In den Dienstbotenräumen der Villa Klopstock wird ein merkwürdiger Auftritt geprobt und Possen des Schreckens und der A...
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In den Dienstbotenräumen der Villa Klopstock wird ein merkwürdiger Auftritt geprobt und Possen des Schreckens und der Anstößigkeit ausprobiert... In der Dachstube heult der Geistesgestörte, der über seine Pflegerin in Wut gerät, lauter als der Sturm... In der Bibliothek unterhalten sich der Baron und die Baronin mit ihrem hübschen Sekretär ... Alles ist vorbereitet für die große Tragödie.
»Eine brillante schwarze Komödie, ein Hexengebräu, das prickelt wie erlesener Champagner mit ein paar Tropfen Arsen und einer Prise Aphrodisiakum.« Publishers Weekly, New York »Muriel Sparks gescheitester und poetischster Roman, ein unglaublich Raffiniertes Anagramm, so gut wie ›Le Grand Meaulnes‹.« Irish Times, Dublin
Muriel Spark, geboren in Schottland, ist Autorin von Romanen, Theaterstücken, Kinderbüchern und Gedichten. Zahlreiche ihrer Bücher wurden für Kino und TV verfilmt. Für Das Mandelbaumtor erhielt sie den James Tait Black Memorial Prize. Sie lebt in Italien.
Muriel Spark
Bitte nicht stören Roman Aus dem Englischen von Otto Bayer
Diogenes
Titel der Originalausgabe: ›Not to Disturb‹ Copyright © 1971 by Muriel Spark Umschlagillustration: René Magritte, ›La Nuit‹, um 1950 (Ausschnitt) Copyright © 1989 by Cosmopress, Genf
Alle deutschen Rechte vorbehalten Copyright © 1990 Diogenes Verlag AG Zürich 100/90/24/1 isbn 3 257 01829 0
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Die anderen Domestiken verstummen, als Lister das Zimmer betritt. »Ihr Leben nichts als Nebeldunst der Irrnis«, sagt Lister, »ihr Sterben peinigt Angst und Wirrnis. – Ich zitiere aus Die Herzogin von Malfi; John Webster, alter englischer Dramatiker.« »Wenn man sagt, etwas ist nicht unmöglich, dann ist das nicht ganz dasselbe, wie wenn man sagt, daß es möglich ist«, sagt Eleanor, die, obwohl jünger als er, Listers Tante ist. Dabei zieht sie ihren Mantel aus. »Nur rein technisch ist, was nicht unmöglich ist, möglich.« »Wir diskutieren heute keine Möglichkeiten«, sagt Lister. »Heute reden wir über Tatsachen. Jetzt ist nicht die Zeit für Belanglosigkeiten.« »Über vollendete Tatsachen«, sagt Pablo, das Faktotum. Eleanor hängt den Mantel auf einen Bügel. »Ganz Genf wird reden«, sagt sie. »Und der unterm Dach?« fragt Héloise, das jüngste Stubenmädchen, und faltet die Hände über dem runden Bauch. Der Bauch bewegt sich von 5
selbst, und sie tätschelt ihn. »Und der unterm Dach?« fragt sie. »Lassen wir ihn laufen?« Eleanor betrachtet den Bauch des Mädchens. »Du läßt dich lieber nicht blicken, wenn die Journalisten kommen«, sagt sie. »Kümmer dich nicht um den unterm Dach. Sie werden dich ausquetschen. Alles wissen wollen.« »Oh«, sagt Héloise, die Hände auf dem Bauch. »Es bewegt sich. Vielleicht werde ich ohnmächtig.« Aber sie steht kerzengerade und gelassen und keineswegs einer Ohnmacht nahe am Fenster des Domestikensalons und sieht hinaus. »Er war auf seine Art ein feiner Mensch. Ganz Genf war maßlos überrascht.« »Wird überrascht sein«, sagt Eleanor. »Lassen wir die Haarspaltereien«, sagt Lister, »zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Ich erwarte jeden Augenblick eine Meldung von der Pforte. Langsam müßten sie jetzt kommen. Seht aus dem Fenster.« Und zu der Schwangeren: »Hast du alles Gepäck draußen?« »Pablo hat schon seine Sachen gepackt«, sagt Héloise und richtet mit einer leichten Körperdrehung ihre großen Augen auf das Faktotum. »Vernünftig«, sagt Lister. »Pablo ist der Vater«, erklärt Héloise, ihren Bauch tätschelnd, der unter der Schürze zuckt. 6
»Da wäre ich nicht so sicher«, sagt Lister. »Du ja eigentlich auch nicht.« »Jedenfalls ist es nicht der Baron«, sagt Héloise. »Nein, der ist es nicht«, sagt Lister. »Der Baron ist es nicht, das steht fest«, sagt Eleanor. »Der arme selige Baron«, sagt Héloise. »Eben«, sagt Lister. »Er muß gleich kommen. Im Buick, denke ich.« Eleanor zieht eine Schürze an. »Wo ist mein Karottensaft? Geh zu Monsieur Clovis und frag ihn nach meinem Karottensaft. Meine Augen sind viel besser, seit ich Karottensaft trinke.« »Clovis ist mit seinem Vertrag beschäftigt«, sagt Lister. »Er hat sich viel Zeit damit gelassen. Ich habe die meinen mit Stern und Paris-Match schon vor über einem Monat geschlossen. Jetzt geht es natürlich noch um das Filmgeschäft, aber da ist ruhig Blut gefragt. Denkt daran. Ruhig Blut, und verkauft wird an den Meistbietenden.« Clovis sieht ärgerlich von seinen Papieren auf. »Frankreich, Deutschland, Italien bieten hoch. Aber vergeßt nicht, auf lange Sicht ist Englisch die Hochsprache des Geldes. Da sollten wir koordinieren.« Er liest weiter in seinen Unterlagen. »Monsieur Clovis wird uns doch heute abend sicher noch etwas zu essen machen, nicht?« meint 7
Eleanor. Sie geht durch die Küchentür. »Clovis!« ruft sie. »Vergiß nicht meinen Karottensaft, nein?« »Ruhe!« sagt Clovis. »Ich lese gerade das Kleingedruckte. Das Kleingedruckte ist stets das Wichtigste in einem Vertrag. Mach dir doch deinen Karottensaft gefälligst selbst. Es sind Karotten im Gemüsefach, und der Mixer steht vor deiner Nase. Macht euch euer Nachtessen heute alle selbst.« »Und die?« »Die werden wohl kein Nachtessen brauchen.« Lister steht in der Tür und sieht seiner jungen Tante zu, die im Gemüsefach nach Karotten kramt und sie mißbilligend zwischen den Fingern zusammendrückt. »Nie wieder Nachtmahl«, sagt Lister. »Kein Nachtmahl mehr für sie.« »Die Karotten sind weich«, sagt Eleanor. »Héloise kann nicht einkaufen. Sie ist in einem Haus dieses Stils fehl am Platz.« »Die arme Baronin mochte sie sehr gern«, sagt Clovis und sieht von dem Tisch auf, an dem er das Kleingedruckte studiert. »Die arme Baronin hatte an Héloise nichts auszusetzen.« »Ich habe auch nichts an ihr auszusetzen«, sagt Eleanor. »Ich sage nur, sie kann keine Karotten kaufen.« Héloise kommt zu ihnen an die Küchentür. 8
»Es bewegt sich«, teilt sie Clovis mit. »Ist doch nicht meine Schuld«, sagt der Koch. »Meine auch nicht, Héloise«, sagt Lister streng. »Ich habe immer aufgepaßt, wenn wir zusammen waren.« »Es ist Pablo«, sagt das Mädchen. »Ich könnte schwören. Pablo ist der Vater.« »Es könnte einer der Gäste gewesen sein«, sagt Lister. Clovis sieht von seinen Papieren auf, die auf dem Küchentisch ausgebreitet liegen. »Die Gäste sind an Héloise nie herangekommen, nie.« »Der eine oder andere schon«, sagt Héloise nachdenklich. »Aber mit Pablo geht es Tag und Nacht, wenn er in Laune ist. Schon nach dem Frühstück.« Sie guckt ihren Bauch an, als könnte sie mit einer Art Röntgenaugen feststellen, wer denn nun wirklich der Vater sei. »Da war schon auch der eine oder andere Gast«, sagt sie. »Ich muß sagen, da war um die Zeit, als es mich erwischt hat, auch der eine oder andere Gast. Ein Gast der Baronin oder ein Gast des Barons.« »Wir haben heute abend Wichtiges zu tun, mein Kind, also sei jetzt mal still«, sagt der Koch. »Wir haben über Geschäfte zu reden und allerhand zu tun. Das wird eine lange Nacht. Ist schon einer gekommen?« 9
»Eleanor, du sollst doch aus dem Fenster sehen«, befiehlt Lister seiner Tante. »Man kann nie wissen, ob nicht mal einer sein Auto an der Straße stehen läßt und sich einschleicht. Die an der Pforte sind unaufmerksam.« Eleanor reckt den Hals zum Fenster, während sie weiter verächtlich an den weichen Karotten herumdrückt. »Hadrian kommt, da kommt nur Hadrian den Weg herauf. Diese Karotten sind nichts mehr. Gräßliche Karotten.« Schritte kommen knirschend zur Hintertür. Hadrian, der Hilfskoch, tritt mit einer Aktentasche unterm Arm ein. »Hast du meinen Schrankkoffer rausgebracht?« fragt er Héloise. »Der ist mir zu groß, in meinem Zustand.« »Dann schick Pablo, daß er ihn holt, aber schnell. Ich will mit Packen anfangen.« »Und der unterm Dach?« fragt Héloise. »Wir sollten ihm besser sein Nachtessen raufbringen, sonst macht er wieder rum oder kriegt womöglich einen von seinen Anfällen.« »Er bekommt natürlich sein Nachtessen. Es ist noch früh.« »Und wenn der Baron sein Nachtessen wünscht?« »Er hat natürlich sein Nachtessen erwartet«, sagt Lister. »Aber wie es so ging, hat er es nicht mehr erlebt. Er wird bald hier sein.« 10
»Es könnte noch etwas Unvorhergesehenes passieren«, meint Eleanor. »Es mußte etwas Unvorhergesehenes kommen«, sagt Lister. »Aber was geschehen ist, wird geschehen, und die Zukunft hat sich erfüllt. Meine Memoiren bis zum Begräbnis sind ja schon mehr oder weniger fertig. Jedenfalls haben wir es nicht mehr in der Hand. Ich setze das Ereignis auf etwa drei Uhr morgens an, also macht euch darauf gefaßt, wach zu bleiben.« »Ich würde sechs Uhr morgens sagen. Im ersten Morgengrauen«, sagt Héloise. »Du könntest recht haben«, sagt Lister. »Frauen in deinem Zustand sind meist sehr intuitiv.« »Wie das strampelt«, sagt Héloise, die Hand auf dem Bauch. »Wißt ihr was? Ich habe Heißhunger auf Trauben. Haben wir Trauben im Haus? Richtigen Heißhunger. Soll ich ein Tablett zurechtmachen, für den unterm Dach?« »Etwas früh«, sagt Lister, mit Blick auf die mondgesichtige Küchenuhr. »Es ist erst zehn nach sechs. Geh deine Sachen packen.« Die lange Fensterseite des Domestikenvestibüls blickt auf einen kiesbestreuten Hof und dahinter auf die kalten Berge, die in der frühen Dämmerstunde des Herbstes schon nicht mehr zu sehen sind. 11
Ein kleiner dunkelgrüner Wagen steht dort neben dem Seiteneingang. Die Domestiken beobachten ihn. Zwei Frauen sitzen darin, die eine am Steuer, die andere auf dem Rücksitz. Sie unterhalten sich nicht. Eine hochgewachsene Person ist soeben auf der Beifahrerseite ausgestiegen und nach vorn zum Haupteingang gegangen. Lister wartet das Läuten der Hausglocke ab, dann geht er öffnen. Ein langgelockter junger Mann, blond, mit auffallendem weißem Pelzmantel, der seinen rosa Teint gewissermaßen leuchten läßt. Der Mantel reicht ihm bis zu den Stiefeln. Lister zeigt mit einem feinen Lächeln, das auf seinen Mund beschränkt bleibt, daß er den Besucher von früheren Visiten gut kennt. »Monsieur?« sagt Lister. »Die Baronin«, sagt der junge Mann leise wie einer, der seine Stimme schonen will. »Sie ist nicht zu Hause. Möchten Sie warten, Monsieur?« Lister gibt die Tür frei. »Ja. Sie erwartet mich. Ist der Baron da?« säuselt die leise Stimme des jungen Mannes. »Wir erwarten ihn zum Nachtmahl, Monsieur. Er müßte bald kommen.« Lister nimmt den weißen Pelzmantel und mustert dabei die Qualität und Art des Nerzes sowie Fütterung und Etikett. Den Mantel über dem 12
Arm, wendet er sich nach links und geht, gefolgt von dem jungen Mann, durch die Halle. Lister überquert den trompe-1’œil-Fliesenboden. Der junge Mann, der ihm folgt, trägt ein Jackett von tiefblauem Satin mit dunkler geflammten Seidenrevers, eine Hose von dunkelblauem Samt, ein blaßlila Satinhemd mit sehr breitem, hohem Kragen und eine weiße Krawatte, die von einer Amethystnadel gehalten wird. Lister öffnet eine Tür und tritt zur Seite. Der junge Mann sagt im Hineingehen höflich zu Lister: »Diesmal in der linken Außentasche, Lister.« »Danke, Monsieur«, sagt Lister und zieht sich zurück. Er macht die Tür wieder zu und geht durch die ovale Halle zu einer anderen Tür, öffnet sie und hängt den weißen Nerzmantel sorgsam auf einen der Bügel, die in langer Reihe erwartungsvoll an einer gedrechselten Garderobe hängen. Dann faßt Lister in die linke Außentasche des Mantels, zieht einen kurzen, dicken braunen Umschlag heraus, öffnet ihn mit dem Zeigefinger, zieht ein Bündel Geldscheine ein kleines Stück daraus hervor, taxiert es mit einem Blick, schiebt es in den Umschlag zurück und steckt den Umschlag in eine seiner eigenen Taschen, in Herznähe irgendwo unter dem weißen Jackett. Lister betrachtet sich im Spiegel über dem Waschbecken 13
und sieht weg. Er ordnet die unbenutzten, mit einem gekrönten »K« bestickten Handtücher noch akkurater, als sie schon geordnet sind, und verläßt die Garderobe. Die anderen Domestiken verstummen, als Lister wiederkommt. »Nummer eins«, sagt Lister. »Er ist sehr umsichtig in seinen Tod gegangen.« »Sex«, sinniert Héloise. Lister schaudert. »Das verbotene Wort«, sagt er. »Laß mich das nicht noch einmal hören.« »Das ist Victor Passerat, der jetzt in der Bibliothek wartet«, sagt Héloise. »Monsieur Goldlöckchen«, sagt Eleanor und beäugt den Karottensaft, den sie im Mixer zubereitet hat. »Ich war nie mit ihm zusammen«, sagt Héloise. »Aber die Gelegenheit hätte ich schon gehabt.« »Hatten wir die nicht alle?« fragt Pablo. »Sprich bitte nur für dich«, sagt Clovis. »Redet nicht soviel«, sagt Lister. »Victor Passerat ist nicht der Papa«, sagt Héloise. »Das hätte er nicht fertiggebracht«, sagt Pablo. »Ist dir bewußt«, fragt Eleanor ihren Neffen, »daß in dem Wagen, der den Besuch gebracht hat, zwei Damen warten?« Lister schaut kurz zum Fenster, geht aber als er14
stes zu einem hohen Schrank, zieht einen Stuhl heran und steigt hinauf. Behutsam nimmt er eines nach dem andern die hübsch aussehenden Einmachgläser herunter, Ingwer in Gin, Kirschen in Kognak, Apfel und Ananas, allerlei Marmeladen, einige davon wie hausgemacht verschlossen und etikettiert, andere nach Form und Aufmachung von weit hergeholt, aus London von Fortnum & Mason, aus New York von Charles’s. Lister stellt sie alle, assistiert von Eleanor, vorsichtig auf ein Beistelltischchen, und die anderen sehen mit ernstem Schweigen zu, das offenbar dem Ereignis gilt. Lister zieht jetzt ein von Gläsern leergeräumtes Regal heraus. In der Rückwand des Schranks befindet sich ein Wandsafe, und Lister öffnet langsam und ehrerbietig das Schloß, aber noch nicht die Tür. Er verlangt nach einem Kugelschreiber, und während Hadrian, der Hilfskoch, ihn holt, zieht Lister den Umschlag aus seiner Brusttasche und zählt vor den Augen der übrigen die Scheine. »Kleingeld«, sagt er, »im Vergleich zu dem, was noch kommt oder schon gekommen ist, je nachdem, ob man eine temporäre oder ewige Sicht der Dinge hat. Nach allem menschlichen Ermessen sind sie schon tot, obwohl in der banalen Wirklichkeit das Werk der Nacht erst noch getan sein will.« 15
»Lister ist heute wieder gut in Form«, meint Clovis, der sich von seinem Vertrag losgerissen und zu den anderen gesellt hat. Hadrian ist inzwischen wieder gekommen und reicht Lister den schlichten Kugelschreiber hinauf. Oben schlagen die Fensterläden. »Ein starker Wind heut’ nacht«, sagt Lister. »Kann sein, daß wir die Schüsse gar nicht hören.« Er nimmt den Stift und schreibt zuerst die Summe, dann das Datum auf den Umschlag. Jetzt macht er weit den Safe auf, in dem sich verschiedene Umschläge und Schatullen stapeln, manche aus Metall, manche aus Leder. Er legt das neue Päckchen zwischen die übrigen, schließt den Safe, setzt das Regalbrett wieder ein und stellt mit Eleanors und Héloises Hilfe die Einmachgläser an ihre Plätze zurück. Er steigt vom Stuhl, den er Hadrian überläßt, schließt die Schranktür und geht ans Fenster. »Ja«, sagt er, »in dem Wagen warten zwei Damen; sollen sie nur warten. Gute Nacht, meine Damen, gute Nacht, meine hochverehrten, lieben Damen.« »Warum sind sie bis hinters Haus gefahren, statt auf der Einfahrt zu warten?« fragt Héloise. »Die Antwort ist«, sagt Lister, »daß sie ihren Platz kennen. Sie hatten den Mut, ihren Gevatter auf seinem Gang zu begleiten, doch im letzten Augenblick fehlte ihnen der Stil, der nötig war, um 16
ihn zu retten. Der Baron wird kommen und sie nicht sehen, keine Fragen stellen. Desgleichen die Baronin. Kein Verstand, bei all ihren Millionen.« »Allein mit dem, was da drin ist«, sagt Héloise, die noch immer den geschlossenen Schrank betrachtet, in dem der wohlverwahrte Schatz liegt, »könnten wir das ›Montreux Palace‹ kaufen.« »Wer braucht das ›Montreux Palace‹?« fragt Hadrian. »Man muß in großen Maßstäben denken«, sagt Pablo, das Faktotum, und greift Héloise zärtlich um den Bauch. »Wie es strampelt!« sagt sie. »Wie ähnlich«, sagt Lister, »ist doch der Todeswunsch dem Lebensdrang! Wie ungestüm führt übermächtige Lebensgier zum Selbstmord! Besser lebt man wirklich halb erwacht und halb bewußt. Das ist der glücklichste Zustand.« »Baron und Baronin Klopstock waren vom Sex besessen«, sagt Eleanor. Sie deckt gerade den langen Domestikentisch. »Von Sex wird nicht geredet«, sagt Lister. »Es wäre eine Verniedlichung ihres Tuns. In ihren Kreisen ist Sex nur eine Überdosis Leben. Sie werden daran sterben, oder sind nach allem menschlichen Ermessen daran gestorben. Es han17
delt sich um einen Fall von Selbstzündung. Ein Schritt vorm Sex, wie bei Henry James, einem England-Amerikaner, der viel gereist ist.« »Sie sterben durch Gewalt«, sagt Clovis, der mit seinen Papieren, dem Vertrag und den Dokumenten, die er in der letzten dreiviertel Stunde eingehend studiert hat, an den Butlerschreibtisch gegangen ist. Dort sitzt er mit dem Rücken zu den andern und guckt halb über die Schulter zurück. »Genauer gesagt, durch Gewalt werden sie in Kürze sterben.« »Clovis«, sagt Eleanor, »würde es dir etwas ausmachen, den Herd im Auge zu behalten?« »Wo ist mein Hilfskoch?« fragt Clovis. »Hadrian ist zum Pförtnerhaus gegangen«, sagt Eleanor, »um ein paar Eier zu borgen. Der unterm Dach hat sein Nachtessen noch nicht bekommen.« »Keine Eier im Haus?« fragt Clovis. »Heute war zuviel anderes zu erledigen«, sagt Eleanor, während sie fünf winzige silberne Salzschälchen in gleichmäßigen, sorgfältig mit den Augen gemessenen Abständen auf dem Tisch verteilt. »Eingekauft wurde nicht.« »Alles geht vor die Hunde, jetzt da die Krise naht«, sagt Lister. »Früher hat dieser Haushalt funktioniert wie das Planetensystem.« »Macht euch euer verdammtes Nachtessen 18
