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3. veränderte Auflage 1975 © 1959 by Verlag der Nation l Berlin Lizenz Nr. 400/22/75 LSV 7001 Lektor: Ingeborg Harnisch Einband: Karl-Heinz Drescher Lichtsatz und buchbinderische Weiterverarbeitung: GG Interdruck Leipzig Druck: (52) Nationales Druckhaus l VOB National l Berlin Best.-Nr. 696 405 9 EVP 7,50 Mark
Hans von Oettingen
Bitte sterben zu dürfen Verlag der Nation Berlin
Im letzten Kriege wurden 54,8 Millionen Menschen getötet 25,0 Millionen waren Zivilisten 4,2 Millionen waren Juden 2,6 Millionen Sowjetsoldaten wurden in deutschen Kriegsgefangenenlagern umgebracht
I „Ich habe Angst“, sagte der Arzt und legte die Fingerspitzen seiner schmalen Hände gegeneinander. Gedankenverloren sah er hinaus in den sommerlich blühenden Garten. „Unsinn, Herxheimer!“ Der Oberstleutnant stelzte mit seinen spiegelblank geputzten Langschäftern über den weichen Velour. „Sie sehen zu schwarz. Hitler kennt seine Grenzen. Zugegeben – er hat sich allerhand geleistet in den letzten Jahren. Aber ich glaube nicht, daß er Krieg will.“ „Lieber Bommelsdorff!“ Doktor Herxheimer sah den Freund mit einem traurigen Lächeln an. „Hitler führt doch schon seit Jahren Krieg. In Spanien fing es an. Und die Tschechoslowakei? Glauben Sie im Ernst an das Märchen von den armen unterdrücken Slowaken? Er hat von den Engländern gelernt, diese Hitler. Er weiß, wie man innenpolitische Zwischenfälle inszeniert. Und die ‚Heimführung’ der Memelgebiete? Glauben Sie mir, bald ist Polen an der Reihe.“ Der Stabsoffizier blieb stehen: „Zwischen Polen und Deutschland besteht seit 1934 ein Freundschaftspakt. Die Reichsregierung bricht keine Verträge.“ Herxheimer machte eine müde Handbewegung. „Denken Sie doch nur an das Münchner Abkommen. Hitler erklärte feierlich, keine neuen Gebietsforderungen mehr zu erheben. Ein paar Monate später verlangte er den Korridor und Danzig. Polen hat abgelehnt. Der deutsch-polnische Vertrag wurde gekündigt. Das ist doch alles so eindeutig. Hitler wird in Polen einmarschieren. Nicht heute oder morgen – aber vielleicht übermorgen. England und Frankreich werden den Polen trotz aller Versprechungen nicht helfen. Rußland, das einzige Land, dessen Hilfe für Polen eine Sicherheitsgarantie bedeutet, wurde von Polens führender Schicht als Bundesgenosse abgelehnt. Und so wird es weitergehen. Hitler wird in seinem Größenwahn versuchen, die ganze Welt zu erobern. Und darüber wird Deutschland zugrunde gehen.“ Bommelsdorff schüttelte den Kopf. „Die Reichsregierung besteht doch nicht aus Vollidioten! Sie muß Rücksicht auf die Verteilung der Kräftepotentiale nehmen.“
„Die Reichsregierung nimmt überhaupt keine Rücksichten! Hat sie sich vielleicht bei den Judenpogromen im letzten Herbst um die Weltöffentlichkeit gekümmert?“ Der Oberstleutnant unterbrach seine Wanderung und blieb vor dem Arzt stehen: „Ihre Frau ist in Sicherheit. Sie können sie jederzeit in Luzern besuchen. Ich verstehe Ihre Voreingenommenheit. Die Judenhetze ist ein Fehler. Aber die Partei hat die Ablehnung des Judentums nun einmal in ihr Programm aufgenommen. Hätte sie sich nach der Machtübernahme vielleicht eine Inkonsequenz leisten können?“ „Viele hätten das lieber in Kauf genommen“, antwortete der Arzt. „Statt dessen werden die antisemitischen Programmpunkte auf grausame Art und Weise realisiert. Es genügt ihnen nicht, die Juden zu vertreiben – sie gehen ja daran sie auszurotten.“ „Glauben Sie nicht, daß vieles übertrieben ist, was man sich so erzählt?“ „Nein! Es gibt unter meinen Patienten Menschen, die das Glück hatten, aus Konzentrationslagern entlassen zu werden. Da man in der Stadt weiß, daß meine Frau Jüdin ist, haben solche Menschen Vertrauen und sprechen mit mir über ihre Erlebnisse. Ich habe grauenhafte, erschütternde Dinge erfahren, Bommelsdorff. Und es sind nicht nur Juden, die man zu Tode quält. Es sind auch Arbeiter, Studenten, Wissenschaftler, Kaufleute – Deutsche also, die das Verbrechen begingen, den Nationalsozialismus abzulehnen.“ „Sozis und Kommunisten“, meinte Bommelsdorff. „Ja, auch Sozialdemokraten und Kommunisten“, entgegnete Herxheimer. „Finden Sie das in Ordnung?“ „Ich bin Offizier“, sagte der Oberstleutnant steif. „Ich habe mit Politik nichts zu tun. Seit fünfundzwanzig Jahren trage ich eine Uniform.“ „Und wieviel verschiedene Eide haben Sie in diesen fünfundzwanzig Jahren geleistet?“ fragte Herxheimer heftig. Es wurde sehr still in dem Raum. Der Oberstleutnant sah auf seine Uhr. „Es wird langsam Zeit zu gehen.“ Herxheimer stand rasch auf. „Nein, Bommelsdorff“ Wir sind seit vielen Jahren befreundet. Sie sind mein Patient. Ich wollte Sie nicht beleidigen. Bitte bleiben Sie. Renate wird gleich zurückkommen. Sie wird uns etwas zu essen machen.“ Er sah den Offizier bittend an.
