Carl-Peter Buschkühle · Ludwig Duncker Vadim Oswalt (Hrsg.) Bildung zwischen Standardisierung und Heterogenität
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Carl-Peter Buschkühle · Ludwig Duncker Vadim Oswalt (Hrsg.) Bildung zwischen Standardisierung und Heterogenität
Carl-Peter Buschkühle Ludwig Duncker Vadim Oswalt (Hrsg.)
Bildung zwischen Standardisierung und Heterogenität – ein interdisziplinärer Diskurs
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Die Drucklegung dieses Buches wurde gefördert durch die FAZIT-Stiftung Frankfurt am Main.
1. Auflage 2009 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2009 Lektorat: Stefanie Laux VS Verlag für Sozialwissenschaften ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Druck und buchbinderische Verarbeitung: Krips b.v., Meppel Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in the Netherlands ISBN 978-3-531-16800-5
Inhalt Vorwort der Herausgeber
7
Wolfgang Sander Wie standardisierbar ist Bildung? Chancen und Probleme von Bildungsstandards in Deutschland
11
Rudolf Sträßer und Claudia von Aufschnaiter Vom Bildungskanon zu den Bildungsstandards Assoziationen eines Mathematikdidaktikers mit Zwischenbemerkungen einer Physikdidaktikerin
35
Wolfgang Hallet Literature and Literacies Literarische Bildung als Paradigma für Standardisierung, Differenz und Heterogenität
53
Georg Friedrich Bildungsstandards für den Sportunterricht Ein Lagebericht im Hinblick auf einen heterogenen Bildungsbereich
81
Swantje Ehlers Heterogenität und Literalität
97
Carl-Peter Buschkühle Künstlerische Bildung in heterogener Kultur
119
Franz-Josef Bäumer Verschieden sein – verschieden werden Aufgaben und Ziele religiösen Lehrens und Lernens in der Schule
145
Vadim Oswalt Historisches Lernen zwischen Heterogenität und Standardisierung
167
Peter Gansen Chancenungleichheit von Anfang an Heterogenität in der frühen Kindheit als bildungspolitische und pädagogische Herausforderung
193
Ludwig Duncker Bildung und Heterogenität Zerreißproben für das Bildungssytem
215
Autorinnen und Autoren
237
7
Vorwort der Herausgeber Die aktuelle bildungspolitische Diskussion um inhaltliche und strukturelle Verbesserungen des Bildungswesens macht es vermehrt notwendig, aus wissenschaftlicher Sicht zu Fragen Stellung zu nehmen, die bislang ungeklärt geblieben oder auch neu entstanden sind. Gerade die Bildungswissenschaften, die es unter breiter Beteiligung zahlreicher Disziplinen sich zur Aufgabe machen, Entwicklungen im Bildungswesen sorgfältig zu analysieren und sich konstruktiv an seiner Weiterentwicklung zu beteiligen, nehmen mit ihrer Einmischung in die aktuelle Diskussion ein Mandat war, für das sie sich zuständig erklären. Die Sicherung und Verbesserung von Qualität im öffentlichen Bildungswesen, in ihrer Bearbeitung in Forschung und Lehre bedarf tragfähiger Konzepte und Leitorientierungen, die geeignet sind, um Reformbemühungen in Schule und Unterricht abzustützen und in einen Horizont einzubinden, der den Herausforderungen einer modernen demokratischen Gesellschaft und Kultur gerecht wird. Heterogenität und Standardisierung bilden in der aktuellen Diskussion ein Spannungsfeld, das in seinen Ausmaßen kaum überschätzt werden kann: Die gesellschaftliche und kulturelle Entwicklung zeigt auf der einen Seite eine wachsende Heterogenität, deren Dynamik in den zurückliegenden Jahren und Jahrzehnten eher noch zugenommen hat. Die Singularisierung und Individualisierung in der Gesellschaft, die Aufsplittung in Subkulturen und Parallelwelten, die zahlreichen sozialen Differenzierungen, die Pluralisierung der kulturellen und religiösen Orientierungen usw. bilden einen zunehmend auch in den Schulen sich abbildenden lebensweltlichen Hintergrund und erschweren es, Konzepte von Allgemeinbildung zu formulieren und konsensuell festzuhalten. Um die wachsende Leistungsheterogenität, die als Kernproblem des deutschen Bildungswesen durch die Vergleichsstudien wie TIMMS und PISA aufgedeckt worden ist, auszugleichen, sind auf der anderen Seite Aspekte zur Standardisierung im Bildungswesen in das Zentrum aktueller bildungspolitischer und wissenschaftlicher Anstrengungen gerückt. Die Kultusministerkonferenz und die Kultusverwaltungen der einzelnen Bundesländer sehen die Definition verbindlicher, überprüfbarer Bildungsstandards als Kern ihrer Anstrengungen zur Qualitätssicherung im Bildungswesen an, um
8 die sozial und kulturell begründeten Differenzen im Leistungsspektrum aufzuheben und mehr Chancengleichheit im Bildungsprozess zu garantieren. Deutlichster Ausdruck dessen ist die Diskussion um die Formulierung von Bildungsstandards, die inzwischen in zahlreichen Schuldisziplinen weit fortgeschritten ist und auch die Praxis des Schulalltags erreicht hat. Die Beiträge dieses Bandes setzen sich mit beiden Polen – Heterogenität und Standardisierung – aus erziehungswissenschaftlicher wie fachdidaktischer Perspektive auseinander. Aus erziehungswissenschaftlicher Sicht bilden Verschiedenheit und Vereinheitlichung zwei Pole, zwischen denen eine Balance gefunden werden muss. Der Absturz droht nach beiden Seiten: Weder kann es sinnvoll sein, durch überzogene Maßnahmen einer Standardisierung Inhalte und Formen des Lernens zu vereinheitlichen, noch kann es gelingen, ohne Maßstäbe und Leistungsnormen, ohne verbindliche Erwartungen und Vorgaben das Geschehen im Unterricht der individuellen Beliebigkeit und subjektiven Entscheidung zu überantworten. In diesem Spannungsfeld spiegeln sich deshalb zahlreiche widersprüchliche Aspekte, die die Interpretation des Bildungsbegriffs neu herausfordern, auch wenn manche Antinomien grundsätzlicher Art sind und die Diskussion des Bildungsgeschehens immer schon historisch und systematisch begleitet haben. Aber mit der Formulierung von Bildungsstandards ist eine aktuelle Entwicklung in die Wege geleitet worden, die das skizzierte grundlegende Spannungsfeld vor eine neue Zerreißprobe stellt. Für die Fachdidaktiken stellen sich Herausforderungen ebenfalls auf mehreren Ebenen: Zum einen sollen sie das Spezifische ihres Faches (Domänenspezifik) deutlich konturieren und so die Voraussetzungen für operationalisierbare Bildungsstandards schaffen. Eine ganze Reihe von Beiträgen in dem vorliegenden Band machen allerdings auch deutlich, dass die Fachdidaktiken ihre Rolle in einer kritischen Reflexion der Möglichkeiten und Grenzen des Projekts Bildungsstandards selbst verstehen. Sie wollen auch verdeutlichen, wo sie den nicht messbaren Ertrag ihrer Bezugsfächer im Bildungsprozess sehen. Schließlich kann ein Instrument der Qualitätssicherung im Bildungswesen nur erfolgreich sein, wenn auch seine Grenzen erkannt werden. So gibt es Bereiche kultureller Orientierung, in denen der Umgang mit Heterogenität nicht auf Standardisierung, sondern auf einen differenzierten Umgang mit Verschiedenheit zielen muss. Umgang mit Verschiedenheit kann als zentraler Anspruch für Bildung überhaupt gelten. Im Hinblick auf die Kompetenzorientierung von Bildungsstandards schärfen
9 einzelne Beiträge dieses Bandes das Bewusstsein für die Bedeutsamkeit auch solcher Kompetenzen, die im Evaluationskanon der Vergleichsstudien bislang nicht repräsentiert sind, wie z.B. Kompetenzen im Bereich ästhetischer oder gesellschaftlicher Bildung. Der bildungswissenschaftliche Diskurs erfordert eine interdisziplinäre Zusammenarbeit. Diese Zusammenarbeit erfordert wiederum internationale und überregionale Vernetzungen, sie muss aber auch an den einzelnen Standorten der Lehrerausbildung sichtbar werden. In diesem Sinne wurde an der Justus-Liebig-Universität Gießen ein Netzwerk Bildungswissenschaften gegründet, das eine neue Plattform für interdisziplinäre Diskurse und für koordinierte Vorhaben in Forschung und Lehre bietet. Im Gießener Netzwerk Bildungswissenschaften arbeiten Wissenschaftler zusammen, die zu Themen aus dem Bereich Bildung und Erziehung forschen. Die Mitwirkenden am Netzwerk kommen aus mehr als einem Dutzend Fächern und sechs Fachbereichen und vertreten natur-, sozial- und kulturwissenschaftliche Disziplinen. Das Netzwerk fördert Kooperation in Grundlagen- und anwendungsbezogener Forschung, Lehre und Fortbildung. Die Beiträge gehen zurück auf ein Ringvorlesung im Wintersemester 2007/08, die sich über Universität hinaus auch an eine interessierte Öffentlichkeit in der Region gewandt hat und vor allem auch unter Lehrerinnen und Lehrer breite Resonanz fand. Es war Sinn und Absicht, erstmalig in der Bildungsdiskussion, die Aspekte Heterogenität und Standardisierung unter unterschiedlichsten Blickwinkeln gemeinsam zu diskutieren und neben der erforderlichen Information und Diskussion auch die Möglichkeit zur eigenen Positionierung über Fachgrenzen hinaus zu bieten. Carl-Peter Buschkühle, Ludwig Duncker, Vadim Oswalt Gießen, im Dezember 2008
11
Wolfgang Sander
Wie standardisierbar ist Bildung? Chancen und Probleme von Bildungsstandards in Deutschland Zur Einführung Für die Frage nach dem Verhältnis von Standardisierung und Heterogenität in der Bildung gibt es in der deutschen bildungspolitischen und pädagogischen Diskussion zu Beginn des 21. Jahrhunderts einen wichtigen Referenzpunkt: die von der Kultusministerkonferenz (KMK) im Jahr 2002 beschlossene Einführung von Bildungsstandards an Schulen. Die daraufhin erfolgte und derzeit (2008) noch erfolgende Einführung von Bildungsstandards ist in vieler Hinsicht ein Novum in der deutschen Bildungsgeschichte. Mit dieser Einführung stellt sich die Frage nach der Standardisierbarkeit von Bildung und dem Verhältnis dieser Standardisierung zur Heterogenität von Bildungsprozessen neu. Das Projekt Bildungsstandards reagiert in spezifischer Weise auf die Heterogenität der modernen Gesellschaft. Hiermit verbindet sich, so eine These dieses Beitrags, eine ganze Reihe von Chancen für die Modernisierung der deutschen Schulen. Dass dieser Anstoß der KMK nicht nur eine lebhafte Diskussion, sondern in vielen, von der KMK für die Einführung solcher Standards zunächst gar nicht vorgesehenen Fächern auch konkrete Initiativen für die eigenständige Entwicklung von Bildungsstandards ausgelöst hat, ist ein deutlicher Hinweis auf solche Chancen. Zu diesen Fächern gehört auch die politische Bildung, die in Deutschland unter verschiedenen Fachbezeichnungen wie z.B. Sozialkunde, Gemeinschaftskunde oder Politik und Wirtschaft als Fach in der Schule vertreten ist. Auf das Beispiel dieses Faches wird etwas näher eingegangen werden. Auf der anderen Seite, so eine weitere These in diesem Beitrag, weist das Projekt Bildungsstandards in Deutschland auch eine Reihe von strukturellen Problemen und Schwächen auf. Zum Teil lassen sich diese bereits an den konzeptionellen Grundlagen dieses Projekts festmachen, zum Teil auch erst am nachfolgenden Prozess der praktischen Entwicklung und Einführung von Standards. Diese Schwächen und Probleme verweisen letztlich wieder auf
12 den Ausgangspunkt von Bildungsstandards: die Frage nach dem Gemeinsamen von Bildung angesichts des Heterogenität moderner Gesellschaften.
1. Bildungsstandards in Deutschland – Element eines spannungsvollen Reformprozesses Die Einführung von Bildungsstandards ist eine unmittelbare Konsequenz aus den für Deutschland schlechten Ergebnissen der ersten PISA-Studie aus dem Jahr 2000 (Deutsches PISA-Konsortium 2001) und der kritischen öffentlichen Diskussion über diese Ergebnisse. Folgen dieses „PISA-Schocks“ waren und sind vielfältige, teils hektische Aktivitäten der Bildungspolitik zur Schulreform. Diese Aktivitäten lassen zwar gemeinsame Tendenzen erkennen, sind aber keineswegs von einem einheitlichen Gesamtkonzept oder einem konsensuellen Masterplan getragen. Im Gegenteil lässt sich besonders aus der Perspektive der betroffenen Schulen der Eindruck eines teilweise widersprüchlichen, von kurzfristigen Entscheidungen geprägten und wenig planvollen Prozesses, in dem von der Politik immer neue Erwartungen formuliert werden, ohne dass deren Gesamtzusammenhang nachvollziehbar wäre, nicht völlig von der Hand weisen. Um Beispiele zu nennen: Die Schulen sollen selbstständiger werden, die Schulleitungen gestärkt und die Schulen an ihren Leistungsergebnissen gemessen werden – aber von der dafür notwendigen Entlastung der Schulleiter von Unterrichtsverpflichtungen und der Bereitstellung von Personal für das Management der selbstständigen Schule ist wenig zu spüren, die in der Logik dieses Prozesses zwingende Abschaffung des Beamtenstatus der Lehrkräfte wird weithin tabuisiert. Der Unterricht soll kompetenzorientiert gestaltet und auf individuelle Förderung hin angelegt werden – aber gleichzeitig eingeführte zentrale Abschlussprüfungen sind vielfach nicht kompetenzorientiert konzipiert und stoffzentrierte Lehrpläne sind noch keineswegs verschwunden. Die Verkürzung des gymnasialen Bildungsgang von neun auf acht Jahre („G 8“) als gewissermaßen verwaltungstechnischer Akt, ohne inhaltliche Neukonzeption dieser Schulform und unter Beibehaltung der Gesamtstundenzahl und der zu vermittelnden „Stoffmenge“, passt in dieses widersprüchliche Bild und hat erhebliche Proteste aus der Elternschaft hervorgerufen. Die Lehrerausbildung wird reformiert und soll kompetenzorientiert umgestaltet werden – aber die Zeitabläufe sind so, dass die Universitä-
13 ten neue Studienordnungen längst realisiert hatten, bevor die KMK sich auf die anzustrebenden Kompetenzen verständigen konnte. Einen besonderen Höhepunkt an Planlosigkeit hat sich in diese Hinsicht Hessen geleistet: Per Gesetz von Ende 2004 wurde den Universitäten die Einführung neuer modularisierter und kompetenzorientierter Lehramtsstudiengänge bei gleichzeitiger Beibehaltung der Staatsexamina auferlegt – nur um wenige Jahr später, nachdem die Universitäten mit einem erheblichen Kraftakt unter massivem Einsatz der Arbeitszeit von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern eben diese Vorgabe in einem mehrjährigen Prozess umgesetzt und die Lehrerbildung völlig neu gestaltet haben, die Weichen in Richtung der Einführung wiederum neuer Lehramtsstudiengänge mit Bachelor- und Masterabschlüssen an Stelle der Staatsexamina zu stellen. Um nicht missverstanden zu werden: Diese kritischen Anmerkungen sollen nicht die Notwendigkeit einer tief greifenden Schulreform in Deutschland in Frage stellen. Der Modernisierungsrückstand des deutschen Schulsystems ist in der Erziehungswissenschaft und den Fachdidaktiken seit langem Thema und eine Spätfolge der in den 1970er-Jahren in den parteipolitischen Konfrontationen zwischen CDU/CSU und SPD zerriebenen ersten großen Schulreform. Auch hätte sich über wesentliche Grundelemente einer neuen Schulreform wahrscheinlich auch schon vor PISA in den pädagogischen Wissenschaften ein breiter Konsens herstellen lassen. Kritisch zu sehen ist aber die die deutsche Bildungspolitik derzeit prägende eigentümliche Kombination von hektischem Aktionismus und Mangel an klaren Konzepten, von Veränderungsforderungen mit kurzfristigen Erfolgserwartungen bei gleichzeitigem Fehlen einer mittel- und längerfristigen Vision von einer künftigen Schule in der nachindustriellen Gesellschaft. So fühlt man sich mit Blick auf die Reformaktivitäten manchen Ministeriums an das Sprichwort erinnert: „Wasch mich, aber mach mich nicht nass“. In diesem Gesamtfeld ist die Einführung von Bildungsstandards vielleicht das Projekt, das deutschlandweit bislang am konsistentesten und konsequentesten in Angriff genommen wurde. Dies liegt zum nicht geringen Teil daran, dass mit der Expertise „Zur Entwicklung nationaler Bildungsstandards“, die unter Federführung des Deutschen Instituts für Internationale Pädagogische Forschung von einer Wissenschaftlergruppe erarbeitet wurde (meist nach dem Leiter der Gruppe als „Klieme-Expertise“ zitiert), ein Referenztext vorliegt, mit den in substanzieller Weise konzeptionelle Grundlagen für dieses Projekt formuliert wurden (Bundesministerium
14 2003). Mit Blick auf die Entstehung dieser Expertise ist allerdings wiederum bemerkenswert, dass sie vom Bundesministerium für Bildung und Forschung in Auftrag gegeben wurde – und zwar mit kurzer Fristvorgabe und nachdem die KMK im Juni 2002 die Erarbeitung nationaler Bildungsstandards für Kernfächer in der Sekundarstufe I beschlossen hatte. Erfreulicherweise hat sich dann auch die KMK 2003 zu dieser Expertise bekannt, wenngleich sie nicht alle Empfehlungen übernommen hat; darauf wird noch zurückzukommen sein. Im ebenfalls 2003 publizierten ersten Bildungsbericht für Deutschland (dessen regelmäßige Erstellung ein weiteres Element der laufenden Reformbemühungen ist) werden die Erwartungen an die Einführung von Bildungsstandards so formuliert: „ – Das Land muss sich auf qualitativ anspruchsvolle Ziele seines Bildungssystems verständigen, es muss die erwartete Qualität der Ergebnisse seiner Bildungsanstrengungen formulieren. – Das Land muss Verfahren entwickeln, mit denen es überprüfen kann, ob die zur Zielerreichung eingeschlagenen Wege zielführend sind; es muss nach der Effektivität seines Bildungssystems fragen. ... Deutschlands Schüler werden mit einer im internationalen Vergleich eher durchschnittlichen Gesamtstundenzahl wie auch Stundenzahl in den Kernfächern unterrichtet. Dies geschieht auf der Grundlage einer weltweit wohl einmaligen Anzahl und Vielfalt an Lehrplänen und Stundentafeln in den Ländern und Schulformen, die nur noch schwer zu überschauen ist und die Gefahr der Ungleichheit bei der Teilhabe an Bildung in sich birgt. Die erwartete Wirkung als Instrument der Steuerung von Schule und Unterricht entfalten Stundentafeln und Lehrpläne damit nur zum Teil. Bildungsstandards können die Steuerung der schulischen Praxis überschaubarer, transparenter und verbindlicher machen.“ (Avenarius et al. 2003, 2 und 7; Hervorhebung W.S.) Das Zitat deutet an, dass Bildungsstandards nicht nur – erstmals! – in einer klaren und transparenten Form länderübergreifend gemeinsame Ziele für die Schulen definieren sollen, sondern zugleich als ein wesentlicher Faktor eines neuen Steuerungsmodells für das Bildungssystem zu sehen sind. Nach der Klieme-Expertise soll dies durch eine Neujustierung der Systemsteuerung von der Input- zur Outputsteuerung geschehen: Bildungsstandards legen anders als konventionelle Lehrpläne nicht fest, was im Unterricht geschehen soll (beispielsweise welche Themen in einem Fach in welchem Schuljahr zu behandeln sind), sondern definieren in Form von Kom-
15 petenzmodellen und kompetenzorientierten Standards die zu erreichenden Ergebnisse (Output) schulischen Lernens. Diese sollen dann systematisch evaluiert werden. Nach der Expertise und auch nach dem Willen der KMK soll dies für die von der KMK beschlossenen Standards mit Hilfe nationaler standardisierter Tests geschehen, die von dem von KMK eigens eingerichteten Instituts für Qualitätsentwicklung im Bildungswesen entwickelt und durchgeführt werden sollen. Dies setzt voraus, dass, wie in der KliemeExpertise auch gefordert, die einzelnen Schulen ein erheblich höheres Maß an Autonomie bekommen als es bislang im deutschen Schulsystem der Fall gewesen ist, denn nur unter dieser Voraussetzung können die Schulen tatsächlich für ihre Ergebnisse auch die Verantwortung übernehmen, was wiederum Voraussetzung für eine schulbezogene Evaluation ist. In der Praxis zeigt sich, dass die Länder neben den (bislang noch ausstehenden) nationalen Tests auch auf andere Evaluationsinstrumente setzen wollen, so insbesondere auf länderinterne Vergleichsarbeiten und Schulinspektionen. Die KMK hat bis Anfang 2008 Bildungsstandards für Deutsch, Mathematik, Erste Fremdsprache, Biologie, Chemie und Physik verabschiedet. Ob für weitere Fächer Standards von der KMK beschlossen werden, ist noch nicht mit Sicherheit zu erkennen. Allerdings gehen manche Bundesländer hier mit der Entwicklung von Bildungsstandards für alle Fächer weiter und in einer Reihe von Fächern, so auch in der politischen Bildung, haben wissenschaftliche Fachgesellschaften von sich aus Entwürfe für Bildungsstandards vorgelegt. Dies spricht für die Erwartung, dass das Projekt Bildungsstandards tatsächlich einen starken Reformimpuls bewirken kann.
2. Fünf Chancen von Bildungsstandards 2.1 Ziele der Schule: mehr Transparenz und Kohärenz Es gehört zu den Merkwürdigkeiten des deutschen Schulsystem, dass es trotz einer gewaltigen Regulierungsdichte – auf ein Schulfach kommen angesichts des Föderalismus und des gegliederten Schulsystems bis zu 100 Lehrpläne – keinen klaren Konsens darüber gab, was denn die Schülerinnen und Schüler an bestimmten Abschnitten ihres Bildungsgangs nun tatsächlich gelernt haben sollen. Die erste PISA-Studie hatte nun in aller Klarheit gezeigt, dass diese Situation am Ende zu Lasten sozial und kulturell Benachtei-
16 ligter geht. Wenn bis zu einem Fünftel der Schülerschaft nicht über ausreichende Basiskompetenzen verfügt, um beruflich erfolgreich zu sein, und wenn insbesondere Kinder aus Migrantenfamilien auch in der zweiten und dritten Generation im Bildungssystem noch benachteiligt sind, dann reagiert das Bildungssystem auf soziale Heterogenität offenkundig durch die Verfestigung von struktureller sozialer Benachteiligung von ohnehin Benachteiligten. So gesehen, soll die Standardisierung von Kompetenzanforderungen gerade einen angemesseneren Umgang der Schulen mit sozialer Heterogenität anstoßen: Indem klar formuliert wird, was alle können sollen, sind die Schulen aufgefordert, Schülerinnen und Schüler je nach ihren Lernvoraussetzungen individuell so zu fördern, dass alle das definierte (Mindest-) Kompetenzniveau erreichen. Gleichzeitig können Bildungsstandards nach allen Seiten hin für Transparenz sorgen: Für die Lehrerinnen und Lehrer sind sie ein „Referenzsystem für ihr professionelles Handeln“ (Bundesministerium 2003, 50), indem sie klar definieren, woran sich erfolgreicher Unterricht misst; für Schulevaluationen bieten sie leicht nachvollziehbare Maßstäbe der Begutachtung von Schulen; für Eltern und auch für Schülerinnen und Schüler formulieren sie in knapper und soweit möglich auch für Nicht-Fachleute nachvollziehbarer Form, worauf es in einem Fach ankommt. Wenn es sich – was in der Logik der Sache liegt – um national einheitliche Bildungsstandards handelt, können sie in ihrem Kern auf 20 bis 30 Seiten darlegen, wozu es bislang hunderte, wenn nicht tausende von Lehrplanseiten brauchte: was die Schülerinnen und Schüler in einem Fach lernen sollen.
2.2 Schulentwicklung: mehr Freiheit für die Schulen Auf diesen Zusammenhang zwischen Bildungsstandards, Schulevaluation und Schulautonomie wurde bereits hingewiesen. Bildungsstandards erzwingen gerade nicht eine Homogenisierung des Schulwesens in dem Sinn, dass idealerweise in allen Schulen das Gleiche geschieht. Zwar ist es durchaus fraglich, ob die bisherige institutionelle Zergliederung des deutschen Schulsystems nach heterogenen Schulformen zukunftsfähig ist; dieses Thema kann in diesem Beitrag nicht vertieft werden. Aber eine stärkere Verselbstständigung von Schulen wird zu mehr Heterogenität im Schulsystem durch eine weitaus größere Angebotsvielfalt von in pädagogischer und inhaltlicher Hinsicht heterogenen
17 Schulen führen. Mit anderen Worten: In der Logik von Bildungsstandards – jedenfalls nach dem Konzept der Klieme-Exper-tise – liegt es, dass Schulen zwar allen Schülerinnen und Schülern bestimmte Mindestkompetenzen auch tatsächlich vermitteln sollen, dass die Wege dahin aber weitaus vielfältiger sein können als im traditionellen mehrgliedrigen deutschen Schulsystem. Schulen sollen sich also gerade wegen der Standardisierung auf die Heterogenität ihrer jeweiligen Schülerschaft besser einstellen können als bisher.
2.3 Kompetenzen: Abschied von der Stofforientierung Der „Stoff“, jene für die tradierte Schulkultur charakteristische Art schulischer Wirklichkeitskonstruktion, ist die chronische Krankheit der Schule. Die Kritik an dem daraus erwachsenden „trägen“ oder „toten Wissen“ füllt ganze Bibliotheken pädagogischer und didaktischer Literatur. Dies kann hier nicht referiert werden. Hier soll ein Zitat des Schweizer Lehrers Ernst Eggimann genügen, der diese Krankheit in einem literarischen Text treffend so beschrieben hat: „Der Schüler ist ein Kind, das in der Fiktion Schule lebt. Je besser es geschult wird, desto wirklicher wird die Schule. Schließlich wird die Schule zur Welt. Dann gibt es nur noch die Schule, und in der Schule gibt es alles. Die Schule weiß alles. In der Schule stimmt alles. Auf jede Frage gibt es eine Antwort. Zu jeder Tatsache gibt es die richtige Frage. Die Tatsachen werden in der Schule festgestellt. Alle Tatsachen zusammen heißen Stoff. Die Wirklichkeit der Welt wird in der Schule zu Stoff. Der Stoff wird in der Schule durchgenommen. Je öfter der Stoff durchgenommen wird, desto dünner wird er. Bald läßt er sich Jahr für Jahr mühelos durchdrehen. Jetzt ist die Wirklichkeit ganz zu Stoff geworden. Auf jede Frage gibt es nun eine Antwort. Jetzt hält die Schule für die Schule Schule.“ (Eggimann 1973, 67 f.) In der Klieme-Expertise heißt es demgegenüber: „Mit dem Begriff ‚Kompetenzen‘ ist ausgedrückt, dass die Bildungsstandards – anders als Lehrpläne und Rahmenrichtlinien – nicht auf Listen von Lehrstoffen und Lerninhalten zurückgreifen, um Bildungsziele zu konkretisieren.“ (Bundesministerium 29003, 21) Kompetenzen beziehen sich dagegen auf „Grunddimensionen der Lernentwicklung in einem Gegenstandsbereich“ (ebd.). Mit anderen Worten: Mit der Kompetenzorientierung wird ein grundlegender Perspektivenwechsel vorgenommen – Unterricht soll nicht primär von den tatsächlichen oder vorgeblicher Erfordernissen des „Stoffes“, sondern von
18 den Strukturen und Erfordernissen des Lernens der Adressaten her gestaltet und entwickelt werden.
2.4 Kompetenzen: eine neue Lern- und Prüfungskultur Mit der Orientierung an Kompetenzen verändert sich auch der Blick auf Professionalität im Lehrerberuf; „Lehrpersonen sind Fachleute für das Lernen“, wie es im Lehrerleitbild des Fachverbands Schweizer Lehrer treffend heißt (zit. nach Burkard et al. 2003, 22), nicht Fachleute für Stoffvermittlung. Mit einem solchen Blick wird das Verständnis von Lehrerprofessionalität anschlussfähig an die neuere Lernforschung, insbesondere aus dem Bereich des Konstruktivismus (Bransford et al. 2000, Sander 2005a). Diese hat darauf aufmerksam gemacht, dass Lernen immer ein aktiver, vom Individuum selbst (wenn auch nicht notwendigerweise auf bewusste Weise) gesteuerter Prozess ist. Lernen kann „von außen“ angeregt, gefördert, begleitet, nicht aber in einem strengen Sinne gesteuert werden. Im Begriff der „Kompetenz“ wird dieses Lernverständnis insofern aufgenommen, als Kompetenzen Dispositionen sind, über die Menschen verfügen, um Probleme und Handlungsanforderungen zu lösen. Kompetenzen müssen erworben werden, sie können nicht einfach gelehrt werden. Es ist keineswegs trivial, wenn sich daraus folgern lässt, dass man Kompetenzen am besten erwirbt, indem man Probleme löst und Handlungsanforderungen bewältigt. Kompetenzorientierter Unterricht ist in einem weiten Sinn aufgabenbezogen (vgl. auch Girmes 2004). Er konfrontiert Schülerinnen und Schüler mit ernsthaften Aufgaben und Problemen, an deren Bewältigung sie ihre Kompetenzen verbessern können. Nicht umsonst heißt es im Volksmund, dass man mit seinen Aufgaben wächst. Kompetenzorientierung bietet ferner große Chancen für eine neue Prüfungskultur. Auch dies kann hier nur in Stichworten angedeutet werden. An die Stelle des Abfragens von für die Prüfung „gelerntem“ (und alsbald wieder vergessenen) „Stoff“ sollten Prüfungsformen treten, in denen erworbene Kompetenzen gezeigt werden, z.B. bei der transferorientierten Lösung neuer Probleme oder in der Präsentation von Projektergebnissen; wichtiger als die punktuelle Prüfung (z.B. die Klausur) sollten kontinuierliche Dokumentationen von Arbeitsergebnissen (Portfolio) werden.
19
2.5 Wissenschaft und Praxis: neue Kooperationschancen Es gehört zu den dramatischen Fehlentwicklungen des deutschen Schulwesens, dass es sich in den 1980er- und 1990er-Jahren sehr weitgehend von der Entwicklung in den pädagogischen Wissenschaften abgekoppelt hatte. Die Gründe hierfür waren vielfältig; sie reichten von Enttäuschungen über das Festfahren der Reformen der 1970er-Jahre bis zum faktischen Einstellungsstopp für Nachwuchslehrer über viele Jahre. In der Folge haben sich viele Schulen über Jahrzehnte eine Wissenschafts- und Theorieabstinenz geleistet, die den Anforderungen an Fortbildung und Orientierung der Praxis am aktuellen Stand des Wissens, die in hoch qualifizierten Berufen zu stellen sind (und die an jeden Rechtsanwalt, Steuerberater oder Arzt ganz selbstverständlich gestellt werden), Hohn sprach. Inzwischen gibt es Anzeichen dafür, dass die Debatte über Bildungsstandards und Kompetenzorientierung diese Situation verändern könnte. Kompetenzen zu formulieren und Kompetenzmodelle zu entwickeln, ist zwar der Sache nach eine Aufgabe der Wissenschaft, insbesondere der Fachdidaktiken. Gleichzeitig aber ist dies eine sehr klar auf die Praxis der Schulen bezogene und zielende Aufgabe. Es zeigt sich auch, dass die Zweite Phase der Lehrerausbildung und die Lehrerfortbildung diesen Neuansatz bereits aktiv aufnehmen. Für die Schulen selbst wird sich spätestens nach der Implementation von kompetenzorientierten Bildungsstandards in den Ländern die Notwendigkeit ergeben, sich damit in ihrer alltäglichen Praxis auseinanderzusetzen. Optimistisch betrachtet, könnte Kompetenzorientierung zu einem Fokuspunkt für eine neue Kooperationskultur zwischen Wissenschaft und Schule in Deutschland werden.
3. Ein Fallbeispiel: Bildungsstandards für die politische Bildung Positive Effekte der Diskussion um Bildungsstandards und Kompetenzorientierung lassen sich auch und vielleicht sogar gerade an den Fächern zeigen, die von der KMK für nationale Standards bisher noch gar nicht in den Blick genommen wurden. In einer ganzen Reihe dieser Fächer wurden auf Initiative der Fachdidaktiken Konzepte und Entwürfe für Bildungsstandards vorgelegt (Vollmer 2008), was sehr deutlich für die breite Akzeptanz
20 dieses Ansatzes spricht. Zu diesen Fächern gehört auch die politische Bildung. Für dieses Fach wurde von der fachdidaktischen Fachgesellschaft, der Gesellschaft für Politikdidaktik und politische Jugend- und Erwachsenenbildung (GPJE; www.gpje.de), bereits Ende 2003 ein solcher Entwurf für nationale Bildungsstandards ausgearbeitet und der KMK übergeben (GPJE 2004). Damit war die politische Bildung das erste Fach, aus dem heraus eine solche Initiative gestartet und erfolgreich abgeschlossen wurde. Dieser Entwurf stützt sich auf das folgende Kompetenzmodell (zum theoretischen Hintergrund vgl. Sander 2005b, Sander 2008):
Konzeptuelles Deutungswissen Politische Urteilsfähigkeit Politische Ereignisse, Probleme und Kontroversen sowie Fragen der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung unter Sachaspekten und Wertaspekten analysieren und reflektiert beurteilen können
Politische Handlungsfähigkeit Meinungen, Überzeugungen und Interessen formulieren, vor anderen angemessen vertreten, Aushandlungsprozesse führen und Kompromisse schließen können
Methodische Fähigkeiten Sich selbstständig zur aktuellen Politik sowie zu wirtschaftlichen, rechtlichen und gesellschaftlichen Fragen orientieren, fachliche Themen mit unterschiedlichen Methoden bearbeiten und das eigene politische Weiterlernen organisieren können
Diese Initiative hat zunächst die innerfachliche Diskussion in den Folgejahren stark verändert. Bis dahin gab es zwar einen Grundkonsens über normative Grundlagen politischer Bildung, aber zugleich ein (Selbst-)Bild des Fachdidaktik, nach dem sich diese in starkem Maße als ein Nebeneinander personengebundener fachdidaktischer Denkstile und Konzepte verstand
21 und darstellen ließ (vgl. charakteristisch dafür Pohl 2004). Die Debatte über Bildungsstandards hat demgegenüber die Gemeinsamkeiten stärker hervorgehoben, den wissenschaftlichen Diskurs deutlich auf Probleme der Kompetenzorientierung im Fach fokussiert und dazu eine Vielzahl von Forschungsvorhaben und Dissertationsprojekten angestoßen. Die innere Kohärenz der Fachdidaktik als Wissenschaftsdisziplin wurde damit gestärkt, zugleich ist das Profil des Faches nach außen sehr viel klarer sichtbar und leichter kommunizierbar geworden. Inzwischen sind auch erste Wirkungen dieses Entwurfs über die Wissenschaft hinaus erkennbar. Zumeist mit Varianten des oben zitierten Kompetenzmodells hat der Entwurf wichtige bildungspolitische Vorgaben für die Schulen beeinflussen können. Bereits die zeitlich parallel erarbeiteten und 2005 verabschiedeten „Einheitlichen Prüfungsanforderungen in der Abiturprüfung Sozialkunde/Politik“ der KMK griffen dieses Konzept auf. Inzwischen sind in einer Reihe von deutschen Bundesländern, aber auch in Österreich (bm:uk 2008) und der Schweiz (Gollob et al. 2007), kompetenzorientierte Vorgaben für die politische Bildung an den Schulen hinzugekommen, die sich stark auf den GPJE-Entwurf beziehen. Was die in solchen Entwürfen erkennbaren Varianten des GPJEEntwurfs anbelangt, so beziehen sie sich zum Teil auf Versuche, den Kompetenzaspekt des fachlichen Wissens weiter zu konkretisieren. Dieser war im GPJE-Entwurf mit dem Begriff des „konzeptuellen Deutungswissens“ zwar als Hintergrund aller Kompetenzbereiche benannt und in allgemeiner Form erläutert, aber nicht weiter konkretisiert worden, da nach der Klieme-Expertise eine solche Konkretisierung weniger die Aufgabe von Bildungsstandards als vielmehr die von ergänzenden Kerncurricula sein sollte. Auch die wissenschaftliche Diskussion in der Politikdidaktik hat sich in den letzten Jahren stark um die Frage der weiteren Konkretisierung dieses Wissensverständnisses gedreht (vgl. u.a. Weißeno 2008; Sander 2008, 95 ff.). So nachvollziehbar dies einerseits ist, so zeigt sich doch andererseits in manchen Varianten des GPJE-Modells in länderspezifischen Standards oder anderen bildungspolitischen Vorgaben ein problematischer Hang zum Provinzialismus. Gelegentlich kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass hier und da auch einigermaßen zwanghaft nach Möglichkeiten der Unterscheidung gesucht wurde, um länderspezifische Besonderheiten um ihrer selbst willen zu konstruieren. Dies widerspricht aber gerade dem Sinn und Zweck von Standardbildung. Es wäre nachgerade ein absurder Effekt der
22 Entwicklung von länderspezifischen Bildungsstandards (oder auch nur von fachlichen Kompetenzmodellen), wenn am Ende an die Stelle der unüberschaubaren Vielfalt von Lehrplänen, die ein Ausgangspunkt für die Entwicklung von Bildungsstandards in Deutschland war, eine unüberschaubare Vielfalt eben solcher Standards treten würde.
4. Grenzen der Standardisierung: die strukturelle Heterogenität von Bildung Bisher war im Wesentlichen von den Chancen des Projekts „Bildungsstandards“ für das deutsche Schulsystem die Rede. Auf seine Grenzen und strukturellen Probleme kommt man auf einer konzeptionellen Ebene, wenn man fragt, was genau eigentlich standardisiert werden soll. Die Antwort auf diese Frage kann nach dem bisher Ausgeführten nur lauten: Standardisiert werden bestimmte Niveaus des Verfügens über fachlich definierte Kompetenzen. Daran gemessen ist allerdings der Begriff der Bildungsstandards durchaus missverständlich. Er suggeriert, dass mit dem Erreichen solcher Standards auch das erreicht wäre, was im Deutschen traditionell mit dem Begriff der „Bildung“ als allgemeine Zielnorm für die Schule gemeint ist. Dies ist aber keineswegs der Fall. Mehr noch: Die Frage nach dem Zusammenhang von „Bildung“ und „Standards“ oder nach der Standardisierbarkeit von Bildung führt in ein weites Feld von überwiegend ungeklärten Fragen. Die über 200 Jahre alte Diskussion um den Bildungsbegriff kann hier nicht nachgezeichnet werden. Zu den konstitutiven Merkmalen seines Bedeutungsgehalts gehört aber unabdingbar sein Bezug auf die Subjektivität des Individuums: „Bildung ist ein Prozess, der sich im einzelnen Menschen vollzieht; Bildung kann immer nur vom Lernenden selbst bewirkt werden.“ (Messner 2004, 36) Dass ein solcher Satz mehr ist als ein später Nachklang eines überholten idealistischen Schulkonzepts aus dem frühen 19. Jahrhundert, kann man sich leicht klarmachen, wenn man in dem Zitat das Wort „Bildung“ durch „Lernen“ ersetzt; dann erhält man eine Formulierung, die in jeder aktuellen Einführung in die Lernforschung stehen könnte. Tatsächlich aber hat dieses Verständnis von Bildung seine Wurzeln bekanntermaßen im Neuhumanismus und besonders bei Wilhelm von Humboldt. In seinem Fragment „Theorie der Bildung des Menschen“ sah Humboldt die Aufgabe
23 der Bildung in der „Verknüpfung unseres Ichs mit der Welt zu der allgemeinsten, regesten und freiesten Wechselwirkung“ (Humboldt 1793, 34). Diese aber vollzieht sich in individuell unterschiedlicher Weise, weshalb auf „die Verschiedenheit der Köpfe, auf die Mannigfaltigkeit der Weise Rücksicht“ zu nehmen sei, „wie sich die Welt in verschiedenen Individuen spiegelt.“ (ebd., 37). Adornos Bemerkung: „Denn Bildung ist nichts anderes als Kultur nach der Seite ihrer subjektiven Zueignung“ (Adorno 1979, 94), trifft diese notwendige Subjektivität von Bildungsprozessen präzise. Da die Ergebnisse solcher Bildungsprozesse notwendig subjektiv sind, gilt „Bildung“ in der Tradition des Neuhumanismus als von äußeren Zwecken freies Geschehen. Bildung hat ihren Sinn hiernach in sich selbst. Gemeinhin wird spätestens an dieser Stelle der Einwand erhoben, diese idealistische Sicht sei eine typisch deutsche semantische Tradition, die im internationalen Vergleich eine Art Sonderweg darstelle und insbesondere mit dem angelsächsischen Verständnis von „education“ und „literacy“ nicht vermittelbar sei, das schon der PISA-Studie zu Grunde gelegen habe. An eben dieses angelsächsische, heute internationale prägende Konzept schließe aber das pragmatische Verständnis von den Aufgaben der Schule an, auf das kompetenzorientierte Standards sich beziehen würden und müssten. Dass dieser Einwand erheblich zu kurz greift, wird besonders gut an einer Ansprache deutlich, mit der der Soziologe Andrew Abbott 2002 die Studienanfänger der University of Chicago begrüßte und ihnen den Sinn ihres Studiums (education) aus der Perspektive der Universität darlegte. Abbott führte darin über „education“ unter anderem aus: “The reason for getting education here – or anywhere else – is that it is better to be educated than not to be. It is better in and of itself. ... Education is not about content. It ist not even about skills. It is a habit or stance of mind. Is is not something that you have. It is something that you are. ... There is no aim of education. The aim is education.” (Abbott 2007, 14 ff.) Abbotts Ansprache würde Humboldt wohl gefallen haben. Tatsächlich sind es ausgerechnet die amerikanischen Eliteuniversitäten, an denen sich ein Verständnis von zweckfreier Bildung in der Tradition Humboldts weit mehr als im deutschen Schul- und Universitätssystem gehalten hat und bis heute prägende Wirkung entfaltet. Es trifft zwar zu, dass der Begriff „Bildung“ nicht unmittelbar ins Englische zu übersetzen ist. Es trifft aber auch zu, dass „education“ weit mehr meint als der deutsche Begriff „Erziehung“ und dass sich Bildung durchaus als eine bestimmte Qualität von education verstehen lässt.
24 „Bildung“ zeichnet sich somit durch eine strukturelle, im Begriff selbst von vorneherein angelegte Heterogenität („Mannigfaltigkeit“, so Humboldt) aus. Hier liegt eine Grenze für die Standardisierbarkeit der Schule – jedenfalls solange der Bildungsbegriff und mit ihm die Vorstellung von der Bindung dessen, was gelernt werden soll, an die Entfaltung der Subjektivität der Adressaten nicht aufgegeben werden soll. Andererseits würde es das hier in Rede stehende Problem auch verkürzen, wenn man aus dieser notwendigen Subjektivität von Bildungsprozessen folgern wollte, dass Standards für die Schule nicht möglich oder zumindest nicht sinnvoll wären. Mit Jürgen Oelkers lässt sich gut begründet auch die folgende These vertreten: „Neu sind nicht ‚Standards’ der Schule, sondern zunächst nur ihre Bezeichnung; die Schule besteht aus ‚Standards’, nur wurden sie bisher nicht so genannt“ (Oelkers 2005, 5 f.) Tatsächlich gibt es neben performance standards, zu denen die deutschen kompetenzorientierten Standards gehören, auch content standards, opportunity-to-learnstandards und process standards. In diesem Sinne sind beispielsweise auch Notenskalen, Stundentafeln, Lehrer-Schüler-Relationen, Raumgrößen oder Lehrergehälter Formen von Standards. Das Argument von Oelkers führt zu dem Schluss, dass die derzeitigen Bildungsstandards in deutschen Schulen nicht eine bisher standardlose Schule standardisieren, sondern lediglich die Gewichtungen im System der Regulierungen neu verteilen und einen für Deutschland neuen Typus von Standards einführen. Wie lässt sich mit der Spannung zwischen diesen beiden gleichermaßen zutreffenden Argumenten, der Nicht-Standardisierbarkeit von Bildung und der Unausweichlichkeit von Standards für Schule, umgehen? Vielleicht in dieser Weise: Standardisierbar ist nicht Bildung, standardisierbar sind aber die Bedingungen ihrer Ermöglichung im öffentlich verantworteten Schulwesen. Dies betrifft die zunächst die äußeren, institutionellen Bedingungen, die ohne Standardisierungen kaum geschaffen werden können. Dies könnte aber auch subjektive Bedingungen betreffen. Damit würde die Frage aufgeworfen, welche persönlichen Dispositionen gegeben sein müssen, damit Individuen bei realistischer Betrachtung unter den Bedingungen einer modernen Gesellschaft überhaupt in den Stand versetzt werden können, zu einer freien Wechselwirkung mit der Welt zu gelangen (Humboldt) bzw. sich (im weitesten Sinn) Kultur subjektiv zuzueignen (Adorno). Vereinfacht gesagt, wäre dies die Frage nach subjektiven Voraussetzungen für eine aktive Teilnahme an der modernen Kultur in einem umfassenden Sinn, unter Ein-
25 schluss auch von Beruf, Politik, Naturwissenschaft und Technik. Unbestritten dürfte sein, dass hierzu beispielsweise Lesekompetenz gehört, und zwar durchaus in dem komplexen Sinn, wie dies in der PISA-Studie verstanden wurde. Nahe liegend ist weiterhin die Vermutung, dass ohne ein Mindestmaß an politischer Urteilsfähigkeit, ästhetischer Alphabetisierung (Duncker 2006), mathematischen und naturwissenschaftlichem Verständnis und bestimmten modernen Kulturtechniken wie etwa Computernutzung eine solche Teilhabe ebenfalls kaum möglich sein dürfte. Diese wenigen Beispiele führen zu der Frage, ob sich nicht in der Tat bestimmte Basiskompetenzen für eine solche Teilhabemöglichkeit und damit als Bedingung der Möglichkeit subjektiver Bildung beschreiben lassen. Diese festzulegen, wäre dann die Aufgabe von Bildungsstandards. Impliziert wird damit allerdings eine durchaus zurückhaltende Erwartung an die Steuerungswirkung solcher Standards: Sie müssten einerseits bestimmte Mindestkompetenzen bei allen Schülerinnen und Schülern anstreben, insoweit also eine homogene Ausgangsbasis für weitere Bildungsprozesse stiften, andererseits aber weite Räume für eben diese subjektiven Prozesse auch eröffnen und fördern. Mit anderen Worten, Bildungsstandards müssen weit davon entfernt sein, alles normieren zu wollen, was in der Schule inhaltlich geschieht. Sie müssen außerdem von Abschlussprüfungen und auf die einzelnen Schülerinnen und Schüler bezogenen Selektionsentscheidungen strikt getrennt werden, denn in ihrer Logik liegt es, dass sie von allen gleichermaßen erreicht werden sollen. Leider muss man konstatieren, dass diese Erfordernisse unmittelbar zu bestimmten Problemen und Fehlern bei der Einführung von Bildungsstandards in Deutschland führen.
5. Fünf Probleme bei der Einführung von Bildungsstandards in Deutschland 5.1 Regelstandards statt Mindeststandards Die zuletzt angesprochenen Erfordernisse wurden auch in der Klieme-Expertise hervorgehoben: „Die Expertengruppe rät ... nachdrücklich zu einer Trennung zwischen der Verwendung standard-bezogener Tests für Evaluation, Bildungsmonitoring und ... als Entscheidungshilfe für individuelle Förderung einerseits ..., Noten und Abschlussprüfungen andererseits. Dies ist
26 mit ein Argument dafür, Testeinsätze nicht in den Abschlussjahrgängen durchzuführen. Um es ganz deutlich zu sagen: Diese Expertise sieht die Funktion von Bildungsstandards nicht darin, den individuellen Leistungsund Selektionsdruck auf Schülerinnen und Schüler zu verstärken.“ (Bundesministerium 2003, 49) Deshalb spricht sich die Expertise dafür aus, Bildungsstandards als Mindeststandards zu konzipieren: „Sie drücken die Mindestvoraussetzungen aus, die von allen Lernern erwartet werden. Diese Mindeststandards müssen schulformübergreifend für alle Schülerinnen und Schüler gelten.“ (ebd., 25) Wohl in Voraussicht der Widerstände gegen diese Forderung macht die Expertise den Stellenwert dieser Festlegung sehr stark und wendet sich explizit gegen die Alternative, Bildungsstandards als „Regelstandards“ zu verstehen: „Diese Konzentration auf Mindeststandards ist für die Qualitätssicherung im Bildungswesen von entscheidender Bedeutung. Sie zielt darauf, dass gerade die Leistungsschwächeren nicht zurückgelassen werden. ... ‚Regelstandards’, die ein Durchschnittsniveau spezifizieren, enthalten implizit die Botschaft, dass man eine Art Normalverteilung der Kompetenzen erwartet, bei der es im Vergleich zum Regelfall immer Gewinner und Verlierer gibt. ... Die für die Stützung leistungsschwächerer Schüler entscheidende Frage, was diese wissen und können müssen, um als erfolgreich gelten zu können, lässt sich mit Regelstandards nicht beantworten – jedenfalls nicht positiv.“ (ebd., 27 f.) Dieser klaren Festlegung wollte die KMK nicht folgen. Die von ihr verabschiedeten Bildungsstandards sollen als Regelstandards verstanden werden, sie sind zudem abschlussbezogen und entsprechend nach Schulformen differenziert. Die KMK begründet dies damit, dass es für die Festlegung von Mindeststandards noch an der wissenschaftlichen Basis fehle. Dies ist jedoch ein recht fadenscheiniges Argument, denn es ließe sich in gleicher Weise gegen Regelstandards vorbringen. Viel näher liegt die Vermutung, dass wegen des Festhaltens am mehrgliedrigen Schulsystem schulformübergreifende Mindeststandards politisch nicht gewünscht wurden. Es ist möglich, ja wahrscheinlich, dass diese Entscheidung das Projekt Bildungsstandards um ein Gutteil seiner möglichen positiven Effekte bringen wird. Zu befürchten ist eine subtile, aber folgenschwere Verantwortungsdelegation: Während Mindeststandards dezidiert die Schulen für deren Erreichen verantwortlich machen sollen, eröffnen Regelstandards die Möglichkeit, diese Verantwortung in altvertrauter Manier den Schülerinnen und Schülern zuzuschieben. Die hohe Selektivität des deutschen Schulsystems –
27 die ja eines der Ausgangsprobleme für die Entwicklung von Bildungsstandards war, weil die deutschen Schulen mit der Produktion von rund einem Fünftel extrem chancenarmer „Risikoschüler“ nicht angemessen auf die Heterogenität von Lernvoraussetzungen reagieren –, diese Selektivität wird über schulformspezifische Regelstandards wohl kaum gemindert, sondern möglicherweise sogar noch gefestigt werden. In gewisser Weise ist es gerade der Erfolg des Projekts Bildungsstandards, der auch in inhaltlicher Hinsicht die Problematik dieser Festlegung auf schulformbezogene Standards erkennen lässt. Denn spätestens die Entwicklung von Standards für alle Fächer zeigt schon jetzt, wie wenig überzeugend die Unterstellung einer klaren Differenzierbarkeit von Kompetenzanforderungen nach Schulformen zumindest für die Sekundarstufe I ist. Um Beispiele zu nennen: Wie sollte es in einer Demokratie begründbar sein, dass Gymnasiasten politisch besser urteilsfähig sein müssen als Hauptschüler? Warum sollten Hauptschülerinnen im Sportunterricht nicht höhere Leistungen erbringen können als Realschülerinnen? Mit welchem Argument sollte für Gymnasiasten eine bessere ästhetische Ausdruck- und Urteilsfähigkeit im Kunstunterricht angestrebt werden können als für andere Jugendliche? Versuche, beispielsweise in der politischen Bildung schulformdifferente Kompetenzanforderungen zu definieren, zeigen denn auch an den Haaren herbeigezogene, inhaltlich völlig inkonsistente Unterscheidungen.
5.2 Bildungsstandards als zusätzliche Regulierung Auf die spannungsvolle, widersprüchliche Lage der deutschen Bildungsreformpolitik am Ende des ersten Jahrzehnts des 21. Jahrhunderts wurde eingangs schon hingewiesen. Dies betrifft zwangsläufig auch den Kontext, in dem die Einführung von Bildungsstandards steht. Bildungsstandards konsequent als zentrales Element einer neuen Outputsteuerung der Schule zu verstehen, hieße die Input-Regulierungen drastisch zu reduzieren. Insbesondere läge die ersatzlose Streichung aller Lehrpläne in der Logik eines solchen Unterfangens. Zu dieser Empfehlung wollte sich schon die Klieme-Expertise nicht durchringen. Stattdessen wurde die Einführung neuer „Kerncurricula“ empfohlen, die in knapper Form die Kerninhalte der Fächer definieren sollen. Offenbar soll diese Festlegung einen eher behutsamen, sich nicht zu weit
28 und zu schnell von den Traditionen des deutschen Schulwesens entfernenden Reformweg eröffnen. Ob dies gelingt, bleibt abzuwarten. Anlass zur Skepsis gibt es durchaus, zumal „der Begriff des ‚Kerncurriculums’ noch nicht eindeutig normiert ist“ (Bundesministerium 2003, 94). Das Risiko ist jedenfalls beträchtlich, dass sich bei der Entwicklung dieser Kerncurricula erneut alle möglichen Interessengruppen in den Resultaten wiederfinden wollen, die „Kerne“ deshalb reichlich groß ausfallen werden und Kerncurricula sich am Ende als alter Wein in neuen Schläuchen darstellen könnten. Aber auch über diese Frage der Kerncurricula hinaus ist die Gefahr noch keineswegs gebannt, dass Bildungsstandards letztlich nicht als Element einer neuen Steuerung mit weniger Vorgaben, sondern als zusätzliche Regulierung mit zusätzlichen Anforderungen in den Schulen ankommen. Bildungsstandards können auf die Schule aber nur dann nur positive Effekte haben, wenn sie vereinfachend, deregulierend und damit befreiend und ermutigend wirken. Ob dies am Ende der Fall sein wird, ist durchaus noch nicht ausgemacht.
5.3 Bildungsstandards als fachlicher Reduktionismus Wie selbstverständlich werden Bildungsstandards für die bestehenden Fächer im überlieferten Fächersystem der Schule entwickelt. Dies mag aus pragmatischen Erwägungen heraus nachvollziehbar sein, wäre doch eine neue Grundsatzdebatte über die Fächerstruktur der Schule angesichts der strukturkonservativen Effekte des deutschen Bildungsföderalismus mit dem Risiko behaftet, dass sie nach Jahren erfolglos im Sande verläuft. Wie wenig selbstverständlich eine solche Festlegung auf die überkommene Fächerstruktur dennoch ist, kann man sich klar machen, wenn man sich an den Ausgangspunkt der Reformdebatte, die erste PISA-Studie, erinnert, in deren Mittelpunkt Lesekompetenz stand – aber Lesekompetenz ist gerade keine fachliche Kompetenz, sie ist offenkundig nicht identisch mit Leistungen des Faches Deutsch. Deutlich wird diese Problematik auch bei den methodenbezogenen Kompetenzbereichen, die sich bei den von der KMK verabschiedeten Standards finden: Es kann kaum überraschen, dass sie sich stark überschneiden. Aber auch das Verständnis von Wissen, auf das fachliche Kompetenzmodelle sich beziehen, ist weniger klar fachlich abgrenzbar als man zunächst vielleicht erwartet. So definieren die Bildungsstandards in
29 Physik und Biologie fachliches Wissen in Form von „Basiskonzepten“. Zu diesen Basiskonzepten zählen sie unter anderem „System“; aber der gleiche Begriff findet sich als Basiskonzept auch in der politikdidaktischen Diskussion (Sander 2008, 100 f.). Vermutlich werden sich ähnliche Überschneidungen auch zwischen anderen Fächern ergeben, wenn es zur Einführung von Bildungsstandards für alle Fächer kommen sollte. Dagegen ist zunächst auch wenig einzuwenden und gewiss ist es ein sinnvoller Effekt, wenn in Bildungsstandards klar formuliert wird, worum es in einem Fach geht. Gleichwohl war die schnelle Festlegung auf innerfachliche Kompetenzmodelle auch eine verpasste Chance, die Frage nach den Basiskompetenzen, die Menschen heute in modernen Gesellschaften benötigen, zunächst einmal als ein ergebnisoffenes Bildungsproblem und Aufgabe der ganzen Schule zu diskutieren, bevor man sie wieder nach den altgewohnten Muster aufteilt und einkästelt.
5.4 Bildungsstandards als Ausdruck technologischer Steuerungsillusionen Das letztgenannte Problem gewinnt an Brisanz, wenn man die teilweise hypertrophen Erwartungen in Rechnung stellt, die an die wissenschaftliche Exaktheit und Überprüfbarkeit von Kompetenzmodellen hier und da gestellt werden. Leider sind auch die Fachdidaktiken nicht frei davon, sich von den manchmal recht vollmundigen Versprechungen der Psychologie hinsichtlich der empirischen Testbarkeit von Kompetenzentwicklungen beeindrucken zu lassen. So entsteht leicht die Illusion, es ließen sich tatsächlich für alle Fächer (oder „Domänen“, wie eine modische, der Psychologie entlehnte Wortwahl auch sagt) eindeutig definierte und mittels standardisierter Testverfahren objektiv überprüfbare Modelle fachlicher Kompetenzen entwickeln. Die Psychologie empfiehlt sich in diesem Zusammenhang gerne als neue „Königsdisziplin“ für eine evidenzbasierte Steuerung des Bildungssystems, indem ihre Kriterien quasi zu den verbindenden Maßstäben fachlicher Kompetenzmodelle erklärt werden. Es ist jedoch keineswegs plausibel, dass die Fächerstruktur der Schule gewissermaßen unterschiedlichen psychischen bzw. kognitiven Strukturen des Menschen korrespondiert. Es ist noch weniger plausibel anzunehmen, dass die gesamte Komplexität der Entwicklung des menschlichen Weltver-
30 stehens mittels empirischer Forschung aufklärbar, in Stufen modellierbar und empirisch testbar wäre. Diese Annahmen stehen aber unausgesprochen hinter der hier kritisch angesprochenen Steuerungsillusion. Ob überhaupt beispielsweise die Entwicklung philosophischen Denkens im Fach Ethik einer anderen sachlichen Logik folgt als die Entwicklung ethischmoralischen Urteilen in der politischen Bildung, dürfte mehr als zweifelhaft, dass beide unterschiedliche kognitionspsychologische Modellierungen erfordern, dürfte auszuschließen sein. Ferner ist es ausgeschlossen, dass alle relevanten Kompetenzaspekte aller Fächer mittels standardisierten schriftlicher Test überprüfbar sind, und zwar nicht nur auf technischen und finanziellen, sondern aus prinzipiellen Gründen. Wie sollten solche Tests beispielsweise für körperbezogene Kompetenzen im Sportunterricht oder für ästhetisch akzentuierte in Kunst aussehen? Auch in der politischen Bildung ist aus ersten Versuchen, standardisierte kompetenzorientierte Tests zu entwickeln, bisher wenig Brauchbares herausgekommen. In Fragen der empirischen Exaktheit und Testbarkeit von Kompetenzstandards ist daher mehr Bescheidenheit und Pragmatismus angebracht. Es ist durchaus nicht zwingend, mit den Bildungsstandards auch die Verfahren ihrer Überprüfung im Sinn empirischer Exaktheit zu standardisieren. Wenn es etwa im Standardentwurf der GPJE für die politische Bildung im Kompetenzbereich „politische Handlungsfähigkeit“ unter anderem heißt, dass Schülerinnen und Schüler politische Urteile „in der Konfrontation mit anderen Positionen sachlich begründen und argumentativ vertreten können“ sollen (GPJE 2004, 23), dann ist eine Evaluation dieses Standards nun einmal nur in eben solchen kommunikativen Situationen möglich, in denen diese Kompetenz realiter gezeigt werden kann. Dies mag eine kontroverse Diskussion in der Klasse, eine Pro- und Contra-Simulation oder ein persönliches Gespräch sein, aber es wird kein standardisierter schriftlicher Test sein können. Standardformulierungen dieser Art sind zwar nicht für vergleichende Tests operationalisiert, gleichwohl aber klar, verständlich und hinreichend genau, um beispielsweise einem Team von Schulinspektoren Kriterien für eine standardorientierte Evaluation von Schulleistungen zu bieten.
5.5 Bildungsstandards als Bildungssurrogat Bildungsstandards sollten somit nicht überschätzt werden. Hierzu gehört auch ihre Bedeutung für die Definition der Aufgaben der Schule insgesamt.
31 So sinnvoll und chancenreich das Projekt Bildungsstandards für das deutsche Schulwesen im Kern ist, es wäre eine Überschätzung seiner Möglichkeiten, wollte man fachliche Bildungsstandards in ihrer Summe als Definition von Bildung oder als Ersatz, als Surrogat für den Bildungsbegriff verstehen. Es ist vielleicht das eigentliche Drama der Schule heute, dass sie keine Klarheit über die Frage hat, wozu sie eigentlich da sein soll. Paradoxerweise wird dies gerade an der Einführung von Bildungsstandards in Deutschland gut deutlich. Der erste Abschnitt aller von der KMK verabschiedeten Standards soll den Beitrag des jeweiligen Faches zur Bildung in kurzer Form darlegen. Dies wurde von der KMK verlangt, obwohl sich dieses höchste Gremium der deutschen Bildungspolitik nicht in der Lage gesehen hat, zunächst einmal selbst zu formulieren, was es denn heute unter eben dieser Bildung als Aufgabe der Schule verstanden wissen will, zu der dann die Fächer ihre Beiträge leisten sollen. Bildungsstandards beantworten diese Frage nicht, sie setzen vielmehr eine Antwort voraus, über die es aber derzeit in der Bildungspolitik keinen Konsens gibt. Das ist vielleicht die zentrale Schwäche des Projekts Bildungsstandards in Deutschland.
6. Ausblick: Konsequenzen für Bildungspolitik und schulische Praxis Es mag zunächst paradox klingen, wenn die dringendste Notwendigkeit für einen praktischen Erfolg des Projekts Bildungsstandards eine theoretische ist: eine Klärung darüber herbeizuführen, wohin das Schulsystem in einer nachindustriellen Gesellschaft sich entwickeln soll, wie seine grundlegenden Aufgaben zu bestimmen sind und welches seine fundamentalen Strukturen sein sollen. Es bedarf eines solchen konzeptuellen Gesamtrahmens für die Bildungsreform, wenn die vielfältigen Einzelmaßnahmen der aktuellen Bildungsreformen in den Schulen nicht als Folge immer neuer Zumutungen, sondern als Elemente eines konsistenten und überzeugenden, mindestens aber akzeptablen Zukunftskonzepts für das Schulsystem erfahren werden sollen. Aber auch für die Akzeptanz des öffentlichen Schulwesens in der Öffentlichkeit und nicht zuletzt in der Elternschaft ist ein solches Gesamtkonzept überfällig, wenn der schleichende Legitimationsverlust der öffentlichen Schule, wie er beispielsweise in der zunehmenden Flucht in Privatschulgründungen seinen Ausdruck findet, beendet werden soll.
32 Ein solches Gesamtkonzept wird sich ohne eine Neubestimmung dessen, was „Bildung“ unter den heutigen gesellschaftlichen, kulturellen, ökonomischen und politischen Bedingungen bedeuten soll, schwerlich entwickeln lassen. Diese Notwendigkeit wäre selbst dann gegeben, wenn der Be-griff der Bildung nicht mehr konsensfähig wäre, denn jede diesen Begriff substituierende Formulierung stünde vor der gleichen Notwendigkeit einer tragfähigen konzeptuellen Begründung. Allerdings ist im deutschsprachigen Raum eine solche Alternative zum Begriff der Bildung nirgendwo in Sicht. Von den Schulen und den Lehrerinnen und Lehrern wiederum ist zu hoffen und zu erwarten, dass sie die Chancen, die die aktuelle Bildungsreformbewegung bei allen Spannungen und Widersprüchen doch bietet, weitaus entschlossener und aktiver nutzen, als dies bislang weithin der Fall ist. Eine neue Kultur kompetenzorientierten Lehrens und Lernens kann letztlich nicht verordnet werden, sie muss in Schulen wachsen, die sich auf diesen neuen Ansatz einlassen und neue Lernformen in der Praxis realisieren. Bei aller Kritik an den derzeitigen Reformen, wie sie oben vorgetragen wurde, lässt sich doch auch konstatieren, dass die Freiräume der Schulen für neue Konzepte schon heute weitaus größer sind als den meisten bewusst ist und als sie in der Praxis genutzt werden. Ein kleines Beispiel: In Hessen ist die verbindliche Wochenstundentafel vor einigen Jahren durch Jahresstundenkontingente ersetzt werden, die es Schulen erlauben, andere Modelle flexibler Unterrichtsgestaltung jenseits der festen Wochenstunden zu entwickeln und zu erproben. Im Umfeld der Schulen, mit denen die Gießener Universität kooperiert (z.B. bei den Schulpraktika), ist dem Verfasser keine einzige Schule bekannt, die diesen Freiraum nutzen würde.