selbst«, sagt Clovis, tief über seine Schriftstücke gebeugt. »Willst du nichts essen, Clovis?« fragt Héloise. »Dann esse ich deine Portion gern mit. Ich esse ja für zwei.« Clovis haut mit der Faust auf den Schreibtisch, läßt seinen Stift fallen, geht zu dem großen, komplizierten weißen Herd, kontrolliert den Regler, dreht am Knopf, öffnet die Backofentür und schnippt im Hineinschauen mit den Fingern der anderen Hand. Héloise rennt mit einem Tuch und Löffel hin und legt sie Clovis in die Hand. Clovis, die Hand durch das Tuch geschützt, zieht eine Kasserolle ein Stück heraus, hebelt mit dem Löffelstiel den Deckel hoch, späht hinein, schnuppert, legt den Deckel wieder auf, schiebt die Kasserolle zurück und schließt die Backofentür. Noch einmal dreht er am Knopf. Dann hebt er mit dem Löffelstiel die Deckel zweier Töpfe hoch, die auf der Herdplatte köcheln, schaut in beide hinein und tut die Deckel wieder darauf. »Noch fünfzehn Minuten für die Kasserolle. In sieben Minuten nehmt ihr die Töpfe vom Herd. Um halb acht können wir essen, sofern wir Glück haben und denen nicht doch noch einfällt, zu Nacht zu essen, bevor sie sterben.« »Nein, sie essen nicht«, sagt Lister. »Wir kön19
nen in Ruhe unser Nachtmahl verzehren, während sie die Sache erledigen.« Von irgendwo weit weg, ganz oben im Haus, ertönt ein Heulen und Krachen. »Ich trinke einen Wodka mit Tonic«, sagt Clovis, indem er durch die große Küche geht und sich wieder seinen Papieren auf dem Butlerschreibtisch widmet. »Gut«, sagt Lister und sieht sich um. »Weitere Bestellungen?« »Für mich nichts. Ich hatte schon meinen Karottensaft. Einen Sherry würde ich heute abend nicht vertragen«, sagt Eleanor. »Nerven«, sagt Lister. Er will gerade aus der Küche gehen, als das Haustelefon klingelt. Er kommt wieder zurück und nimmt den Hörer ab. »Hier Lister«, sagt er und hört kurz zu, während aus dem Apparat etwas ins Zimmer krächzt. »Gut«, sagt er dann ins Telefon und legt auf. »Der Baron ist angekommen«, sagt er. Der große Wagen des Barons gleitet vom Pförtnerhaus weg, während der Pförtner das Tor hinter ihm schließt. Er macht einen kleinen Bogen um Hadrian, der gerade den Zufahrtsweg hinaufgeht. Der Pförtner geht ins Haus zurück, wo seine Frau in der kalten Diele gerade den Hörer des 20
Haustelefons auflegt. »Lister läßt sich nichts anmerken«, sagt sie zu ihrem Mann. »Was soll er sich denn in drei Teufels Namen anmerken lassen?« fragt der Pförtner. »Was soll man ihm anhören?« »Er hat kein bißchen anders gesprochen als sonst«, sagt sie. »Oh, mir ist ganz elend!« »Gar nichts wird passieren, mein Schatz«, sagt er und zieht sie plötzlich an sich. »Überhaupt nichts.« »Ich fühl’s, es liegt in der Luft wie Elektrizität«, sagt sie. Er nimmt sie beim Arm und drängt sie ins warme Wohnzimmer. Sie ist jung und klein. Sie sieht aus wie bei völlig normalem Verstand, aber sie sagt: »Ich glaube, ich werde verrückt.« »Clara!« ruft der Pförtner. »Clara!« Sie sagt: »Ich hatte letzte Nacht einen schrecklichen Traum.« Cecil Klopstock, der Baron, ist an seiner Haustür angekommen, dünn und wacklig. Die Tür ist offen, und Lister steht daneben. »Die Baronin?« fragt der Baron, indem er sich gleichgültig den Mantel abnehmen läßt, der über Listers Arm gleitet. »Nein, Sir, die Frau Baronin ist noch nicht da. Monsieur Passerat wartet.« »Wann ist er gekommen?« 21
»Gegen halb sieben, Sir.« »Jemand bei ihm?« »Zwei Frauen im Auto, Sie warten draußen.« »Sollen warten«, sagt der Baron und geht über die schwarzweißen Fliesen der Halle auf die Bibliothek zu. Er stockt, dreht sich halb um und sagt: »Ich wasche mich hier«, womit er offenbar das Bad neben der Bibliothek meint. »Ich hielt es für das beste«, sagt Lister, als er wieder in den Domestikensalon kommt, »ihm von den beiden Frauen zu berichten, die draußen warten, nachdem seiner Art zu entnehmen war, daß er sie schon bemerkt hatte. ›Jemand bei Monsieur Passerat?‹ fragte er und sah mich dabei an. ›Ja, Sir‹, antwortete ich, ›zwei Damen. Sie warten im Wagen.‹ Es bleibt mir unerfindlich, wieso er mir diese überflüssige Frage stellte.« »Um dir auf den Zahn zu fühlen«, sagt Hadrian, während er zwei Eier in eine Schüssel schlägt. »Ja, das denke ich auch«, sagt Lister. »Ich bin gekränkt. Ich öffnete die Tür zur Bibliothek. Passerat stand auf. Der Baron sagte: ›Guten Abend, Victor‹, und Passerat sagte: ›Guten Abend.‹ Worauf ich mich, weil unerwünscht, ergebenst zurückzog. Sic transit gloria mundi.« »Sie werden sich hinsetzen und einen trinken«, 22
sagt Pablo, der sich gewaschen hat und jetzt aus der Ferne seine Frisur im ovalen Spiegel betrachtet. Er dreht den Kopf mit dem schwarz glänzenden Haar hin und her. »Haben sie kein Eis verlangt?« fragt Eleanor. »Die haben doch nie genug Eis.« »Sie haben genug Eis im Getränkeschrank. Ich habe heute nachmittag persönlich die Eisschale gefüllt und neues im Gefrierfach angesetzt, während ihr alle herumtelefoniert und eure privaten Angelegenheiten erledigt habt«, sagt Lister. »Eis haben sie. Jetzt fehlt ihnen nur noch die Baronin.« »Keine Sorge, sie wird schon kommen«, meint Clovis, indem er seine Papiere zusammenlegt. »Sie könnte sich ruhig etwas beeilen«, sagt Héloise, die sich in den wulstigen Kretonnesessel fallen gelassen hat. »Ich würde gern in Ruhe zu Abend essen.« Hadrian hat ein Tablett mit einer Schüssel Rührei, einem Teller dünnem Buttertoast, einer großen Tasse und Untertasse sowie einer Thermoskanne mit irgend etwas Trinkbarem zurechtgemacht. Eleanor unterbricht ihr Tischdecken und legt geistesabwesend Messer, Gabel und Löffel dazu; dann deckt sie Toast und Rührei mit silbernen Hauben zu. »Was machst du da?« sagt Hadrian und reißt 23
Messer und Gabel vom Tablett. »Was ist denn mit dir los?« »Ach so; vergessen«, sagt Eleanor. »Ich bin schon den ganzen Tag so durchgedreht.« Sie ersetzt Messer und Gabel durch einen großen Löffel. Lister geht ans Haustelefon, nimmt den Hörer ab und drückt auf einen Knopf. Kurz darauf pfeift es aus dem Apparat. »Das Nachtessen für den unterm Dach ist unterwegs«, sagt Lister. »Ihres kommt später.« Wieder pfeift es aus dem Apparat. »Wir geben Ihnen Bescheid«, sagt Lister. »Jetzt bleiben Sie einfach oben, bis wir Ihnen etwas anderes sagen.« Er legt auf. »Schwester Barton ist beunruhigt«, sagt er. »Der unterm Dach ist heute abend wieder ganz groß und scheint sich im Lauf der Nacht noch steigern zu wollen. Auch so ein Fall von Intuition.« Hadrian nimmt das Tablett und fragt im Hinausgehen: »Soll ich Schwester Barton sagen, sie soll den Arzt rufen?« »Überlaß das ihr«, sagt Lister mürrisch, mit den Gedanken woanders. »Überlaß es ihr.« Héloise sagt: »Mit dem unterm Dach werde ich auch fertig, wenn es sein muß. Ich war immer gut zu dem unterm Dach.« 24
»Leg du dich lieber etwas schlafen, wenn du gegessen hast, mein Kind«, sagt Clovis. »Du hast eine lange Nacht vor dir. Am Morgen kommen die Reporter, wenn nicht noch früher.« »Vielleicht passiert es gar nicht vor sechs Uhr früh«, sagt Héloise. »Wenn die erst zu streiten anfangen, kann das die ganze Nacht gehen. Ich bin intuitiv, wie Mr. Lister sagt, und –« »Das bezieht sich nur auf deinen Zustand«, sagt Lister. »Normalerweise bist du kein bißchen intuitiv. Normalerweise bist du begriffsstutzig. Nur in deinem Zustand dominiert das Es ein wenig über das Ich.« »Ich muß bei Laune gehalten werden«, sagt Héloise und schließt die Augen. »Warum bekomme ich keine Trauben?« »Gib ihr ein paar Trauben«, sagt Pablo. »Nicht vor dem Nachtessen«, sagt Clovis. »Clara!« sagt Theo der Pförtner. »Clara!« »Ich komme noch um vor Lust, sie zu fragen, was da oben im Haus eigentlich vorgeht heute nacht«, sagt sie. »Komm her. Komm wieder her, mein Schatz«, sagt er und zieht sie ins Wohnzimmer, wo hinter dem Kaminvorsatz ein Feuer glüht und flackert. »Lust«, sagt er. 25
»Theo!« ruft sie. »Du und deine Alpträume«, sagt Theo. Er schließt die Wohnzimmertür, setzt sich neben sie aufs Sofa und zwickt sie, während er in die tanzenden Flammen starrt, abwesend in den Schenkel. »Du und deine Alpträume.« Clara sagt: »Das ist hier nichts für uns. Im ›Ritz‹ in Madrid ging’s uns besser.« »Na, na. Besser geht’s uns hier. Viel besser geht’s uns hier. Lister ist sehr großzügig. Lister ist sehr, sehr großzügig.« Theo nimmt den Schürhaken und dreht einen Klumpen Kohle im Feuer um, daß es aufflackert, während Clara die Beine aufs Sofa schwingt. »Theo«, sagt sie, »habe ich dir schon erzählt, daß Hadrian hier war, um sich ein paar Eier zu borgen?« »Und was noch, Clara?« fragt Theo. »Was noch?« »Nichts«, sagt sie. »Nur die Eier.« »Ich brauche nur den Rücken zu drehen, schon ist er hier«, sagt Theo. »Morgen früh melde ich ihn dem Baron.« Er geht ans Fenster und zieht den Vorhang zu. »Clovis auch«, sagt er, »weil er nicht auf ihn aufpaßt.« Theo kehrt zum Sofa zurück. Clara kreischt: »Nein, nein, ich hab mir’s anders überlegt«, und stößt ihn weg. Sie zieht den paspelierten Bademantel fest um sich. »Zier dich nicht so, Clara«, sagt Theo. »Dieses 26
ewige Ja-Nein. Ich könnte die Baronin haben, wenn ich wollte. Zu jeder Tages- und Nachtzeit.« »Ja, ja, diese schrecklichen Träume machst du mir, Theo«, sagt sie. »Wenn du so daherredest, immerzu von der Baronin, mit ihren grauen Haaren. Du solltest dich schämen.« »Graue Haare hat sie überall«, sagt Theo, »nach allem, was man so hört.« »Wenn ich ein Mann wäre«, sagt Clara, »würde mir schon bei dem Gedanken schlecht.« »Pah, nach allem, was man hört, würde ich aber lieber mit ihr schlafen als mit einem toten Schutzmann«, sagt Theo. »Still, da ist ein Auto auf der Straße. Das muß sie sein«, sagt Clara. Aber Theo ist nicht still. Sie zupft an seinen elastischen Hosenträgern und sagt: »Eine Schande, daß sie für den Idioten keine Eier zum Nachtessen im Haus hatten. Es muß etwas vorgehen da oben. Das fühle ich schon die ganze Woche, du nicht, Theo?« Theo hat keine Worte, sein Atem ist ganz allein auf Clara konzentriert. Sie sagt: »Da fährt der Wagen vor, Theo – er hält am Tor. Theo, du solltest hingehen.« Theo läßt nur den Sekundenbruchteil von seiner Frau ab, den er braucht, um »Mund halten!« zu sagen. 27
»Ich höre das Hupen am Tor«, sagt sie laut. »Hörst du sie denn nicht hupen? Die ganze Woche höre ich schon im Traum das Hupen am Tor.« Theo grunzt. Das Auto hupt zweimal, und jetzt zieht Theo sich seine Jacke über und nimmt mit der Würde dessen, der jedes Ding zu seiner Zeit tut, Haltung an. Er geht in die Diele, nimmt den Schlüssel aus der Tischschublade und geht in die feuchte Abendluft hinaus, um das Tor zu öffnen, vor dem ein bescheidenes cremefarbenes Coupé weiter hupt. Der Wagen hält, nachdem er eingelassen ist, am Pförtnerhaus an. Am Steuer sitzt eine Frau mit eckigem Gesicht, allein. Sie läßt das Fenster herunter und fragt munter: »Wie geht’s, Theo?« »Sehr gut, Madam, danke. Entschuldigen Sie, daß Sie warten mußten, Madam. Es gab ein Problem mit den Eiern für den armen jungen Herrn unterm Dach, sein Nachtessen.« Sie lächelt charmant unter der großen Pelzmütze hervor. »Wenn ich nicht da bin, klappt wohl gar nichts, wie? Und was macht Clara, gefällt es ihr in diesem Häuschen?« »O ja, Madam, wir fühlen uns in dieser Stellung sehr wohl«, sagt Theo. »Wir haben uns gut eingelebt.« 28
»An unseren Stil werden Sie sich schon noch gewöhnen, Theo.« »Gewiß, Madam, wir haben ja schon reichlich Erfahrung, Clara und ich. Wir haben uns schnell hier eingelebt.« Er zittert, denn er steht barhäuptig und nur in seiner Pförtneruniform in der kalten Abendluft. »Ihr Verhältnis zum Hauspersonal – stimmt das?« erkundigt sich die Baronin freundlich. Theo zögert, und als er den Mund öffnet, um zu antworten, unterbricht ihn die Baronin: »Ich meine, wie kommen Sie miteinander aus? Verstehen Sie sich gut?« »O ja, Madam. Ausgezeichnet, danke, Madam.« Er macht einen kleinen Schritt rückwärts, als möchte er nur allzugern rasch wieder in sein warmes Häuschen zurück. Die Baronin macht keine Anstalten, mit ihren warmen Handschuhen wieder das Steuer zu ergreifen. »Freut mich«, sagt sie. »Unter Domestiken so verschiedener Nationalität ist Harmonie manchmal nur schwer herzustellen. Unser Haus ist überhaupt eines der wenigen im Land mit ausreichendem Personal. Ich wüßte gar nicht, wie der Baron und ich ohne euch alle auskommen sollten.« Theo kreuzt die Arme über der Brust und krallt 29
beide Hände knapp unterhalb der Schultern in die entgegengesetzten Ärmel, zitternd wie ein in der Kälte Alleingelassener. Er sagt: »Heute abend sind Sie gewiß froh, ins Haus zu kommen, Madam. Über dem See tut sich ein Wind auf.« »Ihnen ist sicher kalt«, sagt sie und läßt den Wagen anfahren. »Gute Nacht, Madam.« »Gute Nacht.« Er geht rückwärts bis unters Vordach, dann dreht er sich rasch um und drückt die Tür auf. In der Diele nimmt er, immer noch zitternd, den Hörer vom Haustelefon und wartet ein paar Sekunden, bis er Verbindung hat. »Die Baronin«, sagt er dann. »Soeben angekommen. Wird sonst noch jemand erwartet?« Aus der Küche des großen Hauses kommt eine knappe Antwort, dann wird aufgelegt. »Wie?« fragt Theo in den toten Apparat. Dann legt er auf, eilt nach draußen und schließt das große Tor. Ebenso schnell eilt er dann zurück ins warme Wohnzimmer, wo Clara mit verträumtem Blick auf dem Sofa liegt, den einen Arm malerisch auf der Rückenlehne, während sie den anderen vorn herunterbaumeln läßt. »Erwartest du den Fotografen?« fragt Theo. »Was hattet ihr so lange zu reden?« fragt Clara. 30
»Eiskalt da draußen. Sie saß natürlich im Wagen und merkte nichts davon. Redete immer weiter. Hat sich nach dir erkundigt. Will wissen, ob wir uns hier wohl fühlen.« Pablo ist in das cremefarbene kleine Coupé gestiegen und hat es vom Haus weggefahren, nachdem Lister der Baronin beim Aussteigen geholfen, ihre Sachen herausgenommen, die Tür zugeklappt hat und ihr die Treppe hinauf in die Halle gefolgt ist. »Hier«, sagt sie und nimmt vor dem Spiegel die große Pelzmütze ab. Lister nimmt die Mütze, während sie sich kurz durch die grauen Locken fährt. Sie schlüpft aus ihrem Tweedmantel, nimmt ihre Handtasche und fragt: »Jemand im Haus?« »Der Herr Baron ist in der Bibliothek, Madam, mit Monsieur Passerat.« »Gut«, sagt sie und faßt sich noch einmal ins Haar. Sie zupft ihren Rock zurecht, der über der Hüfte etwas spannt, und sagt: »Bestellen Sie Irene, daß ich in einer halben Stunde zum Umziehen nach oben gehe.« »Irene hat heute ihren freien Abend, Madam.« »Ist Héloise denn da?« »Ja, Madam.« »Arbeitet sie denn noch? Ist sie noch in der Verfassung dazu?« 31
»O ja, Madam, es geht ihr gut. Ich werde ihr sagen, sie soll schon alles für Sie vorbereiten.« »Aber nur, wenn sie sich dazu in der Lage fühlt«, sagt die Baronin. »Ich halte große Stücke auf Héloise«, fährt sie fort, während sie mit schweren Schritten zur Bibliothek geht. Sie öffnet die Tür, ehe Lister ihr zuvorkommen kann, hält jedoch vor dem Eintreten noch einmal inne und dreht sich zu Lister um, während drinnen die Stimmen plötzlich verstummen. »Lister«, sagt sie, in der Tür stehend. »Theo und Clara – sie müssen gehen. Es tut mir ja so leid, aber ich brauche das Häuschen für einen Vetter von mir. Eigentlich brauchen wir auch gar keinen Pförtner. Ich überlasse das Ihnen, Lister.« »Im Augenblick ist das aber etwas heikel, Madam. Darauf werden sie nicht gefaßt sein.« »Ich weiß, ich weiß. Machen Sie es ihnen irgendwie leicht, Lister. Der Baron und ich wären Ihnen sehr dankbar.« Ein wenig theatralisch drückt sie die Tür jetzt ganz auf und geht hinein, während die beiden Männer sich aus den grauledernen Sesseln erheben. Lister wartet an der Tür. »Nichts weiter, Lister, danke«, sagt der Baron. »Vorläufig haben wir noch alles hier.« Er zeigt fahrig auf den Getränkeschrank. Die Baronin läßt sich auf ein Sofa sinken, und Lister will gerade 32
gehen, als dem Baron noch etwas einfällt. »Lister – falls irgendwer kommt, wir wünschen unter keinen Umständen gestört zu werden.« Der Baron sieht auf das blau emaillierte Zifferblatt der vergoldeten Standuhr, dann noch auf seine Armbanduhr. »Wir möchten nicht gestört werden, von niemandem.« Lister bewegt die Lippen, neigt den Kopf und geht. »Sie gehen in diesem Hause um wie körperlose Gestalten«, sagt Lister, »noch während sie am Leben sind. Ich glaube, uns steht ein langes Warten bevor.« Er nimmt seinen Platz am Kopfende des Tischs ein. »Er hat gesagt, sie wollen unter keinen Umständen gestört werden. ›Keine Störungen, Lister.‹ Ihr hättet ihr Gesicht dabei sehen sollen. Mein Geist irrt umher und jagt Phantome, und ich denke an ihren Gesichtsausdruck. Diesen Eindruck muß ich loswerden, sonst bekommt mir mein Nachtessen nicht.« »Keine schlechte Frau«, sagt Pablo. »Sie liebt es, Huld und Gunst mit eigenen Händen auszuteilen«, sagt Lister, »das Unangenehme überläßt sie andern. ›Das Paar im Pförtnerhaus muß gehen, Lister‹, sagt sie, ›ich vertraue darauf, daß Sie es ihnen beibringen. Ich brauche das Häuschen für meine Vettern‹, oder war es nur einer? – 33
eins, zwei, drei, ich weiß es nicht. Jedenfalls braucht sie das Häuschen dafür.« »Wie viele Vettern kann sie denn überhaupt haben?« fragt Eleanor und betrachtet aus irgendeinem Grund die sauberen Zinken ihrer Gabel, bevor sie ein Bröckchen Kalbfleisch darauf aufspießt. »Dazu die vielen Sekretäre.« »Vettern ohne Zahl, Sekretäre vielleicht weniger«, sagt Lister, »hätte sie doch nur noch etwas von ihnen gehabt! Nach Lage der Dinge wird das Pförtnerhaus ohnehin geräumt. Ich brauche mit den armen Tröpfen gar nicht erst zu reden.« »Man kann nie wissen«, sagt Héloise. »Horcht! – Ich höre etwas«, sagt Pablo. »Oben schlagen die Läden«, sagt Hadrian. »Nein, das ist der unterm Dach, er schmeißt mit seinen Tellern durch die Gegend«, sagt Héloise. »Das waren keine Teller, das hat geknallt«, sagt Pablo. »Da, schon wieder. Hört doch.« »Eßt weiter«, sagt Clovis. »Es waren nur wieder die beiden Damen im Wagen. Sie werden langsam ungeduldig.« »Warum klingeln sie nicht?« fragt Lister und horcht, während es laut an die Hintertür pocht. »Ich habe die Klingel an der Hintertür abgestellt«, sagt Clovis. »Wir brauchen unsere Ruhe beim Essen. Da ihr mich allein habt kochen lassen, 34
habe ich hier auch das Sagen. Niemand steht vom Tisch auf, bevor wir fertig gegessen haben.« »Und wenn sie aus der Bibliothek nach uns läuten?« fragt Eleanor. Lister greift nach seinem Glas Wein und nippt daran. Es hämmert weiter an der Hintertür. Clovis sagt: »Es steht zu bezweifeln, daß sie jetzt noch nach uns läuten. Jedenfalls dürfen wir nicht mehr darauf hören, das kommt gar nicht in Frage. Klipp und klar gesagt, wie es auch schon in meinen Memoiren steht: Das ewige Dreieck hat seinen Kreis geschlossen.« »Sie sind so gut wie schon im Jenseits«, sagt Lister. »Aber ob wir auf ihr hypothetisches oder sonstiges Läuten hören oder nicht, habe ich zu bestimmen.« »Lister hat zu bestimmen«, sagt seine Tante Eleanor.