Das kalte, scharf profilierte Gesicht Bommelsdorffs nahm wieder einen freundlicheren Ausdruck an. „Schon gut, Herxheimer. Sprechen wir von etwas anderem.“ * Durch eines der unzähligen Kasernenfenster tastete sich ein letzter Sonnenstrahl und traf das Gesicht des Schützen Burkhard. Der Soldat schloß die Augen. Er saß auf der Latrine und rauchte. „Laß mich mitfahren“, bat Maurer. Seine Hand erschien im Blickfeld Burkhards. Der gab ihm den Rest seiner Zigarette. Die Hand verschwand wieder. „Mensch, ’ne Generalskippe“, klang es anerkennend durch die dünne Holzwand. Dann versank auch Maurer wieder in tiefsinniges Schweigen. Beide Soldaten kamen aus demselben Heimatdorf. Sie hatten das Glück, nach der Musterung dem gleichen Regiment zugeteilt zu werden. Mit Hilfe einiger Dosen Büchsenwurst gewannen sie das Wohlwollen eines Schreibstubenfeldwebels. Dieser sorgte durch einen Federstrich dafür, daß sie zusammenblieben. Beide waren robuste, unkomplizierte Burschen. In der Kompanie nannte man sie die „Zwillinge“. Maurer raschelte mit Papier. Da die einzelnen Abortzellen keine Türen besaßen, hatte man die Aussicht auf die mit Teer gestrichene „Goldrinne“. Burkhard räusperte sich nach einer Weile, spuckte treffsicher in die „Goldrinne“ und seufzte: „Diese karierte Wildsau.“ „Dieser stinkende Eierschleifer“ – ergänzte Maurer aus vollem Herzen. Gemeint war der Unteroffizier Machulke. Machulke, Führer der dritten Gruppe, konnte die seinem Kommando unterstellten „Zwillinge“ nicht leiden, was ihm diese mit gleicher Abneigung heimzahlten. Zwei Strohhalme unter Maurers Bett und ein winziges Stäubchen in Burkhards Karabinerlauf hatten dem Unteroffizier genügt, beiden Rekruten den Sonntagsurlaub streichen zu lassen. „Franz“, begann Burkhard, „übermorgen ist doch Bataillonsbesichtigung.“
„Na und?“ Maurer sah verblüfft auf. Seit Wochen konzentrierte sich das Interesse des ganzen Bataillons auf die Besichtigung, die gleichzeitig das Ende der Rekrutenzeit bedeutete. „Wenn wir“, fuhr Burkhard fort, „Machulke bei der Besichtigung auffallen lassen, ist es mit seiner Beförderung vorbei. Du weißt, daß er zum ersten Oktober als Feldwebel eingereicht ist.“ „Mensch“, rief Maurer begeistert, „wir lassen ihn platzen. Dann ist sein Stern im Eimer. Für den Spaß reiße ich freiwillig zehn Tage Bau ab.“ „Brauchst du gar nicht. Wir müssen es nur geschickt anfangen. Vielleicht fällt uns was ein.“ Wieder wurde es still in der Latrine. Eine buntschillernde Schmeißfliege zog summend ihre Kreise und stieß in regelmäßigen Abständen gegen das Oberlicht. Machulke war der bestgehaßte Mann der Kompanie. Die Rekruten versetzte sein Anblick in Angst und dumpfe Wut. Aber auch in seinen eigenen Reihen, im Unteroffizierskorps, erfreute er sich keiner großen Beliebtheit. Von der Reichswehr übernommen, gaben ihm seine zehn Dienstjahre den Nimbus eines Veteranen. Er konnte es sich erlauben, den Kammerfeldwebel einen „jungen Bettenbauer“ zu nennen. Außerdem prahlte er ständig mit seinen allerdings nicht unbeachtlichen Schießergebnissen. Natürlich war Machulke ein Schleifer, aber das waren andere auch. Nicht dies und auch nicht sein immer etwas heiseres Gebrüll hatten ihm den Spitznamen „Untermensch“ eingetragen, sondern sein raffinierter Einfallsreichtum getreu übelster Kommißtradition aus ursprünglich selbständig denkenden Individuen genormte und automatisch funktionierende Soldatenmaschinen zu fabrizieren. Diesen Soldatenmaschinen gestand er genau soviel Gefühlsleben zu wie sich selbst, nämlich keines. Er erwartete es als eine Selbstverständlichkeit, daß sie nur eine einzige Macht der Erde anerkannten, ihn, Unteroffizier Machulke, den Zwölfender aus der Reichswehrzeit. Diesen von ihm mit allen Mitteln angestrebten Entwicklungsgang der ihm anvertrauten Rekruten nannte er: „Aus Scheißhaufen Männer kneten.“ Der Schütze Burkhard schüttelte den schweren Bauernschädel: „Mensch, Franz, mir fällt nichts ein. Am besten, wir sprechen auf der Stube mit den Kameraden.“
„Hast recht.“ Rasch huschten die „Zwillinge“ über den langen Kasernengang und verschwanden hinter einer der Türen. Neben den haarscharf rechtwinklig ausgerichteten Betten nahm sich die zerwühlte Lagerstatt Rotenburgs wie eine Gotteslästerung aus. Rotenburg, besonderer Liebling Machulkes, lag auf seinem Strohsack. Da er kein Geld mehr besaß, um in die Stadt zu gehen, dämmerte er stumpfsinnig dem nächsten Löhnungsappell entgegen. Seine langen Beine ragten weit über das Fußende des Bettes hinaus. Rotenburg verstand es, seine Sensibilität zu tarnen. Sein Freund Jeremin daß am Tisch und schrieb. Er hatte seinen sorgfältig gebügelten „Kaiser-Wilhelm-Gedächtnisrock“ an. Neben ihm lagen das Lackkoppel und ein Paar weiße Zwirnhandschuhe. „Noch ausgehen?“ fragte Burkhard. Jeremin nickte und schrieb weiter. Burkhard wartete geduldig, bis der andere seinen Brief beendet hatte. Rotenburg und Jeremin waren die Intelligenzbestien der dritten Gruppe. Ihnen würde bestimmt etwas einfallen, um Machulke fertigzumachen. „Hört mal zu“, begann Burkhard, als Jeremin eine Marke auf sein Kuvert klebte, „übermorgen ist Bataillonsbesichtigung.“ „Sonst noch Neuigkeiten?“ erkundigte sich Jeremin, stand auf und schnallte um. „Warte doch“, fuhr Burkhard hastig fort, „Machulke ist zum Feldwebel eingereicht. Wenn wir ihn bei der Besichtigung auffallen lassen, ist seine Beförderung im Eimer.“ „Wenn er Feldwebel wird, sind wir ihn als Gruppenführer los“, sagte Jeremin, „was willst du mehr?“ „Vermutlich kriegen wir ihn aber als Zugführer wieder“, gab Maurer zu bedenken. „Richtig“, bestätigte Burkhard. „Und überhaupt! Andere Unteroffiziere schmusen sich schon seit Wochen bei ihren Gruppen ein, damit nur alles klappt. Was tut Machulke, der krumme Hund? Wenn er seine Schnauze aufmacht, brüllt er einen von uns an. Wenn er auf die Stube kommt, reißt er die Betten und Spinde zusammen. Wenn er UvD ist, teilt er uns, seine eigene Korporalschaft, zu den dreckigsten Arbeiten beim Revierreinigen ein. Das tut kein anderer Kapo. Und da sollen ausgerechnet wir ihm helfen, Feldwebel zu werden?“