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33 Bundesministerium für Bildung und Forschung (Hrsg.) (2003): Zur Entwicklung nationaler Bildungsstandards. Eine Expertise. Bonn Burkard, Christoph/Eikenbusch, Gerhard/Ekholm, Mats (2003): Starke Schüler – gute Schulen. Wege zu einer neuen Arbeitskultur im Unterricht. Berlin Bransford, John D./Brown, Ann L./Cocking, Rodney R. (Hrsg.) (2000): How People Learn. Brain, Mind, Experience and School. Expanded Edition, Washington, D.C. Deutsches PISA-Konsortium (Hrsg.) (20001): PISA 2000. Basiskompetenzen von Schülerinnen und Schülern im internationalen Vergleich. Opladen Duncker, Ludwig (2006): Ästhetische Alphabetisierung als Bildungsaufgabe. In: kursiv – Journal für politische Bildung 2/2006 Eggimann, Ernst (1973): Landschaft des Schülers. Zürich Girmes, Renate (2004): (Sich) Aufgaben stellen. Seelze Gollob, Rolf et al. (2007): Politik und Demokratie – leben und lernen. Politische Bildung in der Schule – Grundlagen für die Aus- und Weiterbildung. Bern GPJE (2004): Nationale Bildungsstandards für den Fachunterricht der Politischen Bildung an Schulen. Ein Entwurf. Schwalbach Humboldt, Wilhelm von (1793): Theorie der Bildung des Menschen. In: Tenorth, Heinz-Elmar (Hrsg.): Allgemeine Bildung. Analysen zu ihrer Wirklichkeit, Versuche über ihre Zukunft. Weinheim und München 1984 Messner, Rudolf (2004): Was Bildung von Produktion unterscheidet. In: Schlömerkemper, Jörg: Bildung und Standards. Zur Kritik der „Instandardsetzung“ des deutschen Bildungswesens. 8. Beiheft von Die Deutsche Schule, Weinheim Oelkers, Jürgen (2005): Was sollen Bildungsstandards in der Schule? Vortragsmanuskript, www.paed.unizh.ch/ap/home/vortraege.html (26.3.08) Pohl, Kerstin (Hrsg.) (2004): Positionen der politischen Bildung 1. Ein Interviewbuch zur Politikdidaktik. Schwalbach Sander, Wolfgang (2005a): Die Welt im Kopf. Konstruktivistische Perspektiven zur Theorie des Lernens. In: kursiv – Journal für politische Bildung 1/2005 Sander, Wolfgang (2005b): Die Bildungsstandards vor dem Hintergrund der politikdidaktischen Diskussion. In: Redaktionen Politische Bildung & kursiv – Journal für politische Bildung (Hrsg.): Bildungsstandards – Evaluation in der politischen Bildung. Schwalbach Sander, Wolfgang (2008): Politik entdecken – Freiheit leben. Didaktische Grundlagen politischer Bildung. 3. Aufl., Schwalbach Vollmer, Helmut Johannes (2008): Kompetenzen und Bildungsstandards. Stand der Entwicklung in verschiedenen Fächern. In: Weißeno 2008 Weißeno, Georg (Hrsg.) (2008): Politikkompetenz. Was Unterricht zu leisten hat. Bonn
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Rudolf Sträßer und Claudia von Aufschnaiter
Vom Bildungskanon zu den Bildungsstandards Assoziationen eines Mathematikdidaktikers mit Zwischenbemerkungen einer Physikdidaktikerin Im Text werden drei Phasen der Schul- und Lehrplan-Entwicklung der Bundesrepublik Deutschland – vor allem für das Fach Mathematik – beschrieben und aus der Sicht einer Physikdidaktikerin kommentiert. Im Einzelnen handelt es sich um die Phasen, in denen Bildung x in einem Bildungskanon gefasst wurde, x Bildung als individuelle Aufgabe verstanden wurde, x Bildung durch Bildungsstandards definiert wurde. Interessant an diesem kursorischen Durchgang durch einen Teil der bundesrepublikanischen Schul- und Bildungsgeschichte sind die Übergänge zwischen den hier beschriebenen Phasen und insbesondere die Gründe und Motive, die zu solchen Übergängen geführt haben.
Prolog Der Beitrag zeigt einen intensiven Diskurs zwischen einem Mathematikdidaktiker, Jahrgang 1946, und einer Physikdidaktikerin, Jahrgang 1970. Er spiegelt damit nicht nur die (möglicherweise) unterschiedlichen Sichtweisen zweier Disziplinen wider, von denen eine eher geisteswissenschaftlich und eine eher naturwissenschaftlich orientiert ist, sondern verweist auch auf unterschiedliche Wahrnehmungen von Bildung, Bildungsprozessen und gegenwärtigen Diskussionen, wie sie sich (auch) aufgrund der beiden unterschiedlichen Biographien der Autoren des Beitrags ergeben. Der Beitrag will damit nicht eine feststehende Position anstreben, sondern die verschiedenen Sichtweisen deutlich machen und dabei vor allem einladen, eine konstruktivkritische Haltung zur gegenwärtigen aber auch vergangenen Bildungsdebatte einzunehmen. Der Artikel ist aus der Perspektive des Mathematikdidaktikers
36 verfasst, alle Zwischenbemerkungen der Physikdidaktikerin finden sich in Kästen in kursiver Setzung.
1. Bildung: gefasst in einem Bildungskanon Einleitend wird kursorisch das Schulsystem der Bundesrepublik Deutschland1 beschrieben, wie es bis in die 1960er Jahre organisiert war. Mit Unterschieden in den Bundesländern – vor allem im Zeitpunkt der Veränderung – lässt sich das „allgemeinbildende“ Schulsystem in der Bundesrepublik als im Wesentlichen dreigliedrig beschreiben: Neben einer „Volksschule“ für die Mehrheit der Kinder im Alter von 6 bis 10 Jahren stand eine „Realschule“, die den Nachwuchs der mittleren Angestellten schulisch vorbereiten sollte. Das Gymnasium verstand sich als Schule für die (geistige) Elite. Im Laufe der deutschen Schulgeschichte hatten sich für das Gymnasium vor allem vier Formen herausgebildet: das klassische „altsprachliche“, das „mathematisch-naturwissenschaftliche“, das „neusprachliche“ und das „Mädchengymnasium“2. Nur für das Gymnasium wurde (zum Beispiel in den universitären Instituten für Pädagogik) diskutiert, was in den Schulen zu unterrichten sei. Diese „Bildungstheorie“ (mit Protagonisten wie Blankertz, Derbolav, Klafki, Litt, Nohl, Roth, Weniger und anderen) kann als die historisch-hermeneutisch gewonnene „Antwort“ auf den Horror der Nazi-Zeit verstanden werden, in der sich das Bildungsbürgertum (und seine Bildungsinstitution, das Gymnasium) als anfällig für die Nazi-Ideologie erwiesen hatte. Im Einzelnen lässt sich diese Bildungstheorie kurz mit der „Definition“ von Theodor Litt (1963) umschreiben: Bildung ist „… jene Verfassung des Menschen …, die ihn in den Stand setzt, sowohl sich selbst als auch seine Beziehungen zur Welt in Ordnung zu bringen…“ (so zitiert von Klafki 1
Wir werden in diesem Text nur die Entwicklung in der Bundesrepublik Deutschland beschreiben und kommentieren. Die Geschichte der Bildung in der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) soll nicht dargestellt werden. 2 In den verschiedenen Bundesländern begannen diese Schulformen nicht immer bereits nach der 4. Klasse, auch waren die genannten Bezeichnungen nicht bundeseinheitlich geregelt, vielmehr achteten die Bundesländer wegen der „Kulturhoheit der Länder“ darauf, ihre Eigenständigkeit in der Schulpolitik zu bewahren. Als Koordinationsgremium entstand bereits 1948 die „Ständige Konferenz der Kultusminister“, aus dessen Namen schon ersichtlich ist, dass die Entscheidungen weiterhin in den einzelnen Bundesländern bleiben soll(t)en. Der Vertrag zur Gründung des „Ständigen Sekretariats der Kultusministerkonferenz“ wurde 1959 geschlossen.
37 1963, S. 93). Typisch an diesem Zitat ist die Gegenüberstellung von Individuum und einer Welt, der sich dieses Individuum gegenübersieht. Vor allem ein balanciertes Verhältnis von Individuum und Welt war immer wieder das Problem einer Bildungstheorie (für eine elaboriertere Darstellung dieser Ideen vgl. z. B. Blankertz 1982, S. 181ff.). In einer Spätform dieser Bildungstheorie wurden vier „Initiationen“ unterschieden. (Vgl. Flitner 1959, der die „Tutzinger Hochschulreife-Gespräche zu einem Maturitätskatalog verdichtet hat und so einen „christlichabendländischen“ Bildungskanon definiert; zur sozialen Funktion dieses Maturitätskataloges vgl. die „Geschichte der gymnasialen Oberstufe“ von Herrlitz 1995, insbesondere S. 105f.) Bei den „Initiationen“ (nach Flitner) handelt es sich um die Einführung in „griechische Philosophie und Wissenschaft“, ein „prophetisch-apostolisches Glaubens-/Lebensverständnis“, Wissen um „moderne Naturwissenschaft und Technik“ und die „bestehende Staats- und Rechtsordnung“.
Zwischenbemerkung 1: Welcher Theoriebegriff? Es scheint mir nicht eindeutig, welchen „theoretischen“ Anspruch die bisher aufgeführten Bildungstheorien einnehmen: „Eine Theorie ist eine systematisch geordnete, strukturierte, in sich widerspruchsfreie Zusammenfassung von zumeist gesetzesartigen Aussagen über einen bestimmten Gegenstandsbereich.“ (Grehn & Krause 1998, S. 567). Mit Blick auf die Beschreibung von Grehn und Krause sind „Bildungstheorien“ keine Theorien, sondern normativ geprägte Überlegungen. Sie sind nicht (bzw. kaum) empirisch geprüft und es stellt sich die Frage, ob sie überhaupt empirisch prüfbar sind. Darüber hinaus wird deutlich, dass die Theorien für konkrete unterrichtliche Entscheidungen nur „rückwirkend“ genutzt werden können: „Auch wenn Beschreibungen allgemeiner Bildung im Sinne Klafkis oder Heymanns wenig konkret erscheinen mögen, sind sie als Orientierungsmaßstäbe für konkretes pädagogisches Handeln geeignet. Es ist jedoch nicht möglich, aus ihnen bestimmte obligatorische Fächer, Inhalts- oder Fähigkeitsdimensionen zu deduzieren (vgl. Heymann 1990, S. 25). Vielmehr ist es Aufgabe jedes Faches, seine Inhalte an den übergeordneten Maßstäben kritisch zu reflektieren.“ (Schecker et al. 1996, S. 3). Konsequenterweise – so lange Schule entlang von Fächern organisiert ist – stellte sich die Frage nach dem „Bildungswert“ einzelner Schulfächer wie zum Beispiel dem Bildungswert der Mathematik. Die beste Antwort wurde wahrscheinlich – im Nachgang zur hohen Zeit der Bildungstheorie – vom
38 Mathematikdidaktiker Heinrich Winter formuliert (vgl. Winter 1975 und 1995). Winter hebt dabei drei „Grunderfahrungen“ hervor, die der Mathematikunterricht anstreben sollte: „(1) Erscheinungen der Welt um uns, die uns alle angehen oder angehen sollten, aus Natur, Gesellschaft und Kultur, in einer spezifischen Art wahrzunehmen und zu verstehen, (2) mathematische Gegenstände und Sachverhalte, repräsentiert in Sprache, Symbolen, Bildern und Formeln, als geistige Schöpfungen, als eine deduktiv geordnete Welt eigener Art kennen zu lernen und zu begreifen, (3) in der Auseinandersetzung mit Aufgaben Problemlösefähigkeiten, die über die Mathematik hinaus gehen, (heuristische Fähigkeiten) zu erwerben.“ (vgl. Winter 1995, S. 37). Winter erläutert dann diese Erfahrungen von Mathematik als „Weltdeutung“, „als eigene Welt von Symbolen und Strukturen“ und „als Problemlöse-Feld“ mit schulrelevanten Beispielen.
Zwischenbemerkung 2: Wo bleibt das Individuum? Für mich ist in dieser „Übersetzung“ von Bildungstheorie in das Fach Mathematik nicht geklärt, was die drei Aspekte – Weltdeutung, eigene Welt von Symbolen, ProblemlöseFeld – mit der oben angeführten „Definition“ „sich selbst als auch seine Beziehungen zur Welt in Ordnung bringen“ zu tun haben. Es mag einem Schüler mit sich selbst und seinen Beziehungen gut oder schlecht gehen, die Mathematik ändert daran aus der Perspektive des Schülers möglicherweise – oder gar relativ sicher – nichts. Hier zeichnet sich also bereits ein Problem ab, das auch Fragen der Heterogenität berührt: „Bildung“ wird für eine breite Gruppe von Personen definiert, ohne zu konzipieren, welche Inhalte und welche Vorgehensweisen aus der Perspektive des einzelnen Individuums zu ihrer/seiner Bildung beitragen. In einer pluralistischen Gesellschaft lässt sich also „Bildung“ unter Umständen nicht mehr pauschal definieren bzw. der Fachunterricht muss zu solchen eher pauschalen Beschreibungen individualisierte Zugänge finden.
2. Vom Bildungskanon zur individuellen Aufgabe Was bis hierhin als eine wohlgeordnete Welt aus den Gründer- und AufbauJahren der Bundesrepublik Deutschland geschildert wurde, zerbricht gegen Ende der 60er Jahre des 20. Jahrhunderts unter zwei Angriffen: Spätestens der „Sputnik-Schock“ (die Erkenntnis, dass der ideologische Feind Sowje-
39 tunion zu bestimmten technischen Großtaten eher fähig ist als das „christliche Abendland“) wird zum Indikator für die Tatsache, dass das schulische Bildungssystem der jungen Bundesrepublik Deutschland keine angemessene Antwort auf die Technisierung der Welt darstellt. Die „Machbarkeit der Sachen“ (so der Soziologe Freyer 1955) erfordert eine (Aus)Bildung, die sich stärker an der technisch-wissenschaftlichen Zivilisation und weniger an einer (damals noch die Feuilletons beherrschenden) christlichen Geistesideologie orientieren muss. Der zweite Angriff erfolgte innerhalb des Wissenschaftssystems selbst, es wurde deren Geisteshaltung in Frage gestellt: Die empirische Wende von der Pädagogik zur Erziehungswissenschaft führte auch zu einer Abkehr von Sollens-Sätzen aus bildungstheoretischen Postulaten hin zu der Frage, wie das Schulsystem zu organisieren und innerlich zu gestalten ist. Die von Picht ausgerufene „Bildungskatastrophe“ (Picht 1964) legte eine Zerstörung des dreigliedrigen Schulsystems nahe; schulorganisatorisch konnte die „integrierte Gesamtschule“ als Antwort auf die drängenden Fragen gesehen werden. Robinsohn (1967/1969) zog mit seinem Versuch einer induktiven Definition des Curriculums3 die innerwissenschaftlichen Konsequenzen aus der offensichtlichen Krise des dreigliedrigen Schulsystems – auch wenn sich theoretisch sehr schnell4, bzw. praktisch nach und nach das Scheitern dieses Versuches einer Curriculumreform herausstellte.
3. Bildung als individuelle Aufgabe Mit dem Zusammenbruch der Bildungstheorie als Fundament der allgemeinbildenden Schule brauchte man jedenfalls eine Systemantwort, um dieses für die Gesellschaft zentrale Reproduktionssystem zu steuern. Organisatorisch sahen viele Fachleute – vor allem sozialdemokratischer und liberaler Provenienz – die Antwort in integrierten Gesamtschulen in einem einheitlichen Schulsystem „für alle“ mit einheitlichem Lehrplan. Solche Systeme konnte man bei europäischen Nachbarn besichtigen. In den damaligen hessischen Rahmenrichtlinien wurden dann auch Konsequenzen im 3 Über die Bestimmung von Lernzielen zur Erreichung von Kompetenzen, die zur Bewältigung von Situationen nötig sind 4 Vgl. etwa schon die Kritik in höheren Auflagen der Blankertzschen Monografie zu „Theorien und Modelle der Didaktik“.
40 Sinne eines einheitlichen Lehrplanes für alle Schüler der Sekundarstufe I (wie die Klassen 5 bis 10 nun hießen) gezogen. In der „neugestalteten gymnasialen Oberstufe wirkte sich das Fehlen einer Curriculumtheorie dadurch aus, dass man die Fächerwahl weitgehend in die Verantwortung des einzelnen Schülers stellte5. Es waren zunächst nur noch drei Aufgabenfelder6 vorgegeben: das „sprachlich-literarisch-künstlerische“, das „gesellschaftswissenschaftliche“ und das „mathematisch-naturwissenschaftlich-technische“ Aufgabenfeld (vgl. KMK 1972/2006). Im Sinne einer Wissenschaftspropädeutik sollten zwei von den Lernenden individuell gewählte Schulfächer konzentriert studiert werden, die „Leistungskursfächer“. Die Allgemeinbildung sollte durch einen zusätzlichen Kranz von „Grundkursfächern“ gesichert werden. Die neugestaltete gymnasiale Oberstufe machte zunächst für die Fächerwahl wenig Vorschriften. Tatsächlich lässt sich die Geschichte der gymnasialen Oberstufe fortan als zunehmende Einschränkung dieser relativen Wahlfreiheit beschreiben. Mit dem Scheitern der Robinsohnschen Curriculumtheorie wie auch der Abdankung der vorausgehenden Bildungstheorie dominierte nun die Struktur der jeweiligen Fachwissenschaft7 die Inhalte der Schulfächer in der gymnasialen Oberstufe und weitgehend auch in der Mittelstufe. Für die Mathematik wird dies am deutlichsten in der gymnasialen Oberstufe, wo die „drei Säulen“ der Oberstufen-Mathematik entstanden: Analysis, Lineare Algebra und Stochastik8. Die Entwicklung in der Sekundarstufe I ist etwas komplizierter: Zunächst wurde – gemäß der Orientierung an der Wissenschaftsdisziplin die damalige Mathematik in die Sekundarstufe I getragen, was für alle Lernenden der Klassen 5 bis 10 bedeutete: Mengenlehre, Strukturmathematik, kaum Geometrie in der Primarstufe / Sekundarstufe I. Diese grundlegende Veränderung des Unterrichts vor allem in der ehemaligen Volks- und
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Möglicherweise im Sinne eines damals auch in der Philosophie breit diskutierten „anything goes!“ 6 Als Nachwirkung der Bildungstheorie? 7 Falls vorhanden! 8 Die ersten beiden Teilgebiete wurden manchmal als direkte Abbilder der Anfangsvorlesungen im Mathematikstudium an der Hochschule unterrichtet. Die Stochastik entwickelte sich erst nach und nach zu dieser „dritten Säule“, scheint sich aber neben den beiden Themenbereichen der universitären Anfängervorlesungen im Lehrplan der gymnasialen Oberstufe halten zu können.
41 Realschule9 hin zu einer von der damaligen Fachwissenschaft dominierten Unterrichtung in (Struktur-)Mathematik scheiterte grandios – wahrscheinlich schon an der unzureichenden Aus- und Fortbildung der Lehrpersonen, die mit der „Neuen Mathematik“ wenig anzufangen wussten. Lehrende, die zum Teil seit Jahrzehnten im Schuldienst tätig waren, bekamen in der Mehrheit nie eine reelle Chance, sich mit diesen neuen Unterrichtsinhalten vertraut zu machen10.
Zwischenbemerkung 3: Kritik und Ergänzung Von einer auf den individuellen Lerner bezogenen Perspektive ist in dieser Entwicklung fast nichts mehr übrig geblieben. Dass Schüler bestimmte Fächer wählen können, hat mit Individualisierung so viel oder so wenig zu tun, wie der Einkauf von Fertiggerichten im Supermarkt! Es zeigen sich allerdings, nicht überraschend, Parallelen zur Entwicklung in den Naturwissenschaften, auch, was die Kritik in Bezug auf diese Entwicklung angeht: „Ein Aspekt der Legitimationskrise liegt gerade darin begründet, daß die Fachverbände als Sachwalter des naturwissenschaftlichen Unterrichts dessen Legitimation zu sehr aus dem Gebrauchswert der zu vermittelnden Kenntnisse und Fähigkeiten ableiten, statt sich mit dem Begriff der naturwissenschaftlichen Bildung auseinanderzusetzen.“ (Schecker et al. 1996, S. 2). Um zwischen normativen Anforderungen (aus der Perspektive des Faches) und individuellen Sichtweisen zu vermitteln, könnte das Konzept der „Entwicklungsaufgabe“ ertragreich sein. Im Rahmen der Bildungsgangdidaktik verstehe ich dieses Konzept als Anliegen, die individuellen Bildungsziele innerhalb eines Unterrichtsganges/Faches zu erfassen und das curriculare Angebot entsprechend zu gestalten (vgl. z.B. Schenk 1998). Wenngleich dieses Konzept der Heterogenität innerhalb einer Schülerschaft sicher nicht vollständig Rechnung tragen kann, sehe ich hier doch das Bemühen, individuelle und fachwissenschaftliche Perspektiven gleichermaßen in den Blick zu nehmen.
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Wo das Schulfach meist „Rechnen und Raumlehre“ hieß und damit angemessen umschrieben war. 10 M.W. entstand gerade in dieser Zeit der Begriff der „relativen Autonomie des Schulsystems“ gegenüber Vorgaben „von außen“.
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4. Von der individuellen Aufgabe zu Bildungsstandards Die schul- und bildungspolitische Diskussion nach der „Bonner Vereinbarung zur neugestalteten gymnasialen Oberstufe von 1972“ lässt sich wesentlich deuten als eine Auseinandersetzung um ein Gegensatzpaar, welches schon in der traditionellen Bildungstheorie angelegt ist: Wie ist eine individuelle Laufbahn- und Curriculum-Definition, mit weitgehender Selbstbestimmung dessen, was zu lernen ist, vereinbar mit dem gesellschaftlichen Anspruch und der deutschen Tradition einer „allgemeinen Hochschulreife“, welche definiert, was ein Studierender zu können und wissen hat, wenn er ein beliebiges (!) Studium beginnen will11? Nach 1972 lässt sich die Lehrplan-Entwicklung für die gymnasiale Oberstufe als eine Geschichte von zunehmender Obligatorik beschreiben, das heißt: Seit 1972 werden die Beleganforderungen für die allgemeine Hochschulreife (für das „Abitur“) laufend präzisiert – unter Anderem durch immer genauere inhaltliche Vorgaben durch „Einheitliche Prüfungsanforderungen (EPA)“. Dazu kam im Jahr 1996 die methodisch schwer angreifbare internationale TIMSS-Studie, die dem deutschen Schulsystem deutlich machte, dass die deutsche Bildung (nur) Mittelmaß ist. Dieses Ergebnis war für die deutsche Öffentlichkeit ein ziemlicher Schock12. Jedenfalls waren sich veröffentlichte Meinung und Schul- wie Bildungspolitiker schnell einig, dass dieser Zustand des „Spielens in der zweiten Bildungsliga“ beseitigt werden müsse. Die europäische Antwort auf die wesentlich aus den USA gesteuerte TIMSS-Studie (für eine deutsche Beschreibung vgl. etwa Baumert u. a. 1997), die „PISA-Studie“, erbrachte dann seit 2000 in regelmäßiger Abfolge von drei Jahren auch keine wesentlich besseren Leistungsdaten für Lernende im deutschen Schulsystem (für die Ergebnisse der ersten PISA-Studie vgl. z. B. Baumert u. a. 2001). Beide Untersuchungen – TIMSS wie PISA – förderten nicht nur die erwähnte „empirische Wende“ der Erziehungswissenschaft, sondern etablieren in der deutschen Erziehungswissenschaft die 11 Auf eine historische oder soziologische Diskussion der Tatsache, dass die Frage nach einem allgemeinen „Bildungsstandard“ in der Bundesrepublik nur für Studierende bearbeitet wurde, soll hier verzichtet werden. 12 Übrigens in markantem Gegensatz zu der öffentlichen Reaktion in anderen Nationen, die sich auf vergleichbaren Rangplätzen wiederfanden.
43 Praxis der bundesweiten vergleichenden Leistungsmessung. Gleichzeitig verschaffen sich so die Bildungspolitiker eine Möglichkeit, die Leistungen des Schulsystems einzuschätzen und befördern den Versuch, die (Aus-) Bildungsleistung in den Bundesländern vergleichbar zu machen.
Zwischenbemerkung 4: Und nun? Es wird sehr deutlich, dass im Zuge der Reformen die Schüler nun also nicht mal mehr das Fertiggericht (wirklich) frei wählen dürfen. Damit gibt es für den Schüler auf formaler Ebene fast gar keine Möglichkeiten mehr, die individuellen Wünsche und Bedürfnisse in den eigenen Bildungsprozess zu integrieren. Wie sich Schüler in Bildungsangeboten entwickeln, welche Angebote aus der Perspektive von Schülern eine hohe Qualität haben (verstanden, genutzt und positiv erlebt werden, also aus Schülersicht „bildungswirksam“ sind), lässt sich anhand von Leistungsmessungen nur schwer erfassen. Bisher ist die Auskunftskraft empirischer Bildungsforschung in Bezug auf individuelle Bildungsprozesse also eher begrenzt. (Was nicht etwa ein Argument gegen empirische Bildungsforschung ist, sondern vielmehr ein Argument für einen stärker auf Schüler orientierten Anteil von Bildungsforschung mit Blick auf die Handlungs-, Denk und Lernprozesse von Schülern im Kontext institutionalisierter Bildung.)
5. Bildung definiert durch Bildungsstandards In dieser Diskussion um die Qualität des Schulsystems spielte die Mathematik (als eines der unbestrittenen „Hauptfächer“, obligatorisch inzwischen wieder bis zum Ende der Gymnasialzeit) immer eine besondere Rolle13. Insofern ändert sich die Perspektive in diesem letzten Abschnitt, indem nicht mehr auf eine Gesamtidee des in der Schule zu bearbeitenden Wissens abgezielt wird, sondern vor allem das Fach Mathematik betrachtet wird14. Für das Schulfach Mathematik finden die bisher dargestellten Trends einen vorläufigen Abschluss in den „Bildungsstandards für den mittleren Schulabschluss“ (Sekretariat der KMK, 2004). Hier wird der „Beitrag des 13 Möglicherweise spielt dabei auch – neben der Rolle der Mathematik als unbestrittenes „Hauptfach – die verbreitete Vorstellung eine Rolle, mathematische Kenntnisse könnten besonders einfach in Tests abgefragt werden. 14 Die in den voraufgehenden Abschnitten dargestellte Abwesenheit einer solchen Gesamtidee macht diese Entscheidung zusätzlich sinnvoll.
44 Faches Mathematik zur Bildung“ wie folgt beschrieben (vgl. Sekretariat der Kultusministerkonferenz 2004, S. 8)15: „Mathematikunterricht trägt zur Bildung der Schülerinnen und Schüler bei, indem er ihnen insbesondere folgende Grunderfahrungen ermöglicht, die miteinander in engem Zusammenhang stehen: • technische, natürliche, soziale und kulturelle Erscheinungen und Vorgänge mit Hilfe der Mathematik wahrnehmen, verstehen und unter Nutzung mathematischer Gesichtspunkte beurteilen, • Mathematik mit ihrer Sprache, ihren Symbolen, Bildern und Formeln in der Bedeutung für die Beschreibung und Bearbeitung von Aufgaben und Problemen inner- und außerhalb der Mathematik kennen und begreifen, • in der Bearbeitung von Fragen und Problemen mit mathematischen Mitteln allgemeine Problemlösefähigkeit erwerben.“
Zwischenbemerkung 5: Hat sich etwas geändert? Wenn ich die vorhin geäußerten drei Aspekte der Mathematik (Mathematik als Weltdeutung, Mathematik als eigene Welt von Symbolen und Strukturen, Mathematik als Problemlöse-Feld) betrachte, muss ich mich fragen, ob alle Bewegungen an der Mathematik spurlos vorüber gegangen sind! Tatsächlich lässt sich hier unschwer ein später Nachklang der Ideen von Winter erkennen, wie sie bereits in Abschnitt 1 dargestellt wurden. Nach diesen drei übergreifenden Zielen eines Mathematikunterrichts werden dann sechs mathematische „Kompetenzen“ benannt, die dieser Unterricht vermitteln soll16. Die nachstehende Grafik ist mit freundlicher Genehmigung des Verlages und der KMK direkt den „Bildungsstandards für Mathematik“ entnommen (vgl. a.a.O., S. 7). 15
Interessant: Der schwer in andere Sprachen übersetzbare Begriff der „Bildung“ wird auch in dieser Phase festgehalten und neu mit dem Begriff der „Standards“ zu einem Wort verbunden. Das Wort „Standards“ dürfte dabei der Entwicklung in den USA entlehnt sein, wo durch die einflussreiche Lehrerorganisation „National Council of Mathematics Teachers (NCTM)“ „Standards“ für den Mathematikunterricht in den USA entwickelt wurden (vgl. NCTM 1989). 16 Die „Bildungsstandards für Mathematik“ reihen sich so in die gegenwärtige terminologische Gewohnheit der Formulierung von Kompetenzen ein. Die Herkunft dieses Begriffes verdiente eine gesonderte Untersuchung – für die Mathematik vgl. z.B. Wedege 1995.
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Abb. 1: Allgemeine mathematische Kompetenzen im Fach Mathematik
Im Vergleich zu früheren Vorgaben für den Mathematikunterricht fällt auf, dass nun inhaltsunabhängige Kompetenzen gefordert werden17. Jedenfalls weisen diese „Kompetenzen“ eindeutig über eine eng gefasste Wissenschaftsdisziplin Mathematik hinaus und nehmen mathematisches Wissen und Kenntnisse in Dienst für auch außermathematische Problemlösung, Kommunikation und Argumentation. Mathematischer Unterricht wird vor allem in seiner Modellfunktion für andere Gegenstandsbereiche beschrieben.
17 Zu anderen, früheren Zeiten wäre hier wohl der Begriff der „Schlüsselqualifikationen“ benutzt worden. Die auch internationale Diskussion um (Aus)Bildungssysteme ist aber von diesem m. E. korrekteren Begriff abgekommen. Gründe für diesen Wechsel der Begrifflichkeit werden noch aufscheinen.
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Zwischenbemerkung 6: Mathematische Kompetenzen aus der Perspektive der Physik Die Bildungsstandards Physik weisen vier Kompetenzbereiche auf: Fachwissen, Erkenntnisgewinnung, Kommunikation und Bewertung. Von darin insgesamt 26 formulierten Standards beziehen sich nur zwei explizit auf die Mathematik: „E4: wenden einfache Formen der Mathematisierung an. E9: werten gewonnene Daten aus, ggf. auch durch einfache Mathematisierungen.“ (Sekretariat der Kultusministerkonferenz 2005, S. 11). Für mich wirft das die Frage auf, welche theoretisch und empirisch gewonnenen Erkenntnisse überhaupt über die Verzahnung/Vernetzung von Kompetenzen vorliegen, oder anders formuliert, kann jede Disziplin für sich formulieren, welche Kompetenzen wesentlich sind, und wann diese zur Anwendung kommen sollen? Wie soll sich ein Schüler in Bildungsangeboten zurecht finden, die u.U. deutlich widersprüchliche Aussagen z.B. zu Problemlöseschritten oder zu Prozessen des Argumentierens machen? Inhaltlich werden die in Abbildung 1 aufgeführten Kompetenzen durch „Leitideen“ konkretisiert (vgl. a.a.O., S. 9-12): • (L 1) Leitidee Zahl • (L 2) Leitidee Messen • (L 3) Leitidee Raum und Form • (L 4) Leitidee Funktionaler Zusammenhang • (L 5) Leitidee Daten und Zufall Die zweidimensionale Inhaltsbeschreibung durch „Kompetenzen“ und „Leitideen“ wird dann in den „Bildungsstandards für Mathematik“ noch durch eine Sammlung von „Aufgabenbeispielen“ erläutert (a.a.O., S. 13-36), wo 14 Aufgaben daraufhin charakterisiert werden, welche Kompetenzen mit ihnen abgefragt werden und welche Leitideen zu ihrer Lösung herangezogen werden müssen. Diese Verfahrensweise wird in einer allgemeineren und viel zitierten Studie wie folgt erläutert (vgl. Klieme u.a. 2007, S. 19): „Bildungsstandards … greifen allgemeine Bildungsziele auf. Sie benennen die Kompetenzen, welche die Schule ihren Schülerinnen und Schülern vermitteln muss, damit bestimmte zentrale Bildungsziele erreicht werden. Die Bildungsstandards legen fest, welche Kompetenzen die Kinder oder Jugendlichen bis zu einer bestimmten Jahrgangsstufe erworben haben sollen. Die Kompetenzen werden so konkret beschrieben, dass sie in Aufgabenstellungen umgesetzt und prinzipiell
47 mit Hilfe von Testverfahren erfasst werden können“. Man sieht vor diesem Hintergrund sehr deutlich, wie ein politischer Kompromiss für die Formulierung von „Bildungsstandards“ gefunden wurde, der auch die Erfassung solcher Kompetenzen in Testverfahren ermöglichen sollte, um dem Kontrollbedürfnis der (Bildungs-)Politiker nachzukommen. Im gleichen Text werden dann Merkmale guter Bildungsstandards vorgestellt (a.a.O., S. 25ff.): „Fachlichkeit“, „Fokussierung“, „Kumulativität“, „Verbindlichkeit für alle“, „Differenzierung“, „Verständlichkeit“ und „Realisierbarkeit“. Nach der Expertise hat „Schule … nicht nur die Funktion, individuelle Leistungsfähigkeit sicherzustellen, sondern sie dient auch der kulturellen Selbstverständigung und dem sozialen Zusammenhalt der Gesellschaft. Gleichwohl bilden die Bildungsziele und die tatsächlich erreichten Lernergebnisse den Kern der Qualitätsdebatte. Diese und nur diese Thematik ist Gegenstand der vorliegenden Expertise“ (a.a.O., S. 12f.). „Wenn es gelingt, Standards so zu gestalten, dass sich in ihnen eine Vision von Bildungsprozessen abzeichnet, eine moderne „Philosophie“ der Schulfächer, eine Entwicklungsperspektive für die Fähigkeiten von Schülern, dann könnten Standards selbst zum Motor der pädagogischen Entwicklung unserer Schulen werden“ (a.a.O., S. 10). „Bildungsstandards, wie sie hier verstanden werden, sorgen dafür, dass pädagogische Schulentwicklung sich an klaren, verbindlichen Zielen orientiert und aus Ergebnissen systematisch lernt. … Bildungsstandards konkretisieren den Bildungsauftrag der Schule durch allgemein verbindliche Kompetenzanforderungen“ (a.a.O., S. 17f.).
6.1 Fazit der Physikdidaktikerin Es wurde der „Weg“ von einem Bildungskanon zu den Bildungsstandards am Beispiel der Mathematik entfaltet. Bildung, so viel wurde für mich deutlich, bezieht sich im engeren Sinne auf einen individuellen Prozess des „sich Bildens“, der den Schüler „in den Stand setzt, sowohl sich selbst als auch seine Beziehungen zur Welt in Ordnung zu bringen“. Trotz dieser Beschreibung wird in der empirischen Bildungsforschung noch sehr wenig betrachtet, wie jeder Schüler „sich selbst und seine Beziehungen zur Welt“ in formalisierten Bildungsangeboten „in Ordnung“ bringt. Aus meiner Perspektive gehört z.B. die Frage dazu, welche Bildungsangebote bei Schülern das
48 Erleben von Kompetenz bewirken (die Welt wird „in Ordnung“ gebracht). Damit ein solches Erleben eintreten kann – und Bildungsangebote lernwirksam werden – kommt es wesentlich auf die Passung zwischen Fähigkeitsund Anforderungsniveau an. Diese Passung kann ohne Kenntnis von Lernentwicklungsverläufen von Schülern (in verschiedenen Schulformen) kaum hergestellt werden (u.a. v. Aufschnaiter, 2007). Empirische Forschung müsste also (noch) mehr zum Gegenstand haben, die individuellen, sicher auch heterogenen Kompetenzentwicklungsverläufe in Hinblick auf ihre Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu untersuchen, um darauf bezogen Lernangebote entwickeln zu können. Ich würde dann erwarten, dass „Bildung“ und „Standards“ kein Widerspruch mehr sein müssen: Wenn die Standards gut zu individuellen Entwicklungswegen passen, führen sie auch zu Bildung.
6.2 Fazit des Mathematikdidaktikers Aus diesen geschichtlichen Entwicklungen ergibt sich – in der Mathematikdidaktik ziemlich unwidersprochen – die Erkenntnis, dass man zur Steuerung des Mathematikunterrichts im allgemeinbildenden Schulwesen eine allgemeine Vorstellung vom (Bildungswert des) Fach(es) (z. B. Mathematik) braucht. Allerdings liefert die Fachstruktur, die Fachsystematik der Wissenschaftsdisziplin Mathematik ein solches Bild der Mathematik nicht. Vielmehr muss das Angebot des Faches mit den Bedürfnissen und den Interessen der Individuen zusammengebracht werden, wobei diese Bedürfnisse und Interessen nicht einfach zu identifizieren sind. Hier müsste dann auch die Heterogenität der Individuen einschließlich ihrer durchaus unterschiedlichen Herkünfte, Interessen und Bedürfnisse systematisch berücksichtigt werden. In der mathematikdidaktischen Forschung und Entwicklung wird diese Frage (nach dem Zusammenspiel von Bildungswert und individuellen Befindlichkeiten) allenfalls selten systematisch bearbeitet. Die neuere Entwicklung in der Erziehungswissenschaft wie in der Bildungspolitik hat aber auch die unbestrittene Forderung hervorgebracht, dass die Ergebnisse von Bildungsprozessen (mindestens teilweise) messbar sein sollten. Es bleiben aber weitere Fragen offen. Ich will nur noch zwei solcher Fragen nennen: Wie gehen Demokratie, Eigenverantwortung des Individuums und die logische, möglicherweise eindeutige Struktur der Mathematik zusammen? Es
49 ist unbestritten, dass man über die Gültigkeit mathematischer Aussagen nicht demokratisch abstimmen kann, auch wenn konstruktivistische Lehr/Lern-theorien die Verantwortung für die Inhalte dem Individuum aufbürden. Die Thematik einer Festlegung dessen, was „Bildung“ ist, ist durch diese Entwicklungen wenigstens bearbeitet, wenn diese Geschichte auch keine Antwort auf die Bildungsfrage geben konnte. In dieser Entwicklung ist die Heterogenität der Lernenden zwar immer präsent als Ansprüche des Individuums. Wie ist aber mit dieser Heterogenität in schulischen Bildungsprozessen umzugehen? Bedrohen große Vergleichsstudien nicht gerade die Heterogenität?
Epilog Bildung und Heterogenität werden (auch) in diesem Aufsatz deutlich. Die Bildungswege der beiden Autoren sind unterschiedlich und damit auch die Perspektiven, die diese beiden Personen auf den „Gegenstand Bildungstheorie“ einnehmen. Anders als im Prolog angedeutet, können diese beiden Perspektiven nicht für die einzelnen Disziplinen sprechen, sie spiegeln vielmehr sehr individuell gefärbte Sichtweisen wider. Der Beitrag lädt damit auch zum Widerspruch aus „den eigenen Reihen“ ein und schafft somit – hoffentlich – Raum für einen Diskurs, in dem Heterogenität als Bereicherung und nicht als Einschränkung erlebt wird.
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Wolfgang Hallet
Literature and Literacies: Literarische Bildung als Paradigma für Standardisierung, Differenz und Heterogenität 1. Literatur und Bildung Wenn es zwei Begriffe gibt, die man sich gegensätzlicher kaum vorstellen kann, dann sind es ,Literatur’ und ,Standardisierung’. Wo, wenn nicht in der Literatur, werden sprachliche, kulturelle und gesellschaftliche Normen und Standardisierungen kritisch befragt, in ihrer Fragwürdigkeit thematisiert, in ihrer Gültigkeit bezweifelt und in ihrer Schädlichkeit für das Individuum dargestellt? Wo, wenn nicht in der Literatur, werden wir unmittelbar Zeuge der zerstörerischen Kraft starrer gesellschaftlicher Setzungen, der Kollision alles Individuellen mit dem Kollektiven, der Auseinandersetzung des Einzelnen mit gesellschaftlichen Kräften und der befreienden Kraft der Aufhebung sozialer Zwänge? Es trifft daher uneingeschränkt zu, was zahlreiche literaturtheoretische Ansätze postulieren: dass die Literatur das Imaginäre, das Fiktionale, das nicht Erlebte gerade deshalb verkörpert, weil sie das Andere einer auf Konventionen und Standardisierungen beruhenden Wirklichkeit und ihrer Erstarrungen darstellt. Eines der Wesensmerkmale der Literatur liegt gerade in ihrer Widerständigkeit gegenüber allen Vereinnahmungsversuchen durch die Lebenswelt, in ihrer Fähigkeit zum Gegenentwurf und in ihren Funktionen als „imaginativer Gegendiskurs“, als „kulturkritischer Metadiskurs“ (Zapf 2005: 67), und als Interdiskurs zur „Reintegration des Verdrängten mit dem kulturellen Realitätssystem“ (Zapf 2005: 71). Letztlich ist es, wie es uns alle poetisch-lyrische Sprache vor Augen führt, genau diese Entgegensetzung, diese Heraushebung aus allem Gewohnten und Geläufigen, aus dem als normal Erfahrbaren und bereits Erfahrenen, die den Antrieb aller Literatur bildet. Insofern sind alle literaturdidaktischen Überlegungen zutreffend, die in der Hinführung junger Menschen zum Anderen der Wirklichkeit, zur Überwindung des Denkens in deren engen Grenzen und den besonderen sprachlich-ästhetischen Arrangements literari-
54 scher Texte den Kern literarischer Bildung sehen. In der Tat stellt insofern das Spezifische literarischer Texte, also die Darstellung fiktionaler Welten in einer nichtalltäglichen Sprache und Form als symbolische Überwindung von Normalität immer bereits einen Gegensatz zu allen Standardisierungsbestrebungen dar. Diese Überlegungen zu den Eigenheiten der Literatur und ihrer Bedeutung für die schulische Bildung sind nun keineswegs neu, im Gegenteil. Es handelt sich um beinahe schon ‚standardisierte’ didaktische Begründungen, die, so ist im Folgenden zu zeigen, im Zusammenhang mit allen Überlegungen zur Standardisierung von Bildung eine besondere Problematik entwickeln. Daher kann man es dabei hinsichtlich der Bildungsbedeutung von Literatur, zumal in einem dezidiert bildungstheoretischen und kulturwissenschaftlichen didaktischen Ansatz, nicht bewenden lassen. Vielmehr liegt die Angelegenheit komplizierter, wenn Individualität und die mit ihr direkt korrelierende kulturelle Heterogenität als gewissermaßen originäre Zuständigkeit der Literatur einerseits und Standardisierung als Leitgedanke aller institutionalisierten Bildung andererseits in einem pädagogisch-didaktischen Konzept zusammengeführt und -gedacht werden sollen. Es handelt sich daher im Folgenden um zwei auf den ersten Blick gegenläufige Begründungen. Zum einen ist im Sinne der vorangegangenen Bemerkungen zu ihrer gesellschaftlichen Funktion zu konstatieren, dass sich Literatur beinahe zwangsläufig der Konventionalisierung und der Standardisierung entzieht und dass sie daher sozusagen den nicht standardisierten und nicht standardisierbaren Bildungsraum für sich beanspruchen muss. Es ist daher zunächst (in Teil 2 dieses Beitrags) zu untersuchen, ob und in welchem Maße standardisierte Bildung, wie sie im Gefolge der Bildungsstandards verstanden wird, und Literatur überhaupt kompatibel sind. Dies ist, wie bereits angedeutet, eine eher konventionelle Sicht, die für alles Literarische in gewisser Weise dessen Ausgrenzung aus dem Bereich des gesellschaftlich Erforderlichen und Notwendigen zur Voraussetzung hat. Deren Wert ist allerdings gerade im Lichte der immens formativen, unterrichtspraktisch unmittelbar wirksamen Kraft von Bildungsstandards umso höher zu veranschlagen: Wo ist in einem standardisierenden Bildungskonzept der Platz für das nicht Standardisierbare und das nicht Standardisierte? In Teil 3 soll dieser Sichtweise eine Auffassung gegenüber- oder, besser, zur Seite gestellt werden, die den Kompetenzbegriff nicht der funktional
55 orientierten Bildung überlässt, sondern die eine kompetenzbildende Kraft auch für die Literatur und für die literarische Bildung reklamiert. Hier muss es dann um Literatur und um Standardisierung in einem ganz anderen Sinne gehen, nämlich um die Frage, inwiefern der Literatur ein kulturell relevantes Wissen inhärent ist und inwiefern sie daher kulturell essentielle Fähigkeiten der jungen Menschen mit ausbilden kann. Hier muss man einen Kompetenzbegriff in Anschlag bringen, der über Fähigkeiten und Fertigkeiten im Umgang mit Texten und mit Literatur hinausweist und der die kulturell formative Kraft ins Auge fasst, die literarischen Texten innewohnt. In Teil 4 soll am Beispiel einer literarischen Gattung gezeigt werden, dass ein tatsächlich auf lebensweltliche Partizipation zielender Bildungsbegriff geradezu darauf angewiesen ist, die ästhetische und strukturbildende Kraft literarischer Texte für die Entwicklung lebensweltlich erforderlicher Kompetenzen zu nutzen. Die Positionierung der Literatur und der literarischen Bildung in den gegenwärtigen Bestrebungen zur Standardisierung der schulischen Bildung ist aus zwei Gründen überaus dringlich: Zum einen wurde eine generelle Debatte über die Standardisierung schulischer Bildung so gut wie nicht geführt; vielmehr wurden die Bildungsstandards zentral von der Ständigen Konferenz der Kultusminister (KMK) ohne vorherige Debatte beschlossen und den Schulen durch die Bildungsministerien der Länder ohne zeitlichen Vorlauf verordnet (vgl. Hallet & Müller-Hartmann 2006, Küster 2006). Daher kann bis heute, zumindest in der pädagogischen Fläche, der Zusammenhang zwischen Heterogenität und Standardisierung als weitgehend ungeklärt gelten, jedenfalls jenseits einiger einschlägiger Expertisen. Zum anderen wurden mit der Einführung der Bildungsstandards weitreichende inhaltliche Entscheidungen getroffen, als die man die Nichtberücksichtigung der Literatur in den Bildungsstandards für die ersten Fremdsprachen mit Fug bezeichnen darf. Auch darüber wurde außerhalb der universitären Fachdidaktik eine Debatte nie begonnen und bis heute nicht geführt. Es droht damit das Verschwinden der Literatur zumindest aus dem Bereich des Fremdsprachenlernens und aus dem Erfahrungsschatz junger Menschen (vgl. z.B. Bredella 2005 und 2007, Zydatiß 2005, Bredella & Hallet 2007b, BurwitzMelzer 2007, Delanoy 2007, Decke-Cornill & Gebhard 2007), ja ein Verschwinden der literarischen Bildung überhaupt, wenn man entsprechende Problematiken im Deutschunterricht hinzuaddiert (vgl. z.B. Bogdal 2002: 19f.). Die entsprechenden Weiterungen für den Bereich der Lehrerbildung,
56 die einen in der Didaktik notorischen circulus vitiosus begründen, kann sich jeder ausmalen: Lehrer/innen müssen nicht für etwas ausgebildet werden, das sie in der Schule nicht benötigen; und sie werden in der Schule nichts vermissen, wofür sie nicht ausgebildet wurden. Dass mit dem Ausschluss ästhetischer Erfahrungen zugleich der gesamte Bildungsbegriff trivialisiert und pragmatisiert wird, muss nicht eigens betont werden: Ein vorgeblich an lebenspraktischen Erfordernissen orientierter, entsprechend pragmatisierter Bildungsbegriff, wie ihn die Bildungsstandards für die ersten Fremdsprachen offenbaren, verengt schulische Bildung auf eine funktionalisierte Ausbildung und interessiert sich wenig für die lernenden Individuen, um deren Selbstbestimmtheit und die gesellschaftliche Partizipationsfähigkeit es gehen müsste. Erste fatale Auswirkungen solcher in das Gegenteil aller Bildung verkehrten Setzungen kann man in zahlreichen Fremdsprachenlehrwerken der neuesten Generation für Englisch als erste Fremdsprache besichtigen, zumindest in solchen für nicht-gymnasiale Bildungsgänge: Literatur findet darin, wenn überhaupt, fast nur noch in Form gefälliger Pop-Songtexte statt. Literarische Texte anderen Zuschnitts, und seien es auch nur kürzeste short stories, sind aus diesen Lehrwerken verbannt, Literatur findet schlichtweg nicht mehr statt. Dass Lehrwerke für das Gymnasium in dieser Hinsicht etwas besser abschneiden, macht die Sache nur noch skandalöser: Bildungsund auch sozialpolitisch ist es eine Katastrophe, wenn unter dem Banner eines vorgeblichen Heterogenitätskonzeptes Haupt- und Realschülerinnen und -schülern die Fähigkeit zum Verstehen literarischer Texte abgesprochen wird, Gymnasiasten hingegen der Zugang zur Literatur zumindest eröffnet wird. Hier entsteht aus dem Blickwinkel literarischer Bildung eine Zweiklassengesellschaft, in der der Mehrheit der Schülerinnen und Schüler eines Jahrgangs der Zugang zur Literatur und damit zur ästhetischen Bildung gänzlich verwehrt wird. All das zu erfahren, was eingangs über das Wesen und die Merkmale der Literatur gesagt wurde – den Entwurf alternativer Welten, die Infragestellung des Gewohnten, die symbolische Überwindung vorgefundener Ordnungen in ästhetischen Zeichenarrangements – bleibt gymnasialen Schülerinnen und Schülern und hier wiederum weitgehend solchen der Oberstufe vorbehalten. Die Heterogenität von Schülerpopulationen (vgl. dazu genauer Hallet 2006a: 105ff.), auf die hier vorgeblich – mit dem natürlich an keiner Stelle ausgesprochenen Hinweis auf angebliche Überforderung durch literarische Texte – Rücksicht genommen wird, resultiert also in dem Paradox ihrer
57 Zementierung; schlimmer noch: in der Konstruktion einer zweitklassigen, literaturfreien Bildung für die Mehrheit aller Schülerinnen und Schüler im fremdsprachlichen Unterricht der Sekundarstufe I. Das ist ein bildungspolitischer Skandal, der zudem so gut wie nirgendwo thematisiert wird. Man könnte ihn den anderen PISA-Effekt nennen, der durch das Starren auf lebenspraktische und lebensweltliche Erfordernisse (genauer: auf das, was dafür gehalten wird) erzeugt worden ist und durch die Angst der Bildungspolitik, im nächsten globalen Bildungstest erneut mit leeren Händen dazustehen. Nutzlose, lebensweltabgewandte Literatur, so das dahinter stehende Denken, ist für den Erwerb ,harter’ Kompetenzen irrelevant. Die Bildungspolitik wird von der verbesserten mathematisch-naturwissenschaftlichen Bildung sprechen wollen und nicht davon, dass literarische Texte, Verstehen durch Lesen und Lesefähigkeit in allen Fächern und Formen des Lernens aufs engste miteinander verbunden sind. Der Begriff der literacy, den alle kompetenzorientierten Konzepte mittlerweile adaptiert haben, deutet eben nicht nur etymologisch auf den Zusammenhang von Lesefähigkeit und Verstehen hin, sondern darauf, dass gesellschaftlich partizipatives Handeln und die dazu erforderlichen Kompetenzen auf lesendes und interpretierendes Verstehen der Wirklichkeit und der uns umgebenden Welt angewiesen sind. Dass das interpretierende Lesen von Texten, in denen modellhaft Welten entfaltet und entworfen werden, und der Erwerb generisch-textueller Kompetenzen eine wichtige Schule allen Verstehens und Lernens sind, liegt daher auf der Hand und ist der Ausgangspunkt der nachfolgenden Überlegungen.
2. Bildung, Heterogenität und Standardisierung 2.1 Die bildungstheoretische Kompatibilität des Literaturunterrichts Dem mindestens fahrlässigen, wenn nicht ignoranten Umgang mit der Bildung junger Menschen, wie er sich im Gefolge der Bildungsstandards für die ersten Fremdsprachen abzeichnet, soll hier die Auffassung entgegengesetzt werden, dass die Literatur sich geradezu modellhaft mit eben jenen Fragen beschäftigt, die auch für die bildungstheoretische Rahmung der Bildungsstandards und deren Bestimmung von Bildungszielen als leitend gelten können. In der im Vorfeld der Bildungsstandards erstellten Bildungsexpertise, in der sog. Klieme-Studie, wird postuliert, „dass Bildungsziele die Beziehungen
58 von Individuen und Gesellschaften normieren. Sie bestimmen Anspruch und Form der Vergesellschaftung und die Rolle der Subjekte.“ (Klieme et al. 2003: 63) Die Literatur ist genau damit befasst; sie stellt solche Beziehungen dar, thematisiert, problematisiert oder befragt Normierungen kritisch und entwirft Handlungsmuster und -spielräume von Subjekten (agency ) in textuellen Welten. Wo, wenn nicht in literarischen Texten, lässt sich in unübertrefflicher Komplexität und in einzigartiger Fokussierung das Individuum in seinen sozialen Zusammenhängen und zugleich in der Auseinandersetzung oder im Konflikt mit diesen beobachten? Wo werden Formen und Wege der Teilhabe des Individuums an sozialen Prozessen so überschaubar und eingängig modelliert wie in der Literatur? Wo sonst ist die gelassendistanzierte Reflexion über die Rolle des Subjekts in unseren und in anderen Kulturen, wo eine kritische Sicht auf die Gefährdungen der Subjektfähigkeit des Individuums in vergleichbarer Weise möglich? Das Bildungskonzept, das sich diesen Fragen stellt, ist, auch wenn in den Bildungsstandards für die ersten Fremdsprachen davon so gut wie nichts zu erkennen und realisiert ist, der zugehörigen Grundlagenstudie nicht äußerlich, sondern es ist in ihr angelegt. Die dort in allgemeiner Form niedergelegten Leitlinien können in konkretisierter Form ebenso gut für den Literaturunterricht gelten: „Für moderne, der Tradition der Aufklärung verpflichtete und demokratisch organisierte Gesellschaften gilt dann ein Bild von Individualität als leitend, in dem – wie es das Grundgesetz sagt – die Würde des Menschen und die freie Entfaltung der Persönlichkeit oberste Maximen sind.“ (Klieme et al. 2003: 63) Der Literaturunterricht und die Literaturdidaktik können hierin entscheidende Anknüpfungspunkte finden. Denn wie der schulische Unterricht insgesamt, so will auch der Literaturunterricht „alle Heranwachsenden einer Generation“ dazu befähigen, „und zwar unabhängig von Herkunft und Geschlecht, […], in der selbständigen Teilhabe an Politik, Gesellschaft und Kultur und in der Gestaltung der eigenen Lebenswelt diesem Anspruch gemäss zu leben und als mündige Bürger selbstbestimmt zu handeln.“ (Klieme et al. 2003: 63). In der unterrichtlichen Arbeit mit Literatur und mit der Entwicklung didaktischer Konzepte in dem hier zitierten Sinn kann es gelingen, der Literatur einen angemessenen Platz in einem zeitgemäßen Bildungskonzept zu si-
59 chern und den Nachweis zu erbringen, „dass über anspruchsvolle fiktionale Texte und belangvolle Themen ‚mehr’ gelernt wird als mit vergleichsweise trivialen Inhalten und expositorischen Texten (und dass darüber hinaus auch noch etwas ‚Anderes’ gelernt wird).“ (Zydatiß 2005: 279) Eine solche Rückbindung des Literaturunterrichts an allgemeine Bildungsziele ist seit langem ein vordringliches Erfordernis (vgl. auch Bogdal 2002: 23ff.). Mit der Frage nach dem ‚messbaren’ Wissens- und Kompetenzerwerb und nach der Standardisierbarkeit literarischer Kompetenzen tut sich aber eine neue Hürde auf, die nicht in der bildungstheoretischen Begründung selbst, sondern in der mit den Bildungsstandards verbundenen Outcome-Orientierung begründet liegt (vgl. Hallet 2006a: 20ff.; Hallet & Müller-Hartmann 2006). Für das Verständnis des Zusammenhangs von Heterogenität und Standardisierung und für die Frage nach der Standardisierbarkeit literarischer Bildung ist es daher notwendig, die Bezugnahme auf den bildungstheoretischen Horizont der Bildungsstandards der KMK um einen weiteren Blick in die vorbereitende Studie und in die Bildungsstandards bzw. die zugehörigen KMK-Dokumente zu ergänzen. Gemäß dem KMK-Beschluss greifen Bildungsstandards „allgemeine Bildungsziele auf und benennen Kompetenzen, die Schülerinnen und Schüler bis zu einer bestimmten Jahrgangsstufe an zentralen Inhalten erworben haben sollen.“ (KMK 2004: 3) Ziel ist es, die angestrebten Kompetenzen so konkret zu beschreiben, „dass sie in Aufgabenstellungen umgesetzt und prinzipiell mit Hilfe von Testverfahren erfasst werden können.“ (Klieme et al. 2003: 19) Die so gemessenen Kompetenzen sind das Ergebnis kumulativen Lernens, „bei dem Inhalte und Prozesse aufeinander aufbauen, systematisch vernetzt, immer wieder angewandt und aktiv gehalten werden.“ (Klieme et al. 2003: 27) Kompetenzen haben Lernende entsprechend diesem Kompetenzmodell dann entwickelt, „wenn sie x zur Bewältigung einer Situation vorhandene Fähigkeiten nutzen, x dabei auf vorhandenes Wissen zurückgreifen und sich benötigtes Wissen beschaffen, x die zentralen Zusammenhänge eines Lerngebietes verstanden haben, x angemessene Lösungswege wählen, x bei ihren Handlungen auf verfügbare Fertigkeiten zurückgreifen, x ihre bisher gesammelten Erfahrungen in ihre Handlungen mit einbeziehen.“ (KMK 2005: 16)
60 Mit dieser allgemeinen Definition ist im Hinblick auf die literarische Bildung insofern noch nicht viel gewonnen, als zunächst zu klären bleibt, welche Kompetenzen im Literaturunterricht erworben werden sollen, auf welche ‚Zusammenhänge’; ‚Lösungswege’ und ‚Handlungen’ also sich die zu entwickelnden Kompetenzen beziehen sollen. Für den Fall, dass sie sich auf den Umgang mit literarischen Texten beziehen: Wie stellt sich dann der Zusammenhang mit lebensweltlichen Kompetenzen dar? Und lassen sich für solche, über den Umgang mit literarischen Texten hinausweisende Kompetenzen standardisierte Vergleichsmaßstäbe angeben? In Teil 3 soll eine Annäherung an diese Fragen versucht werden. Vorher ist es aber mit Blick auf die bildungstheoretische Rahmung von standardisierten Kompetenzzielen geboten, zwei in der Debatte weitgehend vernachlässigte Aspekte hervorzuheben: die Frage des Zusammenhang von Standardisierung und Heterogenität (Teil 2.2) und die Frage nach der Bildung jenseits standardisierter Kompetenzvorgaben (Teil 2.3).
2.2 Standardisierung und Heterogenität Für das Verständnis der Kompetenzorientierung ist es bedeutsam, den systemischen Charakter von Kompetenzvorgaben im Auge zu behalten. Es handelt sich bei den Bildungsstandards gerade nicht um einzelne, isolierbare und in Tests übersetzbare Deskriptoren, sondern um einen Orientierungsrahmen, an dem sich Lehr- und Lernprozesse ausrichten sollen. Standards liefern, so die Klieme-Studie, „den Lehrenden […] ein Referenzsystem für ihr professionelles Handeln. […] Bildungsstandards [enthalten] im Kern eine systematische fachdidaktische Konzeption, an der sich die Lehrkräfte orientieren und die sie eigenständig präzisieren können. Zentrale Ideen des Faches werden im Unterricht herausgearbeitet, und in der Beschreibung der Kompetenzmodelle wird deutlich, auf welche grundlegenden Begriffe und Operationen der Unterricht eingehen muss.“ (Klieme et al. 2003: 50) Es wird daher davon ausgegangen, dass Standards „den Blick auf Unterricht von einer reinen fachsystematischen Perspektive hin zu einer stärker ‚schülerorientierten’, d. h. an der kognitiven Entwicklung der Lernenden ausge-
61 richteten Perspektive“ verschieben (Klieme et al. 2003: 50). Mittels der Bezugnahme auf Kompetenzmodelle „kann die Lehrperson verschiedenartige Lernwege und interindividuelle Unterschiede einordnen, d.h. die Heterogenität von Lernprozessen und Lernergebnissen verstehen. Durch diesen Vergleichsmaßstab wird die diagnostische Kompetenz der Lehrerin bzw. des Lehrers geschärft. Die Minimalkriterien, bei deren Erfüllung der Standard gerade eingelöst ist, sind hier besonders wichtig, weil die Lehrperson im Vergleich mit diesen Kriterien einschätzen kann, welche Schülerinnen und Schüler besonderer Förderung bedürfen.“ (Klieme et al. 2003: 50) In der Tat ist eine solche Outcome- und Kompetenz-Orientierung, richtig und in diesem Sinne verstanden, besser geeignet als eine curriculum-basierte Input-Orientierung, heterogene Leistungen zu erfassen. Aus der Lehrperspektive sind Standardisierungen und Kompetenzziele nötig, um eine intersubjektiv gültige (also nicht bloß auf subjektiven Einschätzungen beruhende) Vorstellung von Könnenserwartungen und Könnensprofilen zu verankern und um auf dieser Grundlage individuelle Leistungs- und Kompetenzstände überhaupt erst identifizieren und dingfest machen zu können. Aus Sicht der Lernenden (eine ebenfalls weitgehend vernachlässigte Perspektive) ermöglichen sie individuelle Lern- und Aneignungswege, die sie mit Blick auf angestrebte Könnensziele einschlagen können. Kompetenzziele legen weder fest, auf welchen Wegen diese erreicht werden, noch ist mit ihnen die Erwartung verbunden, dass alle Schüler/innen alle Kompetenzen zum gleichen Zeitpunkt gleichermaßen ausgeprägt und gut beherrschen. Vielmehr sollen Zielvorgaben gerade eine Graduierung des Lernerfolgs ermöglichen, also feststellbar machen, bis zu welchem Grad Lernende zu einem bestimmten Zeitpunkt über bestimmte Fähigkeiten oder Fertigkeiten oder Bündel von diesen verfügen. Man kann also festhalten, dass individuelle Könnensstände und der Grad von Heterogenität in einer Lerngruppe einigermaßen verlässlich nur dann sichtbar gemacht werden können, wenn anhand vorgegebener (konsensueller) Kompetenzziele individuelle Könnensgrade sowie Grade der Annäherung an die Ziele festgestellt werden können. Prinzipiell ist daher festzuhalten, dass die Standardisierung von Kompetenzzielen und die Individualisierung des Lernens, einheitliche Bildungsziele und die Heterogenität von Lerngruppen, konsensuelle Kompetenzbeschreibungen und individualisierter Könnenserwerb keine Gegensätze sind. In
62 diesem Licht betrachtet stellt sich vielleicht die Vereinbarkeit von literarischer Bildung und Standardisierung als weniger paradox dar als zunächst vermutet: Individuelles Verstehen von Texten, interpretatives Suchverhalten und die Subjektivität von Erschließungswegen und Deutungen einerseits, wie sie besonders im Umgang mit literarischen Texten ausgebildet werden, und die Vorgabe standardisierter Kompetenzziele andererseits sind nicht unbedingt Gegensätze.
2.3 Relativierung: Bildung jenseits der Standardisierung Sowohl in der Klieme-Studie als auch in den KMK-Verlautbarungen wird betont, dass Bildungsstandards sich zwar an allgemeinen, konsensuell erzeugten Bildungszielen orientieren, diese aber nicht abbilden (können). Daher weist die KMK ausdrücklich darauf hin, dass „der Auftrag der schulischen Bildung […] weit über die funktionalen Ansprüche von Bildungsstandards hinaus[geht]. Er zielt auf Persönlichkeitsentwicklung und Weltorientierung, die sich aus der Begegnung mit zentralen Gegenständen unserer Kultur ergeben. Schülerinnen und Schüler sollen zu mündigen Bürgerinnen und Bürgern erzogen werden, die verantwortungsvoll, selbstkritisch und konstruktiv ihr berufliches und privates Leben gestalten und am politischen und gesellschaftlichen Leben teilnehmen.“ (KMK 2005: 6f.) Diese Relativierung der Bedeutung der Standards für den Prozess schulischer Bildung ist also, für jedermann nachlesbar, Teil ihrer Konzeption. Sie ist deshalb von großer Bedeutung, weil dieser Einlassung zufolge alle schulische Bildung gerade nicht nur auf funktionale Kompetenzen zielt, sondern auch auf Persönlichkeitsentwicklung, auf Einstellungen wie Bereitschaft zur interkulturellen Verständigung und auf Toleranz oder auf ästhetische Verstehens- und Ausdrucksfähigkeit. Umgekehrt ausgedrückt bedeutet dies: Schulischer Unterricht kann und soll sich auch im Sinne der Bildungsstandards ausdrücklich nicht auf den Erwerb solcher funktionaler Kompetenzen beschränken, die schließlich operationalisiert werden und Gegenstand einer externen Überprüfung durch standardisierte Tests sind. In diesem Sinne kann und muss auch eine ästhetische und literarische Bildung, selbst im bildungstheoretischen Verständnis der Standards, Teil der schulischen Bildung sein, auch jenseits der Annahme damit erzeug- oder erzielbarer Kom-
63 petenzen und der testability. Eine schulische Bildung, die sich auf operationalisier- und testbare Fähigkeiten zurückzieht, verkürzt sich von der Bildung zur Ausbildung und verfehlt gerade jene wesentliche Dimension der übergeordneten Bildungsziele, die auf gesellschaftliche und kulturelle Partizipationsfähigkeit und auf selbstbestimmte Lebensgestaltung gerichtet ist. Die literarische und ästhetische Bildung muss diese nicht-funktionale Dimension ausfüllen und besetzen; und die Didaktiken und die Pädagogik müssen diesen non-pragmatischen, nicht-funktionalen Raum in der schulischen Bildung vehement einfordern. Es ist ein notwendiger und überdies ein erklärter bildungstheoretischer ebenso wie bildungspolitischer Wille, dem damit Rechnung getragen wird und der, zumindest im Bereich des fremdsprachlichen Unterrichts, gegenwärtig schlichtweg ignoriert wird. Freilich muss eingeräumt werden, dass gerade das, was nicht einem Test unterworfen wird und was nicht als einklagbare Kompetenzbildung daherkommt, ständig um seine Existenzberechtigung zu kämpfen hat. Das darf aber niemanden davon abhalten, gerade dieses Andere, das nicht Standardisierte, das nicht auf Deskriptoren Reduzierbare und nicht graduell Messbare, auch auf der Ebene der Deklaration von Bildungszielen, in die schulische Bildung zu implementieren. Dieser andere Bildungsraum ist es, der mit der Literatur als dem Anderen der Wirklichkeit, als dem allem Konventionalisierten Konträres, als dem Gegenentwurf zum Erwartbaren und täglich Erfahrenen aufs Ausgezeichnetste korrespondiert. Literarische Bildung ermöglicht sozusagen den reflexiven Blick auf das, was in einer Gesellschaft und in ihren Individuen vorgeht, auf ihre Denk- und Verhaltensweisen, auf Mechanismen der Interaktion, aber auch auf ganz andere Welten, auf possible worlds, aus deren Perspektive auch die reale Welt als eine, aber eben nur eine possible world erscheint, zu der aus vielerlei Gründen Alternativen existieren.