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Es ist abends halb elf. Lister hat sich umgezogen, desgleichen seine junge Tante Eleanor. Sie gehen Hand in Hand die große geschwungene Treppe hinauf, deren kunstvolles schmiedeeisernes Regency-Geländer, wie so vieles in diesem Haus, noch zu ihrer Zeit importiert wurde. Lister knipst das Licht an, öffnet die Falttür zum großen Klopstockschen Salon und läßt Eleanor den Vortritt in den Riesensaal mit den gerafften Vorhängen vor der langen Reihe von Balkontüren. Davor ist eine Balustrade, und jenseits davon die Nacht. Dunkel schimmert der Parkettboden, den heute noch kein Fuß betreten hat. Der blaue und blaßrosa Teppich, die rosa und braun bezogenen Sessel, die Tischchen, der flache, verschnörkelte Sekretär, die Porzellanvasen, sie alle umstehen Lister und Eleanor bei ihrem Eintreten wie dienstbereite Kellner auf einem offiziellen Empfang beim Eintreffen der ersten Gäste. Ein schneeweißes, zierlich gelocktes Porzellanlämmchen döst friedlich auf dem Kaminsims, wohin der Baron es vor elf Jahren gestellt hat, als das Haus gebaut und mit allen seinen 36
Kostbarkeiten eingerichtet wurde. Der AdamKamin am einen Ende des Salons hat, wie sein Zwilling im Vorraum am anderen Ende, zusammen mit allem übrigen den Schweizer Zoll passiert. Eleanor, die ein graues Wollkleid trägt und eine schwarze Tasche bei sich hat, läßt sich elegant auf einem großen Polstersessel nieder, legt die Arme auf ein Tischchen und spielt mit den gelbrosa Nelken, die sie heute morgen erst selbst daraufgestellt hat. Sie sieht aus wie vierunddreißig. Ihr Neffe Lister wie Mitte bis Ende Vierzig. Er trägt einen dunklen Straßenanzug mit weißem Hemd und stumpfroter Krawatte. Sie könnten irgendwer sein, am ehesten noch die Herrschaften des Hauses, soeben zu nächtlicher Stunde heimgekehrt von einer Reise irgendwohin – Paris oder auch nur Genf – oder gerade auf dem Sprung zum Flughafen, einer Nachtmaschine. Eleanor hat kurzes Haar, gelockt und glanzlos. In Listers Haaren schimmern dunkle Glanzlichter. Beider Gesichter sind länglich und sehen einander ähnlich. Lister setzt sich Eleanor gegenüber, mit Blick auf den Teil der Wand, der voller Miniaturporträts hängt. Vieles in diesem großen Raum ist im Miniaturformat. Große Bilder, wie sie hier hineinpassen würden, sind nicht vorhanden. Der Monet ist einer 37
von den kleineren, auch der Goya. Ebenfalls klein sind die Porträts, allem Anschein nach Vorfahren, so daß der Eindruck entsteht, als sei dieser Hang zum Kleinen seinem jetzigen Träger über Generationen vererbt worden, oder aber die Miniaturporträts seien erst in jüngerer Zeit von den wahrscheinlich größeren Originalen raffiniert kopiert worden. Zierschlüssel, emaillierte Schnupftabakdosen und glänzende Münzen sind auf den Tischchen verteilt. Lister wendet den Blick von der Wand und sieht Eleanor an. »Mein Liebes«, sagt er. Sie sagt: »Ich höre ihre Stimmen.« »Sie leben noch«, sagt Lister. »Davon bin ich überzeugt. Es ist noch nicht geschehen.« »Aber es wird geschehen«, sagt sie. »O ja, mein Liebes, es ist einfach unvermeidlich.« Er nimmt sich aus dem langen silbernen Kästchen eine Zigarette und zündet sie mit dem Tischfeuerzeug an. Dann hebt er den Finger, Ruhe gebietend, dabei hat Eleanor gar kein Geräusch gemacht. »Horch!« sagt er. »Sie streiten laut. Du hattest recht, Eleanor.« Eleanor nimmt eine lange stählerne Nagelfeile aus ihrer Tasche, steht auf, geht an eine Ecke des Teppichs, hebt sie an, kniet nieder und hebelt mit der Feile ein loses Stück Parkettboden hoch. 38
»Schnell und leise, mein Liebes.« Sie sieht auf. »Sei nicht so neunmalklug. Für Albereien ist jetzt keine Zeit.« Sie bückt sich, um ein zweites Stück Parkett herauszunehmen, rutscht auf den Knien ein wenig zurück, bückt sich tief hinunter, die Ellbogen auf dem Boden, und legt das Ohr auf die verstaubten Bretter von gewöhnlichem Holz, die unter dem Parkett zum Vorschein kommen. »Eleanor, das ist deiner nicht würdig«, sagt er. »Man sollte dich für ein Stubenmädchen halten. Das war vor einer Minute noch ganz anders.« Sie lauscht angestrengt, den leeren Blick wie in Trance zur hohen Decke gerichtet. Immer wieder dringt von unten ein Schwall undeutlicher Stimmen in den Salon, schrill die eine, schrill eine andere, dann alle zugleich in höchster Erregung. Irgendwo von oben im Haus hört man Gepolter, noch einmal, gemischt mit Stimmen und Füßescharren. Eleanor hebt den Kopf und sagt empört: »Wenn der unterm Dach wieder so brüllt und Krach macht und du hier herumalberst, kann ich unmöglich hören, was da unten geredet wird. Warum hat Schwester Barton ihm seine Spritze nicht gegeben?« »Weiß ich nicht«, sagt er, mit seiner Zigarette bequem zurückgelehnt. »Gesagt habe ich es ihr 39
jedenfalls. Dieser Parkettboden gehörte einmal einem fremdländischen König. Der mußte fluchtartig seinen Thron verlassen. Den Parkettboden aus seinem Palast hat er mitgenommen, die Türbeschläge auch. Das tun gekrönte Häupter immer, wenn sie verduften müssen. Nehmen alles mit, wie Wanderbühnen ihre Requisiten. Königshäuser stehen und fallen ja doch mehr oder weniger mit der Inszenierung. Und mit der Beleuchtung. Darum legen gekrönte Häupter auf Kulisse und Beleuchtung so großen Wert. Genau wie der Papst. Wenigstens darin war der Baron gekrönten Häuptern und dem Papst sehr ähnlich. Parkett und Beschläge. Der Baron hat sie mitsamt dem Haus aufgekauft, als der alte König das Zeitliche segnete. Stammte alles eindeutig aus dem Königspalast.« »Von da unten«, sagt Eleanor, während sie im Aufstehen die Teile des königlichen Parkettbodens wieder einlegt und den Teppich darüberklappt, »höre ich nur Fetzen wie: ›Du hast gesagt …‹ – ›Nein, das hast du nicht. Ich habe gesagt …‹ – ›Nein, du hast gesagt …‹ – ›Wann zum Teufel soll ich das gesagt haben …?‹ Das heißt, sie kauen alles durch, Lister. Das kann die ganze Nacht dauern.« »Héloise hat ja gesagt, es könnte bis sechs Uhr 40
früh gehen«, meint Lister, während Eleanor sich undenkbare Flusen und Stäubchen vom Kleid schnippt. »Normalerweise«, sagt er, »interessiert es mich ja wenig, was Héloise von sich gibt. Aber sie ist in einem interessanten Zustand. Frauen in diesem Zustand haben einen guten Instinkt.« Eleanor sitzt wieder in ihrem Sessel. Von unten hört man Lärm an der Hintertür, laut genug, um bis in diesen stillen Raum zu dringen. Pochen. Rufen. Am Vordereingang schrillt gleichzeitig die Klingel. »Hoffentlich macht da jemand auf, bevor es der Baronin einfällt, selbst hinzugehen«, sagt Eleanor. »Jede Störung der Zusammenkunft könnte sie von ihrem Streit ablenken und den Höhepunkt verzögern, meinst du nicht?« »Der Baron hat gesagt, er will nicht gestört werden«, sagt Lister, »und das klang wie: Keiner verläßt den Raum, bis alles geklärt ist, und wenn es auf Biegen und Brechen geht. Damit hat sich’s. Sie wird keinen Fuß mehr vor die Bibliothek setzen.« »Allmählich müßten sie doch Hunger bekommen. Sie haben gar nichts zu essen gehabt.« »Sollen sie Kuchen essen«, sagt Lister und fährt fort:
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»Denkt, wie in der verfallnen Karawanserei, als deren Tor der Tag sich wechselt mit der Nacht, Sultan auf Sultan Einzug hielt in seiner Pracht und eine Stunde nur verweilte, oder zwei.« »Das stimmt« sagt Eleanor, »sie hatten einige illustre Gäste.« »Das Adjektiv ›verfallen‹«, sagt Lister, indem er in dem großen, stillen Salon um sich blickt, »möchte ich im weiteren Sinne verstanden wissen. ›Karawanserei‹ ist auch nicht wörtlich zu nehmen. Das Haus gleicht eher einem Schweizer Hotel, und du kannst sicher sein, daß es eines wird. Aber endlose Karawanen sind hier schon gewissermaßen durchgezogen; sie kamen, rasteten und zogen weiter. Ich liege da ziemlich richtig. Das gibt ein schönes Hotel. Stell andere Möbel hinein, und du hast ein Hotel.« »Lister«, sagt sie, »du bist so wunderbar. Ich könnte mir nie einen anderen in meinem Leben vorstellen.« Er steht auf und geht auf sie zu. »So du auch meine Tante bist«, sagte er, »würdest du mich wohl ohne Kirchensegen ehelichen?« »Ich habe meine Skrupel«, antwortet sie, »und bin stolz darauf.« 42
»In Frankreich darf die Tante den Neffen heiraten«, sagt er. »Nein, Lister, ich halte mich ans Verwandtschaftsreglement. Außerdem will ich mich in diesem Augenblick, in dieser Nacht, nicht in Hitze bringen lassen. Du lenkst mich ab, Lister. Presse und Polizei werden kommen, und bis Weihnachten sind nur noch vierundsechzig Einkaufstage.« »War ja nur ein Vorschlag«, sagt er. »Damit du etwas zum Nachdenken hast, wenn hier alles vorbei ist.« »Das geht zu weit. Zügle deine unsinnigen Ansprüche. Ich bin sehr altmodisch für meine Jahre. Immer nur einen Gedanken auf einmal, so halte ich es gern.« »Gehen wir hinunter«, sagt Lister, »und sehen, was die Domestiken treiben.« Als sie die Treppe hinunterkommen, schallen ihnen aus der Bibliothek Stimmen entgegen. Lister und Eleanor gehen schweigend weiter, und bevor sie sich zum Domestikenflügel wenden, bleibt Lister stehen und sieht zur Bibliothek. »Was hatten sie zu suchen unter uns, hier auf der zarten Kruste dieser Erde?« fragt er. »Was hatten sie hier verloren?«
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Die anderen Domestiken verstummen. »Was tun sie überhaupt auf dieser Welt?« Héloise, frisch und rosig nach kurzem Schlaf, sagt: »Was sie eben so tun.« »Sie sind noch nicht fertig damit«, sagt Clovis. »Langsam werde ich unruhig. Hört euch ihr Geschrei an.« »Etwas Gutes muß auch in ihnen gesteckt haben«, sagt Eleanor. »Sie können nicht nur schlecht gewesen sein.« »Einverstanden. Schlechtes haben sie sehr gut getan. Und sie waren für bestimmte Zwecke gut, solange sie da waren«, sagt Lister. »Wie Pappbecher zu bestimmten Gelegenheiten gut sind; man benutzt sie und wirft sie weg. Wer hat diesen Pelzmantel hierhergeholt?« Er zeigt auf den weißen Nerzmantel über einem Stuhl. »Er steht mir wie ein Traum«, sagt Héloise. »Vorn geht er jetzt nicht ganz zu, aber später wird er.« »Bring ihn lieber zurück. Man hat Victor Passerat darin gesehen«, sagt Lister. »Die Polizei wird danach fragen.« Héloise nimmt den Mantel vom Stuhl und sagt im Hinausgehen: »Am Ende kriege ich ihn ja doch. Irgendwie fühle ich, daß ich ihn am Ende doch kriege.« 44
»Vielleicht hat sie ja recht«, sagt Lister. »Ihr sechster Sinn ist im Moment besonders aktiv. Wer waren denn diese Leute, die da vorhin an die Hintertür gehämmert und vorn geläutet haben?« »Die Frauen im Auto wollten wissen, was aus ihrem Freund Passerat geworden ist«, sagt Hadrian. »Ich habe ihnen gesagt, er ist bei den Herrschaften, und sie wollen nicht gestört werden. Sie behaupten, verabredet zu sein. Die eine ist Masseuse, aber ich hab sie noch nie gesehen.« »Und die andere?« fragt Lister. »Hat nichts gesagt. Ich hab auch nicht gefragt.« »Recht getan«, sagt Lister. »Sie gehören hier nicht rein.« Draußen klatscht der See an die Ufermauer, und in den grandiosen Bäumen heult der Bergwind. Die beiden im Wagen sitzen getrennt, eine vorn, die andere hinten, jede eingehüllt in eine Decke. Sie scheinen zu schlafen, aber hin und wieder regt sich eine, oder eine spricht, und wieder sinken ihre Köpfe hinunter, verrutschen die Decken auf ihren verkrampften Schultern. Die Lichter aus dem Haus und von der fernen Zufahrt streifen ihre Bewegungen. Beide schrecken hoch, als ein anderer Wagen vorfährt, dunkel und groß. Ein schlanker junger 45
Mann im Ledermantel springt heraus und kommt auf die beiden zu. Sie steigen jetzt aus ihrem Wagen. »Wir können nicht ins Haus«, sagt die vom Vordersitz. »Die machen nicht einmal die Tür auf. Wir warten hier schon über drei Stunden auf unsern Freund.« »Was für einen Freund? Was wünschen Sie?« fragt der schlanke junge Mann und spielt ungeduldig mit einem Schlüsselbund. »Ich bin Mr. Samuel, der Sekretär. Sagen Sie mir, was Sie wünschen.« Victor Passerats andere Freundin antwortet: »Victor Passerat. Wir warten auf ihn. Es ist ernst. Er war mit der Baronin und dem Baron verabredet und –« »Moment«, sagt Mr. Samuel und guckt sich die zweite Freundin genauer an. »Sie reden wie ein Mann.« »Ich bin ein Mann.« »Aha. Ich hatte Sie für eine Frau gehalten.« »Das liegt nur an meiner Kleidung. Meine Freundin hier ist eine Frau. Ich bin Alex – sie ist Masseuse.« »Ich heiße Anne«, sagt die Masseuse und starrt unverwandt auf Mr. Samuels Schlüsselbund. »Haben Sie die Schlüssel zum Haus?« »Gewiß«, sagt Mr. Samuel. 46
»Gut, also, wir wollen wissen, was da los ist«, sagt die Frau. »Um ehrlich zu sein, wir machen uns Sorgen«, sagt ihr junger Freund. Mr. Samuel legt ihnen beiden begütigend die Hände auf die Schultern. »Würden Sie es nicht für ratsamer halten«, meint er, »wegzufahren und der Natur ihren Lauf zu lassen? Fahren Sie; still und ohne Umstände, nur fahren Sie weg, gehen Sie klavierspielen oder sonst was. Trinken Sie einen, das beruhigt, und vergessen Sie Passerat.« Aus einem der oberen Zimmer kommt ein Laut wie menschliches Bellen, gefolgt von einem eulenhaften Kreischen. Anne, die Masseuse, schickt ebenfalls einen Schrei in die Nacht. »Machen Sie diese Tür auf!« kreischt sie, indem sie zur Hintertür rennt, um sich mit schwerer Schulter dagegen zu werfen und gleichzeitig mit den Fäusten dagegen zu hämmern. Mr. Samuel geht gemessenen Schrittes zu ihr hin und sagt mit höflicher Strenge: »Das war nur der Kranke. Die Schwester hat ihn wahrscheinlich wieder in den Finger gebissen. Das täten Sie gewiß auch, wenn einer Ihrer Patienten Ihnen aus irgendeinem Grunde den Mund zuhalten wollte.« »Anne«, ruft Annes Freund Alex, »komm wieder ins Auto. Das kann gefährlich werden.« 47
Mr. Samuel faßt sie am Ellbogen und drängt sie zu ihrem kleinen Wagen zurück. »Für euch ist hier nichts drin«, sagt er. »Fahrt nach Hause und denkt nicht mehr daran.« Die Masseuse ist groß und breit, scheint aber wenig moralische Kraft zu besitzen. Sie beginnt zu weinen, laut schluchzend wie ein Baby, während ihr Freund Alex, ein Seidenkopftuch um das eckige Gesicht, die Lider unter den fein geschwungenen Brauen kläglich dick mit Make-up belegt, ihr mit knochiger Hand übers Gesicht fährt. »Komm ins Auto, Anne«, sagt er und wirft Mr. Samuel einen Blick tiefster Gekränktheit zu. Anne geht jetzt auf Mr. Samuel los. »Wer hat Sie zum Sekretär gemacht?« fragt sie. »Victor Passerat ist hier seit Juni Sekretär.« »Bitte«, sagt Mr. Samuel, »ich habe nicht gesagt, daß er kein Sekretär war. Ich sage nur, daß ich hier der amtierende Sekretär bin. Ich weiß gar nicht, wie viele Sekretäre es gibt. Victor ist nur einer von vielen, und da ist es einfach bedauerlich, daß Sie sich wegen seiner Verabredung mit den Klopstockschen Herrschaften in so einer kalten Nacht hier vor dem Haus herumtreiben müssen. Fahren Sie nach Hause. Legen Sie eine Platte auf.« »Geht hier wirklich alles mit rechten Dingen zu?« fragt Anne. Alex ist in den Wagen gestiegen 48
und wartet auf sie. Anne steigt ein und legt unschlüssig die Hände ans Steuer. Sie sieht Alex an, wie um einen Rat bittend. Mr. Samuel ist inzwischen wie zufällig bei der Hintertür angekommen und sucht einen Schlüssel heraus. Das Paar im Wagen starrt ihm nach, und er wirft noch einen Blick zurück; er schließt die Tür auf, tritt ein und macht sie ihnen vor der Nase zu. Sie fahren jetzt weg, die lange Allee hinauf, und kurven die Zufahrt entlang, vorbei an dem im Sommer sattgrünen Rasen, der sich auf der einen Seite bis zu dem tiefblauen Swimmingpool erstreckt, auf der anderen bis zum Seerosenteich mit den tierförmig gestutzten Eiben, den Springbrunnen und versenkten Rosenbeeten. Hinter ihnen blinkt, jenseits der Dunkelheit, die Rückseite des Hauses – einzelne Lichtschlitze sprenkeln seine ganze Länge und wiederum dahinter, noch tiefer in der Dunkelheit, fallen die Terrassen ab zum Genfer See, wo die Boote ankern und das Wasser bis hinüber zu den Bergen reicht. Dies alles hinter sich lassend, kommt der kleine dunkelgrüne Wagen beim Pförtnerhaus an. Anne drückt auf die Hupe. Theo, offenbar vorgewarnt, steht nun in einem dicken Mantel bereit; er entriegelt das Tor und schwenkt es weit auf. Kaum haben sie die Straße erreicht und sind 49
weg, geht Theo wieder ins Haus; dort kritzelt er die Nummer des Wagens auf einen in der Diele bereitgelegten Notizblock. Seine Frau steht in ihrem paspelierten Bademantel dabei. »Wozu machst du das?« fragt sie. »Ich weiß es nicht, Clara. Aber man hat mir gesagt, ich soll mit einer durchgehenden Nachtschicht rechnen, ohne Ablösung, und darum schreibe ich alle Nummern auf. Ich weiß auch nicht wozu, Clara, ich weiß es wirklich nicht.« Er reißt das Blatt ab, zerknüllt es und wirft es im Wohnzimmer ins Kaminfeuer. »Was ist denn heute nacht mit der Ablösung?« fragt Clara. »Wo ist Conrad, wo ist Bernard, wo ist Jean-Albert, wo ist Stephen? Warum schicken sie nicht Pablo, was tut er bei denen da oben im Haus? Ich schlafe so furchtbar schlecht, wie soll ich denn schlafen?« »Ich bin ein einfacher Mann«, sagt Theo, »und deine Träume machen mir eine Gänsehaut, aber davon mal abgesehen, ich rieche Unheil. Die Baronin hat sich nicht ans Spiel gehalten, und das war’s dann. Warum läßt sie sich so verkommen? Vor einem Jahr soll sie noch eine schöne Frau gewesen sein. Ein richtiges Prachtexemplar.« »Früher hatte sie die Haare immer blondiert oder gesträhnt«, flüstert Clara. »Sie hätte auch 50
nicht so auseinandergehen dürfen. Warum macht sie sich auf einmal nicht mehr zurecht? Es muß ihr mit irgendwem plötzlich richtig ernst sein.« »Hab keine Angst, Clara. Mach dir keine Sorgen.« »Es stimmt aber, was ich sage, Theo. Sie hat sich ganz plötzlich verändert. Ich hab sie dir doch in den Illustrierten gezeigt, in ihren Skisachen. War sie da nicht einfach umwerfend?« »Geh zu Bett, Clara. Ich sage, geh jetzt rauf ins Bett, Liebes.« »Kann ich nicht das Radio anmachen, zur Gesellschaft?« »Gut. Aber stell es leise. Wir sind ja hier eigentlich nicht zu unserem Vergnügen, oder?« Theo tritt unterm Vordach heraus, als ein anderer Wagen sich nun dem Tor nähert und die großen Scheinwerfer aufblendet. Der Chauffeur steckt den Kopf heraus, als Theo das Tor öffnet, aber Theo spricht zuerst, weil er den Fahrgast im Fond offenbar erkannt hat. »Seine Exzellenz, Fürst Eugène«, sagt Theo respektvoll. Der Mund des Chauffeurs lächelt dünn, seine Lider sind gesenkt, vielleicht gelangweilt, vielleicht müde. »Ich glaube ziemlich sicher, daß die Herrschaf51
ten nicht zu Hause sind. Wird Seine Exzellenz erwartet?« fragt Theo. »Ja«, sagt der Besucher aus den Tiefen des Fonds. »Ich rufe mal eben im Haus an«, sagt Theo und geht zurück ins Pförtnerhaus. »Fahren Sie los«, sagt Fürst Eugène zu seinem Fahrer. »Warten Sie nicht auf ihn und den ganzen Quatsch. Ich habe zu Klopstock gesagt, daß ich nach dem Diner mal reinschaue, und ich schaue nach dem Diner mal rein. Er hätte seinem Pförtner Bescheid sagen können, daß ich komme.« Während er spricht, fährt der Wagen schon an und kurvt auf das Haus zu. Lister wartet an der Tür. Als der Fahrer aussteigt, um dem Fürsten die Tür zu öffnen, eilt er die Treppe hinunter zu dem großen Wagen. »Die Herrschaften sind nicht zu Hause«, sagt Lister. Fürst Eugène ist ausgestiegen und sieht Lister an. »Wer sind Sie?« fragt er. »Verzeihung, Exzellenz«, sagt Lister, »daß ich in Freizeitkleidung bin. Ich bin Lister, der Butler.« »Sie sehen aus wie ein Staatssekretär.« »Danke, Monsieur«, sagt Lister. »Das war kein Kompliment«, sagt der Fürst. »Was heißt das, die Herrschaften sind nicht zu Hause? Ich habe den Baron heute früh erst gese52
