht erfassen, da man fur den Vergleich lIreinell Typen benötigt. Und überhaupt: Historiker wissen nicht so genau, was die Dinge ihrer Natur nach sind. Sie beschreibcn lieber, wie sie werden und vergehen. Dafiir bietet der Atlantik seit Kolumbus ein faszinierendes Beobachtungsfeld. Reiche werden gestürzt. neue Gemeinwesen und Staaten gegründet. Menschen, Mikroben und Ideen überqueren einen Ozcan. Die Geschichten von Völker, die niemals etwas mitcinander zu tun hatten, verflechten sich. Im Rückblick von Historikern ordnen sich diesc verflochtenen Geschichten zu einigen großen prozessualen Linien. Zu ihnen gehört der Aufstieg der modernen Freiheit - oder, um es wcniger ideologisch und teleologisch zu formulieren: Aufstieg und Fall organisierter Unfreiheit. Damit ist das Thema der Sklaverei erreicht. Denn wenn erwas die atlantische Welt bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts zusammengehalten hat, dann war es die Sklaverci, ihre charakteristische, ihre einzige großräumig integrierende gesellschaftliche Institution. Durch ihre überseeischen Expansion nach Westen schufen Europäer am westlichen Atlantik Gesellschaften neuen Typs, die erwas anderes waren als bloße Kopien curopäischer Vorbilder. Eine dieser neuen Gesellschaftsformen war die egalitäre Siedlergesellschaft, wie sie in den Neuengland-Kolonien entstand, • eine andere die Sklavengesellschaft. Die Geschichte der Menschheit kennt zahlreiche Beispiele fur Gesellschaften mit Sklaven; in nahezu allen Zivilisationsräulllell hat es sie irgcndwann einmal gegeben. Neben den vielen Gesellschaften mit Sklaven finden sich jedoch nur sehr wenige ausgesprochene Sklavengesellschaften. In Gesellschaften dieses Typs ist Sklaverei nicht eine Arbcitsform neben anderen, sondern steht im Mittelpunkt der (oft großbetrieblieh organisierten) Produktion. Sklaverei äußert sich hier als ein weder durch Recht noch durch Herkommen begrenzter Arbeits- und Disziplinarzwang über Menschen, die als Eigentum betrachtet werden, also verkauft, verschenkt und vererbt werden können. Sklavinnen und Sklaven sind entwUrzelte Außenseiter, oft Kriegsgefangene. Sie sind lIsozial tot«, das heißt aus den Verwandrschaftsbeziehungen ihrer Herkunft herausgerissen und in ihrer neuen Lage bestenfalls auf Widerruf zur Familicngründung befUgt.l~ Die Beziehung zwischen Herr und Sklave ist das maßstabsetzende gesellschaftliche Verhältnis schlechthin und farbt aufalle anderen Lebcnsbereichc 15 Vgl. O. PllllffSOll. Slavcry :iIld Social Dcalh: A Comparative SlUdy. Cambridgc. Mass. 1982. S. 35fT. Zur "k.il1l~ssless« von Sklaven auch M. 1. Filllry. Ancicnt Slavcry ..nd Modern Idcology.
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ab. 16 Bilden Sklavenhalter in Gesellschaften mit Sklaven nur eine untcr mehreren Elit'egruppcn, so besirzen sie in Sklavengesellschaften ein unangefochtenes Herrschafts- und Gew:lltmonopol. Sie sind die herrschende Klasse. Diesen Fall hat es äußerst selten gegeben. Nur runfgenuine Sklavengesellschaften lassen sich dokumentarisch belegen: zwei davon in der Antike - im klassischen Griechenland und im Italien der späten Republik und des frühen Prinzipats. Die drei anderen entstanden in der atlantischen Weh der Frühen Neuzeit: in Brasilien, auf den Inseln der Karibik sowie im südlichen Teil Nordamerikas. 17 Diese drei vollkommen neuartigen, im 16. und 17. Jahrhundert geradezu künstlich krcierten Gesellschaften beruhten auf keinerlei vorgefundenen Strukruren. Dadurch unterschieden sie sich von einer konventiOllellercn Kalonialgcscllschaft wie derjenigen Mexikos. Don hane sich eine spanische Soldaten- und Administratorenschicht über die entmachtete und teilweise vernichtete aztekische Aristokratie an die Spitze einer fortbestehenden hierarchischen Sozialordnung gesetzt, so wie es Eroberer in der Geschichte immer wieder getan haben. Die Sklavengesellschaftcn des Westadantik hingegen waren das Ergebnis zielstrebiger Projektcmacherei, eines traditionsloscn Kombinationsexperiments, bei dem Amerika den Produktionsfaktor Boden, Europa Startkapital und Organisationsmacht und Mrika die Arbeitskräfte bereitstellte. Alle vier Ingredienzien vereinigten sich in einer Institution, die sowohl die Produktion wie das gesamte gesellschaftliche Leben dominierte: der Sklavenplantage. 18 Der Plantagenkomplex - d.h. die Betriebsfonn Plantage mit 3011 ihren Konsequenzen - entstand nach minclmeerischen Vorformen in der Grundidee bereits um 1500 aufdeli portugiesischen Azoren und den Kapverdischen Inseln. Schon d3m31s diente das neuartige Arrangement der Herstellung des wichtigsten interkontinentalen Exportgutes der Frühen Neuzeit, des Zuckers. Vom östlichen Atl3ntik gelangte der Plantagenkomplex um 1550 n3ch Brasilien, von dort wenige Jahrzehnte später in zielstrebigem Transfer durch niederländische Unternehmer auf die Antillen. Um 1630 war er voll ausgeprägt, zunächst auf dem englischen Barbados, das der Welt den Erfolg der neuen Betriebsform vor Augen stellte. Von dort verbreitcte sich die "Plantagenrevolurion« zu dcn übrigen englischen Karibikkolonien, vor allem dem 1655 in Besitz genommencn Jamaika, und zu den französischen Besitzungen Martinique, Guadeloupe und
London 1980. S. 75-77: D. B. /)Quis. Sl.:Iv~ry and Human Progress. NewYork 1984, S. 16f.. spricht von ottntr.roliryofderxination« und ~l1zenloscrSchutzlosigkeit als Grunderfahrun~n d~r SkJa'"C:II.
16 I. Bmin. Many Thousands Gone: The First Two Ccnruries ofSl.:lvcry in Nonh America. umbrid~.
Mass. 1998. S. 8.
17 Finlty. Ancicm Slavery. S. 9. 18 Ei~ Symhe5l." der umfangreichen li(Cr.rotur zur Bewbsforrn Pbn~ und ihren gc:scll. sduftlichen Konsequenzen ist P. D. Cwnin. Thc RiK and Fall ofthc Planation Complcx. Cam-
b..... '990.
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Saint-Domingue. 19 Um 1789 erzeugte Saint-Domingue mit seinen 8.000 Plantagen und 500.000 Sklaven allein zwei Drinel des französischen Außenhandels und war damit eine der einträglichsten Kolonien der Geschichte.2lI Bis zur Mitte des t 7. JahrhundertS hane sich die Pl.ant3gc auch im tabakproduzierenden Virginia buchstäblich eingewurzelt. Am Vorabend der nordamerikanischen Unabhängigkeitsrevolution von In6 findet man ungefiihr nördlich von Bahimore Gesellschaften mit Sklaven, südlich davon - außer in Virginia auch in North Carolina, Soum Carolina (dem späteren ideologischen Zentrum der Südsuaten) sowie Georgia - Sklavengesellschaften karibischer Art. Diese Systeme bestanden - mit Ausnahme von Saint-Domingue, wo unter extrem gewaltsamen Umständen die Selbstbcfreiung der Sklaven gelang lind 1804 der unabhängige Staat Haiti gegründet wurde2' -ungeschMcht bis ins 19. Jahrhundert fon. Die unter Historikern eingebürgerte Epochenschwelle der sogenannten »DoppclrevolutiolHI um 1800 hat fUr sie kaum eine Bedeutung. Gegen 1830 war ein weltgeschichtlicher Höhepunkt in der Verbreitung und Vitalität von Sklaverei erreicht. Das, von der Warte der Sklavenhalter gesehen, Goldene: Zeitalter der Südstaatensklavcrei in dcn USA begann überhaupt erst jetzt, als die europäische Frühindustrialisierung eine immense Nachfrage: nach ß:wmwolle erzellgte. Z2 Gleichzeitig machten sich indessen sklavereifeindliche Gegemcndcllzell nicht länger bloß literarisch bemerkbar. Nachdem bereits mit Wirkung von 1808 der britische Sklavcnhandel fur illeg;tl erklärt worden war, beschloß 1833 das britische Parlament dic Skl:wenbefreillng im British Empire, cine Maßnahmc, dic vorrangig die Karibikinseln und Südafrika betraf und erst nach einer Übergangsfrist 1838 wirksam wurde. 2J 1848 fiel die Sklaverei im französischen Herrschaftsbereich - eine wenig beachtete Wcltwirkung des europäischen Re19 ZlI HCl'2usbildung und Yerbrcltung d~r Plan~nwil'tSChaft vgl. B. L SoIcw (I-Ig.), Sla\'cry and th~ Risc of the Atlalllic SYSlcm, Cambridge 1991; R. BI«kbllnt, The Makmg of N~ World Slavcry. FrolTl lh~ ßaroque 10 Ihe Modern, 1492-1roo, London 1997. Kap. 1-7. 20 D. P. Gtg![Us, Th~ Haitian lltvoilltion, in; F. W. Knighf 11. C. A. /)11',"" (Hg.), The Modcm Caribbt;tll, Chapd Hili 1989, S. 21-50, hicr S. 21. 21 Ygl. w. L Bmttr'J.'tf'. Kleine Geschichte Haitis. Frankfurt ;t.M. 1996, S. 2-46. Grundlcb'Clld iSI C. E. Firk, The Maltingofl-l3ili: The S;tiTll-Domi"gllc ncvoilltion from ßclow, Knoxville 1990. ,1ußcrdem D. B. GllSf'Il' U. D. P. G~IS (Hg.), A Turbulent Tiilllc: Thc Gre31cr Caribbc:1Il in Ihc Agc of thc Frcnch and Haillall Itcvolutions. ßloomington 1997. 22 Ygl. zusammenfassend zur Henusbildung des .Antcbcl1um South.: P. KDkhirl. AlIlencan SI:l\'(~ry 1619-1877. wndon 1993. S. 930: 23 Ygl. W. A. GtmI. ßrimh Sbve Em"'l1<:ipalion: The SlIg:ar Colonies ",nd Ihc Great Experlmcnt. 1&30-1865. Oxford 1976: G. HtIlnl4rl, Th~ ßritish Wesllndits, m: W",. R. LouiJ (I-Ig.). Thc Oxford History of rh~ ßrilish EmpIre. Bd. 3. Oxford 1999. S. 470--493;}. FiNit, GeschKh~ Südafnlus, München 1990, S. 106. Die besle Gn1rmdarsldlungder Skhvcncnunzipation bis zur Mitte des 19. J;thrhllockns ist R. 8l.Jc«burn. Tht (h~nhrow of Colonial SIa\~ry 1n&-I848. landon 1988. Ygl. aoch R.J.Sron. Comparing Enuncipuions: A R~ Esuy. 111:JSH.Jg. 20. 1987, S. 565-
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volutionsjahres. 1865 brach die Südstaatcn-KonfOderation, der mächtigstc Sklavereistaat der Neuzeit, untcr kriegerisch-revolutionären Umständen zusammen - revolutionär zum Beispiel deshalb, weil die Pflanzeroligarchie des Südens als Verräterin an der Union betrachtet wurde und ihre Sklaven, anders als zuvor die Sklavellbesitzer im britischen Empire, entschädigungslos verlor. Schließlich endete 1886 die Sklaverei in der spanischen Kolonie Kuba, der Icismngsfahigsten Zuckerinsel des 19.Jahrhunderts. Zwei Jahre später wurden - die IctZ[e große EL"lppe der Emanzipation - die Negersklaven Brasiliens befreit. 24 Bedenkt man außerdem, daß 1861 mit der Aufhebung der bäuerlichen Lcibeigensclmft im Zaren reich in vieler Hinsicht sklavereiähnliche Verhältnisse beseitigt wurden, die etwa gleichzeitig mit der Einführung der Zwangsarbeit in der Neuen Welt entstanden 'warcn,lS dann wird eine der großen welthistorischen Tendenzen des 19. Jahrhunderts erkennbar: das Verschwinden des Gesellschaftstypus IISklavenhahersystcml<. David Brion Davis, der große Ideenhistoriker der neuzeitlichen Unfreiheit, übertreibt nicht mit seiner Behauptung: )I[ ... 1the progress of emancipation from the 1780s to the 1880s is one of the most extraordinary events in history.~ Sehen hat es innerhalb eines ähnlich kurzen Zeitraums eine ähnlich tiefgreifende Diskreditierungeincr lange nahezu unangefochtenen Institution gegeben. So fugen sich Aufstieg und Fall der atlantischen Sklavenhaltergcsellschaften zwischen etwa 1580 und 1880 zu einem Zyklus von geradezu klassischer Eleganz. Bei näherem Hinsehen findet man eine Vielzahl kleiner regionaler Zyklen, die sich dennoch einem epochalen GroßIlluster untcrordnen lassen: In der von Europa geprägten atlantischen Welt verbreiten sich im Zeitaltcr von Descartes und Leibniz Formen atavistischcn Arbeitszwangcs, die sich mit einer der - formal gesehen - rationalsten Umernehmcnsformen der Epoche, der Plantage, verbinden. Diese erreicht den Höhepunkt ihrer Ausbeurungseffizienz zur Zeit der europäischen Spätaufklärung, in Nordamerika sogar noch später: in einer Epoche, die in Europa als die Blütezeit des Liberalismus gilt. Nirgendwo verliert dieser Planugenkomplex seine innere Dynamik oder zer24 Vgl. R.J. &011. Slave Emancipation in Cub:a: The Transit;on (0 Free Labor, 1860-1891, PrincclOn 1985; R. E. COIlrlld. The Dcstruction ofßrazili:m Slavcry, 1856-1888, ßerkdey 19n; lJaJ. (Hg.). Children ofGod's Firc: A Document:r.ry History ofßlack Slavery in ßrazil, Pr;ncelOn 1983, S. 418-481. 25 Vgl. P. Kokhin, Unfrce Labor: American Slavery and Russian Serfdom, Cambridgc, Mass. 1987. Es ist eine von Ko1chins Thesen, daß sich die russische Leibeigenschaft seit der Mitte des 17. Jahrhundens zunehmend dner Form vonllChand slavery. angenähcn habe und die GemeinSoamkeitt'tl zwischen den ArbeitsVcrfassungcn iu Rußland und den Südsuaten größcrgcwesen seien als die Unterschiede (etwa S. 10, 41-46. Unterschiede: S. 359-363). Zur typologischen Abgrenzung vgl. SI. L. Engernllln, Slavery, $c:rfdom and Other Forms ofCocrced Labour: Similarities and Differcnces, in: M. L. Bluh (Hg.). Scrfdom and Slavery: Studies in Legal Bond~, London 1996, S. 18---41. 26 Davis, Slavery and Hum:m Progress. S. 108.