3. Literatur, Kompetenzen und Standardisierung Die Überschrift zu diesem Teil des Beitrags suggeriert, dass man Literatur, Kompetenzbildung und Standardisierung auf eine für die institutionalisierte Bildung relevante Weise miteinander in Beziehung setzen kann. Das ist keine leichte Übung, aber es ist einen Versuch wert; dies nicht nur deshalb, weil sich ein Literaturunterricht, der sich außerhalb der gegenwärtigen Bildungsdebatte stellt, selbst marginalisiert, sondern auch deshalb, weil sich dadurch
64 eine neue Sicht auf die Literatur und ihre kulturellen Funktionen ergibt. Ausgangspunkt ist die Überlegung, dass auch literarische Texte ein kompetenzbildendes Potenzial haben, literature and literacies also in einem unmittelbaren Sinn aufeinander beziehbar sind. Der literacy-Begriff, verstanden nicht bloß als ‚Lesefähigkeit’, sondern im weiten, angloamerikanischen Sinn als grundlegendes, kulturelles Können und Wissen, signalisiert, dass die basale Lesefähigkeit dafür unverzichtbar ist, aber auch, dass es um ganz andere, komplexere, lebensweltlich relevante und diskursiv gefasste Kompetenzen geht. Es ist daher sinnvoll, diesen allgemeinen Kompetenzbegriff, der literacy im umfassenden Sinn als (fremd)sprachliche Diskursfähigkeit und kulturelle Partizipationsfähigkeit auffasst (vgl. Hallet 2006b, 2007a und 2008a), aufzuschlüsseln.
3.1 Erste Kompetenzebene: Literarische Lesefähigkeit Hinsichtlich der kompetenzbildenden Dimension literarischer Texte sollen hier drei verschiedene Kompetenzebenen (literacies) vorgeschlagen werden. Die erste Kompetenzebene hat zur Voraussetzung, dass Literatur ihren oben beschriebenen Platz im Kanon schulischer Bildung hat. Wenn dieser gesichert ist und Literatur im Unterricht stattfindet, stellt sich aus der Sicht eines kompetenzorientierten Bildungsbegriffs die Frage, welche Fähigkeiten und Fertigkeiten der Literatur- und Textunterricht auszubilden hat, damit literarische Texte verstanden und erfolgreich angeeignet werden können. Es ist offensichtlich, dass dazu zunächst die in ihrer Komplexität häufig unterschätzte basale Lesefähigkeit gehört, wie sie Swantje Ehlers (2007), auch in ihrer kognitiven Dimension, eingehend beschrieben hat. Insbesondere sind, wie sie nachweist, inferenzielle Fähigkeiten von großer Bedeutung, die es ermöglichen, die selektive Informationsvergabe in literarischen Texten in einen kohärenten Textsinn zu überführen (Ehlers 2007: 120ff.). Erst solche basalen Fähigkeiten ermöglichen den Lernenden den Zugang zur textuellen Welt – ihrem materiellen Inventar, ihren Figuren, ihren Denk- und Verhaltensweisen, ihren Wertvorstellungen usw. – und zu den sprachlichästhetischen Spezifika eines literarischen Textes. Darüber hinaus sind aber weitere Kompetenzen für den Umgang mit literarischen Texten erforderlich. Eva Burwitz-Melzer hat zu deren genauerer Beschreibung einen an den Bildungsstandards orientierten Vorschlag für
65 den fremdsprachlichen Literaturunterricht vorgelegt. Unter fremdsprachlicher Lesekompetenz versteht sie ein Konstrukt, „das im Gegenstandsbereich des Lesens literarischer Texte im Fremdsprachenunterricht relevante aufgabenorientierte Fertigkeiten, aber auch situationsungebundene generelle Fähigkeiten zusammenfasst, um eine zeitüberdauernde Handlungsdisposition zu beschreiben.“ (Burwitz-Melzer 2007: 137) Eine solche literarische Lesekompetenz setzt sich ihr zufolge zusammen aus x „motivationalen Kompetenzen, x kognitiven und affektiven Kompetenzen, x interkulturellen Kompetenzen, x Kompetenzen der Anschlusskommunikation, x Kompetenzen der Reflexion.“ (Burwitz-Melzer 2007: 138) Diese Teilkompetenzen betrachtet Burwitz-Melzer als im Einzelnen mithilfe von Deskriptoren beschreibbar, operationalisierbar und teilweise auch bewertbar, wenn sie mit Arbeitsschritten im Literaturunterricht kombiniert werden und wenn sie auf einübbare „psycholinguistische Fertigkeiten beim Umgang mit literarischen Texten zurückzuführen“ sind (Burwitz-Melzer 2007: 138). Zu diesem Zweck beschreibt sie am Beispiel der Jahrgangsstufe 13 – also auf Abiturniveau – in einer Matrix Aufgabenbereiche, die die einzelnen Kompetenzbereiche in eine fünfstufige Entwicklung von Kompetenzen überführen, indem ihnen die Querkategorien „Erwartungshaltung aufbauen und erhalten“, „Sinnkonstitution I“, „Sinnkonstitution II“, „Interkulturelle Kompetenzen fördern“ und „Recherchekompetenzen fördern“ zugeordnet werden. Insbesondere in den beiden sinnkonstituierenden Schritten sollen die für den Umgang mit literarischen Texten erforderlichen kognitiven und affektiven Kompetenzen entwickelt werden, mit deren Hilfe die Lernenden die Spezifika literarischer Texte erfassen und verstehen. Andere Kompetenzfelder dienen, wie man sieht, eher der Entwicklung von Kompetenzen, die weit über den Literaturunterricht hinausweisen. Es ist hier nicht der Raum, dieses Modell im Einzelnen zu diskutieren. Es thematisiert aber zu Recht die Frage, welche Kompetenzen eigentlich für den erfolgreichen Umgang mit literarischen Texten erforderlich sind und auf welche Weise eine literarische Lesekompetenz sukzessiv und kumulativ aufgebaut werden kann. Zweifellos muss sich mindestens die fremdsprachliche Literaturdidaktik hier das Versäumnis zurechnen lassen, zu wenig und zu spät über eine solche Möglichkeit der literarischen Kompetenzentwick-
66 lung und des kumulativen Kompetenzzuwachses im Literaturunterricht ab dem ersten Lernjahr in der Fremdsprache nachgedacht zu haben. Anzumerken ist aber, dass, wenngleich es in dem Modell im Kern um eine literarische Lesekompetenz geht, darin doch auch Elemente enthalten sind, die nicht die literarische Lesekompetenz im engeren Sinne betreffen. So zielt z.B. die Entwicklung einer interkulturellen Kompetenz eher auf lebensweltliche Fähigkeiten und Verhaltensweisen und weniger auf das literarische Lesen selbst (vgl. Teil 3.2). Auch ist es wahrscheinlich sinnvoll, reflexive Kompetenzen als übergeordnete (als Meta)Kompetenzen und zentrales Bildungsziel zu konzeptualisieren (vgl. Teil 3.3.). Jedenfalls sind interkulturelle und reflexive Fähigkeiten im Literaturunterricht Indizien dafür, dass Kompetenzziele für die literarische Bildung nicht aus der Beschäftigung mit dem Gegenstand selbst begründet werden können, sondern einer außerhalb ihrer selbst liegenden Legitimation bedürfen.
3.2 Zweite Kompetenzebene: Literarische als kulturelle Kompetenzen Die Gefahr der Zirkularität jeder Begründung von literarischer Kompetenz aus den Erfordernissen des Umgangs mit der Literatur selbst wird besonders in der Umkehrung sichtbar: Wenn die Entwicklung literarischer Lesekompetenzen mit deren Inanspruchnahme im Literaturunterricht begründet wird, erlischt die Notwendigkeit ihrer Vermittlung, sobald, wie in den Bildungsstandards für die ersten Fremdsprachen, literarische Bildung gar nicht angestrebt wird. Daher bedarf es zur Legitimation des Platzes der Literatur in institutionalisierten Bildungskontexten und der zum Umgang mit Literatur auszubildenden ersten Kompetenzebene einer zweiten Ebene, die auf dem Nachweis der kulturellen, lebensweltlich relevanten Funktionen von Literatur gründet. Dazu ist in Erinnerung zu rufen, dass literarische Texte jenseits aller motivationalen, sprachdidaktischen oder literaturdidaktischen Überlegungen im engeren Sinne und jenseits jeweils spezifischer (und wechselnder) Inhalte und Themen ein kulturelles Wissen enthalten und vermitteln können, das auf enge Weise mit Alltagssituationen und der in diesen geforderten kulturellen Handlungsfähigkeit der Menschen verknüpft ist. Dies impliziert, dass Literatur auf viel substanziellere Weise mit dem Erwerb von Kompetenzen verbunden ist, als uns das landläufig bewusst ist. Dieser Hinweis gründet sich darauf, dass literarische Texte auf die vielfältigste Wei-
67 se kulturelles Wissen in sich aufnehmen, refigurieren und zirkulieren. Aus diesem Grund waren und sind z.B. literarische Darstellungen von Adoleszenz- und Identitätsbildungsprozessen bevorzugte Gegenstände der Literaturdidaktik, der Curricula und des fremdsprachlichen (wie im Übrigen auch des deutschsprachigen) Literaturunterrichts. Mit gutem Grund: Auf mehr oder weniger zutreffende oder wiedererkennbare Weise werden in literarischen Texten lebensweltliche Erfahrungen junger Menschen modelliert, die diese als Leser/innen im schulischen Literaturunterricht im Lichte eigener Erfahrungen lesen und mit anderen Leser/innen verhandeln können. Im Zusammenhang mit individuellen Identitäts- und Adoleszenzerfahrungen modellieren literarische Texte aber auch die damit verbundenen sozialen Konstellationen und Gegebenheiten, sodass zugleich immer die Frage nach den gesellschaftlichen ‚Standardbedingungen’ der Adoleszenz an die Leser/ innen herangetragen wird. Ein anderes Beispiel für das kulturelle Wissen, das in literarischen Texten enthalten ist und das diese auch herausfordern, sind Darstellungen von Formen multikulturellen Zusammenlebens und der damit verbundenen interkulturellen Konflikte und Kommunikationsformen (vgl. z.B. den Band von Bredella, Meißner et al. 2000 oder Bredella 2002). Da interkulturelles Lernen ein übergeordnetes Ziel nicht nur des Fremdsprachenunterrichts, sondern der schulischen Bildung insgesamt ist, ist die Modellierung von Konflikten und Formen der Verständigung, aber auch der Erschwernisse und der Unmöglichkeit von interkultureller Kommunikation in literarischen Texten ein sehr geeignetes Erprobungs- und Verhandlungsfeld, das konfliktund folgenreiche Konstellationen literarisch konfiguriert, ohne selbst ein lebensweltlicher Ernstfall zu sein. Im Zusammenhang mit Fragen der Standardisierung und der Heterogenität ist besonders hervorzuheben, dass Dramen oder Erzählungen, die multikulturelle Konstellationen verhandeln, besonders eindringlich die Frage nach der Allgemeingültigkeit kultureller Standards, nach dem Umgang mit Abweichungen und mit dem kulturell Anderen stellen. Multikulturelle Konstellationen in literarischen Texten sind daher Modellfälle für Fragen der kulturellen Standardisierung und Diversität sowie des Verhältnisses von Individualität und Sozialität. Die Begegnung mit modellierten Wirklichkeiten in literarischen Texten und Formen ermöglicht so zugleich die Erfahrung von Formen und Mustern kulturellen Handelns und damit der gesellschaftlichen agency, des aktiven kulturellen und gesellschaftlichen Handelns und Gestaltens.
68 An dieser Stelle kann also bereits festgehalten werden, dass literarische Texte Fragen der kulturellen Standardisierung bzw. der Abweichung und der Individualisierung modellieren oder thematisieren. Darüber hinaus aber ist in diesem Zusammenhang ein anderes Merkmal literarischer Texte von großem Interesse: Narrative, dramatische und poetische Formen stellen selbst textuelle und diskursive Muster und Strukturen der kulturellen Teilhabe bereit und können auch in dieser Hinsicht als kulturelle Ressourcen gelten. Diese Annahme ist zu präzisieren. Ein Beispiel dafür sind die oben erwähnten Identitätserzählungen: Sie stellen Identitätsprozesse nicht nur narrativ dar, sondern sie können vor allem auch selbst als textuelle Muster für lebensweltliche Identitätserzählungen gelten, da personale Identitäten zu einem erheblichen Teil narrativ verfasst sind (vgl. genauer Hallet 2002: 189ff., Hallet 2004 und Hallet 2008c). Auch an der Allgegenwart von Metaphern in der Alltagssprache kann man sehen, dass literarische Strukturgebungen durchaus unsere lebensweltlichen kognitiven Strukturierungen der Wirklichkeit bestimmen. Dieser enge Zusammenhang zwischen den am literarischen Lesen beteiligten Kognitionen und dem alltagskulturellen Handeln soll hier nur festgestellt und in Teil 4 dieses Beitrags genauer dargestellt werden. Vorerst soll der Hinweis genügen, dass literarische ebenso wie andere textuelle und mediale Genres sich als spezifische, kulturell relativ stabile Modi des Weltzugriffs und des Weltverstehens, als modes of world making (Nelson Goodman) verstehen lassen, die nicht erst und nicht ausschließlich im Textunterricht erlernt, sondern in unauflöslichem Zusammenhang mit der sprachlich-diskursiven und kulturellen Sozialisation erworben werden. Und ‚stabil’ heißt in unserem Zusammenhang: kulturell standardisiert und konventionalisiert. Der Begriff der Standardisierung erhält in dieser sozialsemitoischen, diskursiven und generischen Ausprägung eine äußerst interessante Facette, weil er auf einen erwerbbaren kulturellen Grundbestand an Modi des Weltverstehens und der Weltgestaltung verweist, der auch kulturtheoretisch beschrieben wird: In jeder Gesellschaft gibt es bestimmte, relativ festgefügte Vorstellungen von den zutreffendsten oder tauglichsten Konstruktionen von ‚Welt’, Konzepte, die für ‚selbstverständlich’, ‚natürlich’ und gültig gehalten, also auch tradiert, erinnert und eingeübt werden (was zu der Illusion führt, dass die Wirklichkeit tatsächlich ,so ist’). Solche Standardisierungen sind für Klaus P. Hansen oder für Siegfried J. Schmidt der Kern des Kulturbegriffs: „Kultur umfasst Standardisierungen, die in Kollektiven gelten.“
69 (Hansen 2000: 39) Umgekehrt konstituieren Kollektive, also die Träger von Kultur, „sich durch gemeinsame Standardisierungen“ (Hansen 2000: 40), „die in ihrer Gesamtheit das Wirklichkeitsmodell einer Gesellschaft ausmachen.“ (Schmidt & Zurstiege 2000: 162) Mit diesem sind in jeder Gesellschaft verbindliche Vorschriften für die Verwendung von Unterscheidungen und ihren Bedeutungen verbunden, die „ein Programm der gesellschaftlichen Bedeutungszuschreibung“ (Schmidt & Zurstiege 2000: 162) darstellen. Dieses unsichtbare Programm der Kultur, das einerseits von den kulturellen Aktanten durch kulturelles Handeln erzeugt wird, das andererseits aber auch „die Aktanten kontrolliert“ (Schmidt & Zurstiege 2000: 163), wird sichtbar und beobachtbar in den Handlungen und Lebensäußerungen der Aktanten. Diese sind einerseits „an die Anwendungsspielräume von Kulturprogrammen gebunden“ (Schmidt 2003: 359), andererseits kann es auch gelingen, „neue Programmteile als Vorschriften zu etablieren und andere umzuwerten“ (Schmidt 2003: 359), wodurch kulturelle Veränderung entsteht. Kultur ist also immer „Setzung und Voraussetzung, Programm und Anwendung, Vorschrift und Veränderung“ (Schmidt 2003: 359) zugleich. In das bildungstheoretische Konzept des Kompetenzerwerbs übersetzt bedeutet dies: Der schulische Literaturunterricht muss die für das Verstehen von literarischen Texten erforderlichen und für die produktive Verwendung der ihnen zugrundeliegenden diskursiv-generischen Schemata kognitive Dispositionen so ausbilden, dass die Lernenden an gesellschaftlichen Diskursen teilhaben können, also z.B. in literarischen Texten vorgefundene fiktionale Lebensmodelle mit der standardisierten eigenen Lebenswirklichkeit vergleichen und im Literaturunterricht erworbene generische Kompetenzen in angemessener Weise anwenden, also z.B. zur Narrativierung eigener Erfahrungen verwenden können. Wenn dem so ist, muss es eine Vorstellung sowohl von den kulturellen Standards des Erzählens als auch von den auszubildenden Kompetenzen geben, mittels derer die Lernenden den standardisierten kulturellen Anforderungen gerecht werden können. Genau dies ist eine der Entsprechungen von literature und literacy und eine adäquate Vorstellung von Standardisierung, wie sie im literacy-Begriff enthalten ist: Schulische Standards müssen sich an Normalisierungen und Standardisierungen orientieren, die sich in einer Gesellschaft als notwendig und günstig für die kulturelle Teilhabe eingestellt und erwiesen haben. Das bedeutet keinesfalls die Erziehung zur bloßen Normerfüllung, obwohl keine Erziehung diese Gefahr ausschließen kann. In Teil 3.4 und in Teil 4 ist daher auf
70 das Verhältnis von Standardisierung und Differenz noch genauer einzugehen. Jedenfalls ist die Literatur auf eher überraschende Weise an dieser Standardisierung als einem Wechselspiel von Anwendung und Veränderung beteiligt, indem sie einerseits generische, also narrative, interaktionale (dramatische) oder poetisch-metaphorische Formen des Weltzugriffs bereitstellt, andererseits aber durch ihre reflexive, kritische Befragung oder eine kreative, innovative Verwendung dieser Formen wiederum die Wege und Weisen des Weltverstehens und der Welterzeugung dynamisiert und verändert. Standardisierung heißt in diesem Zusammenhang also: Die Einübung in standardisierte kulturelle Formen, Strukturen und Praktiken des Diskurses und der Interaktion ist für eine erfolgreiche Teilhabe an gesellschaftlichen Prozessen, andererseits aber auch für deren aktive Weiterentwicklung und Veränderung erforderlich.
3.3 Dritte Kompetenzebene: Reflexionsfähigkeit Auf zweifache Weise sind mit den beiden vorgenannten Ebenen auf beinahe unlösbare Weise stets auch reflexive Prozesse verbunden. Zum einen lösen im Fall der Rezeption literarischer Texte die darin präsentierten Handlungsund Denkweisen sowie die mit ihnen korrelierenden kulturellen Rahmungen Reflexionen bei den Leser/innen schon allein dadurch aus, dass diese sich um Verstehen bemühen und dabei auf eigene lebensweltliche Erfahrungen, Wahrnehmungen und kognitive Schemata zurückgreifen. Literarische Texte evozieren Reflexion aber vor allem dadurch, dass sie in ihren fiktionalen Welten problematische oder konflikthaltige Konstellationen schaffen, an deren intendierter oder tatsächlicher Lösung der oder die Lesende nachhaltig Anteil nimmt. Im Kontext schulischen Lesens wird dieser reflexive, oft auch selbstreflexive Anteil des Leseprozesses durch explizite Anknüpfung an lebensweltliche Erfahrungen und lernerorientierte Verfahren verstärkt, systematisiert und externalisiert: In einem lernerorientierten Literaturunterricht ist die Erziehung zur Reflexion der dargestellten Handlungsweisen und Denkvorstellungen und des Bezugs zur eigenen Lebenswelt ein leitendes Ziel und im Grunde der Kern der literarischen, ja der schulischen Bildung überhaupt (vgl. Breidbach 2007: 167-211).
71 Auch im Fall der diskursiven Verwendung generischer Formen ist die Erziehung zur Reflexion ein wichtiges Ziel. Denn da diskursive Äußerungen und soziale Interaktionen stets an Handlungsziele gekoppelt sind und in dieser Hinsicht mal mehr und mal weniger erfolgreich sein können, sind sie in der Regel mit reflexiven Selbstwahrnehmungen hinsichtlich der Eignung oder der Effizienz der verwendeten diskursiven Strategien oder sogar mit unmittelbaren Rückmeldungen dazu verbunden. In der alltagsweltlichen Kommunikation nehmen diese Reflexionen allerdings nicht unbedingt begriffliche Form an, sondern sie schlagen sich oft in Emotionen wie Freude und Zufriedenheit oder Frustration und Unzufriedenheit nieder. Da an Erfolg oder Misserfolg aber immer auch kulturelle und interaktionale Faktoren und Bedingungen beteiligt sind, ist es wichtig, eine reflexive Kompetenz auszubilden, die die Bedingungen, die Eignung und die Angemessenheit der diskursiven Äußerungen und der mit ihnen verbundenen kulturellen Aktivitäten zum Gegen- stand haben.
3.4 Zusammenfassung: Standardisierung, individuelle Differenz und Heterogenität Wie sich gezeigt hat, sind literarische Texte auf vielfache Weise an der Etablierung kulturell standardisierter Praktiken, Denkvorstellungen und Wahrnehmungsweisen beteiligt, sei es durch deren Modellierung, sei es durch deren Infragestellung und Öffnung oder Weiterentwicklung oder sei es durch die Bereitstellung textuell-diskursiver und generischer Formen. Was wie ein Paradoxon anmutet, ist daher tatsächlich der Normalfall: Jede Darstellung, auch die fiktionaler Welten, wirkt mit an der Erzeugung von Normalisierungen und Naturalisierungen, als die Standardisierungen hier aufgefasst werden. Denn so oder so stellen sich Normen und das‚ was als kulturell ‚normal’ gilt, durch beständige performative Wiedererzeugung, durch reiterative Akte in der sozialen Interaktion ein. Da in der Regel niemals zwei diskursive Handlungen identisch sind, sind Abweichung und Differenz stets Bestandteil von Normalisierungstendenzen und Standardisierungsprozessen: individuelle Differenz und standardisierte Normalität verhalten sich komplementär zueinander. Literatur, die an solchen Prozessen nicht beteiligt wäre, wäre vollkommen wirkungslos und würde, auf einen einfachen Nenner gebracht, nicht wirklich rezipiert.
72 Ein Beispiel für dieses kulturpoietische Potenzial von Literatur ist das fiktionale historiographische re-writing, wie es sich besonders in der postkolonialen und ethnischen Literatur findet. So ist es z.B. nicht übertrieben zu behaupten, dass die Romane Toni Morrisons maßgeblichen Anteil an der Neudefinition der kulturhistorischen und gesellschaftlichen Rolle der African Americans an der Geschichte der Vereinigten Staaten von Amerika hatten (vgl. z.B. Hallet 2006c, Basseler 2008a und b), eine Tatsache, die sich nicht zuletzt in der Auszeichnung der Autorin mit dem Nobelpreis niederschlug. Diese transkulturelle gesellschaftliche Anerkennung wiederum schlug und schlägt sich in einer verstärkten Rezeption ihrer literarischen Werke in den Vereinigten Staaten von Amerika und in der ganzen Welt nieder. Zugleich lässt sich diese Wirkungsgeschichte eines literarischen Werkes als Paradigma von Standardisierung und Differenz verstehen: Ausgangspunkt des Werkes Toni Morrisons war und ist eine kritische Perspektive auf die mainstreamKultur aus dem Blickwinkel einer lange Zeit marginalisierten Minderheitskultur. Im Zusammenklang mit anderen kulturellen, gesellschaftlichen und politischen Prozessen ist diese Perspektive aber mittlerweile weitgehend in die mainstream-Kultur integriert oder, mit anderen Worten, standardisiert. Solche makrokulturellen Wirkungen finden ihre Entsprechung auch auf der individuellen oder mikrokulturellen Ebene: als different, abweichend oder ungewohnt wahrgenommene Vorstellungen oder Verhaltensweisen in literarischen Texten können in ähnlicher Weise normalisiert oder individualisiert, d.h. als tatsächliche Alternative zu gelebten kulturellen Mustern angenommen und schließlich kulturelle Wirklichkeit werden. Die mit der Rezeption literarischer Texte und mit der produktiven Verwendung der ihnen zugrundeliegenden diskursiv-generischen Muster verbundenen Prozesse lassen sich also durchaus selbst wiederum als kulturproduktiv, als Prozesse des ‚world making’ verstehen, als kulturelle Interventionen, deren Charakter von auffälliger Differenz bis zu vollständiger Affirmation reichen kann.
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4. Kulturelle Standardisierung und individualisierte literacies: Generische Kompetenzen Was für die generische Verfasstheit des Weltverstehens und des world making im Allgemeinen gilt, lässt sich am Beispiel literarischer generischer Formen gut nachvollziehen. Sie können gleichermaßen als kognitive wie als kulturelle Schemata betrachtet werden, da sie jeweils – kognitiv und kulturell – spezifische Formen des Weltverstehens und des world making darstellen. Denn einerseits handelt es sich bei literarisch-generischen Strukturen auf der Wahrnehmungsseite der Leser/innen um kognitive Schemata, die aufgrund lebensweltlicher und textuell-diskursiver Wahrnehmungen und Erfahrungen aufgebaut wurden und bereits vor der schulischen Begegnung mit Literatur vorliegen: „Genres […] are culturally specialized ways of both envisaging and communicating about the human condition.“ (Bruner 1996: 136; vgl. auch Stockwell 2002: 78ff., sowie Hallet 2007a, 2007b und 2008b) Andererseits korrelieren diese kognitiven Schemata mit Genres als soziokulturellen Mustern, die das soziale und kulturelle Leben der Menschen strukturieren und organisieren: „The various genres of discourse, including literary genres, are the specific semiotic functions of text that have social value in the culture.“ (Halliday 1978: 145) Dies betrifft sowohl das Erzählen als auch dramatische Formen als auch poetisch-metaphorische Sprachgebungen und -haltungen (vgl. Hallet 2007c). Generisch orientierte Kompetenzen ermöglichen und bestimmen also einen großen Teil des Alltagshandelns; diese wiederum können durch eine Schulung an den generischen Mustern und Strukturen, wie sie literarische Texte bereitstellen, im Literaturunterricht entsprechend ausgebildet werden. Für die narrative Kompetenz ist diese kulturell und bildungstheoretisch relevante Dimension der Bedeutung von Erzähltexten bereits mit entsprechenden Bezügen auf die narrative, die kognitive und die Sozialpsychologie dargestellt worden (vgl. Nünning & Nünning 2007, Ehlers 2007, Hallet 2007c: 36-44, Hallet 2008c). Daher soll an dieser Stelle die weniger beachtete Gattung der dramatischen Texte als Illustration und Beispiel herangezogen werden. Bei der nachfolgenden kleinen, etwas gekürzten Szene, der in der Abbildung eine generische Struktur zugeordnet wird, ist schwer zu entscheiden, ob es sich um das Transkript einer realen sozialen Situation oder aber um einen dramatischen Text handelt. Der Dialog repräsentiert eine familiäre Konfliktsituation zwischen zwei Geschwistern, die sich um ihre Anteile an
74 der häuslichen Arbeit streiten und sich nicht einigen können. Dabei kommen gender-geprägte Vorstellungen und Verhaltensweisen zur Sprache („boys have an easy life“), und der Konflikt bleibt wegen unvereinbarer Deutungen und Vorstellungen von der Arbeitsteilung in der Familie ungelöst. Die dialogisch repräsentierte Szene ist allerdings weder real noch literarischfiktional im engeren Sinn, sondern der Text ist einem Englischlehrbuch für das fünfte Schuljahr entnommen (Hanus et al. 2005: 36), was trefflich beweist, dass solche dramatischen Strukturen kulturell offenbar so manifest sind, dass sie auf dem Umweg über die Köpfe der Lehrwerkautoren Eingang in das Schulbuch gefunden haben und somit in einer kulturelldidaktischen Schleife über die Köpfe der Kinder deren Vorstellungen von den Verläufen lebensweltlicher sozialer Interaktionen präfigurieren. Man kann die Struktur dieser Szene paradigmatisch mit Victor Turners Verlaufsbeschreibung des social drama erfassen, mit einem breach von Normen oder Regeln oder dessen Konstatierung als Ausgangspunkt des ,Dramas’, mit der daraus sich entwickelnden crisis und dem darauf folgenden Versöhnungsangebot des Jungen (redressive action), und schließlich mit dem unversöhnlichen Ende der Situation, das Turner als schism, als Bruch und Trennung, bezeichnet (vgl. Turner 1974: 37ff., 1982: 68ff., und 1986: 74). Victor Turner hat daher eine Analogie zwischen dem Drama als Bühnenstück und lebensweltlichen Inszenierungen, zwischen stage drama und social drama angenommen, also eine generisch standardisierte Durchformung kulturellen Handelns und eine wechselseitige Wirksamkeit von literarischem und sozialem Drama: Vorstellungen vom Verlauf sozialer Handlungen – meistens Konflikte – finden einerseits mehr oder weniger mimetisch Eingang in ihre literarische Darstellung auf dem Theater; andererseits unterliegen unsere sozialen Handlungen Strukturierungen, die nach unserer gängigen Vorstellung eigentlich eher dramatischen Bühnentexten eigen sind.
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Caroline: Look at all these jobs on Mum's list! George: Well, I always load the dishwasher. So you can do it today. Caroline: No, you don't. You never do jobs around the house. Boys have an easy life. George: That's not right. We often help at home. I always tidy my room. Caroline: Well, that's your room. But you never clean the toilet. George: Yes, I do! Well, sometimes … hmm, OK, never. Caroline: You see? An easy life. I always make my bed and tidy the living room. And I often cook lunch on Sundays … George: … and it's always terrible. Anyway, I can't cook. Caroline: Boys always say that. They never want to help. […] George: I always walk the dog and I often … Caroline: … you often talk a lot of nonsense. George: Hey, that's not fair.
breach
crisis
redressive action schism
Abb. 1: Textbeispiel für die generische Struktur von stage drama und social drama
Die kognitive Verfügbarkeit solcher generischer Muster kann als performative Kompetenz aufgefasst werden und muss wegen ihrer herausragenden, beinahe universalen sozialen Bedeutung sowohl Ziel des Literaturunterrichts als auch der schulischen Bildung überhaupt sein (vgl. umfassend Hallet 2008d). Es ist aber plausibel und für eine adäquate Vorstellung von der kulturellen Handlungs- und Partizipationsfähigkeit auch notwendig, dass ein solches Schema sozialer Interaktion nicht mechanisch zur Anwendung kommt, sondern immer aufs Neue im Verlauf der sozialen Interaktion hervorgebracht wird. Dies entspricht einem dynamischen, prozessualen und performativen Gattungsmodell, das sich an der individuellen und interaktionalen Realisierung von Kommunikations- und Handlungszwecken orientiert (vgl. Callaghan et al. 1993). Es ist daher auch ein dynamischer Schemabegriff zu veranschlagen (vgl. Lenk 2004, Hallet 2006a: 18ff.), der Raum für Individualisierungen und für die dynamische kulturelle Weiterentwicklung oder Neuschöpfung von generischen Formen lässt. Noch allgemeiner aus-
76 gedrückt kann man sagen: Die individuelle Aktivierung und Nutzung textueller und diskursiver Muster ist ein Paradigma für das beständige Wechselspiel zwischen präfigurierten kulturellen Formen und deren Aktualisierung und Refiguration oder, anders ausgedrückt, zwischen kultureller Standardisierung und Individualisierung im jeweiligen Akt der diskursiven Anwendung. Insofern ist jeder diskursive Akt performativ an der Erzeugung und der dynamischen Weiterentwicklung vorgängiger diskursiver Muster beteiligt. Er wirkt mit an der Verfestigung bestehender ebenso wie an der Herausbildung neuer generischer Formen. Es leuchtet ein, dass der schulische Unterricht die Lernenden, wenn er sie als kulturelle Aktanten ernst nimmt, auf solche kulturell relevanten textuellen und generischen Standardisierungen vorbereiten muss und dass er dabei seinerseits, um dies leisten zu können, in einem gewissen Maß selbst auf standardisierte Vorstellungen von funktionalen generischen und diskursiven Formen angewiesen ist, deren erfolgreiche Anwendung in realen kulturellen Kontexten entsprechender kognitiver Dispositionen bedarf. Gerade die Bedeutung generischer Kompetenzen ist lange Zeit unterschätzt und im Literatur- und Textunterricht wie in der schulischen Bildung überhaupt sträflich vernachlässigt worden. Generische Kompetenzen können geradezu als Paradefall dafür gelten, dass soziale Interaktion und kulturelle Diskurse in konventionalisierten Formen vonstatten gehen, die in der primären und in der schulischen Sozialisation erlernt werden und sich dementsprechend als Kompetenzen beschreiben lassen. Die systematisierte Entwicklung dieser Kompetenzen bedarf sowohl einer genauen, d.h. einübbaren Beschreibung dieser Formen selbst, also z.B. der Form des social drama im oben beschriebenen Sinne, als auch der Entwicklung der oben beschriebenen Ebenen der literarisch-litertalen, der generischen und der reflexiven Kompetenz. Erst die Einübung in standardisierte kulturelle Praktiken und in deren Reflexion setzt das Individuum in die Lage, selbst aktiv an kulturellen Prozessen mitzuwirken und deren diskursive Praktiken produktiv mitzugestalten oder zu verändern.
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Georg Friedrich
Bildungsstandards für den Sportunterricht Ein Lagebericht im Hinblick auf einen heterogenen Bildungsbereich 1. Grosse Bildungsdebatten und kleine Fische „Muss denn in die Kontroverse um die Entwicklung und Erstellung von Bildungsstandards nun auch noch der Schulsport einbezogen werden?“ Diese Frage liegt nahe, stehen bislang doch die so genannten großen Fächer Deutsch, Mathematik und Fremdsprachen, ergänzt um weitere naturwissenschaftliche Fächer, im Rampenlicht der aktuellen bildungspolitischen Diskussion um die Erstellung von fachspezifischen Bildungsstandards. Die einleitende Frage könnte möglicherweise angetan sein, Sportpädagogen zu irritieren – aufs Ganze gesehen, erscheint sie jedoch keinesfalls abwegig. 1 Die Rahmenbedingungen der aktuellen bildungsbezogenen Auseinandersetzung sind uns geläufig und bilden bereits Bestandteile vorhergehender Beiträge in diesem Band, ich möchte diese deshalb auch nur in skizzierter Form in Erinnerung rufen. TIMSS, PISA und IGLU sind die Kürzel für eine offensichtlich unerfreuliche Phase in der neueren deutschen Bildungsgeschichte. Selbst die Kritik an der Validität oder Reliabilität der Testverfahren der großen Bildungssurveys konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass die deutsche Bildungslandschaft eine schmerzliche Differenzerfahrung machen musste. Es ist die Differenz zwischen Selbstgewissheit, Leistungsvermutungen und unterrichtsbezogenen Wirksamkeitshoffnung auf der einen Seite und den empiri-
1 Unter dem Titel „Erfahrungsbasierte Bildung im Spiegel der Standardisierungsdebatte“ fand im November 2007 in Berlin die Tagung der Kommission Sportpädagogik der Deutschen Vereinigung für Erziehungswissenschaft statt. Teile der dort geführten Debatten um die Konstruktion von Bildungsstandards für das Unterrichtsfach Sport finden in den vorliegenden Beitrag Eingang. Vgl. Franke (2008).
82 schen Ergebnissen internationaler Leistungsvergleichs-Studien auf der anderen Seite. 2003 und 2004 reagiert die Kultusminister Konferenz außergewöhnlich schnell auf den so unrühmlichen Rang des deutschen Bildungssystems in den Länder vergleichenden rankings und verabschiedet Bildungsstandards für die Fächer Deutsch, die erste Fremdsprache und Mathematik für den Mittleren Schulabschluss. Zuvor hatte die Expertise von Klieme u.a. (2003) definitorisch festgelegt, worin die Besonderheiten von Bildungsstandards zu sehen seien, beziehungsweise welche Bedeutung die damit verbundenen Kompetenzen der Schülerinnen und Schüler hätten. Mit einer Beschreibung und Vorgabe von Bildungsergebnissen in Form von Kompetenzen rückte das Bildungssystem erstmals deutlich von den üblichen Steuerungsinstrumenten der Lehrpläne und Richtlinien ab. Wie Olaf Köller vom Institut für Qualitätsentwicklung im Bildungswesen der Humboldt Universität Berlin in dem sehr lesenswerten von Dietrich Benner herausgegeben Band „Bildungsstandards – Chancen und Grenzen“ es ausdrückt, sollen – ganz output-orientiert – die Kompetenzen der Schüler einen deutlich „handlungsorientierten und kognitiv aktivierenden Unterricht“ sicherstellen2. Mittlerweile wurden auch die naturwissenschaftlichen Fächer aufgefordert, ihre Bildungsstandards zu formulieren. Und nun, was keineswegs voraussehbar schien, stehen auch die so genannten ,kleinen’ Fächer Kunst, Musik und Sport im Fokus. Erinnern wir uns, in der Klieme-Expertise war von diesem Fächern noch gar keine Rede.
2. Bildungsstandards des Schulsport – leicht gemacht ? Rufen wir uns die Essentials der zitierten Klieme-Expertise einmal in Erinnerung. Dort wird zu Bildungsstandards unter anderem Folgendes formuliert: „Bildungsstandards legen fest, welche Kompetenzen die Kinder oder Jugendlichen bis zu einer bestimmten Jahrgangsstufe mindestens erworben haben sollten.“ 2
Köller (2007), S. 16
83 Diese Vorgabe wird unter dem Stichwort „Mindeststandards“ in die Diskussion eingebracht. Weiterhin von Bedeutung ist das spezielle Merkmal der testmäßigen Überprüfbarkeit der vorab fest zu legenden fachspezifischen Kompetenzen, wenn es heißt: „Die Kompetenzen werden so konkret beschrieben, dass sie in Aufgabenstellungen umgesetzt und mithilfe von Testverfahren erfasst werden können.“ Weiterhin wird betont, dass Bildungsstandards Ziele und nicht Lehrwege vorgeben, womit eine Out-put-Steuerung angestrebt wird. Die überprüfbaren Kompetenzen werden in Form von Aufgabenbeispielen veranschaulicht. Nun könnte man auf den ersten Blick den Eindruck gewinnen, dass abprüfbare Bildungsstandards etwas sind, was den Sportunterricht schon immer und grundsätzlich auszeichnet und somit leicht zu definieren wären. Leistungstabellen für die Leichathletik (Laufen, Springen und Werfen), Punktwertungen für den Turnunterricht und Zeitvorgaben für den Schwimmunterricht sind jeweils jahrgangsspezifisch als überprüfbare Leistungserwartungen an die Schülerschaft bereits fest vorgegeben. Dabei lassen sich diese Leistungsstandards, messbar in Zentimeter, Gramm und Sekunden3, relativ einfach mit Stoppuhr und Maßband erfassen. Solche sporttypischen Erfassungsverfahren der individuellen Leistungsfähigkeit mit Maßband oder Stoppuhr erfüllen offensichtlich auch die Haupt-Gütekriterien von Testverfahren auf hervorragende Weise. Die Anwendung von Leistungstabellen erscheint objektiv, reliabel und valide im Zusammenhang mit der Überprüfung der sportlichen Leistungsfähigkeit der Schülerinnen und Schüler. Dem wäre nichts hinzuzufügen, wenn man das Erreichen eines vorgegebenen sportlichen Leistungslevels als hinreichend ansieht, um im Sportunterricht Bildungsprozesse zu initiieren und sicherzustellen. Der Leser wird es bereits vermuten, ich hege diesbezüglich erhebliche Zweifel, dass es sinnvoll und angemessen ist, sich auf diese Art von Bildungsstandards für den Sportunterricht zu beschränken.
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kurz auch „c-g-s“-Standards genannt
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3. Bildungsstandards des Schulsport – eine substantielle Definition Ich möchte an dieser Stelle, um die Frage nach der Besonderheit potentieller Bildungsstandards des Sportunterrichts beantworten zu können, meinen argumentativen Anlauf etwas zurück verlagern, indem ich auf die Frage eingehe, was denn das Bildende im und am Sport(-unterricht) sei.4 Stellen Sie sich bitte folgende alltagsweltliche Situation vor: Der Schüler Peter hat vergessen, seinen Wecker zu stellen. Er wacht später auf, als gewöhnlich und muss nun eilig alles versuchen, um noch pünktlich zum Bus zu kommen. Dazu legt er den Weg zur Bushaltestelle im Sprint zurück, wobei er zur Abkürzung des Weges auch über einen Zaun springt. Erschöpft erreicht er gerade noch rechtzeitig seinen Bus. Dagegen eine zweite Situation: Im Sportunterricht stellt der Sportlehrer eine Anzahl Hürden auf. Die Schüler laufen an und überspringen mehr oder weniger geschickt und schnell die aufgestellten Hindernisse. Durch eine genauere Betrachtung des Unterschiedes beider Situationen sollte zweierlei gelingen. Erstens: den Unterschied zwischen einer alltagsweltlichen und einer sportunterrichtlichen Tätigkeit heraus zu stellen. Zweitens: der Antwort auf die Frage näher zu kommen, was Bildung im Sport im Kern sein könnte. Was die Definition der sportlichen entgegen der alltagsweltlichen körperlicher Bewegungshandlungen angeht, so macht das Beispiel klar, dass das Laufen unseres Schülers Peter zum Bus einer Welt des Notwendigen entspringt. Das heißt grundsätzlich, wir wählen eine spezielle Form der körperlichen Problemlösung (Sprint und Sprung über ein Hindernis), um ein außerhalb der eigentlichen Bewegungsrealisation liegendes Ziel – in unserem Beispiel ist es der morgendliche Bus – zu erreichen. Wie verhält es sich dagegen im Beispiel des Überspringens von Hindernissen im Sportunterricht? Dort ist festzustellen, dass ein Hindernis, hier sind es die Hürden, künstlich 4
Ich greife dazu ein Beispiel auf, das der Frankfurter Kollege und Sportpädagoge Robert Prohl in ähnlicher Weise auch im Rahmen der erwähnten Berliner Tagung (vgl. Franke 2008) vorgetragen hat.
85 errichtet wurde. Es entsteht demnach eine körperliche Auseinandersetzung mit einem gezielt und intentional errichteten Hindernis. Damit hätten wir zunächst idealtypisch ein Wesenmerkmal sportlichkörperlicher Bewegung skizziert. Wenn es nun fachspezifische Bildungsstandards für den Sportunterricht geben soll, so müssten logischerweise diese Bildungsstandards auch auf die Wesensmerkmale solcher sportlichkörperlicher Bewegungen ausgerichtet sein. Gehen wir nun zurück auf die einleitende Überlegung, dass der Sportunterricht ja mit Leistungstabellen, die Laufzeiten, Wurfdistanzen oder Sprunghöhen vorgeben, möglicherweise ideale Standards bereits vorliegen hat, so macht das Beispiel unseres gehetzten Spätaufstehens ein Weiteres deutlich: Während die alltagsweltliche Situation ihr Ziel im erfolgreichen Erreichen des Busses hatte, finden wir für den Hürdenlauf im Sportunterricht zunächst keine „außerhalb“ des Laufens und Springens selbst liegende Zielsetzung. Es verlagert sich die körperliche Auseinandersetzung bei einer im Sport gestellten Aufgabe in den Prozess der Problembewältigung selbst hinein. Die Lösung der Aufgabe verbleibt dem Lösungsprozess selbst verhaftet. Man könnte auch sagen, dass wir uns im Sport die Bewegungsaufgabe selbst stellen, wogegen sie sich uns im Beispiel des Laufens zum Bus aus der Situation heraus entgegenstellt. Somit ist es also weniger die Höhe der übersprungenen Hürde oder die gelaufene Geschwindigkeit, welche bildungsrelevant sind, sondern bildungsrelevant ist die leibliche Auseinandersetzung des Subjekts mit einer künstlich gestellten Aufgabe. Und genau in dieser leiblich geprägten Subjekt-ObjektBeziehung liegt in erster Linie das Bildungspotential unseres Faches. Diese Subjekt-Objekt-Beziehung besitzt übrigens, für alle von uns, die wir Sport treiben, einen hohen motivierenden Charakter. Diese Beziehung ist aber allein in Zentimeter- und Zeitangaben nicht abzubilden. Das Bildungspotential des Sportunterrichts zu begreifen, setzt voraus, dass die dargestellte Spezifik körperlich-sportlicher Bewegung im Kern erkannt und definiert wird. Leider machen sich die Bildungsplaner nur sehr selten diese Mühe. Um in der Sprache der Debatte um die Bildungsstandards zu sprechen, liegt das Bildungspotential des Sportunterrichts immer im Handlungsprozess zwischen dem Input einer vorgegebenen Norm oder Zielvorgabe und dem Output einer erreichten sportlichen Leistung. Und dieses „Zwischen“ stellt, wie es Jürgen Baumert vom Max-Planck-Institut
86 für Bildung bezeichnet, einen eigenen „Modus der Weltbegegnung“ dar, der sonst durch kein anderes Schulfach so deutlich fokussiert wird, und auf den ich im folgenden in Beispielen eingehen möchte. Dass ein auf bloße sportmotorische Output-Leistungen ausgerichtete Standardisierung zu kurz greift, wenn man den Sportunterricht als bildungsrelevantes Fach begreift, dies können auch die folgenden drei Fallbeispiele aus dem Sportunterricht verdeutlichen: 1. Metin ist vor 18 Monaten mit seinen Eltern nach Deutschland gekommen. Seine Eltern sprechen nur wenige Worte Deutsch und obwohl er eine Sprachförderung im Rahmen eines Sonderprogramms durchläuft, hat er doch erhebliche Schwierigkeiten wegen seiner Verständigungsprobleme, Freunde in seiner Klasse zu finden. Nur im Sportunterricht ist er bereits gut integriert, denn er spielt mit Leib und Seele Basketball und ist zu einer Stütze seines Teams geworden. Die anderen Spieler erkennen Metins Leistung an, haben ihn sogar zum Mannschaftskapitän gewählt und helfen ihm gelegentlich bei den Hausaufgaben. 2. Ingo hat wegen seines starken Übergewichts eine Außenseiterrolle in der Klassengemeinschaft. Die üblichen Sprüche muss er sich in den Pausen von anderen Schülern gefallen lassen: „Kalorienbombe“ oder „Stopfgans“ gehören dabei noch zu den zurückhaltenden Namensgebungen. Sportunterricht hasst Ingo, bis auf wenige Ausnahmen, nämlich die, wenn er sein Körpergewicht gewinnbringend einsetzen kann und als leistungsfähig erfährt, was beim Tauziehen oder beim Kugelstoßen der Fall ist. Dabei erkennen die anderen Schüler seine Leistung neidlos an. Seit die Sportlehrerin eine Unterrichtseinheit zur gesunden Ernährung und Gewichtsreduktion durch Ausdauersport durchgeführt hat, läuft er gelegentlich mit einem Freund aus der Nachbarschaft im Stadtpark und will demnächst am Fitnesskurs teilnehmen, den der örtliche Sportverein anbietet. 3. Petra gilt als unsichere bis ängstliche Schülerin. Sie wirkt deutlich jünger als die anderen Schülerinnen der Klasse. Im Sportunterricht hat sie für das nächst Halbjahr einen Judo-Kurs belegt. Dabei macht Petra schnell Fortschritte was die Fall- und Wurf-Techniken angeht. Sie gewinnt zunehmend an Selbstvertrauen und Selbstsicherheit gegenüber ihren Mitschülerinnen. Ich denke, dass aus den drei kurzen Fallbeschreibungen deutlich hervorgeht, dass der Bildungsgehalt des Sportunterrichts nicht allein in der messbaren körperlichen Leitungsfähigkeit zu finden ist. Metin, Ingo und Petra
87 machen sehr spezifische persönliche körperliche und soziale Erfahrungen. Sie geben dabei aber auch ihren Mitschülerinnen Anlass, selber eigene komplementäre Erfahrungen im Sportunterricht zu machen indem sie erkennen, was Bewegung, Spiel und Sport bei ihren Mitschülern erzeugt und was sie Unterschiedliches für diese bedeuten können. Integration durch Sport, eine gesundheits- und körperbewusste Lebensweise und die Stärkung des Selbstbewusstseins durch die Förderung eigener körperlicher Ressourcen, dies sind Bildungsprozesse, die eben auch die Qualität eines guten Sportunterrichts ausmachen. Es scheint deutlich, dass die genannten bildungsrelevanten Erfahrungen und Entwicklungsprozesse kaum mit Maßband und Stoppuhr erfassbar sind, und trotzdem bilden sie wichtige Standards, die einen bedeutenden Bildungsprozess im Schulsport markieren. Dass Sport im Rahmen der Erziehung und Bildung mehr anbietet und beinhaltet, als die reine fachbezogene Qualifizierung, welche die Teilhabe an einem breit gefächerten gesellschaftlichen Phänomen ermöglicht (Erziehung zum Sport), genau dieses Mehr an Bildungspotential thematisiert die Charta zu Sport und Erziehung der UNESCO von 1995. Dort heißt es: “Sport and physical education teach essential values and life skills including self-confidence, teamwork, communication, inclusion, discipline, respect and fair play. Physical education typically improves a child’s ability to learn, increases concentration, attendance and overall achievement. Within schools, physical education is an integral component of quality education.” Bezogen auf das geschlechtsspezifische Bildungspotential der Bewegungserziehung merkt die Charta weiterhin an: “The skills and values learned through sport are especially important for girls, given that they have fewer opportunities than boys for social interaction outside the home and beyond family networks. Through sport, girls are given the chance to be leaders and improve their confidence and self-esteem.”5
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http://www.unesco.org/education/pdf/SPORT_E. (Zugriff: 1-10-2005)
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4. Zum aktuellen Stand der Lehrplanentwicklung Das dem Hessischen Kultusministerium angegliederte Institut für Qualitätsentwicklung (iq) hat zur Zeit die Bildungsstandards zum Sportunterricht in der Grundschule, sowie für den mittleren Schulabschluss zur Diskussion vorgelegt. Diese strukturieren die traditionellen Sportarten in so genannte Bewegungsfelder. Unser Beispiel des Hürdenlaufes ist zum Beispiel im Bewegungsfeld „Laufen, Springen, Werfen“ verortet. Im Bewusstsein, dass gerade der Sportunterricht teaching to the standards (resp. teaching to the test) darstellen könnte, fordert die eingerichtete Expertengruppe, dass „kein absolutes Orientieren an und Hinarbeiten auf Normtabellen als Grundlage einer scheinbaren objektiven Leistung des Einzelnen“ statt zu finden hat. Konkret sind es folgende Kompetenzen, die Ende der Jahrgangsstufe 10 nachzuweisen sind: „aus dem Bereich von Laufen/Springen/Werfen jeweils mindestens eine grundlegende leichtathletische Bewegungstechnik demonstrieren, diese im Rahmen der eigenen Möglichkeiten verbessern und bezogen auf die jeweilige Zielsetzung anwenden.“6 Auf der Ebene der Aufgabenstellungen heißt es konkret: „schnell und Rhythmus betont über mindestens drei in Serien aufgestellte Hindernisse laufen (Abstände und Höhe der Hindernisse in Abhängigkeit zum individuellen Entwicklungsstand).“ (ebd.) Die gesamten Entwürfe zu den Bildungsstandards für den Sportunterricht des Mittleren Schulabschlusses weisen übrigens an keiner Stelle Standards für die Lerngelegenheiten (opportunity-to-learn-standards) auf, welche üblicherweise beschreiben, unter welchen Bedingungen der Kompetenzerwerb stattfinden sollte. Wir finden dagegen achievment standards, die die zu erreichenden Kompetenzen paraphrasieren. Dabei wird auf die Angabe differenzierter sportlicher Anforderungsumfänge und Bewegungsausprägungen verzichtet. Als eine der wenigen Zeitvorgabe geben die Bildungsstandards für die Jahrgangsstufen 6 bis 10 für „ausdauerndes Laufen“ eine Spanne zwischen ca. 10-15 Minuten (Jahrgangsstufe 6) und mindestens 30 Min. (Jahrgangsstufe 6
iq-Hessen (2007), Bildungsstandards Sport SI, S.9.
89 10) an. Es handelt sich dabei um den so genannten „Erwartungshorizont“(EH). Dieser wiederum zeichnet sich nach den Vorgaben des Kultusministerium durch ein „mittleres Anforderungsniveau“7 aus. Es bleibt festzuhalten: Hier ist keine Rede mehr von „Mindeststandards“, wie sie die Klieme-Expertise noch ins Spiel gebracht hatte. Auch in Bezug auf den Sportunterricht hat demnach ein Perspektivwechsel stattgefunden, der nicht zu übersehen ist: Bildungsstandards ursprünglich im Dienste eines Bildungsmonitorings auf den Weg gebracht drohen unter der Hand zu Eckwerten von Lernleistungstest von Schülern zu werden. Eingebettet sind die Bildungsstandards in Hessen in ein „Gesamtprogramm“, das den folgenden ministeriellen Vorgaben entspricht: „- Durchführung zentraler, standardisierter Tests (Orientierungs- und Vergleichsarbeiten), – Durchführung landesweiter, einheitlicher Abschlussprüfungen, – regelmäßige interne und externe Schulevaluationen, – Teilnahme hessischer Schulen an nationalen und internationalen Schulleistungsvergleichs- und Bildungsstudien.“ 8 Stellen wir uns die Situation dazu doch einmal konkret vor. Es steht eine externe Schulevaluation bevor, in die auch der Sportunterricht einbezogen ist. Der Sportlehrer schlägt in den vorliegenden Kompetenzbeschreibungen für seine Klassenstufe nach und findet: „mindestens 30 Minuten ausdauernd Laufen“. Was wird er tun, ist zu fragen. Voraussichtlich wird er ein für den Vereinssport typisches Ausdauertraining planen und konsequent bis zum Tag „x“ verfolgen. Der Bildungserfolg würde durchschlagend sein. Einige leistungsstarke Schüler können den anderen zeigen, was sie so „drauf haben“. Andere werden dagegen nur mühsam ihre 20 Minuten durchhalten und vom Lehrer mehr oder weniger Anteil nehmend angetrieben, jeweils die letzten paar Minuten möglichst nicht schlapp zu machen. Den Bildungserfolg verbalisiert daraufhin ein Teil der betroffenen Schüler mit den Worten: „Nie mehr Ausdauerlauf!“.
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www.iq.hessen.de – (Zugriff:13.11.07) ebd.
90 Erinnern wir uns, es soll sich um ein „mittleres Anspruchsniveau“ bei den Bildungsstandards handeln. Es liegt also nahe: unterhalb des mittleren Leistungslevels sind Misserfolgserlebnisse vorprogrammiert. Gleiches wird selbstverständlich bei den Sprungdisziplinen ebenso, wie bei den Wurfdisziplinen, im Schwimmen und im Turnen und auch partiell bei den Ballspielen etc. zu vermerken sein. Von einem lebenslangen Motivieren für eine sportliche und gesundheitsbewusste Lebensführung als Bildungsziel kann hier sicher nicht mehr die Rede sein. Unser übergewichtige Schüler Ingo bleibt gemeinsam mit einigen anderen im wahrsten Sinne des Wortes auf der Strecke.
5. Grundlegende Überlegungen zu den Bildungsperspektiven und Bildungsfacetten des Schulsports Nach dieser skeptischen Definition von Bildungsstandards im Schulsport möchte ich nun auf einige Bildungschancen des Sports in der Schule eingehen, die deutlich hinausweisen über das Erlernen von Sportarten und das Vermitteln von sportspezifischen Techniken und Taktiken. Was das Zitat aus der UNESCO-Agenda und auch die anfangs geschilderten drei Schülererfahrungen zunächst noch unsystematisch andeuten, dass ein In-Berührung-Kommen von Kindern und Jugendlichen mit dem Sport in der Schule weitläufiges Bildungspotential eröffnet, lässt sich noch einmal systematisch darstellen anhand der in den Rahmenvorgaben für den Schulsport dargelegten so genannten „Pädagogischen Perspektiven”, die der Sport bereitstellt. Dabei folgt der Schulsport dem Prinzip der „Mehrperspektivität“, die anhand unterschiedlichster sportlicher Handlungsfelder und Disziplinen zu thematisieren ist und erfahrbar gemacht werden soll. So können die Schülerinnen und Schüler beispielsweise das Schwimmen unter ganz unterschiedlichen Sinnzusammenhängen und Bedeutungen betreiben und reflektieren: - als wettkampfbezogene leistungssportliche Herausforderung, - als anspruchsvolle Bewegungstechnik oder - als gesundheitsfördernde Freizeitpraxis. In ähnlich vielfältiger Weise erfahren die Schüler das Laufen als eine Gelegenheit, die eigenen körperlichen Leistungsgrenzen zu testen oder als Möglichkeit, gemeinsam mit Freunden sich in der Natur zu bewegen. Insge-
91 samt sind es sechs pädagogische Perspektiven, die im Rahmen der Lehrpläne der Länder für den Schulsport mittlerweile von zentraler Bedeutung sind. In den aktuellen hessischen Entwürfen zu den Bildungsstandards für das Bewegungsfeld „Spielen“ geht es dementsprechend auch nicht nur um das Beherrschen einen sportartspezifischen Bewegungskoordination wie das Dribbeln mit dem Ball oder verschiedene Wurftechniken oder das regelgerechte Zuspiel, sondern auch das selbständige Initiieren von Spielen oder Maßnahmen zum gegenseitigen Helfen und Sichern im Rahmen sportlicher Lehr- und Lernprozesse bilden ebenso wichtige Kompetenzen, wie die Fähigkeit, anderen eine Bewegungsform zu demonstrieren und zu erklären.9 Die dargestellte fachdidaktische Systematisierung ist den Sportpädagogen unter den Leserinnen und Lesern nicht neu. Es handelt sich um die sechs so genannte „Pädagogische Perspektiven“, welche in mittlerweile sämtlichen Rahmenplänen zum Schulsport in mehr oder weniger vergleichbarer Form niedergelegt sind. Besonders hervorzuheben – bezogen auf das Thema der Standardisierung von Bildung im Schulsport – ist weiterhin folgender zentraler Aspekt: Das, was der Schulsport im Rahmen schulischer Bildung leisten muss, macht ihn gewissermaßen unaustauschbar vor dem Hintergrund eines spezifischen ganzheitlichen Bildungsverständnisses. Die philosophische und bildungstheoretische Debatte um die Bedeutung von Bildung hat häufig in der Vergangenheit einseitig darauf rekurriert, dass Bildung ein Prozess sei, der in erster Linie an die Vermittlung kognitiven Wissens gebunden ist. Die neuere Diskussion hat nun eine Position hervorgebracht und gestärkt, die ein erweitertes Bildungsverständnis vertritt, das auch den Aspekt der leiblichkörperlichen Bildung mit ins Spiel bringt. Autoren, wie Meyer-Drawe (2004), Liebau (1992) oder Benner (2005) seien hier stellvertretend als Autoren genannt, die auch für das Selbstverständnis des Faches Sport wichtige bildungstheoretische Argumente heraus gearbeitet haben. Danach hat die Frage der Ziele und der Vermittlungsweisen von Bildung in Schule auch den Bereich des Leiblich-körperlichen einzubeziehen, um nicht in ein verkürztes Bildungsverständnis zu verfallen. Eine systematische und fundamental bildungstheoretische Bezugsgrundlage dieser offensichtlich nicht substituierbaren Form der Wissen- und Er9
Vgl. Institut für Qualitätsentwicklung (2007)
92 kenntnisgewinnung findet sich in der von Baumert ausgearbeiteten Systematik der Modi der Weltbegegnung. Es handelt sich bei diesen um Strukturierungskategorien schulischer Bildung, die nicht zu verwechseln sind mit den kanonisierten, fächerbezogenen Grenzziehungen, welche eher historischbildungs-politisch die schulischen Fächer konstituieren. Dem zufolge findet neben einem kognitiv-instrumentellen Modus und einem normativ-evaluativem Modus der Weltbegegnung bei Baumert sich auch ein ästhetisch-expressiver Modus als unverzichtbarer Bildungsanteil, den Schulen zu realisieren hätten. Genau an dieser Stelle bekommt der Schulsport einen wichtigen eigenständigen Bildungsauftrag. Der Leib wird darin zum Erkenntnisträger und Erkenntnisinstrument und wird zu einer eigenen Dimension der Bildung (vgl. Franke 2004, 2005). Als Mitautor der hier bereits zitierten Klieme-Expertise hat Elmar Tenorth mit Verweis auf Wolfgang Klafki auf Folgendes aufmerksam gemacht: Auszugehen ist von der Existenz von Erfahrungspraktiken, die in erster Linie durch Bewegung realisiert werden. Klafki stellt ausdrücklich die im Rahmen der Körpererziehung möglichen eigenen Formen eines reflexiven, erkenntnistheoretischen Bildungsprozesses heraus. Insgesamt gesehen existiert ein „Modus des Weltzuganges“, der sich durch ganz eigene Wege der Erkenntnis auszeichnet, und der sich vor allen Dingen nicht einfach auf andere Modi der Weltbegegnung reduzieren lässt. In der Bewegung sei eine Erfahrungsform nicht-verbaler Art gegeben, die die Basis dessen ist, was der Weltzugang über Körperlichkeit begründet.10 Es bestätigt sich darin die Erkenntnis, dass das aktive Sporttreiben erst Erfahrungs- und Erkenntnisprozesse hervorbringt, die auf der für schulische Bildung dominanten sprachlich-kognitiven Ebene allein nicht konstruier- und vermittelbar sind. Diesem Sachverhalt folgend erscheint es dringend notwendig, den Bildungsbegriff der auch für eine Formulierung von Bildungsstandards für den Sportunterricht maßgeblich ist, insgesamt neu zu umreißen. Ein solches Vorhaben würde nun den Rahmen dieses Beitrages deutlich sprengen. Trotzdem möchte ich, eventuell als Anregung für eine weitere Auseinandersetzung, einige bildungstheoretisch angereicherte Gedanken dazu formulieren.
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Elmar Tenorth (2008)
93 Ähnlich wie die Unterrichtsfächer Musik und Kunst Bildungsziele einbeziehen, die einen erfahrungsgeleiteten ästhetischen Kompetenzbereich umfassen, wird auch im Sportunterricht ein erweitertes Bildungsverständnis verfolgt. Der Berliner Sportphilosoph und Sportpädagoge Elk Franke betont, dass es, wie bei den Fächern Kunst und Musik, „nicht vorrangig um literacy, also um die Voraussetzung gesellschaftlicher Kommunikation (geht, G.F.). Es geht vielmehr zunächst um die Erfahrung des Einzelnen mit der Erfahrung, woraus folgt: Kompetenzen in ästhetisch-expressiven Fächern sind immer (auch) leibbezogen und in einer besonderen Weise reflexiv.“11 Es geht bei den leibbezogenen Erfahrungen im Sportunterricht nicht bloß um eine Verknüpfung von theoretischem Wissen und praktischem Anwenden, sondern, so Franke, die körperlich-leibliche Erfahrung besitzt konstitutive Funktion im Mensch-Welt-Verhältnis. Im sportlichen Handeln entstehen zusätzlich eigene Erfahrungen, die eine eigene Qualität der Welterschließung darstellen, die sich unterscheidet, von den üblichen sprachlichreflexiven Wissenstransfers in den meisten Unterrichtsfächern.
6. Ein Fazit Der Bielefelder Sportpädagoge Dietrich Kurz, der maßgeblich an der Konstruktion der dargestellten Pädagogischen Perspektiven, die der Sport bereit hält, beteiligt war, hat mehrfach darauf hingewiesen, dass das Fach Sport mit diesen Perspektiven eine tragfähige Grundlage besitzt, auf der Bildungsstandards sich entwickeln ließen. Wie diese Bildungsstandards jedoch in die geforderten überprüfbaren Aufgabenstellungen überführt werden könnten, die Beantwortung dieser Frage ist er schuldig geblieben. Jedoch scheint deutlich zu werden, dass die für Bildungsstandards grundsätzlich geforderten Merkmale, wie die Überführbarkeit in Kompetenzen, Umsetzbarkeit in konkrete Aufgabenstellungen, die mithilfe von Testverfahren erfasst werden können, dass diese erforderlichen Bedingungen nur unterschiedlich gut im Hinblick auf die genannten sechs Bildungsperspektiven des Sports erfüllt und eingehalten werden könnten. So dürfte es inadäquat sein, das Geforder11
Franke 2007, 175.