hen, und er hat gesagt, ich soll nach dem Diner mal reinschauen. Man erwartet mich.« Er geht, gefolgt von Lister, die Treppe hinauf und tritt ins Haus. In der Halle deutet er mit dem Kopf zur Bibliothekstür, von wo man Stimmen hört. »Sagen Sie ihnen, daß ich da bin.« Er beginnt seinen Mantel aufzuknöpfen. »Exzellenz, ich habe die Anweisung bekommen, nicht zu stören.« Lister schiebt sich um den Fürsten herum, so daß er mit dem Rücken zur Bibliothek steht, als wollte er sie beschützen. »Die Tür ist von innen abgeschlossen«, fügt er hinzu. »Was ist denn da los?« »Eine Besprechung, Monsieur, mit einem der Sekretäre. Sie dauert schon einige Stunden und geht wahrscheinlich bis tief in die Nacht.« Der Fürst, ein rundlicher Mann mit blassen Wangen, läßt seinen Mantel an und fragt: »Wessen Sekretär, seiner oder ihrer?« »Der betreffende Herr war fast fünf Monate lang beider Sekretär, Monsieur.« »Allmächtiger, da mache ich mich lieber aus dem Staub!« sagt Fürst Eugène. »Das wäre gewiß kein Fehler, Monsieur«, sagt Lister und geleitet ihn zur Tür. »Der Baron schien mir heute früh noch bester 53
Dinge zu sein«, sagt der Fürst auf der Schwelle. »Er war gerade aus Paris zurückgekommen.« »Es wird im Laufe des Nachmittags ein paar Telefongespräche gegeben haben, Monsieur.« »Er machte nicht den Eindruck, als ob er mit Scherereien rechnete.« »Damit hat keiner von ihnen gerechnet, Exzellenz. Sie waren darauf nicht vorbereitet. Bedauerlicherweise haben sie sich der Vorsehung in die Hand gegeben.« »Sie reden wie ein Staatssekretär beim Vatikan.« »Danke, Monsieur.« »Das war kein Kompliment.« Der Fürst knöpft seinen Mantel zu und tritt, während Lister ihm die Tür aufhält, in die Nachtluft hinaus. Ehe er die Treppe hinunter zum Wagen geht, fragt er: »Glauben Sie, daß etwas passiert, Lister?« »Wir rechnen damit, Monsieur. Das Personal ist darauf gefaßt.« »Falls es zur irgendwelchen Ermittlungen kommt, Sie verstehen, Lister, muß mein heutiger Besuch nicht unbedingt erwähnt werden. Ein rein nachbarschaftlicher Besuch. Tut gar nichts zur Sache.« »Sehr wohl, Exzellenz.« »Ich bin übrigens keine Exzellenz. Ich bin eine Hoheit.« 54
»Sehr wohl, Hoheit.« »Es ist nicht leicht, so ein kompetentes Personal wie hier zu bekommen. In der Schweiz ist es die Ausnahme. Wie hat der Baron das gemacht?« »Geld«, sagt Lister. Aus der Bibliothek wehen Stimmen zu ihnen herüber, ununterscheidbar, aber höchst erregt. »Ich brauche einen Butler«, sagt Seine Hoheit. Er zückt eine Karte und reicht sie Lister. Dann meint er, mit einer Kopfbewegung zur Bibliothek deutend: »Wenn das überstanden ist und Sie eine Stelle brauchen, kommen Sie zu mir. Ich würde mich auch über ein paar von den anderen Domestiken freuen.« »Ich glaube nicht, daß wir uns nach weiterer Beschäftigung umsehen werden, Monsieur, aber tiefsten Dank für das Angebot.« Lister legt die Karte in die Brieftasche, die er aus seiner Weste gezogen hat. »Und der Koch? Dieser exzellente chef de cuisine? Ist er noch frei?« »Er hat ebenfalls schon Pläne, Exzellenz.« »Das gibt natürlich einen Skandal. Er muß euch alle sehr gut für eure Dienste bezahlt haben.« »Für unsere Verschwiegenheit, Monsieur.« Oben grollt eine Stimme, schlagen Fensterläden. »Das ist der unterm Dach«, sagt Fürst Eugène. 55
»Ein trauriger Fall, Monsieur.« »Er wird alles erben.« »Wie das, Monsieur? Er ist ein Verwandter aus der ersten Ehe der Baronin. Ein Vetter ihres ersten Mannes. Ich glaube kaum, daß der Baron dem armen Wesen unterm Dach ein großes Vermögen hinterlassen könnte. Den Titel erbt ein Bruder des Barons in Brasilien.« »Der in Brasilien ist der jüngste. Der unterm Dach ist in der Erbfolge der nächste – er ist gar kein Verwandter von ihr.« »Das war mir nicht bekannt«, sagt Lister. »Es wissen nur wenige. Sagen Sie niemandem, daß Sie es von mir haben. Klopstock würde mich umbringen … umgebracht haben.« »Nun, es spielt für uns keine Rolle, wer das Vermögen erbt, Monsieur. Unser Glück liegt anderswo.« »Sehr schade. Den Koch hätte ich gern genommen. Ein hervorragender Koch. Wie heißt er noch gleich?« »Clovis, Monsieur.« »Richtig. Clovis.« »Aber ich bin sicher, daß er den Beruf aufgeben wird.« »Schade um das Talent.« Der Fürst steigt in den Wagen, der ihn vom Schauplatz fährt. 56
Mr. Samuel hat seinen Ledermantel ausgezogen und sitzt im großen Butlerbüro neben dem Domestikensalon; er blättert in einem Stapel Papiere. In schwarzem Rollkragenpullover und schwarzer Kordhose sitzt er auf dem Stuhl zurückgelehnt. Die Tür hinter ihm ist offen, und in dem großen dunklen Fenster vor ihm tanzen verschwommene Lichtkleckse vom Hof wie auf einem defekten Fernsehschirm. An der Hintertür fährt ein Wagen vor. Mr. Samuel sagt über die Schulter zurück zu den Domestiken im Zimmer: »Da kommt Mr. McGuire, laßt ihn rein.« »Er hat einen Schlüssel«, sagt Héloise. »Seid mal ein bißchen höflich«, sagt Mr. Samuel. »Ich höre Lister kommen«, sagt Eleanor. Mr. Samuel steht auf und kommt in den Domestikensalon. Vom Flur zum Haupthaus kommt Lister, während sich an der Hintertür ein Schlüssel im Schloß dreht. Lister bleibt stehen und lauscht. »Wer ist das?« »Mr. McGuire«, sagt Mr. Samuel. »Ich habe ihn gebeten, herzukommen. Vielleicht brauche ich Hilfe bei den Daten. Sie haben hoffentlich nichts dagegen.« »Sie hätten mir das vorher sagen sollen«, sagt Lister. »Sie hätten mich anrufen sollen, Mr. Samuel. 57
Aber ich habe nichts dagegen. Zufällig kann ich selbst Mr. McGuires Dienste brauchen.« Jetzt kommt ein Mann von der Hintertür. Er wirkt etwas älter als Mr. Samuel und hat ein wettergegerbtes, sommersprossiges Gesicht. »Wie geht’s, wie steht’s?« fragt er. »Guten Abend, Mr. McGuire«, sagt Lister. »Machen Sie es sich bequem«, sagt Clovis. »Guten Abend, danke«, sagt Mr. McGuire. »Ich könnte einen Bissen vertragen.« »Sekretäre verpflegen sich selbst«, sagt Clovis. »Ich komme gerade aus Paris.« »Mach ihm etwas warm, Clovis«, sagt Lister. »Laßt mich nur machen«, sagt Eleanor, indem sie betont demütig aufsteht. »Mr. Samuel, Mr. McGuire«, sagt Lister, »sind Sie nur vorübergehend hier, oder gedenken Sie zu warten?« Mr. McGuire sagt: »Eigentlich möchte ich den Baron sprechen.« »Ausgeschlossen«, sagt Mr. Samuel. »Will nicht gestört werden«, sagt Lister. »Wozu bin ich dann den ganzen Weg hier herausgekommen?« fragt Mr. McGuire und zieht resigniert seinen Lammfellmantel aus. »Um Mr. Samuel die Hand zu halten« sagt Pablo. 58
»Dann werde ich den Baron morgen früh sehen«, sagt Mr. McGuire. »Ich muß ihn sprechen.« »Zu spät«, sagt Lister. »Der Baron ist nicht mehr.« »Ich höre doch seine Stimme. Wie meinen Sie das?« »Halten wir uns nicht an der banalen Chronologie auf«, sagt Lister. »Ich habe Arbeit für Sie.« »Hier wäre noch Kalbsfrikassee«, ruft Eleanor aus der Küche. »Blanquette de veau«, sagt Clovis. Er faßt sich an den Kopf und schließt gequält die Augen wie nach langen, fruchtlosen Unterweisungsbemühungen. »Hast du eine Zigarette hier?« fragt Héloise. »Was für ein Lärm!« sagt Mr. McGuire mit einer Kopfbewegung nach vorn. »Wie das durchdringt! Wer ist denn da heute abend zu Besuch?« »Hadrian«, sagt Lister, indem er sich einen Stuhl heranzieht, »geh mal zu Eleanor und hilf ihr. Und sag ihr, daß ich sehr dankbar für eine Tasse Kaffee wäre.« »Als ich ein Junge von vierzehn war«, sagt Lister, »habe ich beschlossen, England den Rücken zu kehren.« Mr. McGuire greift nach unten und hält das 59
Tonbandgerät an. »Noch mal von vorn«, sagt er. »Sagen Sie das etwas umgangssprachlicher, Lister. Nicht: ›Als ich ein Junge von vierzehn war‹, sondern: ›Als Junge, mit vierzehn.‹ Etwa in diesem Ton, Lister.« Sie sitzen allein in Listers großem Zimmer in zwei weichen, dunkelolivgrünen Ledersesseln, die zeitlos und wie neu sind, höchstwahrscheinlich im Zuge einer kompletten Neueinrichtung aus einem anderen Teil des Hauses hierhergekommen, vermutlich aus der Bibliothek. Den ganzen Boden bedeckt ein dicker grauer Teppich. Listers Bett ist schmal, aber sehr eindrucksvoll mit seiner gut erhaltenen, bärenfellartigen Decke, die eine Eigenerwerbung sein könnte, vielleicht aber auch einmal einem früheren Klopstock die Knie gewärmt hat, wenn er im offenen Wagen durch die winterliche Landschaft fuhr, jedenfalls sieht sie irgendwie bedeutend aus; überhaupt ist mit Sicherheit anzunehmen, daß alles in diesem Zimmer, einschließlich Mr. McGuires, sich nur mit Listers ausdrücklicher Billigung darin befindet. Zwischen den beiden Männern steht auf dem Boden ein klobiges Tonbandgerät in einem offenen Kasten mit Griff. Ein langes, spiraliges Kabel verbindet es mit einer Steckdose neben dem Bett. Die beiden 18-Zentimeter-Spulen sind stehenge60
blieben, als Mr. McGuire auf den Aus-Schalter drückte; da auf den Spulen nicht genau gleich viel Band ist, kann man abschätzen, daß zu einem früheren Zeitpunkt schon etwas anderes von etwa halbstündiger Dauer darauf aufgenommen wurde. »Stilfragen wollen wir den Journalisten überlassen, Mr. McGuire«, sagt Lister. »Hier geht es nur um eine vorläufige Presseerklärung. Die eigentliche Geschichte, das ist etwas ganz anderes – ein Exklusivbericht, und damit haben wir schon unsere Pläne. Was wir jetzt brauchen, ist etwas für die Presse im allgemeinen, was wir denen vorsetzen können, wenn sie uns auszufragen anfangen, verstehen Sie?« »Lassen Sie sich raten, Lister«, sagt Mr. McGuire, »und schlagen Sie einen Umgangston an.« »Wessen Umgangston – meinen oder den der Journalisten?« »Den der Journalisten«, sagt Mr. McGuire. »Schalten Sie ein«, sagt Lister. Mr. McGuire tut es, und die Spulen beginnen sich zu drehen. »Als Junge, mit vierzehn«, sagt Lister, »habe ich beschlossen, England den Rücken zu kehren. Ich hatte da ein bißchen Ärger, der hatte mit Eleanor unter dem Flügel zu tun, denn sie war ja meine Tante und erst neun. Seit diesem traumatischen 61
Erlebnis entwickelte sich bei Eleanor eine invertierte Onkelfixierung, was heißen soll, daß sie mir nachkam, als sie vierzehn wurde, und –« »So geht das nicht«, sagt Mr. McGuire und schaltet das Gerät aus. »Es ist nicht wahr, aber das heißt nicht, daß es nicht geht«, sagt Lister. »Also, mein guter Mr. McGuire, wir haben nicht die ganze Nacht zu verplempern. Sie sollen ähnliche kurze Erklärungen noch von Eleanor und Héloise aufnehmen. Die anderen sollen selbst sehen, was sie tun. Danach müssen wir noch Fotos machen.« Lister bückt sich, schaltet das Gerät ein und spricht weiter. »Mein Vater«, sagt er, »war in diesem Haus als Kammerdiener, eine gute Stellung. Es war Watham Grange, in Leicestershire, unter dem Flügel. Ich arbeitete in Frankreich. Als Eleanor nachkam, arbeitete ich in Amsterdam in einem Restaurant, das einem Griechen gehörte. Dann haben wir in Privathaushalten angefangen, und nun bin ich seit über fünf Jahren hier in der Schweiz als Butler bei den Klopstocks. Aber um es kurz zu machen, in Wirklichkeit habe ich England wegen des Klimas verlassen – zu feucht.« Lister schaltet das Gerät aus und starrt darauf. »Wollen die nicht etwas über die Klopstocks hören?« fragt Mr. McGuire. 62
»Ich denke gerade nach«, sagt Lister unwirsch. Kurz darauf schaltet er das Gerät wieder ein und wirft dabei einen Blick auf seine Armbanduhr. »Der Tod unserer Herrschaften war für uns alle ein schwerer Schock. Damit hätten wir zu allerletzt gerechnet. Natürlich haben wir keine Schüsse gehört, denn unsere Quartiere sind vom herrschaftlichen Bereich völlig getrennt. Und in diesen großen Häusern macht natürlich auch der Wind viel Lärm. Oben sind die Läden etwas locker – nach denen sollte übrigens morgen nachmittag jemand sehen kommen.« Mr. McGuire hält das Tonband an. »Ich dachte, Sie wollten sagen, der unterm Dach habe solchen Lärm gemacht, daß Sie die Schüsse für einen seiner Anfälle hielten.« »Ich hab’s mir anders überlegt«, sagt Lister. »Warum?« fragt Mr. McGuire. Lister schließt unwillig die Augen, während Mr. McGuire wieder einschaltet. Die Spulen drehen sich. »Der Baron hatte befohlen, nicht zu stören«, sagt Lister. »Was kommt danach?« fragt Mr. McGuire. »Spulen Sie bitte zurück, Mr. McGuire.« Mr. McGuire läßt die Spulen rückwärts laufen und stoppt sie mit konzentrierter Miene kurz vor dem Anfang. »Etwa hier muß Ihr Beitrag begin63
nen«, sagt er und schaltet ein. Das Gerät gibt zwei lange, theatralische Seufzer von sich, dann folgt eine Frauenstimme – »Alle Jahre bin ich zum ersten Mai allein auf den Atlas gestiegen und habe Apoll einen Lorbeerkranz geopfert. Und in einem Jahr ist er dann endlich von seinem feurigen Wagen herabgestiegen –« Mr. McGuire hat abgeschaltet und läßt das Band ohne Ton ein Stück vorlaufen. »Das muß Ihre letzte Aufnahme von den Klopstocks gewesen sein«, sagt Lister. »Ja, die letzte.« »Sie hätten für uns ein neues Band nehmen sollen. Wir wollen mit Apollos Taten nichts zu tun haben.« »Ich schneide diesen Teil des Bandes heraus, bevor wir Kopien machen. Überlassen Sie das nur mir«, sagt Mr. McGuire. Jetzt geht er hin und zieht den Stecker des Tonbandgeräts aus der Dose. »Was ans Licht muß, kommt ans Licht«, sagt Lister, der aufgestanden ist und zusieht, während Mr. McGuire das Kabel verstaut und den Deckel über das Tonbandgerät klappt. Er nimmt den Apparat und folgt Lister aus dem Zimmer. »Ganz schön schwer, das Ding«, sagt er, »wenn man es immerzu herumschleppen muß.« Sie gehen die Domestikentreppe hinunter bis 64
zum ersten Absatz. Dort biegt Lister ab und geht zur großen Haupttreppe, wohin Mr. McGuire, der zuerst anscheinend weiter die Hintertreppe benutzen wollte, ihm nach kurzem Zögern folgt. »Ich höre keine Stimmen«, sagt Lister im Hinuntergehen und blickt durch den breiten Treppenraum nach unten auf die schwarzweißen Fliesen. »Die Bücher sind stumm.« Sie kommen ins Erdgeschoß, wo Mr. McGuire mit seiner schweren Last stehenbleibt, während Lister zur Tür der Bibliothek geht. Er wartet, dreht den Knauf und drückt vorsichtig; die Tür gibt nicht nach. »Abgeschlossen«, sagt Lister, sich umdrehend. »Und still. Machen wir weiter«, sagt er, während er den Weg zum Domestikenflügel einschlägt. »Es bleibt noch vieles zu tun – und noch viel mehr Chaos anzurichten.«
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Es muß sehr schnell gegangen sein. Ob sie überhaupt etwas gefühlt haben?« fragt Héloise. »Vielleicht fühlen sie ja noch immer was. Es könnte noch einer von ihnen da sein.« Lister sagt: »Ich kann mich der Frage nicht enthalten, ob eine Flamme Schmerz empfindet?« »Lister und der junge Pablo«, sagt Mr. Samuel, der mit seiner Kamera im Domestikensalon umhergeht, »stellen Sie sich näher zusammen. Lister, legen Sie die Hand auf die Stuhllehne.« Lister legt die Hand auf Pablos Schulter. »Warum tun Sie das? Das sieht nicht gut aus«, sagt Mr. Samuel. »Überlassen Sie das Lister«, sagt Eleanor im selben Moment, als Lister sagt: »Ich tröste ihn.« »Dann muß Pablo aber ein untröstliches Gesicht machen«, sagt Mr. Samuel. »An sich ist die Idee ja gut.« »Mach ein untröstliches Gesicht, Pablo«, sagt Lister. »Stell dir irgendwas Trostloses vor, zum Beispiel, du wärst an Victor Passerats Stelle.« Die Kamera klickt dezent, wie eine wohlerzo66
gene Maschine. Mr. Samuel geht ein paar Schritte weiter und knipst noch einmal aus einem anderen Winkel. Dann verrückt er eine Lampe und sagt: »Schauen Sie mal in diese Richtung«, wobei er irgendwohin in die Luft zeigt. »Das zweitemal hat Pablo gelächelt«, sagt Eleanor. »Paßt doch besser auf.« »Mr. Samuel weiß, daß die Negative mir gehören«, sagt Lister. »Nicht wahr, Mr. Samuel?« »Ja«, sagt Mr. Samuel. »Wo ist der Kranz?« fragt Lister. »Wo ist unser Blumengebinde?« »In meinem Zimmer, auf dem Fußboden«, sagt Héloise. »Hol ihn runter.« »Ich bin zu müde.« »Ich gehe schon«, sagt Hadrian und geht. Als er die Tür öffnet, kommt von oben ein langgezogenes Heulen. »Schwester Barton hat ihm heute abend seine Spritze nicht gegeben«, sagt Lister, »und ich möchte wissen, warum.« »Schwester Barton ist ganz durcheinander«, sagt Clovis. »Sie hat ihr Abendessen nicht angerührt.« »Sie leidet Angst, ein recht aufregendes Gefühl«, sagt Lister. »Die Leute lieben das.« 67
»Ich habe ihr kalte Hähnchenbrust mit grünem Salat hinaufgeschickt, nach Schweizer Art in Streifen geschnitten, was sie in ihrem ahnungslosen Herzchen für die richtige Zubereitung hält«, brummt Clovis. Er hat eine Hand unter den Gürtel geschoben, der seine schlanke Taille umgibt. Mehrere Goldmedaillen hängen an Kettchen vor seiner Brust. Mr. Samuels Kamera richtet sich auf ihn, was er offenbar erwartet hat. Er senkt die Lider. »Gut«, sagt Mr. Samuel und geht weiter zu Héloise. »Nur Kopf und Schultern«, sagt Lister im selben Moment, in dem er den Hörer von dem summenden Haustelefon nimmt. »Er?« fragt er in den Apparat. »Warum?« Es kommt eine längere Antwort, die für Lister anscheinend verständlich ist, sonst aber wie ein bronchitischer alter Rabe ins Zimmer krächzt, bis Lister »Gut, gut« sagt und auflegt. Dann dreht er sich um und sagt: »Wir kriegen den Pfarrer auf den Hals. Er ist auf seinem Motorrad aus Genf gekommen. Schwester Barton hat ihn gerufen, damit er ihren Patienten beruhigt.« »Ich wittere Verrat«, sagt Eleanor. »Wie meinst du das?« fragt Lister. »Sie war nie eingeweiht, da kann Verrat nicht das richtige Wort sein.« »Jedenfalls ist sie ein Luder«, sagt Héloise. 68
»Da kommt er«, sagt Lister, als man einen Motor nahen hört. »Pablo, mach die Tür auf.« Pablo geht zur Hintertür, aber das Geknatter entfernt sich ums Haus herum nach vorn. »Er ist zum Haupteingang gefahren«, sagt Lister. »Da gehe ich wohl besser selbst hin.« Er geht mit den Worten: »Vorn, vorn, laß mich nur machen«, an Pablo vorbei, eilt über die schwarzweißen Fliesen der Halle und läßt den Pfarrer ein. »Guten Abend, Lister. Ich dachte, Sie wären schon im Bett«, sagt der weißhaarige Pfarrer, der eine Wollmütze in der Hand hält. »Nein, Hochwürden«, sagt Lister, »von uns ist noch keiner im Bett.« »So, und ich bin extra zur Vordertür gefahren, weil ich dachte, Sie wären schon im Bett. In der Bibliothek brannte noch Licht, da dachte ich, der Baron kann mir ja selbst aufmachen.« Er schaut die Treppe hinauf. »Jetzt scheint er ja ruhig zu sein. Ist er schlafen gegangen? Schwester Barton hat mich dringend hergerufen.« »Es war nicht recht von Schwester Barton, Sie zu rufen, Hochwürden, aber ich muß sagen, es erleichtert mich, Sie zu sehen, und darum denke ich nun, daß sie vielleicht doch recht getan hat.« »Sie und Ihre Rätsel, Lister.« Der Pfarrer ist 69
groß, mager und gebrechlich. Er zieht seinen dicken Lammfellmantel aus. Darunter trägt er einen dunkelgrauen Anzug mit Priesterkragen. Er ist recht betagt und scheint dabei eine gewisse Lebenskraft auszuströmen, was aber vielleicht nur daher rührt, daß er bei aller sichtlichen Gebrechlichkeit dennoch ohne weiteres imstande ist, in so einer stürmischen Nacht mit dem Motorrad hier herauszufahren. Er deutet mit dem Kopf zur Bibliothek. »Ist der Baron allein? – Ich weiß, daß es schon spät ist, aber ich würde gern mal reinschauen und ein Wort mit ihm reden, bevor ich weiter nach oben gehe. Ich habe schon viele Male spät mit dem Baron zusammengesessen und geredet.« Der Pfarrer ist schon an der Tür und wartet, daß Lister nur noch anklopft und ihn meldet. »Sie sind zu dritt«, sagt Lister. »Ich bedaure, Hochwürden, aber ich habe strenge Anweisung vom Herrn Baron, nicht zu stören. Unter keinen Umständen.« Der Pfarrer atmet genüßlich die zentralgeheizte Luft in der Halle ein, seufzt und legt, als wäre ihm plötzlich eine Erleuchtung gekommen, den Kopf ein wenig schief, die Augen vogelgleich. »Ich höre niemanden. Sind Sie sicher, daß er Gesellschaft hat?« 70
»Ganz sicher«, sagt Lister und macht einen seitlichen Schritt rückwärts, der dem Pfarrer unmißverständlich anzeigen soll, wohin er zu gehen hat. »Kommen Sie mit zu uns, Hochwürden, und wärmen Sie sich. Trinken Sie einen Grog. Oder Toddy. Irgend etwas Heißes. Ich würde gern unter vier Augen mit Ihnen reden, Hochwürden, bevor Sie zu Schwester Barton hinaufgehen.« »Wohin? Ach ja.« Des Pfarrers Blick verliert den Faden seiner bisherigen Überlegungen und heftet sich Schritt um Schritt an Listers glänzende Schuhe. »Guten Abend, ich habe hier etwas«, sagt der Pfarrer zu den Versammelten und fährt mit der Hand in die Tasche, als Lister ihn ins Zimmer führt. »Ehe ich es vergesse.« Er holt einen kleinen Zeitungsausschnitt hervor und legt ihn auf das Fernsehtischchen, setzt sich daneben, greift in seine Brusttasche und nimmt seine Brille heraus. »Guten Abend, Herr Pfarrer«, und: »Schön, daß Sie da sind, Hochwürden«, sagen Héloise und Pablo gleichzeitig, während soeben Hadrian hereinkommt und gleich einem Serviertablett unter duftiger Zellophanwolke ein großes rundes Blumengebinde hereinträgt, das zunächst vielleicht ein Lorbeerkranz werden sollte, dann von außen nach innen mit bunten Ringen nach dem Ge71