„Richtig“, tönte es von Rotenburgs Bett, „der Kerl ist reif.“ „Na also“, Maurer sah Jeremin abwartend an. Jeremin setzte sich wieder: „Also von mir aus kann er platzen. Aber wie wollt ihr das machen?“ „Wir könnten ihm drei Minuten vor dem Raustreten die Stiefel bronzieren. Das Zeug kriegt er so schnell nicht ab. Die ganze Kompanie wird sich totlachen“, schlug Burkhard vor. „Und wie willst du auf seiner Stube an die Stiefel kommen?“ erkundigte sich Jeremin. Burkhard schwieg. „Wenn der Stubendienst ihm den Kaffee bringt, könnten wir einen halben Liter Rizinus hineinschütten“, meinte Maurer. Jeremin schüttelte den Kopf: „Blödsinn. Öl schwimmt immer oben. Das fällt auf.“ Rotenburg rutschte von seinem Bett und schlenderte zum Tisch. „Als Verschwörer seid ihr alle Anfänger. Ich wüßte eine Sachen, aber da müßte die ganze Korporalschaft mitmachen.“ „Klar machen alle mit, schieß los“, drängte Burkhard. Rotenburg steckte sich eine Zigarette an und entwickelte leise seinen Plan. * Wenig später passierte Jeremin die Wache. Mürrisch äugte der Wachhabende durch das kleine Fenster und suchte nach einem Grund, den Schützen wieder zurückzuschicken. Aber Jeremin war das Vorbild eines Soldaten im Ausgehanzug. Er vollführte die vorschriftsmäßige Ehrenbezeigung vor dem Posten und verschwand um die nächste Ecke. Es dunkelte bereits. Die Kaserne lag auf einer Anhöhe. Jeremin schlenderte die breite Autostraße hinab. Links und rechts standen kleine Villen in blühenden Gärten. Der junge Soldat wußte nicht recht, was er mit dem angebrochenen Sonntagabend anfangen sollte. Das Kino der Garnisonsstadt spielte eine süßliche uralte Liebesgeschichte, und für das Tanzcafé Müller war es noch zu früh. Die Sache mit Machulke ging ihm nicht aus dem Kopf. Natürlich hatte es der verdammte Schleifer zehnmal verdient, daß man ihn um sein Portepee brachte. Aber Jeremin hatte etwas gegen Intrigen und Schüsse aus dem Hinterhalt. Der Angriff der Korporalschaft würde Machulke völlig unvorbereitet treffen,
und wenn Rotenburgs Plan gelang, war die Laufbahn des Unteroffiziers vorläufig zu Ende. Jeremin überlegte, was sein Vater wohl dazu sagen würde. Er glaubte die Stimme des alten Herrn zu hören: „Wer ist schon dieser Machulke? Solche Typen gab es in jeder Armee. Wenn es keine Machulkes gäbe, dann könntet ihr ja später nichts aus eurer Dienstzeit erzählen. Als ich im Jahre 1911 bei den Gardeulanen…“ Andererseits, so dachte Jeremin, ist dieser Machulke doch ein richtiges Schwein. Schön, soll er uns schleifen, dafür wird er bezahlt. Daß er aber nach Dienstschluß nicht zu uns hält, daß er uns, wo er kann, demütigt und den Ausgang sperren läßt, muß ja nicht sein. Warum tut er das? Plötzlich fiel es ihm ein: Weil er uns haßt! Diese Erkenntnis traf ihn so unvermittelt, daß er stehenblieb und zu den Kasernen zurückblickte. Weiß Gott, er haßt uns, dachte Jeremin und ging nachdenklich weiter. Was zum Teufel haben wir ihm getan? Vielleicht muß dem Kerl wirklich erst einmal etwas passieren, damit er auch einen Grund hat, uns zu hassen. Gut, das kann er haben. Klaviermusik klang durch die laue Sommernacht. Jeremin blieb wieder stehen. Er atmete den Duft der Blütendolden aus den Vorgärten. Zart rötlich stand das helle Viereck eines erleuchteten Fensters in der Dunkelheit und warf einen hellen Schein auf den Garten. Vor dort her drangen die Akkorde einer Tschaikowskischen Suite. Jeremin stützte sich auf das niedrige Gitter des Vorgartens und lauschte. Dann brach das Spiel ab. Der schmale Schatten eines Mädchens erschien hinter der Gardine, die Vorhänge wurden zurückgezogen, und das Mädchen sah hinaus in die Sommernacht, genau dorthin, wo Jeremin stand. Er begann die Melodie ihres Spiels leise vor sich hin zu pfeifen. Das Mädchen hörte ihm aufmerksam zu und fragte: „Hat es Ihnen gefallen?“ „Ja, es hat mir gefallen“, antwortete er und setzte in einem Anflug von Kühnheit hinzu: „Sie müssen mir unbedingt Ihren Namen verraten. Vielleicht lese ich ihn mal auf einem Konzertplakat.“ „Renate“, sagte das Mädchen lachend. „Der Rest steht auf dem Schild am Gartentor.“
„Kommen Sie ein wenig heraus, Renate“, bat er. „Sie gehen doch sicher jetzt noch nicht schlafen.“ Das Mädchen lachte wieder, trat vom Fenster zurück und zog die Vorhänge zusammen. Gleich darauf verlöschte das Licht. Ruhig und friedlich lag die kleine Villa im Scheine des aufgehenden Mondes. Jeremin ärgerte sich. Natürlich hätte er es ganz anders anfangen müssen. Vielleicht ein Gespräch über Musik und viel mehr Komplimente über ihr Spiel. Ärgerlich schnippte er den Rest seiner Zigarette auf die Straße und ging zum Gartentor. „Dr. med. J. Herxheimer“, entzifferte er. „Sprechstunde nach Vereinbarung.“ Renate Herxheimer hieß sie also. Er hörte das Klappen der Haustür. Leichte Schritte kamen über den Kiesweg. Gleich darauf erschien das Mädchen. „Aber nur eine halbe Stunde“, flüsterte sie. Jeremin war überrascht und fast erschrocken. Es wäre ihm in dieser Sekunde fast lieber gewesen, Hauptfeldwebel Hannemann hätte ihn beim Überseigen der Kasernenmauer erwischt, als jetzt etwas sagen zu müssen. Er verbeugte sich etwas linkisch, ergriff ihre Hand und nannte seinen Namen, wie er es in der Tanzstunde gelernt hatte. „Wir können ein bißchen in dieser Richtung gehen“, schlug das Mädchen vor. „Jawohl“, sagte er und trottete neben ihr her. „Sind Sie Offizier?“ fragte Renate und warf einen Blick auf seine Uniform. Jeremin verschlug es vor Überraschung fast die Sprache. Nachdem er ein Jahr lang die militärische Ausbildung eines Machulke genossen hatte, war es für ihn unvorstellbar, daß es irgendeinen Menschen auf der Welt gab, der die Dienstgrade der deutschen Wehrmacht nicht auseinanderhalten konnte. Einen Augenblick schämte er sich, daß er nicht wirklich Offizier war. Zögernd antwortete er: „Ich bin Schütze, aber ich werden vielleicht einen ROA-Lehrgang mitmachen.“ „Aha“, sagte das Mädchen uninteressiert. „Als Reserveoffiziersanwärter kann ich ziemlich schnell Leutnant werden“, versicherte Jeremin eifrig. „Wahrscheinlich bekomme ich in vier Wochen die Gefreitenwinkel.“
„Ist das nicht schön“, fragte das Mädchen und sah hinauf zu dem Mond, der rund und orangefarben wie ein riesiger Lampion hinter den Bergen aufstieg. „Ja, das wäre schön“, nickte Jeremin. „Dann bin ich kein Rekrut mehr und werde Stubenältester, wenn die Neuen einrücken.“ „Aber ich meine doch den Mond.“ Renate sah ihn vorwurfsvoll an. „Ach, der Mond –“, Jeremin sah gehorsam zum Himmel. Es war wirklich ein schöner Mond. „Was werden Sie machen, wenn Ihre Dienstzeit um ist?“ fragte das Mädchen nach einer Weile. „Ich werde studieren und Arzt werden, wie mein Vater.“ „Ein schöner Beruf“, lächelte das Mädchen. „Mein Vater ist auch Arzt. Über seinem Schreibtisch hängt ein Spruch: ‚Die Liebe ist die Wurzel der Arzenei.’“ „Der ist von Paracelsus“, sagte Jeremin stolz. „Er will damit sagen: Man muß die Menschen, die als Patienten zu einem kommen, unvoreingenommen lieben, um sie zu verstehen. Wenn man ihre Seele kennt, kommt man den meisten Krankheitsursachen auf die Spur.“ „Könnten Sie das, alle Menschen lieben?“ Renate sah ihn von der Seite an. Jeremin dachte an Machulke. „Nein“, gab er zu. „Aber ich bin erst neunzehn Jahre alt. Wenn ich Arzt sein werde und die ersten Patienten zu mir kommen, kann ich es vielleicht.“ „Ich werde es nie können“, sagte das Mädchen heftig. „Es gibt soviel Ungerechtigkeit in der Welt, und auch daran sind Menschen schuld.“ „Aber bei uns ist doch eigentlich soweit alles in Ordnung“, meinte Jeremin. „Wo, bei uns?“ „In Deutschland. Sicher, man ärgert sich über manches, gerade in der Kaserne. Aber wenn wie die Dienstzeit hinter uns haben, erwartet uns eine schöne Zukunft. Wir werden studieren, wir werden eine Familie haben, Kinder.“ „Nicht alle“, sagte Renate heftig. Er zuckte die Achseln. „Kommen Sie, wir setzen uns auf die Bank dort und rauchen eine Zigarette“, schlug das Mädchen vor. „Rauchen Sie?“ fragte er erstaunt.