94 te Ziel der Vermittlung und Erweiterung von Körpererfahrung und Körperwahrnehmung mit Tests überprüfen zu wollen. Hier bricht meine Darstellung des aktuellen Standes der Auseinandersetzung um die Bildungsstandards für ein Kleines Fach, den Schulsport, zwangsläufig ab. Die Formulierung der erforderlichen Aufgabenbeispiele für die zukünftigen Lehrpläne für das Unterrichtsfach Sport an Hessischen Schulen steckt nämlich zur Zeit noch in den Startblöcken. Den Startschuss hat die Bildungspolitik zwar abgegeben, doch die Läufer sind sich noch nicht sicher, ob und in welche Richtung sie überhaupt loslaufen sollten. Ich empfehle, um einen folgenschweren Fehlstart zu vermeiden, die Festlegung der Laufrichtung und des Zieles noch eingehender zu reflektieren und unmissverständlich zu klären. Nebenbei: in dieser unumgänglichen Selbstreflexion unterscheidet sich der Schulsport vom Leistungssport. Wobei nur einer von beiden ohne Schaden zu nehmen auf Bildung verzichten kann. Der Beitrag ist ausgegangen von der Frage, ob in die Kontroverse um die Erstellung von Bildungsstandards denn auch der Schulsport einbezogen werden sollte. Ich denke die Frage wird zunehmend obsolet, denn die bildungsadministrative Seite hat bereits Fakten geschaffen und hat entsprechende Arbeitsgruppen auf den Weg gebracht. Die bildungstheoretische Selbstvergewisserung unseres Faches ist dadurch erneut angestoßen worden. Aber wie in der Fabel von Hase und Igel fürchte ich, werden die Bemühungen um eine substantielle fachdidaktische und sportpädagogische Fundierung stets auf bereits fertig gestellte sportliche Leistungskataloge und Aufgabenlisten stoßen. Es bleibt offen, ob die von Sander in seinem Beitrag über die Chancen und Probleme von Bildungsstandards am Beispiel der politischen Bildung in diesem Band genannten Vorteile der Debatte um Bildungsstandards, wie die Stärkung der fachspezifischen Kohärenz und Aktivierung des öffentlichen Diskurses, die Nachteile eines überstürzten bildungspolitischen Frühstarts im Fach Sport wirklich aufwiegen können.
Literatur Baumert, J. (2002): Deutschland im internationalen Bildungsvergleich. In: Kilius, N., Kluge, J. & Reisch, L. (Hrsg.) Die Zukunft der Bildung (S.100-150). Frankfurt: Suhrkamp.
95 Benner, D. (2005): Allgemein Pädagogik. (5.Auflage) Weinheim/ München: Juventa. Benner, D. (2007): Bildungsstandards. Chancen und Grenzen, Beispiele und Perspektiven. Paderborn: Schöningh. Franke, E. (2004): Bewegung eine spezifische Form nicht-proportionalen Wissens. In: G. Klein (Hrsg.) Bewegung Sozial- und kulturwissenschaftliche Konzepte (S. 109-130). Bielefeld: transcript. Franke, E.(2005): Körperliche Erkenntnis die andere Vernunft. In: J.Bietz, R. Laging & M.Roscher (Hrsg.) Bildungstheoretische Grundlagen der Bewegungsund Sportpädagogik (S.180-201). Baltmannsweiler: Schneider. Franke, E. (2007): Qualitätssicherung aus der Perspektive ästhetisch-expressiver Schulfächer. Am Beispiel des Schulsports. In: Benner, D. (Hrsg.): Bildungsstandards. Chancen und Grenzen, Beispiele und Perspektiven (S.169-186). Paderborn: Schöningh. Franke, E. (Hrsg.) (2008): Erfahrungsbasierte Bildung im Spiegel der Standardisierungsdebatte. Baltmannsweiler: Schneider. Institut für Qualitätsentwicklung (iq) (2007): Bildungsstandards im Fach Sport der Sekundarstufe I für den Mittleren Schulabschluss. 3.1 Bildungsstandards zu den Bewegungsfeldern. Spielen. Entwurf (Stand vom 08.08.2007) Klafki, W. (1996): Neue Studien zur Bildungstheorie und Didaktik. Zeitgemäße Allgemeinbildung und kritische-konstruktive Didaktik. (5.Aufl.). Weinheim, Basel: Beltz. Klieme, E. u.a. (2003): Entwicklung nationaler Bildungsstandards Eine Expertise. Frankfurt am Main: Deutsches Institut für Internationale Pädagogische Forschung. Köller, O.(2007): Bildungsstandards, einheitliche Prüfungsanforderungen und Qualitätssicherung in der Sekundarstufe II. In: Benner (2007) a.a.O., S.13-28. Liebau (1992) Meyer-Drawe, K. (1984): Leiblichkeit. In: D.Benner & J.Oelkers (Hrsg.). Historisches Wörterbuch der Pädagogik (S.603-619). Weinheim, Basel: Beltz. Prohl, R. (2008): Risiken und Chancen der Einführung von Bildungsstandards für den Sportunterricht. In E.Franke (2008), a.a.O., S.61-82. Tenorth, H.-E. (2008): Sport im Kanon der Schule Die Dimension des Ästhetisch-Expressiven. Über vernachlässigte Dimensionen der Bildungsdebatte und -theorie. In: E. Franke (2008), a.a.O., S. 163-180. UNESCO (United Nations Educational Scientific and Cultural Organisation) International Charter of Physical Education and Sport. http://www.unes-co.org/ education/pdf/SPORT_E. (Zugriff: 1.10.2005)
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Swantje Ehlers
Heterogenität und Literalität Einleitung Voraussetzung für eine durch Migrationsbewegungen entstandene gesellschaftliche Mehrsprachigkeit ist die Existenz mehrerer Sprachgruppen innerhalb einer Sprachgemeinschaft.1 Deren Beziehungen sind durch Dominanz Verhältnisse und eine unterschiedliche Wertigkeit von Sprachen bestimmt. Die Existenz mehrerer Sprachgruppen innerhalb einer Sprachgemeinschaft führt zu unterschiedlichen Ausprägungen von Mehrsprachigkeit. Zwar ist mündliche Mehrsprachigkeit ein weltweit verbreitetes und akzeptiertes Phänomen, aber schriftliche Mehrsprachigkeit ist keineswegs selbstverständlich und oft nur privilegierten Schichten vorbehalten. Während die Bedeutung von mündlichen und schriftlichen Zweitsprachenkenntnissen für den Bildungserfolg innerhalb einer Gesellschaft unbestritten ist, hat sich seit den 1970er Jahren in der zweitsprachlichen Lese- und Bilingualismusforschung eine große Debatte um die Frage entzündet, ob und mit welcher Begründung der Erwerb literaler Fähigkeiten auch in der Erstsprache (L1) von Schülern mit einem Migrationshintergrund erfolgen sollte. Ausgangspunkt für diese Debatte war die mit gesellschaftlicher Mehrsprachigkeit verbundene Chancenungleichheit im Bildungssystem und Leistungsheterogenität bei Migrantenkindern, die international konstatiert wurden, mit den daraus resultierenden sozialen Folgen, dass Schüler mit einem Migrationshintergrund häufig ihre Schulkarriere abbrechen und nicht über ausreichende schriftsprachliche Fähigkeiten verfügen, um eine Berufsausbildung machen zu können (u. a. Baker/de Kanter 1983; Hakuta 1986). Die Befunde von schulischer Benachteiligung von Migrantenkindern wurden auch für den deutschsprachigen Raum bestätigt. So wies die Studie
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Gesellschaftliche Mehrsprachigkeit wird auch sozialer Bilingualismus genannt in Abgrenzung von einer individuellen Bilingualität.
98 von Lehmann et al. (1995) nach, dass sich das Leseverständnis von Migrantenkindern in der dritten und achten Jahrgangsstufe im unteren Leistungsbereich bewegt. Die PISA-Studie (2001) hat Migrantenkinder und deutsche Kinder aus bildungsfernem Milieu als Risikogruppen identifiziert, die hinter minimalen Standards zurückbleiben und damit nicht die Voraussetzungen erreichen, die sie in die Lage versetzen, ihre berufliche Existenz zu sichern und eigene Lebensentwürfe zu gestalten. Sie gehören zu denen, die die Kompetenzstufe II der PISA-Studie nicht erreicht haben und somit Mühe haben, einen einfachen Text zu verstehen. Das Ergebnis dieser vergleichenden Studie hat die Situation von Risikokindern und die Bedeutung des Sozialfaktors verstärkt ins öffentliche Bewusstsein gerückt. Bereits die Resultate der internationalen IEA-Studie (Elley 1994), die die Standards von Literalität in verschiedenen Ländern verglichen hat, deuten auf einen starken Einfluss von sozioökonomischen Hintergrundfaktoren und den Zugang zu Gedrucktem im Elternhaus auf den Erwerb von Lesefähigkeiten in der Schule hin. Um Leistungsrückstände von Kindern mit einem Migrationshintergrund durch Interventionen ausgleichen zu können, bedarf es der Klärung, was die Ursachen von schulischem Scheitern und insbesondere von Leseschwierigkeiten bei Migrantenkindern sind. In der Geschichte der zweitsprachlichen Lese- und Bilingualismusforschung hat es dafür unterschiedliche Erklärungsansätze und Lösungsvorschläge gegeben, die jedoch nicht immer auf empirisch gesicherten Erkenntnissen beruhen. Feststeht, dass externe Sozialfaktoren und interne schulbezogene Faktoren auf komplexe Weise mit kognitiven Prozessen des Erwerbs von Sprache und Lesefähigkeit in der Zweitsprache (L2) interagieren und es je nach Kontext zu unterschiedlichen Interdependenzen kommt. In dem vorliegenden Beitrag möchte ich Faktoren, die den Erwerb von Lesefähigkeiten in der Zweitsprache bei Migrantenkindern beeinflussen, herausarbeiten und gehe zunächst auf die Besonderheiten des zweitsprachlichen Lesens und die soziale Situiertheit von Lesen ein. Daran schließen sich Ausführungen zur spezifischen Sprach-/Leseerwerbssituation von Schülern mit einem Migrationshintergrund und zu bilingualen Unterrichtsmodellen an, um abschließend Konsequenzen für den Schulunterricht unter den gegebenen Bedingungen aufzuzeigen.
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1. Erwerb von Lesefähigkeiten in der Zweitsprache Die moderne empirisch arbeitende Leseforschung, wie sie sich seit den 1960er Jahren im Paradigma der Informationsverarbeitungstheorie entwickelt hat, zielt darauf, den Prozess des Lesens in Teilfähigkeiten zu untergliedern, deren Zusammenspiel Lesekompetenz ausmacht. Typischerweise wird der Prozess des Lesens in mehrere Ebenen untergliedert, die jedoch nicht im zeitlichen Nacheinander durchlaufen werden, vielmehr findet eine parallele Verarbeitung von Informationen auf den verschiedenen Ebenen statt. Wie die Kommunikation zwischen diesen Ebenen verläuft, ist eine der Kernfragen der Leseforschung. Der Prozess beginnt mit primären Wahrnehmungsvorgängen, geht weiter über die phonologische Rekodierung, bei der räumlich gegebene Grapheme mit zeitlich geordneten Phonemen koordiniert werden müssen, zur Buchstaben- und Worterkennung. Eine kontextfreie Worterkennung ist Voraussetzung für die Lesegeschwindigkeit, die ihrerseits wiederum grundlegend für das verstehende Lesen ist, weil bei Unterschreitung einer bestimmten Geschwindigkeit, bedeutungsvolles Material beim Weiterlesen nicht verarbeitet werden kann und wieder verloren geht. In Abhängigkeit vom Kontext müssen den Wörtern Bedeutungen zugeordnet werden und sie müssen in den Satzzusammenhang integriert werden. Als nächstes muss der Leser unter Berücksichtigung syntaktischer und semantischer Merkmale die Aussageinhalte eines Satzes erfassen und Verbindungen zwischen Sätzen herstellen, um eine lokale Kohärenz zu bilden und zu einem satzübergreifenden Verstehen zu gelangen. Für das Textverstehen ist der Leser gefordert, übergreifende kohärente Sinnzusammenhänge unter Rückgriff auf sein mitgebrachtes Wissen herzustellen. Dazu müssen fortlaufend selektive und inferentielle Aktivitäten durchgeführt werden. In dieser Perspektive ist Lesen ein konstruktiver Vorgang, da der Leser aufgrund von Schlussfolgerungen zugrunde liegende Situationen eines Textes rekonstruieren und dem Text Informationen hinzuzufügen muss, damit kohärente Zusammenhänge entstehen und sich ein Textverständnis einstellt. Ein Leser kann dabei flach lesen und inferentiell arme Bedeutungsstrukturen erzeugen, oder er geht weit über den Text hinaus, indem er das Gelesene mit Assoziationen, eigenem Wissen und Erfahrungen anreichert (Elaborationen). Während des Lesens setzen zudem reduktive Mechanismen ein (van Dijk 1977), bei denen der Les-er Nebensächliches übergeht, Wichtiges aus-
100 wählt, verallgemeinert und verstreute Informationen integriert, um auf diese Weise eine übergeordnete thematische Struktur zu bilden (Erfassen des wesentlichen Inhaltes eines Textes). Der ‚gute‘ Leser zeichnet sich zudem durch metakognitive Fähigkeiten der Selbstkontrolle und der Steuerung seines Lese-/ Verstehensprozesses aus, indem er bei auftretenden Leseproblemen nach Lösungen sucht und sein Verständnis am angestrebten Leseziel überprüft. Der kognitive Prozess des Lesens ist universal, aber unter zweitsprachlichen Erwerbsbedingungen beeinflussen spezifische Faktoren den Prozess und führen zu Unterschieden im erst- und zweitsprachigen Lesen (Ehlers 1998).2 Gegenüber dem Erwerb von Lesefähigkeiten in der Erstsprache (L1) existieren beim zweitsprachigen Leseerwerb mindestens zwei Sprachen, die in einem spezifischen Verhältnis zueinander stehen. Das Einschulungsalter und die Erwerbsphase sind ebenfalls von Bedeutung, wie frühe Studien im skandinavischen Raum erwiesen haben, wo finnische Kinder, die in Finnland ein-geschult wurden und erst im Alter von 10 Jahren nach Schweden kamen, erfolgreicher im L2-Lesenlernen waren, als die finnischen Kinder, die in Schweden eingeschult und erstmalig in der L2 alphabetisiert wurden: “/../ those who attended school in Finland (prior to immigration) approached the level of achievement of normal Swedish pupils /…/ in the written comprehension test considerably more often than those who began school in Sweden. Those who attended school in Finland for at least three years did best. The explanation for this can perhaps be found in their better skills in their mother tongue which laid the basis for understanding a text written in Swedish. Two years in a Finnish class in Sweden did not, on the other hand, make for as good a basis for learning Swedish as the corresponding time in Finland.” (Skutnabb-Kangas/Toukomaa 1976, 65-66) Aus diesem Befund wurde die These abgeleitet, dass sich ein längerer Schulaufenthalt in der Herkunftskultur positiv auf das Zweitsprachenlernen auswirkt und vorhandene erstsprachige literale Kenntnisse den Spracherwerb in der Zweitsprache erleichtern. Diese als Spracherleichterungsthese (facilitation 2 Zweitsprachig heißt „in der Zweitsprache“, zweitsprachlich dagegen bedeutet „bezogen auf die Zweitsprache“. Daher heißt es „zweitsprachiges Lesen“, aber zweitsprachliche Forschung“.
101 theory) in die Forschung eingegangene Hypothese wird vor allem von J. Cummins (1979) vertreten und bildete lange Zeit die argumentative Grundlage für eine zweisprachige Erziehung von Migrantenkindern. Bedeutsam für den Erwerb von Schriftsprachlichkeit in der L2 ist die Sprachkompetenz in der Zweitsprache, unter der in der empirischen Leseforschung Grammatik und Wortschatz verstanden werden. Eingeschränkte Sprachkompetenzen haben einen Effekt auf das Lesen, wobei die Effekte sich auf unterschiedliche Dimensionen von Lesefähigkeit beziehen. Vom Umfang des Wortschatzes hängt die semantische Verarbeitung ab; er beeinflusst die Fähigkeit, kontextabhängige Wortbedeutungen zu erfassen. Da der Wortschatz die Wortleseeffizienz beeinflusst und eine rasche Worterkennung wiederum Voraussetzung für die Leseflüssigkeit und damit für das Leseverstehen ist, kann ein eingeschränkter Wortschatz zu einer verlangsamten Worterkennung und damit zu einer Beeinträchtigung im Leseverstehen führen. Mangelnde morphosyntaktische Kenntnisse schränken wiederum die Satzverarbeitung ein, da bestimmte Signale nicht erkannt und für die syntaktische Analyse genutzt werden können. Diskurswissen ist eine weitere Variable, die das L2-Textverstehen beeinflusst. Die verschiedenen Textstrukturen in Narrationen oder argumentativen Texten sind sprachund kulturspezifisch (Carrell 1984). Typisch für den zweitsprachlichen Leser ist eine begrenzte Kapazität des Arbeitsgedächtnisses, das der Speicherung und weiteren Verarbeitung von aufgenommenen Informationen dient. Auf höher stufigen Ebenen des Leseprozesses können oft keine selektiven und inferentiellen Aktivitäten durchgeführt werden. Ein Grund besteht darin, dass das kulturelle Hintergrundwissen fehlt, um notwendige Schlussfolgerungen zu ziehen und damit zu einem Textverständnis zu gelangen, oder aber das Wissen ist vorhanden, kann jedoch nicht in den Prozess integriert werden. Jüngere Studien im deutschsprachigen Raum haben als Hauptvorhersager für Leistungsunterschiede zwischen guten und schwachen Lesern ebenfalls die oben genannten Merkmale identifiziert: Worterkennung, Arbeitsgedächtniskapazität und inhaltliches Vorwissen (s. Stanat/Schneider 2004) und dann weiter nach den Unterschieden zwischen Migrantenschülern und deutschsprachigen Schülern gefragt, die zu den schwachen Lesern zählen. Als zusätzliche und entscheidende Variable wurden für Migrantenkinder in Übereinstimmung zu Befunden der langjährigen L2-Leseforschung die Zweitsprachenkenntnisse identifiziert.
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2. Soziale Situiertheit von Lesen Die unterschiedlichen Profizienzen im zweitsprachigen Lesen unter bilingualen Erwerbsbedingungen in Abhängigkeit von schulischen und soziokulturellen Faktoren sind in der Fachliteratur reichhaltig dokumentiert, ohne jedoch einen befriedigenden Erklärungsansatz dafür gefunden zu haben. Eine schulische Variable, die von maßgeblichem Einfluss auf den Leseerwerb in der L2 ist, ist die Sprache, in der unterrichtet wird. Während sich bei Mehrheitskindern der Unterricht in einer Zweitsprache nicht nachteilig auswirkt und sie zu einer Leseprofizienz in der Erst- und Zweitsprache gelangen, die monolingualen Kindern vergleichbar ist, retardieren die Lesefähigkeiten bei Kindern von Minderheiten mit einem geringen sozialen Prestige, wie Untersuchungen zu kanadischen Immersionsprogrammen und Submersionsprogrammen im amerikanischen und europäischen Raum gezeigt haben (Cummins 1979; Lambert/ Tucker 1972; Skutnabb-Kangas/Toukomaa 1976). In den Immersionsprogrammen wurden englischsprachige Kinder in der Zweitsprache Französisch unterrichtet und alphabetisiert; ihre Leistungen waren insgesamt erfolgreich. Beide Sprachen besitzen jedoch einen hohen Status in der Bevölkerung und sind offizielle Amts-sprachen. Anders ist die Situation bei Submersionsprogrammen, wo Minderheitenkinder aus unterem Sozialmilieu im Medium der Mehrheitssprache unter-richtet werden, die einen deutlich höheren Status hat. Sie können dem Leseunterricht nur schwer folgen, da sie die Zweitsprache nicht ausreichend beherrschen und aufgrund ihrer anderen familiären Sozialisation die Inhalte von Texten kaum verstehen (Downing 1974). Derartige Ergebnisse haben die Aufmerksamkeit auf die soziale Situiertheit von Leseerwerbsprozessen und den Einflüssen von asymmetrischen Beziehungen zwischen Minderheiten und Mehrheiten, Prestige der Sprachen und sozio-ökonomischem Status der Eltern auf Lernleistungen von Migrantenkindern gelenkt. So hat Tucker (1977) dem sozialen Faktor eine hohe Bedeutung bei der Erklärung von schulischen Erfolgen und Nicht-Erfolgen bei bilingualen Kindern zu-gemessen und die Wahl der Unterrichtssprache von sozialen Bedingungen abhängig gemacht. Die Frage, wie sich soziale Faktoren auf der Ebene kognitiver Prozesse und auf Teildimensionen von Literalität auswirken, ist zunehmend in den Mittelpunkt eines Forschungsansatzes gerückt, der das Lesen in einer sozialisatori-
103 schen Perspektive untersucht.3 Rege Forschungsaktivitäten haben sich in Bezug auf den Einfluss einer print-orientierten Umgebung auf das Verständnis von Schriftlichkeit und funktionalen Aspekten von Lesen und Schreiben entwickelt (u. a. Ferreiro/Teberosky 1982). Vor Schulbeginn werden Vorbedingungen für den Erwerb von Literalität geschaffen, die je nach sozialem Milieu und Zugehörigkeit zu einer Minderheiten- oder Mehrheitsgruppe zu unterschiedlichen Erfolgen im Lesenlernen führt. Bereits Cummins (1979) konstatiert, dass metasprachliche Fähigkeiten, Unterschiede zwischen mündlicher und schriftlicher Sprache zu erkennen und dekontextualisierte Sprache zu verarbeiten, bei Minderheitenkindern weniger gut ausgeprägt sind als bei Mehrheitskindern. Die unterschiedlichen Erfolge im L2-Erwerb von Mehrheits- und Minderheitenkindern sind in dieser Perspektive weitgehend sozial induziert, weil sich aufgrund der unterschiedlichen Milieus die für einen erfolgreichen L2Leseerwerberforderlichen Vorläuferkompetenzen unterschiedlich entwickeln. Die frühen Studien zur Interaktion von Sprachwissen in der L1, schulischen Variablen und L2-Leseerwerb haben allerdings nicht die mündlichen Erstsprachenfähigkeiten von Migranten- und Mehrheitskindern unterer sozialer Schichtzugehörigkeit getestet. Erst damit würden jedoch bei Kontrolle sozialer Variablen die Lerner-voraussetzungen, die spezifisch für Migrantenkindern sind, isoliert werden. Die PISA-Studie (2001) gibt hier mehr Aufschluss; denn auch bei deutschsprachigen Kindern aus einem Elternhaus mit niedrigem sozialen Status und geringem Bildungsmilieu ist die Sprachentwicklung rückständig und können sich Vorläuferkompetenzen für den Literalitätserwerb nicht ausreichend entwickeln. Von beherrschendem Einfluss sind die Spracherfahrung und die literale Praxis im Elternhaus (Vorlesen, Geschichten Erzählen, Zugang zu Gedrucktem). Aufgrund einer mangelnden literalen Erfahrung zu Hause entwickelt sich nur wenig Verständnis für die Bedeutung schriftlicher Sprache und ihrer Unterschiedlichkeit zum Mündlichen (Clay 1991) und kann sich Wortschatz 3
In der Bundesrepublik, Österreich und der Schweiz sind seit den 1980er Jahren bis zur Gegenwart umfangreiche Studien zur Lesesozialisation von Jugendlichen und Erwachsenen durchgeführt worden, aber keine dieser Studien hat das Leseverhalten von Kindern/Jugendlichen mit einem Migrationshintergrund untersucht (u. a. Köcher 1988; Saxer et al. 1989; Hurrelmann 1993; Groeben/Hurrelmann 2004).
104 nicht differenziert entwickeln (Snow/Ninio 1986). Weitere Elternhausfaktoren, die den Sprach- und Leseerwerb von Migrantenkindern beeinflussen, sind außer dem sozioökonomischen Status und Bildungsmilieu, die Abkapselung in Wohngebieten, die Kommunikationssprache (L1 vs. L2), die Medienpraxis (L1 vs. L2) und die Sprachfertigkeiten der Eltern in der L2. Auf die Bedeutung mangelnder Zweitsprachenkenntnisse der Eltern, die sich nachteilig auf spätere schulische Leistungen der Kinder auswirken, weist die Studie von Alba et al. (1994) hin. Wohngebiete mit hohen Anteilen an sprachlich homogenen Migrantengruppen schränken die Kontaktmöglichkeiten zu deutschsprachigen Kindern/Jugendlichen ein und damit die Lernmöglichkeiten für die Zweitsprache. Das hat u.a. zur Folge, dass sich der Wortschatz zu wenig entwickeln kann und teilweise auch kulturelles Wissen der Mehrheitskultur nicht angeeignet werden kann. Die im sozialen Umfeld ungesteuert erworbenen mündlichen Fertigkeiten unterliegen Beschränkungen und bilden keine gute Voraussetzung für einen erfolgreichen Literalitätserwerb in der Schule. Vieles deutet darauf hin, dass sich der Übergang von der Mündlichkeit zur Schriftlichkeit für den Leseerwerb bei Schülern mit Migrationshintergrund als kritisch erweist und hierbei vor allem Elternhausfaktoren und mangelnder Zugang zu Lernumgebungen für die Zweitsprache wirksam werden. Zu fragen bleibt, welche Leistungen das Kind beim Leseerwerb erbringen muss.
3. Sprach-/Leseerwerbssituation von Migrantenkindern Zu Beginn des Erwerbs von Literalität in der Schule spielen mündliche Fähigkeiten eine wesentliche Rolle, da das mündliche Sprachvermögen produktiv in die Erwerbssituation eingebracht wird. Beim Erwerb von Schriftlichkeit werden vom Kind neue kognitive Leistungen verlangt. Es wird eine neue Denkleistung gefordert, wie Abstrahieren und Wahrnehmen von Merkmalen geschriebener Sprache, Diskriminieren von Einheiten (Morpheme) und ihren bedeutungsunterscheidenden Funktionen und Identifizieren von Merkmalen, z.B. bei der Buchstabenerkennung. Können diese Leistungen in der nur unvollkommen beherrschten Zweitsprache nicht erbracht werden, so können keine begriffsbildenden kognitiven Schemata gebildet werden und sind Leseleistungen in der L2 rückständig. Erschwerend kommt hinzu, dass bei Schülern mit einem Migrationshintergrund die mündlichen Fertigkeiten in der Zweitsprache Deutsch auf-
105 grund der kürzeren Lernzeit nicht so entwickelt sind, dass sie der Unterrichtskommunikation bruchlos folgen und die Inhalte verstehen können. Die mündliche Sprache mit ihren Merkmalen von Situationsgebundenheit, reduziertem Wortschatz und einfacher Syntax reicht nicht für die Kommunikation im Unterricht, wo Sprache zunehmend durch Merkmale konzeptioneller Schriftlichkeit4 gekennzeichnet ist, wie Situationsentbundenheit, Distanz, kohärenzbildende Mittel wie Pronomina, Verweisformen und Artikel. Sie haben Schwierigkeiten, den genau definierten Begriffen und Operationen und der wachsenden Textorientierung in der Schule zu folgen (Lehrbücher, Aufgabenstellungen, Hefte, Tafelanschrieb). Die nur ungenügend oder kaum beherrschte Zweitsprache ist Lernmedium und zugleich die zu erlernende Sprache, was eine hohe Doppelbelastung für das Kind mit sich bringt. Da Schriftlichkeit ein Medium des Wissenserwerbs ist, fehlt bei rückständigen Leseleistungen in der L2 der Zugang zu Fachinhalten. Über die Bedeutung von mündlichen und schriftlichen Zweitsprachenkenntnissen für einen erfolgreichen Leseerwerb in der L2 und damit für Bildungserfolg besteht breiter Konsens. So konnte eine Reihe von Studien den Zusammenhang zwischen mündlicher L2-Kompetenz und Lesefähigkeit in der L2 nachweisen (August/Hakuta 1997, Wong Fillmore/Valdez 1996 und Lehmann et al. 1995 für den deutschsprachigen Raum, ebenso die PISA-Studie 2001). Die Förderung der Zweitsprachenkenntnisse ist eine der Konsequenzen aus diesen Befunden. Strittig jedoch ist die Frage, ob die Herkunftssprache eine funktionale Bedeutung für einen erfolgreichen Sprach-/Leseerwerb in der L2 hat und in wie weit die L1 im Schulsystem gefördert werden sollte oder nicht. Diese Frage wird seit Jahren auch in der Bundesrepublik heftig diskutiert und hat zu einer Polarisierung von Befürwortern und Gegnern einer bilingualen Erziehung geführt.
4 Die moderne Schriftlichkeitsforschung unterscheidet zwischen medialer und konzeptioneller Schriftlichkeit (Koch/Oesterreicher 1985)
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4. Bilinguale Erziehung Die Kontroverse um die Rolle der Erstsprache für die Optimierung des L2Erwerbs und von Lernleistungen in der L2 begann in den USA, wo in den 1970er Jahren aufgrund der schwachen Leistungen von Migrantenschülern insbesondere spanischsprachiger Herkunft bei einer einsprachigen Erziehung bilinguale Modelle eingerichtet wurden, die begrenzt wurden auf drei bis fünf Jahre. Diese als Übergangsprogramm bezeichneten Angebote, die auf den Übergang von der Erst- zur Zweitsprache zielen, verwenden die Erstsprache bei Schulbeginn als einzige Unterrichtssprache oder die Unterweisung erfolgt sowohl in der Erst- als auch in der Zweitsprache. Bei den Übergangsmodellen unterscheidet man wiederum zwischen zwei Typen: dem early-exit und dem late-exit Typ. Beim Typ des early-exit erfolgt der Übergang nach 1-3 Jahren in die Zweitsprache als alleiniger Instruktionssprache. Beim Typ des late-exit ist ein Lehrer jeweils einer Sprache zugeordnet und findet der Übergang in die alleinige Verwendung der Zweitsprache nach 5-6 Jahren statt. Zudem gibt es noch das Modell der Strukturierten Immersion, das etwa den Vorbereitungsklassen5 im deutschsprachigen Raum entspricht. Dessen Zielsetzung ist nicht die Zweisprachigkeit, sondern die Einsprachigkeit. Den Übergangsprogrammen stehen wiederum Programme gegenüber, die auf die Entwicklung einer ausgewogenen Zweisprachigkeit zielen und sich daher über die gesamte Grundschulzeit erstrecken; dazu gehören die developmental bilingual programs, die sich an Schüler einer gleichen Herkunftssprache wenden, und die two-way immersion – Programme, in denen jeweils die Hälfte der Schüler Englisch als Erst- und Zweitsprache haben. Bei den Befürwortern einer zweisprachigen Erziehung zeichnen sich zwei Argumentationslinien ab: Die eine akzentuiert sprachwissenschaftlich-kognitive Vorteile, die andere den kulturellen Wert von Zwei-/Mehrsprachigkeit. In linguistisch-kognitiver Perspektive fördert die Alphabetisierung in der Erstsprache den Zweitsprachenerwerb, insbesondere den Leseerwerb in der Zweitsprache und bildet die kognitive Entwicklung in der L1 eine Voraussetzung für den Erwerb von inhaltlichem Wissen in der L2. Prominenter 5 In Vorbereitungsklassen wird nur Unterricht in Deutsch als Zweitsprache erteilt; sie wenden sich vor allem an Seiteneinsteiger.
107 Vertreter dieser Position ist Cummins (1979, 1991). Argumente für eine zweisprachige Erziehung stützen sich theoretisch auf die zuerst im skandinavischen Raum entwickelte und von Cummins (1979) weiter ausgearbeitete, vielfach zitierte Interdependenzthese, die das Verhältnis von erst- und zweitsprachigem Lesen spezifiziert. Sie besagt, dass das Lesen in der L1 und L2 auf einer gleichen zugrunde liegenden Fähigkeit beruht und die Lesefertigkeiten unter bestimmten Bedingungen von einer Sprache zu einer anderen transferieren.6 In dieser Perspektive ist Lesen eine sprach-übergreifende universale Kompe-tenz. Empirische Evidenz für die Hypothese von der Interdependenz zwischen Sprachen bringen Experimental- und Evaluationsstudien zu bilingualen Erziehungsprogrammen. In dem bereits erwähnten kanadischen Immersionsprogramm wurden hohe Korrelationen zwischen den Lesefertigkeiten in der L2 Französisch und der L1 Englisch gefunden (Lambert/Tucker 1972). Die Lesekompetenzen von Kindern, die in der L2 Literalität erworben hatten, waren am Ende der Elementarschule den muttersprachigen Kindern vergleichbar. Jedoch bedarf es einer Einschränkung: Die Ergebnisse beziehen sich auf Korrelationen zwischen L1- und L2-Lesefähigkeiten, aus denen sich keine kausalen Beziehungen über die Effekte des L1-Literalitätserwerbs auf den L2Erwerb ableiten lassen, zumal noch viele weitere Faktoren ins Spiel kommen, wie Intelligenz, Motivation und soziale Faktoren, die nicht immer kontrolliert wurden. Außerdem gelten Transferleistungen bei zweisprachigen Prozessen nicht für alle Komponenten. Geringe Interdependenzen bestehen im morphologischen und syntaktischen Bereich (Verhoeven 1994), während ein Transfer bei türkischen Kindern in den Niederlanden im Bereich der Worterkennung und im Leseverstehen festgestellt wurde. Ein Transfer phonologischer Bewusstheit, als einer wichtigen Vorläuferfähigkeit für den Schriftspracherwerb, zwischen Sprachen konnten Durgunoglu et al. (1993) nachweisen. Sie haben einen Vergleich zwischen Leseprozessen in der Erst- und Zweitsprache bei Bilingualen mit Spanisch als Muttersprache durchgeführt und stellten fest, dass die Fähigkeit, gesprochene Sprache in Phonemeinheiten zu segmentieren und Phoneme Graphemen zuzuordnen, nicht nur die Worterkennung in der Erstsprache, sondern auch die in der Zweitsprache fördert und zu einer effizienteren Worterkennung führt. Hier wird eine metasprachliche Fähigkeit in 6
Potentiell kann der Richtungsverlauf von der L1 zur L2 und umgekehrt verlaufen.
108 der L1 ausgebildet, die auf der Bewusstheit beruht, dass sich in gesprochener Sprache phonologische Teilkomponenten erkennen lassen und zwischen Geschriebenem und Gesprochenem eine Korrespondenz besteht. Unter dem Blickwinkel kultureller und sprachlicher Heterogenität und Vielfalt werden Migrantensprachen als kulturelle Ressourcen betrachtet, die nicht zu-letzt sprachlich-kulturelle Identitäten sichern. Aus diesem Grunde wurden die bedrohten Erstsprachen von autochthonen Sprachgruppen, wie den Eskimos oder Navajo-Indianern, im Rahmen von Spracherhaltprogrammen gefördert (z.B. das Rock-Point-Projekt für Navajo-Kinder). Darüber hinaus betonen Fürsprecher einer zweisprachigen Erziehung den ökonomischen Nutzen von Zweisprachigkeit in Europa. Es handelt sich um eine ideologische und politische Position und Werthaltung, die keiner Rechtfertigung der L1-Förderung durch den Nachweis von Erfolgen im L2Lernen bedürfen. Gegen eine bilinguale Erziehung sprechen sich u. a. prominente Bilingualismusforscher wie Rossell und Baker (1996) und in jüngerer Zeit im deutschsprachigen Raum Hopf (2005), Söhn (2005) und Esser (2006) aus und bringen folgende Einwände vor: Ein positiver Effekt des Erstsprachenerwerbs auf den Zweit-sprachenerwerb lässt sich nicht nachweisen, so dass auch die Interdependenzthese empirisch nicht eindeutig belegt ist. Die vor allem von Rossell (1990) vertretene These, dass höchste Profizienz in der L2 durch ein Maximum an Unterweisung in der L2 erzielt wird, beruht auf der spracherwerbstheoretischen Annahme des time on task. Danach führt ein höherer Zeitaufwand für die Zweitsprache auch zu besseren Erfolgen in der L2. Dieser These liegt die Annahme von den nachteiligen Auswirkungen des frühen Erwerbs zweier Sprachen aufgrund von Konfusion zugrunde. Sie gehört zu den frühen Vorurteilen gegenüber dem Bilingualismus, die nicht zuletzt durch die Untersuchungen von Peal/Lambert (1962) widerlegt wurde (s. Ehlers 2002). Hopf (2005) stützt diese These wiederum und sieht in der Erhöhung der Lernzeit für das Zweitsprachenlernen eine Lösung für die Probleme von Migrantenkindern in der Schule. Jedoch sprechen dagegen die Befunde, dass der Unterricht in der Erstsprache nicht zu einer Verschlechterung der Leistungen in der Zweitsprache und in den Sachfächern führt. Auch Söhn (2005, S. 64) findet daher für die time-on-task-Hypothese keine Bestätigung. Die empirische Grundlage und Plausibilität für die verschiedenen Argumente bilden Experimental- und Evaluationsstudien von bilingualen Programmen und eine Reihe von Metaanalysen. Für die Messung der Wirksam-
109 keit von bilingualen Erziehungsmodellen wurden groß angelegte Evaluationsstudien in den USA durchgeführt, die verschiedene Typen von bilingualen Modellen überwiegend mit spanischsprachigen Minderheiten in den USA miteinander verglichen haben. Eine neunjährige Untersuchung wurde von Ramirez et al. (1991) durchgeführt, in der die beiden Übergangsmodelle mit dem Modell der Strukturierten Immersion, bei dem ausschließlich die L2 als Unterrichtssprache gebraucht wird, aber die L1 von Minderheitenkindern benutzt werden darf, verglichen wurden. Die Studie konnte nicht bestätigen, dass der ausschließliche Unterricht in der Zweitsprache bessere Lernerfolge sichert, aber eine Überlegenheit der bilingualen Schüler gegenüber den monolingualen konnte auch nicht nachgewiesen werden. Allerdings wurde diese Studie wegen methodischer Schwächen kritisiert (Meyer/ Fienberg 1992, Cziko 1992, Rossell/Baker 1996). Ein Vorwurf geht dahin, dass die miteinander verglichenen Programme nicht in denselben Distrikten durchgeführt wurden, obwohl beträchtliche Unterschiede zwischen den Schulen und Distrikten bestehen. Außerdem waren die zeitlichen Anteile der Zweitsprache Englisch nach der vierten Klasse im late-exit-Programm sehr unterschiedlich, so dass die Validität in Frage steht. Eine Vergleichsstudie von Meyer/Fienberg (1992) konnte keine Differenzen zwischen unterschiedlichen bilingualen Erziehungsprogrammen nachweisen, stützte aber die These, dass sich die Erstsprache als Unterrichtssprache positiv auf schulische Leistungen von Minderheiten auswirkt. Eine umfangreiche evaluative Untersuchung zu verschiedenen Programmen in den Vereinigten Staaten von Thomas/Collier (2002) bestätigte diesen Befund. Sie ergab, dass die Erstsprache als Unterrichtsmedium einen fördernden Effekt auf die Schulleistungen von Minderheitenkindern hat. Die Studie von Thomas/Collier verdient in diesem Zusammenhang besondere Aufmerksamkeit, da sich viele Befürworter von bilingualer Erziehung empirisch und theoretisch auf diese Studie stützen, wie z.B. Reich/Roth (2002). Sie bildet nicht zuletzt die theoretische Grundlage für die Förderung der Herkunftssprachen in Schweden. Nach Thomas/Collier lassen sich positive Effekte einer zweisprachigen Erziehung auf die Leseleistungen in der L2 nachweisen, was bei der Ramirez-Studie nicht der Fall war. Söhn (2005) hat diese und weitere Studien einer Metaanalyse unterzogen und erhebliche methodische Mängel festgestellt, wie fehlende Prätests, Vergleich ungleicher Kohorten, Durchführung der Untersuchungen in verschiedenen Schuldistrikten, fehlende Kontrolle bestimmter Variablen, so
110 dass die dortigen Ergebnisse in Frage gestellt sind. Nach einer Neuinterpretation der Daten geht das Fazit von Söhn dahin, dass zwar keine nachteiligen Effekte der zweisprachigen Erziehung nachweisbar sind, aber auch keine positiven, höchstens neutrale. Für die Interdependenz-Hypothese gibt es nach Esser (2006, S. 63) ebenfalls keine gesicherten Belege, zumal offen ist, ob nicht bestimmte Hintergrundvariablen für sich abzeichnende positive Effekte verantwortlich sind. Im deutschsprachigen Raum gibt es mehrere bilinguale Unterrichtsmodelle, wie das in Berlin durchgeführte zweisprachige Erziehungsprogramm für türkische Migrantenkinder (Nehr/Karajoli 1995) oder die deutschitalienische Grundschule in Wolfsburg. Die dazu durchgeführten Evaluationen sind in ihrer Aussagekraft jedoch begrenzt, weil auch hier die Verfahren methodisch zu wenig abgesichert waren. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass es weitgehend unklar ist, ob und in wie fern der Erwerb von literalen Kompetenzen in der Erstsprache einen positiven Effekt auf den Leseerwerb in der Zweitsprache hat, zumal es für den deutschsprachigen Raum an methodisch geeigneten Untersuchungen fehlt. Auch lassen sich die Ergebnisse der verschiedenen Vergleichsstudien zur Wirksamkeit bilingualer Erziehung, seien diese positiv, negativ oder neutral, aus völlig anderen kulturellen und sprachlichen Kontexten, wie den Spanischsprachigen im US amerikanischen Raum oder türkischen Schülern in den Niederlanden, nicht auf den deutschsprachigen Raum übertragen, weil die Kontextabhängigkeit zu groß ist (involvierte Sprachen, unterschiedliche Schulsysteme und kulturelle Hintergründe). Andererseits zeichnen sich kontextübergreifende Zusammenhänge ab, wie die Bedeutung mündlicher und schriftlicher Zweitsprachenkenntnisse und die Dominanz des Sozialfaktors. Ein positiver Ertrag einer bilingualen Erziehung ist in jedem Fall der Erwerb von Schriftlichkeit in der Erstsprache. Die Beherrschung schriftsprachlicher Fähigkeiten in der Erstsprache ist für sich ein Wert und eine zusätzliche Qualifikation; nicht zuletzt öffnet sie Angehörigen einer Minderheitengruppe den Zugang zu Texten der Eigenkultur und der schriftlichen Kommunikation mit Angehörigen der Herkunftskultur. Die Beobachtung, dass der Erwerb von Literalität in einer Zweitsprache durchaus erfolgreich sein kann, wie es die kanadischen Immersionsprogramme belegen, ist ein Hinweis darauf, dass der erstsprachige Literalitätserwerb aus linguistischer und kognitiver Sicht nicht notwendig ist, um erfolgreich im L2-Lernen zu sein, sondern die soziale und kulturelle Veranke-
111 rung entscheidende Variablen sind. Anhaltend wird im deutschsprachigen Raum die Wertdebatte geführt, gerade auch im Rahmen des Mehrsprachigkeitsdiskurses im europäischen Kontext, aber mit der Anerkennung des kulturellen Wertes von Zwei-/Mehrsprachigkeit ist die Frage nach geeigneten schulischen Maßnahmen zur Verbesserung der Lesekompetenz und des fachlichen Lernens bei Schülern mit einem Migrationshintergrund noch nicht beantwortet.
5. Konsequenzen für die Lesepraxis in der Schule Angesichts der reduzierten Lese- und Lernleistungen von Schülern mit Migrationshintergrund hat sich die bisherige Beschulungspraxis der Integration in den Regelunterricht offensichtlich nicht bewährt. Auch wenn verschiedene empirische Studien im Hinblick auf die Wirksamkeit von Modellen bilingualen Unterrichts für den Leseerwerb in der L2 nicht aussagekräftig sind, so deuten sie, wie z.B. die Ramirez-Studie (1991), darauf hin, dass es zum einen eine Frage der Implementation von Programmen ist und es zum anderen bestimmte Qualitätsmerkmale sind, die in Abhängigkeit vom jeweiligen Kontext Lernerfolg sichern. Sie beziehen sich auf die Unterrichtsebene, die Prozessebene und die sozialisatorische Ebene. Dazu gehören ein Lehrerverhalten, dass nicht lehrer-dominiert, sondern lernerbezogen ist und kooperative Lernformen praktiziert, eine Lehrersprache, die sich auf das Sprachniveau der Lerner einstellt und verständlich ist, eine reiche Lernumgebung und Formen der Binnendifferenzierung, um den unterschiedlichen Lernvoraussetzungen von Schüler mit und ohne Migrationshintergrund Rechnung zu tragen. Die obigen Ausführungen haben eine Reihe von praktischen Implikationen für die Vermittlung von L2-Lesefähigkeiten bei Schülern mit Migrationshintergrund, die auch der sozialen Situiertheit von L2-Leselernprozessen Rechnung tragen. Als Ausgleich für eine mangelnde literale Erfahrung im Elternhaus und für die Entwicklung phonologischer Bewusstheit könnten Reim- und Klangspiele sowie das Geschichtenerzählen und Vorlesen im vorschulischen Bereich und im Anfangsunterricht praktiziert werden. Lese-/Textmaterial und Aufgabentexte müssten dem jeweiligen Leseerwerbsniveau angepasst sein bzw. eine Kompetenzstufe höher liegen, um Fortschritt zu ermöglichen. Text-/Lesearbeit erfordert Wortschatzarbeit und geeignetes Lesematerial mit einem vereinfachten Wortschatz. Eine Binnendifferenzierung kann dadurch ermöglicht
112 werden, dass die Lese- und Aufgabentexte unterschiedliche Schwierigkeitsgrade (Lexik, Syntax, Explizitheit vs. Implizitheit) aufweisen. Ein Beispiel für eine Binnendifferenzierung bietet das Lesebuch Doppelklick (Cornelsen Verlag 2001ff.), das ein Arbeitsheft für deutschsprachige Schüler und eines für Schüler nicht-deutscher Herkunftssprachen anbietet. Systematische Unterweisung sollte im Wechsel mit offenen und handlungsbezogenen Unterrichtsformen erfolgen. Der Unterricht sollte so gestaltet werden, dass der außerschulische Kontext des Gebrauchs von Schriftkodes und der gesellschaftliche Bedarf an Literalität mit einbezogen werden und Lesen nicht nur als eine schulbezogene Fertigkeit vermittelt wird. Damit kommt das Kriterium der Sinnvollheit oder Bedeutungshaltigkeit von Lese-/Schreibaufgaben in der Schule ins Spiel, die sich aus Lebensbezug und Leserbedürfnissen ableiten.7 Das Lesen Lernen sollte in kooperativen Lernumgebungen in einer geleiteten Partizipation erfolgen. Die Forderung, Texte/Autoren von Herkunftskulturen mit einzubeziehen, ist inzwischen fester Bestandteil von Ansätzen interkulturellen Lernens. Die Integration von zweitsprachendidaktischen Elementen gehört über den Deutschunterricht in heterogenen Lerngruppen hinaus vor allem auch in die Sachfächer. Zu diesen Elementen gehören: 1. Wortschatzarbeit und Strategien der Texterschließung 2. sprachliche Vereinfachung von Lesetexten 3. Bilder als Semantisierungshilfen 4. Strukturierungshilfen, wie Nummerierung, Farbgebung 5. Sprachliche Vereinfachung von Aufgabentexten, Strukturhilfen für schriftliche Aufgaben und kleinschrittige Aufgabenstellungen 6. Methodische Hilfen, wie zusätzliche Fragen und Tipps, Regelanweisungen, Artikelangaben, Merkkästen zu Lösungen, Orientierungshilfen. 7. Stützen des Schreibprozesses durch Satzbaupläne, Alternativantworten
7 Diese funktionale Ausrichtung des Konzepts von literacy, das auch der PISA-Studie zugrunde liegt, war immer wieder Ansatzpunkt heftiger Kritik, die darin eine Engführung des Konzepts auf Verwertbarkeit durch wirtschaftliche Interessen ins Spiel brachte. Auch wenn diese Gefahr potentiell gegeben ist, so nehme ich hier eine andere Position ein, indem ich das Kriterium der Sinnvollheit schulischen Tuns ins Spiel bringe und die Dringlichkeit, Schüler mit Kompetenzen auszustatten, die sie lebensfähig machen, betone.
113 Für eine systematische Leseförderung empfiehlt es sich, die genannten Teilkomponenten von Lesekompetenz gezielt zu fördern. Sie sind zwar für alle Schüler sinnvoll und nutzbringend, aber vor allem können L2-Leser und schwache L1-Leser davon profitieren. Zu diesen Teilfähigkeiten rechnen die Fähigkeit der Selektion von wichtig/nebensächlich, Inferenzen ziehen (lokal und global), Antizipieren, Hypothesen bilden und korrigieren, verstreute Informationen in ein gemeinsames Konzept bzw. eine übergeordnete Einheit integrieren, Vorwissen aktivieren und es mit dem gerade Gelesenen verknüpfen, Gliederungssignale erkennen, um Einheiten wahrzunehmen, und textsortenspezifische Merkmale nutzen. Auch die Aufnahme von Kontextinformationen, wie Titel oder Bild, gehört mit zur Lesekompetenz. Da metakognitive Fähigkeiten ein wichtiger Bestandteil von Lesekompetenz ist, kommen als metakognitive Strategien hinzu: selbstinduzierende Fragen stellen, um den eigenen Leseprozess bzw. das eigene Leseverständnis zu überprüfen (Näheres dazu s. Ehlers 1998, S. 91 ff.). Um der Vielsprachigkeit in den Klassenräumen und den spezifischen Lernervoraussetzungen von Schülern mit und ohne Migrationshintergrund gerecht zu werden und deren Spracherwerbsbedingungen mit einzubeziehen, sind innerhalb der Deutschdidaktik verschiedene produktive Ansätze entwickelt worden, die den genannten Qualitätsanforderungen entsprechen. Für eine Integration der Inhalte von Sprach- und Sachunterricht plädieren Glumpler/Apeltauer (1997). Belke (1999) fordert für Minderheitenkinder eine systematische Unterweisung von Grammatikkenntnissen und betont Sprachrichtigkeit und Sprachnormen für den Zweitsprachenerwerb. Oomen-Welke (1991) betont die metasprachlich-en Fähigkeiten von Bilingualen und hat Konzepte zum Aufbau von Sprachaufmerksamkeit und -bewusstheit entwickelt. Übereinstimmung besteht darin, dass die Förderung von Zweitsprachenkenntnissen bei Migrantenkindern eine dringliche Aufgabe ist. Bildungspolitische Maßnahmen infolge der Ergebnisse der PISA-Studie haben daher in den einzelnen Bundesländern verstärkt vorschulische und schulische Fördermaßnahmen eingeleitet. Die KMK hat sich im Dezember 2001 auf sieben zentrale Handlungsfelder verständigt. Dazu gehören die Verbesserung der Sprachkompetenz im vorschulischen Bereich und eine wirksame Förderung insbesondere auch von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund. Als Konsequenz dieser Beschlüsse wurden in den einzelnen Ländern Förderkurse für Deutsch als Zweitsprache (DaZ) eingerichtet. Damit wird eine Politik fortgesetzt, die bereits in vielen Ländern eingeleitet war. Da die DaZ-För-
114 derkurse in den vergangenen Jahren keiner systematischen Evaluation unterzogen wurden, ist ihre Effektivität ungesichert. Unzureichende Lehrerqualifikation, Ausgliederung aus dem Regelunterricht und fehlende Verschränkung mit dem schulischen Curriculum stellen die Wirksamkeit von Förderkursen in Frage. Die Konzeption von Bildungsstandards ist eine weitere Konsequenz aus der in der PISA-Studie festgestellten Leistungsheterogenität im Bildungssystem. Sicherung minimaler Standards zielt auf einen Ausgleich schulischer Benachteiligung und auf die soziale Integration von Risikogruppen. Auch wenn Vorwürfe gegenüber der Einführung von Minimalstandards, wie Selektivität und Engführung auf testbare Ergebnisse von Lernprozessen, durchaus bedenkenswert sind, gibt es dennoch gute Gründe, die für Mindeststandards sprechen: Durch sie sollen Voraussetzungen für die Partizipation an der Gesellschaft und Kultur für diejenigen, die aufgrund eingeschränkter Kompetenzen von textvermittelten kulturellen Prozessen ausgeschlossen und in ihrer Bildungskarriere benachteiligt sind, geschaffen werden (u. a. Klieme 2004; Tenorth 2004). Es bleibt eine gesellschaftliche Aufgabe, Kindern mit einem Migrationshintergrund Berufs-/Lebenschancen und kulturelle Teilhabe zu ermöglichen, indem sie mit den dafür erforderlichen Kompetenzen ausgestattet werden. Hier öffnet sich jenseits der ProContra-Argumentation zu Bildungsstandards eine andere Dimension der Verortung und Sicherung von minimalen literalen Kompetenzen in der Zweitsprache und im Kontext von Migration mit seinen sozialen Implikationen.
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Carl-Peter Buschkühle
Künstlerische Bildung in heterogener Kultur Heterogenität als Grundbedingung Bildung hat es mit Heterogenität in vielfältiger Weise zu tun. Heterogen sind die Inhalte, die vermittelt werden, die Leistungsfähigkeit der Schülerinnen und Schüler, ihre Interessen, ihre biografischen Voraussetzungen, heterogen sind die gesellschaftlichen Ansprüche an Bildung, die Rahmenbedingungen von Bildung. Jedes Fach bestimmt, unter heterogenen Entwürfen und Debatten, seinen Platz fortwährend neu im Bildungsgeschehen, welches auf psychologischer, pädagogischer, didaktischer und politischer Ebene heterogen diskutiert und beeinflusst wird. Bildung kann vor diesem Hintergrund als Anstrengung angesehen werden, mit Heterogenität als anthropologischer Grundbedingung strukturierend, orientierend, antizipierend umzugehen. Die Standardisierungsanstrengungen in der Folge der PISA-Untersuchungen können als Bemühen gewertet werden, in diese heterogene Grundverfasstheit von Bildung relevante und stabilisierende Perspektiven einzuschreiben, die nicht nur Kompetenzen als Richtmarken formulieren, sondern auch Überprüfbarkeit des Bildungserfolgs ermöglichen. Wenn man so will, geht es hier darum, im Spannungsfeld von Ansprüchen der Gesellschaft und des Individuums der Heterogenität Herr zu werden und sie möglichst produktiv zu nutzen. Die Instrumentarien der Heterogenitätsbeherrschung und -transformation neigen jedoch dazu, sich in ihrem Anspruch und in ihrer Eigenlogik zu verselbständigen und Heterogenität nicht nur zu strukturieren, sondern zu reduzieren. Man kann das gut in den Naturwissenschaften beobachten. Die belebte und die unbelebte Natur begegnet als chaotische Vielfalt auf jeder Ebene der Betrachtung. Empirische Untersuchung isoliert Teilbereiche des komplexen Gefüges, zerlegt diese in ihre Bestandteile, um den Aufbau und die Gesetzmäßigkeiten zu studieren. Prominent nachvollziehbar ist dies in jüngster Zeit in der Hirnforschung, die mit großem Erfolg spezifische Leistungszentren des Gehirns lokalisiert und so zur Erklärung unterschiedlicher Funktionen beiträgt. Dieses erweist sich
120 als nützlich, insofern daraus Heterogenität meisternde Strategien ableitbar sind, d.h. Techniken z.B. zur Heilung von Erkrankungen oder zur Optimierung von Lernprozessen. Gerade im Bereich der vieldiskutierten Ergebnisse der Hirnforschung wird jedoch auch klar, dass die Untersuchung isolierter Teilaspekte zwar zu punktuellen Einsichten führt, die wiederum in das größere Gefüge des Kontextes eingefügt werden müssen, dass aber das komplexe Ganze mehr ist als die Summe seiner partiell analysierten Teile. Spezifische Leistungen des Gehirns finden nie in eingeschränkt lokalisierbaren Zentren statt, vielmehr sind immer differente Zusammenhänge über das gesamt Gehirn verteilt beobachtbar aktiv. So spielen z.B. auch bei konzentrierten kognitiven Leistungen wie etwa der Lösung mathematischer Aufgaben immer auch emotionale Elemente eine Rolle, erweisen sich kortikale und limbische Aktivitäten als unlösbar miteinander verwoben. Damit nicht genug, können Gehirnaktivitäten, auch solche spekulativer Art, nicht losgelöst vom Körper als biologische und anthropologische Grundvoraussetzung des Denkens aufgefasst werden. Die von René Descartes zum Zwecke der Heterogenitätsbeherrschung unternommene methodische Teilung von Körper und Geist erweist sich als unhaltbare Reduktion eines komplexen Gefüges1. Klare, unbezweifelbare Einsicht war sein Ziel, intellektuelle Evidenz, die auch dem empirischen Beweis als trügerischem Schein misstraute. Doch sowenig wie klare Logik eine hinreichende Erkenntnis des Wirklichen verbürgt, kann der empirische Beweis allein zur Einsicht in Wahrheit verhelfen. Erkenntnis, Wissen, Lernen finden statt in der basalen Heterogenität unseres „Weltbildapparates“, welcher sowohl der sinnlichen Anschauung wie der begrifflichen Interpretation bedarf, um adäquate Aussagen zu machen. Die Methodik der Naturwissenschaft hat sich diese Fundamentalkritik Kants am epistemischen Wahrheitsanspruch zu Eigen gemacht. Doch auch die Instrumentarien der Beobachtung, der Messung und der rationalen Interpretation erweisen sich als zu begrenzt, um der Heterogenität des Wirklichen gerecht zu werden. Die eigentlich fundamentalen Fragen bleiben hier unbeantwortet. So vermag die Hirnforschung zwar zu sagen, wo biologische Leistungszentren im Gehirn bei welchen mentalen Funktionen aktiv sind, wie sie miteinander vernetzt sind und welche biochemischen und physikali1
Antonio R. Damasio: Descartes‘ Irrtum, Fühlen, Denken und das menschliche Gehirn, München 2004
121 schen Prozesse dabei eine Rolle spielen. Immer unter dem Vorbehalt der Vorläufigkeit natürlich, den die Heterogenität des Ganzen einfordert. Die naturwissenschaftliche Hirnforschung vermag jedoch nicht zu beantworten, ob das, was da messbar und durch bildgebende Verfahren scheinbar anschaulich passiert, nun Geist ist oder produziert oder nicht. Wo sie behauptet, dies erklären zu können, wo sie mithin Geist auf biochemische Operationen zurückführt, begeht sie eine unzulässige Reduktion, die sie mit ihrem eigenen Wahrheitsanspruch, der empirischen Überprüfbarkeit ihrer Aussagen, nicht vereinbaren kann. Im Übrigen reduzieren spektakuläre Versuche der Neurobiologie allzu leichtfertig komplexe Sachverhalte geistiger Operationen. Das berühmte Experiment von Benjamin Libet zur Willensfreiheit testet eigentlich nichts anderes als biochemische Prozesse bei einfachen Reiz-Reaktions-Mechanismen2. Unter Willensfreiheit versteht aber die gesamte Philosophietradition ein abwägendes Reflektieren, Urteilen und Wählen, welches äußerst heterogene Sachverhalte, Motivationen, Emotionen, Traditionen zu bewältigen hat. Was Geist ist, eine Emergenz des komplexen biologischen Apparates oder eine andere Qualität, für deren Realisierung die Interdependenzen von Gehirn, Körper und Umwelt sozusagen Resonanzbedingungen darstellen, muss offen bleiben. Womöglich sogar grundsätzlich, sofern es der Naturwissenschaft nicht gelingt, mit ihren Methoden und Instrumentarien in Bereiche jenseits des empirisch Messbaren einzudringen. An eine ähnliche Grenze des empirisch und auch theoretisch Fasslichen stößt seit Längerem die Physik. Die Quantenphysik löst die alten und im Mesokosmos unserer Wahrnehmung und Technik wirksamen und nützlichen Gesetzmäßigkeiten auf. Die kleinsten Elemente der Materie treten ebenso als Teilchen wie als Wellen auf, sind ihrerseits immateriell und dabei noch nicht einmal an eine unveränderliche Mechanik von Raum und Zeit gebunden, die sich ihrerseits als relativ zueinander erweisen3. Der Ursprung und die Substanz des Wirklichen sind ungeklärt, erscheinen bei zunehmender Forschung, die sich nur noch in mathematischer Beschreibung den unaussprechlichen Phänomenen annähern kann, zunehmend rätselhaft.
2 Benjamin Libet: Mind Time. The Temporal Factor in Consciousness, Cambridge/Mass. 2004 3 Brian Greene: Das elegante Universum, München 2000
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PISA-Reduktionen Was hat das alles mit Bildung zu tun, mit künstlerischer zumal? Die Tendenz, der Heterogenität einer komplexen Wirklichkeit durch Standardisierung der Forschungsmethodik und interpretatorischen Axiomatik Herr zu werden, findet sich auch hier. Das pragmatisch erfolgreiche Modell naturwissenschaftlicher Forschung zwischen systematischer Empirie und rationaler Theorie bildet sich auch in bildungswissenschaftlichen Zusammenhängen zunehmend ab. Die PISA-Studie mit ihrem nachhaltigen Einfluss auf die Bildungspolitik gibt hier ein Beispiel. Ihre intendierte Pragmatik bezieht sich auf bestimmte Gebiete von Fähigkeiten, die als „basale Kulturkompetenzen“ untersucht werden4. Methodisch geht es dabei um standardisierte, mithin vergleichbare Tests, welche kognitive Fähigkeiten und Fertigkeiten überprüfen. Nicht das verfügbare Wissen steht dabei im Vordergrund, sondern die Fähigkeit, Problemlösungen in variablen Situationen einsetzen zu können. Als grundlegende kulturelle Kompetenzen werden dabei Lesefähigkeit, mathematische und naturwissenschaftliche Fähigkeiten sowie Sozialkompetenzen untersucht. Auf Anhieb wird deutlich, dass hier die Komplexität von Bildung schon hinsichtlich ihrer relevanten Felder reduziert wird. So fehlen im Kompetenzkatalog z.B. gesellschaftlich relevante Kompetenzen wie geschichtliches Denken oder ethische Urteilsfähigkeit. Es fehlt die kulturell bedeutsame Kompetenz ästhetischer Wahrnehmung und Reflexion. Auch im Binnenbereich der untersuchten Felder wird die immanente Heterogenität reduziert: Lesefähigkeit wird im Hinblick auf Informationsverarbeitung und Kommunikation pragmatischer Texte fokussiert, naturwissenschaftliche Fähigkeiten werden auf sachgerechtes Erschließen, Kommunizieren und Transferieren von Informationen und Strukturen konzentriert, die Fähigkeit zur Beurteilung gesellschaftlicher oder ethischer Relevanz von Sachverhalten wird nicht getestet. Als Leitmotiv der inhaltlich und methodisch von der PISA-Studie durchgeführten Heterogenitätsreduktionen im Bildungssektor dient eine Pragmatik der Kompetenzen im Hinblick auf ihre Bedeutsamkeit insbesondere für die berufliche Bildung bzw. Anwendung.
4
Deutsches PISA-Konsortium (Hg.): PISA 2000. Basiskompetenzen von Schülerinnen und Schülern im internationalen Vergleich, Opladen 2001
123 Man weiß natürlich seitens der verantwortlichen Forscher um die vorgenommenen Einschränkungen und verweist zumindest auf andere bildungsrelevante Felder. Für deren sogenannte „weichen Kompetenzen“ reichen Output-orientierte Tests nicht aus. Nicht nur müssen aufwändigere Bewertungsverfahren erarbeitet werden, es müssen auch komplexere Kompetenzgefüge untersucht werden. Ästhetische oder, schärfer formuliert, künstlerische Kompetenzen lassen sich nicht hinreichend mit kognitionsorientierten Tests prüfen. Sie umfassen Fähigkeiten, die über die Kognition hinausgehen wie sinnliche Sensibilität, Empfindsamkeit, Intuition und Imagination. Dabei ist es keineswegs so, dass sich diese Fähigkeiten nicht empirisch überprüfen lassen. Aber sie entziehen sich im Wesentlichen einer systematischen Quantifizierung der erbrachten Leistungen und bewegen sich in Felder des Denkens hinein, die zu einem nicht unerheblichen Teil sprachlich nicht adäquat darstellbar sind. Sie als irrational zu bezeichnen ist problematisch, einmal, weil unter dem Primat des Rationalen in der Bildungstheorie und praxis dieser Begriff eher privativen Charakter hat, zum anderen, weil sie durchaus rational kommunizierbare Phänomene darstellen, die Aspekte der Wirklichkeit erfassen, an die Quantifizierung und Identifizierung nicht heranreichen. Sie drücken sich aus vornehmlich in bildhaften Darstellungen, worunter auch literarische sprachliche Ausdrucksformen fallen. Wo Lesefähigkeit Informationsverarbeitung von Gebrauchstexten wie Zeitungsberichte oder Gebrauchsanweisungen meint, rücken diese ästhetischen Dimensionen von Sprache kaum in den Blick. Bedeutungsdimensionen einer Erzählung oder eines Gedichtes verlangen ganz andere Bezugnahmen. Dies macht deutlich, dass sich die Wirklichkeit auch im Bereich der Bildung dem Versuch der Heterogenitätsbeherrschung widersetzt. Wesentliche Bereiche entziehen sich empirischer Zugriffe auf Daten und Fakten und deren pragmatischer Interpretation, ohne dass sie deswegen als irreal oder irrational beiseite geschoben werden können.