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bricht an seinen WidersprüchenY Auch wird er nicht das Opfer einer Invasion von außen, so wie im frühen 20. Jahrhundert die einheimische Sklaverei in Afrika oder Südostasien von den Kolonialmächten unterminiert werden wird. 28 Die Sklaverei endet im 19.Jahrhundertweder aus innerer Notwendigkeit noch aus äußerem Schicksal. Sie macht sich nicht selbst übernüssig, verdämmert nicht und wird auch nicht langsam und allmählich wegmodernisien. In Haiti und den USA verschwirldet sie in jenem apokalyptischen Tumult, den ihre radikalsten Feinde seit jeher ersehnten. In den übrigen Fällen wird sie durch politische Willensakte abgeschafft. Man hat es also mit zwei Bündeln von ErkJärungsproblemen zu tun: den Ursachen Hir den Aufstieg und denjenigen rur den Fall der kolonialen Sklaverei. Obwohl sich die Fachleute über beides alles andere als einig sind, sei dennoch hier eine eigene Sicht der Dinge umrissen.
BI. Unter welchen Umständen ent-"tandell die SkJavereisysteme des wesdichen Atlantik? Am Vorabend der überseeischen Expansion existierten in Europa zwar Gesellschaften mit SkJaven, aber nirgendwo Sklavengesellschaften. Plantagensklaverei wurde durch Europäer wiederbelebt, nachdem sie aus Europa selbst verschwunden war. Zu jenem Zeitpunkt, als der Plantagenkomplex in der Ncuen Welt Fuß faßte, gab es in den dynamischsten Welthandclsmächten, England und den Niederlanden, nur mehr bescheidene Reste von staatlichem und privatem Arbeitszwang, vor allem in Gestalt gewaltsamer Rckruticrungen zur Kriegsmarine. In Frankreich, das sich noch eine Weile die Einrichtungder staatlichen Galeerensklaverei leistete, verschwanden solche Rudimente bis zum Ende des Ancien regime. In Schottland wurden - als letzter Akt innereuropäischer Emanzipation - 1775 Bergarbeiter aus sklavereianigcn Arbeitsverhältnissen befreit. 29 Gerade diejenigen ostatlamischen Länder, in denen wirtschaftliche Entwicklung, Rechtssicherheit lind staatsbürgerliche Freiheit am weitesten fortgeschritten waren, errichteten am Westadamik die drückendsten Zwangssysteme. 27 R. W Foget, WithoUi Conscm or Comra<:l: The Risc ;lnd hll of Amerlc;lll Sbvery. New York 1989. resümierl d;ls lI;lhezu einmütige Uneil der Forschung: .Sbvery w:as profiuble. efficicnt. ;lnd economic;llly viablc both in the United Srntes and Ihe West Indies. whell it W2S destroyed (... ).• S. 410. 28 Zu den sehr unterschiedlichen Ausformungcn dieses Prozesses vgl. M. A. KJnll (Hg.). Bre;lking the Chains: Slavery. I3ond;tge...nd Em.. ncip..tioll in Modern Africa and Asi... Madison. Wisc. 1993. 29 VgJ. D. E/lis. The Rist' ofAfriallll SlavC'ry in Ihe Americas. C;lmbridgc 2000, S. 6.
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Erst mußten die Möglichkeiten einer profitversprechenden tropischen LandwirtSChaft fUr den interkontinentalen Export, die den neuen Konsumerwartungen in Europa - Qualm und Süße - entgegenkam, erbnm werden:lO Dann stellte sich das Problem der BeschatTung von Arbeitskräften. Die vorkolonialen Ureinwohner des amerikanischen Festlandes und der karibischen Inseln waren teils dem Mikrobenschock der ersten europäischen Invasionswelle zum Opfer gefallen, teils erwiesen sie sich als ungeeignet Hir jene Art straffer Regimentierung, wie sie die Plantage verlangte. Aufjeden Fallließcn sie sich weniger mobil einsetzen lind weniger leicht an der Flucht vor unerträglichen Arbeitsbedingungen hindern. J1 Außerdem war aus den großen spanischen Debatten des 16. Jahrhunderts über die Behandlung der amerikanischen Indios das Prinzip hervorgegangen, die autochthonen Bewohner der Kolonien, als Untertanen der jeweiligen europäischen Krone, nicht der Sklaverei zu unterwerfen. Siedler haben sich an diesen Grundsatz selten gehalten. Doch die Kolonialrcgierungcn, katholische wie protestantische, sind ihm im allgemeinen gefolgt. Dies galt sogar fur die Kapkolonie der Holländer, deren schwarze Sklaven nicht aus Südafrika selbst, sondern vorwiegend aus Madagaskar und Mozambique sralTImten.:U Eine andere Möglidlkeit wäre es gewesen, Europäer der Unterschichten zur Arbeit in die Kolonien zu schicken oder fur den Dienst in den Tropen anzuwerben. Das ist auch geschehen, etwa anfangs in Barbados, doch mit begrenztem Erfolg. Die VmkloVlmg von weißhäutigcn Europäern war am Beginn der Frühen Neuzeit kulturell unmöglich geworden. Freiwilligwollten sich aber Europäer nicht der mörderischen Arbeit auf tropischen Plantagen umcrziehen Afribner spätcr übrigens auch nicht. Ein Kompromiß war die schwächere Fonn der sogenannten _Indemur., bei der sich ein Arbeiter als Gegenleistung fur freie Schiffspassage fur eincn begrenzten Zeitraum zu nahezu ungemessenem Arbeitsdienst fureinen Arbeitgeber verpflichtete. Dieses Verfahren brachte nicht die gewünschten Ergebnisse und war insgesamt zu tcuer. Nachdem gegen Ende des 17. Jahrhunderts die Konjunktur in Nordwestcuropa anzog und die Löhne don kräftig stiegen, kam es nicht länger in Betracht..ll Als eine Alternative fast ohne Nachteile bot sich die BeschatTung von Arbeitskräften aus Afrika an. Dunkelhäutige Bewohner Afrikas waren bereits 30 Zur europiisdJ(~n Nachfrage vgl. S. W. Mint.;:: SwC'C'tness and Power: The Place ofSuglir in Modem History. New Vork 1985. S. 74ff.:]. Good",~m, Tobacco in Histo!)': The ClIltlirc ofDC'pendentC', l.ondOIl 1993, Kap. 4, 6; Dm.• Exdtanlia: or, How EnlighlellmC'nt Europe Taok 10 Sofl Drugs. in: Dm. u. a. (Hg.), Consuming HabIts: Drug; in Hisoory andAnthropology.l.ondon 1995. S. 126-147. 31 VgJ. J-l. S. KJrin. ThC' Atbmic Slave: Trade:. Cambridgoe 1999, S. 20. 32 Vgl. R. ROll, Cape ofTormC'nts: Slavery and Resistance: in South Mrica. l.ondon 1983. S. 13. 33 Wir fol~n hlC"r Eltis, Hise ofMrican Slavery, S. 262. Zu untt:rschc:ide:n ...on de:r friihne:uzeitlichen Indelllur ist dIe: Wiede:rbC'kbung dlc:sc:r Institution im 19. Jmrhundert. vgl. D. Nonhrup. Indmturrd Labor in thc: ~ oflmperialism, 1834-1922, Cam~ 1995.
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über den - vornehmlich die arabische Weh versorgenden - transsaharischen SkJavenhandei nach Europa gelangt, als Arbeitskräfte daher nicht unbekannt. auch wenn sie nördlich des Mittclmeercs nicht zu landwirtSChaftlicher »gang laboun nach dem Muster des antiken Rom eingescrzt wurden.>t Der transatlanfische Seeweg ermöglichte ein bedeutend höheres Transporrvolumen. Voraussetzung dafür war ein hinreichendes afrikanisches Sklavenangebot. Europäcr wurden zwar zu Sklavenhändlem, die bei der Überfahrt, der berüchtigten »middle passage« oft mit äußerster Herzlosigkeit vorgingen, aber sie taten so gut wie nie den Schritt, die Sklaven selbst zu fangen. J5 In Afrika gab es selbstverständlich bereits zahlreiche Gesellschaften mit Sklaven, ohne daß Sklaverei, die don, wosie existierte, keinesfalls bagatellisiert oder gar idealisiert werden sollte, die alles prägende Grundbcziehung der sozialcn Organisation gewesen wäre.lI> Erst die europäische Nachfnge intensivierte die Sklaverei auch im Inneren Afrikas; seit etwa der Mine des 18. JahrhundertS wurden sogar zahlreiche Kriege mit dem einzigen Ziel geftihn, SkJaven für den Export zu erbemen,:J7 Der transatlamische Sklavenhandel war daher von Anfang an eine kollaborativc Veranstaltung, bei der afrikanische Fürsten und Händlerdie lebende Ware beschafften und bei den europäischen HandeIsfaktoreien entlang der Küste anlieferten.,M Afrika lieferte verlJ.ßlich die in Amerika benötigte Muskelkraft und dies zu Preisen, die auffreicn Märkten ausgehandelt und den Afrikanern keineswegs diktiert wurden. J9 Die einheimische Dominanz auf afrikanischer Seite läßt sich als Zeichen der Abwehrstärke gegen eine europäische koloniale Invasion lesen. 40 Hätte diese Sti:rke gefehlt, dann wäre es unter Umsti:nden möglich gewesen, den Planugenkomplex in Westafrila oder 34 Vgl. IV. D. PhiDipsjr., SbV'C"ryfrom HOlmn Times tO thc EarlyTnn~t1:mticT~. Manchc-s~r 1985. S. 81-87: R.. A. Austm. Tnns· alunn Trade. in: Drr:K1tcr u. E"ft""'ln (Hg.). HIstonal GuKk. S. 367-370. 35 Zur afrikanischen Seite des Sklavenhandds n:Kh wk vor grundlegt'nd: A. IVin. SklavereI und bpialistischcs Weltsystem. Fnnkfun a.M. 1984. Kap. 2. 36 Zu Formen indigcner Skbvcrd in afribnischcn Gescllschaften vgl.). Thomfon. Afrin and Afrinns in the Making ofthe Atlantic World. 1400-1680. S. 72-97; P. E. Lm'9o'Y. Tnnsfonnations in Slavery: A HislOry ofSbvery;n Africa. C:uTlbridge 1983; P. Mllr",;ttg. Sbvcry and Mnan Llfe; Occidcnal. Or;cl1al, and African Slave Tooc:s. Cambridge 1990. 37 K1~in. Atlamic SIa\'C Tr;l.de. S. 58. S. 71 f. Ebd .. S. 90([. 103fT. lIbcl' die ;l.rribn;sche Kontrolle des Handels. 38 Eine weniger monlisiertnde als sozlalgcsdüchdich akzentulene Interpreation. die die Intercsscn vermiuclndt'r Kaufmannsgruppcn betont: ebd.• S. 54f. Thomlon. Afrio and Afncans. kommt zu dem Schluß: _( ... 1 we must :KUpt that Afrinn panlcipatioll in the slave trade W
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Angola anzusiedeln. 41 Wahrend des gesamten atlantischen SklavercizykJus gelangten elfbis zwölf Millionen Mrikaner in den Sklaven handel- hinzu kommt eine nicht schätzbare Zahl derjenigen, die bei der Sklavenjagd und beim Tnnsport zur Küste ihr Leben verloren. 42 Diese Menschen waren Opfer eines Massenverbrechens; Mrika als Ganzes 'war dies nicht. Ökonomische Argumente liefem notwendige, aber noch keineswegs hinreichende Gründe fur Plantagenwinschaft und Mrikanersklaverei. Sie hätten sich nicht durchgesetzt, wäre ihnen die VctOmacht der Ideen kraftvoll entgegengetreten - in der Weise etwa, wie letztcn Endes Juristen und Theologen der spanischen Spätscholastik die Anwendung des aristotelischcn Konzepts eines IInatürlichen« Sklavenschicksals auf die Indios Hispanoamcrikas vcrhinderten. Man muß hier die Paßgenauigkeit von Gewinnkalkül, ethischen Normen und kulturellen Wertoriemierungen besonders sorgfaltig bcdenken..o Die Wiedergeburt der Sklaverei war keine schlichte Umsetzung von Ideen in Wirklichkeit. Selbstverständlich hatte man in der Frühen Neuzeit die antike Sklaverei nicht völlig vergessen, doch man interessierte sich wenigdafur. Die bekannteste Sklaventheorie des Altertums, diejenige des AristoteIes, wurde selten zur Rechtfertigung der Afrikanersklaverei henngezogen, mhrend das römische Recht zwar als leere Muschclschale einer längst verschwundenen Institution die Denkmöglichkeit totaler Unterordnung konserviertc, aber nicht zwangsläufig zur praktischen Realisierung solcher Konzcpte fuhrte. Bis zum Ende dcs lB.Jahrhunderts, als sich abolitionistischc Stimmcn mehren. fallen weniger die Rechtfertigungsversuche der Sklaverei ins Gewicht als das Schweigen darüber. Sklaverei erschien nicht rechtfertigungsbedürftig zu sein. Eine vollausgcbildete Apologie der Sklaverei - sie sei ein Schurz gegen die Tyrannei des Mob, die Ganmie fur eine harmonische Weltordnung und überhaupt die einzige Möglichkeit, die Schwarzen zu zivilisieren - trat erst nach 1830 in der Publizistik der amerikanischen Südswten in Erscheinung."" Im Rückblick erscheint dies als eine Position der terminalen Defensive, fonnuliert zu einer Zeit, als die Delcgitimation der Sklaverei weit vorangcschritten war. 4 1 D~s I-I~uptproblcm Mue vemmtlich in der gesundheitlichen Unverträglichkeit Wescafribs rur Europäer gelegen. 42 11 Millionen: KI~in. Atl~ntic Sbve Tradl'. S. 129. 12 Millionen: D. Ruhardsoll. Volume of Trade in: Drothn' u. ElIgfflPUlII (Hg.), Historial Guide S. 389. 43 Zur Idttn~schichte des Thcm:as Skl~vt'rei in Eur~ vgI. D. B. /)QvU, The Problem of Sbvcry in Western Culture. Ith~. N.Y. 1966: E. Floig. Skbvt'rei. in: "listorisc.ho Wörterbuch der Philolophic. Bd. 9, D~nnsudt 1995. Sp. 976-985. 44 Vgt L E r~. Prosbvery: A Histof)' of thc Dcfensc ofSbvcry in J\mcria. 1701-1840, AthellS. G~. 1987. S.261 ff. Von der erzieherischen Wirkung der Skbverci sind im s~l(~n 19. und frühen 20. Jahrhundert auch noch jene Europäer überzeugt. die einen gegc.n uahische Skbvt'nhindkr und -tulter ß't'-nchtetC'n Emanzipuionsdruck ~hkhnen und die 'otwmdigkril der Afrila· nenkbvtrci betonen. Stimmcn zitiert B. l...nvis, Race ~nd Sbvery in the Mkldk Eut: An Historiol EnqUlry. NcwYork 1990. S. 82--84.