„Ach so, die deutsche Frau raucht nicht.“ In ihrer Stimme lag Ironie. „Ich bin nicht beim BDM, mein lieber Herr Soldat.“ Als er ihr Feuer gab, sah er ihre Augen fast feindlich auf sich gerichtet. „Ich habe nichts dagegen, wenn eine Frau raucht“, versicherte er. „Meine Mutter raucht auch. Ich dachte nur, weil Sie noch so jung sind.“ „Sie sind jung, nicht ich“, antwortete Renate. „Erstens bin ich ein Jahr älter als Sie. Zweitens versorge ich meinen Vater und studiere Musik. Überhaupt ist eine Frau einem gleichaltrigen Mann meistens voraus.“ „So, so“, meinte Jeremin unbehaglich. „Und was tun Sie?“ fuhr das Mädchen fort, „Sie laufen in einer Uniform herum, lassen sich darauf abrichten, irgendwann einmal irgend jemand zu töten, der Ihnen nichts getan hat. Gleichzeitig berufen Sie sich auf Paracelsus.“ „Ich verstehe, Ihre Frau Mutter ist tot“, sagte Jeremin mitfühlend. „Nein, meine Mutter ist nicht tot. Sie lebt im Ausland.“ „Das ist für eine Familie natürlich immer problematisch“, nickte Jeremin. Renate schwieg und zog heftig an ihrer Zigarette. Dann sagte sie plötzlich überlaut: „Meine Mutter ist Jüdin. Deshalb lebt sie nicht bei uns.“ Jeremin sah betroffen auf. „Na?“ Ihre Stimme zitterte vor Erregung. „Jetzt sagen Sie nichts mehr. Sie dürfen ja auch gar nichts sagen. Sie tragen doch das Hakenkreuz auf der Brust. Sicher tut es Ihnen jetzt leid, daß Sie mich herausgebeten haben.“ Jeremin griff vorsichtig nach ihrer Hand. „Ich versuche zu verstehen, wie schwer das alles für Sie ist, Renate. Darf ich Sie morgen abend wieder abholen?“ Das Mädchen zuckte die schmalen Schultern und stand auf. Schweigend gingen Sie zurück. Vor dem Haus blieben sie stehen. „Bis morgen abend um acht. Ich werde die Melodie pfeifen, die Sie vorhin gespielt haben.“ Renate gab keine Antwort und wandte sich hastig ab. Er wartete, bis die Haustür ins Schloß fiel. Schwaches Licht schimmerte durch die Ritzen der Fensterläden. Plötzlich hatte er keine Lust
mehr, das Tanzcafé zu besuchen und schlenderte langsam auf die massiven Blöcke der Kaserne zu. * Montagmorgen. Die Trillerpfeife des UvD schrillte durch die Gänge. Er riß die Türen auf, brüllte: „Aufstehen!“ und fast in einem Atemzug: „Kaffeeholer raustreten!“ und fluchte über den Mief auf den Stuben. „Uhr im Nachttopp, Geld ist weg – und im Herzen Trippersorgen, Überschrift: Der Montagmorgen“, deklamierte der Schütze Bretzel und gähnte. Jeremin ging in den Waschraum. „Wir müssen in der Exerzierpause mit jedem einzeln sprechen“, flüsterte Rotenburg. „Dann sind alle in der richtigen Stimmung.“ Noch während die Soldaten hastig ihr Frühstück herunterschlangen, gellte die Pfeife des UvD. „Macht euch fertig, ihr Säcke“, polterte der Stubenälteste Schmidt. Aus den schwindelnden Höhen seines Gefreitendaseins hatte er für die nichtswürdigen Rekruten nur Verachtung übrig. Der Stubendienst Müller begann wie rasend zu kehren. Als Jeremin seinen Karabiner aus dem Ständer nahm, streifte er mit seiner Gasmaske Rotenburgs Brust. Etwas fiel scheppernd auf die Fliesen des Ganges. „Verdammt, mein Knopf.“ Rotenburg kroch auf dem Boden umher. Jeremin half ihm suchen. Unzählige Stiefel trampelten vorbei. Im Treppenhaus röhrte Machulke wie ein weidwunder Hirsch. Der Knopf blieb verschwunden. Zwei Minuten später stand die Kompanie auf dem Hof. Hauptfeldwebel Hannemann griff nach der „Anschißkommode“, dem dicken Notizbuch, das zwischen den Knöpfen seiner Feldbluse steckte. Er war der einzige Mann, vor dem sogar Machulke Respekt hatte. Der Spieß, dem eine gewisse Intelligenz und psychologisches Einfühlungsvermögen nicht abzusprechen waren, gab langjährige Erfahrung mancherlei Möglichkeit, sowohl mit renitenten Untergebenen als auch mit blasierten Vorgesetzten fertig zu werden. Er hatte eine Art, mit ande-
ren Katz und Maus zu spielen, die besonders dem begrenzten, dumpfen Verstand Machulkes unheimlich war. Noch einmal übersah Hannemann die reglos verharrende Kompanie und ließ dann rühren. Seine besondere Aufmerksamkeit galt stets den Kranken und Kommandierten am linken Flügel. Besonders am Montag. Langsam schritt er die Front ab. Seine Kolbenringe auf den Ärmel schimmerten. Beim zweiten Zug blieb er stehen. „Schütze Schneider“, sagte Hannemann mit Grabesstimme, „Sie bereiten mir Kummer.“ Der Soldat schrumpfte vor Schreck zusammen, erstarrte zu vorbildlicher Grundstellung und nahm eine Inventur seines schlechten Gewissens vor. „Wissen Sie, warum Sie mir Kummer bereiten?“ erkundigte sich Hannemann. „Nein, Herr Hauptfeldwebel!“ „Nein?“ staunte Hannemann. Seine Augenbrauen verschwanden unter dem Mützenschirm. „Drei Schritte vorwärts, marsch!“ Der Soldat baute sich drei Schritte vor der Kompanie auf. „Kehrt!“ befahl Hannemann. Schneider versuchte die Zackigste Kehrtwendung seines Lebens auszuführen und verwandelte sich wieder in eine Salzsäule. „Rühren“, grollte die Stimme des Hauptfeldwebels. Dann legte er die Hände auf den Rücken, ging einmal um den Soldaten herum und musterte ihn wie ein Ausstellungsstück. Hannemann brauchte noch einen Posten für die nächste Sonntagswache. Es gehörte zu seinen Spezialitäten, irgendeinen Rekruten aus dem Glied herauszuholen, um ihn eines kleinen Vergehens zu überführen. Diese Prozedur nannte er eine „Röntgenaufnahmen“. Er wußte nie vorher, ob und was seinen jeweiligen Opfern nachzuweisen sein würde, aber gerade das bereitete ihm einen angenehmen Nervenkitzel. Seine Erfahrungen hatten ihn gelehrt, daß bei einem Rekruten niemals alles in Ordnung war. Breit und dräuend wie das unabwendbare Schicksal blieb der Spieß vor dem Rekruten stehen und befahl: „Nehmen Sie die Feldmütze ab, Sie Heini!“ Schneider riß sich die Feldmütze vom Kopf. Mit spitzen Fingern nahm der Hauptfeldwebel das Krätzchen und stülpte es um. Prüfend betrachtete er das der hellen Morgensonne erbar-