Heterogene Erzählungen Vor Jahrzehnten bereits kritisierten Adorno und Horkheimer die instrumentelle Vernunft als Weise des Herrschaft ausübenden Denkens im Kapitalis-
124 mus5. Unter dem Blick dieser Vernunft gerinnt alles zum Mittel für praktische Zwecke, verschwindet das je Besondere als Exemplar unter dem verallgemeinernden Begriff, bemisst sich die Qualität einer Sache im Hinblick auf ihren Tauschwert. Die Pragmatik kognitiver Kompetenzbildung unter Schwerpunktsetzung auf die evaluierbare Erhebung, Kommunikation und Anwendung von Informationen tendiert zu einer Fokussierung auf die Ausbildung instrumenteller Vernunft, sofern sie nicht in der Lage oder willens ist, auch das je Besondere und Differente, das „Nichtidentische“6 eines Gegenstandes ausdrücklich in ihre Methodik von Lernen und Evaluation aufzunehmen. Instrumentelle Vernunft ist motiviert durch die Absicht der Heterogenitätsbeherrschung. Sie reduziert dabei die Instrumentarien der Erkenntnis und damit die Aspekte des Gegenstandes. Damit reduziert sie zugleich den Erkennenden selbst in seinen Fähigkeiten und Möglichkeiten der Erkenntnis und Selbsterkenntnis, der Gegenstands- und Selbstentwicklung. Ästhetische Vernunft hingegen ist gerade an der Nichtidentität, dem je Besonderen interessiert, an der Auslotung der Tiefendimensionen des Erkennbaren und am Gewahrwerden von Wirklichkeit jenseits der begrifflichen Identifikation. Insofern trägt sie zur Steigerung von Heterogenität bei und bildet dahingehend ein kritisches Korrektiv, dass sie Aspekte des Wirklichen erinnert, die dem instrumentellen und performativen Zugriff entgehen. Reflexiv weiß auch ästhetische Vernunft, dass sie ihrerseits wiederum mit Ausblendungen, mit blinden Flecken in der Auffassung operiert und lehrt, dieses epistemische Scheitern als anthropologische Grundbedingung menschlichen Weltverhältnisses anzuerkennen. Sowohl rezeptiv als auch produktiv übt das Künstlerisch-Ästhetische eine existentielle Form der Erzählung. Erzählung wird hier aufgefasst als Fähigkeit zur Erzeugung von Bedeutung, bei der unterschiedliche, auch widerstreitende Hinsichten miteinander verknüpft werden jenseits des Regelwerks institutionalisierter Sprachspiele z.B. der Wissenschaften oder der Politik. Erzählungen liegen so, wie Lyotard es ausdrückt, „quer“ zu den gesellschaftlichen Sprachspielen7. Dabei unterscheidet er zwischen „großen“ 5
Max Horkheimer: Zur Kritik der instrumentellen Vernunft, (New York 1942), Frankfurt a.M. 1992. Max Horkheimer, Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, (New York 1944), Frankfurt a. M. 1989 6 Theodor W. Adorno: Negative Dialektik, Frankfurt a.M. 1980 7 Jean-Francois Lyotard: Das postmoderne Wissen. Ein Bericht, Graz, Wien 1986, S. 68 ff.
125 und „kleinen“ Erzählungen8. Erstere dominierten seit den mythischen Anfängen menschliche Interpretationen des Seins und daraus abgeleitete Wertsetzungen des Handelns. Ein Signum postmoderner Kulturen ist demgegenüber die Etablierung kleiner Erzählungen zum Leitmotiv, was auf einem geschichtlich gewachsenen Zweifel am absoluten Geltungsanspruch großer Erzählungen gründet. Nicht nur dekonstruierte die Aufklärung mit ihrer systematischen Kritik die Gültigkeit metaphysischer Konstruktionen, das 20. Jahrhundert erlebte politische und gesellschaftliche Katastrophen im Versuch, auf säkularisierte Weise erneuerte absolute Weltanschauungen Realität werden zu lassen. Nach dem Zusammenbruch des Nationalsozialismus und des Kommunismus bewegen wir uns jedoch heute keineswegs im „Posthistoire“, am Ende der Geschichte9. Im Gegenteil prallen große Erzählungen mit ihrem jeweiligen Anspruch aufs Heilsmonopol nach wie vor aufeinander. Samuel Huntington diskutiert diese Problematik z.B. als Quelle der kriegerischen Auseinandersetzung des 21. Jahrhunderts als „Clash of Civilisations“10. Die Universalisierung des Geltungsanspruchs des Instrumentellen auch über die Grenzen der Vernunft hinaus trifft auf eine teils ungebrochene, teils erneuerte Kraft des Religiösen. Auch in aufgeklärten Gesellschaften scheint ein Motiv dieser Erstarkung in der ständig gesteigerten Verfügbarkeit von jedem und allem unter dem Zugriff des globalen Kapitalismus zu liegen. Zugleich vermag die Reduktion des Seienden auf empirische Funktionen und Tauschwerte die prinzipielle existentielle Unsicherheit nicht zu lindern. Diese Unsicherheit ist unmittelbar erlebbar in sozialen Bedrohungen, etwa im drohenden Verlust von Arbeitsplätzen oder in kulturellen Verunsicherungen beispielsweise durch den Verlust der Tragfähigkeit von Traditionen und sozialen Milieus in einer von Globalisierung geprägten Gesellschaft. Tiefer reicht die Verunsicherung in den nicht hintergehbaren Fragen nach Gründen und Werten der Existenz. Metaphysische Erzählungen werden hier in der Universalisierung des Warencharakters zu Angeboten, zu denen sich ein jeder verhalten kann oder muss. Jenseits verlorener Verbindlichkeit stehen religiöse und weltanschauliche Sinngebungen zur Wahl. Diese Wahl besteht auch dann als Herausforderung, wenn man nicht 8
Ebd. S. 14 Francis Fukuyama: Das Ende der Geschichte, Frankfurt a.M. 1992 10 Samuel Huntington: The Clash of Civilizations and the Remaking of World Order, New York 1996 9
126 wählen will und sich beispielsweise mit einem Glauben identifiziert. Nichtwählen im Sinne einer apriorischen Bindung ist angesichts des Bestehens von Alternativen auch bereits eine Wahl. Es wird deutlich, zumindest spürbar, dass der Mensch „Freiheit ist“, wie Sartre die existentielle Grundbedingung menschlichen Seins charakterisiert11. Freiheit zwingt zur Wahl und beinhaltet Verantwortlichkeit – für sich selbst wie für andere, für Dinge, für Gesellschaft. Identitätsfindung in der Glaubens- oder Bekenntnisgemeinschaft großer Erzählungen versucht, die Heterogenität postmoderner Kultur zu beherrschen. Problematisch wird dies, wenn die persönliche Ebene verlassen wird und der Wunsch nach Beherrschbarkeit des Vielen zum Anspruch auf Beherrschung der Vielen wird. Das unbedingte Aufrechterhalten des Geltungsanspruchs großer Erzählungen in pluralen Kulturen geht einher mit der Tendenz zum Terror12. Identität als Zielvorstellung angesichts der Herausforderung von Heterogenität in komplexen Gesellschaften, kann daher nicht per se als erstrebenswertes Leitmotiv gelten. Als parteiische, womöglich radikale Identifikation stellt das „identische Selbst“ ebenso eine Gefährdung auf psychologischer und politischer Ebene dar wie das „multiple Selbst“13. Dieses begegnet der sozialen und kulturellen Heterogenität dadurch, dass es sich von ihren Angeboten mitreißen lässt, den Appellen, Trends und Stilen folgt, Affirmation und Indifferenz an die Stelle kritischer Wahl treten lässt. Verstärkt und beschleunigt wird der Heterogenitätsdruck in postmodernen Gesellschaften durch die Präsenz einer neuen Realitätsebene, diejenige der elektronischen Medien. Zur primären Wirklichkeitserfahrung im eigenen Erleben und der sekundären Ebene des mündlichen oder schriftlichen Berichts tritt die tertiäre Ebene einer virtuellen Realität, deren ästhetisch elaborierten Erfindungen keinerlei empirische Realität entsprechen muss, die aber gleichwohl zum Erlebnis- und Erfahrungsraum insbesondere von Kindern und Jugendlichen wird. Spielfilme, Werbung, Internetauftritte arbeiten auf
11 Jean-Paul Sartre: Ist der Existentialismus ein Humanismus? In: Drei Essays, Frankfurt, Berlin 1964, S. 7 ff. 12 Lyotard, S. 184 13 Wilhelm Schmid: Philosophie der Lebenskunst. Eine Grundlegung, Frankfurt a.M. 1998, S. 250 ff.
127 professioneller Ebene mit gezielten Mitteln der „visuellen Persuasion“14, sie transportieren nicht nur Information und Unterhaltung, sondern auch Wertvorstellungen, Leitbilder und Glaubensbekenntnisse. Einerseits gleichen sich Settings und Typen in den populären Bildern im Mainstream einander an, Dramaturgie und Besetzung variieren die auf Verführung und Überwältigung setzende Oberfläche. Zugleich beschleunigt sich die unkoordinierte Abfolge fragmentierter Bilder und Informationen in der Fülle des andrängenden Programms, so dass eine kohärente Erfahrung oder eine reflektorische Distanzierung kaum oder gar nicht mehr herstellbar sind. Inhalte jeglicher Art werden Gegenstand ästhetischer Inszenierung, welche ihrerseits der großen Erzählung des Marktes folgt. Ahistorische, sinnlich faszinierende Oberflächen ersetzen Tiefendimensionen biografischer Erfahrungen sowie historischen und politischen Wissens und Urteilens. Fredric Jameson spricht von einer neuen Qualität des Raums in der Medienkultur, vom medialen „Hyperraum“, in dessen Omnipräsenz keine kritische Distanznahme mehr möglich sei15. Solche Refugien der Reflexion wie z.B. die Natur oder das Unterbewusste seien ihrerseits bereits okkupiert von der infiltrierenden Macht der populären Bilder. Jameson und andere Theoretiker der Medienkultur zeichnen das pathologische Bild eines „fragmentierten Subjekts“, welches, an der Grenze zur Schizophrenie, die Bruchstücke im Crossover von Realität und Virtualität nicht mehr zu einem zusammenhängenden, Orientierung gebenden und der selbstbewussten Beurteilung offenstehenden Ganzen fügen kann16. Heterogenität der Wirklichkeit kann hier zur beängstigenden Präsenz der Fülle und der Geschwindigkeit werden, oder zum rauschhaften Erleben animieren, welches ständig nach neuer Sensation giert. Die Verfallsformen des identischen wie des multiplen Selbst haben sowohl auf der Ebene des Subjekts wie auf der Ebene der Gesellschaft ernsthafte Folgen. Sie gehen mit dem Verlust an Freiheit in der Orientierung 14 Hans Ulrich Reck: Fiktion, Konstruktion, Modellierung um jeden Preis – erkannte und unerkannte Täuschungen in aktuellen ‚Menschenbildungen‘, in: Carl-Peter Buschkühle, Jutta Felke (Hg.): Mensch Bilder Bildung, Oberhausen 2005, S. 64 15 Fredric Jameson: Zur Logik der Kultur im Spätkapitalismus, in: Andreas Huyssen, Klaus R. Scherpe (Hg.): Postmoderne. Zeichen eines kulturellen Wandels, Reinbek bei Hamburg 1986, S. 81 und S. 91 ff. 16 Ebd. S. 70 ff.
128 und der Urteilsfähigkeit einher, mithin mit Beschränkungen oder Verlust von Selbstbestimmung. Damit sind nicht nur Folgen für die persönliche sondern auch für die gesellschaftliche Verantwortlichkeit des Einzelnen verbunden. In der Kultur- und in der Bildungstheorie jenseits des Pragmatismus von PISA, wo die ästhetische Kompetenz als „basale Kulturkompetenz“ in der Mediengesellschaft überhaupt nicht vorkommt, gewinnt das Ästhetische und genauer noch das Künstlerische eine nicht unerhebliche Bedeutung bei der Frage nach Perspektiven einer Bildung unter heterogenen gesellschaftlichen und kulturellen Verhältnissen. Dabei spielt der Begriff der Erzählung eine wesentliche Rolle. Als Konstruktion von Bedeutung quer zu institutionalisierten Sprachspielen kommt ihr sowohl ein synthetisierender als auch ein fiktionaler Charakter zu. Als kleine Erzählung ist sie dabei immer eine von eingeschränkter Bedeutung und Geltung und im aufgeklärten Falle weiß sie dies auch. Das Leitbild dieser Erzählung als persönliche Fiktion ist die Kunst. Die künstlerische Erzählung geht über ein Verständnis von „Literacy“ hinaus, bei dem es um ein Lernen geht, das sich auf die Fähigkeit fokussiert, Geschriebenes mit unterschiedlichem Inhalt zu verstehen, zu interpretieren, zu kommunizieren und anzuwenden. Künstlerische Erzählung weitet den Begriff der „Literacy“ aus auf das Bild als einflussreiches Medium, welches insbesondere in der elektronischen Kommunikation eine neue, zentrale Bedeutung gewinnt. Ferner löst sie sich ab vom Pragmatismus eines vom Nutzen dominierten Verstehens und Anwendens von vermittelten Inhalten und öffnet den Blick für das Nichtidentische, das Besondere, das Unsagbare, das Fremde und für die Unsicherheit als Grundverfassung der Wirklichkeit. Dem liegt ein tieferer, ein existentieller Pragmatismus zu Grunde, welcher die menschliche Realität als heterogene erfährt und nicht bereit ist, diese Erfahrung aufs Instrumentelle zu verkürzen. Künstlerische Erzählung will Heterogenität nicht zurichten, meistern, beherrschen, sondern im Gegenteil sogar noch erweitern. Sie tut dies einerseits unter Einsatz von geistigen Fähigkeiten, die über das kognitive Potential hinausgehen, ohne dieses zu vernachlässigen. Sie tut es andererseits, indem sie zur rezipierbaren Wirklichkeit noch eine neue, erfundene im Werk hinzufügt.
129
Ästhetisches und künstlerisches Denken Künstlerische Bildung setzt sich zum Ziel, künstlerisches Denken und Handeln zu üben, um zu künstlerischen Erzählungen zu befähigen17. Der bekannte Satz von Joseph Beuys: „Jeder Mensch ist ein Künstler“ benennt eine anthropologische Voraussetzung: die Fähigkeit zur Kreativität als existentieller Fiktionalität, die jedem innewohnt. Dabei geht es nicht um eine spezifische Künstlerschaft als Maler oder Sänger oder Lyriker. Es geht um das Künstlerische als Befähigung zur Autorenschaft. Jeder ist nicht nur fähig, sondern auch aufgefordert zur Hervorbringung von Bedeutungen, Urteilen, Werten und Handlungen, die er als Urheber selbst zu verantworten hat. Damit gestaltet er nicht nur sich als Persönlichkeit und seine Lebensführung, sondern nimmt auch Einfluss auf die Gesellschaft. In dieser „sozialen Plastik“ gewinnt das Subjekt in heterogenen Verhältnissen, in denen allein kleine Erzählungen eine verantwortbare Geltung im Diskurs beanspruchen dürfen, „Autorität durch Autorenschaft“, wie es Bazon Brock ausdrückt. Diese Autorenschaft ist jedoch immer wieder zu verunsichern und immer wieder zu erneuern, um kritisch gegenüber sich selbst und fruchtbar in ihren Impulsen zu bleiben. Brock schwebt hier das Ideal des „Selbstfesselungskünstlers“ vor, desjenigen, der um die Begrenztheit seines Anspruches weiß und sich davor hütet, ein „Idiot“ zu werden. Ein solcher ist dem Worte nach ein auf sich selbst Beschränkter. Selbstverwirklichung als rücksichtslose 1:1-Umsetzung der eigenen Vorstellungen in die Realität wäre demnach ein Ideal für „Vollidioten“, sofern es nur um den Preis des Konfliktes, des Terrors, der Katastrophe durchzusetzen ist18. Künstlerische Bildung übt die Fähigkeiten zur kleinen Erzählung sowohl in der Rezeption von Kunstwerken und Produktionen der Kulturindustrie als auch in der Produktion von eigenen bildsprachlichen Aussagen. Hier werden die differenten Eigenschaften eines ästhetischen bzw. künstlerischen Denkens herausgefordert. Diese Eigenschaften sind näher zu bestimmen, ästhetisches und künstlerisches Denken sind nicht deckungsgleich. Wolfgang Welsch hält angesichts der Ästhetisierung unserer Alltagswelt das 17
Carl-Peter Buschkühle: Die Welt als Spiel. Bd. 1 (Kulturtheorie): Digitale Spiele und künstlerische Existenz, Bd. 2 (Kunstpädagogik): Theorie und Praxis künstlerischer Bildung, Oberhausen 2007 18 Bazon Brock: Die Re-Dekade. Kunst und Kultur der 80er Jahre, München 1990, S. 173 ff.
130 ästhetische Denken für das einzig realistische19. Ästhetisierung der Alltagswelt meint nicht nur die Präsenz der Massenmedien und ihrer Inszenierungen von Menschen, Dingen und Ereignissen. Diese Ästhetisierung greift über in die Lebenswelt, wo Menschen, Dinge und Ereignisse nach der Maßgabe der Medienästhetik geformt werden. Dies geschieht über Trends, Idole, Mode, Design, Lifestyle und Szenen hinaus bis in die Berufswelt und die Politik hinein. Ästhetik ist hier nicht nur Dienerin politischer Propaganda, Politik produziert sich ihrerseits schon längst als Darstellerin für erfolgversprechende medienästhetische Präsentationen. Welsch charakterisiert das ästhetische Denken als Bedingung für ein kritisches Verhältnis zur inszenierten Wirklichkeit. Wissenschaftliches Denken allein reicht hier nicht aus, denn auch Wissenschaft ist längst angewiesen auf ästhetische Strategien zur Veranschaulichung des Unanschaulichen ihrer Gegenstände. Kernphysik etwa spricht vom unsichtbaren und kognitiv nicht begreifbaren Mikrokosmos in der Symbolsprache der Mathematik und benutzt Bilder, Gleichnisse, um Vorstellungen etwa von quantenphysikalischen Prozessen zu bilden. Dabei darf nicht vergessen werden, dass diese Bilder nicht der Realität entsprechen, die jenseits unserer Anschauung eine fremde bleibt. Ebenso wenig sind die farbigen Aufzeichnungen einer Hirntomographie als Anschauung geistiger Prozesse zu interpretieren, sie basieren auf der Messung von Wärmeaktivitäten im Gehirn, was nichts zu tun hat mit einer Sichtbarmachung geistiger Vorgänge. Ästhetisches Denken reflektiert die Bedingungen und die Grenzen menschlicher Erkenntnis. Welsch beschreibt vier Strukturmerkmale: die sensible sinnliche Anschauung, die Bildung von Assoziationen, die Reflexion von Kontexten und schließlich die Bildung eines vorläufigen Urteils in der Zusammenschau dieser Elemente20. In einem konzentrierten, achtsamen Prozess verbindet ästhetisches Denken so die Grundelemente menschlicher Erkenntnis, Anschauung und Begriff, in selbstreflexiver Weise miteinander. Ein solches ästhetisches Denken taugt wohl zur Hervorbringung kleiner Erzählungen, aber weniger zur Parteinahme für Ideologien. Die Dominanz der Idee wird gebrochen durch die ernsthafte Verankerung in der sinnlichen Wahrnehmung. Diese sorgt für den Einfall des Fremden, die Aufmerksamkeit fürs Besondere, welche der Allgemeinheit des
19 20
Wolfgang Welsch: Ästhetisches Denken, Stuttgart 1990, S. 57 Ebd. S. 49
131 Begriffs zuwiderlaufen. Begriffe können das Nichtidentische nicht exemplarisch erfassen, sie werden vielmehr zur Konstellation genötigt wie Adorno sagt, zu einem umkreisenden, sich annähernden, poietischen Sprechen21. Dieses ist sich seiner Nichtentsprechung hinsichtlich der Sache bewusst, wozu sinnliche Anschauung allein nicht beiträgt. Hinzu kommt die Sensibilität der Empfindung, die Kultivierung des Gefühls, die Ausbildung der Intuition, welche den Rätselcharakter des Dinges erfasst und gegenüber dem Zugriff des summierenden Begriffes behauptet. Die Kognition wiederum weiß um die Begrenztheit des Wissens und befragt relevante Kontexte, historische, politische, kulturelle zum Beispiel. Statt aber dadurch definitive Erkenntnis zu gewinnen, weiten die bedeutsamen Zusammenhänge den Blick auf die Sache aus, differenzieren Anschauung und Reflexion, so dass eine Einsicht nur als unvollständige gewonnen, ein Urteil nur als vorläufiges gefällt werden kann. Reflexiv, sich selbst zum Gegenstand und zu seiner Befragung in Bezug setzend, weiß das Subjekt um die Heterogenität des Dings und die Begrenzung seiner Erkenntnis. Auf der einen Seite weitet ästhetisches Denken mithin die kognitiven Leistungen des Betrachtenden und die Dimensionen des Gegenstandes aus, zugleich setzt sie der Geltung der gewonnenen Einsicht kritisch Grenzen. Ästhetisches Denken fordert in seiner Fundierung in der sinnlichen Anschauung die Autorenschaft des Individuums heraus, zugleich regt sie zur Selbstfesselung hinsichtlich des Geltungsanspruchs an. Kritische Achtsamkeit in Wahrnehmung, Empfindung und Reflexion müssen geübt werden. Künstlerische Bildung entzieht sich hier keineswegs dem Anspruch auf Standardisierung von Kompetenzen. Im Gegenteil lassen sich die hier beschriebenen Eigenschaften ästhetischen Denkens deutlich in entsprechenden Kompetenzanforderungen für eine zeitgemäße künstlerische Bildung ausdrücken. Empirische Forschung im Bereich ästhetischer Wahrnehmung und gestalterischer Praxis, psychologische wie philosophische Theoriebildung sowie Kreativitätsforschung liefern differenzierte Kenntnisse über diese Domäne menschlichen Denkens und Handelns. Fachgeschichtliche Abkopplungstendenzen aus der wissenschaftlichen Legi-
21
Theodor W. Adorno: Negative Dialektik, S. 163 ff.
132 timierung von Unterrichtsinhalten22 wie bildungspolitische Marginalisierungen des Künstlerischen in ‚Kompensationsfächern‘ verfehlen die lange Forschungstradition im ästhetischen und künstlerischen Sektor, die immer auch die Bildungsrelevanz dieses Feldes vor Augen führt. Zu den Kompetenzen sensibler Wahrnehmung und kritischer Kontextreflexion kommen im künstlerischen Bereich diejenigen der Gestaltung hinzu. Hier sind sowohl handwerkliche als auch intellektuelle Leistungen gefordert. Zieht man noch einmal Wolfgang Welschs vier Elemente des ästhetischen Denkens heran, so sind diese im Hinblick auf das Künstlerische zu erweitern um die Imagination, die insbesondere im Werkprozess zur tragenden Leistung wird. Dabei ist Imagination nicht einfach als Tätigkeit der Phantasie dahingehend zu verkürzen, dass sie zuständig wäre für Einfälle und Erfindungen. Imagination als Tätigkeit der Einbildungskraft wird hingegen von der neuropsychologischen Forschung als eine zentrale Tätigkeit des Denkens erfasst, welche integrativ wirkt, das heißt eine komplexe Vielfalt an Hirnaktivitäten in unterschiedlichen Arealen miteinander vernetzt23. Imagination als Fähigkeit der Vorstellungsbildung integriert sinnliche, emotionale und kognitive Leistungszentren. Sie diversifiziert die Hirnaktivitäten und bringt dabei eine differente Wirklichkeit hervor. Imagination erscheint als Kompetenz der Heterogenitätssteigerung.
Ästhetische Forschung Wie wird die Bildung zur Erzählfähigkeit, zur reflektierten und verantwortlichen Autorenschaft in künstlerischen Bildungszusammenhängen konkret? Ein Beispiel soll dies verdeutlichen. Barbie ist nicht nur eine beliebte und berühmte Puppe, Barbie ist auch ein Medium, welches Wünsche, Träume, Werte transportiert. Dazu werden gezielte ästhetische Strategien angewendet, die bis in psychologische Details ausgearbeitet sind. Barbie ist auf Reiz hin angelegt, welcher möglichst unmittelbar zu Reaktion führen soll. Ästhetisches Denken kann nicht nur Distanz zur ökonomisch motivierten Über22 Vgl. das kunstpädagogische Konzept der „Musischen Bildung“ in der Bundesrepublik Deutschland in den 1950er Jahren 23 Damasio S. 131
133 wältigungsstrategie schaffen, sondern auch Geschichten entfalten, die Barbie in erweiterte kulturelle und gesellschaftliche Kontext einbindet. Die sinnliche Anschauung erfasst zunächst die äußeren Merkmale der Puppe, ihr auffällig üppiges langes blondes Haar, die sehr schlanke Figur, das strahlende Gesicht mit den großen blauen Augen. Die Kleidung ist bedeutsam, z.B. das elegante und raffinierte goldene Kleid, welches sie auf der Abbildung trägt. Dazu der Goldschmuck, passend zum Blond der Haare, kontrastierend die ganze Figur auf blauem Satinstoff, dahinter ein Vorhang, der das Gold der Figur noch einmal aufgreift. Nicht nur die Puppe, auch die Fotografie ist professionell durchgestaltet und auf Wirkung hin angelegt. Assoziationen zu Models, Modeschau, Starkult sind unmittelbar naheliegend. Die Befragung von Kontexten fördert aber noch weitere Aspekte zutage. So ist der Körper Barbies unnatürlich, eine Art Montage aus verschiedenen Versatzstücken. Abgesehen von der betonten Feingliedrigkeit und der unnatürlich dünnen Taille ist z.B. das Gesicht vom Kindchenschema mit den vergleichsweise großen Augen und der Stupsnase geprägt, während die Beine im Verhältnis zum Körper eine Länge aufweisen, wie sie meist nur in der frühen Pubertät bei Mädchen in Erscheinung tritt. Diese Mischung aus Kleinkind und Kindfrau ist zugleich in luxuriöse Mode gesteckt, wie sie nur zu außergewöhnlichen Anlässen getragen wird, sofern man sie sich leisten kann. In der schattenlosen, strahlenden Erscheinung in funkelndem Kleid, wie im professionellen Posing die Hände in die Hüften gestützt und offensiv in die Kamera lächelnd, präsentiert sich dieses merkwürdige Zwischenwesen als extravagante Kultfigur. Barbie verkörpert auf diese Weise nicht nur ein künstliches Körperideal, sondern auch kulturelle und gesellschaftliche Werte der westlichen Leistungsgesellschaft. Sie repräsentiert Höchstleistungen in Sachen Schönheit, Eleganz, Reichtum und Erfolg. Sie wird damit zum Leitbild von Mädchen und jungen Frauen, welches bis in biologische Manipulationen hinein zur Nachahmung verführen kann. Eine ganze Industrie vermarktet diesen Traum nicht nur in der Puppenstube, sondern macht ihn längst auch mit entsprechender Mode oder Wohneinrichtungen im täglichen Leben verfügbar. Barbie ist dabei als Infiltration eines sinnlich präzisen und ideologisch einfachen, aber auch diffusen Weltbildes so erfolgreich, dass andere Kulturen sich gegen diese ‚Trojanerin‘ zur Wehr setzen. So gibt es seit einigen Jahren eine Antwort auf Barbie in der islamischen Welt. Fulla, vom New Boy Design Studio in Damaskus entworfen, unterscheidet sich kaum in den
134
Barbie
Körpermaßen von Barbie, hat jedoch weniger Oberweite. Sie trägt lange Röcke und Blusen mit langen Ärmeln zuhause und geht aus im Abaja, einem langen Mantel mit Kopftuch. Auch ein rosa Gebetsteppich gehört zum Angebotssortiment. In den islamisch geprägten Ländern entwickelt sich Fulla zum Verkaufsschlager. Die Strategien gleichen sich dabei dem westlichen Modell an, allerlei Merchandising-Produkte ergänzen das Angebot, überdies gibt es auch westlich orientierte Mode für liberalere arabische Länder. Fulla ist überdies nicht nur Hausfrau, Sets, die sie in eine Ärztin oder Lehrerin verwandeln, sollen demnächst auf den Markt kommen.
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Fulla
Fulla („Jasminblüte“) verkörpert so einen Zwiespalt, in dem sich Mädchen und junge Frauen in islamischen Ländern zwischen Neigungen zu westlichen Vorbildern und Traditionsorientierung befinden. Ähnliches gilt auch für islamische Migrantinnen in westlichen Gesellschaften. An dieser Stelle wird deutlich, dass die Betrachtung von Bildern und anderen Kulturgütern aus unterschiedlichen Ländern reichlich Anlass bietet, um Gemeinsamkeiten und Unterschiede wahrzunehmen, das Gespräch darüber in Gang zu setzen und eine Sensibilität dafür zu entwickeln. Leider ist dieser bedeutsame Aspekt interkultureller Bildung im Bereich der deutschsprachigen Kunstpädagogik bislang noch nicht vertiefend erforscht worden. Das Institut für
136 Kunstpädagogik und das historische Institut an der Justus-Liebig-Universität Gießen beteiligen sich im Zeitraum 2008 – 2010 an einem ComeniusProjekt zum Thema „Images and Identity“24. Es soll erforscht werden, inwieweit die Thematisierung von Gegenwartskunst aus den verschiedenen Herkunftsländern der Schülerinnen und Schüler einer Klasse Anstoß geben kann zum Nachdenken und zur Kommunikation über Identität. Beteiligt sind in den Unterrichtsprojekten die Fächer „Art Education“ und „Citizenship“, letzteres wird im deutschsprachigen Raum etwa durch die Fächer Geschichte oder Politik vertreten wird. Neben der ästhetisch fundierten Diskussion steht auch die künstlerische Darstellung in Werkprojekten im Mittelpunkt des Forschungsvorhabens. Auch hier eröffnet künstlerische Bildung einen Bereich interkultureller Kommunikation, dessen Chancen und Wirksamkeiten im deutschsprachigen Raum bislang wenig erforscht sind. Migrantenkindern öffnet sich in der Werkproduktion die Gelegenheit, jenseits der Bindung an die Wortsprache Aussagen und Mitteilungen zu gestalten, die wiederum einheimische Schülerinnen und Schüler mit bislang unbekannten Sachverhalten in Berührung bringen, die gleichwohl Teil der Wirklichkeit sind, in der sie sich alltäglich bewegen. Die Betrachtung und die Gestaltung von Bildern und Objekten vermögen überdies Anstöße zu geben für die Entwicklung und Differenzierung der wortsprachlichen Ausdrucksfähigkeit. Die ästhetische Erzählung, angestoßen durch die Betrachtung von Barbie, kann sich weiter verzweigen, vertiefen und dabei neue Zusammenhänge entwickeln. Heterogenitätsdifferenzierung durch Ästhetik erweitert die Perspektiven auf den Gegenstand und seine Kontexte und knüpft gleichzeitig Bezüge, welche Strukturen im Differenten zutage fördern. Orientierung durch multiperspektivische Autorenschaft entwickelt sich hier sowohl im forschenden wie im darstellenden Umgang mit der Sache. Das eindrucksvolle Zwillingspaar auf der scheinbaren Werbefotografie gleicht fleischgewordenen älteren Schwestern von Barbie. Zentrale Attribute, die bei ihr zu finden sind, begegnen auch hier: Blonde Schönheiten mit strahlendem Lächeln und üppigen Körpermaßen, offensiv lächelnd in luxuriöser Umgebung. 24
Partnerhochschulen des Projektes „Images and Identity“: Roehampton University London, Karls-Universität Prag, National College of Art and Design Dublin, University of Malta, Escola Superior de Educacao, Instituto Politecnico, Viana do Castelo, Portugal
137 Diese ist zwar als künstliche Studiokulisse schnell erkennbar, was aber der Assoziationsbildung keinen wesentlichen Abbruch tut. Bei der Puppe als Artefakt überrascht die Künstlichkeit des Körpers nicht unbedingt. Bei den beiden Schönheiten auf der Fotografie stellt sich beim zweiten, genaueren Hinsehen aber Irritation ein. Geradezu perfekte Verkörperung eines gängigen Schönheitsideals der Popkultur von Film und Reklame, dazu noch in der Doppelung eines Zwillingspaares von makelloser Oberfläche der Erscheinung. Diese fast schon übertriebene Idealtypik gleich zweimal als natürliche Erscheinung zu akzeptieren, fällt schwer. Sensible Wahrnehmung spürt, dass hier möglicherweise etwas nicht stimmt. Assoziationen wechseln. Sicherlich wurde dieser Erscheinung nachgeholfen, problemlos mit den Stilmitteln der Werbefotografie, die perfekte Oberflächen mit Mitteln der digitale Retusche noch zu steigern weiß. Vielleicht ist dann aber die doppelte Schönheit ohnehin nur eine elektronische Illusion, ein Fake, dem keine Realität entspricht. Sowohl bei der Doppelung der Figur wie bei der idealen Körperlichkeit ohne Makel handelt es sich möglicherweise um eine virtuelle Realität, die am Computer erzeugt wurde.
„Joanna“, Ines van Lamsweerde 1995
138 Der Blick wandelt sich in dem Moment noch einmal, wenn klar ist, dass man es hier nicht mit einem Werbefoto, sondern mit einem Kunstwerk zu tun hat. Man erwartet nun geradezu das Moment der Verfremdung, der Irritation, welches Klischees der Wahrnehmung und Deutung angreift. Ines van Lamsweerde, geschult als Modefotografin, stellt uns hier unter dem Titel „Joanna“ zwei Models vor. Damit wird die Spur, dass es sich hier um die Thematisierung von Künstlichkeit handelt, bestärkt. Ein Name für zwei Figuren. Ihr blendendes Aussehen und Auftreten inspiriert die Imagination, die zur Deutung Aspekte heranzieht, welche auch noch nicht Reales in Betracht ziehen und auf die Darstellung anwenden. Eine Steigerung der künstlichen Schönheit jenseits von Kosmetik, Mode, Inszenierung und Bildretusche wäre die direkte Manipulation des realen Körpers. Schönheitsoperationen unternehmen dabei aber nur Oberflächeneingriffe. Klonung würde hingegen die beliebige Reproduktion von Idealtypen aus der Retorte erlauben. Noch ist sie in der vorgestellten Form nicht möglich. Womöglich führt Ines van Lamsweerde hier eine zukünftige Entwicklung vor Augen, die in der Konsequenz der äußerlichen Perfektionierung des Körpers liegt. Die Kontexte lassen sich erweitern. Die doch ungewöhnliche Haltung, in der die blonden Wallküren hier optimistisch lächelnd in die Weite schauen, erinnert an eine andere Figurengruppe, die ebenfalls in merkwürdiger Schrittstellung nebeneinander und gleichzeitig wechselseitig vordrängend auftreten.
„Kameradschaft“, Josef Thorak 1937
139 Josef Thoraks Darstellung der „Kameradschaft“ von 1937 zeigt auch idealtypische Körper, diesmal nackte Männergestalten, muskelbepackt, mit schwellender Brust ebenfalls in imaginäre Fernen schauend. Biologische Aufrüstung geschieht hier zur Verkörperung arischen Übermenschentums. Reproduziert sich der ideale Arier im Falle „Joannas“ gentechnisch, so wäre im Falle von Thoraks „Kameraden“ noch Züchtung im „Lebensborn“ das Mittel der Wahl zur Eroberung des Körperlichen gewesen. Gemeinsam ist beiden Darstellungen die Betonung einer offensiven, mehr oder weniger auch aggressiven Vitalität des Körpers unter gleichzeitiger Vernachlässigung der Schilderung der Person, des Individuums. Es erscheinen hier wie dort Typen ohne biografische Spuren und Spuren der Angreifbarkeit. Wenn Ines van Lamsweerde die Ästhetik der „Joanna“ in die Nähe der Naziästhetik rückt, dann macht sie hier offenkundig auch eine Aussage zu ideologischen Bezügen zwischen einem historischen und gegenwärtigem Körperkult. Rückblickend wird erkennbar, dass in der Multiperspektivität ästhetischer Forschung ausgehend von der Figur der Barbie im Vergleich unterschiedlicher Bilder sowie kultureller und historischer Kontexte latente Strukturen in scheinbar heterogenen Sachverhalten rekonstruiert werden konnten. Die Komplexität ästhetischen Denkens in differenzierender Wahrnehmung, sensiblem Gespür, kritischer Reflexion und vorstellungsbildender Imagination ist in der Entfaltung dieser Erzählzusammenhänge nachvollziehbar am Werk.
Künstlerische Transformation In der Gestaltung eines Werkes in diesem Kontext verändert sich abermals die Perspektive. Nun tritt die Imagination als leitende Aktivität in den Vordergrund, ohne jedoch die anderen Aspekte des ästhetisch-künstlerischen Denkens preiszugeben. Die Darstellung der Barbie als Madonna bedarf der forschenden Auseinandersetzung mit Wirkungen und Bedeutungen der Puppe. Auf dieser Basis entwickelt sich eine bildhafte Aussage, die Wahrnehmungen, erworbenes Wissen und kritische Reflexionen transformiert. Transformation ist als Neuerfindung erneute Verunsicherung. Sie kann sich noch nicht auf Wahrnehmung von Fertigem stützen, sondern muss dieses vorstellen und zugleich das Entstehende im Werkprozess kritisch antizipierend auf dieses ungewisse Fertige hin beurteilen. Recherchiertes Wissen wird erneut befragt und beurteilt im Hinblick auf seinen Einfluss auf die Gestal-
140 tung – wird es als intendierte Aussage darin deutlich oder zerstört es als plakativer Ausdruck die Wirkung der Form? Das Werk begegnet als das Nichtidentische mit eigenem Anspruch, der nur ästhetisch zu erfassen ist und auf rätselhafte Weise sich nur dann realisiert, wenn die Absicht des Autors sich nicht in den Vordergrund schiebt. Transformation bedarf mithin der Recherche und der Konstruktion von Bedeutungszusammenhängen, sie bedarf aber auch der Auswahl des Relevanten und der Störung von scheinbaren Gewissheiten, indem die entstehende Gestalt dem Autor andere, unbekannte Zusammenhänge von Form und Inhalt abnötigt. Das selbst produzierte Werk macht reflexiv die Klischees des eigenen Denkens und Urteilens ansichtig und provoziert die Konfrontation mit und die Ausgestaltung von Neuem. Kunst begegnet sowohl in der Rezeption als auch in der Produktion als „Einschlag des Fremden“25, als Erfahrung der Verunsicherung, in der neue Kontexte und Bedeutungen erst zu erfinden sind. Als Dekonstruktion des Wahrnehmens und Denkens übt das Künstlerische sowohl Heterogenitätssteigerung wie Heterogenitätsbewältigung in der Autorenschaft kleiner Erzählungen ein. Es sind schließlich nur wenige, aber gezielte Eingriffe, die die Aussage der Barbie als Madonna in der Arbeit einer Studentin ausmachen. Die betenden Hände müssen geformt werden, die Puppe gibt diese Geste zunächst nicht her. Die Auswahl der eleganten Kleidung und ihr Einsatz in madonnenartiger Gewandung der Puppe in ihrer gewahrten Model-Ästhetik bilden ein neues Ganzes aus der Montage von heterogenen Versatzstücken mit unterschiedlichen kulturellen Konnotationen. Hinzu tritt ihre Präsentation in der Inszenierung eines Marienaltars mit entsprechenden Stoffen, Gegenständen und Symmetrien. Die Arbeit am Werk ist ein permanentes Ringen in Zuständen der Instabilität und der Unsicherheit. Das Gelingen des Werkes ist bis zum Schluss nicht gewiss und kognitive Durchdringung des Sachverhaltes allein verbürgt hier keinen Erfolg. In der kritischen ästhetischen Beobachtung des Gestalteten wirken Imagination und Intuition zusammen in der Beurteilung der Form. Ein Gespür muss entwickelt werden. Im Gespür verbinden sich auf vorbegriffliche oder auch überbegriffliche Weise Wissen, Wahrnehmung, Empfindung in einer sensiblen Erfassung komplexer Zusammenhänge einer Situation, ohne dass hier verbalisierbare Einsicht alle Aspekte begreifen und 25
Welsch, S. 41 ff.
141 zum Ausdruck bringen könnte26. Künstlerisches Schaffen übt das Gespür für Komplexität und dies nicht nur rezeptiv, sondern produktiv, indem das Gespür der gestalterischen Arbeit Impulse gibt und sie sogleich wiederum kontrolliert. Diese Arbeit konfrontiert nicht nur mit der Realität heterogener Komplexität im Werkprozess, sondern auch mit chaotischen Zuständen, in denen das Scheitern droht, die Orientierung verloren geht. In diesen kritischen Phasen provoziert das Werk die Anstrengung des Willens, sich nach Kräften auf formaler und inhaltlicher Ebene um einen Weg zu bemühen. Die Recherche von fehlendem Wissen kann hier erforderlich werden, um die Form zu inspirieren, es kann aber auch die Destruktion der Form notwendig werden, um neue, experimentelle Freiräume der Gestaltung zu gewinnen. Die Arbeit an der kleinen Erzählung des Kunstwerkes verlangt nicht nur ein Navigieren in differenten Bezügen. Dieses muss aber als ein Spiel mit der Komplexität und der Unsicherheit geschehen, da das Werk sich nicht zwingen lässt. Die Balance ist zu halten zwischen den Intentionen des Autors und den Anforderungen der Form. Bildung geschieht hier unter dem Primat des Objekts, des Werkes. Im selbst zu verantwortenden Wechselspiel zwischen Wissenserwerb, kritischer Reflexion, sensibler Wahrnehmung und antizipierender Imagination übt das Künstlerische ein spielerisches Wechselverhältnis der geistigen Kompetenzen, die zur Entwicklung einer kleinen Erzählung notwendig sind. Dabei handelt es sich in der Kunst jenseits des Ernstfalls des Lebens um Formulierungen existentieller Erzählungen. Sie folgen keiner Regelhaftigkeit institutionalisierter Sprachspiele. Sie vermitteln objektive Wissenschaft mit subjektiver Neigung, sachliche Untersuchung mit persönlichen Fragen, Wünschen, Ängsten, Selbsterfahrung mit Fremderfahrung. Während wissenschaftliche Forschung eine Distanz zum Gegenstand voraussetzt, verlangt die Kunst, eine Beziehung zu diesem nicht nur wahrzunehmen, sondern gestalterisch zum Ausdruck zu bringen. Dabei verändert sich die Beziehung zum Gegenstand und zu sich selbst. Wissen wird als vorläufiges, Heterogenität als Grundbedingung von Wahrnehmung, Erkenntnis und Kommunikation erfahren. Das fertige Werk löst sich von seinem Autor, wenn es gelingt, und besteht aufgrund einer Logik eigener Art. Es repräsentiert weder rationale Erkenntnis noch subjektive Intention und besteht vor 26
Schmid, S. 198 f.
142 allem vor dem intuitiven Gespür für seine Form. Die differente Form eines Kunstwerks wahrzunehmen und zu gestalten schult das Bewusstsein für die basale Heterogenität von Wirklichkeit überhaupt. Künstlerische Produktion und Rezeption lehren, mit dieser Heterogenität produktiv, in verantwortlicher Autorenschaft umzugehen. Kunst thematisiert so Bereiche der Lebenswirklichkeit, die jenseits kognitiver Systematik und entsprechender standardisierter Test Bestand haben. Dabei entzieht sich künstlerische Bildung auch in ihrem produzierenden Sektor nicht der Evaluation von in entsprechenden Standards zu formulierenden Kompetenzen. Das vorliegende Ergebnis einer differenzierenden Auseinandersetzung ist das Werk. Um es zu beurteilen, bedarf es allerdings einer adäquaten Komplexität der Begutachtung, die im Kotext der Aufgaben- oder Problemstellung und ihrer immanenten Kriterien die individuellen Leistungen wahrzunehmen und auch begrifflich zu beschreiben vermag. Im Werk gerinnt und transzendiert sich der Prozess seiner Entstehung. Für die Darstellung ästhetischer Rezeption und Reflexion jenseits der Werkarbeit – in der vergleichenden Erkundung von Bildsorten, wie am Beispiel der Barbie skizziert, in der Erforschung eines inhaltlichen Problemfeldes zwischen Bild- und Textanalysen oder in begleitenden Recherchen und gedanklichen Konstruktionen während des Werkprozesses – kommen im künstlerischen Bereich auch überprüfbare Alternativen zu traditionellen Darstellungsformen wie Klausuren oder Hausarbeiten in Frage. Das Portfolio bietet hier unterschiedliche Möglichkeiten, aber auch z.B. die Produktion von VideoEssays oder einer Website zur in Frage stehenden Thematik. Formen und Verfahren der Evaluation müssen sich der Komplexität ihres Gegenstandes anpassen. Auch Aspekte des Emotionalen und der Originalität von Aussagen und Darstellungen sind kommunizier- und bewertbar. Eine Ausklammerung des Künstlerischen aus der Evaluation hinreichend komplexer Standards, die basale Aspekte künstlerischen Denkens und Handelns erfassen, wäre weder sachgerecht noch nachvollziehbar. Künstlerische Bildung thematisiert jedoch Inhalte und fordert geistige Kompetenzen, die ein performativer Pragmatismus in der Bildung weder zu beschreiben noch zu vermitteln vermag. Deshalb ist sie aber nicht gering zu schätzen und im Bildungskanon an den Rand zu drängen. Vor dem Hintergrund der unaufhebbaren Heterogenität der Wirklichkeit, die auf persönlicher und gesellschaftlicher, auf sozialer, weltanschaulicher und auch naturwissenschaftlicher Ebene erfahrbar wird, dürfen Kompetenzen nicht ver-
143 nachlässigt oder unterschlagen werden, die dazu beitragen, in persönlicher Verantwortung Bedeutung zu erzeugen, die um ihre Begrenztheit weiß und gleichwohl um ihre Wirksamkeit ringt. Indem Kunst Subjekt und Objekt in transformierenden Prozessen in Beziehung setzt und dabei Wissen aus unterschiedlichen relevanten Sachgebieten mit individueller Reflexion und Imagination verbindet, ist sie nicht einfach ein Fach, wo spezielle Kenntnisse und Fertigkeiten zu erwerben sind. Vielmehr zeigt sich das Künstlerische darüber hinaus als ein Lernprinzip, in dem interdisziplinäre Fragestellungen einem kreativen Prozess eingeschrieben sind. Diese andere Form von Bildung darf Heranwachsenden angesichts des unwiederbringlichen Verlustes Orientierung gebender Traditionen und einer sich weiter beschleunigenden kommunikativen Heterogenität, in der das Bild als ästhetisch konstruierte Persuasion zentrale Bedeutung gewinnt, nicht vorenthalten werden.
Kunst der Kohärenz Jenseits des multiplen und des identischen Selbst bietet die Vorstellung vom „kohärenten Selbst“ der neueren Philosophie der Lebenskunst ein Leitmotiv für eine künstlerische Bildung in heterogener Kultur und Gesellschaft27. Wilhelm Schmid entwirft hier das Bild eines Selbst, welches einen biografisch geprägten Kern besitzt, nach außen hin zunehmend flexibler wird und bereit ist zur Begegnung mit Neuem, Fremden. Zu diesem setzt es sich ins Verhältnis, wahrnehmend, reflektierend und urteilend. Die Auseinandersetzung mit neuen Erfahrungen, Einsichten, Begegnungen führt auf diese Weise zur Integration ausgewählter Aspekte in den Kontext des eigenen Selbstund Weltbildes oder auch zu Distanzierungen. Die dreifache Sensibilität, die Schmid von einer „Klugheitserziehung“ einfordert, weist eine große Nähe zu zentralen Eigenschaften künstlerischen Denkens auf28. In Schmids Wunsch nach der Ausbildung von sinnlicher, struktureller und virtueller Sensibilität finden sich Aspekte der Achtsamkeit, der kritischen Reflexion relevanter Kontexte und der Fähigkeit zur Bildung von Vorstellungen wieder, die Zukünftiges antizipieren und Möglichkeiten und Risiken des HanSchmid, S. 250 ff. Wilhelm Schmid: Schule der Lebenskunst, in: Carl-Peter Buschkühle (Hg.): Perspektiven künstlerischer Bildung, Köln 2003, S. 47-58 27 28
144 delns bedenken können. Das kohärente Selbst, das sich auf der Basis einer differenten Sensibilität fortschreibt als kleine Erzählung, ist vorstellbar als Autor einer unter heterogenen Bedingungen immer prekären, aber nicht zu unterlaufenden Lebenskunst eines freien und verantwortlichen Individuums.
145
Franz-Josef Bäumer
Verschieden sein – verschieden werden Aufgaben und Ziele religiösen Lehrens und Lernens in der Schule Dieser Beitrag geht der Frage nach, worin die Bildungsaufgabe eines konfessionellen Religionsunterrichts (RU) angesichts soziokultureller, religiöser Heterogenität auf der einen Seite und geforderten Bildungsstandards auf der anderen Seite besteht und welche Bewältigungsmöglichkeiten denkbar sind. (1) Zunächst werde ich unterschiedliche Erscheinungsweisen von Heterogenität aus der Perspektive des RU vorstellen und ihren jeweiligen Herausforderungscharakter für eine pädagogisch wie theologisch begründete Didaktik des konfessionellen RU skizzieren. (2) In einem zweiten Schritt will ich Ihnen alternative Modelle zum konfessionellen RU im deutschsprachigen Raum vorstellen, die sich als staatlich verantwortete Antworten auf religiöse Pluralität verstehen, und ausdrücklich vom konfessionellen RU abgrenzen. (3) Vor diesem Hintergrund stelle ich die kirchenamtlichen Vorgaben und Bildungsstandards zum katholischen Religionsunterricht vor und befrage sie insbesondere auf ihre „Bildungstauglichkeit“ angesichts unhintergehbarer Heterogenität, um schließlich (4) einen Vorschlag zu unterbreiten, wie konfessioneller RU dazu beitragen kann, Kindern und Jugendlichen Perspektiven für den Umgang mit Heterogenität zu erschließen. Das Schlüsselwort ist „Friedenszustand“. Im Verlauf dieses Beitrags wird auch deutlich werden, was unter dem Haupttitel „Verschieden sein – verschieden werden“ zu verstehen ist.
1. Heterogenitäten Heterogenitäten, Verschiedenheiten, sind überall wahrnehmbar: Männer – Frauen, Mädchen – Jungen, Arme – Reiche, Religiöse – Nichtreligiöse, Christen – Juden – Muslime und so fort. Entscheidend ist, wie diese Ver-
146 schiedenheiten wahrgenommen und bewertet werden und wie man mit ihnen umgeht. Das wiederum hängt vom jeweiligen Standort und Standpunkt des Betrachters ab. Den Bezugspunkt, von dem her und auf den hin im Folgenden Heterogenitäten benannt werden sollen, bilden der konfessionelle RU und die, die mit ihm in welcher Weise auch immer befasst sind.1
1.1 Tradierungsabbruch Eine wichtige, in ihrer Bedeutsamkeit für den RU und seine Didaktik kaum zu überschätzende Erfahrung von Heterogenität ist die Wahrnehmung des Tradierungsabbruchs des Christentums. Darunter ist die für Christen schmerzliche und verunsichernde Erfahrung zu verstehen, dass der christliche Glaube einschließlich der mit ihm verbundenen Kirchenbindung die „flächendeckenden“ Orte seiner hochwirksamen Tradierung verloren hat: Familie, kirchliche Gemeinde, konfessionelle Milieus.2 „Für die meisten Kinder und Jugendlichen ist das Christentum heute zur Fremdreligion geworden.“3 Aus der Perspektive der Religionspädagogik liegt das Heterogene hier in einer grundlegenden generationellen Verschiedenheit religiöskirchlicher Aufwachsbedingungen. Praktisch-theologische bzw. religionspädagogische Reaktionen reichen von einer affirmativen Beurteilung, die diese
1 Die zugrunde liegende Hermeneutik ist eine bifokale. Das heißt, ich schaue mit dem Auge des an den allgemeinen und demokratischen Grundrechten orientierten Bürgers und mit dem Auge des kirchlich gebundenen Christen, mit dem Auge naiver Alltagseinstellung und dem kritischer Reflexion, mit dem Auge des kommunikativ und interaktional Verstrickten und dem des Distanzierten. Sie zusammen sollen mir ein verstehbares Bild vermitteln. Dabei sehen die Augen dasselbe und doch zugleich Verschiedenes. Wenn man so will, ist Heterogenität ein inneres Prinzip der Wahrnehmung selbst und Voraussetzung für Mehrperspektivität. 2 Vgl. dazu Medien-Dienstleistung GmbH (Hg.): Milieuhandbuch „Religiöse und kirchliche Orientierungen in der Sinus-Studie 2005“, München 2005; Ebertz, Michael N.: Anschlüsse gesucht. Ergebnisse einer neuen Milieu-Studie zu den Katholiken in Deutschland, in: HK 60 (2006), 173-177; Lebendige Seelsorge 2006, Nr. 4. Zu einem anderen Ergebnis kommt die Studie der Bertelsmann-Stiftung. Sie konstatiert weder einen Tradierungsabbruch noch eine Renaissance von Religion und Christentum. Vgl. Bertelsmann-Stiftung (Hg.), Religionsmonitor 2008, Gütersloh 2008. 3 Dressler, Bernhard: Unterscheidungen. Religion und Bildung, Leipzig 2006, 56.
147 Entwicklung als einen Zuwachs an Freiheit bewertet, bis zum düsteren Kulturpessimismus.4
1.2 Kulturelle Vielfalt Eine weitere Dimension von Heterogenität ist in der kulturell-religiösen Vielfalt und der Subjektivierung von Religiosität auszumachen. Neben den christlichen Kirchen stehen andere Religionen bereit, die sich als Alternativen zum Christentum anbieten. Durch den Tradierungsabbruch wächst zugleich die Offenheit und Bereitschaft, sich ihnen zuzuwenden. Das Nebeneinander unterschiedlicher, inkommensurabler Religionen wirft die Frage auf, wie sie miteinander umzugehen haben, und für den RU selbstverständlich die Frage, welche didaktischen Konsequenzen daraus zu ziehen sind.
1.3 Heterogene Einstellungen zum konfessionellen RU Erfreut sich nach einer Studie von Anton Bucher5 der Religionsunterricht insgesamt hoher Akzeptanz bei den Schülerinnen und Schülern, unterrichten die meisten Lehrerinnen und Lehrer das Fach, zumindest in der Grundschule, auch sehr gern6, wird er gleichwohl in der Öffentlichkeit nicht nur als so genanntes „weiches“ Fach angesehen7, sondern reicht die Akzeptanz-
4
Vgl. Kehl, Medard: Welche ‚pastorale Strategie’ braucht die deutsche Kirche heute?, in: Ziebertz, Hans-Georg (Hg.): Erosion des christlichen Glaubens?, Münster 2004, 121-129, bes. 122f; Reil, Elisabeth: Schülerinnen und Schüler im Religionsunterricht, in: Weidmann, Fritz (Hg.): Didaktik des Religionsunterrichts. Neuausgabe, Donauwörth 1997 u. ö., 100-128; Jakobs, Monika: Kindliche und jugendliche Lebenswelt(en) im Religionsunterricht. Anpassung an den Zeitgeist oder Erschaffung von Gegenwelten, in: Schreijäck, Thomas (Hg.): Christwerden im Kulturwandel, Freiburg i. Br. 2001, 492-504. 5 Vgl. Religionsunterricht zwischen Lernfach und Lebenshilfe, Stuttgart-Berlin-Köln 2000 6 Vgl. Englert, Rudolf, Güth, Ralph (Hg.): „Kinder zum Nachdenken bringen“. Eine empirische Untersuchung zu Situation und Profil katholischen Religionsunterrichts an Grundschulen, Stuttgart-Berlin-Köln 1999. 7 Auch von Schülerinnen und Schülern der Sekundarstufe I und II wir er ähnlich beurteilt. Vgl. Bucher, Anton: Religionsunterricht, 143ff.
148 linie von entschiedener Ablehnung über diffuse Zustimmung bis zu engagiertem Verfechten auch und gerade seiner konfessionellen Gestalt.
1.4 Heterogene Praxis und heterogene Modelle zum RU Es verwundert nicht, dass angesichts dieser Heterogenitäten die Praxis des konfessionellen RU selbst höchst verschieden ausfällt. Das zeigen nicht nur die unterschiedlichen Didaktiken zum RU wie Symboldidaktik8, performativer RU9, abduktive Korrelationsdidaktik10, ökumenischer RU11, um nur einige der jüngsten Ansätze zu nennen, sondern es zeigt die Praxis vor Ort selbst.12 Von der Grundschule bis zu den Berufsbildenden Schulen wird neben konfessionellem Religionsunterricht gemischt konfessioneller oder gemischt religiöser Religionsunterricht erteilt, zum Teil aus schulorganisatorischen Gründen, zum Teil pädagogisch didaktisch bewusst so angelegt, mal mehr, mal weniger rechtlich abgesichert. Zudem sind die Auflösung volkskirchlicher Präsenz, religiös-kulturelle Heterogenität in der Gesellschaft und die dominante Konfessionslosigkeit in den neuen Bundesländern nicht folgenlos geblieben, sondern sie haben unterschiedliche Varianten zur Unterrichtung von Religion hervorgebracht. In Anlehnung an Nipkow und Mette13 lassen sich im deutschsprachigen Raum folgende Modelle unterscheiden:
8
Vgl. Halbfas, Hubertus: Das dritte Auge. Religionsdidaktische Anstöße, Düsseldorf 1982. Vgl. Leonhard, Silke, Klie, Thomas (Hg.): Schauplatz Religion. Grundzüge einer performativen Religionsdidaktik, Leipzig 2003. 10 Vgl. Grümme, Bernhard: Abduktive Korrelation als Ausweg?; in: RPB 48/2002, 19-28. 11 Vgl. Schlüter, Richard: Konfessioneller Religionsunterricht heute? Hintergründe - Kontroversen - Perspektiven, Darmstadt 2000. 12 Vgl. hierzu und zum Folgenden die nicht repräsentative empirische Studie von Hütte, Saskia, Mette, Norbert: Religion im Klassenverband unterrichten. Lehrer und Lehrerinnen berichten von ihren Erfahrungen, Münster 2003. 13 Vgl. Nipkow, Karl-Ernst: Der religiöse Bildungsauftrag der Schule im Pluralismus, in: Kunz, Ralph, Pfeiffer, Matthias, Frank-Spörri, Katharina, Fuisz, Jozsef (Hg.): Religion und Kultur – ein Schulfach für alle?, Zürich 2005, 133-158; Mette, Norbert, Religionsunterricht am Ort der Schule – Möglichkeiten, Grenzen, Ambivalenzen, in: RPB 58/2007, 5-26, bes. 717. 9
149 der konfessionelle RU der konfessionell-kooperative RU RU für alle in evangelischer Verantwortung (Hamburger Modell) Lebensgestaltung – Ethik – Religionskunde (LER) Religion und Kultur (Zürcher Modell). Die Modelle unterscheiden sich durch das Maß ihrer Offenheit für alle Schülerinnen und Schüler jedweden kulturell religiösen Hintergrundes unabhängig von ihrem Verpflichtungscharakter und durch die Mitwirkungsmöglichkeiten der Religionsgemeinschaften an der Gestaltung dieses RU. Insbesondere Letzteres unterscheidet die ersten drei Modelle von LER und dem Zürcher Modell, die religionskundlich ausgerichtet sind und eine authentische Präsentation von Religion aus ihrer je eigenen Perspektive heraus ablehnen. Allen gemeinsam ist das Anliegen, Religion so zu vermitteln, dass Schülerinnen und Schüler angesichts kulturell-religiöser Heterogenität Religion respektieren, in ihrer lebenspraktischen bzw. kulturellen Bedeutsamkeit erkennen und sich darüber verständigen und orientieren können. Die persönliche Religiosität der Schülerinnen und Schüler selbst und ihre Bildung ist pädagogisch zu berücksichtigen, sie ist aber nicht in allen Modellen vorzüglicher Gegenstand oder vorzügliches Ziel des Unterrichts. Im Zürcher Modell haben sich die beiden großen christlichen Konfessionen, Judentum, Islam, Hinduismus und Buddhismus über von ihnen entsandte Vertreterinnen und Vertreter an der Ausarbeitung des Curriculums beteiligt; in ähnlicher Weise ist das Hamburger Modell angelegt. Alle Modelle nehmen für sich mit guten Gründen in Anspruch, durch ihre je eigene Art des Lehrens und Lernens von Religion zur gesellschaftlichen Integration und Verständigung, zur Selbstwerdung, Mündigkeit und Orientierung von Kindern und Jugendlichen beizutragen, also Heterogenität im Sinne konstruktiver Bezogenheit des Verschiedenen aufeinander zu bewältigen. Dass angesichts dieser Sachlage der konfessionelle RU in seinen unterschiedlichen Spielarten unter Druck gerät, liegt auf der Hand. Er muss aufzeigen können, dass der konfessionelle RU verständigungsorientierte Bezogenheit auf das von ihm Verschiedene nicht verhindert, sondern dass er sie geradezu allererst ermöglicht. Für den katholischen Religionsunterricht haben die katholischen Bischöfe in dieser Frage mit entsprechenden Verlaut-
150 barungen reagiert, zuletzt mit der Abfassung von Richtlinien zu Bildungsstandards für die Grundschule und für die Sekundarstufe I.14 Die Richtlinien sind im Kontext von zwei vorangegangenen Papieren zu sehen, die sich explizit mit den Herausforderungen des RU als eines konfessionellen, durch den o. g. Tradierungsabbruch und religiöse Pluralität geprägten befassen.15
2. Konfessionalität – Heterogenität – Bildungsstandards Mit ihrer Schrift „Die bildende Kraft des Religionsunterrichts“ von 1996 schalteten die Bischöfe sich in die Debatte um die Konfessionalität des RU ein, die in der katholischen wie in der evangelischen Religionspädagogik heftig geführt wurde.16 Es ging um die Frage der pädagogischen und didaktischen Nützlichkeit, im Klassenverband lernende Schülerinnen und Schüler für den RU nach Konfessionszugehörigkeit zu trennen angesichts dessen, dass sie nicht mehr konfessionsspezifisch sozialisiert sind und eine solche Trennung eigentlich nicht verstehen können. Vor diesem Hintergrund plädierte man für einen ökumenischen Religionsunterricht, der sich didaktisch die Leitlinien des Konziliaren Prozesses, „Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung“, zu Eigen machen sollte, die zudem den globalen und interreligiösen Erfordernissen religiösen Lernens angemessen seien. Die Bischöfe nahmen die in dieser Debatte formulierten Anliegen auf, betonten aber die Notwendigkeit eines konfessionellen RU. Er nehme Teil am allgemeinen Bildungsauftrag der Schule und biete gerade durch seine konfessionsspezifische Prägung Schülerinnen und Schülern die Möglichkeit, 14
Kirchliche Richtlinien zu Bildungsstandards für den katholischen Religionsunterricht in der Grundschule/Primarstufe, Die deutschen Bischöfe Nr. 85, hg. v. Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Bonn 2006; Kirchliche Richtlinien zu Bildungsstandards für den katholischen Religionsunterricht in den Jahrgangsstufen 5 – 10/Sekundarstufe I (Mittlerer Schulabschluss), Die deutschen Bischöfe Nr. 78, hg. v. Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Bonn 2004. 15 Die bildende Kraft des Religionsunterrichts. Zur Konfessionalität des Religionsunterrichts, Die deutschen Bischöfe Nr. 56, hg. v. Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Bonn 1996; Der Religionsunterricht vor neuen Herausforderungen, Die deutschen Bischöfe Nr. 80, hg. v. Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Bonn 2005. 16 Vgl. dazu Schlüter, Richard: Konfessioneller Religionsunterricht heute? Hintergründe Kontroversen Perspektiven, Darmstadt 2000.
151 eine religiöse Identität auszubilden einschließlich der Kompetenz der Perspektivenübernahme und des Dialogs mit anderen religiösen und moralischen Auffassungen. Eine konfessionelle Abkapselung, die Bischöfe nennen das „konfessionalistisch“, lehnen sie für den RU ab, partielle Kooperation mit dem evangelischen Religionsunterricht befürworten sie. In der Folgeschrift „Der Religionsunterricht vor neuen Herausforderungen“ nehmen die Bischöfe mit nüchternem Blick auf die Konstatierung des sogenannten Tradierungsabbruchs des Christentums das Thema wieder auf.17 Lässt schon die Schrift „Die bildende Kraft des Religionsunterrichts“ eine Konzentration auf eigene Anliegen erkennen, so werden sie nun klar ausgesprochen. Es geht um mehr als einen Ort authentischer kirchlicher Selbstpräsentation als Orientierungsangebot, es geht vielmehr darum, mit Hilfe des RU den Tradierungsabbruch zu kompensieren. So stellen die Bischöfe fest: „Die Vermittlung von Glaubenswissen im Religionsunterricht erfolgte früher in Korrespondenz zu den religiösen oder religiös relevanten Erfahrungen, die die Schülerinnen und Schüler in der Familie, in der Gemeinde und an anderen Orten machen konnten [...] Die veränderte religiöse Situation heute scheint den Religionsunterricht vor die Alternative zu stellen, entweder nur die Schülererfahrungen zu thematisieren oder das christliche Glaubenswissen in religionskundlicher Weise zu vermitteln. Beides entspricht nicht den Zielen des katholischen Religionsunterrichts. Das Spezifikum des katholischen Religionsunterrichts liegt darin, dass Glaube und Kirche in der Perspektive der Teilnehmer thematisiert werden. Der Unterricht wird von Lehrerinnen und Lehrern erteilt, die das Bekenntnis der Kirche teilen und am kirchlichen Leben teilnehmen. Seine Inhalte sind von diesem Bekenntnis bestimmt [...] Einem Religionsunterricht in der Teilnehmerperspektive liegt die Einsicht zugrunde, dass die Vermittlung des gelehrten Glaubens nicht ohne Bezug zum gelebten Glauben gelingen kann [...] Ein Religionsunterricht, der Schülerinnen und Schülern einen verstehenden Zugang zum Glauben eröffnen will, kann sich nicht mit der Vermittlung von Glaubenswissen begnügen. Er wird vielmehr die Schülerinnen und Schüler auch mit Formen gelebten Glaubens bekannt machen und ihnen eigen Erfahrungen mit Glaube und Kirche ermöglichen.“18
17 18
Siehe Anmerkung 15. Herausforderungen, 23f.