schmack der Spender ausgefüllt wurde – roten Rosen, Narzissen, weißen Lilien, ganz innen einem Kreis orangefarbener Rosen und im Mittelpunkt schließlich einem Veilchenstrauß. Der Anblick scheint den Pfarrer an etwas zu erinnern. Er bewegt zum Aufstehen seine langen Glieder und sagt: »Er ist doch nicht gestorben, nein?« »Hochwürden meint den unterm Dach«, sagt Héloise. Eleanor sagt: »Ich lege sie unter die Dusche und spritze sie ein bißchen naß. Das hält sie frisch.« Lister hilft dem Pfarrer wieder in den Sessel und sagt: »Wir werden gerade fotografiert, Hochwürden.« »Ah!« sagt der Pfarrer. »Ah, ich verstehe.« Er ist offenbar darin geübt, sich neueren, jüngeren Gepflogenheiten, so grotesk und unzeitgemäß sie scheinen mögen, schnell und ohne Umstände anzupassen. Anscheinend denkt er darüber nach, während er sich für seine Umgebung zu erwärmen beginnt. Mr. Samuel richtet die Kamera auf ihn und fotografiert das nachdenkliche Gesicht, die hilflos ausgestreckten Hände des Pfarrers. »Gut«, sagt Lister, der soeben aus der Küche kommt, auf einem Tablett ein elegantes Glas im silbernen Halter, in dem ein Toddy vor sich hin dampft, den er 72
mit einem langen Löffel umrührt. »Noch einmal«, sagt Lister zu Mr. Samuel, indem er stehenbleibt und das Glas zurückhält, nach dem der Pfarrer gerade greifen will. Mit leisem Klicken hält die Kamera die segnende Geste fest. Dann bekommt der Pfarrer seinen heißen Toddy. »Guten Abend – oder sollen wir lieber guten Morgen sagen, Hochwürden?« sagt Mr. McGuire, der mit seinem schweren Tonbandgerät aus dem Butlerbüro kommt. »So eine Freude«, sagt Mr. McGuire. »Mr. McGuire – guten Abend. Ich war schon im Bett, da klingelt das Telefon, und Schwester Barton fragt nach mir. Es sei dringend, sagt sie, er schreie so. Nun bin ich also hier. Und jetzt höre ich keinen Laut mehr. Alle sind schlafen gegangen. Was treiben die Klopstocks denn nur dort in der Bibliothek?« »Ich weiß es wirklich nicht«, sagt Mr. Mc Guire. »Sie wollen nicht gestört werden.« »Die Klopstocks und Victor Passerat«, sagt Héloise. »Héloise, es tut nichts zur Sache, wer der Gast ist«, sagt Lister. »Es kann sein, wer will.« Pablo und Eleanor sind aus dem Bad zurückgekommen, wo sie das Trauergebinde zurückgelassen haben. Pablo setzt sich zu Héloise auf die Sessel73
lehne. Der Pfarrer mustert das Paar und greift nach dem Zeitungsausschnitt. Er setzt seine Brille auf. »Hier, das habe ich mitgebracht.« Und wieder sieht er das Paar an. Er blickt auf das Stück Papier, dann scharf zu Pablo. »Ich habe es aus dem Daily American ausgeschnitten, um es dem Baron zu zeigen. Es hat durchaus Bezug zu dem, was in diesem Haus praktiziert wird, und da ich nun einmal hier bin und sehe, daß der Baron beschäftigt ist, denke ich mir, ich kann es auch hier vorlesen, für alle, die es angehen mag.« Er sieht Pablo an. »Lassen Sie hören«, sagt Pablo und lehnt sich stärker an Héloise. Sie streicht sich über den Bauch, der sich von Zeit zu Zeit aus sich selbst heraus bewegt. Lister sitzt am Tisch und zeigt mit einem Blick zu Mr. McGuire stumm auf das Tonbandgerät. Mr. McGuire wuchtet den Apparat auf den Tisch, während Lister sagt: »Ich verstehe das alles nicht ganz, Hochwürden. Können Sie uns das vielleicht noch einmal erklären?« Mr. McGuire drückt den Stecker des Geräts in eine Dose. Der Pfarrer sieht über seine Brille hinweg auf das Gerät. »Was ist das?« fragt er. »Der neue elektronische Speisenmischer«, sagt Lister. »Wir sind heutzutage vollcomputerisiert, 74
Hochwürden. Alle persönliche Note ist futsch. Wir programmieren die Mahlzeiten nur noch.« »Hm, aha.« Der Pfarrer wirkt mit einemmal schläfrig. Gleichzeitig mit seinen Lidern sinkt sein Kopf hinunter, und die Hände mit dem Zeitungsausschnitt zucken kaum merklich ein Stückchen tiefer. »Sie wollten uns etwas zu dem Zeitungsausschnitt erklären, Hochwürden«, sagt Lister, an einer Zigarette ziehend. »Wir sind natürlich ganz Ohr für jeden Rat, den Sie uns erteilen mögen, sind wir doch wahrhaft wie die Schweine, verirrt gleich Schafen, jedes nach seiner Art, gezählt zusammen mit den Böcken. Normalerweise –« »Ja, Sex«, sagt der Pfarrer, nun wieder wach. Er sieht zu Pablo, dann zu Héloise, dann wieder auf den Zeitungsartikel. Lister sagt: »Normalerweise ist das ein Thema, über das in diesen vier Wänden nicht gesprochen wird.« »Man muß den Tatsachen ins Auge sehen. Verschweigen hilft nichts«, erwidert der Pfarrer heftig. Lister hebt den Finger, und die Tonbandspulen setzen sich in Bewegung. »Ich habe das mitgebracht«, sagt der Pfarrer, »um es Cecil und Cathy Klopstock zu lesen zu 75
geben. Ich glaube, daß darin etwas steht, was ihnen für ihr Problem nützlich sein kann. Und ich hoffe, es kann auch Ihnen, jedem einzelnen von Ihnen, für das seine nützlich sein.« Er liest vor: ›»Neues Mittel gegen Sex‹ – soweit die Überschrift. ›Edinburgh, Schottland – Wie ein Arzt vor der Königlichen Medizinisch-Psychologischen Gesellschaft berichtete, hat die Medizin ein neues Mittel entwickelt, das Sexualtätern ihre Triebe dämpfen hilft. Der Leiter der Edinburgher Gruppe, die das deutsche Medikament erprobte, schilderte Mitgliedern der Gesellschaft den Fall eines 40jährigen mehrfachen Mädchenschänders. Der Mann war bereits wegen Exhibitionismus und homosexueller Betätigung bekannt und brauchte nach eigenen Angaben täglich Sex. Drei Wochen Behandlung mit Cyproteronazetat, wie das neue Mittel heißt, dämpften jedoch nach Aussage des Experten seinen Trieb erheblich. Das Mittel wurde drei weiteren Männern verabreicht. Alle sagten, sie fühlten sich wohler.‹ Und so weiter und so fort. – Also«, sagt der Pfarrer. Lister hebt den Finger, und das Gerät bleibt stehen. »Sie haben uns da etwas sehr Interessantes berichtet, Hochwürden«, sagt Lister. »Alle sollten das hören und sehen, als Kritik an vielen Dingen, die sich unter diesem Dach abspielen.« 76
»Das fand ich ja auch«, sagt der Pfarrer düster und steckt den Ausschnitt wieder ein. »Ich fahre am besten nach Hause«, meint er dann. »Der Wind hat sich gelegt«, sagt Hadrian. »Hochwürden sollten hier übernachten«, sagt Eleanor. »Er kann nicht mit diesem Motorrad den ganzen weiten Weg nach Genf zurückfahren.« »Offen gesagt, ich war schon im Bett«, sagt der Pfarrer. »Sagt Klopstock, daß ich hier bin.« »Er will nicht gestört werden. Ich habe den strikten Befehl.« »Ich will nicht hoffen, daß sie es in der Bibliothek treiben. In der Bibliothek! Wieviel Uhr ist es?« »Eben war’s Viertel vor drei«, sagt Lister. »Ich gehöre ins Bett. Sie gehören alle ins Bett. Warum haben Sie mich den ganzen Weg hierherkommen lassen?« Lister geht zum Haustelefon, nimmt den Hörer ab und drückt auf einen Knopf. Er wartet. Er drückt noch einmal und läßt den Finger ein paar Minuten darauf. Endlich kommt nervöse Antwort. »Schwester Barton«, sagt Lister ins Telefon. »Warum haben Sie den Herrn Pfarrer den ganzen Weg hierherkommen lassen?« Augenblicklich sagt der Pfarrer: »Ach ja, natürlich, mein armer Junge da oben«, während Lister geduldig zuhört. 77
Der Pfarrer erhebt sich aus dem knarrenden Sessel. Clovis, der mit verschränkten Armen und zusammengekniffenem Mund dagesessen hat, springt auf und hilft ihm. Man hört Lister sagen: »Das war nicht nötig«, dann legt er den Hörer auf. »Schwester Barton sagt, der unterm Dach habe Sie gebraucht, aber jetzt sei er eingeschlafen«, sagt Lister zum Pfarrer. Im selben Moment ertönt von oben ein langgezogenes Heulen, das sich durch das ganze Treppenhaus herunterwindet, gefolgt von noch einem, das sich ebenfalls durch alle Treppen windet und in den Domestikensalon dringt. »Sie hat ihn aufgeweckt«, sagt Hadrian. »Das hat sie.« »Mit Absicht«, sagt Eleanor. »Sie will nur dem Herrn Pfarrer Umstände machen.« »Ich wüßte gern, warum«, sagt Clovis. »Was bezweckt sie damit?« »Führen Sie mich hinauf«, sagt der Pfarrer. Héloise ist zu Bett gegangen. Sie hat sich Kissen in den Rücken gestopft und trinkt Tee. Am Fußende des Bettes sitzen rechts und links Pablo, das Faktotum, und Hadrian, der Hilfskoch, beide so blutjung wie Héloise. »Ich könnte echt schlafen«, sagt sie. »Ich könnte echt noch ein Nickerchen machen.« 78
»Nein«, sagt Pablo. »Wir sollen alle unter Schock stehen, wenn die Polizei kommt, sagt Lister. Er sagt, Schlafmangel tut dieselbe Wirkung.« »Einen Schock kann ich jederzeit vorspielen, und dazu noch mein Zustand.« Sie gähnt und balanciert mit der linken Hand ihre Teetasse, während sie sich die rechte vor den Mund hält. »Lister ist toll«, sagt sie. »Wahnsinnig«, sagt Hadrian. »Eine Wucht«, sagt Pablo. »So was von Organisation hab ich noch nie erlebt.« Aus dem Stockwerk über ihnen kommt ein lauter Knall, und noch einer und noch einer. »Klingt wie Schüsse«, sagt Héloise. »Sind aber keine«, sagt Pablo. »Sind die Fensterläden. Der Wind muß wieder stärker werden. Die Läden hab ich doch schön gelockert, was?« »Wir legen mal ’ne Platte auf«, sagt Hadrian. Er läßt sich vom Bett gleiten und geht zum Grammophon, um eine Platte auszusuchen. Er wendet die Platten schnell hin und her, wobei seine scharfen Augen mit einem Blick erfassen, was beiderseits auf den Etiketten steht, und dabei ist es in dieser Zimmerecke dunkel, denn nur Héloises Nachttischlampe ist an. Oben knallen wieder die Läden, gefolgt vom leiseren Klappern eines Fensters unten. Hadrian 79
legt eine Platte auf und läßt sie laufen. Eine Sekunde lang füllt Lärm das Zimmer, bis Hadrian die Lautstärke herunterdreht. Héloise zündet sich eine Zigarette an, dieweil die beiden jungen Burschen zur Rockmusik zu tanzen anfangen. Héloise stellt ihre Teetasse auf den Nachttisch. Sie kramt einen Kamm aus der Fransentasche, die sie auf dem Bett liegen hat, und nimmt einen Handspiegel vom Nachttisch. Sie legt beides aufs Bett, während sie ihren Pferdeschwanz löst. Dann nimmt sie den Spiegel in die eine Hand und beginnt sich zu kämmen, während sie leicht die Schultern zu der Rockmusik wiegt und mit der Zunge an den Zähnen den Rhythmus klopft. Die Jungen tanzen, Auge in Auge, die Hüften schwenkend, wobei ihre Füße auf den glänzenden Fichtendielen auf der Stelle treten. Héloises Zimmer ist kaum anders eingerichtet als das einer Tochter des Hauses. An den Wänden hängen Poster, Parolen und Pin-ups. Das Mobiliar ist niedrig und zweckmäßig und rot und schwarz und gelb bezogen. Ein kleiner weißer Wollteppich liegt schief vor einem Schreibtisch, auf dem sich bunte Illustrierte, Filzstifte und Schächtelchen mit allerlei Arzneien stapeln. Die Füße der tanzenden Jungen bleiben immer haarscharf neben dem Teppich. 80
Héloise sagt: »Getrunken hat sie nicht viel, das muß ich ihr lassen.« Sie drückt ihre Zigarette aus. Pablo unterbricht seinen Tanz. »Du denkst dir Sachen, Héloise«, sagt er. Hadrian, der für sich allein weitertanzt, sagt: »Man muß verbinden, Héloise.« »Was meinst du damit, daß ich nicht verbinde?« fragt sie. »Wenn du verbindest, fragst du nicht, was meinst du damit. Es gibt so was wie eine allgemeine Richtung.« »Für wen hältst du dich eigentlich – den Vorsitzenden Mao?« Pablo tanzt wieder. Die Platte endet. Er dreht sie um und spielt die andere Seite ab. »Clovis ist auch in Ordnung«, sagt Héloise. »Clovis wird mir fehlen.« Pablo sagt: »Er könnte ja bei uns bleiben. Warum soll er nicht bei uns bleiben?« »Clovis kann bei uns bleiben«, sagt Hadrian. »Die Baronin war eben natürlich«, sagt Héloise. »Das kann ich sagen. Warum sollte sie sich denn nicht nackt fotografieren und filmen lassen?« Jetzt hält Hadrian mit Tanzen inne. »Wißt ihr was?« meint er. »Überhaupt nicht leid tun kann mir Victor Passerat. Egal ob lebendig oder tot.« »Mir auch nicht«, sagt Héloise. 81
»Der hatte so was an sich«, sagt Pablo, beim Rocken wild mit den Armen zuckend. »Ich weiß«, sagt Hadrian. »Aber es ging nicht zusammen.« »Komisch, daß es gerade er sein mußte«, sagt Héloise. »Es hätte auch einer von den andern sein können«, meint Pablo. »Aber sie hat sich ihn ausgesucht«, sagt Hadrian. »Sie hat sich in ihn verknallt.« »Es konnte ja nicht ausbleiben«, sagt Héloise. »Es hätte jeder andere sein können«, sagt Pablo. »Jeder andere hätte denselben Fehler machen können.« »Es gibt so was wie eine allgemeine Richtung«, sagt Hadrian. »Wenn er sich in den Baron verknallt hat, mußte er koordinieren.« »Er hat aber nicht koordiniert«, sagt Héloise, indem sie den Spiegel wieder auf den Tisch legt und sich eine Zigarette anzündet. Sie reden eine Weile nicht. Héloise raucht ihre Zigarette und schaut gleichgültig den Tanzenden zu. Als die Musik endet, suchen die beiden Jungen stumm eine neue Platte aus und legen sie auf. Sie tanzen wieder, erst Hadrian, dann Pablo, wackelnd und schlenkernd wie von einem Strom bewegt, der dem Rhythmus der Musik entspringt. 82
Nach einer Weile sagt Héloise: »Ich mag Mr. McGuire.« »Der beste Tontechniker in der Branche. Er koordiniert«, sagt Hadrian. »Allerdings sehr professionell«, meint Pablo. »Das distanziert doch irgendwie, nicht wahr?« »Mr. McGuire und Mr. Samuel«, sagt Hadrian, »sind eine Klasse für sich. Daß sie Erfolg haben, kann man ihnen ja nicht vorhalten. Sie sind ein prima Team.« »Sie haben dafür gesessen«, sagt Hadrian. »Wirklich?« ruft Pablo, und gleichzeitig fragt Héloise: »Gesessen? Wann war denn das?« »Das war vor sechs, sieben Jahren, als die damit anfingen. Mr. Samuel hat mir viel davon erzählt«, sagt Hadrian, ohne nach dem langen Tanzen die geringste Ermüdung zu zeigen. »Mr. Samuel«, fährt er fort, »hat mir erzählt, daß sie zuerst für Kleingeld gearbeitet haben. Wer’s für ’n Apfel und ’n Ei tut, den kriegt man dran. Wenn du groß verdienen willst, mußt du privat einsteigen, wie bei allem andern.« Pablo tanzt nicht weiter und setzt sich aufs Bett. »Wie haben sie’s vorher gemacht?« fragt er. »Dieselbe Technik. Mr. Samuel hat fotografiert und Mr. McGuire den Ton dazu gemacht. Sie ha83
ben unter Chiffre annonciert und jede Menge Zuschriften gekriegt.« »Ihre Technik ist prima«, meint Héloise. »Ich muß sagen, es hat mir Spaß gemacht, wie sie mich mit Irene und Lister gefilmt haben. Mr. McGuire rief immer: ›Laßt eure Phantasie raus‹, und so. Ich hatte doch keinen Schimmer, was ich sagen sollte, ich dachte, er meint, wir sollen Märchen spielen, und hab mal mit Rotkäppchen angefangen, und Mr. McGuire rief: ›Klasse, Héloise, du bist klasse!‹ Ich hab also weiter Rotkäppchen gemacht, und Lister und Irene haben die Seiten gewechselt und auch mit Rotkäppchen weitergemacht. Lister war eine tolle Großmutter, als er mich aufgefressen hat. Man sieht im Film, was ich für Spaß hatte. Dann wurde Irene von Listers Double aufgefressen. Mr. Samuel ist ein Künstler, das kann man sagen. Seine Perspektiven verbinden.« Hadrian sagt: »Eleanor zieht immer ihre Prinzessinnennummer ab. Sie macht um keinen Preis mal was anderes.« »In dem Alter ändert sie sich nicht mehr«, meint Pablo. »Aber sie macht das gut. Mir gefällt die Prinzessin auf der Erbse, wenn sie auf ihrem Bett nicht schlafen kann. Man soll immer nur sich selbst spielen. Da geht alles zusammen. Die Baronin kommt als Nonne im Kongo auch gut raus, 84
mit Eleanor als Prinzessin. Aber der gestiefelte Kater ist stinklangweilig.« »Die Nonne im Kongo kann ich auch spielen«, sagt Héloise. »Ich auch«, sagt Pablo. »Das macht Spaß.« »Goldlöckchen und die drei Bären ist am besten«, sagt Héloise. »Die Idee mit den Märchen haben sie von mir. Das war meine Idee, oder es ist mir jedenfalls eingefallen.« »Sind eigentlich eure Versicherungskarten auf dem laufenden?« fragt Pablo. »Ich glaube nicht«, sagt Hadrian. »Meine nicht«, sagt Héloise. »Ich wollte die Baronin noch daran erinnern.« »Wenn das wichtig wäre, hätte Lister schon dafür gesorgt«, sagt Hadrian. »Anscheinend ist es nicht wichtig.« Er nimmt eine neue Platte in die Hand, sieht sie an, sagt: »The Far Fetchers. Nicht übel«, und legt sie auf, während Héloise sagt: »Mir ist alles recht.« Die Jungen tanzen wieder. Héloise sagt: »Sie ist in Lausanne aufs Mädchenpensionat gegangen und hat gelernt, wie man eine Orange mit Messer und Gabel ißt, ohne die Orange dabei anzufassen.« »Wer?« fragt Pablo. »Die Baronin.« Die jungen Männer tanzen weiter. 85
»Anscheinend kommt Nebel über dem See auf«, sagt Héloise. »Ich sehe ihn schon hier im Zimmer. Der dringt wohl sogar durch das Doppelfenster, wie?« Pablo beginnt zur Musik zu singen. Er singt: »›Pablo, die Baronin wünscht dich zu sprechen.‹ – Klopf, klopf. ›Nur herein, Pablo.‹ – ›Guten Morgen, Madam, kann ich etwas für Sie tun, Madam?‹ – ›Pablo, oben die Fensterläden, die klappern so. Die müssen wohl locker sein.‹ – ›Sofort, Madam.‹ – ›Dann bis später.‹ – ›Bis später auf der Party, Madam.‹« »Bis später auf der Party«, singt Hadrian. »Macht nicht solchen Krach«, sagt Héloise. »Lister ist oben, mit dem Pfarrer und Miss Barton.« »Irgendwas tut sich da oben«, sagt Hadrian und bleibt stehen, als die Musik endet. »Egal was, Lister kriegt das schon hin. Lister desoliert nie, Lister systemiert«, sagt Héloise und zündet sich eine Zigarette an. Pablo geht ans Fenster und sieht in den Nebel hinaus. »Lister hat Kontinanz«, sagt er, »und vor allem, er permaniert.« »Genau«, sagt Hadrian. Mr. Samuel sitzt in einem großen Sessel und blättert in einem gebundenen Manuskript, und Mr. 86
McGuire schaut ihm über die Schultern. Clovis sitzt an einem runden Tisch, der mit blauem Samt bespannt ist. Er hat die Ellbogen auf dem Tisch und das Kinn trübsinnig auf die Hände gestützt. »Das ist ein Renner«, sagt Mr. Samuel. »Gratuliere, Clovis.« »Da ist allerhand drin«, meint Mr. McGuire. Clovis hebt die Brauen und senkt sie wieder. An seiner trübsinnigen Miene ändert sich nichts, die Ellbogen liegen unverrückt. »Ein erstklassiges Filmskript«, sagt Mr. Samuel. »Manche Szenen sind einfach unglaublich. Das konnte nur ein Experte auf dem Gebiet so hinkriegen.« »Die Dialoge sind Wahnsinn«, sagt Mr. McGuire und fährt mit den Fingern liebevoll über sein Tonbandgerät, das zugeklappt auf dem Tisch steht. »Sie haben diese Bänder perfekt verarbeitet, Clovis.« Clovis bleibt stumm. Mr. Samuel sagt: »Zunächst ist das schon mal eine gute Idee, die Baronin als Phantombild aufzubauen, das die Polizei bei der Motivsuche mal um ein Auge, mal um eine Nase ergänzt. Sehr anschaulich, Clovis.« »Ich warte auf Antwort«, sagt Clovis. »Wir hätten schon Antwort haben müssen. Gestern war der Termin.« 87
»Wir hören schon noch von denen«, sagt Mr. Samuel. »Nur keine Sorge. In der Filmindustrie geht’s komisch zu.« »Die Fortsetzungsserie ist durch«, sagt Clovis, wobei er den rechten Ellbogen unterm Kinn wegzieht, um mit der Hand auf einen dicken Stapel Papier zu klopfen, der auf dem Tisch liegt. »Dieser Vertrag ist sicher.« »Den Film haben wir in der Tasche«, sagt Mr. McGuire. »Unser Problem ist nur noch die Besetzung. Wir brauchen alle jünger, als sie sind. Wenn Hadrian Lister spielt, könnte Pablo vielleicht Hadrian spielen.« »Ich frag mich nur, ob sie Pablo die Rolle geben.« »Es wird ihnen nichts anderes übrig bleiben«, sagt Mr. McGuire. »Eleanor kann die Baronin spielen. Dieselben Einstellungen, die ich schon habe, sie muß sich nur an den Originalfilm und die Dialoge halten«, sagt Mr. Samuel. »Pablo macht mir Sorgen«, sagt Clovis. »Er ist sehr fotogen«, meint Mr. Samuel. Sie verstummen, als Lister mit dem Pfarrer ins Zimmer kommt. »Wo ist Eleanor?« fragt Lister. »Nicht hier«, sagt Clovis. 88