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InsgeS2ll1t gesehen, ist die Ideengeschichte nur von eingeschränktem Nutzen, wenn es darum geht, die neuzeitliche Wiederbelebung von Sklaverei in ihrer extremsten Form zu erklären. Die wichtigsten Ursachen waren wirtschaftlicher Natur. Bei einem bestimmten ZUS2mmentreffen von Nachfnge und Technologie, Landüberfluß und Arbeitskräftemangel, Zwangsmitteln und Gew:lltbereirschaft hätte es kaum ein anderes Result:u geben können. Gleichzeitig "\I3ren die nom13tiven Gegenkräfte zu schwach. Ein kulturelles Tabu keine abendländische Spezialität, denn die Christenheit hat es wohl vom Islam übernommen - unterS2gte allein die Versklavung von Glaubensbrüdern und Glaubensschwestern.·s Weder religiöse noch narurrechtliche Skrupel standen der Versklavung von NiclHchristen gegenüber. Die neuzeitliche Freiheitsidee, wie sie sich im 17. Jahrhundert in den fortgeschrittensten kapitalistischen Gesellschaften und Welthandelsmächten, den Niederlanden und England, herausbildete, implizierte einen sehr weit gcfaßten individualistischen Eigellrulllsbegriff ulld zugleich eine beispiellos scharfe Ausgrenzung von Außcnscitcrn. Dies machte sich schon im Raumbild bemerkbar. Dic Sklavengcsellschaftcn der Frühen Neuzeit unterschicden sich vom rypologisch benachbartcn Fall des antiken Italien dadurch, daß die Sklaverei ausgelagert und an die koloniale Peripherie verbannt w:.u, Die Produkt'e der Sklaven wurden in der Metropole konsumiert, die Erzcuger dieser Güterwaren unsichtbar. Der Sklavenhandcl spielte sich unter Ausschluß der Öffentlichkeit ab, nur selten von Beteiligten oder reisenden Augenzcugen geschildert. Die Mrikaner, die man in England oder Fnnkreich sah, waren keine Sklaven. Umgekehrt blieben die Sklaven selbst verborgen, oft S<>g3r ihren Eigentümcrn, die es sich als .absentee owners« aufsüdenglischen Landsitzen gut gehen lidkn. Innerhalb der atlantischen Kolonialreiche cmsund somit ein im Altertum unbekannter GegcnS2tz zwischen vollkommen sklavenlosen Metropolen und vollkommen von Sklaverei durchdrungenen Peripherien. Diese Polarität wiederholte sich in den Sklavengesellschaften der Nellen Welt. Der Sklavenstatus war, nirgendwo drastischer als in den englischen Kolonien, ein nahezu unentrinnbares Verhängnis.llldividuelle Freilassung, die MaIlUmission, so kennzeichnend rur Rom (aber auch für das portugiesische Brasilien), war ungemein sehen, eine rassische Kastenordnung die zwangsläufige Folgt:.~ Über einer Masse von Schwarzen, die..: keine: Bürger und noch nicht einmal Untenanen sein durften, thronte eine weiße Herrenkaste, die sich -wie 45 1m Isbm!?1t von Anf.mgan em ~lIt'rdlesSkla\'t'rt'lvt'rbol. das flur durch explizitt' Ausnahmen durchbroche.n werden durfte. Skbvt' war nur....."er von Skb\"enchem ;abst,unmle oder ;als UngUublger in elOt'mjiMd g('f;an~n wurde:. So lLwiJ, Race;and Sbvery. S, 6. Nichl-isbnusche Schucdx:fohlenc (dJrimml) durften Ilurverskbvt werden. wenn Ste rt'belllC'rtenoderdie Kopfsteuer nichl zahltt'll. llimil brxhte de:r Isbm ellle deutliche Vt'rbesS(:rung gegenüber der Antike. 46 Zu M;anumiss;on als Krilenum dito Hint' von Skbvert'ISYSlemen; DaviJ. Problem of Sbvcry. S. 5+-58; über die kkhtert' M;anumission in UlC'lrwtlCrila ebd.• S. 262-281.
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später die unter sich sehr demokratischen Buren Südafrikas -die Wohltaten der Freiheit gönnee."7 Im 18. Jahrhundert waren die Lebenssphären der Weißen in den britischen Kolonien AmeriIas die freiheitlichsten Gesellschaften der Welt. Man erkennt das an einem untrüglichen Indikator: der Stellung derJuden. Sie WlU in Virginia oder Barbados noch bedeutend günstiger als im vergleichsweise liberalen britischen Munerland. 48 Die Ausgrenzungslinien zwischen Eigenem und Fremdem \.vurdcn zunehmend nach ethnisch-rassischen Kriterien gezogen, Freiheit und Unfreiheit entlang dieser linien verteilt. Hinter konfessionellen Feindseligkeiten und nationalen Antagonismen verbarg sich eine ungewöhnlich starke ethnische Solidarität der Weißell..(9 Auch wenn biologische lehren vom unterschiedlichen WeTt der Menschenrassen erst seit dem späten 18. Jahrhundert deutlich formuliert wurden und Einfluß gewannen, waren frühneuzeitliche Vorstellungen von bürgerlicher Freiheit in eine dichotomische Rasscnordnung eingeschrieben. Wohlgemerkt: Diese Vorstellungen waren nicht in ihrer Substanz rassistisch, sondern nur in ihrem Anwendungsbereich rassistisch eingeschr:inkt. Eben deshalb bargen sie ein Universal isierungspotential, das über ihren friihneuzeitlichen Geltungskreis hinauswies und zum Ende der Sklaverei beitngen konnte.
IV. Das Ellde der Sklaverei sollte nicht als eine lineare Kette von Daten und Ereignisscn aufgefaßt werdcn, sondern als ein Prozeß, der sich ein Jahrhundert lang - von den achtzigerJahren des 18.Jahrhunderts bis zu den achtzigerJahren des 19. JahrhundertS - im Wechselspiel der Initiativen kreuz und quer über den Atlamik hinweg vollzog: ein ganz und gar nicht stetiger Prozeß, dem Vorstellungen von unaufhalts2mer Entwicklungslogik nur schwer gerecht werden. Allein der mit jedem Emanzipationsschritt geringer werdende Spielnum der verbliebenen Sklavenhalter deutet eine gewisse Richtung an. Damit scheiden zwei Erklärungsmuster aus: zum einen die Vorstellung, es handele sich um die zwangsläufige Entfaltung eines tief verwurzelten okzidentalen Freiheitsstrebens, zum anderen das Argument (das ausgerechnet von Wirtschaftshistorikern
47 In di~~m ZUS2mmenhang ist lange und heftig über dell .Palenlali~mus. der SkJa\"Cubcsilzer in dcn Südswten geslritt~n word~n. Di~ Grundposiliollen umrdlkn P.). PDrish. Slav~ry: I-li~tory aod HislorUn~. Ncw York 1989, S. 50-52: P. KDllhin, Die sooswtliche SklavefCI vor dem anlC'ribnisch~n Bürgcrlcncg und die I-lisloriker. Zur Dd»tt~ 1959-1988. in: GG.Jg. 16. 1990. S. 161-186. hier S. 174-176. 48 Vgl. EItis. Rist of Afrian Sb.\·~ry. S. 239-242. 49 Dies ist im Zusammenhang kollektiver Idcntiütsbikiungcn in d~r adantisch~n Wdt zu interpctrrcn. Vgl. N. OI/lIlY u.A. Pagtkn (I-Ig.). Colonialld~ntiry in lhe Allantic World. 1500-1800. Princnon 1987.
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entkräftet wurde) die SkJaverei habe sich ökonomisch überlebt. Man gelangt zu einer geschichtstheoretisch recht aufschlußreichen Beobachtung: Wenn wir es mit einem zykJischen Verlauf wie dem Aufstieg und Fall der SkJaverei zu tun haben, dann trifft nicht unbedingt ein und dieselbe ErkJärungsweise aufsänuliche Phasen des ZykJus zu. IUnn die Ökonomie die Entstehung der atlantischen Sklaverei recht gut erkJären. so bewährt sie sich wenig oder gar nicht bei der Rechenschaft über deren Unterg;;mg. 50 Es war ironischerweise eine falsche winschaftstheoretische Lehnneinung, die zur Diskreditierung der SkJaverei besonders wirkungsvoll beitrug: Adam Smiths tn6 geäußerte Überzeugung, freie Lohnarbeit sei per se produktiver und rur Unternehmer rent3bler als »gang labounc von SkJaven; Sklaverei sei weniger ein moralisches Übel als ein irrationaler Anachronismus und Atavismus. Sl Heutige WirtSChaftshistoriker glauben. diesen Satz bestreiten zu können. Aber er wurde zu einem Dogma des Abolitionismus, .Free Labor« zu einem der beliebtesten Schlachtrufe des Nordens im Amerikanischen Bürgerkrieg. Zu diesem Impuls kamen weniger nutzenorientierte Überzeugungen hinzu. Man kann sie unter dem Sammelnamen des 1t1-lumanitarislllUStc bündeln. Die machtvollsten unter ihnen, aber keineswegs alle, waren religiös motiviert, zuerst bei den Quäkern, die man die erste .international pressure group« genannt hat,S2 sodann beim IIEvangelical Revival..., jener protestantischen Erneuerungsbewegung des späten I8.JahrhundeTtS, der die Hauptvertreter des britischen Abolitionismus cntst3mmtcn. Anders als man mit Blick auf das heutige Gewicht von Menschenrechtsfragen vennuten möchte, wurde die einflußreichste Kritik an der Sklaverei nicht in der Sprache der Menschen- und Bürgerrechte vorgetr.lgen. Die amerikanischen und französischen Revolutionäre, die diese Sprache verwandten, kamen über die gespaltene Freiheitsvision des 17 .Jahrhunderts nicht eindeutig hinaus. Die Verfassung der USA wurde von Sklavenhaltern mit schlechtem Gewisscn geschrieben und war so unbestimmt gehaltcn, daß sie den weitercn Ausbau der Sklaverei im Süden nach der JahrhundcrfWende nicht verhinderle.5J Daß sich dennoch während der Revolutionsperiode die Lage der Schwarzen in den nördlichen Sta:lIcn, die nur Gcsellschaf[en mit Sklaven und keine SklavcngcscUschaften waren, deutlich verbesscrre, ha[ anderc Gründe, C'twa
50 Auch der undognuuschc Marxist Blalltbum venriu dic.-se These: _( 1slavery was not m:crthrown ror ccooomic reasons. buc b«auSC' it bcc3me politically unU~llabk (Ovenhrow. S. 520.
auch S. 522). 51 Zu Smuh: Davis. Problem orSb\~ry. S. 434.
52 Ebd.. S. 329. auch 292fT.
53 Die Vcrfassungselbst wucm mchßinniges Instrument: -( •.. 1tht- rramcrscrnted an openended document that. while ravonbk lO sbvny in rnany TCSpcctS. comaincd a reservoir of anmb· \"cry potellWI... So D. C. inndll. Promises lO Kttp: Afrian-Amcrica.ns and thc Constitutiolul Qr-der. In6-I989. Ncw York 1991. S. 13.
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den verbreiteten Einsatz schwarzer Soldatcn (die dazu natürlich frei sein mußten) im Unabhängigkei[Skrieggcgcn Großbritannien. Noch krasser waren die Widersprüche in Frankreich. Im Februar 1794 befreite der jakobinische Nationalkonvent die Sklaven im fr:mzösischen Kolonialreich und schickte ihnen - Alejo Carpentier hat dies in seinem grolhrtigcn Roman .EI siglo de las lucesec (I %2)504 wirklichkeitsnah dargestellt - mit dem Emanzipationsedikt zugleich auch die neue Errungenschaft der Guillotine. 1802 legte Bonaparte, bestrebt dem britischen Weltreich scin eigenes entgegenzusctzen, die Sklaven erneut in Ketten und gab sie ihren vonnaligen Besitzern zurück. Nur im aufständischen Saim-Domingue bm er zu spät. Auch ein Expcditionshcer von 35.000 Mann, von denen 20.000 am Fieber umbmen, konnte das künftige Haiti nicht fur Frankreich renen.» Eindeutiger in ihrer Bewertung der Sklaverei als die großen Rcvolutionen mit ihrcm Widerspruch zwischen Ideal und Realität war jene religiöse Empfindsamkeit, die sich in Großbritallnien geradezu als Reaktion auf die Französischc Revolution herausbildete. Nicht, daß Menschen ein allgemeines Recht darauf hätten, nicht gequält zu Wert/eil, war hier der zentrale Gcdanke, sondern, daß es sündhaft und moralisch verwerflich sei, Qualcn zllzlIfiigcn: also eine Ethik der heilenden Selbstreinigung und tatkräftigen Sühne, eher die lösung eines Tätcr- als eines Opferproblcms. Dieser Pcrspcktivcnwechscl, "vie ihn ohne religiöse Motive -als crstcr Molltesquieu 1748 mit dem satirisch verpackten Vorschlag angeregt hatte, sich einmal in einen Sklaven hineinzuver5Ctzen,56 erwies sich als außerordentlich h:mdlungsbcwegend. Nachempfindung und Mit-Leid - wichtige Themen auch in der keineswegs religiös grundierten Moralphilosophie der schottischen Aufklänmg-verbanden sich aufeine geradezu explosive Weise mit dem durchausegoisrischenlnteresse an den Vorzügen eines reinen Gewissens. Die Sklavenemanzipation ging nirgends (außer 1861 in Rußland und 1886 auf Kuba) aufdie Einsicht von Regierungen zurück... Mit Blick aufdas britische Abolitionsgesctz von 1833 sprach Alexisdc Tocquevillc zu Recht davon, es handele sich um eine Leistung der Nation, nicht ihrer Machthaber: !tU vcrite est que l'cl11ancipatioll des esdaves a ete, COl11me la rCformc parlcmcmaire,l'cruvre de la nation et non celle des gouvcrnants ..2' Unweigerlich war sie entweder, wie im Ausnahmefall Saint-Dol11ingue, das Resultat revolutionärer Selbstl11obilisiertlng der Farbigen oder der Mobilisierung außerparlamentarischer Öffent54 0.. von 1-1. Slicht u.d.T. _Explosion in der K:,uhcdnlc.. Fnnkrun ;a.M. 1m 55 Zur Entse:hcKlung \IOf11 20. M.:ai 1802 vgI. C. Wanqun.l...:a Fnncc et 12 premiere ;abolirioll 56. 56 lJbcr Montesquic:us Sicht der Skl.:a"'C'rei: CNvis. Problem orS12,,·cry. S. 4
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lichkeiten durch anfangs kleine Gruppen entsChlossener Sklavereigegner. Die Massenresonanz, die diese auch infolge neuartiger Agiutionstechniken faoden, vor allem in Großbritannien, verdankte sich nicht zuletzt dem Appell an moralische Empfindsamkeit und Schuldgefühl des Bürgers und vor aHem auch der Bürgenn, die hundenuuscnd&ch Petitionen unterschrieben. 58 Die Sklaverei war in jenem Moment dem Unterganggeweiht, als mit jedem Löffelgriffindie Zuckerdose das Seufzen der femen Sklaven zu ertönen schien. Die Zuckenbstinenz, die ndikale Abolitionistcn sich auferlegeen, ist das erste bekannte Beispiel fur den politisch motivierten Konsumboykott, wie man ihn in unserer Zeit etw' So äußerte sich im Entstehungsjahr des Textes t 740 der ami-absolutistische Affekt der Glorious Revolution; ltLibcny« meinte in der Sprache dieser Revolution die bürgerliche Freiheit der Rechtssicherheit und des Eigentumsschutzes und die politische der Repräsentation, schloß aber zugleich auch unausgesprochen die Freiheit ein, anderen die ihre zu rauben. Hundertjahre später war in Großbritannien und den Nordstaaten der USA aus der Maximc, Brit'cn oder (weiße) Nordamerikaner dürften keine »Sklaven« sein, die weiter58 Alldn 1833 wurden AllIi·Slclavcrt'j·Pclitionen an das l'arlal11enl mil 1.309.913 Umcrsdmf(eil versehen. C. Midglq, Womell againsl Slavery; Thc Brilish Campalgns. 1780-1870. London 1992. S. 67. 59 D. H. DoMld. Lillcoln. l.ondon 1995. S. 542 (.xcording 10 a family sIOry.). 60 Zur Formierung eines rnmatlantischen Ko~nsus vg!. C»vis, Slave!)' and Human ProgtnS. S. 23tH: 6t In der Sprxhe der amcnblllschen .patriots-vor ln6bedeulet:e .slavery. Ws Gegenteil von Konstitutionalismus. Vr).j. P. Rrid, ThcConcq)(ofli~ny in the!lgc oflhe Ameoon RcvoluoOIl, ChKagO 1988. S. 47ff. Über JamesThomson. den Dichter der Hymne, vgi. Suui, lGlul. Poems of Nations. AnthemsofEmplre; Enghsh Verse III Ihe Long Eighteenlh Cenlury. Clurkxtesv1lle 2000 (zur Meuphorik von -slavery.; S. 2-7)