152 Es ist unübersehbar, dass die Tendenz zu einer strikteren Beachtung des Konfessionalitätsprinzips geht, und dass der RU den Tradierungsabbruch kompensieren soll. Das bedeutet aber, ihm wieder die Funktion der Glaubensunterweisung zuzuschreiben, die der Synodenbeschluss zum RU 1974 mit guten Gründen gerade vom RU unterschieden und der Gemeindekatechese zugewiesen hatte.19 Eine weitere Problematisierung, Vertiefung und Teilklärungen bringt die religionspädagogische Diskussion um Bildungsstandards für den RU.20 Nach Klieme artikulieren Bildungsstandards „Anforderungen an das Lehren und Lernen in der Schule. Sie benennen Ziele für die pädagogische Arbeit, ausgedrückt als erwünschte Lernergebnisse. Die Bildungsstandards legen fest, welche Kompetenzen Schülerinnen und Schüler bis zu einer bestimmten Jahrgangsstufe erworben haben sollen. Die Kompetenzen werden so konkret beschrieben, dass sie in Aufgabenstellungen umgesetzt und prinzipiell mit Hilfe von Testverfahren erfasst werden können.“21 Sie gelten für alle, sind fachbezogen formuliert und erfordern kein additives, sondern ein sequentielles, aufbauendes Lernen. Kritische Befürworter heben hervor, dass der RU eine Festlegung überprüfbarer Kompetenzstandards für religiöses Lernen benötigt, will er sich als ordentliches Schulfach in der öffentlichen Schule behaupten und seinen Bildungswert ausweisen.22 Eine Kompetenzevaluation des RU könne so manchen ineffektiven konzeptionellen Streit in der Religionspädagogik und -didaktik beenden.23 Gegner weisen darauf hin, dass Bildungsstandards ei19
Vgl. Der Religionsunterricht in der Schule, in: Gemeinsame Synode der Bistümer in der Bundesrepublik Deutschland. Bschlüsse der Vollversammlung. Offizielle Gesamtausgabe I, Freiburg i. Br. 1976, 123-152, 130f. 20 Vgl. Elsenbast, Volker, Fischer, Dietlind (Hg.): Stellungnahme und Kommentare zu „Grundlegende Kompetenzen religiöser Bildung“, Münster 2007; Sajak, Clauß-Peter (Hg.): Bildungsstandards für den Religionsunterricht – und nun? Perspektiven für ein neues Instrument im Religionsunterricht, Berlin 2007. 21 Klieme, Eckhard u. a.: Zur Entwicklung nationaler Bildungsstandards. Eine Expertise, hg. v. Bundesministerium für Bildung und Forschung, Berlin 2003, 13. 22 So bspw. auf evangelischer Seite Dressler, Bernhard: Religiös gebildet – kompetent religiös? Über die Möglichkeiten und Grenzen der Standardisierung des Religionsunterrichts, in: Sajak, Clauß-Peter (Hg.), Bildungsstandards, 161-178. 23 So die Hoffnung von Doedens, Folkert: Bildungsstandards im Religionsunterricht. Einheitskost oder Qualitätsentwicklung? Vortrag beim Symposion „Theologie und Pädagogik im Kontext – Zukunftsperspektiven der Religionspädagogik“, Hamburg, 3. und 4. Juni 2005, 9,
153 nem RU, dem es darum zu gehen habe, „dass Schüler zu ihrer Religion, zu ihrem Glauben kommen können“24, eben diese Möglichkeit rauben. Bildungsstandards würden der individuellen und soziokulturellen Heterogenität der Schülerinnen und Schüler, ihrer Subjektivität, nicht gerecht.25 Einig sind sich Gegner wie Befürworter unter anderem in den zentralen Fragen des mit den Bildungsstandards eng zusammenhängenden Lernverständnisses sowie der Evaluation der zu erwerbenden Kompetenzen.26 Hier verfügen Religionspädagogik und -didaktik über keine nennenswerten wissenschaftlichen Erfahrungen. Inzwischen hat die Deutsche Bischofskonferenz Bildungsstandards für den katholischen Religionsunterricht am Ende der Grundschule/Primarstufe und am Ende der Haupt- und Realschule/Sekundarstufe I vorgelegt.27 Man erkennt Nützlichkeit und Notwendigkeit von Bildungsstandards auch für den Religionsunterricht an bei gleichzeitiger Relativierung ihrer Aussagekraft durch Einbettung in den „Rahmen eines umfassenden Verständnisses religiöser Bildung“28, wonach es im katholischen RU auch um Einstellungen und Haltungen der Schülerinnen und Schüler geht, die nur begrenzt lehrbar und nicht evaluierbar sind, weil man nicht genau weiß, wie sie erworben wurden.29 Man hält es allerdings für möglich, die mit Einstellungen und Haltungen verbundenen kognitiven Dimensionen als allgemeine Kompetenzstandards unter inhaltsbezogener Konkretisierung zu formulieren und zu evaluieren. Für die Grundschule/Primarstufe, Haupt- und Realschule/ Sekundarstufe I werden dann sechs Gegenstandsbereiche30 aufgeführt und mit entsprechenden Kompetenzerwartungen verbunden: Mensch und Welt (1), Die Frage nach Gott (2), Bibel und Tradition (3), Jesus Christus (4) und zu finden unter http://lbs.hh.schule.de/relphil/pti/downloads /bildungsstandards.pdf (Stand: 7. 1. 08). 24 Ritter, Werner H.: Alles Bildungsstandards – oder was?, in: Elsenbast, Volker, Fischer, Dietlind (Hg.): Stellungnahme, 29-36, 36. 25 Vgl. ebd. 31. 26 Prägnant formuliert bei Englert, Rudolf: Bildungsstandards für Religion. Was eigentlich wissen sollte, wer solche formulieren wollte, in: Sajak, Clauß-Peter (Hg.): Bildungsstandards, 9-28, 21ff. 27 Siehe Anm. 14. 28 Bildungsstandards Primarstufe, 8; vgl. auch Bildungsstandards Sekundarstufe I, 7. 29 Vgl. Bildungsstandards Primarstufe, 13; vgl. auch Bildungsstandards Sekundarstufe I, 10. 30 vgl. Bildungsstandards Primarstufe, 23; Bildungsstandards Sekundarstufe I, 16.
154 Kirche (5); der letzte Gegenstandsbereich umfasst „Andere Religionen“ (6). Die subjektive Religiosität der Kinder und Jugendlichen kommt als eigener Gegenstandsbereich bzw. Kompetenzbereich nicht vor. Leitend ist der Grundgedanke, den Erwerb religiöser Kompetenzen in Auseinandersetzung mit konfessionsspezifischen Inhalten zu konzipieren. Sie sind folgerichtig dominant, 31 und die Betonung eigenaktiven religiösen Lernens, das als subjektive Aneignung von Religion in Formen heterogener, individueller Religiosität zu begreifen ist, führt ebenso folgerichtig32 auch nicht zu einem eigenen Gegenstandsbereich mit eigenen Kompetenzen. Die Kompetenzbereiche beziehen sich auf drei Anforderungsdimensionen: Reproduktion, Vernetzung, Beurteilung und Reflexion.33 Sie sind konzentrisch um die „Auseinandersetzung mit Inhalten des christlichen Glaubens“34 gelegt und reichen von der Fähigkeit zur Wahrnehmung religiöser Phänomene, dem Verstehen religiöser Sprache, der Darstellungsfähigkeit religiösen Wissens über religiöse Verständigungs- und Urteilsfähigkeit bis zum Handeln aus religiöser Motivation. Nun möchte ich mich hier nicht in Detailfragen verlieren, sondern lediglich herausstellen, dass unter der Flagge der Bildungsstandards eine stärkere Betonung des Konfessionalitätsprinzips und die Funktionszuweisung der Glaubenstradierung segeln. Die entscheidende Frage ist nun die, ob ein solches Konzept, Religion zu unterrichten, der religiös-kulturellen Heterogenität, in der Kinder und Jugendliche aufwachsen, gerecht wird. Um es an dieser Stelle gleich zu sagen, ich meine, dass das nicht der Fall ist. Und ich meine, dass ein konfessioneller RU das gleichwohl in bevorzugter Weise zu leisten vermag. Das sei im Folgenden nun genauer beleuchtet und begründet.
31 Anders der Entwurf der Expertengruppe am Comenius-Institut Münster, vgl. Fischer, Dietlind, Elsenbast, Volker (Redaktion): Grundlegende Kompetenzen religiöser Bildung, Münster: Comenius-Institut 2006; vgl. auch Benner, Dietrich: Bildungsstandards und Qualitätssicherung im Religionsunterricht, in: RPB 53 (2004), 5-19; vgl. dazu auch die Kritik von Doedens, Folkert: Bildungsstandards, 10. 32 Vgl. Verhülsdonk, Andreas: Aus katholischer Perspektive, in: Elsenbast, Volker, Fischer, Dietlind (Hg.): Stellungnahme, 17-23, 19. 33 Vgl. Bildungsstandards Sekundarstufe I, 17. 34 Ebd. 13; vgl. Bildungsstandards Primarstufe, 18.
155
3. Konfessioneller RU im Dienst des Besonderen und der Verständigung Das zentrale Bildungsziel des RU sehen Befürworter wie Kritiker des Konfessionalitätsprinzips in der Ausbildung religiöser Identität. Sie nehmen beide für sich in Anspruch, mit ihrer Ausrichtung religiösen Lernens in der Schule diesem Bildungsziel in vorzüglicher Weise dienlich zu sein. Und beide Seiten können jeweils plausible Argumente für ihre Ansichten vorbringen. Pointiert kann man die Reklamierungen vielleicht so formulieren: Dass ich wie alle Menschen bin und zugleich einzigartig und verschieden von allen anderen, weiß ich nur durch die Erfahrung der Besonderheit, so die einen. Dass ich wie alle Menschen bin und zugleich einzigartig und verschieden von allen anderen, weiß ich nur durch die Erfahrung des Gemeinsamen, so die anderen. Die Diskussion um diese Positionen hat etwas von der Frage an sich: Was war zuerst, das Huhn oder das Ei? M. a. W.: Sie lässt sich nicht entscheiden. Richtig ist wohl vielmehr, dass eine dialektische Beziehungsdynamik zwischen Besonderem und Allgemeinem besteht, in der sich beides erst konstituiert. Wie dem auch sei, Verfechter des konfessionellen RU sehen sich jedenfalls durch die empirische Studie von Barbara Asbrand bestätigt, die den RU einer gemischt religiösen Grundschulklasse untersucht und ein frappierendes Ergebnis vorzuweisen hatte.35 In diesem Religionsunterricht für alle, der es sich zum Ziel gesetzt hatte, interreligiöses Lernen und interreligiösen Dialog zu fördern, wurde den Kindern allererst ihre religiöse Verschiedenheit bewusst; sie spielte vorher für die Kinder keine Rolle. Im RU für alle, dem das Erlernen des Gemeinsamen ein gewichtiges Ziel ist, erfuhren sich die Kinder als religiös verschieden. Dieses Ergebnis bestärkte die Verfechter des konfessionellen RU in der Auffassung, dass der bevorzugte Umgang mit dem Eigenen unumgänglich sei und den Ausgangspunkt religiösen Lernens bilden müsse. Asbrand selbst zog diese Konsequenz nicht aus ihren Beobachtungen. Sie konnte herausarbeiten, dass diese Entwicklung 35 Vgl. Asbrand, Barbara: Zusammen leben und lernen im Religionsunterricht. Eine empirische Studie zur grundschulpädagogischen Konzeption eines interreligiösen Religionsunterrichts im Klassenverband der Grundschule, Frankfurt a. M. 2000.
156 nicht mit der gemischt konfessionellen bzw. gemischt religiösen Zusammensetzung der Klasse zu tun hatte, sondern in der Unterrichtsvorstellung begründet lag, Kinder nach einem theologischen Modell interreligiösen Dialogs anzuleiten und als religiöse Experten anzusprechen. Das setzte eine Dynamik der Konkurrenz frei, die wiederum dazu führte, dass sich die Kinder hinsichtlich ihrer religiösen Verschiedenheit unter den Gesichtspunkten ‚besser’ bzw. ‚schlechter’ betrachteten.36 Nun könnte man daraus den Schluss ziehen, dass weder ein konfessioneller noch ein gemischt konfessioneller bzw. religiöser RU in der Lage ist, religiöses Lernen in bezogener Heterogenität zu ermöglichen. Dass das nicht der Fall ist, hat das Projekt eines konfessionell-kooperativen RU von Schweitzer und Biesinger gezeigt, das sie programmatisch unter den Titel „Gemeinsamkeiten stärken – Unterschieden gerecht werden“37 gefasst haben. Er macht auch das religionsdidaktische Grundprinzip zum Umgang mit Heterogenität in religiösen Lernprozessen deutlich: Heterogenes so aufeinander zu beziehen, dass das Gemeinsame über das Verschiedene und das Verschiedene über die Herausarbeitung des Gemeinsamen deutlich werden. Das ist nur möglich, wenn das Konfessionalitätsprinzip als ein offenes Prinzip begriffen wird, das nach dem Gemeinsamen Ausschau hält, Raum für authentische Präsentation des religiös-konfessionellen Besonderen gibt und sich im praktischen Dialog realisiert. In diesem Zusammenhang wird zu Recht darauf aufmerksam gemacht, dass es zur Nutzung dieses Potentials entsprechender politischer Entscheidungen bedarf.38 In diesem Zusammenhang muss man leider festhalten, dass die Bildungsstandards zum katholischen RU dieses Potential nicht entfalten können, weil das konfessionell Besondere dem Dialogischen vorgeschaltet wird, statt es von vornherein durch eine dialektische Bezugnahme auf Gemeinsames dialogisch zu verorten. Dass das auch in einem grundsätzlich konfessionellen RU nicht unbedingt nötig ist, lässt sich aufzeigen und entwickeln, wenn man den Begriff des Religiösen genauer klärt. In den kirchenamtlichen Dokumenten wird er häufig substantivisch, adjektivisch oder adverbial ver36
Vgl. ebd. 168ff, 165. Schweitzer, Friedrich, Biesinger, Albert, Conrad, Jörg, Gronover, Matthias: Dialogischer Religionsunterricht. Analyse und Praxis konfessionell-kooperativen Religionsunterrichts im Jugendalter, Freiburg i. Br. 2006, 10. 38 Vgl. ebd. 181ff, bes. 184. 37
157 wendet. Er wird allerdings nicht geklärt.39 An dieser Stelle möchte ich einen Religionsbegriff einführen, der es erlaubt, Allgemeinspezifisches und Spezifisches distinkter Religionen gleichermaßen zu berücksichtigen. In Anlehnung an Riesebrodt40 verstehe ich hier unter Religion einen Komplex von Praktiken, Traditionen und institutionellen Formen, in dem Menschen Bezug auf eine Transzendenz nehmen, die ihrer Auffassung nach ein Versprechen für sie bereit hält.41 Das ist allen Religionen gemeinsam. Hinsichtlich ihrer Praktiken, Lehren und auch institutionellen Gestalten differieren sie erheblich. Untereinander sind sie funktional nicht äquivalent. Religionen halten somit Formen sinnvollen Handelns bereit, deren Sinn sich nicht ausschließlich von außen erschließt, sondern erst aus ihrer Binnenperspektive heraus verständlich wird. Für dialogisch angelegtes religiöses Lernen bedeutet das: Es kann nur da erfolgen, wo allgemeiner und besonderer Sinn von Religion vorgestellt werden. Für den konfessionellen RU bedeutet das, er muss aus seinen Sinnkomplexen heraus seine Bezüge zu dem herstellen, was ihn mit anderen verbindet. Die gemeinsamen Bezüge wiederum werden nur im verschiedenen Besonderen einzelner Religionen greifbar. Gelingt ihm das nicht, verfehlt er nicht nur dialogisches Lernen in Heterogenität, sondern dann verfehlt er sich selbst. Mit anderen Worten: konfessioneller RU muss aus den Besonderheiten der eigenen Konfession/Religion heraus den übergreifenden, allen anderen Konfessionen/ Religionen gemeinsamen Sinn (Versprechen und Bezugnahme auf die versprechende Transzendenz) aufscheinen lassen. Das kann ein auf die genannten Bildungsstandards hin getrimmter RU nicht, weil es ihm zu sehr um Abgrenzung und Bewahrung geht. Gleichwohl kann er es, wenn man ihn als eine Art Friedenszustand versteht, der bewusst in Abgrenzung von Bildungsstandards und der ihnen zugrunde liegenden Prämissen angelegt wird.
39
Dieser Mangel ist für die Religionspädagogik insgesamt nicht untypisch. Vgl. Asbrand, Barbara: Grundlegende Kompetenzen religiöser Bildung. Ein Kommentar aus der Perspektive der Bildungsforschung, in: Elsenbast, Volker, Fischer, Dietlind (Hg.): Stellungnahme, 4050, 44. 40 Riesebrodt, Martin: Cultus und Heilsversprechen. Eine Theorie der Religionen, München 2007; zur theologischen Tauglichkeit des Begriffs Versprechen vgl. Wenzel, Knut: Versprechen, in: LTHK3 X, 729-731. 41 Vgl. ebd. 108ff.
158
4. Bildungsstandards, Religion, „Friedenszustand“ Man beklagt, die Kultusministerkonferenz habe aus den Ergebnissen der PISA-Studie lediglich die Konsequenz gezogen, Bildung unter dem Gesichtspunkt ihrer ökonomischen Verwertbarkeit unter den Bedingungen der Globalisierung reformerisch anzugehen, und die Festlegung von Bildungsstandards ginge über diesen Horizont nicht hinaus, obwohl das Klieme-Gutachten diese enge Schlussfolgerung eben nicht nahe lege.42 In der Tat, das Klieme-Gutachten betont ausdrücklich die Notwendigkeit fächerübergreifender Allgemeinbildung und fachspezifischer Unterrichtsphilosophien, deren Bildungswert nicht mit evaluierbaren Kompetenzen erschöpft sei.43 Dann stellt sich allerdings die Frage, wie allgemeiner Bildungswert und evaluierbare Kompetenzen zueinander in ein Verhältnis gesetzt werden bzw. welche pädagogischen und didaktischen Konsequenzen daraus zu ziehen sind im Allgemeinen und für den konfessionellen RU im Besonderen.
4.1 Evaluierbare Bildungsstandards als Tauschwert, ihre normativen Implikationen und praktischen Grenzen Die KMK formulierte 2004, dass die Bildungsstandards „im Einklang mit dem Auftrag der schulischen Bildung (stehen). Sie zielt auf Persönlichkeitsentwicklung und Weltorientierung, die sich aus der Begegnung mit zentralen Gegenständen unserer Kultur ergeben.“44 Es ist nicht klar ersichtlich, ob die KMK mit diesem Satz eine Tatsachenbehauptung aufstellen will oder ein Ziel formuliert. Ich nehme es hier als eine Ziel- und Absichtserklärung, die danach verlangt, den Zusammenhang von Bildungsstandards und allgemeinen Bildungsaufgaben genauer zu bedenken.
42
Vgl. Dressler, Bernhard: Religiöse Bildung zwischen Standardisierung und Entstandardisierung – Zur bildungstheoretischen Rahmung religiösen Kompetenzerwerbs, in: TheoWeb 4 (2005), 50-63, 50. 43 Vgl. Klieme, Eckhard u. a.: Entwicklung, 10 44 Vereinbarung über Bildungsstandards für den Mittleren Schulabschluss (Jahrgangsstufe 10) (Beschluss der Kultusministerkonferenz vom 4. 12. 2003).
159 Pointiert ausgedrückt nehmen Bildungsstandards einen Platz innerhalb des Vorstellungsmodells des freien Marktes ein. Sie dienen dazu, den Marktwert des Menschen zu messen und zu erheben und ihm danach einen Platz im globalen Geschehen des Marktes zuzuweisen. Bildungsstandards stellen also einen Warenwert dar, der Bildung in die Tauschdynamik eines komplexen Warenmarktes von Angebot und Nachfrage einpasst. Für Theodor W. Adorno wären sie „der vom Fetischcharakter der Ware ergriffene Geist“45, dem gleichwohl normative Implikationen zu unterstellen sind als Vorstellungen vom freien, selbsttätigen Subjekt, Gerechtigkeit in der Verteilung von Gütern nach der Maßgabe von Leistung und Gegenleistung, politische Partizipation als freie Bürgerinnen und Bürger in einer demokratischen Gesellschaft im Strom eines freien Marktes. Es soll hier nicht bestritten werden, dass es entsprechender Kompetenzen bedarf und dass schulische Bildung sich für ihren Erwerb stark zu machen hat. Aber es muss mit gesagt und mit bedacht werden, dass Bildung, zumal religiöse Bildung mehr und anderes ist als die Vermittlung und der Erwerb markt- und konkurrenzfähiger Kompetenzen.46 Religiöse Bildung ist es nicht zuletzt deshalb, weil sie sich auf ein Versprechen bezieht, das insbesondere sich an die richtet, die nicht konkurrenz- und marktfähig sind, das eine Vision entwirft, die sich nicht in Tauschwerten standardisieren lässt und Heterogenität allenfalls unter dem Gesichtspunkt der Konkurrenzfähigkeit und ihres Marktwertes zulässt. Biblisch ist diese Vision als Auffassung vom Menschen und als Hoffnung formuliert. Der Mensch ist bereits als Verschiedener geschaffen, als Mann und Frau; nur in dieser Verschiedenheit ist der Mensch ganz Mensch. Er ist nach dem Bilde Gottes geschaffen; er ist also mehr als die
45
Adorno, Theodor W.: Theorie der Halbbildung, Frankfurt a. M. 2006, 36. Zum Bildungsbegriff und seiner Geschichte vgl. Benner, Dietrich, Brüggen, Friedhelm: Bildsamkeit/Bildung, in: Benner, Dietrich, Oelkers, Jürgen (Hg.): Historisches Wörterbuch der Pädagogik, Weinheim und Basel 2004, 174-215; Koselleck, Reinhart: Begriffsgeschichten, Frankfurt a. M. 2006, 105-158; zum Zusammenhang von Religion und Bildung vgl. Benner, Dietrich: Bildung und Religion. Überlegungen zu ihrem problematischen Verhältnis und zu den Aufgaben eines öffentlichen Religionsunterrichts heute, in: Battke, Anton u. a. (Hg.): Schulentwicklung – Religion – Religionsunterricht, Freiburg i. Br. 2002, 51-70; Wenzel, Knut: Glaube und Kultur unter dem Anspruch der Moderne. Die systematisch-theologische Relevanz der Bildung, in: Prostmeier, Ferdinand R. (Hg.): Frühchristentum und Kultur, Freiburg i.Br. 2007, 311-322. 46
160 Bilder, die man sich von ihm macht.47 Jede und jeder in ihrer bzw. seiner Einmaligkeit, Verschiedenheit ist nicht ersetzbar. Darin sind sich alle gleich. Alle sind auf Ewigkeit hin geschaffen. Das sprengt alle Standards, auch so genannte religiöse Bildungsstandards.48 Dieses Versprechen ist gewissermaßen Grundlegung und Zielperspektive jeglichen Bemühens um religiöse Bildung, auch in der Schule. Hier liegt der eigentliche theologische Grund für die Grenzen der Evaluierbarkeit des RU und nicht in der von den Bischöfen angeführten Begründung, man wisse halt nicht, wie Haltungen und Einstellungen, um die es dem konfessionellen RU gehe, erworben würden.49 Damit legt sich ein Verständnis von RU nahe, das die evaluierbaren Dimensionen, die er zweifellos auch besitzt, transzendiert, Lernperspektiven und -räume erschließt, in denen der Tauschwert von Bildung ausgesetzt ist. Das soll unter dem Begriff „Friedenszustand“, den ich Paul Ricoeurs „Wege der Anerkennung“50 entnehme, verdeutlicht werden.
4.2 RU als Friedenszustand Ich beginne mit einem Unterrichtsbeispiel aus der Grundschule. Vor etlichen Jahren betreute ich das Schulpraktikum einer Gruppe von Studierenden an einer Grundschule in Münster. Das Praktikum wurde in einer 4. Klasse durchgeführt. Etwa 20 Jungen und Mädchen, ausnahmslos katholischer Konfessionszugehörigkeit, nahmen am Religionsunterricht teil bis auf ein Mädchen, eine Muslima, die während der Religionsstunde im Lehrerzimmer beschäftigt wurde. Dass das Mädchen nicht am katholischen RU teilnahm, entsprach sowohl den schulrechtlichen und kirchlichen Vorgaben als auch dem Wunsch der Eltern des Mädchens. Zwei Studentinnen hatten die Aufgabe, mit der Klasse den Sonnengesang des Franziskus von Assisi zu 47 Vgl. Schambeck, Mirjam: „Weil es um den Menschen geht, wenn wir über Bildung reden...“ – Religionspädagogische Einmischung zur Debatte um Bildungsstandards, in: Sajak, Clauß Peter (Hg.): Bildungsstandards, 179-202, bes. 186ff. 48 Vgl. in diesem Zusammenhang auch die kritischen Überlegungen von Zwergel, Herbert: Grundlagen und Entwicklungen von Bildungsstandards unter Einbeziehung des Religionsunterrichts, in: Sajak, Clauß Peter (Hg.): Bildungsstandards, 107-148. 49 Vgl. Anmerkungen 28 und 29. 50 Ricoeur, Paul: Wege der Anerkennung, Frankfurt a. M. 2006, 274ff.
161 erarbeiten. Dabei sollten die Kinder die Besonderheit des Ordensgründers der Franziskaner aus dem 12. Jahrhundert kennen lernen und diesen Gesang als Ausdruck einer von tiefer Lebensfreude geprägten, achtungsvollen Einstellung zur Welt als Schöpfung Gottes. Franz von Assisi ist selbst ein Beispiel gelebter Besonderheit und sozialer Integrationskraft. Den Sonnengesang verfasste er gegen die Üblichkeit seiner Zeit, das Lateinische für Gebete zu verwenden, in italienischer Sprache. Der Gesang artikuliert das Religion eigentümliche Versprechen und ist als Hymnus zugleich eine Form religiöser Praxis.51 In der Übersetzung von Wolfram von den Steinen klingt der Lobpreis so: „Du höchster, du allmächtiger, guter Herrscher, Dein sind die Glorie, der Preis, die Ehre und jeglicher Segen, Dir nur, du Höchster, wenden sie sich entgegen, Und keiner der Menschen ist würdig, dich zu benennen. Gepriesen sei, du mein Herr, mit allen geschaffenen Wesen, Vor allem der Frau Sonne, der Schwester, Die Tag bringt, und du erleuchtest uns durch sie, Und schön ist sie und strahlend in hellem Entbrennen – Sie trägt ja deine Zeichen, du Höchster und Bester. Gepriesen sei, du mein Herr, durch Mond und Sterne, die Brüder, Du hast sie dem Himmel verliehen als lichte und köstliche Hüter. Gepriesen sei, du mein Herr, vom Bruder Winde Und von den Lüften und Nebeln und trüben Wettern und linden, Durch die du deinen Geschöpfen Erhaltung gewährst und Hilfe. Gepriesen sei, du mein Herr, durch Schwester Quelle, Ihr Wasser ist nützlich und keusch, demütig und helle. 51 Zum Stand der historischen Forschung um Franz von Assisi und seine Zeit vgl. Manselli, Raoul: Franziskus. Der solidarische Bruder, Zürich-Einsiedeln-Köln 1984; Feld, Helmut: Franziskus von Assisi und seine Bewegung, Darmstadt 1996; Bauer, Dieter R., Feld, Helmut, Köpf, Ulrich (Hg.): Franziskus von Assisi. Das Bild des Heiligen aus neuer Sicht, Köln 2005; Le Goff, Jacques: Franz von Assisi, Stuttgart 22007.
162 Gepriesen sei, du mein Herr, durch Bruder Feuer, Durch ihn lässt du die Nächte leuchten, Und er ist stark und mächtig und ist uns heilig und teuer. Gepriesen sei, du mein Herr, durch unsere Schwester, Mutter Erde, Die hilft, uns regieren und nähren, Und schenkt uns vielerlei Früchte, Buntblumen und Kräuter und Ähren. Gepriesen sei, du mein Herr, durch sie, die dir zuliebe vergeben Und Krankheit und Trübsal bestehen. Ja, selig alle, die in Frieden ertragen: Sie werden von dir, du Höchster, die Krone empfangen. Gepriesen sei, du mein Herr, durch unsern Bruder, den Tod der Leiber; Dem kann kein lebendes Menschenkind enteilen. Weh allen denen, die sterben in tödlichen Sünden – Heil allen, die je zu deinem heiligsten Willen sich finden, Der zweite Tod, wird denen nicht Schaden bringen. Preist meinen Herrn und spendet ihm Dank und Segen Und bleibt in großer Demut ihm untergeben.“52 Das Thema war auf vier Stunden angelegt. Die Studentinnen machten die Klasse nicht einfach nur mit dem Text vertraut, sondern ließen die Kinder mit ansprechenden Materialien in gemeinsamer Arbeit nach „künstlerischen“ Ausdrucksmöglichkeiten zur gestalterischen Umsetzung dieses Sonnengesangs suchen. Außerdem wurde Samen schnell wachsender Pflanzen, Kresse meiner Erinnerung nach, in Töpfen ausgesät, so dass sie im Verlauf der folgenden Woche das Wachstum selbst „erleben“ konnten. Mit Ernst und Begeisterung nahmen die Kinder die Anregungen der Studentinnen auf. Es entstanden große, farbenfrohe Bilder, unter anderem Kresse wuchs, und das Ganze nahm dann nicht nur vier Stunden in Anspruch, sondern sechs. Die Kinder erzählten von den Praktikumsstunden. Die Muslima wollte dar-
52 Franz von Assisi: Fioretti. Gebete – Ordensregeln – Testament – Briefe, übers. von Wolfram von den Steinen und Max Kirschstein, Zürich 1979, 7f.
163 aufhin unbedingt am Unterricht teilnehmen und erwirkte bei ihren Eltern, der Klassenlehrerin und mir bzw. den beiden Studentinnen die Erlaubnis dazu. Ihre Teilnahme war für niemanden ein Problem. In diesen Unterrichtsstunden spielte die religiöse Verschiedenheit keine Rolle. Die unterschiedlichen Leistungsfähigkeiten der Kinder spielten auch keine Rolle. Die ganze Unterrichtsreihe war so angelegt, dass sich die Kinder mit ihren individuellen Möglichkeiten unter Bezugnahme und in Auseinandersetzung mit dem Sonnengesang des Franz von Assisi gestalterisch einbringen konnten. Die kooperative Beschäftigung mit dem literarisch anspruchsvollen Text führte zudem dazu, dass die Interaktionen ein wechselseitiges Geben und Nehmen erforderten, das wünschbar, aber nicht einklagbar und schon gar nicht standardmäßig planbar ist. In dieser Unterrichtsreihe brachten die Kinder Kompetenzen ein und übten sie zugleich, die nicht domänen- bzw. fachspezifisch ausweisbar sind, wie sie das Klieme-Gutachten53 fordert, sondern sozial-kommunikative, sachkundliche und ästhetisch-expressive Kompetenzen in der Beschäftigung mit einem religiösen Traditionsbestand, die deutlich sichtbar waren, ohne messbar gewesen zu sein. Ricoeurs Begriff vom „Friedenszustand“ lässt die hier skizzierte Unterrichtsreihe recht gut erfassen.54 Unter „Friedenszustand“ versteht er einen Zustand, in dem die Prinzipien wechselseitigen, marktförmigen Tausches nicht abgeschafft, wohl aber ausgesetzt sind in dem Sinne, dass die Interaktionspartner sich in ihrer Heterogenität respektieren und zu Formen wechselseitig anerkennender Interaktionen und Transaktionen kommen. Den vorgestellten Unterricht kann man insofern als Friedenszustand im Sinne Ricoeurs charakterisieren, als sich die Mädchen und Jungen gemeinsam einem auch die religiöse Heterogenität überschreitenden Thema und Interesse widmeten (Sonnengesang/Schöpfung) und ohne marktwertorientierte Leistung-Gegenleistung-Beziehungen sich untereinander stützten im Vertrauen auf eine gemeinsame Verarbeitung des gebotenen Unterrichtsstoffes und in ihrer Freude daran. Sie erlebten sich als selbstmächtig und schöpferisch, in ihrer kooperativen Bezogenheit aufeinander und zugleich als besonders. Ihre eigenen Ideen zur Verarbeitung des Unterrichtsstoffes waren einzigartig und nicht austauschbar.
53 54
Vgl. Klieme, Eckhard u. a.: Entwicklung, 75 Vgl. hier und zum Folgenden insbesondere Ricoeur, Paul: Wege, 293ff.
164 Um dem Verdacht didaktisch-methodischer Sentimentalitäten vorzubeugen, ist an dieser Stelle zu sagen, dass sich dieser „Friedenszustand“ nicht von alleine herstellte, sondern sich im Zusammenspiel von Inhalt, Methode, vorher ausgehandelten Interaktionsregeln, elterlicher Zustimmung, Eigeninitiative der Kinder und einer unaufdringlichen, begleitenden und anleitenden Präsenz der Praktikantinnen einstellen konnte. Er wurde mit den Kindern gewissermaßen als solcher markiert.55
5. Schlussfolgerungen Mit Blick auf den Titel dieser Vorlesung lassen Sie mich in Form von fünf schlussfolgernden Thesen die vorangegangenen Ausführungen beenden. 1. Heterogenität ist phänomenal wie theologisch unhintergehbar. Alle Menschen sind Ebenbild Gottes in Verschiedenheit. 2. Religion hält für alle ein Versprechen bereit und ist Antwort darauf. 3. Darin liegen Grund und regulative Zielorientierung des RU. 4. Religionsunterricht hat ein Verstehen dieses Versprechens und seiner Antworten darauf zu erarbeiten und dabei Verschiedenheit respektierende Bezugnahmen der Schülerinnen und Schüler untereinander zu fördern. 5. Das kann ihm gelingen, wenn er auch als „Friedenszustand“ jenseits von Bildungsstandards angelegt wird. Mit dem letzten Punkt will ich nicht sagen, dass eine Didaktik, die sich ausschließlich an evaluierbaren Bildungsstandards orientiert, einen Gegensatz zum hier skizzierten Friedenszustand im Sinne von Krieg bildet, wohl aber im Sinne von Friedlosigkeit. Das kann nicht im Interesse einer konfessionell motivierten Religionsdidaktik sein, die zu ihrer substantiellen Grundlage ein universales Versprechen bereithält, dessen Bedeutung sie zu verstehen geben möchte. Angesichts der mit Macht vorangetriebenen Implementierung von Bildungsstandards auch für den konfessionellen RU bin ich gleichwohl zuversichtlich hinsichtlich der Begrenztheit ihrer Auswirkungen. Denn letz55 Nicht zuletzt deshalb ziehe ich diesen Begriff dem der Konvivenz von Barbara Asbrand, Leben, 228ff, oder der gängigen Zielvorstellung von Schule als Moratorium vor.
165 tlich, so zeigt es jedenfalls die Wirkung von Lehrplänen, setzt sich in der Schule das durch, was als hilfreich für eine pädagogisch wie didaktisch verantwortungsvolle Arbeit mit den Schülerinnen und Schülern erfahren wird, und nicht das, was von oben verordnet wird.56
56 Vgl. Oelkers, Jürgen: Bildungsstandards und Schulentwicklung: Probleme der Implementation, Vortrag im Pädagogischen Institut des Bundes in Salzburg am 7. Februar 2006, zu finden unter www.paed.unizh.ch/ap/home/vortraege (Stand: 8. 1. 08).
167
Vadim Oswalt
Historisches Lernen zwischen Heterogenität und Standardisierung Zu den im Titel enthaltenen Begriffen gibt es aktuelle und historische Perspektiven: Standardisierung kann im Sinne der aktuellen Bildungsreformen als Lösungsansatz zur Verbesserung heterogener durch unterschiedliche Faktoren verursachte Leistungsunterschiede verstanden werden. Blickt man auf den umfassenden Prozess der Modernisierung vieler heterogener Lebensbereiche seit um 1800, die mit Standardisierung einherging, dann ergibt sich eine dialektische Spannung, in der die Behauptung der Heterogenität der Lebenswelt gegen die nivellierenden Effekte dieses Prozesses ein wichtiges Korrektiv darstellte und weiterhin darstellt. Für die Fachdidaktiken stellen beide Begriffe zentrale Herausforderungen dar, denn zum einen sind im Begriff Heterogenität zentrale Aspekte enthalten, die die Wandlungsprozesse der lebensweltlichen Bedingungen beschreiben, in die schulisches Lernen eingebettet bleibt. Standardisierung hingegen bezieht sich auf die normativen Forderungen, die auf der Grundlage fachdidaktischer Reflexion einen Konsens zur Vereinheitlichung von Bildungszielen herstellt. Der Rückbezug auf die im Fach liegenden Denkmodi führt hierbei zu der zentralen Brücke in diesem Spannungsgefüge zwischen Lebenswelt und zu definierenden Bildungszielen (oder auch Kompetenzen), da nur sie erklären helfen, warum ein bestimmtes Fach zur Welterfahrung oder -erschließung unabdingbar ist.1 Insofern bilden den Ausgangspunkt dieser Überlegungen einige knappe Anmerkungen zum Modus historischen Denkens. Aus diesen wird erklärlich, warum der Begriff Heterogenität doppelt gedeutet werden muss: Zum einen als historischem Denken zumal in einer demokratischen Gesellschaft grundlegend immanentes Prinzip, zum anderen als im Zuge gesellschaftli1
Gerhard Henke-Bockschatz/Ulrich Mayer/Vadim Oswalt, Historische Bildung als Dimension einer Kerncurriculums moderner Allgemeinbildung, in: GWU, 12 (2005), S. 703-710.
168 cher Wandlungsprozesse zunehmend in Lernprozesse zu integrierende Herausforderung. Standardisierung, der zweite Pol dieser Ausführungen, wird ausgehend von der aktuellen Debatte um Bildungsstandards beschrieben und erste Entwürfe werden erläutert. Am Beispiel Medien soll exemplarisch gezeigt werden, welche Probleme sich gerade im Fach Geschichte bei der Definition von Kompetenzen stellen und wie gerade die Polyvalenz historischen Denkens hierbei Grenzen setzt. In einem Resümee geht es noch einmal um die Frage des Verhältnisses von Heterogenität und Standardisierung im Hinblick auf das historische Lernen.
1. Ein Ausgangspunkt: Geschichte als „Sinnbildung über Zeiterfahrung“ In wenigen Sätzen etwas über Geschichte und „Historisches Denken“ zu sagen, stellt sicher ein vermessenes Unterfangen dar, das sich auf wenige grundsätzliche Bemerkungen beschränken muss. Geschichte ist in sich ein vielschichtiger Begriff: In der alltagsweltlichen Vorstellung der Geschichte herrschen zwei Bedeutungen vor 1. das Geschehen an und für sich und 2. die Kunde vom Geschehen, die eine Einheit zu bilden scheinen. Eine wissenschaftliche Auffassung des Begriffs Geschichte sieht historisches Denken nicht als Abbild des Ereignisses, sondern als einen hochgradig selektiven, auf bestimmte Fragestellungen bezogenen und an bestimmte methodische Regeln geknüpften kognitiven Verarbeitungsprozess an. Insofern stoßen im Schulalltag immer wieder zwei grundlegende Auffassungen über das Wesen des historischen Denkens aufeinander: 1. Geschichte als Akkumulation historischen Wissens und 2. Geschichte als Verarbeitungsmodus historischen Wissens. 2
2 Hans-Jürgen Pandel, Strategien geschichtsdidaktischer Richtlinienmodernisierung. Reduktion – Strukturierung – Konstruktion, in: Josef Keuffer (Hg.), Modernisierung von Rahmenrichtlinien. Beiträge zur Rahmenrichtlinienentwicklung, S. 106 ff.
169
Empirische Untersuchungen bestätigen, dass die „preconceptions“ der Schüler in der Regel von dem alltagsweltlichen Begriff von Geschichte ausgehen und eine Vermittlung eines methodisch gespeisten Geschichtsbegriffs oftmals nur partiell gelingt.3 Eine Gemeinsamkeit beider Auffassungen besteht darin, dass Geschichte primär mit der Dimension Zeit zu tun hat. Die Auffassung, Geschichte als Akkumulation historischen Wissens anzusehen, orientiert sich am Verlauf der Geschichte und misst ihn in Jahreszahlen, Epochen, Jahrhunderten usw. Eine Theorie des Geschichtsbewusstseins hingegen sieht historisches Denken als „Sinnbildung über Zeiterfahrung“ an, auf die nicht die Vergangenheit, sondern die Gegenwartserfahrung, teilweise sogar die Zukunftserwartung, den maßgeblichen Einfluss ausüben.4 Oftmals herrscht der Eindruck vor, dass Geschichte ständig neu geschrieben werden muss, weil es etwa neue Quellenfunde gibt – dies ist in den wenigsten Fällen der Grund. Es ist vielmehr vor allem das ständig auf einer Zeitachse fortschreitende „Jetzt“ und die mit ihm verknüpften Erfahrungen, die immer neue Deutungsangebote von Geschichte generieren. Der ständige Umbau des historischen Denkens, das sich durch das Fortschreiten auf der Zeitachse ständig neu orientierende Geschichtsbewusstsein hat Edmund Husserl (1859 – 1938) in seinen Reflexionen zur Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins beschrieben und dabei die Paradoxie festgehalten, dass wir die Wandlungen des Historischen Denkens deshalb nicht wahrnehmen, weil wir die Gegenwart als etwas Unveränderliches empfinden: „Mit der Wiederholung des Vergangenen als dem Erinnerten einer Gegenwart, die auf Erwartungen der Zukunft bezogen ist, bleibt das Erinnerte nicht Dasselbe, sondern erweist sich gerade in seiner Kontinuität als ein je Verschiedenes.“ 5 Es geht also um die beständige Integration der unterschiedlichen Zeitebenen im Jetzt, durch die sich, wie Augustinus einmal gesagt hat, die Seele vor dem Sichzerstreuen in den Zeiten bewahrt. Die Integration dieser Zeitebenen, so 3
Vgl. u.a. Bodo von Borries, Das Geschichtsbewußtsein Jugendlicher. Eine repräsentative Untersuchung über Vergangenheitsdeutungen, Gegenwartswahrnehmungen und Zukunftserwartungen von Schülerinnen und Schülern in Ost- und Westdeutschland, Weinheim/München 1995. 4 Karl Ernst Jeismann, Geschichtsbewusstsein – Theorie, in: Klaus Bergmann, u.a. (Hg.), Handbuch der Geschichtsdidaktik. 5. überarb., Seelze – Velber, 1997, S. 42 ff. 5 Zitiert nach: Dirk Rustemeyer, Zeit und Zeichen, in: Jörn Rüsen (Hg.), Zeit deuten. Perspektiven – Epochen – Paradigmen, Bielefeld 2003, S. 54 – 81.
170 hat bereits Aristoteles festgestellt, geschieht nicht in der Form des Zeitmessens, sondern in der Sprache. Nur die Sprache erlaubt eindeutige Zuordnungsverhältnisse, „in denen sich Substanz und Akzidens, Bleibendes und Veränderliches, trennen lassen.“ Alle Geschichte manifestiert sich also in Erzählungen, sog. sinnbildenden Narrationen, und genauso wie in den anderen Wissenschaften haben sich in der Geschichtswissenschaft Zweifel an der „großen“ Narration eingestellt. Wir müssen also Geschichte als ein Konstrukt geleitet von den Bedürfnissen der Gegenwart her denken, auch wenn es – wie Historiker immer wieder betonen – es so etwas wie ein Eigenrecht der Vergangenheit gegenüber der Gegenwart gibt. Die Umgangsformen mit der Vergangenheit sind ein eigenes Thema der Geschichtstheorie und sind in den letzten Jahren im Zeichen der Diskussion um Geschichtskultur und Erinnerungskulturen verstärkt diskutiert worden. Theoretische Ansätze hierzu lieferten vor allem Friedrich Nietzsche, Jörn Rüsen und Jan und Aleida Assmann. Friedrich Nietzsche sprach von drei Arten der Historie, der antiquarischen (bewahrenden), der monumentalischen und der kritischen.6 So kann es um die Befreiung von als übermächtig empfundener Traditionsbestände der Vergangenheit gehen, der nur durch einen kritischen historischen Denkmodus möglich ist, der in Bilderstürmerei und einer Damnatio memoriae enden kann, etwa wenn in Venezuela Mitglieder eines Indianerstamms ein Denkmal Christopher Kolumbus vom Sockel stürzen. Im Hinblick auf die Kriegsgeneration und ihre Traumata arbeiten Historiker inzwischen mit der Psychotherapie zusammen, die versucht, die Gegenwart vom Druck einer übermächtigen Vergangenheit zu befreien. In vielen alltagskulturellen Formen sind diese Umgangsformen mit der Vergangenheit verankert. So entstammt der aktuelle Trend zur Fassadenarchitektur und zur Rekonstruktion historischer Bauten einer scheinhaften Bewahrung des Historischen.7 Orientierung und Identitätsbildung bilden den Kern des historischen Deutungsprozesses. Es gehört zum Denkmodus des Historischen, dass er 6 Friedrich Nietzsche, Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben (Unzeitgemässe Betrachtungen. Zweites Stück: 1874), Ditzingen 1986. 7 Gerhard Henke-Bockschatz, : Fassade oder Zeugnis? Über den Erhalt und Nachbau alter Gebäude, in: Vadim Oswalt/Hans-Jürgen Pandel, Geschichtskultur. Die Anwesenheit der Vergangenheit in der Gegenwart, Schwalbach/Ts. 2008.
171 offensichtlich gerade dann immer wichtiger wird, wenn sich das Ausmaß historischen Wandels immer mehr beschleunigt. Die Zunahme der Orientierungsnotwendigkeit seit 1800 in einer säkulareren Welt hat dem Fach Geschichte einen Aufschwung beschert. Der immer schnellere gesellschaftliche Wandel musste mit diesseitigen rational fassbaren Kriterien erklärbar werden.8 Seit dieser Zeit gehörte das Fach Geschichte zum festen Fächerkanon der Schule, zunächst im Gymnasium, für die breite Masse der Bevölkerung war es den Herrschenden zu ideologieverdächtig, so dass es sich in den Volksschulen erst seit den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts als eigenes Fach etablieren konnte.
2. Heterogenität als Kennzeichen historischen Denkens in der Postmoderne Aus dem starken Einfluss der Gegenwart auf die Wahrnehmung der Vergangenheit wird deutlich, dass jeder wie auch immer geartete gesellschaftliche Veränderungsprozess auch einen profunden Einfluss auf alle Formen geschichtlichen Denkens haben muss. Die Zunahme gesellschaftlicher Heterogenität muss insofern profunde Auswirkungen auf alle Aspekte historischer Deutung haben. Dies lässt sich auf mehreren Ebenen beschreiben. Ausgangspunkt bildet zunächst die Frage nach den Folgen der Leistungsheterogenität, wie sie die internationalen Vergleichsstudien wie PISA und TIMMS offen gelegt haben. Darüber hinaus stellt sich die Frage, welche Auswirkungen Phänomene von Heterogenität wie die Pluralisierung kultureller Orientierungen vor allem durch Medieneinflüsse und durch den Migrationshintergrund vieler Schüler auf das historische Lernen haben. Eine umgekehrte Fragerichtung verfolgt ein Abschnitt zum Verhältnis von historischem Denken und Heterogenität, der danach fragt, inwiefern gerade das Fach Geschichte für die Vermittlung von Erkenntnissen über und Umgangsformen mit Heterogenität besonders geeignet ist.
8
Reinhart Koselleck, Zeitschichten. Studien zur Historik. Frankfurt/M 2000.
172
2.1 Leistungsheterogenität als Problem historischen Lernens Heterogenität meint im Sinne der Vergleichsstudien von PISA und TIMMs zunächst Leistungsheterogenität, die unter sozialen, geschlechtsspezifischen, regionalen usw. Kategorien beschrieben wird. Zwar haben diese empirischen Untersuchungen historische Fertigkeiten an sich nicht untersucht, aber ihre Ergebnisse besitzen für das Fach Geschichte durchaus Relevanz. Reichen die basalen Fertigkeiten von Schülerinnen und Schülern aus, um einen methodisch reflektierten Zugang zu historischen Fragen zu gewinnen? Auf einer grundlegenden Ebene trifft eine verminderte Lesekompetenz das Fach Geschichte besonders hart. Textkompetenz ist nämlich nicht nur notwendig, um Darstellungen in den Lehrwerken zu rezipieren – auch hier sind die Befunde mehr als ernüchternd –, sondern auch um Textquellen vergangener Zeiten zu interpretieren. Für Schüler sind diese sprachlich fremden Zeugnisse „harte Nüsse“, die zu knacken sie nur in der Lage sind, wenn sie erhebliche sprachliche Fertigkeiten besitzen. Schließlich müssen sie archaisierende Sprachformen und eine teilweise unbekannte Lexik genauso wie die andersartige Semantik von Begriffen, die aus der Alltagssprache anscheinend vertraut sind, erschließen.9 Die Tendenz, in Schulbüchern, Kürzungen, Vereinfachungen usw. vorzunehmen, stellt demgegenüber keine wirklich befriedigende Lösung im Hinblick auf die heterogenen Vorbedingungen historischen Lernens dar. Nicht im Rahmen der internationalen Vergleichsstudien berücksichtigt ist die so genannte „Media-Literacy“, da Geschichte – als Fach ohne Primärerfahrung – prinzipiell nur in medial vermittelter Form vergegenwärtigt werden kann. Für die Geschichtsdidaktik haben bereits die empirischen Studien Bodo von Borries in den 90er Jahren erhebliche Defizite bei den Resultaten historischen Lernens, unter anderem auch ein mangelndes Leseverständnis von Geschichtsschulbüchern, festgestellt.10 Vor allem auch im Hinblick auf 9 Helmut Beilner, Quellen, schriftliche, in: Ulrich Mayer u.a. (Hg.), Wörterbuch Geschichtsdidaktik, Schwalbach/Ts. 2006, S. 148. Vgl. Martina Langer-Plän, Problem Quellenarbeit. Werkstattbericht aus einem empirischen Projekt, in: GWU 54 (2003), S. 319 – 336. 10 Bodo von Borries, Das Geschichtsbewußtsein Jugendlicher. Eine repräsentative Untersuchung über Vergangenheitsdeutungen, Gegenwartswahrnehmungen und Zukunftserwartungen von Schülerinnen und Schülern in Ost- und Westdeutschland, Weinheim / München 1995.
173 Fremdverstehen fand er erhebliche Schwächen der Schüler. Hierbei wurde bereits deutlich, dass Heterogenität zum Stolperstein für historisches Lernen wird, wenn basale Fertigkeiten fehlen, die für einen rational kontrollierten Umgang mit der Vergangenheit notwendig sind. Hier sind vor allem die Teilkompetenzen zu nennen, die mit dem sprachlichen Operationsvermögen im Zusammenhang stehen. In Folge der Ergebnisse von PISA ist vor allem die Bedeutung der Lese- und Schreibkompetenzen für die historische Bildung thematisiert11 (Günther-Arndt) und im Hinblick auf die schulische Quellenarbeit empirisch untersucht worden (Beilner, Langer-Plän).
2.2 Kulturelle Heterogenität und die Pluralisierung der Erinnerungskulturen Gesellschaftliche Heterogenität wirkt sich aber noch in vielfältiger Weise auf die Arbeit im Geschichtsunterricht aus. Prozesse gesellschaftlichen Wandels bedingen eine zunehmende Individualisierung, Fragmentierung und Pluralisierung der Erinnerungskulturen, die einen starken Niederschlag auf historische Lernprozesse haben. Die Darstellung konzentriert sich auf zwei Punkte, die sich gerade in historischen Lernprozessen als besonders zentral erweisen: Medialisierung der Erinnerung und Migration: Medialisierung der Erinnerung: In der Postmoderne (oder der eigentlichen Moderne) verändern sich die Formen, in denen historische Erzählungen transportiert werden und diese sind eine der Ursachen für die Heterogenität (teilweise auch Konformität) von Erinnerung. Während die Funktionen des kommunikativen Gedächtnisses – der intergenerational vermittelten Geschichte – abnimmt (Die hohe Zahl der Ehescheidungen spielt hier eine Rolle), steigt der Anteil medial vermittelter Geschichte an. Die Geschichtsdidaktik operiert hier mit dem Begriff Geschichtskultur,12 der alle Formen von Geschichte in der Öffentlichkeit, d.h. Filme wie „Der Untergang“, Fernsehen, historische Romane, Comics, living history, Reinszenierungen von Geschichte, Gedenktage, Museen, Compu-
11 Hilke Günther-Arndt, PISA und der Geschichtsunterricht, in: Hilke Günther-Arndt (Hg.): Geschichtsdidaktik. Praxishandbuch für die Sekundarstufe I und II. Berlin 2003, S. 254–262. 12 Vadim Oswalt/Hans-Ulrich Pandel (Hg.), Geschichtskultur. Die Anwesenheit der Vergangenheit in der Gegenwart, Schwalbach/Ts. 2008.
174 terspiele, Internet, Musikclips wie Walter Moers rappender Hitler im Bonker usw. einschließt. Die Didaktik der Geschichte trägt mit der Kategorie Geschichtskultur dem Umstand Rechnung, dass Geschichte im Alltag in vielerlei Ausprägungen erscheint und diese oft mächtiger auf das Geschichtsbewusstsein einwirken als die klassischen Bildungsinstitutionen. Diese Manifestationen der Geschichtskultur haben den Institutionen historischer Bildung (Schule, Universität) in ihrer Wirkmächtigkeit längst den Rang abgelaufen und dringen selbst – das zeigen jedenfalls empirische Untersuchungen – in das kommunikative Gedächtnis ein. So zeigt eine – im Fach nicht unumstrittene Untersuchung – von Harald Welzer „Opa war kein Nazi“, dass im familiären Gedächtnis der Interviewpartner mediale Versatzstücke aus Filmen auftauchen, die aber als Teil der authentischen Familienerinnerung behandelt werden.13 Es reicht nicht mehr aus, solche Manifestationen der Geschichtskultur als reine Geschichtsklitterung zu behandeln, sondern historisches Lernen muss auch ihre spezifischen Erzählmodi entschlüsseln und vermitteln. Migration: Deutschland ist ein Einwanderungsland, das durch ethnische, kulturelle und religiöse Vielfalt gekennzeichnet ist. Dies wirft Fragen auf zwei Ebenen auf, zum einen eine curriculare – d.h. welche Geschichte der Multikulturalität vieler Klassen gerecht wird, und zum anderen eine methodisch-konzeptuelle, nämlich wie im Geschichtsunterricht mit unterschiedlichen Formen historischen Denkens umgegangen wird. Wie komplex die dabei entstehenden Fragen sind, lässt sich sehr gut an dem Thema Nationalsozialismus zeigen. Ist bei deutschen Schülerinnen und Schülern eine beträchtliche Unsicherheit, teilweise eine „Konventionalisierung“ im Hinblick auf dieses zentrale Thema festzustellen,14 so existieren bei Schülern mit Migrationshintergrund sehr komplexe Gemengelagen, stellt doch die Anerkennung der schrecklichen Verbrechen an den europäischen Juden, der Eintritt in die „Schicksals-, Verantwortungs- und Haftungsgemeinschaft“ (Georgi), einen zentralen Teil der deutschen Identität dar. Die Zugehörigkeit zur Mehrheitsgesellschaft wird also historisch über den Umgang mit dem „negativen Eigentum“ (Jean Améry) der „normativ-einheitsstiftende Bedeutung der
13 Harald Welzer u.a. (Hg.), Opa war kein Nazi. Nationalsozialismus und Holocaust im Familiengedächtnis. Unter Mitarbeit von Sabine Moller und Tschuggnall. Frankfurt am Main 2002. 14 Wolfgang Meseth/Matthias Proske/Frank-Olaf Radtke (Hrsg), Schule und Nationalsozialismus. Anspruch und Grenzen des Geschichtsunterrichts, Frankfurt am Main 2004.
175 Vergangenheitsbewältigung“ der Aufnahmegesellschaft verhandelt.15 Auch der historische Hintergrund der Migranten wirft solche Fragen auf, so dass z.B. die Tabuisierung des Völkermords an den Armeniern durch die Türkei – zum Konfliktfeld der Lehrplangestaltung wurde, der sogar diplomatische Verwicklungen auslöste.16 Migration wirft noch weitere z. B. curriculare Fragen auf: In welche Erzählung wird Geschichte im Zeichen der Globalisierung künftig eingebettet? Welche Geschichte ist adäquat, wenn in manchen Schulformen längst Kinder der Einwanderer die Mehrzahl bilden? In anderen Staaten, namentlich den USA und Italien, hat die Frage über das Verhältnis von Weltgeschichte und Nationalgeschichte zu teilweise erbitterten Debatten geführt.17
2.3 Geschichte als Vermittler von Heterogenität In ihrem Alltagsverständnis setzen sich viele Menschen zunächst mit ihrer eigenen Geschichte auseinander, da sie über Geschichte kollektive Identitäten ausbilden. Diese können politisch (Volk, Nation etc.), sozial (Bürgertum), aber auch regional (Bayern, Hessen etc.) definiert sein. Für eine vertiefte wissenschaftliche Auffassung von Geschichte hingegen bildet Heterogenität einen Kern der Grammatik des historischen Denkens: Nur wer die Verschiedenartigkeit sozialer und kultureller Lebensbedingungen und Wertvorstellungen als einen Normalfall menschlicher Gesellschaften begreift, kann ein reflektiertes historisches Denken entwickeln. Geschichtswissenschaft und -unterricht setzen sich von der Steinzeit bis zur Zeitgeschichte mit heterogenen, weil grundsätzlich „fremden“ Welten auseinander – Hetero15 Mit sehr sprechenden Beispielen Viola B. Georgi, Jugendliche aus Einwandererfamilien und die Geschichte des Nationalsozialismus, in: Politik und Zeitgeschichte, H. B40-41 (2003), S. 40–46. Zu Umgangsformen mit dem Thema Nationalsozialismus in der deutschen Öffentlichkeit bzw. die Bedeutung des juristischen Umgangs mit dem Thema: Markus Bernhardt, Holocaustleugnung und Strafrecht als erinnerungskulturelles Phänomen, in: Vadim Oswalt/Hans-Jürgen Pandel, Geschichtskultur, Schwalbach/Ts. 2008. 16 Im Jahre 2005 wurde der Völkermord an den Armeniern nach diplomatischem Druck in Brandenburg vom Lehrplan gestrichen, dann auf Druck des Landtags in modifzierter Form wieder aufgenommen. 17 Luigi Cajani, Zur Lage der Geschichtsdidaktik in Italien, in: Internationale Schulbuchforschung, 3/2002, S. 327 ff.
176 genität ist also der Normalfall der Geschichte. Alteritätserfahrung über die Auseinandersetzung mit der Logik andersartiger sozialer Systeme bildet einen der schwierigsten Bereiche historischer Urteilsbildung. Schließlich sollte am Ende die Einsicht in die Andersartigkeit von Moralvorstellungen ohne die Aufgabe der eigenen in einer demokratischen Ordnung verankerten Werte erfolgen. Aber auch auf der Gegenwartsebene der Vergangenheit sind viele Aspekte von Heterogenität verankert. Schließlich werden historische Prozesse von den Beteiligten – etwa im Fall der Kreuzzüge – unterschiedlich erlebt und erlitten (Multiperspektivität). Und nicht umsonst bildet die „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“ eine zentrale historische Kategorie. Zudem hat die kulturwissenschaftliche Orientierung (cultural turn) der Geschichtswissenschaft die Fremdheit vergangener Welten und Mentalitäten besonders prägnant werden lassen. Die Vergangenheit ist grundsätzlich ein „fremdes Land“. Wer es betritt, muss sich mit der Logik völlig andersartiger sozialer Systeme auseinandersetzen. Vor diesem Hintergrund werden auch Überlegungen in der Didaktik der Geschichte verständlich, die sich mit dem Verhältnis von Interkulturalität und historischer Bildung befassen und die im historischen Denken verankerten Alteritätserfahrungen als Möglichkeit zur Toleranzerziehung beschreiben.18 Zwischen den Gegenständen und den Vorbedingungen historischen Denkens besteht eine enge Beziehung. Diese lässt sich am Beispiel der Kategorie Gender gut aufzeigen. Vorstöße zur Stärkung der Geschlechtergeschichte im historischen Lernen führten zunächst zu einem „additiv-kompensatorischen“ Ansatz, also dem Hinzufügen von ergänzenden Frauenthemen, die an vielen Stellen eine recht isoliertes Dasein als die „Frauenstunde“ einer Unterrichtseinheit fristeten. Hinzugetreten und immer zentraler geworden ist dann die Frage, ob es spezifisch weibliche oder männliche Sichtweisen von Geschichte generell und speziell bei Schülerinnen und Schülern gibt.19 18
Bettina Alavi, Interkulturelles Geschichtslernen, Zeitschrift für Geschichtsdidaktik (2002), 123–137. 19 Vgl. Brigitte Dehne, Gender im Geschichtsunterricht. Das Ende des Zyklopen, Schwalbach/Ts. 2006. Zu Frage der empirisch feststellbaren geschlechterspezifischer historischer Sichtweisen bei Schülerinnen und Schülern: Michele Barricelli, Mütter, Minnas, Bleisoldaten. Empirisch-hermeneutische Untersuchungen zur Frage des Geschlechteraspekts in historischen Schülererzählungen, in: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik, 2004, S. 103-124.
177
3. Bildungsstandards – ein heterogener Diskussionsstand Wer die curricularen Diskussionen seit den Achtziger Jahren verfolgt hat, wird bei dem durch die großen empirischen Vergleichsstudien PISA und TIMMS ausgelösten Wandel der bildungspolitischen Diskussion einen deutlichen Wechsel der Koordinaten feststellen. So hat die aktuelle Diskussion um Bildungsstandards bestimmte Themen gründlich vom Tisch gewischt. Von Schlüsselproblemen20, deren Einarbeitung in fachübergreifende Aspekte etwa im Lehrplan Schleswig-Holstein die Gemüter in den neunziger Jahren bewegte, inzwischen nirgendwo mehr die Rede. Auch das einst hoch gepriesene fächerübergreifende Lernen ist inzwischen der Forderung nach domänenspezifischem Lernen gewichen. Die Debatte um Schlüsselprobleme setzte auf curriculare Akzente (Behandlung von Migration, Medien etc.), während nun die Beherrschung und Kontrolle (Output-Orientierung) bestimmter Kompetenzen in das Zentrum der Diskussion gerückt sind. Man wird zwar zunächst argumentieren, dass diese Aspekte nicht unvereinbar sind, tatsächlich zeigt sich an den bisher erlassenen Bildungsstandards, dass es sich um eine erhebliche Akzentverschiebung handelt. Auch wenn die Neuentwicklung von Lehrplänen sich ständig neu generiert – und dies in der bundesdeutschen kleinstaatlichen Freude am eigenen Lehrplan immer sechzehnfach, – dann ist die momentane Situation doch eine gänzlich neue. Die Entwicklung von Bildungsstandards greift nicht auf fachdidaktische Modelle zurück, sondern sie greift in die fachdidaktische Diskussion ein. So ist in der Geschichtsdidaktik die Diskussion – die ohnehin später begann als in den großen Fächern Deutsch und Englisch – in dieser Frage längst nicht abgeschlossen, während die ersten Bildungsstandards bereits in Kraft treten. Auch gab es in der Geschichtsdidaktik keine Diskussion um Kompetenzen vor der aktuellen Diskussion um Bildungsstandards. Da Grundlage dieser Überlegungen die Frage ist, worauf der Beitrag eines Faches zur Welterklärung beruht, wäre es eher verwunderlich, wenn darüber eine schnelle Einigung erzielt werden könnte. Denn schließlich
20 Dietmar von Reeken, Wer hat Angst vor Wolfgang Klafki? Der Geschichtsunterricht und die „Schlüsselprobleme“, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht H. 5-6 (1999), S. 292-304.
178 existieren die Fächer an und für sich nicht, sondern immer nur unterschiedliche Konzeptionen eines Faches. Für die Geschichtsdidaktik sind deshalb in den letzten Jahren eine ganze Reihe an unterschiedlichen Modellen vorgelegt worden, die eine Systematik für Bildungsstandards entwerfen.21 Das Schema gibt eine Auswahl der in einigen Vorschlägen verwendeten Begriffe zur Definition von Kompetenzen für das Fach Geschichte wieder: Der Vorschlag des Geschichtsdidaktikers Hans-Jürgen Pandel, den er in seinem Buch Geschichtsunterricht nach PISA entwickelt hat.22 Das Modell „FUER-Geschichtsbewusstsein“ wurde von einer Arbeitsgruppe entworfen, der Geschichtsdidaktiker und auch Geschichtslehrer angehören.23 Der Geschichtslehrerverband hat mit dem Geschichtsdidaktiker Michael Sauer zum Historikertag 2006 in Konstanz ein eigenes Modell vorgelegt, das für die gymnasiale Mittelstufe konzipiert war. Ein Blick über die deutschen Grenzen hinweg richtet sich auf den Schweizer Geschichtsdidaktiker Peter Gautschi (Aarau)24 und schließlich auf den angelsächsischen Raum mit den amerikanischen „Standards of Historical Thinking“.25 Ein erster Blick auf die gewählten Terminologien lenkt den Blick auf einige Grundfragen im Hinblick auf die Entwicklung von Bildungsstandards für das Fach Geschichte. Teilweise übernehmen die Modelle einzelne Begriffe aus dem seit der so genannten Klieme-Expertise oftmals als allgemeines Raster genutzten Sach- (oder Fach-), Methoden-, Sozial- und Personal- bzw. Selbstkompetenzen. Einige schließen an spezifisch geschichtsdidaktische Konzepte an (Geschichtskultur, Narrativität), beziehen Aspekte der Historik (Fragekompetenz, Erschließungskompetenz etc.) oder andere Anleihen aus der Theorie wie dem aus dem Poststrukturalismus stammenden Begriff von „DeKonstruktion“ mit ein. Ohne die einzelnen Modelle einer Kommentierung zu unterziehen, werden deshalb vor allem systematische Fragen anhand der 21
Die Situation unterscheidet sich also grundlegend von der Politikdidaktik, die bereits frühzeitig einen entsprechenden Entwurf publizierte (Vgl. in diesem Zusammenhang den Beitrag von Wolfgang Sander in diesem Band). 22 Hans-Jürgen Pandel, Geschichtsunterricht nach PISA. Kompetenzen, Bildungsstandards und Kerncurricula. Schwalbach/Ts 2005. 23 Waltraud Schreiber, Ein Kompetenz-Strukturmodell historischen Denkens, in: Zeitschrift für Pädagogik, Jg. 54, H. 2 (2005), S. 198–212. 24 Peter Gautschi, Kompetenzmodell für den Unterricht, Aarau 2006. 25 http://nchs.ucla.edu/standards/
179 gewählten Begriffe erörtert, die Kernfragen im Hinblick auf die Entwicklung von Bildungsstandards markieren.