mungslos ausgesetzte Innenfutter. Mit dem zu diesem Zweck eigens sorgfältig gepflegten langen Nagel des kleinen Fingers fuhr er an der Mützenkante entlang. Das Produkt seiner Bemühungen war ein graues Klümpchen unter dem Fingernagel. „Na?“ fragte er triumphierend. Der Schütze Schneider schwieg. „Sie haben einen Schmalzkopf“, erklärte Hannemann. „Was tut man, wenn man einen Schmalzkopf hat?“ „Man wäscht sowohl den Kopf als auch die Feldmütze täglich“, schmetterte Schneider. „So ist es“, nickte Hannemann. „Aber Sie hocken während der Putzund Flickstunde auf der Latrine und lesen dicke Schwarten. Wissen Sie nun, warum Sie mir Kummer bereiten?“ „Jawohl, Herr Hauptfeldwebel!“ „Sonntagswache – eintreten!“ Hannemann notierte das Opfer. Dann setzte er seine Wanderung zum linken Flügel fort. Die Neukranken drängten sich bei seinem Nahen zusammen wie Schafe vor einem Gewitter. Aber sie hatten Glück. „Leutnant von links!“ rief einer der Feldwebel. Hannemann ging ohne sonderliche Eile auf seinen Platz vor der Kompanie zurück. Er ließ die Unteroffiziere eintreten und meldete. Leutnant Mussil, sehr lang, dünn, jung und arrogant, schleppte einen riesigen Säbel neben sich her, auf den er sich beim Exerzieren mit beiden Händen stütze. Er übernahm das Kommando. Seine Stimme gellte dünn und scharf. Die Kompanie formierte sich und marschierte singend zum Exerzierplatz. * Der Unteroffizier Machulke fühlte sich an diesem Montagmorgen keineswegs in Form. Ein dumpfer Schmerz hämmerte hinter seiner niedrigen Stirn. „Ich habe einen Geschmack in der Schnauze, als wäre mir die Kompanie nach einem Vierzig-Kilometer-Marsch in Socken über die Zunge marschiert“, brummte er seinem Nebenmann zu.
„Sauf nicht so viel“, meinte Unteroffizier Kaiser ungerührt. Die Kompanie schwenkte auf die Mitte des Exerzierplatzes. Leutnant Mussil ließ halten, linksum machen und gruppenweise abrücken. Machulke führte seine Gruppe in die Ecke neben der Exerzierhalle. Grimmig musterte er die Männer. Sein Blick blieb an der offenen Brusttasche des Schützen Rotenburg hängen. Wo einstmals ein Knopf gesessen hatte, wehten melancholisch einige Zwirnsfäden im Morgenwind. Machulke legte die Hände auf den Rücken und stampfte säbelbeinig heran. „Schließen Sie die linke obere Rocktasche!“ Rotenburg stand still: „Bitte Herrn Unteroffizier melden zu dürfen, daß sich an der linken oberen Rocktasche kein Knopf mehr befindet. Er wurde mir heute morgen beim Antreten abgerissen.“ „Klar“, grinste Machulke, „heute morgen hat Ihnen irgendein böser Feind den Knopf abgerissen.“ Dann tobte er los: „Sie verwahrloster Misthaufen! Kommt dieser lahme Kerl Montagmorgen halb angezogen zum Dienst. Nach dem Appell melden Sie sich bei mir, ich werde Ihnen heute abend eine Sonderbeschäftigung verpassen. Ist das klar?“ „Jawohl, Herr Unteroffizier.“ Rotenburg sah den Unteroffizier mit einem impertinenten Ausdruck unsäglichen Ekels an. Machulke kannte diesen Blick. Er wußte, daß es ihm bei diesem Soldaten noch nie gelungen war, ihn in panischen Schrecken zu versetzen, was er für die Ausgangsstellung der Umerziehung seiner Rekruten hielt. Er haßte diesen hochmütigen Schnösel. Jeremin trat einen Schritt vor: „Bitte Herrn Unteroffizier melden zu dürfen, daß ich aus Versehen den Knopf des Schützen Rotenburg abgerissen habe.“ „Schnauze!“ – brüllte Machulke, „scheren Sie sich ins Glied! Ich werde euch schon helfen. Anstatt einen solchen Schlamper auf Vordermann zu bringen wollt ihr ihn auch noch decken. Dritte Gruppe Achtung! Tausend Meter vor, marsch, marsch! Achtung! Hinlegen! Nach links weg, marsch, marsch! Volle Deckung…!“ Er scheuchte die Männer über den Kasernenhof, ließ sie robben, kriechen, gleiten und zwang sie immer wieder auf den Boden. Während er beobachtete, wie sich auf ihren Feldblusen dunkle Schweißflecken bilde-
ten, kam ihm plötzlich ein Gedanke, was er am Abend mit Rotenburg anstellen würde. Ein böses Grinsen erschien auf seinem Gesicht. Nach einer halben Stunde war er stockheiser. Die Soldaten standen mit jagenden Pulsen, verschrammten Knien, staubbedeckt und schwitzend vor ihm. „Na“, krächzte er befriedigt, „seid ihr jetzt bedient, ihr Flaschen?“ * Leutnant Mussil hatten auf seinen Säbel gestützt den Unteroffizier Machulke beobachtet. Ein dünnes Lächeln spielte um seine schmalen Lippen. Recht so – dachte er. Man muß diese Nieten scheuchen, bis sie nicht mehr wissen, ob sie Männchen oder Weibchen sind. Sie brauchen überhaupt nichts zu wissen. Auch nichts zu denken. Sie haben zu gehorchen, sonst nichts. Seit sich der Leutnant von einem langaufgeschossenen Abiturienten in einen schulterstücketragenden Offizier verwandelt hatte, war er dem Größenwahn verfallen. Es gab für ihn, seine ihn anbetenden Eltern ausgenommen, keine akzeptablen Mitmenschen mehr, sondern nur noch Offizierskameraden. Der Rest war verachtungswürdiges stupides Volk. Langsam führte er seine kleine Trillerpfeife zum Mund. Mit dieser Pfeife konnte er hundertfünfzig Männer in Salzsäulen verwandeln. Wollüstige Schauer überrieselten seinen knochigen Rücken, als er pfiff und Exerzierpause befahl. * Jeremin, Rotenburg, Maurer und Burkhard sahen sich bedeutungsvoll an, als sie mit vor Erschöpfung zitternden Händen die Zigarettenpäckchen aus der Tasche zogen. „Los, Jungens“, befahl Jeremin, „wie müssen jetzt mit den anderen sprechen. Paßt auf, daß der Gefreite nichts merkt.“ Sie verteilten sich und begannen auf ihre Kameraden einzureden. Als die Trillerpfeife Mussils wieder über den Platz schrillte, hatten die Männer der Gruppe Machulke einen überraschend zufriedenen Zug im Gesicht.