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gehende und nunmehr mit praktischem Nachdruck verfochtene Forderung geworden, kein Mensch, niemand, solle als Sklave leben. Trotz der zahlreichen Greue! des zweiten Kolonialzeitalters ist es denn auch nach der europäischen Invasion Mribs in den achtzigerJahren des 19.Jahrhunderts nirgends zur Einftihrungvon Sklaverei als Rechtsinstitut gekommen. Der "WestenIl des 19.Jahrhunderts definierte sich - im scharfen Gegensatz sowohl zum antiken Republikanismus wie zum neo-klassischen der Frühen Neuzeit - als sklavenfreie Zivilisation. 62 Vordiesem Hintergrund gewinnt die Herausforderungdurch die Südstaaten der USA an weltgeschichtlicher Dramatik. Eine der ftihrenden Wirtsehaftsmächte der Erde konstituierte sich als unabhängiger Staat und bekannte sich auf dem Höhepunkt des liberalen Zeitalters selbstbewußt zu rassischer Ungleichhcit, Sklavcnhalterei und ciner Demokratie rtir wenige bei Rechtlosigkeit der vielen. Die Unabhängigkeitserklärungder KonfOderation vom 4. Februar 186 t war deshalb mehr als eine inneramen"katlistlle Angelegenheit. Sie war eine innerokzjdentale Rebellion gegen die gerade eben mühsam errungenen normativen Grundlagen des "Westens«. Man könnte den Amerikanische Bürgerkriegeinen der heftigsten Ilclashes ofcivilizationsll, die es in der Neuzeit gegeben hat - als einen verkappten Wcltbürgerkrieg interpretieren. Wäre die Sezession gelungen, so hat der Historiker und Ökonomienobelpreisträger Roben William Fogel spekuliert, hätte dies weltweit einen Rückschlag ftir fortschrittliche Kräfte und »a drive for aristocratic privilege undcr the nags of paternalism and the presctvation of order« bedemet. 6J
v Was also ist ein weltgeschichtliches Problem? Aufstieg und Fall der neuzeitlichen Sklaverei mögen als Beispiel dienen. Ein weltgeschichtliches Problem ist - um zum Anfang dieses Versuchs zurückzukehren - flidl/ ein Problem, das sich nur aufder Makroebene abhandeln ließe. Es geht nicht in schlechter Abstraktheit um nichts weniger als Jahrhunderte, Kontinente, Zivilisation. Die Sklaverei wurde hier gerade deshalb als Beispiel gewählt, weil ihre Erforschung, in Deutschland bum bemerkt, zu den Pionierfcldern einer Mikro-Betrachtung 62 Bereils Elias hai auf Sk.1avenl05igkeil als Merkmal der nachamiken europäischen Gescllschaft hingewiescn: .Es fehlte in der Gescllsduft des Abendlandes die billige ArbeilSkraft der Kriegsgefangenen, der Sk.laven._ N. Elitu. Über den Prozeß der Zivilisalion. Soziogeneiische und psychogcnetische Umersuchungen. Bd. 2. ßcrn 1969. S. 69. 63 FogtI. WilhoUI ConsclII, S. 414. Fegel t'rkt'1l1ll 185
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gehört. Sowohl in amerikanischen wie in afrikanischen Kontexten hat man lange, bevor man solche SichlWeisen aufdie deutsche und europäische Geschichte anwandte, die Handlungsinitiative (»agcncy«, wie es später heißen sollte) der Unterdrückten cntdeckt. Interviews mit und Autobiographien von frühercn Sklavinnen und Sklaven haben dabei früh einc große Bedeutung erlangt.64 Die Sklavereiforschung hat bereits seit Kenneth Stampps großem Werk aus dem Jahre 1956 von individuellen Erfahrungen und vom Alltagsleben bcrichtct,6S früh bedcutende Beiträge zur historischen Familien- und Geschlechterforschung geleistct,66 sich die Fragen von Identitätsbildung und -zerstörung gestellt, bevor dies Mode wurde,67 und sich zeitig mit der Anthropologie vcrbundcn.6il Aufkaul11 einem anderen Gebiet der internationalen Geschichtswissenschaft sind so früh, umfassend und erfolgreich Studien über kleinräumige Gemeinschaften und »face-to-face imeracrion« betrieben worden - von Untcrsuchungen einzelner karibischer Elitcgruppen, wie sic schon in dcn zwanziger Jahren entstanden 69, bis hin zu Analyscn der ganz konkreten Vorgänge und Erfahrungen aufSklavenmärkten. 7il Übrigens haben sich Historiker der Sklaverei auch früher als viele andere sozialwissenschaftlicher Konzepte bedient und sie kreativ weiterenrwickelt. Am Fall der britischen Karibik ZUI11 Beispiel sind die Theorie der l11ultiethnischen lIplural society« entfaltet, der soziologische Be-
64 Vgl.j. W. ßlassillgartU'. Using the Testimony of Ex-Slavcs: Approaches and Problems. in: Journal ofSQlllhcrn l-lislOry.Jg. 41.1975. S. 473-492; W. L A"d,t.'ll/f. 1'0 Tell a Free Story: Thc FirSI Celllury ofAfro-Amcric.an AUIObiogr.aphy. 1760--1865. Urbana, 111. 1986. 65 KM. Stampp. Thc Pcculiar InSlitution: Slavery in lhe Amc-IkIlUln SoUlh. New Vork 1956. Ein geogr.aphisch weit ausgreifender rcpräscm:lliver S.ammclband iSI SI, 1'01,";/ (Hg.). Sl.ave Cu 1tures and the Culturcs ofSlavcry. Knoxville 1995. 66 Klassisch: H. C. CU/mall. The B1ad:: Family in Slavery and Freedom, 1750-1925, New York 1976; neuerdings elWa L. E. Hlld$OIIJr.• To H.avc and 10 Hold: Slave Work and Family Work in Ante-Bcllum SOlllh Cuolin.a. Athens, Ga. 1997; B. E. S'","lSOlI. Life in ß1ack and White: Family and COlllmunity in lhc Slave South. New York 1996: D. C. Whitt. • Ar'nt I .a Woman?« Femalc Sl.avcs in thc Pl.ant.atioll SOUtli. Ncw York 1985. 67 Das Problcm von (wie viele heUle s.agen würden) .ldentitilSbildulIg« umer dcr Sklaverei findet sicb bereits bei den b'1'oßcn schW2rzcn BürgeITCehtsautoren des 19. Jahrhunderts, Cl'ov.a Frederick Dougl.ass und Bookcr T. Washington. dan.ach bei sozial- und kulturhistorischen Pionieren wie Slampp und Genovesc. Spoiler ('twa M. S.>btl, The World They MJde TOb'Clher: Black ;ll1d Whil~' V.alucs in EightCl:nth·Ccntury Virginia, Princeton 1987; SI. S/lukq. Slave Culture: Nationalist Theory and the Foundalion ofßlaekAmcrie.a. Ncw York 1987; üocr .slavcholdcr idemity« vgl. etw.a). R. }~OIl'lg, Domcsticaling Slavery: The Master Class in Georgia and Soulh Carolina. 16701837, Chapcll-lilll999, 68 Anl ocbnntesteTl in DeutSChland wurdc C. MrilUwoliX. Alllhropologie der Skl.averei, Fr2nkfun .a.M. 1989 (zucrsl Paris 1986). Maßgebend bleibl weiterhin 1'alltrSOlI. Slavery and Sodal Dc.alh. Schon einer der Pioniere der Skl.avereiforschung, der Holländer H.j. "'",botr. W2r Ethnograph: vgl. sein Werk Sl.avery as all Industrial System: Ethnologieal nescarehes. New Vork 1900. 69 Das PioniC'rwerk W
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griff der Anomie exemplifizien und die Idee sozialer ltKreolisierung.c ausge2Tbeitet worden." Ein weltgeschichtliches Problem läßt sich also nicht durch die Generalisierungshähe seiner Belundlung definieren. Ein großes Problem verlangt nicht unbedingt eine pauschale Antwon. Die weltgeschichtliche Betrachtungsweise darf daher keinesfalls mit leichtfenigem Verallgemeinern verwechselt werden. Es sind vielmehr vier Merkmale, die eine Fragestellung als weltgeschichtlich auszeichnen. Erstens geht es- Historikern als Spezialisten für Ver.inderung liegt diese Sichrweise nahc- um Krisen (in dem weiten Sinne, dcn Jacob Burckhardt diesem Begriff gegeben hat), Umbrüche und tektonische Verschiebungen, die auch dann eine große Zahl von Menschen in ganz unterschiedlichen gesellschaftlichen Zusammenhängen berühren, wenn ihre Ausgangspunkte eng 10kalisierbn sind. Werden Genesis und Wirkung zusammengcdacht, dann ist die Entstehung des industriellen Kapitalismus kein Thema allein der britischen, die Französische Revolution keines nur der französischen, die nationalsozialistische Machtcrgreifung keines ausschließlich der deutschen Geschichte. Wahrend Historiker sich in vielen Situationen vor der teleologischen Falle des Wissens um Folgen hüten müssen und gut beraten sind, den Sinnhorizom der historischen Subjekte verstehend zu erfassen, also etwa die Geschichte der vorletzten Jahrhundertwende nicht auf den Fluchtpunkt t 914 hin konstruieren sollten, macht die weltgeschichtliche Betrachtungsweise aus dieser Not eine Tugend. Sie bekennt sich zur nachträglich tieferen Kenntnis und Einsicht des ChroniSten und lotet die Wirkungen und WirkungspOlcntiale des Geschehenen umfassend aus. Weltgeschichtlich fragen, heißt sich flir zeitliche wie räumliche Nah- und Fernwirkungen von Ereignissen und Prozessen zu imeressie ren. Die Summe ihrer Wirkungen macht jeweils deren ltwelthisrorische BedeUlung.c aus. Es liegt daher ganz in der Logik eines universalgeschichtlichen Zugriffs, daß Robin B1ackbuTIl, der bedeutende Symhetikcr der neue ren Sklavereiforschung. zuerst sein Buch über das Ende und erst danach eine Darstellung des Aufstiegs der ncuzeitlichen kolonialen Sklaverei schrieb und veröffcmlichte. n Zweitens ist .. Raum.c fur weltgeschichtlichc Problemstellungen eine abgeleitete, eine sekundäre, eine abhängige ollalytisdle Variable. Solchc Problemstellungen gehcn nicht von deutlich umgrenzten Raumeinhciten aus, wie Landesund Regionalgeschichte, Nationalgeschichte oder selbst ci ne sich selbst als
71 Vgl. M. G. Smilh. Somc Asp«ts ofSodal SuuetUK' in mc Bnush uribbt:an aboul 1820. in: 5«la1 and Economlc Smdies. Jg. I. 1953. S. 55-79: fkrJ.• Thc Plural SocICty 111 I~ Bnrish Wtst Indits.lkrkdry 1965: O. PattasoPl. Thc SociologyofSbvcry: An Analysis of mc Origins. Dc..-dopII1CIlt and SmICUlK' ofNcgro Sbvc Socicty in Jamaica. London 1%7: E. Bra/hwai/t'. The DcvdopIllCIlt ofCrrole Socicty 1Il J:muica. In()..1820. Oxford 1971. 72 Vgl. Bl.:ukbum. Ovcrthrow: JAß.. Making.
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räumlich unproblematisch empfindende Geschichte Europas dies oft unwillkürlich tun. Sie sind offen dafür, wie sich Wirkungsketten ihre eigenen Raumzusammenhänge schaffen. Besonders deutlich läßt sich dies an kolonisierenden und reichsbildenden Expansionsvorgingen erkennen. Auch ist es kein Zufall, daß sich weitblickende Historiker - in unserer uit etwa Fem:md Bnudel, K. N. Chaudhuri oder Oscar Spate - immer wieder von maritimen Großräumen angezogen fUhlen. Solche Räume sind wenigcrdurch feste SWts- und Zivili~ tionsgrenzen strukturien als durch variable Gegensätze zwischen Küste und Binnenland. Der Atlantik, als Naturraum seitjehergegcbcn, wird erst durch die Eroberung und KolonisierungAmerikas und die Inkorporation Afrikas vermittels des Sklavenhandels zu einer historischen Interaktionsarena. Weltgeschichte hat es mit der Entstehung und Entwicklung solcher Illler.lktion~rcnen zu tun. Da Eroberung und Krieg dabei von größter Bedeutung sind, kommt sie ohne Militärgeschichte nicht aus,n aber ebensowenig ohne eine Geschichte der biologischen Artenverbreitung und der ltunification microbienne du mondeI durch Krankheitserreger.7~ Aus dem zweiten Punkt ergibt sich, dn·ttetts, daß eine weltgeschichtliche Problemstellung nicht ein nationalhistorisches ltNamuivI zum Ausgangspunkt nimmt, sondern ein kategorial faßbares Phänomen von potentiell universaler Wirkung und Verbreitung. Auch dafür ist die Sklaverei ein gutes Beispiel, zumal sich hinter ihrer Geschichte fundamentale Fragen von I-lierarchisierung, Exklusion, Gewaltausübung und nonnativelll Selbstenrwurf von Gesellschaften verbergen. Andere Themen liegen aufder Hand: Kapitalismus, Konstitutionalismus, der moderne Verwaltungsstaat, usw; Vimt'1JS ist keine andere An der GeschichtsSChreibung in höherem Maße der Gefahr der Trivialisierung durch Deskriptivismus ausgesettt als Weltgeschichtssehreibung. Bunte und exotische Bilderbögen aufzublättern, ist fur sie kinderleicht. Die Anthropologisierungder Geschichtswissenschaft, im Prinzip ein großer Fonschritt, kann dann in eine Sackgasse fuhren, wenn sie aufhalbem Wege steckenbleibt, anders gesagt, wenn sie das Interesse am ltFremdenl weckt, ohne dieses Interesse von der miterlebenden Empathic zur distanzierteren Analyse zu läutern. Demgegenüber muß darauf beharrt werden, daß ein weltgeschichtlichcs Problcm als Erkliinlllgsproblem gef3ßt werdcn solltc. Gefragt wird nach dem Warum von Ereignissen und Prozessen wehhistorischen Formats, nach Ursachen, Gründen lind Motiven.Je klarer kausale Zusammenhän73 Vgl. dk grolkn Übc'rblickr bd IV. H. !\feNnJI. Tbc Pursuit ofP()W("r: Technology. Armrd FOf'CC.•mdSocKry.sira AD. 1000.Oxford 1983J. 8l«lf. Wuand thc Workt: Mlhary P~r aud W Fa~ ofComi~nts 1450-2000. New Havr:n 1998. 74 ~il W H. MeNrilJ. P!agues and Peoples. Oxford 1977. l"il dazu ei~ immnlsc Lite.r.uur entsanden. Vgl. neuerdings die klug abwSgendc: DiskussKm bei). &dltau. Natur und Macht. Eine We1~hichte der Umwdt. München 2000. $. 182fr (etwa $. l88ff. über A1frrd Crosbys bdunntes Konzept des oökolog;schen Impcrialismuso).