3.1 Erschließungs- und Interpretationskompetenz: Die Historische Methode als Rahmenkonzept Die Historische Methode (oder auch Historisch-kritische Methode), die seit Leopold von Ranke die Grundlage der Arbeit des Historikers bildet, spielt in den meisten deutschen Entwürfen eine zentrale Rolle. Die Historische Methode beruht auf drei Schritten, die von der Heuristik (Entwicklung der Fragestellung, Sammlung der Quellen, Entwicklung von Hypothesen), über die Kritik (Informationsentnahme aus den Quellen und die Prüfung ihrer Plausibilität) hin zur Interpretation (Antwort auf die historische Frage und Herstellen eines sinn- und bedeutungsvollen zeitlichen Ablaufs) führt. Diese zirkuläre Struktur bildet sich auch in den Artikulationsstufen vieler idealtypischer Geschichtsstunden ab.26 Dass diese Orientierung an den Quellen einer spezifisch deutschen Fachtradition entspringt, macht der Vergleich mit angelsächsischen Kompetenzmodellen deutlich, die den Quellenaspekt wesentlich nachrangiger behandeln. Die Standards in Historical Thinking (USA) nutzen etwa historische Bildung auch zur Schulung der Beurteilung und Entscheidungsfindung in geschichtlichen Dilemma-Situationen zur Moralerziehung („5. Historical Issues-Analysis and Decision Making“). Die deutsche Tradition historischen Lernens geht davon aus, dass der Denkmodus des Historischen ohne den geschulten Umgang mit Quellen, den Spuren der Vergangenheit, die im Geschichtsunterricht denselben Stellenwert wie die Arbeit mit Versuchsanordnungen in Chemie, Biologie und Physik einnehmen, schlechterdings unmöglich sei.27 Begriffe wie Frage-, 26 Hans-Jürgen Pandel, Artikulationsformen, in: Ulrich Mayer, Hans-Jürgen Pandel/Gerhard Schneider (Hrsg), Handbuch Methoden im Geschichtsunterricht, Schwalbach/Ts., 2004, 577594. 27 „Denn von tieferem historischen Denken kann erst die Rede sein, wenn Geschichte als perspektivisch- standortgebundene Rekonstruktion auf der Basis von Quellen erfasst ist, und das gelingt nur über den direkten Umgang mit Quellen.“ Helmut Beilner, Was kann Herodot den Schülern sagen?, in: Beilner, Helmut/Martina Langer-Plän (Hg.), Quellen in Geschichtswissenschaft und Geschichtsunterricht. Exemplarische Zugänge zur Rekonstruktion von Vergangenheit, Regensburg 2004, S. 103 – 126.
180 Erschließungs-, Interpretations- oder Deutungskompetenz lassen sich als Teil der Historischen Methode interpretieren. Dass es dennoch Unterschiede zwischen den Modellen gibt, die sich stark an der Historischen Methode orientieren, hat mehrere Gründe. Differenzen zwischen den Entwürfen sind zum einen darauf zurückzuführen, dass die Einschätzung, was im historischen Denken den Status einer Kompetenz erhält, differiert. Nach Weinert ordnen sich Routinen, Techniken etc. den Kompetenzen unter. Wenn in einem Modell z.B. von Erschließungskompetenz (Gautschi) gesprochen wird, in einem anderen von Fragekompetenz (FUER-Geschichtsbewusstsein), dann setzt das erste Modell einen breiteren Rahmen im Sinne der Heuristik, während das zweite eine Kompetenz im Grunde mit einer einzigen Fähigkeit gleichsetzt.28 Zum anderen werden die in der Historischen Methode enthaltenen Schritte zum Teil mit weiteren Theoriekonzepten aufgeladen. Dies ist besonders bei dem Modell von „FUER-Geschichtsbewusstsein“ der Fall, das die historische Erkenntnisgewinnung in eine Konzeption von „De- und Rekonstruktion“ einspannt. Gerade die Nutzung des poststrukturalistischen „De-Konstruktionsbegriffs“ hat in der Geschichtsdidaktik Zweifel geweckt, da er ja eine Auflösung des Referenzobjekts beinhaltet („il n’y a pas de hors-texte“).29 Das würde nicht nur die Auflösung des Historischen insgesamt bedeuten, sondern auch die Frage aufwerfen, ob es überhaupt noch eine Grenze zwischen den philologischen und den gesellschaftswissenschaftlichen Fächern gibt.
3.2 Sachkompetenz: Das ungeklärte Verhältnis von Kompetenzen und Inhalten An dem Begriff Sachkompetenz lässt sich zeigen, dass das Verhältnis zwischen Kompetenzen und Inhalten ungeklärt ist. Die Füllung dieses Begriffs differiert zwischen den Modellen extrem. Während z. B. das Modell des Geschichtslehrerverbands Deutschland sehr spezifische materiale Kenntnisse meint (z.B. „themenbezogene Daten und Namen“), geht es „FUER-Ge28 Gemeint sei das „Formulieren und Stellen historischer Fragen“ und das „Erschließen der Fragestellungen, die vorliegende historische Narrationen kennzeichnen“, Schreiber, Waltraud u.a. (Hg.), Historisches Denken. Ein Kompetenz-Struktur-modell, Neuried 2006, S. 22. 29 Vgl. Ulrich Mayer u.a. (Hg.), Lexikon Geschichtsdidaktik, 2006, S. 37.
181 schichtsbewusstsein“ darum, die „Domäne des Historischen mit Hilfe der genannten Prinzipien/Konzepte/Kategorien und Scripts“ zu strukturieren, geht aber von einer völligen Offenheit der so erschlossenen Inhalte aus.30 Manche Modelle verzichten auf den Begriff Sachkompetenz aufgrund seiner Unbestimmtheit. Es scheint eine wichtige Frage zu sein, ob es im Fach Geschichte möglich ist, Kompetenzen inhaltsunabhängig oder nur – bezogen zu definieren. Insofern kann die Frage als ungelöst gelten, welchen Ort die Inhalte in einem Modell der Kompetenzen zum historischen Lernen erhalten sollen. Der Terminus „Sachkompetenz“ gliedert die Inhalte in einen eigenen Bereich neben den anderen Kompetenzen aus. Die Konsequenzen zeigen sich auch auf einer sehr pragmatischen Ebene: Amalgamieren die Kompetenzen völlig mit den Inhalten, dann handelt es sich um die klassischen Lernziele, wie z.B. anhand der Bildungsstandards Baden-Württemberg mehrfach kritisiert wurde. Werden sie andererseits völlig unabhängig von Kompetenzen festgelegt, dann handelt es sich um einen reinen Stoffkanon, der – gemäß aller Erfahrungen mit der schulischen Praxis – zum eigentlichen Lehrplan mutiert. Teilweise bekamen die mit der Formulierung von Kompetenzen beauftragten Kommissionen die Auflage, Standards ohne Inhalte zu definieren. Genau in dieser Frage liegen auch Gefahren der aktuellen Kompetenzendebatte, die im Verschwinden curricularer Debatten liegt. Damit geht aber eine Qualität verloren, die in der seit der curricularen Wende der siebziger Jahre (Saul B. Robinsohn u.a.) notwendige Begründung und Transparenz der geforderten Inhalte. Gerade für das Ideologiefach Geschichte hat dies eine besondere Bedeutung. Geschichte ist eine ideographische Wissenschaft31 und ein Fach kultureller Tradierung. Die Stoffe des Lernfeldes Geschichte sind nicht sakrosankt, sie sind aber auch nicht beliebig. So ist sicher in Deutschland momentan kein Lehrplan denkbar, der das Thema Nationalsozialismus und Holocaust ausspart. Auch sind sie nicht austauschbar. Die in den neunziger Jahren erfolgten Lehrplaninnovationen hin zu mehr Geschlechter-, Umwelt- und Alltags- und Sozialgeschichte werden durch die 30
Schreiber, Historisches Denken, S. 29. Ernst Weymar, Dimensionen der Geschichtswissenschaft. Geschichtsforschung – Theorie der Geschichtswissenschaft – Didaktik der Geschichte, Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 33 (1982), S. 5. 31
182 aktuelle Kompetenzendebatte zurückgedreht, da die Zurücknahme von Inhalten zu Gunsten von Kompetenzen die politische Geschichte als „unverzichtbaren“ Restbestand zurücklässt. Diese Vermutung legen jedenfalls die ersten in Kraft getretenen Bildungsstandards etwa in Baden-Württemberg nahe. Die meist verwirrende Struktur der Bildungsstandards lässt ihre Inhaltsdimension zudem wenig durchsichtig erscheinen.
3.3 Graduierung der Kompetenzen: Welches Niveau ist einlösbar? In den fünfziger Jahren konnte sich die Geschichtsdidaktik noch an eine selbstgewisse Entwicklungspsychologie anlehnen, die noch klare Stufungen der psychologischen Entwicklung für beschreibbar hielt. Inzwischen bietet sie uns kein wirkliches Modell mehr an. Keines der bisher veröffentlichten geschichtsdidaktischen Modelle entwickelt eine Graduierung der Kompetenzen. Welches Niveau wird angestrebt und soll im Laufe des schulischen Bildungsprozesses erreicht werden? Dies ist nicht unbedingt eine nachgeordnete Frage, sondern den Modellen immanent. Das Modell „FUER-Geschichtsbewusstsein“ schlägt eine Graduierungslogik vor, die sich an Kohlbergs Stufen der moralischen Entwicklung anlehnt und auf seiner höchsten Stufe auf einen elaboriert „trans-konventionellen“ Umgang mit Geschichte zielt. Dies setzt allerdings ein Überschreiten auch der wissenschaftlichen und das Schaffen genuin eigener Deutungen voraus. Wenn die zu erstrebenden Qualifikationen auf der Kompetenzstufe eines professionellen Historikers liegen oder diese am Ende sogar überschreiten sollen, dann stellt sich die Frage, ob ein solches Modell die Adressaten des Bildungssystems „Schüler“ am Ende nicht überfordert.
3.4 Geschichtskulturelle Kompetenz: Geschichtliches Lernen und Heterogenität Welche der vorgeschlagenen Kompetenzen weist nun Bezüge zu den Anfangs thematisierten Fragen von Heterogenität auf? Begriffe wie Narrative Kompetenz oder Geschichtskultur besitzen hierfür hohe Relevanz. Am Begriff Geschichtskultur lässt sich dies besonders gut festmachen.
183 Ein Begriff wie „Geschichtskulturelle Kompetenz“ trägt dem Umstand Rechnung, dass die Erzählweisen in der Postmoderne vielfältiger werden und folglich ein Wissen über fiktionale wie nichtfiktionale, populäre wie wissenschaftliche Präsentationsweisen einschließen. Die Vorbereitung von Schülern auf ihren Umgang mit Geschichte auch nach dem Schulleben wird so eingeschlossen. Hier schließen sich allerdings eine ganze Fülle an Fragen an: Zum einen stellt sich die Frage nach der curricularen Einbettung geschichtskultureller Anteile in die Lehrpläne. Zum einen kann Geschichtskultur nicht die Systematik historischer Stoffe ersetzen, sonst verkäme Geschichtskultur zur „Eventisierung“. Andererseits können geschichtskulturelle Themen nicht nur danach ausgesucht werden, ob sie traditionelle Lehrplanthemen stützen. Zum anderen muss der Umgang mit geschichtskulturellen Manifestationen, der methodisch oftmals sehr komplex ist, in der Ausbildung von Geschichtslehrern verankert werden. Sonst droht der Umgang etwa mit historischen Spielfilmen zur oftmals praktizierten „Videowagendidaktik“ zu verkommen.32
32
Vadim Oswalt/Hans-Ulrich Pandel (Hg.), Geschichtskultur. Die Anwesenheit der Vergangenheit in der Gegenwart, Schwalbach/Ts. 2008.
184
.
Hans- Jürgen Pandel
Fuer-Geschichtsbewusstssein
Vorschlag des Geschichtslehrerverbands
Peter Gautschi
Standards in Historical Thinking (UCLA / USA) http://nchs.ucla.edu (key elements)
Gattungskompetenz
Sachkompetenz(en)
Sachkompetenz
Erschließungskompetenz
1. Chronological Thinking
1. Chronologie
Interpretationskompetenz
Methodenkompeten(-zen) - Re-konstruieren - De-konstruieren
Deutungs- und Reflexionskompetenz
Methodenkompetenz
2. Historical Comprehension
2. Reichweite und Tiefe historischen Wissens und Verstehens
Narrative Kompetenz
Fragekompeten(zen)
MedienMethoden-Kompetenz
InterpretationsKompetenz
3. Historical Analysis and Interpretation
3. Interpretation von Geschichte
Geschichtskulturelle Kompetenz
Orientierungskompeten(zen)
Narrative Kompetenz
4. Historical Research Capabilities
4. Historische Untersuchung und Erforschung
Urteilskompetenz
5. Historical IssuesAnalysis and Decision-Making
5. Organisation und Kommunikation
.
Übersicht über Kompetenzmodelle zum Historischen Lernen
185
Historische Kompetenzen und das Medium Bild33 Dieser Abschnitt soll kein weiteres Kompetenzenmodell für das historische Lernen vorstellen, sondern einen anderen Zugang zu den Kernproblemen 33 Vadim Oswalt/Hans Ulrich Rudolf (Hg.), Weimarer Republik und Zwischenkriegszeit. Europa zwischen Demokratie und Diktatur 1918-1939, Transparente Geschichte, Klett Perthes, Gotha 2008, S. 21. Es sind bisher vier Folienbücher zu unterschiedlichen historischen Lehrplanthemen erschienen.
186 der „Kompetenzengenerierung“. Momentan gehen die forschungstechnischen Überlegungen in die Richtung, Kompetenzen zu definieren und dann ihre entsprechenden Graduierungen empirisch zu evaluieren. Diese einseitige Ausrichtung auf die sicher in vielen Bereichen hilfreiche empirische Unterrichtsforschung setzt voraus, dass die fachmethodischen Aspekte der Beziehung zwischen historischen Denkmodi und zu erlernenden Kompetenzen geklärt sind. Schließlich bedarf es hierzu Klärungen auf einer sehr basalen Ebene, die konkrete Operationen des historischen Erkenntnisprozesses plan- und nachvollziehbar machen. Von daher sind folgenden Überlegungen zunächst nichts weiter als der Versuch, diese „Scharniere“ historischen Denkens an einem Medium, dem historischen Bild, bezogen auf spezifische Lehrplanthemen, durchzuspielen. Sichtbar wird dabei, wie variabel der Umgang mit historischen Denkmodi sein kann und muss. Das hier gezeigte Schema ist für eine Folienbandreihe im Klett Verlag entwickelt worden, das die zentralen Bildikonen historischen Lernens für einen kompetenzorientierten Zugang erschließt. Das heißt auch, dass es immer wieder anhand von konkreten Themen durchgespielt wird. So entwickeln sich „bottom-up“ Füllungen für Kompetenzen zur Arbeit mit Bildern im Geschichtsunterricht, die anhand der Beobachtungen an einzelnen Beispielen immer wieder neu tariert werden. Ausgangspunkt der Überlegungen ist die Frage nach der historischen Media Literacy, d.h. die Erkenntnis, dass der Umgang mit Medien eine der Kernbereiche historischen Lernens darstellt. Bezogen auf die einleitenden Bemerkungen muss es im Hinblick auf Medien darum gehen, dass Schüler deren „Brücken-„ oder „Surrogatfunktion“ erkennen, d.h. dass sie verstehen, dass Geschichte als Fach ohne primäre Anschauung seines Gegenstandes zur Vergegenwärtigung auf Medien angewiesen ist und dass Medien nur subjektiv und kollektiv gefilterte Bilder eines Ereignisses wiedergeben. Eine solche quellenkritische Erschließung eines Mediums geht von vier zentralen Operationen aus, die mit beschreiben, interpretieren, kontextualisieren und problematisieren/reflektieren bezeichnet werden. Auch hier muss man schließlich entscheiden, ob man diese Operationen unter dem Dach „Medienkompetenz“ bündelt oder sie terminologisch als eigenständige Kompetenzen versteht. Bei der Frage, welche Operationen notwendig werden, die die Charakteristika des Mediums Bild konkret berücksichtigen und auf ihren historischen Erkenntniswert beziehen, muss betont werden, dass trotz dieser Eingrenzung auf ein Medium Verallgemeinerungen an Grenzen stoßen, ist doch die
187 spezifische Aussageform von Bildern in unterschiedlichen historischen Epochen jeweils extrem verschieden. So verändern Medienerfindungen wie die Fotografie im 19./20. Jahrhundert die Bildsprache radikal. Insofern wird durch ein Kompetenzmodell ein Rahmen gezogen, dessen Füllung in bestimmten inhaltlich-thematischen Kontexten erst noch erfolgen muss. Wenn man nun eine Konkretionsebene tiefer ansetzt, entsteht die Frage, wie die gewünschten Kompetenzen an einem konkreten Bild realisiert werden können. Nur so kann die Anforderung eingelöst werden, dass dieselben am Ende auch output-orientiert gemessen werden können. Hier liegt eine der Hauptschwierigkeiten des Projekts „Bildungsstandards“. Die Mitglieder von Kommissionen berichten davon, dass gerade hier die heftigsten Diskussionen stattfinden. Manche Länder wie Berlin haben bei der Formulierung von Standards auf Beispielaufgaben verzichtet.
Die Krönung der Kaiserin Josèphine und die Polyvalenz historischen Denkens
Ich gehe von einem Bild aus, das in vielen Schulbüchern abgedruckt ist, das Teil eines europäischen Bildgedächtnisses bildet: „Die Krönung der Kaiserin Joséphine am 2.12. 1804“: Ein Kolossalgemälde von über 6 x 10 m im Musèe du Louvre in Paris, von dem meist nur ein kleiner Ausschnitt zu sehen ist: Es
188 geht bei der Arbeit zunächst um eine zentrale Kompetenz im Umgang mit Bildquellen, nämlich zu begreifen, dass es sich bei diesem Bild um eine intentionale Darstellung des Ereignisses handelt.34 Das Bild ist kein Abbild des Ereignisses – was es uns durch seine realistische Darstellungsweise durchaus suggeriert –, sondern es erschafft eine Bedeutung für das Ereignis (und wird dadurch selbst zum Ereignis), indem es dieses erst konstruiert und dabei bestimmte Dinge hervorhebt, andere verschweigt, vielleicht am Ende den Blick auf die seine historische Bedeutung aus ideologischen Gründen bewusst verstellt. Zwei erste Ansatzpunkte, die sich als Kompetenzen beschreiben lassen, können den Einstieg in diese Erkenntnis markieren: Der Umgang mit der Mediengattung Bild im Allgemeinen und der Mediengattung „Historiengemälde“ im Speziellen, zum anderen der Abgleich von Bilddetails mit dem tatsächlichen Verlauf des Ereignisses: Die Mediengattung des Historiengemäldes in dieser dokumentarischen Form gibt es nur für eine bestimmte Phase der Geschichte, zwischen Französischer Revolution und Erstem Weltkrieg, ist also durchaus zeitgebunden. 1. Ein Verständnis des Mediums „Bild“ als ausschnitthafte Repräsentation eines Zeitmoments. 2. Am Gattungsbegriff „Historiengemälde“ lässt sich die Intentionalität der Darstellung besonders gut herausarbeiten. Es handelt sich hierbei um ein chronistisches Historiengemälde, d.h. der Maler war bei der Krönung anwesend und schildert ein zeitgenössisches Ereignis. David, der als Erfinder dieser Bildgattung gilt, schlug sogar am Krönungsort Notre Dame sein Atelier auf. 3. Ein Bilddetail zeigt deutlich die Diskrepanz zwischen Medium und Ereignis. Napoleons Mutter, die die Zeremonie ebenso wie auch ihre Schwiegertochter missbilligte, „Mme la Mère“ war dem Ereignis ferngeblieben. Napoleon ließ sie als Teil der Krönung verewigen. Als Voraussetzung der Interpretation des Bildes ist auch die Beschreibung eine Fülle von Bilddetails notwendig: Personengruppen, ihre Aufstellung, die 34 Auf weiterführende thematische Literatur wird hier verzichtet. Ausführlich zu diesem Gemälde vgl. Richard Schult, „ ... das Schiff der Revolution in den von ihm bestimmten Hafen zu bringen.“ Jacques-Louis David und die Krönung Napoleons, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 43 (1992), S. 728-742.
189 Beschreibung der Zeremonie – so etwa die Reduktion des Papstes zum Statisten. Ein präziser Gebrauch der Lexik ist genauso notwendig wie die exakte Verwendung der Verfahrensbegriffe der Bildbeschreibung. Ist die Bestimmung der Bildgattung und die Interpretation der Bildelemente bei entsprechendem Wissen relativ eindeutig, ist die Einordnung des ausschnitthaften Bildes in Kontexte, in entsprechende Narrationen, in vielfältiger Weise möglich. Wird das Einzelbild kontextualisiert, wird es gewissermaßen übersprungen. Es geht in diesem Zusammenhang um das Entwerfen eines regelrechten „Plots“ – nicht umsonst haben Historiker seit Hayden White immer wieder auch literaturwissenschaftliche Kategorien auf das historische Erzählen angewandt. Hier gibt es im eigentlichen Sinne keine richtige Lösung. Hier nur einige anhand der Krönung der Kaiserin Joséphine mögliche Varianten: 1. Eine „microchronologische“ Erzählung. Die Erweiterung der Momentaufnahme des Bildes durch den Ablauf der Krönung von immerhin 3½ Stunden, die auch ihren politisch-ideologischen Charakter komplettiert: Nachdem der Papst die Kirche verlassen hatte, schwor Napoleon einen zweiten Eid auf die „Prinzipien der großen französische Revolution“. Gottesgnadentum und konstitutionelle Legitimation traten nebeneinander. 2. Eine genetische Erzählung, die danach fragt, welche Ursachen zu diesem Ereignis führen, das in so krassem Gegensatz zu den ursprünglichen Idealen und Zielen der französischen Revolution steht. 3. Eine personalisierende biographische Erzählung: Die Krönung 1804 stellt den Scheitelpunkt einer beispiellosen Karriere dar. Aufstieg und Niedergang sind integraler Teil dieser Erzählung. Für diese Narration liegen Karikaturen in reicher Fülle vor, die die Krönung als Höhepunkt des biographischen Weges des Korsen einordnen und mit Häme auf seinen Niedergang hinweisen. 4. Eine Erzählung, die Schein und Wirklichkeit anhand zweier Ereignisse kontrastiert, basierend auf einem intermedialen Vergleich. Nur drei Tage (5.12.) nach der Krönung nahm Napoleon die „Verteilung der Adlerfeldzeichen an die Truppen auf dem Marsfeld“ vor, die ihren persönlichen Treueschwur auf den Kaiser ableisteten. Auch dieses Ereignis wurde vom „Hofmaler“ David in einem Kolossalgemälde festgehalten. Wo liegen nun die wirklichen Stützen der Herrschaft Napoleons: Im gerade begründeten Got-
190 tesgnadentum, in ihren konstitutionellen Elementen oder der Popularität im Militär („Heerkaisertum“)? 5. Eine Erzählung, die außerhalb des Kunstwerkes tritt und „implizite Betrachter“ aus unterschiedlichen temporalen Perspektiven rekonstruiert. Wie hat ein Betrachter vor 1815 wohl ein solches Bild gesehen, nach 1815 nach dem Niedergang Napoleons? 6. Eine kontrafaktische Erzählung, die fragt, wie die Geschichte verlaufen wäre, wenn Napoleon nach dieser „Traumkarriere“ nicht immer weiter Krieg geführt hätte – und auf dieser Grundlage zu Antworten kommt, warum er eventuell meinte, nicht anders zu können. Dies könnte etwa Max Webers Erklärung einschließen, dass „charismatische Herrschaft“ des permanenten Ausnahmezustands bedarf. 7. Eine auf einem Vergleich zweier ähnlicher historischer Herrschaftsformen beruhende Erzählung, die makrochronologische Perspektiven öffnet: Wo ähneln oder unterscheiden sich andere Formen diktatorischer Herrschaft von der Napoleons? Wann sind solche Formen der Herrschaft zu befürchten (Krisenzeiten, allgemeine Verunsicherung usw.)? Zum einen wird die temporale Ausschnitthaftigkeit als Momentaufnahme durchbrochen und in historische Narrationen eingebettet. Diese können mikro- wie makrochronologisch angelegt sein und beruhen auf der Fähigkeit mit einer Landschaft „reichhaltig vernetzter Informationen“ umzugehen, eine immer größere Anreicherung der Hintergrundnarration zu leisten und diese problemorientiert anzuwenden. Zudem wird deutlich, dass es eine ganze Reihe von Lösungen gibt, die sich nicht durch die Kategorie falsch oder richtig voneinander abgrenzen lassen, sondern allenfalls mit den von Jörn Rüsen so genannten Triftigkeiten. Festzuhalten bleibt also eine Polyvalenz historischen Denkens, dessen Variabilität durchaus noch präziserer Erfassung harrt.
Resümee Wie in vielen anderen Fächern, die an Schulen unterrichtet werden, stellen Standardisierung und Heterogenität aktuell ein Spannungsfeld dar, das auszuloten für die zukünftige didaktische Forschung wichtige Desiderate aufwirft. Gerade bei Berücksichtigung beider Teile der Darstellung wird deutlich, dass hierfür eine auf die jeweiligen Untersuchungsfelder abgestimmte flexible Forschungsmethodik notwendig ist. Während Aspekte von Hetero-
191 genität gerade durch empirische Unterrichtsforschung erschlossen werden können, muss die Forderung nach der Herausarbeitung fachspezifischer Denkmodi als Voraussetzung der Formulierung von Kompetenzen und Bildungsstandards gelten. Diese Überlegungen finden aber zunächst auf der Ebene der Theorie, nämlich der jeweiligen Fachmethodik statt, deren Einigung auf Kerne der jeweiligen Disziplin – das zeigt jedenfalls das Fach Geschichte – noch sehr viel weitergehender Diskussionen bedarf. Damit mündet die Darstellung in ein Plädoyer für die Pluralität fachdidaktischer Forschung, die geradezu amputiert wird, wenn sich in ihr nicht theoretische, historische und auf Lehren und Lernen bezogene empirische Untersuchungsfelder ergänzen. Auch ist deutlich geworden, dass die Diskussion um Bildungsstandards insofern in ihren Grenzen wahrgenommen werden muss, da sie die curriculare Dimension unserer Lehr- und Bildungspläne nicht ersetzt. Sonst verkehrt sich die ursprüngliche Einseitigkeit in ihr Gegenteil: War man vorher viel zu sehr damit beschäftigt zu diskutieren, was „vorne reinkommt“ und vernachlässigte das, was „hinten rauskommt“, könnte sich nun die Fixierung auf den „Output“ am Ende als Bumerang erweisen, der wichtige Fragen historischen Lernens wie die Diskussion über Relevanz bestimmter geschichtlicher Inhalte ausblendet. Im letzten Abschnitt deutlich geworden, dass sich vor allem die Testologie des Faches durch Kompetenzenorientierung verschiebt. Denn Aufgabentypen zu finden, die Deutung fordern und bewerten, kann eventuell dazu führen, dass Wissensbestände zurücktreten, neue Darstellungs- und Schreibformen vermittelt, eingefordert und bewertet werden. Welcher Schüler lernt das „rezensierende Schreiben“ von Texten, in denen es um die Bewertung anderer Geschichtsdarstellungen geht. Eventuell kommt man hier in Bereiche, in denen unterschiedliche Lösungen eine gleiche Plausibilität beanspruchen können. Dies bedeutet auch eine Herausforderung an die Ausbildung von Geschichtslehrern. Im geschichtsdidaktischen Seminar „Schreiben und Darstellen“ des Sommersemesters 2007 war es die Aufgabe an die Studierenden, ein Darstellungskapitel eines Geschichtsbuchs zu entwerfen und gleichzeitig die eigenen Darstellungsmittel zu reflektieren. Solche Aufgaben schulen den
192 Blick auf den Konstruktcharakter geschichtlicher Darstellung und machen bewusst, dass es die Geschichte nicht gibt, ja feine Tarierungen in der Gestaltung von Visualisierungen und Texten die Aussage erheblich verschieben.
193
Peter Gansen
Chancenungleichheit von Anfang an Heterogenität in der frühen Kindheit als bildungspolitische und pädagogische Herausforderung 1. Frühkindliche Bildung und Heterogenität – aktuelle Probleme und Tendenzen Die ersten acht Lebensjahre im Leben eines Menschen sind in vielen Entwicklungsbereichen entscheidend. Hier werden die wesentlichen Grundlagen für die Lernfähigkeiten und Bildungspotentiale im Lebenslauf gelegt. Alle Analysen unseres Bildungssystems zeigen, dass die in diesen sensiblen frühen Entwicklungs- und Lernphasen entstehenden Defizite sich nicht ausgleichen, sondern allenfalls mit einem hohen materiellen und personellen Aufwand abmildern lassen. Bereits beim Schuleintritt zeigen sich große Unterschiede hinsichtlich des Entwicklungsstands und der schulischen Leistungsfähigkeit von Kindern. Heterogenität prägt sich also bereits in den frühesten Lern- und Bildungsprozessen des Kleinkindalters aus, d.h. in der Familie und in den Betreuungs- und Bildungseinrichtungen für Kleinkinder. Erfolgreiche Bildungssysteme zeichnen sich vor allem dadurch aus, dass sie Bildung „von unten“ her denken und dem Elementarbereich eine besondere bildungspolitische und pädagogische Aufmerksamkeit schenken, um Benachteiligungen so früh wie möglich auszugleichen; dies zeigt sich nicht nur in der Finanzierung dieses Bildungsbereichs und in der Teilhabe von Kindern aus bildungsfernen Milieus, sondern auch in der Auswahl und Ausbildung der Pädagogen sowie in den Forschungstätigkeiten. Hier liegt ein wichtiger Ansatzpunkt für die erziehungswissenschaftliche Forschung in Deutschland, das Phänomen Heterogenität gleichsam in seiner Genese zu beobachten und dabei Unterschiede des Aufwachsens sowie der Teilhabe an Bildung und Förderung zu analysieren, um so Rückschlüsse auf die frühe Ausprägung von Benachteiligungen zu ziehen. Es kommen in diesem Zusammenhang – neben den großen Surveystudien und eher soziologischen Fragen nach gesellschaftlichen Segregations- und Distinktionspro-
194 zessen – in Zukunft vor allem die Fragen nach den kompensatorischen Möglichkeiten frühkindlicher Pädagogik in den Blick. Gegenwärtig scheinen in der öffentlichen Diskussion zwei Aspekte wichtig zu sein: Zum einen werden die Probleme des Schuleintritts und Schulanfangs als Kulminationspunkt vieler Schwierigkeiten betrachtet und die „Schulfähigkeit“ der Kinder bzw. die „Kindgerechtheit“ der Schule analysiert. Am Übergang vom Elementarbereich in die Grundschule wird die Heterogenität der Kinder im Bildungsweg erstmals deutlich; die hierdurch entstehenden Probleme werden in der Öffentlichkeit heute zunehmend stärker wahrgenommen, sodass – als zweiter und gegenwärtig wichtigster Aspekt – die Qualität von vorschulischen Bildungsangeboten gegenwärtig viel diskutiert wird. Die wissenschaftliche Erforschung, Begleitung und Auswertung der vielen „bildungsreformerischen“ Maßnahmen, die in den letzten Jahren die Schulen beschäftigt haben und gegenwärtig den Elementarbereich verändern, stellt die Erziehungswissenschaft noch vor große Herausforderungen. Im Folgenden werden einige Phänomene von Heterogenität im Zusammenhang mit den frühen Übergängen im Bildungssystem skizziert und „blinde Flecken“ in der Diskussion um die Entwicklung des Vorschulbereichs herausgearbeitet. Vor allem das Problem der familiär bedingten Chancenungleichheit und der mangelnden Teilhabe benachteiligter Kinder an frühkindlichen Bildungsangeboten sowie die Fragen nach einem kindgerechten Übergang in die Grundschule und nach einem überfälligen Ausbau bzw. Aufbau eines geeigneten vor- und grundschulischen Unterstützungssystems werden hier kritisch erörtert.
2. Familiale Ressourcen und institutionelle Übergänge in der Kindheit 2.1 Der bekannte Missstand: Benachteiligung im Schulsystem In keinem anderen Land der OECD herrscht eine solche Chancenungleichheit im Bildungssystem wie in Deutschland. Es wurde in Auswertungen der PISA-Studie und weiterer Untersuchungen (bspw. zur Schulempfehlung und Schulwahl) hinreichend dargelegt, dass Kinder der unteren sozialen Schichten massiv benachteiligt werden. Es gelingt offensichtlich schlecht, Bil-
195 dungsarmut auszugleichen und einen Teil von Kindern, denen ein bestimmtes soziales und kulturelles Kapital (vgl. Bourdieu 1979) fehlt, so zu unterstützen, dass sie die nötigen Kompetenzen für einen erfolgreichen Schulbesuch erwerben. Kinder aus (schul)bildungsfernen Milieus leiden zusätzlich zu ihrer strukturellen familiären Benachteiligung an Diskriminierungen und negativen Einschätzungen durch Mitschüler, Eltern und Lehrkräfte. Letztere geben ihnen bei gleicher Leistungsfähigkeit schlechtere Noten und signifikant seltener eine Empfehlung für eine höhere Schule – oder anders: Die betreffenden Kinder müssen aufgrund ihrer Herkunft höhere Leistungen und bessere Noten erbringen, um eine Gymnasialempfehlung zu bekommen. Je höher das ökonomische und kulturelle Kapital der Eltern ist, desto besser sind – auch bei gleicher Leistung – die Noten der Grundschulkinder (vgl. Bos et al. 2004). Hinzu kommen gesellschaftliche Distinktions- und Segregationsprozesse, die sich auch an der „Umsetzung“ der Schullaufbahnempfehlung niederschlagen. Ein weiteres Problem, das hier nicht ausgeführt werden kann, ist die zunehmende Privatisierung des Bildungssektors. Viele vorschulische Einrichtungen sind ohnehin in der Hand freier Träger oder privater Institutionen. Aber in den letzten Jahren hat es auch eine rasante Entwicklung auf dem Privatschulmarkt gegeben.1 So zieht sich eine gutsituierte Bildungselite zunehmend aus dem staatlichen Bildungswesen zurück. Damit liegen gravierende gesellschaftspolitische Probleme vor, die aus der Diskussion um Verbesserungen im Bildungssystem zur Kompensation von Benachteiligungen nicht wegzudenken sind.
2.2 Ungleiche Startchancen: Heterogene Bedingungen des Aufwachsens Wir wollen hier die Probleme der Übergange in der frühen Kindheit in den Blick nehmen, d.h. den Übergang von der familiären Erziehung in den vorschulischen Bildungssektor und den Übergang in die Schule, um daran die gegenwärtige öffentliche Diskussion sowie verschiedene bildungspolitische 1 So ist die Anzahl an Privatschulen und -schülern von 1992-2005 um über 20% gestiegen; 2005 besuchten über 600 000 Schüler rund 2600 Privatschulen (http://www.rp online.de/public/article/panorama/deutschland/81500/ Privatschulen-verzeichnen-anhaltenden-Boom.html)
196 und pädagogische Entwicklungsanstrengungen zur Bewältigung von Heterogenität und zum Ausgleich von Benachteiligung zu beurteilen. Wir wollen dabei versuchen, die Probleme „von unten“ her zu verstehen, um auf dieser Grundlage die Erfolgsaussichten gegenwärtiger Maßnahmen kritisch zu analysieren. Der Schuleintritt scheint als formaler Übergang wie als kritisches Lebensereignis von besonderer Bedeutung zu sein. Sowohl aus Sicht des Kindes und der Familie als auch aus Sicht des Bildungssystems (bzw. der konkreten Grundschule) scheinen hier Probleme der Benachteiligung besonders deutlich zu werden. Das Entwicklungsalter der sechsjährigen Kinder bei Schuleintritt kann um bis zu vier Jahren variieren, sodass die Startchancen und Erfolgsaussichten der Kinder höchst verschiedenen sind. Wir wissen aus der Kindheits- und Familienforschung, dass die schulischen Anforderungen für einen Teil der Kinder mehr oder weniger als „Weiterbildung“ des vor- und außerschulisch habitualisierten Lernens angesehen werden kann, während ein nicht unerheblicher Teil der Schüler dieselben als „Dekulturation“ und vielfältige Belastung erlebt (vgl. Betz 2007). Schließlich wissen Grundschullehrkräfte aus ihrer alltäglichen pädagogischen Arbeit, dass sie es am Schulanfang konkret mit einer ungeheuren Vielfalt und komplexen Heterogenität von Vorwissen und Vorerfahrungen zu tun haben und dass die Kinder infolgedessen bereits in den ersten Schulwochen höchst unterschiedliche Fähigkeiten darin zeigen, sich an die Lernkultur und das soziale Gefüge einer Klasse und Schule anzupassen. Bei einigen Kindern zeigen sich hier von Beginn an große Schwierigkeiten; sie erleben offensichtlich ein großes Ausmaß an Fremdheit und sind von den Anforderungen überfordert. Die wichtigsten Fragen in diesem Zusammenhang lauten dann: Was geht dem Schuleintritt voraus? – Was müsste dem vorausgehen? Wie kann die Schulfähigkeit aller Kinder gewährleistet und trotz aller Heterogenität von Beginn an eine Integration benachteiligter Kinder gefördert werden? Wie können im Vor- und Grundschulbereich die Voraussetzungen für einen kindgerechten Übergang geschaffen werden, um allen Kindern die Chance auf einen erfolgreichen Bildungsweg zu geben?
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2.3 „Weiter-Bildung“ vs. „Dekulturation“: Von der Familie in die Bildungseinrichtungen Familiale Ressourcen sind ein wesentliches Fundament der kindlichen Entwicklung und der schulischen Leistungsfähigkeit. Intrafamiliale Variablen bzw. Prozesse (positives Familienklima, Abwesenheit von Partnerschaftsstress, kindzentrierte Kommunikation) wirken sich stärker auf einen erfolgreichen Schuleintritt von Kindern aus als strukturelle Faktoren (wie Anzahl von Geschwistern, Bildung der Mutter, Familieneinkommen) (Haunberger/ Teubner 2007). Insbesondere kindzentrierte Kommunikation und elterliche Unterstützung wirken sich auf die kognitive Entwicklung und andere bildungs- bzw. schulrelevante Eigenschaften der Kinder aus. Im Vorschulalter liegen die wichtigsten Ressourcen in der emotionalen und kognitiven Unterstützung, im weiteren Bildungsverlauf wächst dann die Bedeutung der ökonomischen Ressourcen. Wenn auch die PISA-Ergebnisse so gedeutet werden (müssen), dass schulrelevante Fähigkeiten in hohem Maße durch strukturelle Ressourcen (wie Bildung der Eltern, Schichtzugehörigkeit usw.) beeinflusst werden, zeigen sich diese Faktoren für den Schuleintritt zunächst scheinbar als weniger bedeutsam (vgl. ebd.). Am Übergang vom Kindergarten in die Grundschule gelingt es vorläufig sowohl hinsichtlich der Schulzufriedenheit als auch des Leistungsstands überwiegend einen kind- und schulgerechten Übergang zu gewährleisten.2 Diese Erziehungsleistungen der Schule, die bei der Schulvorbereitung und im Anfangsunterricht erbracht werden, haben aufgrund verschiedener weiterer Umstände bei einem benachteiligten Schülerklientel allerdings meist keine langfristigen Effekte. Innerhalb weniger Jahre geraten benachteiligte Kinder deutlich in Rückstand, mit allen Konsequenzen der Schulaversion usw. Hier wiederum zeigt sich zum einen das Versagen der Schule, Benachteiligung nachhaltig zu 2 Sicher ist es erfreulich festzustellen, dass es in vielen Grundschulen gelingt, „aus der subjektiven Sicht der Kinder (...) als öffentliche Erziehungseinrichtung durch Beziehungsarbeit, Struktur sowie Möglichkeiten zum Erleben und Entfalten (…) [zu geben und so] die Folgen und Auswirkungen der Armut zu kompensieren“ (Gisdakis 2007, S. 131); das darf jedoch nicht über die strukturellen Benachteiligungen und die – den Kindern selbst noch nicht so bewussten – objektiven Hürden für einen wachsenden Teil von Kindern hinwegtäuschen, für welche die Schulleistungen und sozialen Anschlussmöglichkeiten ihrer Mitschüler ungleich schwerer zu erreichen sind.
198 kompensieren, zum anderen zeigt sich, wie dauerhaft sich Defizite an familialen Ressourcen auswirken: „Festzuhalten ist, dass die Bedingungen in der Familie die Entwicklung der Schulfähigkeit des Kindes maßgeblich beeinflussen. Belastungen in der Familie, der praktizierte Erziehungsstil, die Beruftätigkeit der Eltern, die Anerkennung emotionaler Bedürfnisse des Kindes [spielen] als familienspezifische Milieueinflüsse eine bedeutende Rolle“ (Hauberger/Teubner 2007, S. 84). Die Weitergabe von Kultur und Bildung in der Familie hat erhebliche Auswirkungen auf die schulische Leistungsfähigkeit. Eine familiale Kultur, die schulischen Anforderungen aufgeschlossen gegenüber ist, und eine entsprechende kindliche Lernumwelt im Elternhaus wirken sich nicht nur auf kognitive und sprachliche Leistungen und die Leistungsmotivation aus (vgl. ebd.). Die Habitualisierungsprozesse, die bei der Übernahme sozialer und kultureller Praktiken in der Familie stattfinden, erleichtern den Kindern auch in Form verinnerlichter Verhaltensmuster, Wertvorstellungen und Interaktionsstile das erfolgreiche Einleben in der Schule. Für diesen Teil der Kinder bieten sich später über die primäre Sozialisation hinaus dann auch parallel zur Schule viele informelle Bildungsanlässe und attraktive Freizeitaktivitäten im Rahmen strukturierter Tagesabläufe; sie bewegen sich insgesamt in einem Umfeld, in dem (Schul)Bildung wertgeschätzt und unterstützt wird. Familiäre Armut schlägt sich dagegen häufig auch in Bildungsarmut nieder, die Kinder schon vor Beginn der Schule massiv benachteiligt. In Untersuchungen zur Weitergabe sozialen Erbes in Form unterschiedlicher Lebensstile und kulturbezogener „Bildungsstrategien“3 in der Familie zeigt sich eine hohe Reproduktion von sozialer Ungleichheit (Brake/Büchner 2003). Wenn die Bildungsanlässe und -möglichkeiten in der Familie fehlen, die eine Entwicklung schulrelevanter Kompetenzen und eine gesellschaftliche Teilhabe ermöglicht, dann müssen die Bildungsinstitutionen für eine frühzeitige Kompensation und Förderung sorgen.
3
Bildungsstrategien erscheinen „auf der individuellen, generationalen und familialen Ebene (...)als steuerungsrelevantes und praxisanleitendes Bezugssystem für Bildungs-, Geschmacksund Lebensstilentscheidungen“ (vgl. Büchner in: http://www.staff. uni-marburg.de/ ~fambild/[2008-09-25], Kurzbeschreibung des DFG-Projekts „Familiale Bildungsstrategien als Mehrgenerationenprojekt“).
199 Peter Büchner und Kathrin Wahl zeigen (2005) am Beispiel der Vermittlung und Aneignung von information literacy4 als Sammelbegriff für eine informelle Grundbildung von Basiskompetenzen und Orientierungen, dass Familien höchst unterschiedliche Formen des generationalen Austauschs von kulturellen Werten und Praktiken haben, die das Aufwachsen der Kinder prägen und ihre Auseinandersetzung mit anderen außerfamiliären Kulturen und Bildungsformen beeinflussen. Die Bildungsinstitutionen hätten daher von einer Kulturrelativität und Kulturgebundenheit der informellen Bildungsformen auszugehen und sollten diese bei der Konzeption von Bildungs- und Förderkonzepten stärker berücksichtigen. Gerade die Institution Schule solle sich mehr für informelle Bildungsprozesse und die pädagogische Bearbeitung von Heterogenität öffnen, um Bildungsarmut zu auszugleichen sowie kulturelle Teilhabe und soziale Anschlussfähigkeit zu ermöglichen. Dabei bestehe immer die Gefahr eines diskriminierenden Umgangs mit kultureller und sozialer Differenz und einer Entmündigung der Schüler und ihrer Familien als kultureller Akteure. Es müsse darum gehen, auch die informellen Bildungsleistungen von benachteiligten Familien anzuerkennen und weiter zu entwickeln. Dies sei nur möglich durch eine Einbindung von Eltern in Form von Erziehungspartnerschaften und eine bessere Vernetzung mit anderen Bildungsorten (vgl. Büchner/Wahl 2005, S.13 f.). Hier scheinen wichtige Aspekte eines produktiven Umgangs mit Heterogenität und kultureller Differenz angesprochen zu sein. Es wird deutlich, dass einerseits die Aneignung von kulturellen Praktiken und Basiskompetenzen, die in Schule und Berufsleben relevant sind, gefordert und gefördert werden müssen, dass andererseits aber die eigene (Schul)Kultur5 nicht absolut ge4 Die sogenannte Information Literacy wird zunehmend als eine Schlüsselkompetenz in der Wissens- und Mediengesellschaft angesehen. Die Association of College and Research Libraries (ACRL) definiert Information Literacy wie folgt: "Information literacy is a set of abilities requiring individuals to recognize when information is needed and have the ability to locate, evaluate, and use effectively the needed information" (vgl. ACRL 2000). 5 Kulturen können nicht mehr als abgrenzbare und homogene Ganzheiten betrachtet werden. Im Zuge der jüngeren Forschungen in den cultural studies wird Kultur nicht mehr als eine spezifische Bildungsphäre betrachtet. Hier wird Kultur vielmehr als vielschichtiger sozialer Prozess, der allgemein die Lebensweisen und Vorstellungen, durch die Menschen ihr Leben erfahren und gestalten, beschreibt (vgl. bspw. Bachmann-Medick 1996, Herzog 2001). Das heißt, es wird von einem diskursiven Modell von Kultur ausgegangen, das „Kultur als Auseinandersetzung von Menschen mit den Bedingungen ihrer Existenz begreift“ (Herzog 2001, S. 117). Statt als Prägeform ist Kultur dann „...als Ressource zu begreifen, die Indivi-
200 setzt, sondern als ein dynamischer sozialer Prozess verstanden werden muss, der offen für die Berücksichtigung und Interpretation vielfältiger Einflüsse ist. Bildungsprozesse innerhalb der Familie beeinflussen also in verschiedener Weise den Erfolg bzw. das Scheitern in der Schule. Untersucht man das Ineinandergreifen von informellen und formalen Bildungsformen genauer und betrachtet unterschiedliche Familienkulturen, kann man davon sprechen, dass „schulische Bildung für spezifische Kindergruppen als >WeiterBildung< des schon Bekannten oder aber als >Dekulturation< informeller Bildung beschreibbar ist und somit einen Bruch mit den familial geprägten Erfahrungen und Fähigkeiten darstellt“ (Betz 2007, S. 164). In verschiedenen Untersuchungen der Kindheits- und Bildungsforschung zeigt die hier umrissene (familien)kulturelle Reproduktion von Bildungsungleichheit. Obwohl der Einfluss der Familie auf das Erreichen oder Nicht-Erreichen der in Schulleistungsstudien geprüften Kompetenzen bekannt ist, werden die Bildungsleistung bzw. die Bildungsarmut der Familien bei den gegenwärtigen bildungspolitischen Debatten und Maßnahmen kaum – oder zumindest nicht in der gebotenen Konsequenz – berücksichtigt. Es gibt eine funktionalistische Engführung in der Diskussion um einen „Bildungsnotstand“, bei der man sich fast ausschließlich auf schulleistungsbezogene Bildungsforschung konzentriert und über institutionelle Streitfragen des Betreuungsund Bildungssystems diskutiert. Die groß angelegten empirischen Bildungsstudien und vielfältigen Leistungsmessungen erzeugen zwar eine Fülle von Daten, dienen aber offensichtlich wenig dazu, an den „Nahtstellen“ des Bildungs- und Sozialwesens entscheidende Verbesserungen vorzunehmen sowie konsistente Konzepte zur Förderung benachteiligter Kinder zu entwickeln. Angesichts der an der öffentlichen Diskussion eingangs ausgemachten „blinden Flecken“ erscheint es dagegen sinnvoll, empirische Bildungsforschung in Zukunft gezielt auch als (qualitative) Kindheits- und Jugendforschung aufzufassen und anzulegen (vgl. Grunert 2006). So könnten die Chancen und Grenzen familiärer Bildung noch deutlicher in den Blick geraten, um auf dieser Grundlage über geeignete pädagogische Maßnahmen zur duen nutzen, um Probleme ihrer Lebensführung zu lösen. Kulturen geben Menschen Orientierung in bezug auf die dingliche Außenwelt, die soziale Mitwelt und die subjektive Innenwelt. Als symbolische Ordnungen sind sie funktional mit existenziellen Bedürfnissen verbunden und werden umgeschaffen, sobald sich die Lebensbedingungen ändern“ (ebd., S. 117f.)
201 inner- und außerschulischen Kompensation von Bildungsarmut nachzudenken. Für die Bildungspolitik muss es neben der evidenzbasierten Versachlichung der ideologisch aufgeladenen Streitfragen in Zukunft darum gehen, mehr als bisher ressort- und institutionenübergreifende Reformen anzustoßen.
2.4 „Schulfähigkeit“ vs. „Kindgemäßheit“ Der Anteil an Kindern, die eine vorschulische Erziehungseinrichtung besuchen, ist mittlerweile erfreulich hoch, allerdings gibt es immer noch Kinder, die mit nur wenigen oder ohne Vorerfahrungen mit institutionalisierter Erziehung in die Schule kommen.6 Es gibt im internationalen Vergleich insgesamt einen deutlichen Rückstand hinsichtlich der Teilhabe an vorschulischen Bildungsangeboten. Der Eintritt in den Kindergarten kann nach Filipp (1995) – wie der Übergang in die Schule – als ein normatives kritisches Lebensereignis aufgefasst werden. Dieses zeichnet bei aller Unterschiedlichkeit der Einrichtungen als Familienereignis ein hohes Maß an Universalität und Vorhersehbarkeit aus. Es wird von den Kindern überwiegend mit positiven Erwartungen verbunden, und in fast allen Familien führen die Eltern mit ihren Kindern Gespräche, die auf den bevorstehenden Übergang vorbereiten sollen. Von der Elternschaft wird der Kindergarten als eine zum Bildungssystem gehörende Institution betrachtet, und es werden entsprechende pädagogische Erwartungen an diesen gerichtet – vor allem die Vorbereitung schulrelevanter Fähigkeiten wird gewünscht (vgl. Beelmann 2006, S. 172f). Diese Erwartungen werden durch Untersuchungen unterstützt, die zeigen, dass die Besuchsdauer einer vorschulischen Einrichtung positiv mit dem späteren Schulerfolg korreliert (z.B. Bos et al. 2004).
6
Die Entwicklung der letzten 10-15 ist hier in vielen Regionen sehr erfreulich: Der Anteil von Kindern, die gar keinen Kindergarten besucht haben, verringerte sich bspw. in Köln im Zeitraum von 1995-2001 von ca. 30% auf ca. 3%, während im selben Zeitraum der Anteil derer, die auf zwei oder mehr Jahre in Kindergärten zurückblicken von 54% auf 86% angestiegen ist. Die Forderung nach einem Kindergartenpflichtjahr scheint also fast obsolet zu sein. Dagegen sollte es stärker um die Gestaltung der Übergänge sowohl in den Elementarals auch in den Primarbereich gehen (vgl. KJGD 2001).
202 Am Übergang vom Elementarbereich in die Grundschule wird die Heterogenität der kindlichen Bildungsherkunft erstmals deutlich. Entsprechend gibt es eine breite Diskussion um die „Schulfähigkeit“ der Kinder bzw. die „Kindgerechtheit“ der Grundschule. Hier geht es darum, die Kontinuität des Bildungsganges für jedes Kind zu sichern, um einen entwicklungsangemessenen Übergang zu ermöglichen. Hartmut Hacker beschreibt den Eintritt in die Schule als „einen Risikobereich für die individuelle Biographie und Entwicklung des Kindes“ (Hacker1998, S. 14) und betont, dass neben allen Chancen die Gefahren von Übergängen nicht außer Acht gelassen werden dürfen. Es gelingt Eltern bei diesem Übergang in „den Ernst des Lebens“ offenbar weniger, ihren Kindern „Ängste, Hemmungen und Scheu vor dem bevorstehenden Schulbeginn [zu] nehmen und ihnen eine positive, freudige Grundhaltung [zu] bewahren bzw. [zu] ermöglichen.“ (ebd., S. 99); zu hoch sind häufig die Leistungserwartungen auf allen Seiten, zu wichtig die Vermeidung von Schwierigkeiten, Fehlern und Misserfolgen. Auch wenn hier angesichts der heutigen Bedeutung eines hohen Bildungsabschluss häufig ein massiver Erfolgsdruck von den Eltern ausgeht, ist die kontinuierliche Abnahme der Schulmotivation und Zufriedenheit der Grundschulkinder sicher nicht allein der Familie anzulasten. Wir haben es schließlich hier mit einem strukturellen Druck eines selektiven Schulsystems zu tun, dessen Selektionscharakter mit dem Schuleintritt beginnt. Noch vor den rasch anwachsenden Lehrplan- und Leistungsanforderungen müssen sich die Kinder in der Regel einer Überprüfung ihrer Schulfähigkeit unterziehen. Hier sind immer noch eine Reihe von standardisierten normierenden Tests verbreitet, mit Hilfe derer die Schulfähigkeit von Kindern vor allem anhand von kognitiven Fähigkeiten zu messen versucht wird. Allen Verfahren zur Erhebung von Schulfähigkeit, so differenziert und förderdiagnostisch sie auch angelegt sein mögen, liegt letztlich das Ziel zugrunde, „die Entscheidung des Schuleintritts durch Selektion zu lösen“ (Burgener-Woeffray 1996, S. 24); die hierbei getroffen Selektionsentscheidungen aufgrund der Leistungsmessung und -prognose weisen im Übrigen, wie die Schulempfehlung zum Übergang in die Sekundarstufe, eine hohe Fehlerquote auf.7
7 In einer Längsschnittstudie wurde festgestellt, „..., dass 66% der als nicht schulfähig diagnostizierten Kinder das erste Schuljahr erfolgreich bewältigten.“ (Kammermeyer 2005, S.301).
203 Neben den traditionellen Verfahren der Schuleingangsdiagnostik werden von vielen Schulen heutzutage auch informelle Verfahren angewendet, die nicht nur psychomotorische, soziale und motivationale Aspekte einbeziehen, sondern auch auf den Einbezug der Eltern ausgereichtet sind; sehr verbreitet ist das Kieler Einschulungsverfahren (KEV), das neben einer individuellen Diagnostik ein Elterngespräch und ein Unterrichtsspiel vorsieht. Die Anwendung dieses Verfahrens wird manchmal auch von weiteren Aktionen (wie so genannten „Schnuppertagen“, Hospitationen, Kooperationsmodellen mit den Kindergärten u. Ä.) flankiert, die darauf zielen, Kinder entwicklungsangemessen auf die Schule vorzubereiten. Hinter diesem Vorgehen steht auch die Idee, dass die „Schulbereitschaft“ und -fähigkeit zu fördern und als mehrdimensionaler Lernprozess der Kinder zu begreifen ist. Allerdings darf – abgesehen von der hier verlangten hohen professionellen (insbesondere diagnostischen) Kompetenz der Ausführenden – nicht übersehen werden, dass diese Herangehensweise kurz vor dem Eintritt der Schulpflicht gerade für die benachteiligten Kinder, die einen besonderen Förderbedarf haben, zu spät einsetzt. Unabhängig, welches Konzept des Schuleintrittsverfahrens hier gewählt wird, liegt diesem letztlich die Logik einer Orientierung „von oben“, d.h. an zu erfüllenden institutionellen Leistungsnormen zugrunde, mit der die Kinder (Erzieherinnen und Eltern) kurze Zeit vor dem bevorstehenden Schulanfang konfrontiert werden. Dass dies in vielen Fällen zu Überforderungen, Entwicklungskrisen und langfristigen Schulproblemen und -aversionen führen kann, ist nicht zu übersehen. Hier ist ein Umdenken erforderlich: Die Frage nach der Schulfähigkeit der Kinder muss auch in Verbindung mit der Frage nach der Kindgerechtheit der Schule und der Kindgemäßheit des Übergangs gestellt werden. Auch die Herausforderung des Übergangs müssen „von unten“ her gedacht sein, d.h. die Konzepte müssen sich daran messen lassen, wie gut es gelingt vor allem benachteiligten Kindern so in ihrer Entwicklung zu fördern, dass ein erfolgreicher Schulstart gelingt. Ein solches Umdenken findet vielerorts schon statt, allerdings fehlt es häufig noch an den geeigneten Rahmenbedingungen und an dem kollektiven Willen sowohl bei politischen Entscheidungsträgern als auch bei Schulleitungen und Lehrkräften sowie Kommunen und Trägern des Vorschulbereichs. Für die Verbesserungen an dieser Stelle des Bildungssystems können hier nur einige Stichworte genannt werden:
204 x Konsistenz: Enge Verzahnung der institutionen- und ressortübergreifende Kooperation zur Betreuungs- Erziehungs- und Bildungsarbeit insbesondere zur Unterstützung benachteiligter Kinder und ihrer Eltern, beispielsweise nach dem Vorbild der Early Excellence Centers in Großbritannien. x Frühe Diagnostik der kindlichen Lernvoraussetzungen (siehe bspw. Sprachstandserhebung in Hessen wie MSS (vgl. Holler-Zitlau 2004 oder das aktuelle Nachfolgeprogramm KiSS), x Förderung von Vorläuferfähigkeiten (vgl. Küspert/Schneider ³2002, Krajewski 2007). x Anwendung von erprobten Modellen der Öffnung am Beginn der Grundschule: altersgemischte, offene Eingangstufen für 5-8-jährige Kinder, halbjährige Einschulung (vgl. Faust 2006) und/oder x Einrichtung von Förderklassen in der Art der reception class für alle 5jährigen Kinder nach englischem Vorbild. Etc.
3. Frühkindliche Bildung als öffentliches Thema – eine kritische Auswertung 3.1 Vorschulbereich – frühe Bildung jenseits der Qualitätsdiskussion Während die familialen Bildungsstrategien und -ressourcen als Fundament der kindlichen Entwicklung in der Schule noch wenig beachtet werden, gibt es in den letzten Jahren eine rege öffentliche Diskussion um frühkindliche Bildung. Insbesondere die Fragen nach dem Bildungsauftrag des Kindergartens und der Qualitätssteigerung und -sicherung vorschulischer Betreuungsund Bildungseinrichtungen für Kinder von unter sechs Jahren ist momentan ein allgegenwärtiges Thema. Es gibt hierzulande einen großen Entwicklungsrückstand gegenüber vielen anderen frühindustriealisierten Staaten, die schon in den letzten zwei oder drei Jahrzehnten große Anstrengungen auf diesem Gebiet unternommen und schlüssige Konzepte für den Elementarbereich entwickelt haben (z.B. Kanada, Finnland, Schweden, Großbritannien) oder auf eine längere Tradition der frühkindlichen „Beschulung“ zurückblicken können (bspw. Frankreich, Spanien). In Deutschland wird darüber gegenwärtig eine intensive und vielfältige Diskussion geführt, und es werden verschiedene Bildungsprogramme, Konzepte der Qualitätssicherung
205 u.Ä. entwickelt. Wir erleben eine regelrechte Expansion des Elementarbereichs, bei der mit milliardenschweren Programmen eine bessere Versorgung gewährleistet werden soll.8 Allerdings ist, wie so oft im deutschen Bildungswesen, gegenwärtig ein großes Durcheinander von bildungspolitischen Maßnahmen (inklusive Gesetzen, Regelungen, Verordnungen usw.) und eine gleichzeitige Entwicklung von pädagogischen Konzepten sowie verschiedenen Bildungsplänen und -standards, etc. festzustellen. Die im Bildungsbereich schon gewohnten Differenzen und Verwerfungen durch die Kulturhoheit der Länder werden durch die traditionelle Aufspaltung der Zuständigkeiten für den Vorschul- und Schulsektor in Sozial- und Kulturministerien und eine entsprechende Separierung von Elementar- und Primarbereich noch verstärkt. In den anhaltenden Diskussionen über die PISA-Ergebnisse und angesichts der – trotz vielfältiger Maßnahmen – nur geringfügigen Verbesserungen der messbaren Schulleistungen, richtet sich die bildungspolitische und erziehungswissenschaftliche Aufmerksamkeit zunehmend auf den Vorschulbereich. Es wird in der Öffentlichkeit von verschiedenen Interessenvertretern geäußert, dass Kindergärten und Kindertagesstätten die Kinder nicht ausreichend auf die Schule vorbereiteten und so Bildungschancen in wichtigen Entwicklungsphasen verschenkt würden. Von der Frage nach der „Kindertauglichkeit“ der Schule und deren Schwierigkeiten, einen erfolgreichen Schulanfang für alle Kinder zu gewährleisten, wird der Blick auf die Kindergärten und damit auf die „Schultauglichkeit“ bzw. Schulfähigkeit der zukünftigen Schüler gerichtet (vgl. Rauschenbach 2006). Bei der Analyse der pädagogischen Praxis in Kindertageseinrichtungen wird immer wieder kritisiert, dass es eine zu starke Ausrichtung auf die Pflege und Betreuung der Kinder gebe und diese vor allem dem Freispiel überlassen würden statt mit anspruchsvollen Bildungsangeboten und einer schulvorbereitenden Erziehung konfrontiert zu werden; Liegle resümiert, dass die Einrichtungen „nicht jene personale Umwelt für Kinder verkörpern und jene sachliche Umwelt vorbereiten, die geeignet sein könnte, die lebensphasenspezifischen
8 Dazu gehören der Ausbau von Krippen und Kindertageseinrichtungen, die Entwicklung verschiedener Bildungspläne, die Diskussion über ein kostenloses Pflichtjahr im Kindergarten, die Aufstockung des Personals in öffentlichen Tageseinrichtungen, eine schrittweise Akademisierung der Ausbildung über verschiedene Studiengänge an Hochschulen usw.
206 und individuelle (Selbst)Bildungsprozesse der Kinder angemessen zu unterstützen und anzuregen“ (Liegle 2006, S. 102f.).9 Die hohe Aufmerksamkeit, die der Elementarbereich und die frühe Bildung gegenwärtig erhalten und die damit einhergehende umfassende finanzpolitische Unterstützung ist sicherlich begrüßenswert. Wenn man die Ergebnisse der IGLU-Studie betrachtet (Bos 2004), ist die zuletzt einseitige Ausrichtung der Diskussion jedoch bemerkenswert. Die deutschen Grundschüler erbrachten hier zu einem großen Teil erfreuliche Leistungen; sie waren in allen Bereichen erfolgreich und zeigten sich bei den nach PISA vieldiskutierten Leseleistungen die besten Ergebnisse in Europa. Die Ergebnisse dieser Studie sprechen nicht nur für die erfolgreiche Arbeit an deutschen Grundschulen, sondern auch für die gute Vorbereitung der Kinder durch die Kindergärten, die sich insbesondere auch daran zeigt, wie eng gute Schülerleistungen mit der Dauer der vorausgegangen Kindergartenzeit korrelieren. Geht man den Fragen nach der Qualität von Kindertageseinrichtungen nach, ergibt sich interessanterweise, dass die Qualität der Kinderbetreuung (im Urteil von Eltern, Erzieherinnen und Lehrerinnen) gemäß der sozialpädagogischen Orientierung in der Stärkung der Persönlichkeitsentwicklung (Selbstvertrauen, positives Selbstbild usw.) und der Vermittlung sozialer Fähigkeiten liegt, nicht aber unmittelbar an den schulischen Lernleistungen sichtbar wird. Trotzdem werden gerade durch diese Art der Förderung Voraussetzungen für die Bewältigung schulischer Anforderungen geschaffen.10 Angesichts der hier skizzierten Erfolge der pädagogischen Arbeit am Übergang in die Schule besteht kein Grund, die Entwicklungsarbeit an Kindergärten und Grundschulen einzuschränken. Allerdings erscheint die gegenwärtige Fokussierung der öffentlich-politischen Diskussion 9 Grundlage dieser Einschätzung sind Erhebungen der Schulfähigkeit in Kindertageseinrichtungen; eine landesweite Studie in Baden-Württemberg hat ergeben, dass bei 23% von ca. 6.000 Schulanfängern, die vorher einen Kindergarten besuchten, Förderbedarf bestand. Diese Kinder zeigten in Testverfahren eingeschränkte Wahrnehmungs- und Sprachfähigkeiten. (Liegle 2006, S. 102). Wobei die oben schon aufgezeigte hohe Bedeutung der familiären (also primären) Sozialisationsfaktoren in dieser Art von Qualitätsforschung und -diskussion um den Elementarbereich zu wenig Beachtung findet. 10 Wobei Kinder aus Armutsverhältnissen, auch wenn sie in diese Einrichtungen integriert sind, insgesamt weniger von diesen positiven Effekten profitieren und diese weniger gut als Kinder sozioökonomisch besser gestellter Familien in gute Schulleistungen „übersetzen“ können (vgl. Strehmel 2007).
207 auf den Elementarbereich, wenn mit mangelnder Qualität argumentiert wird, wenig plausibel und kann fast schon als eine Ablenkung von den offensichtlichen Verwerfungen beim Übergang in den Sekundarbereich erscheinen. In jedem Fall helfen solche Fakten die tatsächlichen Desiderata klarer zu sehen und manche gegenwärtig geforderten oder politisch betriebenen Maßnahmen kritisch zu betrachten. In der Forschung und der Bildungspolitik zum Elementarbereich wird in den letzten Jahren allenthalben über den Qualitätsbegriff diskutiert, und es werden verschiedene Programme der (Selbst)Evaluation und Qualitätskontrolle entwickelt, „reanimiert“ und implementiert. Ohne hier ausführlich auf die verschiedenen Ansätze eingehen zu können, lässt sich auch an diesem Aspekt die Rückständigkeit des deutschen „Bildungsdiskurses“ aufzeigen. Blicken wir etwa auf Länder, die mehr Erfahrung mit der Erforschung und erfolgreichen Gestaltung frühkindlicher Bildung haben, kann man die Zeitverzögerung der deutschen Bildungsreformen in diesem Bereich nachzeichnen: Die Qualitätsdebatten (und -forschungen) sind dort in den letzten 30 Jahren intensiv geführt worden. Und während man in Deutschland gegenwärtig alles mögliche Verpasste aufzuholen und zu kopieren versucht – häufig ohne die internationale Forschungslage zu eruieren –, wird dort auch wieder „jenseits“ der Qualitätsdiskussion über frühe Bildung nachgedacht. So kommen Gunilla Dahlberg, Peter Moss und Alan Pence11 in dem internationalen Standardwerk Beyond Quality in Early Childhood Education und Care – Languages of Evaluation (²2007) zu dem Schluss, dass bei aller Bedeutung von Beobachtung, Dokumentation und Evaluation in der frühpädagogischen Praxis die vorrangige Orientierung am Qualitätsbegriff problematisch ist, denn sie ist tendenziell “... value-ridden and dangerous, especially when deployed as part of a narrowly conceived yet powerfully implemented approach to early childhood, which seeks to govern the child through normalisation, technical practice and instrumental rationality (ebd., S. XV, Hervorhebung P.G.).