* Der Abendappell war vorüber. Machulke knallte die Stubentür zu, ließ sich aufs Bett fallen, rülpste laut und entledigte sich ächzend der schweren Knobelbecher. „Geht das nicht ein bißchen lautloser“, knurrte sein Zimmerkamerad Unteroffizier Hartmann. Er wollte lesen, und Machulkes rücksichtslose Art brachte ihn immer wieder zur Raserei. „Schnauze!“ Der Unteroffizier rülpste wieder. Fluchend suchte er seine Zugstiefel im Spind, wechselte die Uniform und rückte die Kragenbinde zurecht. „Du bist doch heute abend UvD. Ich verpassen jetzt dem Rotenburg eine Sonderbeschäftigung, die sich gewaschen hat. Kontrollier ihn ab und zu.“ „Was soll er denn machen?“ erkundigte sich Hartmann. Es wurde geklopft. „Das ist er. Du wirst es gleich sehen“, versicherte Machulke und brüllte einladend: „Rein!“ Rotenburg leierte sein sinnloses: „Bitte eintreten zu dürfen!“ Machulke warf Hartmann einen triumphierenden Blick zu und begann mit seiner Sondervorstellung. Breitbeinig pflanzte er sich vor Rotenburg auf: „Sie ziehen jetzt sofort einen Winterwachmantel an, den Sie auf der Kammer empfangen. Feldwebel Kurz weiß Bescheid. Dann schnallen Sie um, setzen den Stahlhelm auf, hängen die Gasmaske um und nehmen Ihre Knarre. Sie begeben sich auf die Latrine dieses Stockwerks, setzen der Umgebung angepaßt die Gasmaske auf, nehmen das Gewehr mit aufgepflanztem Seitengewehr über und befinden sich somit auf Latrinenwache. In Ihrem Postenbereich haben Sie dafür zu sorgen, daß keine Einrichtungen der Latrine verunreinigt werden. Kameraden, die Kippen oder gar leere Packungen in die Rinne werfen, sind auf das Ungebührliche ihrer Handlungsweise aufmerksam zu machen.“ Er spricht wie eine Heeresdienstvorschrift, dachte Rotenburg. Machulke zündete sich eine Zigarette an und fuhr fort: „Betritt ein Unteroffizier die Latrine, so erstatten Sie Meldung. Protzt ein Vorgesetzter ab, so haben Sie diesen Vorgang durch Präsentieren des Karabiners gebührend zu würdigen. Pinkelt ein niederer Dienstgrad, so stehen Sie
lediglich stramm und ziehen das Gewehr an. Ihre Wachzeit läuft mit dem Zapfenstreich ab. Irgendwelche Fragen?“ „Jawohl, Herr Unteroffizier. Was habe ich zu tun, wenn ein Offizier die Latrine betritt?“ „Offiziere benutzen keine Etagenlatrinen“, knurrte Machulke unbehaglich. „Hauen Sie ab. Ich werde Sie kontrollieren.“ „Mein lieber Mann“, sagte Hartmann, als Rotenburg die Stube verlassen hatte, „das kannst du doch nicht machen. Wenn der eine Meldung schreibt, gehst du baden.“ „Der schreibt keine Meldung. Ich werde den Sack schon klein kriegen. Ich werde schon noch einen anständigen Soldaten aus ihm machen.“ „Blödsinn“, Hartmann legte sein Buch zur Seite. „Du kannst ihn nicht ausstehen, weil er dich im Zivilleben nicht einmal mit seinem Hintern ansehen würde. Weißt du eigentlich, wie sie dich auf den Mannschaftsstuben nennen?“ „Na, wie nennen sie mich?“ fragte Machulke neugierig. Da er keine Freunde besaß, hatte ihn bisher niemand über seinen Spitznamen aufgeklärt. Er stellte sich vor, daß die verängstigten Soldaten ihn vielleicht „Knochenbrechen“ oder „Panzerfresse“ betitelten. „Sie nennen dich ‚Untermensch’“, sagte Hartmann und lächelte dünn. „Untermensch“, wiederholte Machulke verblüfft, „was ist das, ein Untermensch?“ „Ein Untermensch –“, erklärte Hartmann bereitwillig, „ist ein Mensch, der in seiner geistigen Entwicklung weit unter dem Durchschnitt zurückgeblieben ist. Eine aufrechtgehende Freß-, Kack- und Saufmaschine sozusagen. Ein schwachsinniges Muskelpaket, dessen Gehirn aus drei Windungen besteht.“ „Aha“, sagte Machulke langsam, und seine Narbe über dem Auge begann zu glühen. „Ich kann mir schon vorstellen, wer sich diesen Namen für mich ausgedacht hat. Der Übermensch Rotenburg natürlich. Ich werde dem Burschen schon beweisen, daß der Untermensch Machulke nicht nur drei, sondern vier Windungen in seiner Birne hat. Und die vierte Windung ist für die Wurzelsau Rotenburg reserviert.“ Er griff nach seinen mausgrauen Handschuhen, setzte die Schirmmütze auf und verließ grußlos die Stube. *
Rotenburg hatte sich auf den Heizkörper der Latrine gesetzt. Er sah aus wie ein Fabelwesen der Urzeit. In seinem dicken Wachmantel wirkte er eunuchenhaft. Kreisrund starrten die Klarscheiben der Gasmaske unter dem Stahlhelmrand hervor. Der Filter glich einem Schnabel. Jeremin war dagewesen und hatte nicht schlecht gestaunt, als er Rotenburg mit aufgepflanztem Seitengewehr neben der „Goldrinne“ stehen sah. „Mann“, hatte er wütend gesagt, „da hat sich der Machulke was Feines ausgedacht. Als Baumann und ich vorigen Samstag den Rasen vor der Kantine mit der Nagelschere schneiden mußten, fanden wir das schon allerhand. Aber was der Untermensch dir heute verpaßt hat, ist das letzte. Bei der Besichtigung werden wir es ihm heimzahlen. Außerdem werde ich dafür sorgen, daß keiner die Latrine benutzt.“ Wenige Minuten später befestigte es ein großes Schild an der Latrinentür: „Achtung!!!! Frisch gestrichen!!! Betreten streng verboten!!!“ „So“, sagte er danach befriedigt, „jetzt hast du deine Ruhe. In zwei Stunden komme ich wieder.