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ge zumindest hypothetisch dargelegt werden, desto erfolgreicher beweist Geschichtswissenschaft - will sie sich nicht damit begnügen, zu unterhalten oder ...kompenSdtorischtc Sinndefizite zu therapieren 7S - in der heutigen Wissenschaftskultur ihre Daseinsberechtigung. Es dürfte kein Zufall sein, daß Jarcd Diamond, der vielleicht beste kaus.alanalytische Universalhistoriker unserer Tage, gelernter Naturwissenschaftler ist.16
Epilog Es gab im frühneuzeitlichen Europa ein großes Land, in dessen Staaten Afrikaner - trotz aller Alltagsdiskriminierung - als freie Menschen leben durften, in dem es keine mächtige Pflanzerlobby gab und aus dessen Häfen keine Sklavenschiffe ausliefen. Dieses Land war Deutschland. Es wird Zeit, sich mit ihm zu beschäftigen. Der englische Philosoph Richard Mervyn Hare beginnt 1979 seinen Essay »What is Wrong with Slavery?lI mit der gelassenen, aber den Leser schockierenden Bemerkung, er wisse wovon er rede, denn er sei selbst ein Sklave gewcsen. 77 SclbstversL1ndlich kommt der namhafte Ethiker nicht dorther, wo man auch im 20. Jahrhundert - vielfach bis heute - noch Sklaverei findct. 18 Es haue ihn nicht vor 1962 (als dort die Sklaverei rechtlich abgeschafft wurde) nach SaudiArabien verschlagen, er war kein Schuldknecht in Indien oder Brasilien gewesen und auch nicht zu härtester Kinderarbeit mißbraucht worden. Hare, so teilt er einige Seiten später beiläufig mit, gehörte zu einemjener Kommandos britischer, australischer und niederländischer Kriegsgefangener, die 1942/43 rlir die Japaner eine Eisenbahn durch den burmesisch-siamesischen Dschungel bauen mußten;jeder vierte überlebte diesen Arbeitseinsatz nicht. 79 Ware der Philosoph zur gleichen Zeit als Russe in die Hände der DeutsChen gefallen, hätte ihn Ähnliches und womöglich noch Schlimmeres ereilt. Wenn man genau liest, dann sagt Richard Hare, er sei nur "in 30 manner of speakingll, gelltisJemlO.ßetl also, ein Sklave gewesen: bloß vorübergehend und, formal gesehen, im Status eines Kriegsgefangenen. Die Rechte eines Kriegsgefangenen, also ecwa die Verschonung von Zwangsarbeit, waren ihm aber ver75 Das Nöti~ dnu bd]. Milltlstruß. Die CeisteswisSClIsch;lflclI im Systcm dcr Wissensch;lft. in: W. Fnihu'llIJ U.;I.. Ceisteswisscllsch;lftell heutc. Eine Denkschrift. Fnnkfun ;I.M. 1991. S. 3139. 76 VFJ.J. Dumwru/. Guns. GernlS ;lnd Sted: The F;I[CS ofHum:m Soc:letics. london 1997. R. M. Harr. Wlut is Wrang wlth Sb~ry? in: T. L l.Dtt (Hg.). SubJuguioll :md Bon
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weigen worden, und er hane sich in der gelebten und erJinenen Situation nicht nur älmfid, wie ein Sklave, sondern als Sklave gefühlt. Vor einer solchcn Erfahrung versagen spitzfindige Definitionen. Ob man die Gefangenen der Kaiserlich-japanischen Armee oder die Insassen so~etischer oder chinesischer Straflager als ltSklavenll bezeichnen kann, ist von sekundärer Bedeutung und ohne Konsequenz. Geht es um das Leidensmaß, dann läßt sich sagen, daß die verschleißende Brutalität der alten Sklaverei, die im schlimmsten Fall Schonung nicht kannte, immerhin vor dem Gedanken einer planmäßigen »Vernichtung durch Arbeit\( halt gemacht hatte. Dcr Sklave war eine Investition, der man zumindest ein Minimum an werterhaltender Sorge zuteil werden ließ und der der Buchstabe des Gesetzes ein Minimum an Schutz gewähne. In den amerikanischen Südstaaten wurden nach dem Versiegen der Zufuhr frischer Sklaven aus Mrika schwarze Arbeitskräfte zuweilen geradezu gehegt und gepnegt.lll Eine wichtige Besonderheit sklavereiartigcr Zwangsarbeit im 20. Jahrhunderts besteht darin, daß sie post-emanzipatorisch ist. Sie wurde in Ländern und Zivilisationen (etwa auch in Japan während des Zweiten Weltkriegs und in China unter dem Kommunismus)lll wiedereingcflihrt, in denen sie bereits abgeschafft worden war. Injedem Fall trat sie zu cincm Zeitpunkt in Erscheinung, zu dem die moralisch-politische Ablehnung der Sklaverei durch Eliten und Öffentlichkeit des Westens um ihre völkerrechtliche Ächtung ergänzt worden war. Dies war spätestens durch die internationale Konvention gegen Sklaverei von 1926 geschehen, auch wenn man sehen muß, daß gegen residuale Formen VOll Sklaverei in den Kolonialgebieten nicht immer mit der nötigen Entschlossenheit vorgegangen wurde. lU Damit kommen wir zu Deutschland. Elfbis zwölf Millionen Afrikaner wurden während dreier Jahrhunderte in die Neue Welt verschleppt. 9,5 bis zehn Millionen ausländische Zivilarbeiter und Kricgsgefangene (KZ-Häftlingc in Konzentrations-Stammlagern und Außen lagern, in der letzten Kriegsphase ebenfalls in großem Stil zur Arbeit eingesetzt, nicht gerechnet) arbeiteten während der sechs Jahre des Zweiten Weltkriegs innerhalb der Grenzen des Deut80 Dics läßt sich auch dann s;agt"Il. wenn man sich von iiberlricbclll'l1 Vorstdlllngt'n fiber dil· kuhllrclle und familiale SclbsllX'stimlTlung der Sklaven femh3h. Vg!. zur KonlTovcrS(': KoItI,i". Siidswtlicbe Skl.:wcrei. S. 162-169. Einen plausiblen Mittelweg veTlTiu ein sozi.:llhislori.scher Klas· siker: E. D. Gt'II01lt'st'. noll. Jordan noll: Thc World the Sla\"cs M.:lde, New York. 1972. 81 Vgl. ß. Monill,Japani.sche Kriegsverbrechen und Verniclilungspr.aktikell wiihrend des Pazifischen Krieges (1937-1945). in: D. Dahlmmlll u. G. /-fjfS(Jiftld (I-Ig.), uger, Zwangsarbt·il. Vertreibung und Deportation. Dimensionen der M:a.ssellverbrechen in der So\~eulllion und in DeutsChland 1933 bis 1945, Essen 1999, S. 133-151 J..L. Damtt/MIl, Der vergessene Archipel. Gefallf,'1liss<: und Lager in der Volksrepublik Chin.:l. dt. v. C. ungcndorf, J-1amburg 1995; H. J-l. W/l, uog:ll: Thc Chinese Gulag. ßoulder, Col. 1992. 82 Eine wertvolle Fal1smdie iSI M. A. K1dn, Slavery and Colonial Rulc in FreIIch Wesl Mric.:!, C.:llllbridgco 1998: Ihl'Orelisch wichlig zu Sklaverei und vcrgleichbuen Fällen: E. A. Nodrlmmm. Global Prohibilion Regimes: The EvolUlion of Norms in IlIIemaliOIl.:ll Sode!)'. in; Inlematioll.:ll Organizatioll,Jg. 44, 19'Xl, S. 479-536.
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sehen Reiches 83 unter grausamsten Umständen fur ein System, das einer seiner Urheber, Albert Speer, selbst als "Sklavenstaattc bezeichnet hat. 1l4 Ulrich Herben, der beste Kcnner dcr Materie, urteilt: liDer nationalsozialistische IAusländer-Einsatze zwischen 1939 und 1945 stellt den größten Fall der massenhaften, zwangsweisen Verwendungvon ausländischen Arbeitskräften in der Geschichte seit dem Ende der Sklaverei im 19.Jahrhunden dar.~ Das einzige große Land Europas olme historisches SkJavereiproblem wird im 20. Jahrhundert zu einem Sklavenhalter sondergleichen. Dieses Paradox ist zunächst nichts als ein rein deskriptiver Befund. Anders als Spanier, Portugiesen, Niederländer, Engländer und Franzosen besaßen dic Deutschen während der Frühen Neuzeit keine überseeischen Kolonien, in denen sie die Sklaverei hätten einfuhren können. Hätten sie die Chance dazu besessen, dann hätten auch sie in tropischen Besitzungen Sklavereisystcme errichtet; es gibt nichts in der älteren politischen Kultur der Deutschen, das derlei verhindert hätte. Anders als das Zarenreich wurde Dcutschland nicht insgesamt, sondern nur an seinem ostelbischen Rand zu Beginn der Neuzeit von der Etablierung der ))Zweiten Leibeigenschaft« erfaßt. ll6 Der größtC Teil Deutschlands nahm in seiner Agrarverfassung einen »westlichcn« Entwicklungsweg. Unter den vorwiegendcn grundheITschaftlichen Verhältnissen war der deutsche Bauer kein leibeigener und Quasi-Sklave. Man kann bei der Registrierung des Paradoxons stehcn bleiben: Die Deutschen, die in der Frühen Neuzeit nicmanden versklaven und selbst keine Sklaven sind, finden es in den vierziger Jahren des 20.Jahrhunderts möglich, Millionen von Fremden einem allen Rechtsnormen und "westlichen« Werten widersprechendcn sklavereiartigen Ausbeutungssystem innerhalb der eigenen Grcnzen zu unterwerfen, in zahlreichen der militärisch eroberten Gebiete Osteuropas ähnliche Verhältnisse einzuftihren und noch wesentlich weiter gehende Pläne zur Errichtung rassistisch begründeter Arbeitssklaverei nach einem gewonnenen Krieg zu schmie~ell.87 Zögert man, das Paradox als vollkolll83 Nach U. Hrrbm, Das Mi11ionenheer des modemen Sklavell5la:us. in: Frankfurter Allb'Cllleine Zeilung, 16. März 1999. S. 54. 84 A. S~r, Der Sklavenslaat. Meine Auseinanderscnungen mit der S5. Stungart 1981. 85 U. Herbm. Der llAusländcr-Eins:atZll in dcr deutschcn KricgswirlSChaft. 1939-1945. in: CRrJ.• Arbeit. Volkslum, Weltanschauung. Über Fremde und DeulSChe im 20.Jahrhundert. Fn.nkfurt a.M. 1995. S. 135. hicr S. 121. 86 Vgl. im Überblick: H.·U. Weh ,". DeutsChe Gcscllschaftsb'Cschichte. Bd. I, München 1987. S. 71-74. Vgl. auch gesanlteuropäische Deutungen dieses Prozesses. etwa P. AlIdn;JOlI. Lineagcs of the Absolulisl State, london 1974. S. 175ff.;]. B/llm. Thc End of the Old Order in Rural Europc. Princeton 1978, S. 38ft Es g:lb allerdings in einigen deUlschen Rechrskodices. elW;l in Bayern. Vorkehrungen rur exuemc Formen von l..cibeigenschaft. 87 Die b't'plame Versklavtlllgder unterworfenen Bcvölkerungdes OSlens muß im Zusammenhang noch weiter bochcnder Vernichtungspläne gesehen werden. wie sie in der Geschichle der atlantischen Skla"erei unbekannt waren. VgJ. zuletzt C. GtrlQ(J,. Kalkulierte Morde. Oie deutsche Winschafts- und VcrnichwlIgspotilik in Weißrußlalld 1941 bis 1944, I-Iamburg 1999. S. 44fT.
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men zufalligzu betrachten, sucht man also nach sinnhaften Zusammenhängen, dann ist zunächst Vorsicht vor Kurzschlüssen und Mißverständnissen angebracht. Selbstverständlich ist das Fehlen einer frühneuzeitlichen kolonialen Vergangenheit keine ursächliche oder dabei gar hinreichende Voraussetzung rur erltresselten Terror in einer neo- oder post-kolonialen Epoche; wäre es anders, dann hätten die Schweiz oder Schweden im 20. Jahrhundert zu Sklavenhalternationen werden müssen. Schon daher wäre weder eine Apologie des vormodernen Kolonialismus als Immunisierung gegen moderne Staatsverbrechen denkbar noch gar eine historisierende Entlastungdes Nationalsozialismus durch seine Einbettung in weltgeschichtliche Prozesse. Lassen sich also-vorbehaltlich gründlicheret KJärung- zumindest hypothetische Überlegungen über diesen eigentümlichen Aspekt eines deutschen Sonderweges - den Ubergang von Sklaverciabstillcl1z zu Massenversklavung anstellen? Mir scheinen drei Vermutungen nachdcnkel1swcn zu sein. Erstens ist die W1ssenschafts- und Diskursgeschichte hier zumindest symptomatisch aufschlußreich. Die deutsche Althistorie zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus hat, wie Moses Finley zeibren konnte, die Sklaverei bagatellisiert oder gar glorifiziert, sie mitunter sogar als unvermeidliche Voraussetzung hoher Kulturleistungen betrachtet. 88 Das bnn keineswegs als zeittypisch und selbstverständlich gelten, denn in Frankreich etwa war zuvor die Kritik an der kolonialen Sklaverei überhaupt erst der Anstoß für eine wissenschaftliche Beschäftigung mit der Sklaverei der Antike gewescll.~ Ein zweite deutsche Eigentümlichkeit war ein haraktermodell der Unerbittlichkeit und Härte, wie man es zum Beispiel in Großbritannien, dem L'lIld des Gentleman-Ideals, nur ganz selten findet und das in gewisser Hinsicht als die deutsche Antwort aufden englischen Gentleman gelten kanll. Vor allem Nietzsehe, die Nictzschcaner und die deutschen SozialdarwinisteIl haben in einer beispiellosen Weise Hohn und Spon über die angebliche »Sklavenmoral« des Christentums und überhaupt eines jeden Humanitarismus ausgegossen. Das Dritte ist eine noch weithin spekulative These: Außer in Rußland, wo eine - in der Durchfuhrung halbherzige lind unvollständige (»with the interest cf the masters at hean«)90 - Emanzipation der Leibeigenen 1861 vom Zaren 88 Vgl. Filllq, Anciem SlavC'ry :md Modem Ideei<>!,')', Kap. I. Finley rekonstruien C'ine wissen· schartliche und moralische Verfallsgt.'SChichte im ImcTV3tJ vom frühcn ThC'odor Mommsen (1854) zu Eduard Meycr (1901) und dessen deutschen Nachfolgtm. In diescm ZUSJ.mmcnhang wäre di!.' (durchaus ambivalentc) Faszination der AhhiSloriker durch Sparta zu beachten. Vgl. K Chri;f. SpaTlaforschung und Spambild, in: 1)1'1"5•• Griechische Ge.schidlle und Wisscllschaflsb'C.schichtc. Stutlg:m 1996, S. 9-57. 89 Dcr große HellTi Wallon. Verfasser der rnaßSl"ibliehen _Histoire de l'esclav2ge dans rArniquitc« (1847), war von einem surken abolilionistischen Impuls getrieben und schrieb sowohl über antike als auch tiber neuzcilliche Sklaverei. Er war Milglied der Kommission, die 1848 das definitive Emanziparionsdekrel fOrTlllllierte. 90 Kolthirr, Unfree Labor, S. 375.