11 Alle drei Autoren sind in ihren Ländern (Schweden, England, Kanada) seit den 1980er Jahren in verantwortlichen Positionen nicht nur an der Forschung, sondern auch an der administrativen Umsetzung und Evaluation pädagogischer Programme tätig.
208
3.2 Neue Bildungspläne – wider die Verschulung des Elementarbereichs Zur Zeit werden in Deutschland vor allem pädagogische Konzepte vorangetrieben, die darauf ausgerichtet sind, möglichst früh mit Kleinkindern an schulrelevanten Fähigkeiten zu arbeiten – neben der Diskussion um Früheinschulung werden viele Ideen zur frühen Mathematik- und Sprachförderung, zu Frühenglisch/mehrsprachiger Früherziehung, früher naturwissenschaftlicher Bildung etc. ausprobiert. Hier müssen zum Teil fragwürdige Entwicklungen und überzogene Erwartungen an die Möglichkeiten des (institutionalisierten) Lernens im Vorschulalter festgestellt werden.12 In Phasen der bildungspolitischen Betriebsamkeit finden solche Ansätze und Forderungen großes Interesse, was nur mit einer Blindheit für eine Reihe vorangegangener Anstrengungen in derselben Richtung erklärt werden kann, die schon gescheitert sind. Die Entwicklung vorschulpädagogischer Curricula und Frühlernprogramme, wie sie derzeit wieder vielfältig zum Vorschein kommen, können zu einem erheblichen Teil als mehr oder weniger bekannte Versuche einer Verschulung des Elementarbereichs angesehen werden, deren Sinn sich auf keiner einschlägigen Forschung zu diesem Feld begründen lässt. Verschiedene Programme zu einer solchen Vorverlagerung schulischen Lernens haben im Gegenteil anhand gründlicher empirischer Forschung bereits vor 30 Jahren gezeigt, dass solches Tun keine der gewünschten Lernerfolge und -beschleunigungen erzielt, sondern in dieser Hinsicht eher negative Effekte hat13 und sich das Lernen fünfjähriger Kinder nicht in einer solchen Weise forcieren und institutionalisieren lässt, wie das gegenwärtig wieder vielfach gefordert wird (vgl. Dollase 2008). Auch prominente Ansätze, die gegenwärtig mit hohem Aufwand betrieben werden14 und rhe12
Ausdrücklich nicht angesprochen sind dabei Programme, die aus dem Kontext lerndiagnostischer Forschung kommen und an der Förderung sogenannter Vorläuferfähigkeiten ansetzen (vgl. Küspert/Schneider ³2002, Krajewski 2007); diese sind auf einer soliden Forschungsgrundlage konzipiert und gründlich evaluiert worden und ihr praktischer Nutzen in Kindergärten und Grundschulen wurde vielfach bestätigt. 13 Vgl. hierzu beispielsweise aufwändige Studien aus den 1970er Jahren wie das HEAD-StartProgramm in den USA oder den Kindergarten/Vorklassen-Versuch NRW in Deutschland (vgl. Dollase 2008). 14 Gemeint sind an dieser Stelle die Bildungspläne aus dem Institut für Frühpädagogik in München (IFP), die zur Zeit in Bayern und Hessen erprobt und implementiert werden.
209 torisch von Ko-Konstruktion und Kindorientierung ausgehen, können im Wesentlichen als in sich widersprüchliche „Instruktionspläne“ gekennzeichnet werden (vgl. Schäfer 2003), die letztlich eine nicht entwicklungsangemessene fachsystematische (Schul-) Didaktik in den Elementarbereich vorverlagern wollen. – Hier wird viel von kindgerechtem Lernen geredet und Konsistenz im Bildungssystem angestrebt; diese wird dann aber ohne ein Konzept frühkindlicher Bildung von oben nach unten zu erzwingen versucht. Solche „Schieflagen“ einer fehlgeleiteten Oben-unten-Perspektive lassen sich auch auf einer anderen Ebene der Bildungsreformen aufzeigen – nämlich an der Finanzierung des Bildungssystems.
3.3 Zur Verteilung von Bildungsausgaben – Schieflagen und konkrete Utopie Wenn man für die stärkere Hinwendung zur Bildung und Förderung in der (frühen) Kindheit plädieren will, lassen sich auch wirtschaftliche Gründe anführen; ein solcher Zugang macht auch noch einmal die bereits angesprochene enge Verwobenheit von bildungs- und sozialpolitischen Fragen deutlich, denn schlicht und formelhaft gesagt: Erfolgreiche frühe Bildung schafft Rendite, mangelnde Förderung verursacht erhebliche Folgekosten. Es wurde und wird vielfach gefordert, der deutsche Staat müsse insgesamt mehr Geld für Bildung, Forschung und Entwicklung ausgeben, denn der Anteil des Bruttoinlandsproduktes, der hier investiert wird, ist seit Jahren deutlich geringer als in vielen anderen Ländern.15 Schaut man nur auf das Schulsystem ist zwar festzustellen, dass die Situation im internationalen Vergleich hier besser ist; die Ausgaben pro Schüler waren zuletzt sogar höher als der OECD-Durchschnitt, allerdings ist auch hier die bereits beklagte deutsche Orientierung „von oben“ erkennbar: Für den Sekundarbereich liegen die Ausgaben pro Schüler fast 50% über dem Durchschnitt (64. 500 US-$ zu 15
Vgl.: www.bpb.de/publikationen/Bildungsausgaben: Der Anteil des Bruttoinlandsproduktes für die Bildungspolitik liegt bei 4,3%; dies ist deutlich unter dem EU- und OECDDurchschnitt, der in den letzten Jahren immer um 5% lag, wobei die Steuerzahler in Schweden, Norwegen, Finnland und Dänemark bis zu 6,5% des BIP für Bildung ausgeben.
210 45. 700 US-$), während die Ausgaben im Primarbereich rund 40% unter dem Durchschnitt liegen (18. 500 US-$ zu 31. 500 US-$) (vgl. Renneberg 2007). Man könnte hier zwar einwenden, dass die Primarschulzeit in Deutschland kürzer ist als in einigen Vergleichsländern und so die Aussagekraft der Zahlen etwas abschwächen, aber auch die Investitionen pro Grundschüler pro Jahr sind in Deutschland noch immer deutlich unter denen für einen Sekundarstufenschüler. Diese Art der Verteilung scheint ausgesprochen kurzsichtig und wenig zukunftsträchtig zu sein. Unter dem Motto „Wer an den Kindern spart, wird in Zukunft verarmen“ hat die Unternehmensberatungsfirma McKinsey deshalb in Deutschland eine Initiative für frühkindliche Bildung gestartet. Hintergrund war die Feststellung, dass sich Bildungsinvestitionen in der Vorschulzeit für die Gesellschaft mit 12% verzinsen, während die Rendite des Hochschuldstudiums lediglich 3-4% beträgt (vgl. Kahl 2006). Es genügt nicht, die Bildungsausgaben zu steigern, eine Umverteilung derselben „nach unten“ und eine durchdachte und gezielte finanzielle Unterstützung an „Nahtstellen“ des Bildungssystems müsste benachteiligten Kindern möglichst früh zugute kommen. Wenn die Benachteiligungen eines wachsenden Anteils von Kindern verringert werden soll, müsste mindestens das letzte Kindergartenjahr kostenfrei sein – besser wäre ein freier Zugang für alle Kinder ab dem dritten Lebensjahr. Außerdem wäre ein umfassendes Unterstützungssystem für die Grundschulen mit zusätzlichen personellen Ressourcen vonnöten, etwa nach finnischem Vorbild mit Ganztagsangebot sowie kleinen Sprachförderklassen und -gruppen, in denen benachteiligte Kinder gezielt unterstützt werden können sowie einem in die Schule integrierten Team aus Schulkrankenschwester, Sozialarbeiter der Gemeinde (Ombudsmann) und Förderlehrkräften. Es würde sich lohnen, einen Teil der gegenwärtig für den Krippenausbau investierten Milliarden und der in den Sekundar- und Tertiärbereich verlagerten Ausgaben in ein ähnliches Unterstützungssystem für den Schulübergang und -anfang zu investieren. Hier müsste nicht das Rad neu erfunden werden: Schulpsychologen, Schulsozialarbeiter und Förderlehrkräfte gibt es, und sie sind bereits vielfältig in der Regelschule
211 tätig – es bräuchte nur mehr von ihnen und eine alltägliche integrierte Zusammenarbeit im Vor- und Grundschulbereich.16
Fazit: Evidenzbasierte Diskussion um frühe Bildung Es ging im Vorhergehenden vor allem um die institutionellen Übergänge in der frühen Kindheit. Bei der kritischen Auseinandersetzung mit einigen derzeitigen Entwicklungen im Vorschulbereich waren allerdings auch „Diskursübergänge“ zwischen verschiedenen Interessengruppen (Wissenschaft, Politik, Medien, Journalisten, Eltern usw.) angesprochen, an denen es häufig zu „Reibungsverlusten“, Verständnisschwierigkeiten und ideologischen Verzerrungen kommt. Hier gilt es von Seiten der Erziehungswissenschaft – neben der Arbeit an noch immer vorhandenen Forschungslücken – stärker als bisher, heikle Tendenzen aufzuspüren und durch die Vermittlung wissenschaftlicher Erkenntnisse aus In- und Ausland in andere gesellschaftliche Bereiche hinein die Diskussion über frühe Kindheit sowie Bildungstheorie, planung und -praxis des Vorschulbereichs zu versachlichen. Es sind vier Desiderata deutlich geworden, die in der öffentlichen Diskussion um das Bildungswesen häufig ausgeblendet oder nur sehr oberflächlich und missverständlich aufgegriffen werden: 1. Das Postulat einer Ausrichtung schlüssiger pädagogischer und bildungspolitischer Konzepte „von unten“, statt einer Orientierung „von oben“ und einer Vielzahl widersprüchlicher normierender und standardisierender Maßnahmen. 2. Die Herausforderung der Heterogenität, d.h. die Frage nach der unterschiedlichen Herkunft der Kinder und die vielen Schwierigkeiten, die
16 Stattdessen hat man den Eindruck, dass in diesen Bereichen bei jeder sich bietenden Gelegenheit gekürzt wird. So wurden beispielsweise in Hessen vor allem seit 2003 hier viele Stellen gestrichen und Stunden gekürzt, um dann drei Jahre später die Grundschullehrkräfte über Verordnungen zur einer umfassenden (Mit-)Übernahme förderpädagogischer Aufgaben zu zwingen, inklusive der „Einrichtung von Stütz- und Fördermaßnahmen“, einer individuellen Förderdiagnostik jedes einzelnen Kindes etc. und sie für das schulische Scheitern desselben gleichsam gesetzlich haftbar zu machen (vgl. VOLRR bzw. §§ 3 Abs. 6 und 50 des Hessischen Schulgesetzes).
212 im Zusammenhang damit bereits beim ersten Übergang der Kinder von der familiären Kultur und Erziehung in das Bildungssystem auftreten. 3. Das Problem kindgerechter institutioneller Übergange in den Vorschulbereich und in die Grundschule, also die Fragen nach schlüssigen und konsistenten Konzepten der Integration verschiedener Kinder und nach einem umfangreichen Unterstützungssystem für Benachteiligte (sowie dessen Finanzierung und Ausgestaltung). 4. Die Notwendigkeit eines umfassenden Verständnisses früher Kindheit und frühkindlicher Bildung, um auf dieser Grundlage auch jenseits der Diskussion um institutionelle Qualität und schulische Leistungsanforderungen forschungsbasierte und entwicklungsangemessene Konzepte für eine zeitgemäße Pädagogik der (frühen) Kindheit weiterzuentwickeln.
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215
Ludwig Duncker
Bildung und Heterogenität Zerreißproben für das Bildungssystem 1. Die unbewältigte Dialektik von Bildung und Heterogenität Wer sich mit dem Zusammenhang von Bildung und Heterogenität befasst, findet zwei separat geführte Diskussionen vor, die sich widersprechen, in ihrem Gegensatz aber kaum angemessen aufgegriffen und reflektiert wurden. Da ist zum einen die bildungs- und schulpolitische Diskussion zu nennen, in der sich dieser Zusammenhang eher rudimentär, jedenfalls stark verkürzt abbildet und der durch einen Mangel an theoretischer Fundierung gekennzeichnet ist. Zum anderen ist auf die über 200jährige bildungstheoretischen Diskussion zu verweisen, in der zahlreiche idealistisch anmutende Aussagen gefunden werden können. Man kann deshalb behaupten, dass der Zusammenhang von Bildung und Heterogenität zwar immer wieder thematisiert, in der vollen Tragweite seiner inneren Problematik jedoch kaum angemessen erfasst und konsequent durchgearbeitet wurde. Die Schwierigkeiten liegen auf der Hand: Bildung und Heterogenität können kaum in ein harmonisches Miteinander und in ein additives Sowohlals-auch nebeneinander gestellt werden. Es handelt sich hier um eine komplizierte Relation, die in sich widersprüchlich zu sein scheint, so dass eine Auflösung auf die eine oder andere Seite wohl kaum in Frage kommen kann. In einem solchen Fall kann man von einem dialektischen Spannungsfeld sprechen. Eine erste These in der Beschäftigung mit den Leitbegriffen Bildung und Heterogenität besteht also darin, dass hier von einer Dialektik ausgegangen werden muss, die für das pädagogische Denken und Handeln eine große Herausforderung bedeutet und eine nur schwer zu lösende Aufgabe darstellt. Vielleicht wurde sie deswegen häufig verfehlt, nicht durchgehalten, nicht ausgehalten oder wie immer auch nur einseitig bearbeitet. In der über 200-jährigen Tradition des Bildungsbegriffs ist dieses dialektische Spannungsverhältnis immer wieder angesprochen, in der praktischpolitischen Umsetzung bei der Gestaltung des Schulwesens aber verfehlt
216 worden. Theoretisch wurde es als ein Grundproblem des Bildungsgeschehens durchaus formuliert. Es ging immer wieder darum, wie die Spannung von Einheit und Vielfalt, von Universalität und Spezialität, von Integration und Differenzierung als Denkzusammenhang zu verstehen ist. Für die Gestaltung des Bildungswesens und seine praktische Bewältigung lassen sich aber daraus keine unmittelbar erfolgversprechenden Konzepte ableiten. Im Hin und Her der Positionen und Entwürfe durchzieht die Bildungsgeschichte deshalb die Suche nach Lösungen, und sie findet bis heute ihren streitbaren Ausdruck darin, wie sich der Gedanke der Einheit von Bildung auf verschiedene Inhalte und Formen des Lernens, auf Schulformen und Bildungssysteme, auf Pflicht- und Wahlangebote projizieren lässt. Wichtig bleibt dabei in umgekehrter Denkrichtung, wie pluralistisch sich ausdifferenzierende Konzepte wieder so zusammengebunden und auf einen gemeinsamen Rahmen bezogen werden können, dass ein Auseinanderdriften und Zerbrechen in Einzelbestandteile verhindert wird. Beide Denkbewegungen, die Ausdifferenzierung eines einheitlichen Bildungsgedankens auf der einen Seite und das Hinführen und Verbinden heterogener Konzepte auf eine gemeinsame Plattform hin können deshalb wie zwei Seiten ein und derselben Medaille begriffen werden. Erschwerend kommt hinzu, dass die Lösungsversuche rückgebunden bleiben müssen an gesellschaftliche Entwicklungen. Es sind vor allem die Veränderungen im Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen und die bildungspolitischen Strategien und Reflexe auf die internationalen PISA- Vergleichsuntersuchungen, in deren Spiegel gerade die bundesdeutsche Situation als besonders veränderungs- und verbesserungsbedürftig erscheint. Gerade die PISA-Ergebnisse zeigen aufs Neue die unbewältigte Dialektik von Bildung und Heterogenität (PISA 2006). Manch aktuelle Verlautbarungen erscheinen vor dem Hintergrund der bildungstheoretischen Diskussion als vordergründig hektisch und aktionistisch, als zu unüberlegt und zu kurzsichtig. Vor allem solche Äußerungen und Vorschläge, die jeweils nur auf die eine Seite des skizzierten Spannungsfelds hinweisen, verfehlen die Komplexität der Materie gründlich. Wer nur auf eine Seite setzt und damit die andere vernachlässigt, riskiert ein Scheitern seines Konzepts, noch bevor es die Praxis erreicht. Wer also, mit anderen Worten, nur auf die Einheit der Bildung, auf Integration und gemeinsame Verbindlichkeiten, auf Standardisierung und Universalität setzt, droht genauso zu scheitern wie jemand, der die Lösung aller Probleme allein in Maßnahmen der Individualisierung und Differenzierung von Bildungspro-
217 zessen sieht und auf freie Wahl und eigenes Interesse, auf Privatisierung und den freien Markt der Bildungsangebote, auf Eigeninitiative und Nachfrage, auf Offenheit und Selbstbestimmung verweist. Die These, dass die komplizierte Dialektik von Vielfalt und Einheit der Bildung allzu leicht verfehlt wird, soll im Folgenden an zwei Diskussionen aufgezeigt werden. Vielleicht zeigen diese Beispiele auch, dass es sogenannte „reine“ und „ideale“ Lösungen auch gar nicht geben kann und dass die Reform des Bildungssystems deshalb als ein unabschließbarer Prozess und als ein ständiges Ringen um bessere Lösungen verstanden werden muss.
2. Bildung für alle – der Anspruch von Aufklärung und Demokratie Wer mit dem Bildungsbegriff arbeitet, muss zunächst festhalten, dass in ihm der Gedanke der Unteilbarkeit fest verankert ist. Diese These ist bildungsgeschichtlich, bildungspolitisch und bildungsphilosophisch in breiter Weise begründet worden (vgl. Klafki 1994, Tenorth 1994). Seit den Postulaten der Aufklärung und des Neuhumanismus gilt die Aussage, dass Bildung nicht einem Teil der Menschheit vorenthalten werden darf, in unstrittiger Weise. Bildung bedeutet für alle Menschen einen Weg der Befreiung aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit – so wäre es mit Immanuel Kant zu formulieren. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts wird mit Wilhelm von Humboldt und Johann Friedrich Herbart Bildung dann als ein Prozess verstanden, in dem es darum zu gehen habe, die „allseitige Entfaltung der Kräfte des Menschen“ (v. Humboldt 1969) und ein „vielseitiges Interesse“ (Herbart 1965) hervorzubringen. Gerade die philosophisch-anthropologische Begründung hat Bildung als Frage einer umfassenden Entfaltung der Persönlichkeit und als Dialektik von Individuierung und Enkulturation beschrieben – eine Plattform, die bis heute ihre fruchtbare Wirkung entfaltet hat (Duncker 1994). Es ist eine Position, hinter die man nicht mehr zurückfallen darf und die beispielsweise verhindert, dass die Schule allein als Ort des Qualifizierens, als Ort des Verfolgens von Ausbildungszwecken und des Bedienens eines gesellschaftlichen Bedarfs gelten darf (Duncker 2005). Wer den allgemeinbildenden Anspruch von Schule nicht aufgeben will, muss deshalb verhindern, dass Schule ausschließlich als Output-Betrieb verstanden wird, als eine Institution, die gesellschaftliche Funktionen zu erfüllen hat. Bildung
218 wird deshalb in der Tradition der Aufklärung und des Neuhumanismus zum Maßstab für eine solche Ausgestaltung von Schule und Unterricht, die die Entfaltung von Individualität im Sinne der Vervollkommnung des Menschen und der Ausbildung aller seiner Kräfte im Blick behält, ihn nicht allein zum Werkzeug und Objekt gesellschaftlicher Vereinnahmung macht (Benner 1995). Erst unterhalb dieses allgemeinen Anspruchs werden dann Differenzierungen vollzogen, die auch für die Gliederung des Schulwesens eine teilweise glückliche, teilweise aber auch problematische Wirkung entfaltet haben. Dass im Verlauf des 19. Jahrhunderts Bildung nicht allen Teilen der Bevölkerung in gleichem Maße zu Teil wurde und bisweilen sogar in den Verdacht einer elitären Vereinnahmung geriet, ist den politischen Verhältnissen des 19. Jahrhunderts verschuldet (Leschinsky/Roeder 1982), nicht jedoch dem Bildungsbegriff selbst und seinen Ideengebern. Zumindest ist durch die Formulierung des Bildungsbegriffs mit seinem Anspruch der Unteilbarkeit und Gültigkeit für alle Menschen eine Norm gesetzt, die zum Maßstab für die Ausgestaltung und Bewertung des Bildungswesens geworden ist und die bis heute ihre nachhaltige Wirkung entfaltet hat. Gewiss, es wurde schon angedeutet, die Beschwörung von Bildung kann zur Sonntagsrede werden, zu einer Art Präambel, die sich von den genaueren Bestimmungen abkoppelt und dann die Wahrnehmung uneingelöster Versprechen vernebelt. Auch die Gründerväter des Bildungsgedankens waren dem Vorwurf ausgesetzt, allzu idealistisch lediglich Wunschformeln verkündet zu haben, die angesichts einer defizitären Realität sogar einen ideologischen Charakter annehmen können. Aber wer den Vorwurf erhebt, mit dem Postulat der Unteilbarkeit von Bildung sei eine bloß idealistische Position eingenommen und die Tatsache gesellschaftlicher Ungleichheit ignoriert, verkennt, dass er ja selbst mit dem Postulat und dem Maßstab der Unteilbarkeit von Bildung argumentiert. Spätestens mit der Einführung der Demokratie hat der Anspruch der Unteilbarkeit von Bildung Verfassungsrang erhalten. In der Weimarer Verfassung (§ 146) ist mit der Einrichtung der Grundschule ein wichtiger Meilenstein in der Umsetzung des Rechts auf Bildung für alle Kinder getan (vgl. auch Rodehüser 1987, Neuhaus-Siemon 1995). Die philosophisch-anthropologische Begründung des Bildungsbegriffs von Humboldt wird nun übersetzt in eine politisch-demokratische Position. Auf diesen Zusammenhang soll hier näher eingegangen werden. Ich greife deshalb im Folgenden auf die
219 Epoche des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts zurück, in der sich dieser demokratisch-politische Anspruch von Bildung in einer qualitativ neuen Weise artikuliert. Bevor es zur Verankerung der Grundschule in der Weimarer Verfassung kam, gab es eine intensiv und kontrovers geführte öffentliche Debatte, aus der hier einige Stücke herausgegriffen werden sollen.
3. Die Kontroverse um die Einrichtung einer gemeinsamen Elementarschule 3.1 Die demokratisch-politische Position von Johannes Tews Exemplarisch für die Auseinandersetzung um die Einrichtung einer gemeinsamen Elementarschule sind zwei Texte, auf die ich hier zurückgreife. Der erste Text beruht auf einem Vortrag von Johannes Tews am 14. Dezember 1895. Johannes Tews war Lehrer und Generalsekretär des „Vereins zur Verbreitung von Volksbildung“ – ein damals sehr bedeutsamer Lehrerverband, in dem vor allem Volksschullehrer organisiert waren. In einer kämpferischen Rede zeigt sich Johannes Tews als glühender Verfechter der Idee einer gemeinsamen Elementarschule. Man muss sich dabei vergegenwärtigen, dass es zu seiner Zeit am Ausgang des 19. Jahrhunderts keine gemeinsame Schulen für alle Kinder gab, dass es vielmehr auf der einen Seite die Volksschule gab, die die Kinder einfacher Leute aufnahm, eine Schule, die schlecht ausgestattet war, schlecht ausgebildete und schlecht bezahlte Lehrer hatte und in der heute unvorstellbar große Klassen von bis zu 70 Kindern, manchmal sogar 100 Kindern unterrichtet wurden. Auf der anderen Seite gab es vor allem in den Städten schulgeldpflichtige „Vorschulen“, auf die die Kinder aus gebildeten und vermögenden Elternhäusern gingen und die auf das Gymnasium vorbereiteten. Im Schulwesen spiegelte sich deshalb eine weitgehend ständische Aufgliederung und Aufspaltung in der Gesellschaft. Johannes Tews verweist in seiner Rede auf folgende übliche Klassengrößen:
220
Anzahl der Schüler pro Schulklasse: Stadt
Volkschulen
Vorschulen
Posen
55
13
Bromberg
60
28
Breslau
58
29
Altona
67
42
Duisburg
67
17
Düsseldorf
68
37
Elberfeld
61
30
Barmen
67
21
Krefeld
63
22
Hinzu kam, dass um 1895 die Zeit einer aufkeimenden pädagogischen Reformbewegung in Deutschland sichtbar wurde, eine Zeit, die sich für das pädagogische Denken und Handeln als eine der fruchtbarsten Epochen in der Geschichte der Pädagogik erweisen sollte. Hervorzuheben ist, dass sich dabei ein neues Verständnis von Kindheit und Lernen ausbreitete, dass nach der Jahrhundertwende zahlreiche Versuchsschulen gegründet und neuartige Ideen und Konzepte erprobt wurden und dass später auch eine neue theoretische Reflexion über Erziehung und Bildung einsetzte (vgl. Flitner/Kudritzki 1982). Was die Überwindung standespolitischer gesellschaftlicher Ungleichheiten betrifft, so waren in der Rede von Johannes Tews bereits zahlreiche Argumente enthalten, die auch heute die Diskussion um die Einrichtung von integrativen Schulkonzepten bestimmen. Bei Tews war der Focus schwerpunktmäßig auf die Elementarschule gerichtet, auch wenn er weitere Aussagen zum Aufbau des Schulwesens machte. Der Begriff der Grundschule setzte sich erst 1919 und 1920 mit der Ausarbeitung der Weimarer Verfassung durch, in der Diskussion waren Begriffe wie „Volkseinheitsschule“, „allgemeine Nationalschule“, „gemeinsame Elementarschule“. Tews argumentiert aus der demokratisch-politischen Position heraus, wonach alle
221 Menschen die gleichen Rechte und dieselben Pflichten hätten, dass es deshalb keine Standesvorrechte geben dürfe und sich dies in der Ausgestaltung des Bildungswesens niederschlagen müsse. Er vertrat die Auffassung, dass es, wie damals üblich, kein zweiklassiges Schulwesen mehr geben dürfe, dass das Schulwesen vielmehr „organisch“ durchzugestalten sei und dass die Begabung der Schüler für die Bestimmung des weiteren Bildungswegs ausschlaggebend sein müsse. Grundlage eines organisch durchgestalteten Schulwesens müsse deshalb eine „gemeinsame Elementarschule“ sein. Die gemeinsame Elementarschule sei keine Armenschule, keine Schule der unteren Volksklassen, keine Proletarierschule. Sie habe eine vergleichbare Bildung für alle Kinder zu gewährleisten, die nach demselben Lehrplan zu unterrichten und auf die weiterführenden Schulen vorzubereiten seien. Für den weiteren Schulweg dürfe nicht die materielle Situation des Elternhauses ausschlaggebend sein, sondern nur die Begabung des Kindes. Er sagt: „In ihren unteren Klassen soll die Volksschule nach unseren Forderungen die Schule für alle, für das ganze Volk sein. Vielfach ist sie es auch. Auf dem Lande, in den meisten Kleinstädten, auch in vielen größeren Städten sind weder Vorschulen noch Privatschulen vorhanden. Alle Kinder besuchen in den ersten Jahren dieselbe Schule. Die unteren Klassen der Volksschule sollen nach unseren Wünschen und Ansichten in Stadt und Land, auch in den Geheimratsviertelns Berlin und seiner westlichen Vororte, in Potsdam wie in Gelsenkirchen, die große und weitreichende Aufgabe lösen, die Kinder aller Stände so zu unterrichten und zu erziehen, dass sie für die höheren Bildungsaufgaben gerüstet sind, also in formaler Beziehung eine möglichst hohe Stufe erlangt haben und die Elemente des Wissens und Könnens […] so vollkommen wie nur möglich beherrschen. Sie haben die Aufgabe, einen möglichst weit führenden Elementarunterricht zu erteilen.“ (1895, S. 3f.) Dies klingt in unseren Ohren sehr modern. In seinen Ausführungen scheint die Zukunft und die weitere Entwicklung der Schule fast visionär vorweggenommen zu sein. Auch klingt bereits an, dass es neben der Unterstufe eine so genannte Oberstufe der Volksschule geben solle. Er charakterisiert sie wie folgt: „Es bleiben nur Schüler einer ganz bestimmten Kategorie zurück, Kinder, welche dereinst im werktätigen Leben ihr Brot verdienen müssen, sei es, weil ihre geistigen Fähigkeiten für eine höhere Bildung nicht ausreichen, sei es, weil ihre Eltern nicht über die Mittel verfügen, sie über das Alter der
222 Schulpflicht hinaus zu erhalten. Die Oberstufe unserer Volksschule ist eine Spezialschule so gut wie die Realschule und das Gymnasium. Sie hat für ganz bestimmte Bildungsbedürfnisse zu sorgen und darin einen relativen Abschluss herbeizuführen. Sie entlässt Abiturienten wie jede höhere Schule, Knaben und Mädchen, denen ein weiterführender Unterricht nur in vereinzelten Fällen zuteil wird, denn die Fortbildungsschule kann auch in ihrer vollkommensten Gestalt nur für die Erhaltung des Gelernten und die Anwendung desselben auf das praktische Leben sorgen. – Unsere Volksschule ist also unten etwas ganz anderes als oben: Sie ist unten für alle Kinder berechnet, oben für die Rekruten des praktischen Berufs, für das werktätige Volk.“ (ebd., S. 4) Man kann in diesen beiden Passagen seiner Rede das Grundproblem erkennen, das seit der Weimarer Zeit den Aufbau des Schulwesens in Deutschland bestimmt und das bis heute als nicht wirklich gelöst betrachtet werden muss. Für die Grundschule wird eine egalitäre demokratischpolitische Begründung angeführt, die alle Kinder einschließt. Für die Gliederung der Sekundarstufe werden jedoch begabungstheoretische Argumente und gesellschaftliche Erfordernisse genannt. Verschwiegen wird, dass beide Argumentationslinien schlecht zusammenpassen und auf verschiedenen Ebenen liegen. Vielleicht liegt hier auch, so könnte man es zumindest Tews unterstellen, eine Kapitulation vor den Machtverhältnissen zugrunde, die damals die Einrichtung einer Einheitsschule für alle Kinder und Jugendlichen auch über die Zeit der Grundschule hinaus als illusorisch erschienen ließen. So wurde die Forderung, die Dauer der Grundschule auf vier Jahre zu begrenzen, bestimmt auch deshalb so gewählt, weil dadurch die Gymnasialfraktion nicht allzu sehr provoziert wurde. Denn eine vierjährige Dauer der Grundschule ließ die Struktur der gymnasialen Bildung unangetastet.
3.2 Politische und pädagogische Einwände Friedrich Wilhelm Foersters Nun hat sich damals eine skeptische Stimme zu Wort gemeldet, die „Bedenken gegen die Einheitsschule“ formuliert hat. Ich gehe hier auf Friedrich Wilhelm Foerster ein, einen Pädagogik- Professor aus München, der 1918 einen Text veröffentlicht hat, in dem er bekennt, ein „entschiedenster Gegner aller Einheitsschul-Ideen“ (S. 39) zu sein. Man könnte nun denken,
223 dass es sich bei Foerster um einen ewig Gestrigen und den Verfechter einer ständisch gegliederten Schullandschaft handelt. Dieser Vorwurf träfe nicht zu, im Gegenteil, man muss Foerster zu den überzeugten Demokraten zählen. Wegen seiner mehrfachen Kritik am deutschen Kaiser und dessen Politik wurde er inhaftiert, musste zur Habilitation ins Ausland gehen. Anfang der 20er Jahre gab er seinen Lehrstuhl in München auf, um in die Schweiz zu emigrieren, weil er Anschläge auf seine Person befürchten musste (vgl. Wirth 1999). Foerster bescheinigt der Idee der Einheitsschule durchaus einen „berechtigten Kern“, aber es fehle ihr noch völlig an einer „umsichtigen Durcharbeitung der Grundfragen“ (1918, S. 39). Das Leitprinzip dieser Einheitsschule, so lautet sein Vorwurf, bestünde allein im „Aufstieg der Begabten“. Aber dieser „Aufstieg der Begabten“, so sein Hauptargument, würde die Emanzipation einer ganzen „gesellschaftlichen Klasse“ erschweren, weil ihr die besten Köpfe entzogen würden. „Der Aufstieg des Volkes würde dem Aufstieg seiner begabtesten Köpfe geopfert werden: Die guten Gehirne würden dem Volke entzogen und den Interessen der oberen Klassen zugeführt werden“ (ebd.). Foerster geht also von einem Zustand der Aufspaltung in der Gesellschaft aus, der nicht plötzlich und durch die Einführung einer gemeinsamen Elementarschule überwunden werden könne. Bei der fortwährenden Existenz eines Klassenantagonismus würde die Auslese der Begabten sogar eine verhängnisvolle stabilisierende Rolle einnehmen. Der Aufstieg der Begabten würde, so Foerster, „in stärksten Widerspruch zum wirklichen Aufstieg des Volkes treten“ (ebd., S. 42). Neben dieser mehr gesellschaftspolitischen Argumentation führt Foerster jedoch auch einen pädagogischen Begründungszusammenhang aus: Er sagt, die neue Grundschule würde allein an den höheren Bildungszielen ausgerichtet. Der „Unterbau“ müsse sich dabei an den „Oberbau“ anpassen. Die Grundschule hätte keine eigenen Ziele mehr, sie hätte keine eigene Würde, keine pädagogische Selbständigkeit mehr. Als Durchgangsstation würde sie zu einer „Filtrieranstalt“, als Auslesebetrieb würde sie zu einem „sehr zugigen Ort“. Auch entstünde ein „verderblicher Ehrgeiz“, da alle mit der Erwartung des gesellschaftlichen Aufstiegs „aufgepeitscht“ würden. Und die, die den Aufstieg nicht schafften, würden abgestempelt und gedemütigt zurückbleiben. Es entstünde ein stigmatisierter Rest, der „interesselos“ werde und in ein „tiefes Schweigen“ verfalle (vgl. S. 43 f.).
224 Nach fast 100 Jahren müssen auch die Ausführungen von Friedrich Wilhelm Foerster wohl als weitsichtig beurteilt werden. Noch bevor die Grundschule in der Weimarer Verfassung verankert und dann in Deutschland verbindlich eingeführt wurde, weist er auf Folgeprobleme hin, die pädagogisch relevant sind: Die nach wie vor großen Standesunterschiede würden insofern nicht bewältigt werden, als in der Grundschule eine Ausrichtung nach oben erfolge und damit eine tragfähige Orientierung an der Lebenslage und den Alltagsproblemen, an den realistischen Zukunftsentwürfen und Lebenschancen aufgegeben werde. Für die Mehrheit der Schüler würde schulisches Lernen eine Entfremdung von ihrer Herkunft bedeuten, sie würden mit Hoffnungen eines gesellschaftlichen Aufstiegs aufgewühlt, die systematisch enttäuscht würde, weil am Ende der größte Teil doch zurückgelassen würde. Was 50 Jahre später in den 1970er Jahren als Selektionsfunktion der Schule kritisiert wurde (vgl. Rolff 1969, Fend 1980), hat Foerster bereits ein halbes Jahrhundert vorher plastisch beschrieben. Die Grundschule als „Filtrieranstalt“ und „Auslesebetrieb“ wird bei ihm zur zynischen Formel, die die Ideologie eines gesellschaftlichen Aufstiegs für alle brandmarkt.
4. Ein Sprung in die Gegenwart: Zur Problematik der Bewältigung von Heterogenität heute Natürlich hat sich die Gesellschaft heute im Vergleich zur Situation am Beginn der Weimarer Republik erheblich verändert. Heute spricht niemand mehr von einer Klassengesellschaft. Ganz andere Schlagworte haben sich zur Beschreibung des gesellschaftlichen Wandels in den Vordergrund geschoben: In der Soziologie und der Kulturphilosophie spricht man von der „Risikogesellschaft“ (Beck 1986), von der Erlebnisgesellschaft“ (Schulze 1992), der „Sensationsgesellschaft“ (Türcke 2002) oder der „Wissensgesellschaft“ (Höhne 2003), um nur einige Stichworte zu nennen. Die Aufmerksamkeiten haben sich verschoben, obschon die sozialen Differenzen in unserer Gesellschaft bei Weitem nicht verschwunden sind. Der jüngste Armutsbericht der Bundesregierung ist ein deutlicher Beleg dafür (Lebenslagen in Deutschland 2005). Die wachsende Armut bildet sich auch in den Schulen ab. So sind beispielsweise in Gießen etwa 25% der Schülerinnen und Schüler direkt von Hartz IV betroffen. In ganz Deutsch-
225 land sind es durchschnittlich etwa 20%. Diese Dimensionen stellen auch die Schullandschaft vor neue Herausforderungen. Die Heterogenität in unserer Gesellschaft nimmt deutlich zu, und dies wird zur Zerreißprobe nicht nur für den Zusammenhalt in der Gesellschaft, sondern auch für das Bildungssystem. Heterogenität hat Folgen für Partizipation und Teilhabe, für Lebensentwürfe und Zukunftschancen, für Selbstkonzepte und kulturelle Identität. Mit einer fortgeschrittenen Pluralisierung und Individualisierung der Gesellschaft stellt sich die Frage nach den verbindenden Momenten, nach Solidarität und Verantwortung, nach kulturellem Konsens und verbindlichen Wertvorstellungen. In das Arbeitsgebiet der Soziologie und Politikwissenschaft gehört Bearbeitung der Frage, wie viel Heterogenität in einer Gesellschaft wünschenswert und notwendig ist, aber auch, wo Grenzen liegen und wo sich ausbreitende Parallelwelten gefährlich und destruktiv werden (Teufel 1996). Die Erziehungswissenschaft bearbeitet solche Fragen eher aus der Perspektive der Kinder heraus und dann natürlich im Hinblick auf die Schule (Katzenbach 2007). Wieviel Heterogenität kann die Schule aushalten? Wo muss sie einen Konsens voraussetzen? Unter welchen Bedingungen kann sie Heterogenität noch bewältigen und welche Mittel stehen ihr für diese Bewältigung tatsächlich zur Verfügung? Haben sich personelle und materielle Ressourcen in dem Maße erhöht, wie der Schule zusätzlich zu lösende Aufgaben zugemutet wurden? Was den pädagogischen Umgang mit Heterogenität betrifft, so haben wir heute – ähnlich wie zu Beginn der Weimarer Zeit – zwei voneinander getrennt laufende Diskussionen: Diese beiden Diskussionszusammenhänge machen sich jeweils an der Grundschule und an der Gestaltung des Sekundarbereichs fest.
4.1 Innere Differenzierung in der Grundschule Die Grundschule wird heute, trotz der bis heute anhaltenden Kritik ihrer Selektionsfunktion, nicht in Frage gestellt. Im Gegenteil, die Grundschule erfreut sich einer großen Beliebtheit und Akzeptanz. Keine Schulart schneidet, was ihr Ansehen und das ihrer Lehrerschaft betrifft, in Umfragen besser ab wie die Grundschule. Dies kann durchaus als ein historischer Erfolg und eine nachträgliche Rechtfertigung auch der Argumentation von Johannes
226 Tews gedeutet werden. Niemand würde heute mehr auf die Idee kommen, angesichts der wachsenden Heterogenität in der Gesellschaft die Errungenschaft einer gemeinsamen Grundschule für alle Kinder in Frage zu stellen. Die Anstrengungen der Grundschule bei der Bewältigung von Heterogenität richten sich vorrangig auf Maßnahmen der inneren Differenzierung des Unterrichts. Dies spiegelt sich auch in zahlreichen Publikationen der Grundschulpädagogik und -didaktik wieder sowie an den Themen großer Fachtagungen. Erst im Herbst 2007 hat in Berlin die Jahrestagung der Grundschulpädagogen stattgefunden, die unter dem Leitthema stand: „Chancenungleichheit in der Grundschule – Ursachen und Wege aus der Krise“1. Das zu lösende Problem darf ja ohne Übertreibung als groß bezeichnet werden. Keine Schulart hat ein dermaßen weites Spektrum an Heterogenität zu bewältigen. Schulanfänger, die bereits lesen und schreiben können, andere, die den Zahlbegriff bis 5 noch nicht beherrschen. Heterogenität bezieht sich aber nicht nur auf das Spektrum zwischen Minderbegabung und Hochbegabung, sondern auch auf die migrationsbedingte kulturelle Vielfalt und Sprachbeherrschung, auf Medienkonsum und Freizeitverhalten, auf Unterschiede zwischen Mädchen und Jungen, auf Kinder mit und ohne Behinderungen, also auf all die Differenzierungen, die sich materiell, kulturell und sozial abbilden. Jedes Kind bringt seine eigene Lebensgeschichte und Lerngeschichte mit, seine Vorerfahrungen und den Anspruch, dass die Grundschule seinen eigenen Weg fördert und unterstützt. Der Katalog der Anforderungen für den Lehrerberuf multipliziert sich entsprechend hoch. Allerdings kann man manchmal den Eindruck gewinnen, dass die Bewältigung von Heterogenität auf Konzepte des Offenen Unterrichts beschränkt bleibt und dass es allein der didaktischen Kompetenz der je einzelnen Lehrkraft überantwortet wird, wie Differenzierung praktiziert und zur Geltung gebracht wird. Darin lässt sich eine Art Personalisierung des Problems erkennen. Das Problem der Bewältigung von Heterogenität wird auf die Person der Lehrkräfte abgewälzt. Was fehlt, sind institutionelle Regelungen, mit deren Hilfe die Vielfalt der Ansprüche erst pädagogisch und didaktisch abgestützt werden können. Hierzu gehören, ich nenne nur einige Stichworte, 1 Leitthema der 16. Jahrestagung der Kommission „Grundschulforschung und Pädagogik der Primarstufe“ der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft vom 24. bis 26. September 2007 an der Freien Universität Berlin
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x Begrenzung der Klassengröße; x Teamteaching und doppelte Klassenführung; x Anstellung von Assistenzlehrkräften, die kleine Gruppen unter der Anleitung des Klassenlehrers übernehmen; x Sozialpädagogen und Schulpsychologen, die fest an jeder Schule angestellt sind; x Sonderpädagogen, die keine eigene Klasse übernehmen, sondern solche Kinder betreuen, die einen besonderen Förderbedarf haben; x gut ausgestattete Fachräume wie Bibliotheken und Medienräume, Räume für Musik und Kunst, für technisches Werken und Kochen; x auch eine Krankenschwester darf nicht fehlen. Was ich hier zusammenstelle, ist kein utopischer Wunschkatalog. In vielen Ländern, vor allem in Skandinavien und Kanada, sind solche Ausstattungen die Regel (Linderoos 2003). Es kann deshalb kaum verwundern, dass sie auch in den PISA- Vergleichsuntersuchungen besser abschneiden. Erleichternd kommt sicher hinzu, dass die gesellschaftliche Heterogenität zumindest in den skandinavischen Ländern nicht so groß ist wie in Deutschland. Umso mehr müssen bei uns die Investitionen in den Bildungsbereich erheblich ausgeweitet werden.
4.2 Die Diskussion um die Zukunft der Hauptschule Die andere Diskussion zur Bewältigung von Heterogenität, die hier angesprochen werden soll, bezieht sich auf die Gliederung der Sekundarstufe. Auf die Problematik der Aussagen von Tews wurde bereits hingewiesen. Die Oberstufe der Volksschule als eine Art Lebensschule und als Schule für die praktischen Berufe zu verstehen sowie als Schule, die ebenso wie die Realschule und das Gymnasium auch eine „Spezialschule“ sei, verkennt, dass in derselben Verwendung des Begriffs Spezialschule keine Gleichberechtigung liegen kann. Dies hat Foerster unmissverständlich zum Ausdruck gebracht. Die zweite Frage einer gemeinsamen Beschulung von Kindern und Jugendlichen macht sich also an der Gliederung der Sekundarstufe fest, in einem Bereich also, der zur Zeit der Weimarer Republik und der Reformpä-
228 dagogik eher ausgeklammert wurde. Tews und seine Mitstreiter haben für die minimale Dauer einer 4jährigen Grundschulzeit plädiert, wohl auch, um den Konflikt mit der gymnasialen Lehrerschaft und der gesellschaftlichen Lobby, die hinter ihr stand, in Grenzen zu halten. Von dort her gab es heftige Einwände und Proteste gegen die Einheitsschulbewegung. Der Philologenverband, in dem damals ein Großteil der Gymnasiallehrerschaft organisiert war, wandte sich in scharfer Form gegen alle Versuche, die gymnasiale Schulzeit durch eine Ausdehnung der Grundschulzeit zu verringern. Als Streit um die Einrichtung von Gesamtschulen oder der Weiterentwicklung eines dreigliedrigen Schulwesens wird die Auseinandersetzung um die Gestaltung der Sekundarstufe seit fast 50 Jahren in verschiedenen Wellenbewegungen immer wieder aufgegriffen, ohne dass hier eine dauerhafte und eine auf breitem Konsens beruhende Lösung gefunden worden wäre (Herrlitz/Weiland/Winkel 2003). Auch die PISA- Ergebnisse haben diesen Streit wieder neu angefacht, obwohl aus ihnen keine eindeutige Antwort darauf abgeleitet werden könnte, welche Struktur die bessere und erfolgreichere ist. Zwar haben die Bundesländer mit einem traditionell dreigliedrig ausgebauten Bildungswesen (Bayern, Baden-Württemberg) etwas bessere Ergebnisse vorzuweisen. Aber auch sie können nicht als eindeutige und signifikante Argumente für die dreigliedrige Struktur des Bildungswesens verwendet werden. Was beschämend ist, ist die Tatsache, dass es nach wie vor große Benachteiligungen von Schülerinnen und Schülern aus bildungsfernen und sozial schwachen Milieus gibt. Die Schulen in Deutschland schneiden in den von den PISA- Untersuchungen erfassten Leistungen gerade dort schlecht ab, wo die Unterstützung durch die Elternhäuser ausbleibt. Dabei wäre es ein bildungspolitisches Ziel gerade in der Demokratie, die Ausbildung und Entwicklung von Interesse, Leistung und Begabung unabhängig von den Bedingungen des Elternhauses zu machen. Gerade die Gesamtschulen sind mit diesem Versprechen angetreten und haben, gemessen an diesem Anspruch, kläglich versagt. Die Gesamtschule wäre eigentlich, wenn man die politisch-demokratische Begründung der Grundschule annimmt, die konsequente Ergänzung zur Grundschule. Sie wäre die historische Krönung und Vollendung der Einheitsschulbewegung, die vor über 100 Jahren begann und die als Etappensieg die Grundschule hervorbrachte. Sie würde die Einheit und Unteilbarkeit des Bildungsgedankens in idealtypischer Weise repräsentieren. Nicht
229 zuletzt deshalb wird immer wieder auf die skandinavischen Vorbilder verwiesen. Ich spreche im Konjunktiv. Denn wenn man den Blick aus der Perspektive des Bildungsgangs Hauptschule auf die Gesamtschule richtet, so tauchen ähnlich skeptische Rückfragen auf, wie sie Foerster gegenüber der gemeinsamen Elementarschule vorgebracht hat. Dies soll im Folgenden verdeutlicht werden, indem zunächst auf die Schülerinnen und Schüler der Hauptschule eingegangen wird. Wollte man Hauptschüler zusammenfassend charakterisieren, was hier nur typisierend und grob verallgemeinernd geschehen kann, so ergibt sich folgendes Bild (vgl. auch Rekus/Hintz/Ladenthin 1998, Duncker 2002, Baur/Mack/ Schroeder 2004): x Es geht um etwa 25% der Schüler eines Jahrgangs. In Hessen ist die weit überwiegende Mehrheit der Hauptschüler in Gesamtschulen integriert. Es gibt in Hessen nur fünf „reine“ Hauptschulen. Genau genommen muss deshalb eigentlich immer vom „Bildungsgang Hauptschule“ gesprochen werden – ein Bildungsgang, der in verschiedene Schularten eingebettet ist. x Diese 25% der Schüler haben offensichtlich mehr Probleme mit schulischen Leistungsanforderungen als Schüler des Bildungsgangs Realschule oder des Gymnasiums. Es sind Schüler, die in ihren Schulleistungen oft der Sonderschule bzw. Förderschule näher stehen als dem Bildungsgang Realschule. x Die Hauptschüler haben eine Karriere des Schulversagens hinter sich, eine Laufbahn der negativen Selektion durchlitten, die nachhaltig ihre Identität geprägt hat. Die Identität, Hauptschüler zu sein, ist weder gesellschaftlich noch persönlich mit positiven Bildern besetzt. Sie wird eher als Stigma wahrgenommen, als dass man stolz auf sie sein könnte. x Es gibt an Hauptschulen mehr Jungen als Mädchen. Insgesamt gesehen scheinen Mädchen in der Schule offensichtlich erfolgreicher zu sein. Dies zeigt sich auch an der Quote der Abiturientinnen, die bereits zwischen 60% und 70% eines Jahrgangs liegt. Man kann viel über die Gründe spekulieren, nur eines darf man nicht sagen, dass nämlich die Mädchen in unserem Schulwesen strukturell benachteiligt würden. Eine Benachteiligung mag im Einzelfall zu beklagen sein, nicht aber in einer pauschalen, flächendeckenden Dimension. Man müsste eher von einer strukturellen Benachteiligung der Jungen sprechen. In der Förderschule ist der Anteil von Jungen noch höher als in der Hauptschule.
230 x Hauptschulen sind Migrantenschulen. Ein im Vergleich zu anderen Sekundarschulen weit höherer Anteil der Schüler entstammt Familien mit Migrationshintergrund. Damit verbunden ist die oft unzulängliche Beherrschung der deutschen Sprache. Dies ist jedoch auch eine wesentliche Ursache für schulische Misserfolge und gesellschaftliche Desintegration. x Hauptschüler kommen mehrheitlich aus Familien in erschwerten Lebenslagen. Die Bildungsferne der Eltern, ein geringes Einkommen und ein unterdurchschnittlicher Lebensstandard, milieuspezifische Lebensstile am unteren Rand der Gesellschaft und ein Habitus, der durch entsprechende normative Orientierungen geprägt ist, die Differenz von Lebensentwürfen und den Chancen ihrer Realisierung usw. unterscheiden sich signifikant von durchschnittlichen bildungsbürgerlichen Biographien. Die sozioökonomische Lage erzeugt sehr viel mehr Risiken für den Lebenslauf mit zahlreichen Gefahren eines gesellschaftlichen und sozialen Absturzes. Hauptschüler sind deshalb auch mehr mit Arbeitslosigkeit und Armut konfrontiert. x Man muss auch darauf hinweisen, dass der Gesundheitszustand von Hauptschülern oft in einem beklagenswerteren Zustand ist. Eine schlechtere Ernährung (Ernährung über fast food, billige Konserven, wenig Obst und Gemüse, fetthaltige und kalorienlastige Ernährung usw.), ein oft ruinöser Umgang mit dem eigenen Körper, der Genuss von Suchtmitteln aller Art, zu wenig Schlaf durch unkontrollierten Fernsehkonsum bis spät in die Nacht, zu wenig körperliche Betätigung, eine höhere psychosoziale Morbidität usw. kulminieren zu bedenklichen Diagnosen mit oft bereits chronischen Folgen. Dies hängt auch mit der sozioökonomischen Lage der Schüler zusammen, die mit Syndromen körperlicher, seelischer und kultureller Verwahrlosung einhergeht. x Hauptschüler bilden mehr als andere Schülergruppen eine Gruppe der Gleichaltrigen. Sie stehen mit weniger „signifikanten“ Erwachsenen in Kontakt, die sich um sie kümmern, die Verantwortung übernehmen, Erwachsene, die eine Interessenbildung anregen, die auch Gesprächspartner, Beispiel und Vorbild sind. Die Hauptschüler sind in ihrer Entwicklung mehr auf sich selbst gestellt und haben oft mehr unter instabilen Beziehungen in und außerhalb der Familie zu leiden. Eine Erosion verwandtschaftlicher Strukturen, bedingt durch Auflösungserscheinungen in den Familien infolge von Scheidungen sowie die Folgen einer erzwungenen Mobilität zerstört auch stützende soziale Netze.
231 x Das Lernverhalten und die Formen kultureller Aneignung von Wissen sind anders. Etwas zugespitzt und typisierend ausgedrückt sprechen wir von Schülerinnen und Schülern, die weniger ein abstrahierendes, an den Systematiken von Fächern und Wissenschaften orientiertes Lernen bevorzugen, wie es für die gymnasiale Bildung wichtig und notwendig ist, sondern Denkprozesse lieber entlang von praktischen Aufgaben und ihrer Bewältigung entwickeln. Hauptschüler suchen ein sinnbezogenes, auf unmittelbare Einsicht in die Notwendigkeit von Aufgaben ausgerichtetes Lernen, das sich an anschaulichen Gegenständen entfaltet und ein konkretes Tun und Anwenden ermöglicht. Das Erarbeiten von Wissen über das Lesen von Texten fällt ihnen oft schwer, und sie bringen nicht gerne die Geduld auf, die die Arbeit mit Texten erfordert. Ebenso sind sie für Themen, die eine größere Ferne zur Alltagswelt aufweisen, weniger motivierbar. Sie sind auf eine dichtere soziale Resonanz angewiesen und benötigen häufigere Rückmeldungen und auch mehr Erfolgserlebnisse, um Anstrengungen auf sich zu nehmen. Sie können Konzentration und Lernbereitschaft weniger durchhalten und brechen schneller ein. Sie haben von daher eine geringere Lernmotivation, sie entwickeln eine geringere Belastbarkeit und weniger Durchhaltevermögen. Sie bevorzugen Lernprozesse, die biographisch Bedeutsames aufweisen. Ein problemlösendes Denken entwickeln sie lieber entlang praktischer Aufgaben. Sie benötigen in besonderer Weise eine anregungsreiche Umgebung, die zum Lernen auffordert und stimuliert. Der Sinn des Lernens erweist sich für sie vor allem darin, dass das Lernen auch „sinnenhaft“ und anschaulich, praktisch und lebensnah ist. All die genannten Punkte dürfen nicht ignoriert werden, wenn wir über eine Schule nachdenken, die für Hauptschüler geeignet ist. Jedes Bildungsangebot, das auf solche Parameter keine Rücksicht nimmt, hat wenige Aussichten auf pädagogische Erfolge. Nur ein solches Bildungsangebot, das von den Voraussetzungen dieser Schüler her, also gleichsam „von unten“ her konzipiert wird, hat Chancen, die Schüler zu erreichen und realistische Zukunftswege zu öffnen. Die Schule muss Rücksicht nehmen auf Lernschwierigkeiten, die aus den erschwerten Lebenslagen ihrer Schüler resultieren.
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4.3 Die Gymnasialisierung des Bildungsgangs Hauptschule Wir haben aber gegenwärtig eher eine gegenteilige Konstruktion: Schule wird insgesamt nicht von unten her, sondern von oben her gedacht und entworfen. Dies kann man am Beispiel der Integrierten Gesamtschule besonders deutlich nachweisen. Im Kontext der Gesamtschule zeigt sich, dass auch die Hauptschule „von oben her“ gedacht wird. Dies lässt sich daran ablesen, dass die Ansprüche an die gymnasiale Bildung auch die Gestaltung des Hauptschulbildungsgangs maßgeblich diktieren: x Der Fächerkanon des Hauptschulbildungsgangs ist nahezu identisch mit dem des Gymnasiums. Obwohl sich die Zukunft, die Berufswahl- und Lebensperspektiven von Schulabsolventen mit Hauptschulabschluss erheblich von Abiturienten unterscheiden, nimmt das schulische Curriculum in seinen fachlichen Ordnungen darauf wenig Rücksicht. Eine Ausnahme bildet lediglich die Arbeitslehre, die der Tatsache schuldet, dass Hauptschüler eine viel kürzere Jugendzeit als Gymnasiasten haben und sich viel früher mit der Arbeits- und Berufswelt auseinandersetzen müssen. x Obwohl sich Konzentrationsvermögen, Lernwege und Aneignungsformen von Hauptschülern erheblich von denen der Gymnasiasten unterscheiden – ich habe sie weiter oben mit wenigen Stichworten skizziert –, wird auch in der Organisation des Schulalltags kein Unterschied gemacht: Die Angleichung an Realschule und Gymnasium hat auch dem Bildungsgang Hauptschule den Flickenteppich eines Vielfächer- Unterrichts beschert, der im 45Minuten-Takt mit ständig wechselnden Fachlehrern den Lernrhythmus bestimmt. Das bunte Mosaik der Fächerlandschaft kann zumindest in den Augen der Hauptschüler kein überzeugendes Gesamtbild bieten. Es taucht schnell die Sinnfrage auf: „Warum müssen wir dies überhaupt lernen?“ x Die Definition von Leistungsnormen in den einzelnen Fächern orientiert sich insofern an gymnasialen Standards, als sie als Differenz zu deren Anforderungen ausgewiesen wird. Dies lässt sich sehr schön an Versetzungsbestimmungen zwischen den A-, B- und C-Kursen der Gesamtschulen ablesen. Eine ähnliche oder gar dieselbe Leistung wird in einem höheren Kurs um eine Note geringer taxiert. Die Note „ausreichend“, die im gymnasialen Bildungsgang (A-Kurs) erworben wurde, wird im B- Kurs (Realschule) zur „befriedigenden“ Leistung und im C- Kurs (Hauptschule) zur „guten“ Leistung umdefiniert.
233 x Die fehlende Wissenschaftsorientierung des Unterrichts war vor etwa 50 Jahren ein Argument für die Abschaffung der Volksschule. Die Argumente waren damals gewiss stark, aber man hat Wissenschaftsorientierung in der Didaktik bisweilen falsch oder überzogen interpretiert. Wissenschaftsorientierung muss für die Hauptschule etwas anderes bedeuten als für das Gymnasium. Worin der Unterschied genau liegt, ist bislang allerdings nicht immer präzise herausgearbeitet worden. Eine bloße Angleichung an gymnasiale Erfordernisse wird jedoch weder der Lebenslage von Hauptschülern noch deren Formen des Lernens gerecht. x Schließlich ist auch auf die Ausbildung von Haupt- und Realschullehrern hinzuweisen. In den Lehrer bildenden Universitäten dominiert die Struktur der gymnasialen Lehrerausbildung. Das Studium für das Lehramt an Haupt(und Real-)schulen ist als Reduktion aus dem Studium für das Lehramt an Gymnasien gewonnen. Durch Abstriche am gymnasialen Ausbildungsniveau wird aus einem 8-semestrigen ein 6-semestriges Studium, ohne dass sich in der inhaltlichen Struktur und dem Ausbildungsprofil erhebliches verändern würde. Es gibt nur wenige speziell auf die Probleme des Hauptschulbildungsgangs ausgerichteten Lehrveranstaltungen. Wenn ich richtig sehe, gilt dies auch für die fachdidaktische Forschung in Deutschland. Dies gilt übrigens auch für die Sonderschule. Wer die Didaktik eines Faches für die Sonderschule oder für die Hauptschule studiert, besucht in der Didaktik dieselben Veranstaltungen wie die Studenten des gymnasialen Lehramts, nur eben ein paar Veranstaltungen weniger. Zusammengefasst kann man also behaupten, dass Hauptschüler in der Sekundarstufe wie indirekt auch in der universitären Lehrerausbildung strukturell wie defizitäre Gymnasialschüler behandelt werden. Mit dem Blick auf die Durchlässigkeit des Schulwesens und möglicher Aufstiegsoptionen wird ihnen ein Bildungsweg verwehrt, der pädagogisch sinnvoller sein könnte. Statistisch gesehen steigen etwa 3% bis 5% der Schüler in der vertikalen Linie der Bildungsgänge auf. Dies heißt, dass 95% bis 97% in ihrem jeweiligen Bildungsgang verbleiben. Dennoch wird durch die Struktur des Sekundarschulwesens so getan, als bestünden realistische Aufstiegschancen. Pointiert ausgedrückt werden Hauptschüler wie potentielle Abiturienten behandelt. Hauptschule ist, so könnte man es zuspitzen, eine ausgedünnte Form des Gymnasiums. Dies kann wohl nicht als ein geeignetes Konzept gelten.
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5. Zusammenfassung und offene Fragen Es mag unschwer zu erkennen sein, dass die Argumentation darauf hinaus läuft, dass der Zusammenhang von Bildung und Heterogenität weder schulorganisatorisch noch konzeptionell bislang als bewältigt gelten kann. Wir haben auf der einen Seite die Tradition der Einheitsschulbewegung, die die Grundschule und später die Gesamtschule hervorgebracht hat, auf der anderen Seite die Sprengkraft einer heterogenen Zusammensetzung der Schülerschaft, die zumindest unter den Bedingungen von Schule, wie sie in den vergangenen Jahrzehnten bestanden, keinen angemessenen Schulerfolg für alle Kinder und Jugendlichen sichern konnte. Politisch-demokratische Ansprüche widersprechen pädagogisch-didaktischen Erfordernissen, die gerade in Zeiten einer wachsenden Heterogenität den Riss im Bildungssystem verschärfen. Zusätzlich wird die Auseinandersetzung durch ideologisch wie politisch verhärtete Fronten erschwert, ohne dass eine Einsicht in die prinzipielle Widersprüchlichkeit und in die oft ausweglos erscheinenden Dilemmata erkennbar wäre. Was die Hauptschule betrifft, so scheinen sich einige Bundesländer auf den Weg zu begeben, die Hauptschule abzuschaffen. Das jüngste Beispiel gibt Rheinland-Pfalz, wo im Jahr 2007 die Integration der Hauptschule in eine „Realschule plus“ verkündet wurde. Aktuell wird dies auch in Nordrhein-Westfalen erörtert und hat dort fast einen Bruch der Regierungskoalition verursacht. Der kleinere Regierungspartner hat laut von der Abschaffung der Hauptschule gesprochen, so dass der Ministerpräsident sich genötigt sah, dies öffentlich abzuwehren. Man darf gespannt sein, ob die Zusammenlegung von Haupt- und Realschule das Problem wird wirklich lösen können oder ob nur wieder aufs Neue die Probleme versteckt und verschoben werden. Denn wenn man die Hauptschule abgeschafft hat, hat man nicht auch ihre Schülerinnen und Schüler mit all ihren Lebens- und Lernproblemen abgeschafft. Heterogenität in ihrer immensen Breite einfach zur Normalität zu erklären, wie es bisweilen in sonderpädagogischen Diskussionen vernehmbar ist, erscheint mir zu einfach. Zumindest überfordert man die Schulen, die Lehrer und auch die Schüler. Vielleicht ist eine Zweigliedrigkeit des Bildungssystems zumindest auf der Sekundarstufe ein vielversprechender Weg. Aber er kann nur gelingen, wenn die Unterwerfung unter die Struktur des Gymnasiums aufgegeben wird und es zu einer Art Verschiedenheit, in der Ver-
235 schiedenheit jedoch zur Gleichrangigkeit kommt. Eine gemeinsame Hauptund Realschule, die sich als gleichwertige Alternative zum Gymnasium aufstellt, bedarf eines eigenständigen Konzepts, das so attraktiv durchgestaltet wird, dass es auch für potentielle Gymnasiasten interessant wird. Ein teilweise anderer Fächerkanon, andere Lehr- und Lernformen, berufsorientierende und lebenspraktische Elemente, zahlreiche Unterstützungssysteme, differenzierte Abschlüsse unter Einbeziehung von Möglichkeiten, die bis zum Fachabitur reichen, all diese und weitere Punkte wären Voraussetzungen, um die historische Erblast eines zerrissenen Bildungssystems zu überwinden.
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Autorinnen und Autoren Die Autorinnen und Autoren lehren und forschen alle an der Justus-LiebigUniversität Gießen von Aufschnaiter, Claudia, Prof. Dr., Professorin für Didaktik der Physik am Institut für Didaktik der Physik Bäumer, Franz-Josef, Prof. Dr., Professor für Religionspädagogik und -didaktik am Institut für Katholische Theologie Buschkühle, Carl-Peter, Prof. Dr., Professor für Kunstpädagogik am Institut für Kunstpädagogik Duncker, Ludwig, Prof. Dr., Professor für Erziehungswissenschaft mit Schwerpunkt Pädagogik des Primar- und Sekundarbereichs am Institut für Schulpädagogik und Didaktik der Sozialwissenschaften Ehlers, Swantje, Prof. Dr., Professorin für Didaktik der deutschen Sprache und Literatur am Institut für Germanistik Friedrich, Georg, Prof. Dr., Professor für Sportdidaktik am Institut für Sportwissenschaft Gansen, Peter, Dipl.-Päd., Akademischer Rat am Institut für Schulpädagogik und Didaktik der Sozialwissenschaften Hallet, Wolfgang, Prof. Dr., Professor für Didaktik der englischen Sprache und Literatur am Institut für Anglistik/ Didaktik Englisch Oswalt, Vadim, Prof. Dr., Professor für Didaktik der Geschichte am Historischen Institut Sander, Wolfgang, Prof. Dr., Professor für Didaktik der Sozialwissenschaften am Institut für Schulpädagogik und Didaktik der Sozialwissenschaften; zur Zeit beurlaubt zur Wahrnehmung einer Professur für Didaktik der politischen Bildung an der Universität Wien Sträßer, Rudolf, Prof. Dr., Professor für Didaktik der Mathematik am Institut für Didaktik der Mathematik