“ Rotenburg nickte ihm dankbar zu und lockerte den Filter der Gasmaske, um besser atmen zu können. Er lauschte auf die Geräusche der abendlichen Kaserne. In den Wasserrohren rauschte es, wenn auf der unteren oder oberen Latrine gezogen wurde. Ab und zu knallte eine Tür. Vom Hof herauf drang das Gebrumm eines abfahrenden Kübelwagens. Aha – dachte Rotenburg -, jetzt fährt Leutnant Mussil zu seinem Betthäschen. Im Waschraum pfiff jemand laut und falsch. Rotenburg fühlte sich müde und zerschlagen. Warum – so dachte er – tut man alles, um uns den sogenannten Ehrendienst am Vaterland so gründlich zu verekeln? „… man muß euch Himmelhunde erst einmal zerbrechen und auf Null schalten, um aus den Scherben einen anständigen Menschen machen zu können“, hatte Hauptfeldwebel Hannemann in seiner Begrüßungsansprache den Rekruten angekündigt. Rotenburg glaubte damals, es handle sich um die üblichen großen Töne eines Spießes. Aber in den zurückliegenden Monaten seiner Dienstzeit hatte er weitgehend Gelegenheit gehabt, festzustellen, wie sehr die
Unteroffiziere und auch die Offiziere mit Hannemanns Ansicht übereinstimmten. Jede Individualität der Rekruten wurde mit fast wissenschaftlicher Gründlichkeit erdrückt, man preßte sie in Schablonen und versuchte, selbst ihre Seelen zu uniformieren. Das war es, was Rotenburg haßte. Auf den langen Übungsmärschen oder in der stickigen nächtlichen Stille der Mannschaftsstuben hatte er Zeit, über die Situation nachzudenken. Er empfand das System der nationalsozialistischen Wehrpflicht als entwürdigend. Millionen junge Menschen wurden aus ihrer Entwicklung brutal herausgerissen, seelisch vergewaltigt und nach zwei Jahren wieder ausgespieen, ohne daß sich jemand darum kümmerte, ob die jäh unterbrochene Entwicklung fortgesetzt werden könne oder nicht. Immer wieder versuchte er sich damit zu trösten, daß zwei Jahre keine Ewigkeit bedeuten. Aber die täglich aufs neue erzwungene Konfrontierung mit diesem System der Gewalt und Brutalität verursachte ihm ein ständiges Gefühl des Ekels. Seine Mutter, eine sensible, einsam gebliebene Offizierswitwe, hatte ihn völlig einer eigenwilligen Entwicklung überlassen. Er besaß kein Geschwister. Zwanzig Jahre lang lebte er mit der alternden, durch den Tod ihres Mannes verbitterten Frau zusammen. Ihr Haß gegen den Krieg, der ihr den Gatten geraubt hatte, übertrug sich auch auf ihn. Rotenburg konnte sich nicht an seinen Vater erinnern. Aber die Erzählungen seiner Mutter formten in ihm das Bild eines gottähnlichen, starken, weisen und gütigen Geschöpfes, das man in eine Uniform zwang und auf den Feldern Frankreichs verbluten ließ, weil es einem Kaiser gefallen hatten, einen Krieg zu führen, den er dann doch verlor. Rotenburg hatte von seiner Mutter gelernt, alle Uniformen, jede Marschmusik und prahlerisches Waffengeklirr zu verabscheuen. Er war ein außerordentlich kritischer Mensch, zurückhalten allem gegenüber, was ihm unbekannt und zweifelhaft schien, kühl und arrogant gegenüber dem lauten und selbstgefälligen Auftreten der Nationalsozialisten und ihrer herausfordernden Politik. Und nun hatten sie auch ihn in eine Uniform gezwungen und schickten sich an, seine sich langsam entwickelnde Persönlichkeit unter den eisenbeschlagenen Absätzen ihrer Kommißstiefel zu zertrampeln. Rotenburg begann zu ahnen, worin das System des preußischen Militarismus bestand. Auf alle Fälle begriff er: man wollte den Soldaten das Denken
abgewöhnen. Roboter aus Fleisch und Blut, jedem Befehl blind gehorchend, das war es, was man aus ihm und seinen Kameraden machen wollte. Roboter, deren Gehirne nur noch die Funktion hatten, als Antennen die Befehle aufzunehmen und an die einzelnen Gliedmaßen weiterzuleiten. Und jeder, auch der schändlichste Befehl war heilig. Wer nicht denkt, hat es leicht, unbeschwert und glücklich zu sein, dachte der junge Soldat verzweifelt. * Nachdem Machulke seine Stufe verlassen hatte, Hartmanns schadenfrohe Erklärung im Ohr, ging er in die Unteroffizierskantine. Ursula, die Tochter des Pächters, sah ihm gleichgültig entgegen. Sie war klein, üppig, aber wohlproportioniert. Mit ihren Samtaugen versetzte sie selbst alte Rabauken wie den Stabsfeldwebel Brumme in selige Erwartung und verschämte Verlegenheit. Machulke begrüßte sie an diesem Abend nicht mit seinem üblichen „Gott zum Gruße, schöne Frau“, sonder verlangte knurrend einen „Doppelstöckigen“. Finster starrte er auf die von Bierlachen verunzierte Theke. Ursula füllte ein großes Schnapsglas. Verdammt, dachte der Unteroffizier, Untermensch nennen sie mich. Untermensch – eine aufrechtgehende Freß-, Kack- und Saufmaschine. Instinktiv fühlte er, warum die Soldaten ausgerechnet ihm diesen Namen gegeben hatten. Seine reichlich vorhandenen Minderwertigkeitskomplexe begannen sich zu regen, er brauchte Genugtuung. Ohne hinzusehen, griff er nach dem Schnapsglas, trank es aus und verlangte Nachschub. Wie eine dunkle Welle überschwemmte die Erinnerung an das, was man seine Jugend nennen könnte, sein dumpfes Gehirn. Wenn er es sich recht betrachtete, war er immer und für alle nichts anderes als eine Art „Untermensch“ gewesen. Sein Vater, ein braver Dockarbeiter, verunglückte kurz nach der Geburt seines Sohnes tödlich.