»Gebt Hochwürden mal etwas Gutes zu trinken«, sagt Lister auf dem Weg zum Haustelefon. »Nein, ich müßte längst im Bett sein«, sagt der Pfarrer. »Morgen muß ich schon früh aufstehen und mich um die Trauung kümmern.« »Bedaure, Hochwürden, aber wahrscheinlich haben wir heute nacht hier noch eine wichtige Aufgabe für Sie, die sich aus Schwester Bartons Ansinnen ergibt. Sie müssen einfach hierbleiben.« »Sie müssen bleiben, Hochwürden«, sagt Mr. McGuire. »Wir werden uns schon um Sie kümmern.« Lister hat den Hörer abgenommen und auf einen Knopf gedrückt. Jetzt steht er da und wartet auf Antwort, die nicht kommt. Er drückt auf einen anderen Knopf und spricht derweil über die Schulter zurück zu den Leuten im Zimmer. »Schwester Barton hat den Pfarrer gebeten, eine Trauung vorzunehmen«, sagt er. »Sie will den unterm Dach heiraten, und soweit man daraus schlau wird, scheint er einverstanden zu sein.« Als er am Telefon noch immer keine Antwort bekommt, drückt er wieder auf einen anderen Knopf und redet dabei weiter. »Ich konnte Hochwürden davon abbringen, in diesem Moment so etwas Irreguläres zu tun.« »Die ist ja nicht bei Trost«, sagt Mr. Samuel. 89
»Total verrückt«, sagt Mr. McGuire. Und jetzt hat Lister am Telefon Verbindung. »Eleanor«, sagt er in die Sprechmuschel, »gibt’s was Neues? Hast du was erreicht?« Es kommt eine kurze, pfeifende Antwort. Draußen hört man es donnern. Lister sagt ins Telefon: »Sei gründlich, mein Schatz«, und legt auf. »Ein Gewitter kommt näher«, sagt Mr. McGuire. Clovis bringt dem Pfarrer, der benommen auf dem Sofa sitzt, ein Glas heißen Toddy. Der Pfarrer nimmt ihn, stellt ihn neben sich auf das Tischchen und läßt die Finger um das Glas spielen. Er beginnt eine Choralmelodie zu summen, nickt schläfrig, reißt plötzlich die Augen wieder auf, als ein Donner ums Haus kracht, und läßt sie endgültig zufallen, nachdem der Lärm vorbei ist. Das Haustelefon summt. Lister geht hin und meldet sich, und der Apparat zischt ihn heiser an. »Irene?« fragt Lister. »Ja, die lassen Sie natürlich herein. Gebrauchen Sie mal Ihren Verstand.« Er legt auf. »Dieser Pförtner«, teilt er der Allgemeinheit mit, »ist ein Banause.« Wieder summt das Haustelefon. Lister nimmt ganz langsam den Hörer ab und spricht hinein: »Hier Lister«, und lauscht aufmerksam dem geschwätzigen Schirokko, der sich durch die enge 90
Röhre des Telefons herabzwängt. Inzwischen fährt hinten ein Wagen vor. Oben hört man ein Fenster aufgehen und Héloise »Hallo, Irene!« in die stürmische Nacht hinausrufen. Mr. Samuel, der aus dem Fenster späht, dreht sich ins Zimmer um und sagt: »Irene, in ihrem Mini-Morris.« Das Haustelefon in Listers Hand gibt ein kurzes, erregtes Seufzen von sich. Lister fragt: »Waren die Unterlagen offen oder unter Verschluß, Schatz?« Das Telefon krächzt wie wild, während ein zweifacher Donnerschlag den Himmel über dem Dach zerreißt. Ganz oben im Haus ertönt ein langgezogenes Heulen, aus einem tieferen Stockwerk kommen vereinzelte Musikfetzen. Die Hintertür klappert, läßt jemanden ein und klappt wieder zu. Lister lauscht weiter am Telefon. »Dann paß auf«, sagt er endlich, »daß du sie nicht wieder wegschließt. Laß alles so, wie du es vorgefunden hast. Nimm die Kopien und leg die Originale wieder zurück. Und beeil dich, mein Schatz. Kein Grund zur Aufregung – Doch hinter uns – horch! – braust heran der Zeit geflügeltes Gespann; –«
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Eine große, magere, kinnlose Frau mit strahlenden schwarzen Augen ist inzwischen in den Domestikensalon gekommen. Lister legt den Hörer auf und sagt zu ihr: »– und vor uns gähnen bang und breit die Wüsten weiter Ewigkeit. Wo hast du die ganze Nacht gesteckt, Irene?« »Ich hatte meinen freien Abend«, sagt Irene und zieht ihre ledernen, lammfellgefütterten Autohandschuhe aus. »Freier Abend!« sagt Lister. »Um so eine nachtschlafende Zeit kommt man nicht ins Château Klopstock zurück.« »Ich bin in das Gewitter geraten«, sagt sie. »Guten Abend, Hochwürden. So eine Freude!« Der Pfarrer öffnet die Augen, richtet sich auf, läßt den Blick durchs Zimmer schweifen, sieht sein Glas, nimmt es und trinkt ein Schlückchen. »Zu stark«, sagt er. »Ich hätte gern eine Tasse Tee, bevor ich fahre.« »Hören Sie sich mal das Gewitter an, Hochwürden. Sie können heute nacht nicht mit dem Motorrad den weiten Weg nach Genf zurückfahren«, sagt Lister. »Ausgeschlossen«, sagt Irene. 92
Das Außentelefon schrillt durch das warme Zimmer. »Geh du mal ran«, sagt Lister zu Clovis. »Wenn das ein Vetter ist, der einen von den Klopstocks sprechen will, sag ihm, sie wollen nicht gestört werden. Wer könnte das um diese Zeit anderes sein als ein Vetter?« Clovis sitzt vor dem Klappenschrank im Butlerbüro. Das Genfer Telefonamt meldet sich vernehmlich auf Französisch. Mr. Samuel und Mr. McGuire stehen hinter ihm. Clovis antwortet, legt die Hand auf die Sprechmuschel und sagt zu ihnen: »Für mich. Aus Amerika.« »Bestimmt wegen des Films«, sagt Lister. »Die hätten schon gestern anrufen sollen. Aber da drüben ist ja jetzt noch gestern. Aus den USA rufen sie immer mitten in der Nacht an. Die glauben, weil sie fünf Stunden hinter der Zeit sind, müssen wir auch fünf Stunden hinter der Zeit sein. Irene, geh mal nach oben und sag Héloise und den beiden Jungen, sie sollen runterkommen. Bring sie her, wir haben etwas zu besprechen.« Irene geht, und Lister greift noch einmal zum Haustelefon, drückt einen Knopf und wartet auf das Summen. »Eleanor, kommst du?« fragt er. Das Telefon zischt wie vorhin, während der Donner an 93
den Fenstern rüttelt und Clovis im Butlerbüro vergnügt mit Amerika plaudert. Schließlich sagt Lister ins Haustelefon: »Gut, genau das brauchen wir. Bring’s her, mein Schatz, bring es gleich hierher. Leg die Originale wieder zurück, und dann laß alles unverschlossen, was du unverschlossen vorgefunden hast, und verschlossen, was verschlossen war.« Clovis ist ins Zimmer zurückgekommen, gefolgt von den Herren McGuire und Samuel. Der Pfarrer schläft. Clovis lächelt. »Alles geregelt«, sagt er, »und Pablo wird Hadrian spielen.«
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Um Viertel nach sieben, wenn der Himmel weiß wird«, sagt Lister, »werden wir alle, mit Ausnahme Mr. Samuels und Mr. McGuires, in unsere Zimmer hinaufgehen und unsere schmucke Dienstkleidung anlegen, und so um acht herum kommen wir nichtsahnend herunter und rufen die Polizei und reden mit den Journalisten, die schon da sind oder in Kürze kommen werden. Mr. Samuel und Mr. McGuire werden noch im Bett liegen, aber wenn die Polizei die Tür zur Bibliothek aufbricht, werden auch sie ganz überrascht herunterkommen, in Bademänteln oder Ähnlichem. Bis dahin werden wir den Pfarrer ins Bett gebracht haben, und er kann während des ganzen Theaters weiterschlafen, bis die Polizei ihn eventuell weckt. Der unterm Dach und Schwester Barton werden wieder in ihren Zimmern sein. Sie –« »Wieso sollten sie während der Nacht aus ihren Zimmern herauskommen?« fragt Héloise. »Laß mich Prophet spielen«, sagt Lister. »Meine Prophezeiungen sind nur Näherungen, genau wie Héloises Intuitionen.« 95
»Laß Lister ausreden«, sagt Eleanor. Das Gewitter hat sich aus der Gegend verzogen, und man hört es in der Ferne zwischen den Berggipfeln hallen wie afrikanische Trommeln. »Wir haben nichts zu verbergen«, sagt Clovis. »Wir sind unschuldig.« »Schuldlos«, korrigiert Lister. »Weiter mit dem Plan. Héloise, du bist schwanger.« Das Haustelefon klingelt. Eleanor nimmt den Hörer ab und lauscht seiner bronchitischen Erzählung. Héloise lacht. »Gut, dann laßt sie eben herein, bis hinters Tor. Aber nicht wieder hinaus«, sagt Eleanor und legt den Hörer auf. Zu Lister sagt sie: »Das sind die beiden Freunde von Victor Passerat. Sie drohen mit der Polizei, wenn wir Passerat nicht herausrücken.« »Da kommen sie«, sagt Hadrian am Fenster, und wenig später holpert ein Wagen auf die Zufahrt. Noch ein wenig später hämmert es an die Hintertür. »Macht auf«, sagt Lister. »Laßt sie hereinkommen.« »Ganz recht«, sagt Clovis. »Lieber klare Verhältnisse schaffen.« Mr. Samuel geht zur Hintertür und kommt mit der Masseuse Anne und ihrem Freund Alex zu96
rück. Sie stehen und starren das versammelte Hauspersonal an. Sie sehen von Eleanor zu dem schlafenden Pfarrer; sie sehen zu der lachenden Héloise, zu Pablo, der langbeinigen Irene und zu Lister. »Ich höre, Sie möchten gern telefonieren«, sagt Lister. Er zeigt zum Butlerbüro. »Bitte, da steht der Apparat.« »Wir wollen Victor«, sagt Anne. »Er ist mit dem Baron und der Baronin in der Bibliothek. Sie wollen nicht gestört werden. Strikte Anweisung.« »Ich habe Angst um Victor«, sagt Alex. »Warum rufen Sie dann nicht die Polizei an, wie Sie vorhatten?« fragt Lister und zeigt wieder ins Butlerbüro. »Dort steht das Telefon. Wir haben hier alle Hände voll zu tun mit dem Aufwarten für die Herrschaften.« »Ich würde die Polizei lieber aus dem Spiel lassen«, sagt Anne. »Ja, das denke ich mir. Was erwarten Sie für eine Belohnung, groß oder klein?« »Victor ist unser Freund. Wir kennen auch Cathy Klopstock«, sagt Anne. »Na«, sagt Héloise, »warum rufen Sie dann nicht die Polizei an und sagen ihr, Sie haben die Tonbänder und Filme im Wagen liegen, damit Victor und 97
die Baronin mit dem Baron ins Geschäft kommen können, bevor Sie abhauen? Erpressung –« Eleanor sagt: »Sei nicht so unfein und direkt, Héloise. Wir hatten eine anstrengende Nacht. Hättest du mir lieber anständige Karotten für meinen Saft besorgt!« »Mit solchen Typen muß man offen reden«, sagt Héloise. »Sie kapieren nicht«, sagt Pablo. »Komm, wir gehen«, sagt Anne zu Alex, der Tränen in den Augen hat. Sie folgen Mr. Samuel zur Hintertür und verlassen das Haus. »Héloise«, sagt Lister, »wie ich also vorhin sagte, du bist schwanger.« Mr. Samuel kommt ins Zimmer zurück, als Héloise wieder in Lachen ausbricht. Mr. Samuel sagt: »Sie haben das Auto abgeschlossen. Wie es scheint, wollen sie sich auf dem Anwesen umsehen.« Mr. McGuire geht ans Fenster des verdunkelten Butlerbüros. »Sie sind nach vorn gegangen«, sagt er. »Sollen sie schnüffeln«, meint Lister. »Nun zu deinem Zustand, Héloise. Es gibt für dein Problem eine Lösung.« »Ich habe kein Problem«, sagt Héloise. 98
»Du heiratest den Baron«, sagt Lister, »und wirst Frau Baronin.« »Er ist vor seinen Schöpfer getreten«, sagt Pablo. »Er schießt Frau und Sekretär tot, als sie zu lose reden. Dann erschießt er sich selbst, wie das Drehbuch es will. Er löst den Schlamassel auf die einzige Weise, die er kennt.« »Eleanor hat neues Material gefunden«, sagt Lister. »Völlig unvorhergesehen, aber man muß auf Unvorhergesehenes gefaßt sein. Der unterm Dach ist der jüngere Bruder des Barons. Der Titelerbe, und laut Fideikommiß auch Haupterbe des Vermögens.« »Ich dachte, er wäre ein Verwandter von ihr, nicht von ihm«, sagt Hadrian. »Ist er kein Neffe oder so was?« fragt Clovis. »Dann müßte ich ja das Drehbuch ändern.« »Ein jüngerer Bruder des Barons.« »Da wird einem ja die Milch sauer«, sagt Héloise. »Mir auch«, sagt Lister. »Aber er ist der Erbe.« »Da ist doch noch dieser jüngere Bruder Rudolph in Brasilien«, sagt Mr. Samuel. »Der galt immer als der Erbe. Das viele schöne Geld!« »Der in Brasilien ist jünger als der unterm Dach«, sagt Eleanor. »Der unterm Dach ist der nächste in der Erbfolge. Er kriegt alles. Schwester Barton wußte, was sie tat, als sie heute nacht den 99
Pfarrer rufen ließ und sich erbot, ihren Patienten aus Mitleid zu heiraten.« Der Pfarrer hört, daß von ihm gesprochen wird, und schlägt die Augen auf. Durch sein Nickerchen halbwegs erfrischt, richtet er sich auf. »Mein armer Junge da oben«, sagt er. »Schwester Barton ist eine gute Frau. Wir sollten es wohl machen.« »Der unterm Dach hat ältere Verpflichtungen«, sagt Lister. »Weiß überhaupt einer, wie er mit Vornamen heißt?« »Ich hab ihn nie gehört«, sagt Héloise. »Schwester Barton nennt ihn Tony«, sagt der Pfarrer. »Sein Name«, sagt Lister, »ist Gustav Anthony Klopstock. So steht es in seiner Geburtsurkunde, dem ärztlichen Attest, das ihn vom Wehrdienst befreit, und im väterlichen Testament.« »Und im Kirchenregister?« fragt der Pfarrer. »Er ist außerdem in einem Adelskalender von 1949 erwähnt. Das ist der neueste, den wir im Haus haben. Ich war der Meinung, er sei tot, aber das war ein Irrtum. Ich muß zugeben, da waren wir im Irrtum«, sagt Lister. »Aber zum Glück haben wir für Irrtümer Raum gelassen, und da wir diesen rechtzeitig entdeckt haben, sind wir nun hier. Es ist ein großer Unterschied zwischen Er100
eignissen, die sich auseinander ergeben, und solchen, die nur aufeinander folgen. Die sich auseinander ergeben, sind vorzuziehen. Und Clovis wird sein Drehbuch korrigieren.« »Aus freien Stücken hätte ich ihn nie geheiratet«, sagt Héloise. »Er konventiert nicht.« »Du brauchst ja nicht mit ihm zu konventieren«, sagt Hadrian. »Du brauchst nur eine Heiratsurkunde, schwarz auf weiß.« »Hochwürden«, sagt Lister, »erinnern Sie sich an den Abend im letzten Juni, als die Klopstocks fort waren und der unterm Dach sich selbständig gemacht hat? Wissen Sie noch, wie wir Sie gerufen haben, um ihn einzufangen und zu beruhigen?« »Der arme Junge, natürlich erinnere ich mich«, sagt der Pfarrer. »Er wußte nicht, was er tat.« »Er ist nicht amtlich unzurechnungsfähig«, sagt Eleanor. »Davon wollten der Baron und die Baronin nichts wissen.« »Das stimmt«, sagt Lister. »Und nun möchte ich Hochwürden auf die Folgen hinweisen, die diese Eskapade im letzten Juni hatte.« Lister zeigt auf Héloise, die ihren Bauch anlächelt. »Ach du meine Güte!« sagt der Pfarrer. »Das hätte ich ihm ja gar nicht zugetraut!« »Wir haben keine Zeit zu verlieren«, sagt Lister 101
im Aufstehen. »Bereite den Salon vor, Eleanor. Es ist schon fünf Uhr vorbei. Ich werde Schwester Barton entsprechend instruieren.« »Ich brauche ein paar Tage Zeit«, erklärt der Pfarrer mit fester Stimme. »So kann man doch Leute nicht verheiraten.« »Es ist ein Sonderfall, Hochwürden. Sie können das nicht verweigern. Sie dürfen es gar nicht verweigern. Sehen Sie sich die arme Héloise an, in ihrem Zustand.« Dem Trauergebinde, das im Bad des Domestikenflügels unter der Dusche liegt und sanft berieselt wird, damit es frisch bleibt, fehlt der Veilchenstrauß in der Mitte. Héloise steht in ihrem Zimmer und hält ihn in der Hand. Pablo steht bewundernd dabei. »Ich habe alle meine Sachen wieder ausgepackt«, sagt er. »So ein Theater«, sagt sie. »Es hätte schließlich überhaupt keiner seine Sachen packen müssen. Diese ganzen Koffer und Truhen.« An der Tür erscheint Hadrian mit dem weißen Nerzmantel, den Victor Passerat zuletzt in der Garderobe zurückgelassen hat. »Für die Gelegenheit gerade richtig«, sagt sie, indem sie ihn anzieht. »Lister sagt, er muß nach der Zeremonie sofort 102
wieder in die Garderobe zurück«, sagt Hadrian. »Die Polizei wird wissen wollen, was er anhatte. Lister legt großen Wert darauf, daß die Polizei den Mantel sieht. Er spricht Bände, sagt Lister.« »Er geht vorn nicht zu«, sagt Héloise. »Hübsch siehst du aus«, meint Pablo. Es klopft, und Irene tritt ein. »Du willst ihn wirklich heiraten?« fragt sie. »Klar«, sagt Héloise. »Warum nicht?« »Dann brauchst du Musik«, sagt Irene. »Man kann doch ohne Musik nicht Hochzeit feiern.« »Eleanor kann auf dem Flügel spielen«, schlägt Hadrian vor. »Nein«, sagt Héloise. »So gern ich Eleanor habe, aber sie spielt so süßlich auf dem Klavier. Ich kann dieses süßliche Klavierspiel nicht ausstehen.« »Mr. Samuel spielt Klavier und Gitarre«, sagt Pablo. »Mr. Samuel dynamiert.« »Bringt den Plattenspieler nach unten«, sagt Héloise. »Das ist besser; Mr. Samuel muß nämlich Fotos machen und Mr. McGuire das Tonband bedienen. Wir müssen alles festhalten. Das muß durchpassieren.« »Es gewittert noch immer«, sagt Hadrian, als ein Blitz sekundenlang im Viereck des Fensters stehen bleibt. Es folgt ein Donnerschlag. »Im Park müssen Bäume umgestürzt sein«, sagt er. 103
»Ich werde sie morgen vormittag wegräumen lassen«, sagt Héloise. »Gehen wir runter in den Salon. Die werden schon alle warten.« Von oben hört man Füßescharren und Geheul. »Ist es nicht üblich, daß der Bräutigam zuerst kommt?« fragt Irene. »Er darf ruhig zu spät kommen, aus gesundheitlichen Gründen«, meint Pablo. »Gehen wir.« »Clara«, sagt der Pförtner, »dein Tee, Liebste. Es ist gleich halb sechs, und ich komme früh damit. Mir ist irgendwie ganz mulmig. Ich habe eben einen Anruf bekommen, ich soll vor acht das Tor nicht mehr öffnen und danach jeden reinlassen. ›Jeden Hinz und Kunz.‹ Verstehst du das? Warum soll um acht Uhr morgens jeder Hinz und Kunz hierherkommen?« »O diese Träume, Theo!« sagt sie, wobei sie sich aufsetzt und nach ihrem gekräuselten Bettjäckchen greift. Sie zieht es an und nimmt Theo den Tee aus der wartenden Hand. »Er hat gesagt: ›Lassen Sie ab acht Uhr jeden herein, vorher nicht.‹ Mir ist das alles zu hoch, Clara. Wir müssen woandershin.« »Aber ich liebe dieses Häuschen doch so! Genau was ich mir immer gewünscht habe. Weißt du was, ich glaube, die Baronin hat sich in einen von 104
den Sekretären verliebt. Ich glaube, sie will mit ihm durchbrennen.« »Diese komischen Leute, die in dem grünen Wagen kamen und immerzu nach Victor Passerat fragten«, sagt Theo. »Vor ein paar Minuten waren sie wieder hier. Von Victor Passerat haben sie nichts gesehen. Jetzt haben sie es eilig, nach Hause zu kommen, aber ich habe den Befehl, sie nicht mehr rauszulassen. Das Tor bleibt zu bis acht, dann kann jeder, einfach jeder, kommen und gehen wie es ihm gefällt.« »Wo sind sie denn jetzt, die beiden?« »Zurück zum Haus, um dort zu warten.« »Weißt du, Theo, die eine, die neben der Fahrerin saß, sah gar nicht aus wie eine Frau. So ein hartes Gesicht. Wie ein Mann.« »Denk nicht weiter darüber nach, Clara, Liebste.« Der Salon wird für die Trauung hergerichtet. Irene und Eleanor laufen geschäftig umher und geben Pablo und Hadrian, die Tische und Stühle herumschleppen, Anweisungen. Der Pfarrer läuft verstört im ganzen Zimmer auf und ab, stets vorsichtig um die fleißigen Arbeiter herum, in Schlangenlinien zwischen den kleinen Tischchen und Sofas hindurch, und betrachtet mit abwesend grübeln105
der Stirn die kleinen Porträts und all den winzigen Zierat. »Ich bin wirklich der Meinung«, sagt der Pfarrer, indem er seinen Zeitungsausschnitt aus der Tasche zieht, »daß Baron Klopstock diese Pille nehmen sollte.« »Zu spät«, sagt Hadrian, indem er einen Schritt zurücktritt und prüft, ob der Tisch, den er neben einen anderen gerückt hat, ordentlich steht. »Er ist darüber hinaus.« Clovis kommt mit einem bestickten Tischtuch und legt es sorgsam auf die beiden langen Tische, die Hadrian aneinandergerückt hat. »Das gibt einen sehr schönen Altar«, sagt Clovis. Er schnippt mit den Fingern. »Einen großen Kandelaber aus dem Speisezimmer!« ruft er. Irene huscht hinaus, während von der anderen Seite Lister mit Héloise am Arm aus dem Vorzimmer hereinkommt. Der Pfarrer steckt den Zeitungsausschnitt wieder in die Tasche. Eleanor sagt: »Wir müssen die Trauung nach anglikanischem Ritus vollziehen.« »Ich traue immer nach evangelisch-waldensischem Ritus«, sagt der Pfarrer, »der ist sehr frei.« »Héloise«, ruft Eleanor, bei der letzten Silbe die Stimme hebend, »was hast du für eine Religion?« »Keine«, sagt Héloise. Sie läßt Listers Arm los, 106
kommt aus dem Vorzimmer herein und läßt sich in einem bequemen Sessel nieder. »In welcher Religion sind Sie erzogen worden?« fragt der Pfarrer. »In keiner«, sagt Héloise. »Wo sind Sie geboren?« »In Lyon«, sagt Héloise, »aber nur zufällig.« »Muß evangelisch sein«, meint der Pfarrer. »In diesem Haus wird anglikanisch geheiratet«, sagt Eleanor. »Oder wollen Sie, daß sie das Kind unehelich bekommt? Wir können hier nicht die ganze Nacht diskutieren, Hochwürden. Der Vater hat ›ja‹ gesagt, aber er könnte es sich noch anders überlegen.« »Dann lassen Sie mich das englische Buch mal sehen«, sagt der Pfarrer. »Ich bin ermächtigt, in so einem Fall eine Ausnahme zu machen. Vielleicht kann ich die englische Form ja etwas vereinfachen. Ich kann nämlich Englisch nicht gut lesen.« Eleanor zeigt auf ein flaches, ledergebundenes Buch, das neben den Porzellanfigürchen auf einem Wandbrett bereit liegt. »Da ist es«, sagt sie. »Vereinfachen kann man da nichts mehr, das ist unmöglich.« Lister tritt ein und bleibt neben einer Blumenschale kurz stehen, um sie geschmackvoller anzuordnen. Er sagt zu Eleanor: »Der Bräutigam ist anglikanisch, glaube ich.« 107