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Alexander 11. unter dem Eindruck des verlorenen Krimkrieges dekretiert wurde, war die Abschaffung der Sklaverci mit großen öffentlichen Konvulsionen und Kämpfen, mit Protestaktionen und intellektuellen Debatten verbunden.'11 Die Deutschen haben niemals diese prägende kathartische Kollektiverfahrung der westlichen Demokratien durchlebt: die Erfahrung der Selbstbefreiung von einer Sklavenhaltervergangenheit. 92 Die großen abolitionistischen Massenkampagnen zwischen 1823 und 1838 rüttelten die britische Öffentlichkeit auf,ja, waren überhaupt das erste Beispiel fiir einen außerparlamentarischen Protest nicht der radikalisierten Menge, des städtischen »Mobs«, sondern großer Teile des gesitteten Bürgertums. Das Thema rief zeitweilig die bedeutendsten Denker, Prediger und Parlamentsredner des Landes aufden Plan. Es war aufs engste in eine politische Systemkrise ersten Ranges eingebunden. Nicht zufallig siegten die Abolitionisten 1833 mit dem Rückenwind der großen Wahlrechtsreform des Vorjahres, mit der der moderne britische Parlamcntarismus beginnt. »Anti-slaveryll wurde zum Symbol politischen Fortschritts, sozialer Rcform, moralisch-religiöser Erneuerung und nationaler Überlegenheit.'1) In Frankreich baute sich der Reformdruck langsamer auf, zunächst 'Nährend der zwanziger Jahre des 19. Jahrhunderts in intellehuellen Zirkeln, dann seit etwa 1840 mit größerer agitatorischer Emphase. Führende Köpfe engagierten sich Hir die Sache der Sklaven: Benjamin Constant, Tocqueville, Lamartine, Victor Hugo. Die Encrgien entluden sich dann aber 1848 umso heftiger. Die Sklavenbefreiung gelang, nachdem der Sturz der Julimonarchie das Signal zu Aufständen auf den Antillen gegeben hatte. Die revolutionäre Fraternitätsrhetorik von 1789 brach wieder hervor; die Sklavenbesitzer verloren ihre Bundesgenossen im Mutterland. Im französischen Fall fehlten die religiösen Beiklänge des britischen Abolitionismus. Doch die politische Entscheidung gegen eine unhaltbare Institution war nicht weniger deutlich, und die Erleichterungdarüber, daß das Land der Erklärung der Menschen91 Es gab Kritik von Illlel1ektucllcn ~n der Institution der Lcibeigcnsch~ft.~bcr keine M~ssen bewegun~1l gegen sie wie in Westeurop~ und den USA. Vgl. zu den Kritikern um die Mittedes 19. ]ahrhundens:J. BIll",. Lord ~nd Pc~sant in Russi~: From the Ninth to the Ninetttnth CClltury. Pritlceton 1961. S. 566-568: zur Emscheidungsbildung der Autokntie don S. 5nrr: 92 Auch individu~lpsychologisch ist möglicherweise eine Art von Selbstbefreiung die VOr.lUSsctzungdafiir. die eigt'ne Position kritisch zu betnchten und sich selbst wie die ~Gegt'nseite. nach den gleichen Kriterien zu beurteilen. 93 Einen ~nsch~ulichcn Eindruck von der Dynamik der ~bolitionistischen Mobilisicnll1g in Großbritannien vermittelt S. DrrKlltr. Dpiulisll1 and Antishvcry: ßritish Mobiliution in CoIllP~ r::n;ve Perspective. New York 1987. bes. K.:ap. 3-6. Zur Forschungshgc Dm., Trends in der Historiographie des AbolitioniSlIlus, in: GG.]g. 16. 1990. S. 187-21 \. Vgl. ~uch eine S~mmlung von DmtltOl Aufsänen: From Shvery tO Freedom: Comp~rat;ve Studies in the Rise ~lId F~lI of AtI~ntic Shvery. ßasingsloke 1999. Zur inneren Welt des Abolition;smus vgl. D. Turlq. The Culture of English Antishvery. 1780-1860, london 1991. zur Mobilisierung in der Anf~ngszeit:j. R. Oldfield, Popular Polit;cs ~nd ßrilish Mti-Shvery: The Mobilis~tion ofPublie Opinion against the SI~ve Tradc 1787-1807. M~nchcster 1995. bes. Kap. 4-6.
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und Bürgerrechte nun um eine Heuchelei ärmer sei. nicht welliger groß als das britische Pathos erfolgreicher Sclbstheilung.~ Vollends der Amerikanische Bürgerkrieg war ein Kollektivdrama gewaltigsten Ausmaßes, der Höhc- und Endpunkt cincs abolitionistischen Kampfes. dcr nahezu ein jahrhundert zuvor begollncn hane. 9S Nach einem in jeder Hinsicht kostspieligen Sieg über das Monstrum ~s1ave power~ im eigenen Landc. war die Rückkehr zur Sklavcrei ausgeschlosscn. Auch wenn überall Rassismus fortbestand. sich oft sogar noch verstärktc und es in den USA nach dcm Ende dcs Sezessionskriegcs beinahe cin jahrhundcrt dauerte. bis die Bürgerrechte dcr schwarzen Bevölkerung weitgehend durchgesetzt werden konnten, so läßt sich doch dies sagen: Ocr erfolgreiche Kampf gegen das Systcm der Sklaverei und fur desscn Opfcr hat in dcn westlichen Demokratien den halbierten früh neuzeitlichen Freiheitsbegriffvon BUrgerrechten f1ir ei"ige hin zu MenscIJmrechten fiir alle univcrsalisicrt und damit zugleich die Ergebnisse der früheren politischen Revolutioncn - 1688. 1776, 1789 - humanitär gehärtcL Erst 1832, 1848 und 1865 sind in diesem Sinnc die großen Revolutionen zum Abschluß gekommen. Gerade in dcrdeutschen Geschichtsschreibung. die begrciOicherweise kein Sensorium fur die Bedeutung der Sklavereifrage entwickelt hat, ist diese humanitäre Revolution der ersten Hälfte des 19. jahrhunderts wcnig beachtet worden:~6 Die Deutschen haben eine solche kollektiv eifalJrefle Entlastung und Selbstzivilisierung niemals erlebt; sie hatten keine Gelegenheit dazu. In die Versuchung, Kolonialisten und Sklavenhalter zu werden, kamen dic Deutschen nicht. Sic waren nicht gezwungen, das Thema der Sklaverei durchzuarbciten und hinter sich zulassen. So ging die humanitäre Revolution an Deutschland cbenso vorbei wie zuvor oder gleichzeitigdie politische. Die Sklaven frage blieb akadcmischcn Frivolitäten anheimgegebcn. Sie bewegte nicht die Herzen und nicht den Verstand. Die großen, vom Sk..Iavereiprob1cm ausgelösten Krisen im medizinischen Sinne. die den llbody politic~ in Großbritannien und Frankreich schüttelten und ihn in den USA an den Hand des Exitus trieben, Krisen, die schließlich in heilsame Erneuerung mündetcn, ergriffen die Deutschen nicht. Solcher moralische Immunschutz - oder anders: eine durch die Umständc 94 Vgl. ß/Ofkbllm. Qverlhrow, S. 482-512. 95 Vgl. ..ls Interpreution des GCSC. Der venllUllich bedeutendste deutsChe Sklaverei(}'gner ist Alennder von 1-1 um boldl gcwcsc:n. der die Sklaverei aufKuba bei zwei Aufenthalten 1800-1 und 1804 an Ort und Stelle ulltcrsucht haue und 1831 seine Studie darüber veröffentlichle: A. I'. Hllmboldl. Cuba~Werk. hg. v. H. Ikck. Darmst:ldl 1992 (= SlUdienausgabe. Bd. 3). Zu HUl11boldl als Kriliker der Sklaverei vgl. C. Millgu('/. Alcxandre de I-Iumboldl: Hislorien Cl gfugraphe de l'Arntriquc espagnole (1799-1804), Paris 1%9, S. 461-525.
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gewährte Chance kollektiven Lcrnens - hat ihnen aber beim Eintritt in die Turbulenzen des 20. Jahrhunderts gefehlt. Die deutsche Idee der Freiheit blieb blaß, abstrakt und sclbstbezogen, unbelebt durch das stärkende Gefiihl, auch einmal fiir die Freiheit A"derer gekämpft zu haben.
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Abkürzungen AHR AJS
WP ZfG ZIS
Americall Hislorical Review Americ:1.Il Journal ofSodology Archiv fur Kuhurgeschichte Americ:m Sociological Review Comparative SlUdics in Sociery ancl Hislory Foreign AfTairs Geschichte und Gesellschaft Geschichte in Wissenschaft und UllIerridu HispanicAmerican Historical Review HislOry of Europcan Ideas Historical journal Harvard journal ofAsiatic SlUdies Bulletin of the Institule ofHistorical Research History and Thcory HislOrische ZeitsChrift Internationales AsienforulTl International Review ofSocial History journal ofAsian Studies journal ofßritish Sludies jounl:.l.1 ofComcmporary History journal of Devcloping Socictics journal ofEconomic Hislory jounl:.l.1 ofEuropean Ecollomic Hislory Journal of the Hislory oflde3S journ:.l.1 ofHistorical Sociology journ:.l.1 oflmperi:.l.1 :.lud Commonwealth History Journal oflnterdisciplinary HislOry Journal of Peasant Studies journal ofSocial HislOry journal ofWortd l-lislOry Kölner Zeitschrift fiir Soziologie und Sozialpsychologie Modern Asian Studies Neue Politische literatur PaSI & Prcscm Politische Vierteljahresschrift Revue Historique Tel AviverJ:!hrbuch rur deutsChe Geschichle Tr;lIIS;lclions ofthe Roy:!l I-listorical Society VierteUahrcsschrift rur Sozial- und WirtSCh:!fls~schichte Wortd Politics Zeilschrift fijr Geschichtswisscnschaft ZeitsChrift fiir Soziologie
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uitsChrift ftir hislorische Forschung
AKG ASR CSSH
FA GG GWU
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I-I) I-IJAS HR H&T
HZ IAF JRSJ-I
JAS JßS JCH JDS JEH jEEH
JHI JHS JICH JIH
JPS JSI-I
JWH KZISS MAS
NPL P&P
PVS RH TAjB TRHS VSWG
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Nachweise
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14. Erstveröffcntlichung auf der Grundlage von Vorträgen am Max-Pl:l.IlckInstitut ftir Geschichte, Göttingcn, und an der Universität Konstanz. Eine wesentlich erweiterte und veränderte Fassung erschicn als _Sklaverei und die Zivilisation des Westens«, München 2000 (Carl Friedrich von Siemens Stiftung. Themen, ßd. 70). 37\
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Register Personenregister
Abdel-Malck. Anouar 252 Acosu.jose de 203 AClon. Lord Uohn Emerich Edward Dal-
bc,g> 115,117 Adas. Michael 36. 177 Addison,joseph 106 Adclung,johann Christoph 178 Adenauer. Konrad 335 Adshead, Samuel A.M. 28 Albert. prince consort 112 Albe:rtini. Rudolf von 285 AIC)Q.nder 1., Zar von llußland 298 Ale)Q.nder 11.. Zar von llußland 367 AI-Gabarti. ~Abdarrahman 264 Amin,ldi 317 Ancel.jacqucs 221 d'Anghera, Pelms Martyr 99 Anquctil- Duperron, Abraham-Hyacinthe 96 Amold. Matthew 149 Amold, Thomas I J8. 146 AutÜrk. Musufa Kcmal 55,279 Attila 136 Aurangzcb. Mogulkaiscr 193.273 Austen, jalle 250 Bacon. Francis 186 Bakunin, Michail A. 40 Banks, Sir joscph 200 Barth, Fredrik 208,210 Bartol'd. Vasilij Vladimlrovit 251 Bairoch, Paul 22 Bcckcr, earl Heinrich 251 Bcndix. Rcinhard 25 Bemham,jcrcmy 119, 141( Bemal. Martin 91
372
Berr. Henri 24 Beyme. Klaus von 333 Bhabha, Homi K. 256 Binerli, Urs 188.191, 207fL 218, 231,
248 Blackburn, Robin 361 Bloch, Marc 11-5,21,24([.32,35,56,
151,165,171-5 Boas, Franz 18 Bodin,jcan 156 Bolingbroke, Henry Saint-john, Lord
133 Bolivar, SimOll 313 Boorstin. DanielJ. 186( Boswcll,james 128 Botero. Giovallni 93 Bougainville. Louis Anloine de 101 Bracmbusschc.AnlOon A. van den 48.55 Braudei, Fernand 13(, 21, 154, 166ft.
179,181[,343,362 Breysig, Kurt 20.24. 151, 163( Brucc,james 201 Bry, The
Canning. Gcorge 315 Carlylc. Thomas 110fT., 118-22, 138f., 144, 140 Ca~l11i~r, A1cjo 357 Cancr.Jimmy 286.309,311 Castlereagh. Roben Stewart, Viscount
315 Cesaire. Aime 250 Cezannc,I>o.u1 159 Chamberlain, Houston Stewan 161 Champollion.Jcan-Fr:m~.ois 96 Chardin, Sir John 94 Charlcs 1.. König von England 125 Chaudhuri. K. N. 362 Chulalongkom, König von Siam 54 Churchill, Sir Winston Uollard Spencer
107,287 Clarendon, Edward I-Iyde, 1- earl of 12ot: C1:lvijcro. Francisco Javicr 102 Clcndinncll, Inga 247f., 263, 265 Clivc, noben 189, 199 Cobdell. Richard 305 COIlHC. Auguste 110, 161, 283 Condorect.Jean Antoinc Nicolas dc Cari13t de 100(, 178 COIlS13l1t, Benjamin 367 Cook.Jamcs 101, 183--6, 199fT., 204. 208 Cortes, Heman 185. 190, 203(, 245-8. 258[,306,317 Crefeld, M2ttin van n ( Cromwell, Oliver 119. 125, 143 Cunin, Philip O. In Cunius, Ernst 156 Dahlmanll, Dittmar 36 Dann,Ouo 324 Darwill, CharIes 110 Davis. Oavid ßriOIl 349 Defoe, Daniel 106 Debcroix. Eugene 314 D~mangeon, Alben 221 Demeunier.jean-Nicholas 17 Deval. Pierre 305 Diamond, jared 179f., 182. 363 Diu. Porfirio 54
Didcrot, Oenis 79,83 Droysen,Johann Gusuv 116 Dschingis Kahn 136 Durkheim, Emile 19,21, 159. 163, 178 Eiscnsudt, S.N. 25,32,52,54,57 Elias, Norben 65 Elisabeth 1., Königin von England
116,
125 F.moll, Frantz 252 FcbVTc, Lucien 165(, 212 Fcrguson, Adam 84, 100, 112. 127, 129, 132-9, 144, 178 Fcrnandez-Armesto, Fclipe 181( Fichtc,johann Gonlieb 161 Filler, Samuel E. 28 Finle:y, Moscs I. 366 Fischer,johann Eberhard 96 F1:luben, Gusuve 253 fugel, Roben William 359 Forbes, Duncan 123 Forster,johann Rcinhold 79, 129f. Forster, Gcorg 2oof. Foueault, Michel 117,252-5, 261fT. Francisci, Erasmus 93 Freyer, Hans 174 Fr6is,Lufs 15 Fuetcr, Eduard 99 Galton. Sir Francis 42f.,56 Gama, Vasco da 19()( Gandhi, Mohandas K. 89 Gattcrer,johann Christoph 94 Gaullc, CharIes dc 336f. Gcllncr, Erncst 30,151, 178f., 182,257f. Gcorgc 11., König von England 107 Gcorge 111., König von England 105 Gcorgios v.. Patriarch von K0l1s13mino-
pe1 314 Geyer, Dietrich 285 Geyer, Michael 1 Gibbon, Edward 11.76. 78(, 84, 94. 96, 101,112,115,118-22,135-41,148,172 Gilpin, Roben 34Q( Glacken, ClarcnceJ. ISS
n
373
(l()()<483?1
Gladstone. William Evnn 312 Gobincau, Anhllr dc 161 Gocthc.johann Wolfgang von 81,222 GOCtz, Waltcr 164 Goldstonc,jOlck 31-4.44(, 57. 62 Goody.jack 27.47.62, 77( Gramsci, Antonio 252 Green,john Riehard 108 Grew, ROlymond 176 Grousset, Rene n Guignes.joscph dc 96 Guizot, Frall<;ois 87 I-Iaeckcl. Ernsl 87 I-bkluyt. Iliehard 93 Hall.john A. 30 H21Ia01,I-lenry 107(, 112, 115. 118. 120(. 125 l-bmann,joh2nn Georg 105 Hamihon, G2ry G. 31 Hare, Ilichard Mervyn 363 Harrington,jamcs 124, 133 I-lastings. Warren 199.303 I-Iaushofer, K.ul 165 Heeren, Arnold HeTlmnn Llidwig 100 Hegel. Gcorg Wilhc1m Friedrich 87, 100(,161, 179(,287, Heinrich VII.. König von England 107. 126 Heinrich VIII.. König von England 105 Helmolt, I-Ians F. ItM I-Icrbcrstein. Sigislllund Frciherr von 92 Herben, Ulrich 365 Herder,johann Goturied 18.100. 105. 155ff.,261 I-Icrodot 100.235 Hexter,]. H. 170 l-lintze,Oclo 20,151 I-Iodgson, Marshall G. S. n Iloffmann. Stl.lllcy 288 Hourani_ Alben 252 1-1 ugo, Viaor 367 H umboldt. Alenndcr \'on 81-3,95. 100. 156,187(,201,218 I-Iumboldl, Wilhclm VOll 81, 100, 180 1-lume,Da\1d 89. 103-150
374
Huntinbtton. Samuc1 75 Hutchcson. Francis 131 Ibn Chaldun 168 Ibrahim Pascha 314 Inden, Ronald 253( Irving, Washington 185 Isdin,lsaac 100,178 Ismail, Khedive von Ägypten 278 Jamcs 1., König von Englalld 125, 146 Jamcs 11.. König von England 109. 147 Jann. Rosemary 120 Jaspcrs. IUrI 54 Jiang (Chiang) Kaishek 279.309 Jinnah. Muhanmud Alt 89 Johnson. Samucl 128 JolI.James 337 Jones. Ene. L 30,32.48.59. n Jones. Sir William 96,98.191 justi,Johann Heinrich Goulob von 17 K.1cmpfcr, Engelbcrt 95, 194( K.1ngxi, Kaiser von China 193 Kam.lmmanllcl 156.161.195,297 Kt'ene.Donald 195 Kegley. Charlcs W 291 Kehr. Ecbrt 284 Kenncdy.john F. 309.311 Kennc..-dy. P2111 151 Khol11cini, Ayatoll2h 75 Kolumbus (Crist6bal Col6n) 185. 1 7, 194,200,208 Koyre, Alcx.andcr 157 Kraus. K.1rl 310 Kropolkin. PiQtr A. 88 Lal1lartinc. Alphonsc de 367 Lamprechl, K:lrl 20. 152, 163, 170 Lapcyrerc. lsuc de 95 Las Cas20S. Banolomc de :zo.t.306 uUllllore.Owen 168 Lcibniz. Gottfricd Wilhe!m 84.349 Lc Roy Ladurie, Emmanucl 153 Lcssing, Gonhold Ephrairn 105 Lcw1s, ßcrnard 252
Lichtenberg,GeorgChristoph 183(,199 Lineoln. Abraham 358 Lingard,john 107,115,118,121 Livingstone, David 200 Locke,john IJO(, 147 Louis-Philippe, König VOll Fr:mkrcich 300 Lubboek.John 149 Luhmann, Nikbs 209 Luldcs, Georg 250 lundest:ild. Geir 327 MaeAnhllr, Douglas 334 Maeartllcy, George, Earl of BO,264 Maeaulay, Thomas ßabington 82, 103SO, 170 Maaulay. bchary 141, 146 Maekindcr. Sir Halfordj. 158,160,287 Macpherson, james 128 Magdlan (Fcrnao de Magalhaes) 200 Maicr, Charlcs S. 284 Mailly,jcan-ßaptistc 81 Maine, Sir Henry 149 Maitland, Frcdcriek William 117 Maltc-Brun, Connd 81 Malthus, Thomas Robert 133, 139 Mandela, Nelson 75 Mandcville, Bcrnard 134 Mann, Michael 25f., 3D, 58 MOlO Zcdong 75,87.269,319 Maria Smart (MaryQucen ofScots) 143, 147 Marquard, Odo 163 Marsh, George Perkins 154 Martini, Martin 93 Martonne, Emmanllcl de 166 M"". Kad 19,26,40,88,179,260,286, 342 Massignon, Louis 256 Mauss, Marcel 21 McLennan,john F. 149 McNeill. William H. 154, 173--8. 181f., 216 McllIncd Efendi, Yirmisckiz <;elcbi 86([ Meier, Christian 322 Mcinccke, Fricdrich 132
Meiners, Christoph SO, 100 Menemieh, Klemcns Wenzel, Fürst von 298-301 Miehelct,julcs 112, 165 MiII,james 119-22,138-41.146 MiII,john Stuart 47f., 87, 312, 315 Miliar, jolm 100, 112, 119, 129, 132([, 137 Milokvie, SloOOdan 309 Moctezuma. Aztekenherrscher 245 Modelski, George 151 Mommsen, Theodor 116 Mommscn, WolfgangJ. 285 Monnet,jean 335 Montesquieu, Charles-Lollis de 17f., 77([,83,87,91.100,126.130,134-7, 156(,236,283,357 Moore, Barrington,jr. 25,31--4,45,61 Morison, Samuel EJiot 186 Müller, Gerhard Friedrich 96 Muhammad "Ali, Pascha v. Ägypten 299 Muhammad, Stifter des Islam 136,236 Mumford, lewis 154 Mussadiq, Muhammad 309 Nadir Shah 94 Nakayama, Shigem 29 Napier, Sir Charles 305 Napoleon ßonaparte 81,172,202,253, 259,264,2%(,313([ Necdham,joscph 21,29f[ Nehru,jawaharlal 89 Nelson, Benjamin 21 Nelson, Horatio, Lord 314 Newton, Sir lsaae 82,141 Niebuhr, Carsten 84 Niefzsche. Friedrieh 366 Noriega Morena, Manucl Amonio 307, 310 Oeklcy, Simon 97( Olcarius, Adam 94 Ostwald, Wilhdm 163 Ouo, Prinz von Bayern und König von Griechenland 315 Oviedo, Gonzalo Fernandez de 95
375
00048371
Paigc,Jcffrey 36 Paine, Thomas 139 PalmerslOn. HenryJolm Temple. 3'" Viscount 302 Parry,John H. 187 Pauerson, Orlando 28 Paulscn. Friedrich 87 PerOll, J u:an Dominb'O 181 Philippson, Alfred 166 Pinz6n, Mani'n Alonso 187 Pirenne. Henri 12 l'ocock.J. G. A 106.129 Polanyi, Karl 20 Pomian. Knysztof 217 Polo, Marco 187. 191 PoiPot 317 Popper. Sir Kar1 R. 186 Poros, König im PUI~ab 190 Poste!. Guillaume 92 Pnkash. Gyan 255 Prescott. William H 185(,215.246 ProuSt, Mared 159 Pufendorf. SaJ11uel 94. 130 Ihnke, Leopold von 9.97. 103f.. 111 ff. 117,121,218 Rapin-Thoyras. P:aul dc 125 Ihtzd, Friedrkh 156--68,212 Ihymond. Andre 291 Raynal. Gllillaume Thom3S. abbe 345 Re
376
Rushdie, Sahnan 89 Russcll, 13cnrand 88 Saek. n. D. 153 Saddam Husscin 309 Sahag6n, 13crnardino de 99r.,2H SahIins. Marshall 204 Said, Edward W. 240-65 Sanderson. StephCll K. 179 Same.jean-Paul 74 Schaeder. Hans Heinrich TI Schieder, Theodor 327 Schiller. Friedrich 105 Schlözer, August Ludwig SO. lOt. 155. 157 Sehmidt. Gusuv 285 Schmiu. C:arl 287 Schmoller, Gusuv 116 Schracdcr. Pcter j. 292 Schrocder, Palll W. 296 SchuHn, Ernst 151 Schurmn, Roben 335 Schumpctcr. joseph A. 275 Schulze. Hagen 324 &on, Sir Waher 110. 138. 143r.. 148. 172f. Seeley. Sir lohn 110. 115 Semp1c. Ellen Churehill 165 Scplllveda.juan Gincs de 204.306 Sidncy. Algcrnon 147 Silbennan, Bcrnard 64 Simmcl. Georg 209 Sjoberg. Gideon 27 Skocpol. Theda 25f.. 31fT.. 45. 55. 61 Smith. Adam 17.87.91, 100L 112. 119. 124, 129-39, 143, 148, 178, 356 Sorokin. Pitirim A. 155. 175 Spate. Oskar H. 362 Speer. Alben 365 Spenec:r, Herben 87 Spengler. ÜSW;l.ld 21. 151. 162. 171-4. 342 Spivak. Gayatri Chakravony 256 St:l.lnpp. Kc:nneth 360 Steele, Rieh:ard 106 Stowe. Harriet ßccehcr 358 Stubbs. William 111,117
0004~J71
SUIl Yatsen 279 Sybcl, Heinrich von 116 Tacitus. Pliblills Comclills 105,135,137 Tagore, Rabindr.math 89 Talleyrand, Charlcs Maurice de 301( Tawfiq, Khedive von Ägyptcn 304 Tenbruck. Friedrich 24 Thatcher, Margarcl 75 Thompson, E. P. 25 Thrupp, Sylvia L. 22 Thukydides 105 Tibawi, A. L. 250 Tillema, Herben 291 Tilly, Charles 25,27 Timur (ltTamerlan«) 136 Tipu Sultan (ltTippoo Saheb«) 80 Tocquevilk, AIc.xis de 15,357,367 Todorov, Tzvct
230[ Tylor, Edward ß. 149 Vauel, Emmeric dc 319 Vega, Garcilaso de la 102 Vcrne,jules 157 Vcspllcci, Amerigo 187 Veyne, Paul 39
Vico, Giambattist
377
Ortsregister Ägypten 276,278,299,304(,309, 314fT., 331 Äthiopien 181,309,332 Afghanistan 210,288,293, 307ft, 320 Afdlo 7[, 20, 23, 40, 43, 46, 48, 50[, 55, 62,65,74[,77,88[,92,100[,139,152, 180, 184[, 197,217-29, 2371T., 245. 257, 269f., 290, 293, 303, 305, 311, 318[,329,336, 3451T., 350-4, 359[, 3621T., AIgcriell 74, 82, 89, 229, 295, 300, 305, 336 Algier 197,305 Amerika allgemein 7f., 11, 65fT, 78, 92, 95-100, 139, 147[, 152, 157-60, 164. 168, IBO[, 184-96, I 991T., 205, 215-9, 223-6, 2371T.,245,250[,299,305[,343-62 Lateinamerika 15f., 23, 37fT, 46, 4853,55,62,72,99,101.164,174,184-9. 199-205,223, 227, 236, 267-70, 306, 313-6.329,339,353 Nordamcrika 15,32,50-5. 65fT, 82, 851T., 99-102. I 47f., 157[, 160, 174. 1771T., 184-9, 199-202, 214, 217[, 223(,227-31, 2351T., 243, 267, 287(, 295, 299[,3471T.,353-9,364,368 siehe auch USA Angola 36, 290, 308, 353 Antillen 347,367 Arabicn 11,8O,84,92,94,97f., 136, 162, 174, 187, 197(,352,363 Argcntinicn 15(,50,181,321 Armcnien 39,76,225,319,334 Asien allgemein 7f., 19fT, 23, 28, 30-37, 40, 46-55, 59, 62. 67-90, 93-6, 100, 152, IBO, 184, 187,217,219-26.235-8,241, 245, 248, 261, 266-282, 303, 339, 3431T. Zcmralasicn 34f., 40,94-7,101, 157f., 168,181,188,210,331 OSI- und Siidosusien 12, 34f., 40, 44, 378
53,57.82,92, 191-5, 199,225-8,239, 267, 2701T.. 278,317,329,339,350 Athen 219 Atlantik 74f., ISS, 184, 196,218,229, 313, 337, 3451T.,349[,352-6,362 Australien 15,49, n, 85,168,186, 222f., 229,269,289,327,331,363 Azerbajdschan 307. 334 Azorcll 347
Bagdad 11, n Balkan 15f.,40,85.197,218fr,289,316, I 331,334 Barbados 347,351.355 Bal':l.via Qakaru} 40,219 Belgien 309,311,336 Bolivien 16 Bosnien 218 Brasilien 227,229.329,347,349,354, 363 Bresl-Litovsk 330 Bulgaricn 312f. Burma 94,228,300,363 Byzanz 76,84 Cambridgc 41,49.97,110, 112f. Chile 16,50,227,230.288,311,313,328 China 1Of..17.20f.,27f.,31-5,40-3,47, 50-61,64-98,102,158, 168,191-204, 210[,217,219[,223-8, 2351T.. 241, 244, 249, 260, 264, 266-282, 290, 295, 300,308-11,317,320,329-33,336, 339,346,364
Danzig 73
Deutschland 15, 46f.. 51, 54, 61, 65,81. 85,901T., 1031T., 111-5, 121, 148. 153. 156,159, 164IT., 1811T., 200, 216,220, 2491T., 267, 2831T., 289, 292, 295. 3oolT., 310,319,326-35,340-44,359-69 Dominik'lllischc Republik 307.311
0004l:lJ71
Edo siehc Tokyo England 11,37,54,59,70, BO, 102-11, 115. 117. 120-3, 126fT., 132fT.. 140, 143-9, 172, 190, 198-202, 226, 237f. 240, 274,296,298f.,302,328,35O,354. 365 Eunsicn 11,27.30.33,39,47,62,74.76, 79,158, ISO, 314
Frankreich
11([. 17, 21ff., 28. 32. 51, 54f., 61, 64f.. 74f., 81, 88fT., 94. 103. 116-24,127,136-9,153,155,165,172, 193,197-202,221,228,238,241,267, 273. 285fT.. 290, 296-316. 324[, 32832. 336f.,347-5O. 356f..365-8
I"n 65,75,83,92-8. 102-220,264,309, 311 Irland 73,107,145-8,219,226,237,269. 331 lulien 51,54.92.95,153.193.197,289. 311fT., 327f., 332, 347, 354
Jakaru siehe ßauvia Jamaika 347 Japan 11-7,23. 28f., 34-8, 43f.. 47. 4953.81,84-95.97,100,161,163,191-6, 199-202,204. 218f.. 223f., 264, 266282,285,289,292,295.307f.,32O,329, 332fT., 339. 363f. Java 264.295.345
Jugoslawien 289 Galatitn 304 GlIadclou pe 347 Guatemala 16 Guinca 92 Grenad2 317 Gricchcnland 39,73. BO, 82, 156, 175. 225,239,299-302,313-6,347 Großbritannien 23.49,51,64,71,74. SOf., 85-91,103-150,184, 189f., 200[, 219-22. 228f., 263f.. 2681T., 2SOf., 285fT., 290, 298f., 301-19, 323f., 327336,339,348f.,355-63,366fT.