»Nein, die sind katholisch.« »Aber er war doch auf einer englischen Schule, in Winchester.« »Nein, er war nie auf einer Schule. Dafür hat’s nie gereicht.« »Eine Woche war er da.« »Das genügt nicht.« »Kleine Unstimmigkeiten«, sagt Lister, »können wir später noch begradigen lassen, Eleanor.« »Richtig«, sagt Héloise. »Dieser Mantel ist schwer.« Irene kommt mit einem großen mehrarmigen Kerzenleuchter aus getriebenem Silber herein, lange weiße Kerzen in den Halterungen. Sie stellt ihn auf den Tisch, auf dem die Decke liegt. »Zünde die Kerzen noch nicht an«, sagt Eleanor mit einem Blick zur Zimmerdecke, von wo man Füßescharren und Geheul vernimmt. »Weiß der Himmel, was passieren kann. Ein Feuer können wir nicht brauchen.« »Er hat seine Spritze bekommen«, sagt Lister. »Dann hat sie aber noch nicht gewirkt«, meint Héloise. »Komm zurück in den Vorraum und stell dich neben mich«, sagt Lister zu Héloise. »Die Braut soll zuletzt eintreten, und sie wird zuletzt eintreten.« 108
Oben hört man weiter Füßescharren, jetzt begleitet von wiederholtem Poltern. »Ist das der Wind, oder ist das er?« fragt Eleanor. »Vielleicht die Läden?« »Kann das eine wie das andere sein«, sagt Pablo, mit Kennermiene lauschend. »Ich fasse besser mal mit an«, sagt Hadrian, der Robuste. Damit eilt er aus dem Salon und springt die Treppe hinauf. Héloise steht wieder neben Lister in der Tür zum Vorraum, von wo er seine letzten Anweisungen gibt. »Räumt die Sèvres-Vasen weg – bringt sie für alle Fälle hinaus. Irene, dein Rock ist zu kurz für die feierliche Handlung.« »Irene zeigt nun mal gern ihre Beine«, sagt Héloise. »Warum auch nicht?« »Sie sind das einzige, was sie hat«, bemerkt Clovis. »Jetzt kommt er!« sagt Irene. Um das Haus pfeift der Wind und läßt die Fensterläden schlagen, denn ein zweites Gewitter ist aus dem Schlaf erwacht. Schwere Schritte kommen die Treppe herunter, hin und wieder begleitet von einem Heulen, das beim Näherkommen mehr und mehr nach Fanfarenstößen klingt. Jetzt kommt Mr. Samuel mit seiner Kamera. Ihm folgt Mr. McGuire mit dem Tonbandgerät, 109
das er in einer Ecke des Salons auf einen Tisch stellt und an eine Steckdose anschließt, aus der er zuvor einen Lampenstecker herausgezogen hat. Er probiert das Gerät aus, zieht sich einen Stuhl heran, schlägt die Arme übereinander und wartet. Die Schritte und Fanfarenstöße kommen torkelnd näher. Pablo legt mit zufriedener, aber ernster Miene eine Platte auf, eine Neufassung von Greensleeves, gleich zu Beginn schon sehr schnell gespielt und offenbar als Auftakt zu etwas sehr Komplexem, sehr Flottem gedacht. »Nicht so laut«, sagt der Pfarrer, doch seine Worte sind an der Tür zum Vorraum, wo Pablo das Grammophon neben Lister und Héloise aufgebaut hat, nicht zu hören. »Stell das leiser«, sagt Lister. Pablo dreht den Ton herunter. »Es paßt zwar nicht recht, aber man muß wohl damit vorlieb nehmen«, sagt der Pfarrer, als Hadrian und Schwester Barton Schritt für Schritt in den Salon kommen, den von unterm Dach zwischen sich. Auf den ersten Blick sieht man, daß die Heultöne und Fanfarenstöße des Patienten offenbar Freuden-, nicht Schmerzenslaute sind, denn er grinst in einem fort, und in seinen großen Augen schillert selige Ekstase. Lister kommt mit Héloise am Arm langsam 110
herein und geht dem Bräutigam entgegen. »Was der für einen Krach macht«, sagt Héloise. »Das Orchester, das deinen Hochzeitsmarsch spielt, hat mindestens zweiundachtzig Instrumente«, sagt Lister, »da darf es auch ruhig noch eins mehr sein.« Ein kurzer Blitz im Fenster, gefolgt von Donnergrollen, bestärkt seinen Einwand. Der Blick des fröhlichen Kretins bleibt als erstes an Irene hängen. Er stößt durch die großen Zähne ein frohlockendes Wiehern aus und schüttelt die lange, wellige weiße Mähne. Sein Kombinationsanzug aus rotem Samt hat einen vom Kragen bis zum Schritt durchgehenden Reißverschluß, der oben mit einem kleinen Vorhängeschloß gesichert ist. Wahrscheinlich wurde es zu diesem Zweck von einer der Hermès-Handtaschen der Baronin Klopstock abmontiert. Neben ihm steht, den einen Arm um seine Schulter, mit der andern seinen Arm festhaltend, eine junge Krankenschwester, deren Jugendlichkeit nichts ausrichtet. Den andern Arm hält Hadrian, der fragend die Augenbrauen gehoben hat. »Mein Junge«, sagt der Pfarrer zu dem Irren, der seine Bewacher jetzt mit seinen mächtigen Schultern abschüttelt. Die anderen Domestiken halten Abstand, und Hadrian stellt sich zu ihnen. Eleanor wirft einen 111
Blick hinter sich, stellt sich etwas näher an die offene Tür. »Ein munterer Gatte«, sagt Lister. »Halten Sie ihn gut fest, Miss Barton. Das ist ein aufregender Moment in seinem Leben.« »Es ist ein Skandal«, sagt die junge Schwester. »Er will nämlich mich heiraten.« Im Augenblick scheint er Irene den Vorzug zu geben, denn schon reißt er sich los und stürzt sich auf sie. »Er wird nie reif«, sagt Héloise, »man kann nie ganz auf ihn verlassen sein.« Sie reißen ihn von Irene weg, die nach einer Zigarette verlangt, und vertrauen den krakeelenden Schwerenöter den starken Armen Hadrians und Pablos an. »Stellt euch so hin, daß es nach etwas aussieht«, sagt Mr. Samuel und nimmt die Kamera vors Auge. Beide reißen sofort die Münder auf, um mit dem Bräutigam schallend zu lachen, und stellen sich beiderseits so neben ihn, daß man die Arme, die ihn halten, nicht sieht und für die Kamera nur Hadrians freundschaftlich eingehakter Arm und Pablos gratulierender Händedruck sichtbar sind. Und lustig drehen sich zu der ganzen Szene Mr. McGuires Spulen. »Haltet ihn mal eine Minute so fest«, sagt Lister. 112
Doch der Gefangene erblickt soeben die Braut, groß, rosig und dick, und begrüßt sie mit einer schmetternden Freudenfanfare und zerrt mit Macht in ihre Richtung. »Hochwürden«, sagt Miss Barton, »das ist einfach ungehörig. Er hat seine Spritze bekommen, und diese Frauen machen die Wirkung völlig zunichte. In seinem Normalzustand hängt er sehr an mir.« »So eine kleine Gruppentherapie, das ist genau, was er braucht«, sagt Lister zu ihr. »Der arme Mann, die ganze Zeit da oben eingesperrt mit Ihnen!« »Ich bin ganz verwirrt«, sagt der Pfarrer. »Ich muß wissen, welche von beiden er nun heiraten will.« Er lächelt den Gefangenen an und sagt: »Mein Junge, welche der beiden Damen, falls überhaupt eine, ist dir lieber?« Mit einem geschickten Ruck reißt der Bräutigam seine beiden Bewacher mit und schleift sie triumphierend zu Héloise, die sich von Irene gerade Feuer geben läßt. Er bedenkt auch Eleanor mit einem seligen Blick, strebt aber entschlossen weiter zu Héloise. »Eindeutig ist es Héloise«, sagt Lister. Das Gewitter rüttelt an den Fenstern und detoniert im Park. Die Musik endet, worauf der von unterm Dach wieder zu krakeelen anfängt und ge113
nüßlich das Schloß an seinem Reißverschluß befummelt. »Er will sich ausziehen«, sagt Schwester Barton. »Vorsicht. Das soll er schon geschafft haben.« »Wer ist der Vater Ihres Kindes?« wendet der Pfarrer sich verzweifelt an Héloise. »Hm«, macht Héloise und setzt sich erst einmal auf einen Stuhl. »Es ist ja noch nicht geboren. Noch gut vier Monate. Pablo mußte um die Zeit jeden Abend dem Baron aushelfen, und Hadrian war in Urlaub. Mr. Samuel und Mr. McGuire waren auch beim Herrn Baron in der Mannschaft, jeder in seinem Beruf. Und –« »Der Baron?« fragt der Pfarrer ungeduldig. »Erzählen Sie mir nicht, er hätte nie sein droit de seigneur auszuüben versucht, denn Baron Klopstock war in seiner Jugend wohlbekannt.« »Ein Pornophiler nur«, sagt Lister. »Pornophilie macht noch den Vater nicht, Hochwürden. Zumindest nicht nach meiner Erfahrung. Wenn dagegen die Natur es der Baronin gestattete, der Vater zu sein, könnte sie es wohl sein, aber nicht der Herr Baron, o nein.« »Dann wollen wir mal sehen«, sagt der Pfarrer und blickt in die Runde. »Wer bleibt da noch übrig?« »Alle andern«, sagt Héloise. »Könnten wir nicht ein bißchen Musik machen?« 114
»Jemand von außerhalb«, überlegt der Pfarrer. »Sie meinen, einer der Gäste bei einem Empfang, Hochwürden?« »Nein, vielleicht einer von ihren privaten Freunden.« »Héloise hat um diese Zeit streng ihren Dienst versehen«, sagt Lister. »Sie hatte viel zu tun. Die Sekretäre waren voll beschäftigt, und es waren keine Vettern zu Besuch. Sie haben doch selbst gesehen, was hier im Juni los war. Sie sind hier immerzu aus- und eingegangen.« »Dann bleiben nur noch Clovis, unser armer junger Klopstock und Sie, Lister«, sagt der Pfarrer und zählt, während er diese Liste durchgeht, an den Fingern nach. Lister flüstert dem Pfarrer etwas ins Ohr. »Oh«, sagt der Pfarrer. »Also nicht Clovis. Dann bleiben Sie und dieser arme Junge.« »Ich bin unsterblich verliebt in Eleanor«, sagt Lister, »und ihren Gesangbuchfimmel.« »Lister!« sagt Eleanor. »Eleanor«, sagt er. »Der von unterm Dach muß es sein«, sagt Héloise. »Ich warte.« »Es kann nur er sein, oder der Herr Pfarrer«, sagt Lister. »Fangen wir an«, sagt der Pfarrer. »Führen Sie 115
ihn hierher – Vorsicht, Vorsicht. Er soll hier neben dem Mädchen stehen.« »Musik«, sagt Héloise. »Schwester Barton«, sagt Pablo, »wenn Sie nicht kommen und helfen, kann ich die Hochzeitsmusik für Héloise nicht auflegen.« »Das ist niederträchtig«, sagt Schwester Barton weinend, hilft aber nicht. »Ihn mir jetzt wegzunehmen, nach allem, was ich getan habe.« Der Pfarrer sieht kurz zu Schwester Barton und wendet den Blick, als fände er sie anstößig. »Haben Sie eine protestantische Bibel hier?« fragt er. »Andernfalls kommen wir auch ohne aus.« »Das englische Gebetbuch«, sagt Eleanor, doch was sie sagt, geht unter im Getöse des Gewitters und dem Freudentaumel des Schwachsinnigen, den Clovis jetzt festhalten hilft. Sowie er neben Héloise steht, verschlägt es dem Kranken offenbar die Stimme, so daß er nur dastehen und sie grinsend anglotzen kann. Erneut ertönt Greensleeves. »Es wird spät«, sagt Lister. »Das Gebetbuch«, sagt Eleanor. »Als Pfarrer bin ich befugt, in diesem Lande eine gültige Trauung nach meinem eigenen schlichten Ritus vorzunehmen«, sagt der Pfarrer. Er schaut auf seine Armbanduhr, dann auf den von unterm Dach, und zeigt auf Héloise. »Gustav An116
thony Klopstock, willst du diese Frau zu deiner rechtmäßigen Gattin nehmen?« fragt er. Der Bräutigam entwischt von neuem und wirft sich auf Héloise. »Das heißt ›ja‹«, sagt Pablo, während er mit den anderen der Braut zu Hilfe eilt. »Niemand kann behaupten, er sei im Augenblick der Eheschließung nicht bei Verstand gewesen«, sagt Lister. »Er weiß genau, was er tut.« »In meinem Zustand«, sagt Héloise. Sowie das Paar wieder an seinem Platz steht, wendet der Pfarrer sich an Héloise: »Wie heißen Sie mit Nachnamen?« »Klopstock«, sagt Héloise. »Klopstock?« Ein Freudenschrei entfährt dem Klopstock von unterm Dach. »Blutsverwandte!« Eleanors Schrei übertönt selbst den tosenden Chor des Gewitters, der Schallplatte und des Bräutigams. »Nur ein Zufall«, sagt Lister, die Hände von sich gespreizt wie ein Dirigent, der dem Orchester Pianissimo gebietet. »Ihr Vater ist nur ein gewöhnlicher Klopstock, ein Schweißer. Nicht verwandt oder verschwägert mit dem Hause Klopstock allhier, wo Schnuppenschwärmen gleich die höchsten Generäle, Diplomaten nebst brillantgeschmückten 117
Damen sich die Ehre geben bei der Nacht mit Kardinälen und Arabern im Exil – sofern der Herr Baron und die Frau Baronin nicht mit was anderem beschäftigt sind.« »Sind Sie volljährig?« will der Pfarrer von Héloise wissen. »Ich bin zweiundzwanzig«, sagt sie, leicht die Hüften schwingend und den weißen Nerzmantel schüttelnd, als die Rockmusik an Tempo zulegt. »Dreiundzwanzig ist sie«, sagt Schwester Barton, noch immer in Tränen. »Jedenfalls sind Sie volljährig«, sagt der Pfarrer zu Héloise. »Héloise Klopstock«, sagt er, »willst du diesen Mann zu deinem rechtmäßigen Gatten nehmen?« »Ja«, sagt Héloise. »Sie haben keinen Ring«, sagt der Pfarrer, irritiert um sich blickend. Lister bringt augenblicklich einen Ring zum Vorschein. »Den steckt er nur in den Mund und verschluckt ihn«, schluchzt Schwester Barton. »Ich werde ihn der Braut stellvertretend an den Finger stecken«, sagt Lister und tut es auch gleich. »Hiermit erkläre ich euch zu Mann und Frau«, sagt der Pfarrer und legt Héloise und ihrem frischgebackenen Ehemann die Hände auf die Schultern. 118
Der entwischt in seinem Freudenrausch erneut und hüpft ans andere Ende des Salons, wobei zahlreiche kostbare Vasen zu Bruch gehen. Mr. McGuire bringt eilends seine Spulen in Sicherheit, während Mr. Samuel immer wieder auf den Auslöser drückt und ruft: »Prachtvoll! Sein Lachen ist wie der Jubelschrei aus dem aufgerissenen Mund einer Schönheitskönigin im Augenblick nach ihrer Kür.« »Damit würd’ ich ihn nicht gerade ähnlich sehen«, sagt Héloise. Ihr Gatte, frisch und munter, läßt sich nicht wieder einfangen. Er ratscht den ganzen Reißverschluß aus dem Stoff seiner Kombination und entledigt sich triumphierend seiner Kleidung, tanzt unter schmetterndem Jubelgesang und zum weiteren Schaden des Inventars im Salon umher, reißt seiner Gattin den Nerzmantel vom Leib, zerrt sie in eine Ecke und wirft sich über sie. Pablo will ihr zu Hilfe eilen. »Laß ihn. Es ist sein gutes Recht«, sagt Lister. »Er hat das Recht nicht bei der Trauung«, widerspricht der Pfarrer. »So etwas tut man nicht.« Schwester Barton schluchzt, das Gewitter tobt, und Héloise wehrt sich mit Leibeskräften, kommt endlich frei und flüchtet in den Film- und Tonbereich. »Gebt mir einen Kamm«, sagt sie. 119
Clovis bläst die Kerzen aus. »Da müssen wir wohl einiges schneiden«, meint Mr. Samuel. »In meinem Zustand«, sagt Héloise. »Und einen Schuh habe ich auch verloren.« Der Bräutigam wird von Schwester Barton, Hadrian und Pablo festgehalten, während Eleanor ihn mit dem bestickten Tischtuch notdürftig bekleidet. »Beißen Sie ihn in den Finger, damit er sich beruhigt«, sagt Clovis zu Schwester Barton. »Er hat nur getan, was ihm zusteht«, meint Hadrian. »In alten Zeiten«, sagt Lister, »pflegten Könige und Königinnen die Ehe öffentlich zu vollziehen. Dazu hatten sie Himmelbetten mit Vorhängen. Der Hofstaat mußte dabeistehen und die Vorhänge wackeln sehen, als Maria von Schottland den Dauphin von Frankreich ehelichte, gegen den hier unser Freund von unterm Dach ein Einstein ist. Folglich, meine liebe Héloise, kann nun niemand die Gültigkeit deiner Ehe mit der Begründung anfechten, sie sei nicht vollzogen worden.« »Da wurde nichts vollzogen«, sagt Héloise. »Nur beinahe.« »Für das Auge der unbestechlichen Kamera«, sagt Lister, »wurde die Ehe vollzogen. Ist es nicht so, Mr. Samuel?« 120
»Doch«, sagt Mr. Samuel. Aber keiner hört zu. Lister reicht dem Pfarrer einen Füller und zwei maschinengeschriebene Blatt Papier. »Die Heiratsurkunde«, sagt er. »Würden Sie als Zeuge unterschreiben, Hochwürden? Ich selbst habe schon unterschrieben. In doppelter Ausfertigung.« Der Pfarrer sieht sich um, als wisse er nicht recht, wo er sei. »Unterschreiben?« fragt er. »Ach ja, natürlich setze ich meinen Namen darunter. Und das glückliche Paar muß ebenfalls unterschreiben.« Er strahlt in die Runde, nimmt seine Brille heraus, legt die Papiere auf Eleanors dünnes Gebetbuch und unterschreibt. »Der Bräutigam«, sagt er, »dann die Braut.« »Beißen Sie ihn in den Finger«, sagt Clovis zu Schwester Barton, »oder Sie sind entlassen.« Unter Tränen nimmt sie den kleinen Finger des trompetenden Kranken in den Mund und beißt zu. Schon beginnt er zu kichern und hört auch, als sie losläßt, nicht wieder auf. Lister drückt dem Kichernden den Füller in die Hand, hebt die Papiere mit der harten Unterlage in bequeme Höhe und führt die schlaffe Hand des hilflos Amüsierten über die vorgesehene Stelle, bis der Name ausgeschrieben ist: Gustav A. Klopstock. »Für den ›Anthony‹ hätte ich zu lange gebraucht«, sagt Lister, 121
der überaus zufrieden dreinblickt. »Man weiß bei ihm nie, wann es mit dem Frieden wieder aus ist. Jetzt du, Héloise.« Héloise nimmt den Füller und schreibt ihren Namen an die für sie vorgesehene Stelle, über der maschinengeschriebenen Adresse. »Morgen lassen wir das registrieren«, sagt Lister. »Es ist Viertel vor sieben. Die Zeit ist geflogen. Schwester Barton, Pablo wird Ihnen helfen. Geben Sie ihm etwas hübsch Warmes zu trinken und eine Spritze.« »Ich muß nach Hause, ins Bett«, sagt der Pfarrer. »Wo habe ich mein Motorrad gelassen?« Er sieht sich in dem sehr unaufgeräumten Salon um. »Bei diesem Wetter können Sie nicht nach Genf zurückfahren, Hochwürden«, sagt Lister. »Wir haben ein Bett für Sie. Wir werden immer ein Bett für Sie haben, Hochwürden. Eleanor, bring Hochwürden auf sein Zimmer.« »Sehr freundlich von Ihnen, sehr freundlich unter den Umständen«, sagt der Pfarrer. »Ich möchte Cecil Klopstock noch einen Zeitungsausschnitt zeigen. Wo ist er?« »Der Baron wünscht nicht gestört zu werden.« »Sagen Sie ihm, daß ich ihn gern sprechen würde, wenn er aufwacht.«
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Und denkt daran«, sagt Lister, »daß Journalisten sich, wenn es um reiche Leute geht, vor allem für Hintertreppenklatsch interessieren. In der modernen Gesellschaft haben die bunten Illustrierten den Domestikensalon ersetzt. Unsere privilegierte Stellung hat in der Geschichte nicht ihresgleichen. Domestike ist der Beruf der Zukunft. Auch die Privatsekretäre der Großen haben es gut. Bitte noch eine Tasse Kaffee, Eleanor. Es wird jetzt bald Zeit für uns, hinaufzugehen und uns umzuziehen.« Sie sitzen um den großen Tisch, an dem das Frühstück, kaum begonnen, offenbar schon wieder zu Ende ist. Das Gewitter hat sich aus der unmittelbaren Nähe des Hauses verzogen, grollt aber weiter um den See herum und an den Berghängen. Ab und zu hämmern Fäuste an die Hintertür, ertönt gebieterisches Rufen. Keiner nimmt davon Notiz. »Haben wir keine Trauben im Haus?« fragt Héloise. »Die letzten hast du gegessen«, sagt Clovis. 123
»Du irrst dich«, sagt Irene, »denn ich habe ihr aus Genf eine riesengroße Traube mitgebracht. Sie ist in der Vorratskammer. Die habe ich von einem Freund, der Steward in der ersten Klasse bei TWA ist.« »Welch einen Schatz die Klopstocks doch durch ihren Tod in dir verloren haben, Irene!« sagt Lister. Irene blickt bescheiden auf ihren vollgekrümelten Teller. Clovis gähnt, legt die Ellbogen auf den Tisch und stützt den Kopf auf die Hände. »Ich bin total fertig«, sagt er. »Bin ich froh, wenn ich ins Bett kann!« Er steht auf, geht in die Vorratskammer und kommt mit einem Tablett wieder, auf dem ein Teller mit großen grünen Trauben steht, dazu ein Schälchen Wasser, um sie einzutauchen, und eine kleine Schere, um sie von den Stengeln abzuschneiden. Er stellt den Teller vor Héloise. »Lang lebe die Baronin!« sagt er. Héloise tätschelt ihren Bauch. Mr. Samuel geht jetzt die Hintertür öffnen. Man hört ihn sagen: »Sie werden warten müssen. Victor Passerat ist im Augenblick nicht zu sprechen.« »Wir haben den Autoschlüssel verloren«, sagt die Frauenstimme. »Dann suchen Sie ihn.« 124
»Der Boden ist so aufgeweicht. Wir sind durchnäßt. Können wir nicht hereinkommen und eine Werkstatt anrufen, oder sonst jemanden?« »Bedaure. Kein Zutritt für Fremde.« »Was sollen wir denn tun? Wir kommen nicht in den Wagen, und wir kommen nicht aus dem Tor. Der Pförtner macht nicht auf.« »Spazieren Sie ein bißchen ums Haus«, rät Mr. Samuel. »Da ist es naß. Da kommen wir wieder in so einen Wolkenbruch. Eine schreckliche Gegend ist das hier!« »Schreckliche Gegenden«, sagt Mr. Samuel, »sollte man stets meiden.« Er kommt in den Domestikensalon zurück und sagt: »Amateure. Wo ist meine Kamera? Vielleicht kann ich ein paar Schnappschüsse von ihnen für den Erziehungsfilm brauchen, den ich gerade mache. Man muß den jungen Leuten zeigen, welchen Abartigkeiten sie auf der Straße begegnen können.« Er geht mit seiner Kamera ans Fenster und richtet sie nach draußen. Lister steht in schmucker Dienstkleidung an der offenen Haustür wie ein schlechtgelaunter Ladeninhaber und schaut in den düsteren, grollenden 125
Himmel, als Theo mit dem Fahrrad die Zufahrt heraufkommt. Theo zeigt mit fragender Geste zur Rückseite des Hauses. »Nein, kommen Sie hierher«, sagt Lister. Theo lehnt zitternd sein Fahrrad an die tropfende Hecke und kommt das letzte Stück zu Fuß. »Ich habe Sie gerufen, Theo, weil es Sonderbares zu vermelden gibt«, sagt Lister. »Kommen Sie rein.« Die anderen kommen soeben die Treppe herunter, Schlafmangel in ihren Gesichtern und Bewegungen. Die Domestiken tragen ihre morgendliche Dienstkleidung. Hinter ihnen kommen Mr. Samuel, der einen knielangen blauen Bademantel anhat, und Mr. McGuire im schwarzweiß gestreiften Schlafanzug. »Was ist los?« fragt Mr. Samuel. Theo sagt: »Die ganze Nacht sind irgendwelche merkwürdigen Dinge vorgegangen.« »Gefällt Ihnen Ihre Arbeit, Theo?« fragt Lister. »Ja, Lister«, sagt Theo. »Sie können sie behalten. Nur denken Sie daran, daß keinerlei merkwürdige Dinge vorgegangen sind, was ja auch überhaupt nicht der Fall ist. Ich möchte Sie nur hier und jetzt darauf hinweisen, daß in der Bibliothek das Licht brennt, genau wie es brannte, als wir gestern abend zu Bett gingen 126
mit der Anweisung, die Herrschaften und ihren Gast nicht zu stören; ferner, daß heute früh die Tür von innen abgeschlossen ist und sich keiner meldet.« »Was ist passiert?« fragt Theo. »Wissen Sie, meine Frau hat nämlich geträumt, ganz schrecklich geträumt. Haben Sie auch laut genug geklopft?« Lister geht zur Tür der Bibliothek, dreht den Knauf, rüttelt daran und klopft energisch. »Sir!« ruft er. »Madam!« »Vielleicht sollten wir sie aufbrechen«, meint Theo und sieht die anderen der Reihe nach an. »Ich habe den Befehl bekommen, nicht zu stören«, sagt Lister. »Wir werden die Polizei rufen.« »Clara wird es mit der Angst bekommen«, sagt Theo. »Sagen Sie ihr, sie soll ihre Träume der Polizei anvertrauen und sich alles von der Seele reden«, sagt Lister. »Je mehr sie von ihren Träumen erzählt, wenn sie vernommen wird, desto besser. Für Sie beide im Pförtnerhaus waren wir die ganze Gewitternacht lang von solchem Stoff wie der zu Träumen.« »Die ganze Nacht ist so ein Pärchen auf dem Gelände herumgelaufen«, sagt Theo. »Sie waren im Wagen gekommen, und ich hab sie nicht mehr hinausgelassen, wie Sie befohlen hatten. Jetzt ha127
ben sie ihren Autoschlüssel verloren und suchen unter den Bäumen Schutz. Mir kommen sie sehr verdächtig vor.« »Vergessen Sie die beiden«, sagt Mr. Samuel. »Das sind nur Zugaben.« »Fahren Sie zu Ihrer Clara zurück«, sagt Lister. »Es ist gleich acht. Sorgen Sie dafür, daß das Tor geöffnet wird.« »Ja, Lister«, sagt Theo in eingeschüchtertem Ton und wirft einen Blick zur Bibliothek. Dann geht er schnell zur offenen Tür hinaus, steigt auf sein Fahrrad und fährt auf der Zufahrt davon. Sekunden später ist er klatschnaß, weil sich in dem Moment das Gewitter mit voller Wut auf das Klopstocksche Anwesen stürzt. Theo tritt kräftig in die Pedale, muß in einer Kurve aber absteigen und sich zu Fuß die von dem krachenden Gewitter verdunkelte Allee entlangkämpfen, über die alle paar Augenblicke ein heller Blitz hinwegzuckt. Unterwegs kommt er an einer Gruppe Ulmen vorbei, unter denen das verirrte Pärchen aus dem Wagen sich eng an einen Baumstamm schmiegt. Weiter stapft Theo den kurvenreichen Weg entlang, läßt, an seinem Häuschen angekommen, das Fahrrad fallen, rennt durch den Wolkenbruch zum Tor, schließt auf und öffnet beide Flügel weit. Dann läuft er zurück und taumelt ins Haus. 128
Inzwischen jagt der Blitz, nachdem er in die Ulmen eingeschlagen ist und das dort kauernde Pärchen schmerzlos erschlagen hat, im Zickzack über den Park dahin, beleuchtet kurz den Seerosenteich und die versenkten Rosenbeete wie ein vor seinem eigenen Blitzlicht erschrockener Fotograf, wirbelt wie ein von einem Sexomanen aus dem Stoff gerissener Reißverschluß über den Genfer See hinweg, kommt zurück und streift gerade noch die Giebel des Hauses, durchschlägt aber nicht, wie Lister, der gerade mit Genf spricht, schon gefürchtet hat, die gut isolierten Telefonleitungen. Nachdem Lister die Polizei alarmiert und mit bebender Stimme einen Notarztwagen angefordert hat, telefoniert er jetzt mit der diskreten, gut ausgestatteten Wohnung, die er sich vorausschauend in Genf eingerichtet hat, und heißt die vier Journalisten willkommen, die dort die ganze Nacht auf diesen Anruf gewartet und sich die Zeit bei Pokerspiel und überquellenden Aschenbechern vertrieben haben. »Unsere vier Freunde«, belehrt Lister dann die Domestiken, »haben Vorrang bei allem, was ihr von euch gebt. Natürlich haben sie das Exklusivrecht an dem Skandal, den Mr. Samuel und Mr. McGuire in Form von Briefen, Fotos und Tonauf129
zeichnungen zusammengetragen haben. Das Fernsehen, Associated Press und die Lokalfritzen werden euch die idiotischsten Fragen stellen. Gebt ebensolche Antworten – erzählt, was euch gerade einfällt, egal was, nur haltet sie bei Laune. Recht so, Clovis?« »Ja. Die Vereinbarungen zwischen unseren vier besonderen Freunden, uns und unseren Nummernkonten bei der Schweizerischen Gesellschaftsbank können wir Lister überlassen. Mit den anderen haben wir nichts abgemacht. Haltet sie bei Laune, mehr nicht. Schlagt für das Fernsehen die Hände vors Gesicht und weint, oder sprecht mit trauervollem Tadel von euren verstorbenen Brotgebern.« »Ich will ins Bett«, sagt Héloise. »Ich sorge dafür, daß du dich so früh wie eben möglich zurückziehen kannst, Héloise.« »Hört auf Lister«, sagt Eleanor. Als nächstes meldet Lister ein Ferngespräch zum Wohnsitz des Grafen Rudolph Klopfstock in Rio de Janeiro an, und nachdem das erledigt ist, sagt er zu den andern: »Gespräche nach Brasilien dauern lange, und man ist dort fünf Stunden hinter unserer Zeit. Wir dürften den Grafen irgendwann zwischen vier und fünf Uhr dortiger Zeit erreichen, und die menschliche Natur im Telefonver130
kehr von hier nach dort wird dafür sorgen, daß sich die Nachricht ziemlich rasch verbreitet.« »Der Bruder dürfte doch Bescheid wissen«, sagt Eleanor. »Bescheid worüber?« fragt Lister. »Über seinen Bruder«, sagt Eleanor. »Im gegenwärtigen Moment«, sagt Lister, »wissen auch wir nur, daß die Tür zur Bibliothek verschlossen ist, und daß der Baron, die Baronin und ihr junger Freund nicht antworten. Wir sind verständlicherweise beunruhigt, weiter nichts. Da kommt die Polizei. Baut euch schön beunruhigt auf.« Er öffnet die Haustür, als durch das Gewitter Sirenen heulen. Zwei Polizeiwagen fahren vor, gefolgt von einer Ambulanz. Ein Polizeiinspektor, ein Kriminalkommissar, zwei Zivilbeamte, drei uniformierte Polizisten und ein Polizeifotograf marschieren ein. Die Krankenwagenbesatzung steigt aus und kommt aus dem Regen ins Haus. »Diese Tür, Monsieur l’Inspecteur«, sagt Lister und führt ihn zur Bibliothek. Der Inspektor dreht am Knauf, rüttelt daran, klopft laut an die Tür und horcht. »Sind Sie sicher, daß da jemand drin ist?« »Wir fürchten ja. Das Licht brennt noch, wie gestern abend. Der Baron hatte befohlen, nicht zu stören«, sagt Lister. »Ich habe schon ein Fernge131
spräch zum Bruder des Barons angemeldet, weil ich es für angezeigt hielt.« »Aufmachen«, sagt der Inspektor. Zwei kräftige Polizisten brechen die Tür auf. Der Inspektor und seine Leute drängeln in den Raum. Lister folgt ihnen, während das übrige Hauspersonal sich langsam der Schwelle nähert. Mr. Samuels Kamera klickt. An Mr. McGuires Handgelenk baumelt ein kleiner, leichter Apparat. Die Leiche der Baronin liegt beim Fenster in einer großen, dunkelroten Lache. Victor Passerat liegt halb an einen Bücherschrank gelehnt, der über und über mit seinem Blut vollgespritzt ist. Die Leiche des Barons liegt über einen runden Tisch zusammengesunken, der Revolver nicht weit von seiner Hand. Die Frauen kreischen auf. »Bringen Sie die Frauen weg«, sagt der Inspektor zu einem Zivilbeamten. »Sie sollen sich in die Küche setzen und sich erst mal beruhigen.« Clovis zeigt den Weg zum Domestikenflügel, während der Inspektor von Lister wissen will: »Haben Sie in der Nacht nichts gehört? Keine Schüsse? Kein Brüllen oder Schreien?« Der Wind fegt ums Haus, die Fensterläden schlagen. Von der Mansarde kommt ein lautes Krachen. »Nein, Monsieur l’Inspecteur. Es war eine wüste Nacht«, sagt Lister. 132
Ein ganzer Konvoi von Wagen kommt die Zufahrt herauf. Der Arzt hat die Leichen untersucht, die Polizei hat die Aussagen protokolliert und den Raum durchsucht und fotografiert. Sie hat einen Brief von der Hand des Barons sichergestellt, in dem steht, er habe soeben seine Frau und seinen Sekretär erschossen und werde sich jetzt selbst erschießen, denn das sei die einzige Lösung, und er hege gegen niemanden bittere Gefühle. Der Inspektor hat Lister den Brief zu lesen gegeben, nicht aber den Reportern, die jetzt in der großen Halle umherschwärmen und einen gewaltigen Lärm machen. Man hat die Frauen aus der Küche entlassen, nachdem sie kurz und erschüttert ausgesagt haben, und nun stehen sie wieder bei den anderen Domestiken an der Tür zur Bibliothek. »Ich muß sie ein letztes Mal sehen«, sagt Eleanor. Héloise schaut schmerzerfüllt in eine Fernsehkamera, die den Blick auch richtig aufnimmt. Die Reporter lärmen immer lauter, als die zugedeckten Leichen auf Bahren nacheinander aus dem Raum getragen werden. »Da kommen sie«, sagt Lister zu seinen Getreuen. »Die ganze Klopstockerei.« Die Leichen werden im Krankenwagen ver133
staut. Die Polizei versiegelt den Haupttrakt des Hauses, drängt die Journalisten in das schwächer werdende Gewitter hinaus, schickt die Domestiken in ihren Flügel. Der Arzt erbietet sich, die Damen mitzunehmen und gegen Schock zu behandeln, doch sie widerstehen tapfer. »Die Frau des Pförtners«, sagt der Inspektor. »Ihr könnte ein bißchen Behandlung nicht schaden. Nehmen Sie lieber die mit.« »Ich würde beide mitnehmen«, sagt Lister. Die Reporter drängen sich jetzt im Hintereingang. »Monsieur l’Inspecteur«, sagt Lister, »ich werde sie kurz abfertigen und dann rausschmeißen. Wir sind alle ziemlich schwer erschüttert. Falls Sie weitere Informationen brauchen, sind wir hier.« »Sehr entgegenkommend«, sagt der Inspektor. »Ich lasse ein paar von meinen Leuten zur Bewachung des Hauses hier. Lassen Sie niemanden in die Bibliothek oder nach oben, Sie alle.« Héloise sagt: »Die gehen nicht nach oben, da können Sie sicher sein. Mein Monet und mein Goya hängen da oben. Man kann nicht vorsichtig genug sein.« »Wie bitte?« fragt der Inspektor. »Sie ist überdreht«, sagt Lister und flüstert dem Inspektor kurz etwas ins Ohr. 134
»Aha«, sagt der Inspektor und mustert Héloise. Lister flüstert noch etwas und zeigt nach oben. »Ach ja«, sagt der Inspektor und sieht zur Decke. »Wir wissen von ihm. Ein Verwandter der Baronin.« »Nein, des Barons.« »Tatsächlich? – So so. Eine unglückselige Familie.« Lister gibt ihm im Flüsterton ein paar weitere Informationen. »Hm, ja, wenn er der Vater ist, haben Sie richtig gehandelt«, sagt der Inspektor, der es eilig hat, zu seinen Leuten in den Wagen zu kommen, der schon vor dem Hintereingang wartet. Er schiebt sich durch das Gedränge und fährt, ohne einen Kommentar abzugeben, davon. Wenig später gehen auch Listers vier Journalistenfreunde, die Aktentaschen unterm Arm, zu ihrem Wagen und fahren weg. »Jetzt der Mob«, sagt Lister zu seinem Klan. »Eleanor und Clovis können mit einem Teil ins Wohnzimmer gehen. Héloise und ich halten unsere Pressekonferenz in meinem Büro ab. Hadrian und Irene können sich mit Pablo um den Küchentisch setzen und den Standpunkt der Jugend vertreten. Mr. Samuel und Mr. McGuire – Sie machen die Runde.« 135
Sie beziehen entsprechend Stellung. Kameras blitzen. Man hält ihnen Mikrofone vor die Münder wie hungrigen Pilgern heiße Würstchen. Der Stimmenlärm ertränkt das fiebrige Heulen des frühstückenden Bräutigams unterm Dach. Eleanor sagt: »Wie ein durchgegangenes Pferd, ohne Ziel, ohne Reiter.« Hadrian sagt: »Der Fluch der Homosexualität …«, worauf sein Interviewer, der ihn bei dem Lärm nicht verstanden hat, fragt: »Der Flug der Hummeln?« – »Nein«, sagt Hadrian. Lister erzählt: »Und einmal habe ich mir in meiner Jugend mein Geld als Claqueur verdient. Einigen weltberühmten Sängern habe ich applaudiert. Das wurde ganz gut bezahlt, aber Händeklatschen ist natürlich eine Kunst, da kommt es auf die Sekunde an …« »Zusammensein …«, sagt Irene. Hadrian sagt: »Der Tod gehört zu den Dingen, die der Schlaf nicht vertreibt …« Pablos Stimme redet dazwischen: »… in Kästchen einordnen. Quadrate, offene Würfel. Das ist Mentalitätssache. Sie einzurahmen …« Eleanor sagt: »Wie Kinder, die Hochzeit oder Begräbnis spielen. Ich habe aufgespielt, und ihr habt nicht getanzt, ich habe euch vorgeklagt, und ihr habt nicht geweint.« 136
Lister wendet sich auf seinem Stuhl zu einem hinter ihm stehenden Frager um und sagt: »Er hat sich sein Essen nicht selbst gekocht, er hat seine Hosen nicht selbst gebügelt, warum hätte er, wenn Sie meine Ausdrucksweise entschuldigen, denn seiner Frau selbst beiwohnen sollen?« Clovis sagt: »… nicht auf der Schreibmaschine – damit weckt man doch das ganze Haus auf, nicht? Was ich Mitternachtsliteratur nenne, kann man nur mit der Hand schreiben. Das ist eine Kunst. Ja, o nein, danke, ich habe wegen der Veröffentlichung schon andere Pläne.« Irene sagt: »Nein, er wollte es so, nehme ich an, bis sie ihm eine Lady Chatterley gedreht hat … ein viktorianischer Roman, kennen Sie den nicht? Als es um Victor ging, war sie im Herzen eine ganz typische Frau.« Man hört Lister zitieren: »Denn was ich gefürchtet habe, ist über mich gekommen, und wovor mir graute, hat mich getroffen. Ich hatte keinen Frieden, keine Rast, keine Ruhe.« Eleanor sagt: »Nein. Auf ihrer Seite sind keine lebenden Verwandten.« Pablo sagt: »Gespenster und Phantastereien, die aus unterdrückter Sexualität erwachsen.« Clovis sagt: »Nachkomme der Kreuzfahrer.« »… etwa wie das Schlachtroß im Buch Hiob«, 137
sagt Lister: »Sooft die Trompete erklingt, wiehert es ›Hui!‹ und wittert den Kampf von ferne, das Rufen der Fürsten und Kriegsgeschrei …« »… kaum einmal gesehen«, sagt Eleanor. »Er läuft in einer einteiligen Kombination mit Reißverschluß und Vorhängeschloß herum. Den Reißverschluß haben die Schweizer erfunden …« »Also, das ist so«, sagt Pablo, »wenn man mit Freundschaft wuchert und von den Zinsen lebt …« Der Pfarrer ist soeben zum Frühstück heruntergekommen und steht verwirrt in der Tür des Domestikensalons, wo Eleanor und Clovis ihre beengte Pressekonferenz abhalten. Er hat seinen Zeitungsausschnitt in der Hand. »Hochwürden!« sagt Eleanor und bahnt sich einen Weg zu ihm. »Auf dem Flur steht ein Mann vor meinem Zimmer. Er hat mich gezwungen, über die Hintertreppe herunterzukommen. Wo ist Cecil Klopstock? Ich möchte ihm das hier zeigen.« Eleanor wird von fünf Reportern abgedrängt. »Hochwürden, könnten Sie uns näher erläutern, was Sie über die Sexdroge gesagt haben …? Hat der Baron …?« Eleanor ist ihrerseits von neuem umringt und sagt: »… innen schäumend und sprudelnd wie eine Waschmaschine im Hauptwaschgang.« 138
Lister, der neben ihr steht, wendet sich einem anderen Mikrofon zu. »Was Blut und Rang an Ruhm uns trägt«, deklamiert er, »ist Schatten, wesenloser Tand; es schirmt kein Schild, wo Schicksal schlägt; auch Könige packt die Eiseshand: so Kron wie Stab stürzt tief hinab und wird im Staub von seinem Streich der Sichel und dem Spaten gleich.« »Könnten Sie das wiederholen, Monsieur?« hört man eine Stimme. Clovis bahnt sich einen Weg durch die dichtgedrängten Schultern und erreicht Lister. »Das Gespräch nach Brasilien«, sagt er. »Der Butler will Graf Klopstock nicht ans Telefon holen. Lehnt es glatt ab. Er hat sich mit ein paar Freunden im Arbeitszimmer eingeschlossen und will unter keinen Umständen gestört werden.« »Dann richte dem Butler aus«, sagt Lister, »daß wir eine traurige Nachricht haben und wider alle Hoffnung vom Herrn Grafen zu hören hoffen, wenn es Morgen wird in Rio.« Hadrian erzählt gerade: »Als mein Bruder den Blumenstand an der Piazza del Popolo hatte und 139
Iolanda ein paar Schritte weiter eine kleine Zeitungsbude … Es war eine zugige Ecke.« Der Pfarrer nimmt, wenngleich zitternd, sein Frühstück im Bett ein. Das Gewitter hat sich verzogen, und die ersten Sonnenstrahlen fallen auf die nassen Sträucher, den weiten grünen Rasen und die durchweichten Rosenbeete. Die Reporter sind mit ihren Kameras und Mikrofonen nach und nach verschwunden. Lister besieht sich die Zigarettenkippen auf dem Boden. Clovis öffnet das Küchenfenster. Ein wohlvertrautes Heulen kommt aus der Mansarde. Ein Auto naht. »Nichts mehr«, sagt Lister. »Schickt sie weg.« »Es ist Fürst Eugène«, sagt Eleanor. »Er ist nach vorn gefahren.« »Na schön, man wird ihn von dort nach hinten schicken«, sagt Lister und stößt mit dem Fuß ein paar Kippen unter die Anrichte. »Gehen wir alle zu Bett.« Ums Haus herum kommen schmatzende Schritte, und Fürst Eugènes Gesicht erscheint zur Hälfte im offenen Fenster. »Sind alle weg?« fragt er. »Wir haben jetzt Mittagsruhe, Exzellenz.« »Ich bin eine Hoheit.« Eleanor fragt: »Können wir denn irgend etwas für Sie tun, Hoheit?« 140
»Auf ein Wort nur. Lassen Sie mich herein.« »Laßt Seine Hoheit herein«, sagt Lister. Fürst Eugène tritt schüchtern ein. »Die ganze Nachbarschaft«, sagt er, »parkt schon den ganzen Morgen an der Straße. Keiner hat sich herzukommen getraut. Admiral Meleager, die Baronin de Ventadour, Mrs. Dix Silver, Emil de Vega und alle miteinander. Jedenfalls bin ich zuerst hier. Kann ich mal ein Wort mit Ihnen reden, mein guter Lister?« »Kommen Sie in mein Büro«, sagt Lister und führt ihn hinein. Unhörbar klickt, für alle Fälle, Mr. Samuels Kamera. Fürst Eugène setzt sich auf den Stuhl, auf den Lister zeigt. »Hat jemand von Ihnen Lust, zu mir zu kommen? Haben Sie darüber nachgedacht? Sehr angenehm bei mir. Ich biete –« »Im Augenblick, Monsieur«, sagt Lister, »wollen wir alle nur schlafen gehen und nicht gestört werden.« »Ja, selbstverständlich«, sagt der Fürst im Aufstehen. »Ich wollte nur auf jeden Fall vor den andern hier sein.« »Durchaus verständlich«, sagt Lister, ebenfalls im Aufstehen. »Aber unsere Pläne stehen in der Tat schon fest.« »Miss Barton? – Würde sie einige leichte Haus141
arbeiten übernehmen wollen? Der arme Kerl kann ja sicher nicht hierbleiben.« »Miss Barton wird gebraucht. Héloise möchte, daß sie bleibt. Héloise war Stubenmädchen, hat aber heute früh den neuen Baron geheiratet.« »Was Sie nicht sagen! Geheiratet haben sie?« Lister flüstert ihm etwas ins Ohr. »Oh, ich verstehe. Aber ein bißchen übertrieben, wie?« »Heutzutage«, sagt Lister, »kann man heiraten oder nicht heiraten, wen man will, Monsieur. Die Zeiten haben sich geändert. Nehmen Sie zum Beispiel Irene.« »Welche ist Irene?« »Die so besonders charmant ist. Bei weitem die hübscheste. Und eine sehr gute Köchin dazu.« »Ich biete ihr ein gutes Gehalt.« »Heutzutage«, sagt Lister, »wollen sie mehr.« Er flüstert dem Fürsten wieder etwas ins Ohr. »Ich bin nicht der Typ zum Heiraten«, flüstert der Fürst verlegen. »Es ist das beste Angebot, das ich Ihnen machen kann, Hoheit. Sie ist völlig zufrieden mit ihrem freien Abend am Flughafen.« »Ich sollte mich mal wieder auf den Weg machen«, sagt der Fürst. »Vielen Dank für Ihren Besuch, Monsieur.« Lister geleitet ihn zur Hintertür, wo Fürst Eu142
gène noch einmal stehenbleibt und fragt: »Sind Sie sicher, daß wir uns mit Irene nicht anders einigen können?« »Ja«, sagt Lister. »Ich habe in diesem Teil der Welt noch andere für sie im Sinn, die dankbar wären, sie an ihrem Tisch zu haben. Sie ist eine tüchtige junge Hausfrau. Der Marquis von –« »Gut, gut, Lister. Regeln Sie so bald wie möglich die Details. Nehmen Sie keine anderen Angebote an.« Der Fürst stapft wieder ums Haus nach vorn, sinkt auf den Rücksitz seines Wagens und läßt sich, tief in Gedanken, wegchauffieren. Der Zivilbeamte in der Halle döst auf einem Stuhl und wartet auf seine Ablösung, ebenso der Zivilbeamte im ersten Stock. Die Domestiken begeben sich einer nach dem andern über die Hintertreppe zu Bett. Um die Mittagszeit werden sie alle tief im Schlafe derer liegen, die treu die ganze Nacht gewacht haben, während vor den Fenstern draußen die Sonne auf den Mauern lacht.