Kalifomien 222 Kalkutu 141. 191.219,280 Kambodscha 290.316f. Kanada 49,222,289.327.331.340 K.apverdische Inseln 347 K>,;b;k 39,188,226,228f.,267.306,317. 347f., 351, 360 Kenia 229 Kongo 336 Korea 35,50,53, 191,224, 2n. 278, 308f. Kosovo 290,293,316 Kuba 290,307,309.349,357
Habsburgerreich 13,210.328,331 Hai li 307,348,350,357 Hawaii 183(,201,204
Hellas siehc Griechenland Hdsinki 73 I-liroshima 332 Holland siehe Niederlande Hongkong 269.271, 278. 2BO Indien 17.20,28,34-7.50(,58,60,65. 71f.. 79-S3, 8&-92. 94fT., 102, 112, 119, 122. 138, 140fT., 147f.. 174, 178, 18893, 199,202[,210.221, 227fT., 235fT., 254f., 263, 266-82, 303[, 307, 331. 339. 345f.,363 Indonesien 37, ffl. 91, 269, 345
Innensicn siehe Zentralasien
Lateinamerila siehe Amerika Leipzig 156, 163f. Libanon 250. 290, 309 lolldon 112f., 128, 144,269,280, 301f.. 314,322,329
M3C3U 225 M3dagaslar 361 M3nchcster 113 M3ndschurei 271, 28 I, 32Of, 332 Martinique 347 Mesopoumien 96 Mexiko 36,54.74, 102, 190,227,230, 239f, 245-8. 263, 295, 306, 310, 317, 329,340,347 Mexiko-Sudt 219 379
Minelmcer 13,73. 101, 166, 168, 186, 196(. 2Il2, 314[, 337, 345ff, 352 Mittlerer Osten siehe N.aher Osten Mogulreich siehe Indien Moz.ambique 40.345,351 Münster 295 Naher Osten 75.88. 196-9,260,331 Nanjing 270,279 Navarino 299 NC:lipel 300 Neucngland 231.346 Ncusecland 15.74,85,168,269.33\ Nicaragua 307 Niederlande 23.85, 192fI. 196fI. 221. 224, 240. 268, 301. 305, 332. 335. 345ff, 350[, 354, 363ff Nordamcrika siehe Amerika Nordirland 73 ÖSterreich 296, 298, 300C. 314 Osaka 274 Osmanisches ncich 11-4,28.39.54,77. 83, 86ff, 92ff, 102, 19&-9,210, 218ff, 225,239,264,276.299,305,312-6. 319,32&-31,337 Osn:libmck 295 Oswicn siehe Asien Osteuropa 23. .30, 72[. 333, 365 Oxford 111,113 Oze.anien 8. 100.224,237.269.329 ~Iäs{in.a
196, 198. 331. 334 P.lluma 307, 310. 320 Paris 86,129.269,331,337 Pazilik 46, SO, 74, 78, 83((, 101, 180. 184,
199-202,222.4,9,264 l'earl Harbor 294 Pelcing (!k;j;ng) 84, 192,311 Persien siehe Iran Persischer Golf 331, 345 ''''ru 16, 36, 161, 190 I'olen 294[,300(.311[,324,326,333 1'0"uga1 39,74,92, 192[,221,298,304 336,347,354.365 fuußen 296,298,301,327
380
Rom 42, 76, 84, 101, 122, 135. 137, 145, 195,210.286,303[,308.318352, 354 Rußland 1t, 14(, 32, 51. 54(, 61. 6;, 76, 155. 162. 184,219[,267, 271. 2l4-7, 296-9,301,305.307. 312ff, 316 320, 328-33. 349,357,365[ S.aint-Domingue 307.348.357 Sansibar 319 Sar:Jjevo 219 Schottland 112, 119-22, \25-49,219. 238,326.329,350,357 Schwarzes Meer 76 Schweden 14,51,366 Schweiz 90, 300, 366 Serbien 289 Shandong 68,310 Shangh.ai 269f..2n( Shanxi 274 Siam siehe Thailand Sibirien 96,157,264 Singapore 53, 75,272.278 Sizilicn 11,40,197,300 Slowenien 289 Somalia 294 Sowjetunion 288ff., 293. 307. 311. 320. 332ff.364 Spanien 11. 13. 40. 74, 99, 101 (, 184. 187-93, 196ff. 201, 214. 218. 221. 226[,237,240, 245ff, 269. 300.306. 313,324,337,347,351,353,365 Sri Lanka (Ceylon) f5],270 Sulingnd 332 Süd.afrika 53. 101,229,295.324,348. 351. 355, 358 Südamerilu siehe Lateinamerika Südosusien siehe Asien Süd,Stt siehe ~zilik Syrien 290 T.aiwan SO, 53. 72, 271 (. 278. 280 T.anunia 317 Th.ailand 54,65,90, 100,308.363 TIanjin 278 TIbcl 333
0004~J71
To~"yo
33,49,75,194,274 Tschechoslowakei 293,311, 332( Tschetsehenien 312, 320, 334 Türkei 13,55,65,82,90,94, 100, 136, 184,196[,226,236,279,290,299,314, 316, 326fI, 331, 337 Turkesun 40,333 UdSSR siehe Sowjetllnion Uganda 317 Ukraine 36,331 Ungarn 11,320,333 Ura! 76 Uruguay 15
USA 22-5, 36, 47, 49-54, 62, 64, 74fI, 86, 155, 177, 196,214,250,267-71, 284-92, 295, 299, 305-11, 320, 327fI, 334-9,348fI,3S6-9,368 siehe auch Amerika
Venedig 28 Venezuela 16 Vietnam 36,74,87,289-93, 307fI, 311,
316[,320,336 Virginia 188,348,355 Wales 219 Wesufrika siehe Afrika Westeuropa 11, 14,30,40, 52f., 56f., 60,
72(,82,86, 128, 138,215,270,275, 301,312,323,331-7,340,351 Yangzhou 274 Zarenreich siehe nllßland Zcntr.l.lamerika siehe Lateinamcrika Zclltr.l.lasiell siehe Asien Zimbabwe 229 Zypern 85,290
Bcgriffs- und Sachregister Abgrenzullgsdiskursc 232-39,2490: Abgrellwllgspraktikell 222-24 Abolition 348f., 355-59, 367-69 Aehscllzeit 42,54, 57 Agrargesellschaft 15, 35f., 55f., 68f. Akkomodalion 223 Amerikanischer Bürgerkrieg 329, 349,
359,368 Anthropologie 66-69 Anti-HumaniurislllllS 360 Anti.lmpcrialislllus 85 Asiatische Produktionsweise 19 Assimilierung 223 Atlantik als Interaktionsraum 345([ Aufklärung 17,83, 1171I, 238, 242f, Außereuropäische Geschichte 23, 41 f.,
49 Authentizität 14, 152 Barbarei, Barbaren 133, 1381I, 194,205,
220
BegrilTsbildllllg 45,66-72 Beziehungen, interkulturelle 12f. ßeziehungsgeschichte 13, 40, 43, 56f.,
1SI fI, 206, 346 BoIIl/dary maimet/allll' 210 Bourgeoisie siehe Bürgertum Boxeraufsund 67f.. 228, 241, 269, 311 Burenkrieg 269 Bürgerkrieg 291 Bürgertum 40,72,273-75, 279f. Chartergesellschaften 268 Christentum, Mission 88f., 192-95, 197,
219,225,236[ Chronologie, Zeit 56, 163(,348 Comparatiw me//uxl 18 COPll]XtratilJt poU/ia 22 Corpora/e revolutioll 266, 268, 276f., 281 Cross-wltl/ral srudies 22 CIII/ural a1ltllropology 18,44,67 Dekolonisation 22,37,74,335-37
381
Demographie 33 Demokratie 89( Despotie: 273 Diaspons, Enklaven 40. 223, 225. 326 Diskursanalysc= 252fT. Disunz 216fT. Doppdre:volutlon 348 Dritte Welt 50 Eigc=llIum 237(,354 Eisenbahn 157(, 267( Entdeckung 186-S8, 197, 199-201 Erklänmg 30-34,44(,55(,362 Esscntialisienillg 254-56,258-62 Ethnisierung von Politik 228 Ethnohistorie: 41( Ethnologie, Ethnographie 27.99-100,
149. 203. 235f. siehe auch Anthropologie. Cultunl anthropology, Sodal anthropology Europabild von Nicht-Europäern 84-90. 195(, 264( Eurozemrismus, Europnentrismus 18.
82f., 174. 176,208.262 Evolutionismus 18(,21.179, 181( Exklusionllnklusion 22OC.223 Expansion. europäische: 36(, 183-202. 205,218 Expansion, islamische 196-98 Extermination 223 Familie: 26( Feudalismus 12,20,26.274 Freihandel 271, 2n. 280, 330 Freiheit 121fT,348fT Fremdcnabwchr 224( Fremdheit 217(, 220. 234 GcgtnbcgrifTe, asymmetrische 16.234 Genozid 223,316(,319 Ge:ntry (China) 69-71,279 Geographie: 94L 153fT Geopolitik 286--88 Gcsamtgc'sdlschaft 57 Gc=sc:hichtslosigkeit 91L 94.101(,23 Gc=sc:hichlSphilosophie 18
32
Geschichtsschreibung, britische 103-5<0 Geschichtswissenschaft, Einhe:it der 411.
61 Globdl history siehe:: Weltgeschicl:tsschre:ibung Grenzen 209f[ Barbarcngre:nze. imperiale: 21OC. 2171 Europas 14.73-76.217(.228.262 FroPltin 213-16.229-32 der _Geopolitik. 216 kulturdie Gre:nzen (defimert) 219( Nationalswtsgrenze 211-13.217 Grenzgescllsch3ft 37,215.231 Hellenismus 39 Hermeneutik 14.44.204. 241fT. 255 Historismus 18t:. 21,155 Hol1311dstudiell (inJap:m) 84(,195(, 22H I-Iolllogtllisicrullg. kulturelle 197. 21 ~8.
224.338 I-Iybridiut 40.283,344 Idealtypus 27 Identiut. kollektive 16,42(, 47. 217. 22n.
260C Imperialismus 270fT..303fI britischer 287( kultureller 206 L-Forschung 284--86 US-amerikanischer 284ff. Imperium 327-332 Industrialisierung 266fT Industricgescllschaft 15.51 ( Informationshegemonie 241 Inkorporation, kulturelle 213,215 Integration. politische 327,333 Imclligcntsi3 65 Internation31iSlllllS 329( Intervention 283--321 definicrt 292-94 humanitäre 82,302,306.310.31 S-119 Islam 12.136.196-99,221, 236(
Kalter Krieg 286(, 293 Kapiulismus 30. 59 ~ten 71
Klanstrukturen 68 Kollaboration 304 Kolonial~sdlschaft
Opiumkrieg 271 OrientiOkzidem, Orienulismus 36f.,39, 198, 226-
29,270(, 347 Kolonialismus 147f.. 221, 240-42, 328 Konfuzianismus 44.53.278 Konstruktivismus 253-54,262 Konuktsituationcn 224-32 Komaktzonen 40 Kontingenz t87[ KosnlOpolitische Grtlppen 39( Kreolen 28[ Kreolsprachen 227 Kreuzzüge 11,81,84,196.198,217 I{,-;eg 230(,237,247(, 284fI, 295fI Kubakrisc (1962) 293 Kultur. Kulturen 43f.. 64, 203--5 Abgrenzung 14.42, 343f. Allsgrenzung aus 232 holistischer BegriIT Uf.. 57. 243, 248 Kulturbegcgnllng 207f[ KultliTVergleich, soziologischer 16[, 24.
62-65 Kulturvermittler 227 M:acht 284,288f. Marktwirtschaft 273-82 Meiji-Rcsuul"2tion Qapan) 15,53,272.
275(,329 Menschenrechte 368 Menuliütsgeschichte 233 Minderheiten 197.220, 224f., 228, 326 Mißverstiindnissc. interkulturelle 209.
231,241( Mittelalter 11, 1%[ Modcmisicrung 50-54.266-82,299 Modernität 124[, 134[.266[ Monroc-Doktrin (1823) 299[,308 Multinationale Konzerne 268f.,276f. Musik 20,58 Nationalcharakter 45,263 Nationalismus 37. 102f., 276, 279 Nationalstaat 54f.. 301. 322--41
NATO 337 NS-Sklavcrei 364--69
16,
33. 50(,61.77(.81, 84.202.2Qg, 24965 Orientalische Fra~ 299f Ostkolonisation 217 OtJImI~ 14, 208 Pastoralismus 101,135f. PerzeptiOnsslUdicll 206f., 232ff., 2530':,
262 Philhellenismus 226,314 Philologie 96. 191f., 198,204,261 Philosophische Geschichte 122ff:, 178 Planu~ 347f[ PoSUolO'lial swdits 41, 256 Professionalisierung der Geschichtswissenschaft 23f.. 46t:. 113fT. Protoindllstrialisierung 274 Quellenkritik 96-98 R:assedcnken,lhssislllllS 82[, 161f., 194,
221(.227,238[,355,365 Rational rJ'o;rt 36 Rationalität 242--48 RaumbegrilTe 1S6fT.,361f. Rechtsrezeption 89f. Rechtsstaat 89f. Reconquista I t. 196 Regionalismus 339--41 Reiscliteramr 92ff.. t91ff., 254 RelativismuslUniversalismus 18. 203f.,
257( Revolution 32f., 36, 55, 61,298.300,348,
357,368 Rhetorik der Altcrität 234 Romantik. romantisch 18,44,199.242[, 258 Samurai 69-71,275f. Schock. anthropologischer 185-202 Seehandel, frühneuzeitlicher 190,267 Segreg2tion 223 Selbstbe.schreibllng 68-72 Sepoy-AufSund (1857) 263. 304
383
0004llJ?1
Sezession 311 (f.
Sllifts of ;"it;m;1It 180( Sit:benjähriger Krieg 28 Sic=dlungskolonit:n 229 Sinn 43fT. SkJavert:i 28,43.216. 318t:. 345-69 S«ilJl Q"rhropology 67
Sondt:rbewusstst:in, t:uropäisches 233fT. Sonderweg des Okzidt:nts 20, 30-32. 48.
59.77-84,179[.234 Sozialduwinismus 366 Soziologie, historische 20,24-34, 58( Spr.illcht: 245(
512" 28(, 64(, 27S-1!2. 34ü Suatensystcm 137, 294ff.. 328-30,337 SCldicnmodcllc \8.22. 129ft, 238 SUCl.-Krisc (1956) 309.336 Supran:ltionaliCit. europäischc 323fT. Symbolc. Symbolisierung 204. 211 f.
219.245-48.264 Synthese 34
Vergleich, 11-66. 151(,344 asymmetrisch/symmetrisch 20. 60 Einheiten 26, 42[ Grundformen 47( interkultureller 17,40 internationaler 16f. konvergent/divergent 61 [ pmiaVlo121 34--38, 58-60 synchron/diachron 32f. 35. 54-56 [r.illnskuhurdler 17,39f. Vergleichbarkeit 23 Völkt:rrecht 294f.. 302L 364 Weltbürgcrlichkeit 39 Wehgeschichtsschreibung 46. SO, 91 fTft.
151-82.342-44,359-63 Weltsystem 26,43, 215( Westen 15.47(, SO. 87(, 359 Westfälischer Frieden (1648) 295 Wiener Kongrcß (1814/15) 29S(f. Wilde, Wildnis 94. 101, 144(, 184. 194)4.
200.205,214(.217,218(,230,232 Taiping-Aufsund 269
Tekgnph 157. 269( Tck"Ologie 361 Thcorit:Verwcndung 25 Tr.illnsft:r von Wissen 29t:. 84-86. 195(.
230 Transkuhur.illliüt 39ft Umwdtgeschichte 30f..
n. 95. 153--56,
168.179(,182,215 Urbanisierung 273( Variamcnanalysc 27[,40
384
Bayert.....
Wirtschaftsgeschichte 22. 153 Winschaftsstile 20 WisscnschaftSgCSChich'c 29 uitgeschichlSschreibling 93( Zivilisation 122 Hicr.illrchien 82(, 162.233 bei Hume 89. 122f[ bei Jamcs Mill 141 bei Macaulay 141( skllIdarci of (ivitizaf;O/l 302. 305. 308 Zivilisationsgeschichte 110fT. Zyklen 21, 15\
8t tsblblket .1 MDacfl.1