Sehr bald heiratet die Mutter wieder, diesmal einen kleinen Hilfsbeamten von der Post, der in die bescheidene Wohnung als einziges zwei Bilder Bismarcks und einen goldgerahmten Kaiser Wilhelm mitbrachte. Er zeugte mit ihr fünf Kinder und beschloß, sie alle etwas „Besseres“ werden zu lassen. Machulke, störendes Überbleibsel einer für den Hilfsbeamten unbehaglichen Vergangenheit seiner Ehefrau, wurde in diese väterlichen Pläne nicht mit einbezogen. Er empfand sehr schnell den Ausschluß aus der neugegründeten Häuslichkeit. Die Geschwister behandelten ihren Stiefbruder mit verletzender Herablassung und töteten seine ursprünglich vorhandene Gutmütigkeit. Sein langsam erwachender Haß konzentrierte sich auf alle diejenigen, die einmal etwas „Besseres“ werden sollten oder es gar schon waren. Jahrelang schlug er sich als Handlanger, Stauer und Maurergehilfe durch und lernte, daß zwischen einem Gelegenheitsarbeiter und den „Besseren“ ein unüberwindlicher Abgrund klaffte. Diesen Zustand nahm er als gegeben hin. Mit zwanzig Jahren meldete er sich zur Reichswehr. Als er den grauen Rock anzog, fühlte er sich zum erstenmal als gültiges Mitglied einer Gemeinschaft. Man steckte ihn zur Infanterie und bei der Infanterie in den Stall. Jahrelang karrte er Mist, putzte Gäule auf Hochglanz und fettete Lederzeug ein. Sein Fernziel war es, einmal Gefreiter zu werden. Er wurde Gefreiter, und man übernahm ihn in die neugegründete Wehrmacht. Zu seiner maßlosen Überraschung beförderte man ihn sogar zum Unteroffizier. Als durch die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht Rekruten aus allen Kreisen in die Kasernen strömten, erlebte der Unteroffizier Machulke die Sensation seines Lebens. Ungläubig beobachtete er, daß auch die „Besseren“ als einfache Soldaten dienen mußten. Fassungslos vor Staunen stellte er fest, daß man ihm in seiner Korporalschaft gleich vier Abiturienten und zwei Beamtenanwärter anvertraut hatte. Er empfand eine gewisse Scheu vor diesen Wesen aus einer für ihn unbekannten Welt. Er studierte ihre Gewohnheiten und schnappte gierig Brocken ihrer Unterhaltung auf. Aber dann kam der Tag, an dem Machulke merkte, daß er – der ehemalige Gelegenheitsarbeiter – für die „Besseren“ ein Halbgott war, solange sie die Uniform einfacher Rekruten trugen. Diese Erkenntnis verwandelte den Unteroffizier Machulke aus einem schweigsamen, linkischen und scheuen Menschen in einen ewig brüllenden, überheblichen und schikanösen Unteroffizier. Er ließ die ihm unter-
stellten Soldaten die menschliche Unzulänglichkeit seines Stiefvaters büßen. Er entwickelte einen beachtlichen Ideenreichtum, um sich seine neue und großartige Stellung täglich selbst zu beweisen, und ließ die Rekruten seine Macht fühlen. Wenn Machulke etwas auf dieser Welt liebte, so waren es seine Tressen und der Hoheitsadler auf seiner Brust. Immer wieder betrachtete er die silbernen Litzen, von denen der Meter einige Pfennige kostete, ungläubig und fast zärtlich. Geheiligt durch einen Befehl, hoben sie ihren Träger aus der Masse der Verdammten in den Himmel der Vorgesetzten. Er bedauerte, daß sich diese Tressen nicht mit Sidol putzen ließen, und der glänzendste Abschluß seines Lebens schien ihm eine Beförderung zum Feldwebel zu sein. Wenn er daran dachte, daß man ihm vielleicht in nicht allzu ferner Zukunft das Portepee verleihen würde und selbst Unteroffiziere vor ihm stramm zu stehen hätten, überlief ihn ein Schauer. Dieses Ziel erschien ihm so erhaben, daß er es fast als Sünde empfand, zu oft daran zu denken. Und trotzdem – erst gestern hatte der Spieß angedeutet, daß bald ein zünftiger Feldwebeleinstand fällig sei und es nur auf den Ausgang der Besichtigung ankomme. Machulke warf einen Blick in den hinter der Theke hängenden Spiegel. Befriedigt stellte er fest, daß ihm aus dem Spiegel nicht der Gelegenheitsarbeiter, sondern ein Unteroffizier der großdeutschen Wehrmacht entgegensah, für den das Schicksal eine glänzende Laufbahn als Feldwebel bereithielt. – Wieder schob er Ursula das Glas hin: „Laß die Luft raus!“ Dann goß er den beißenden Schnaps in einem Zuge hinunter. „Noch einen!“ befahl er. Langsam wurde er betrunken. Und dann fiel ihm Rotenburg ein. „Ha, ha“ – lachte Machulke, „ein vornehmer Herr, der vor seinen abprotzenden Unteroffizieren präsentieren muß. Und wer hat das fertiggebracht? Ich, Machulke!“ Er warf Geld auf die Theke und schwankte über den Kasernenhof. Vor dem großen Spiegel am ersten Treppenabsatz des Kompaniegebäudes prüfte er gewohnheitsmäßig den Sitz seiner Mütze. Dann streifte er pedantisch seine grauen Handschuhe über und begann fluchend emporzusteigen.
* Während Machulke über seine Vergangenheit und Zukunft nachdachte, saßen Jeremin und Renate wieder auf der gleichen Bank wie am Vorabend. Pünktlich um acht hatte er vor der Villa die Melodie gepfiffen. Eine Minute später stand sie auf der Straße. Sie schien auf ihn gewartet zu haben. Verlegen gaben sie sich die Hand. „Ich dachte nicht, daß Sie kommen würden“, sagte Renate, als sie auf die Straße hinabgingen. „Warum sollte ich nicht kommen?“ erkundigte sich Jeremin erstaunt. Er war glücklich, daß sie neben ihm ging. „Sie wissen doch, was ich Ihnen von meiner Mutter erzählt habe. Sie sind Soldat. Wenn man uns zusammen sieht, könnten Sie Schwierigkeiten haben.“ „Das glaube ich nicht“, sagte Jeremin, „ und außerdem ist es mir egal!“ „Sie wissen doch, was man mit den Juden macht?“ „Ich weiß, daß Hitler gegen die Juden ist“, antwortete Jeremin. „Mein Vater hat zu Hause oft darüber gesprochen. Ich weiß auch, daß man in einer Nacht die Schaufenster vieler jüdischer Geschäfte zerschlagen und die Synagogen angesteckt hat. Das war eine Schweinerei. Sogar in den Kasernen hat man darüber geschimpft. Uns Soldaten hat die Partei aber nichts zu sagen.“ „Wirklich nicht?“ Renate schien ungläubig. „Nein. Man bringt uns sogar im Rekrutenunterricht bei, daß wir blank ziehen dürfen, wenn ein brauner Schlipsträger uns oder das Ansehen der Wehrmacht beleidigt. Wir brauchen uns nichts gefallen zu lassen. Mein Vater hat erzählt, daß viele Offiziere in seinem Bekanntenkreis gegen die SA und SS sind, weil die so großschnäuzig auftreten.“ „Und waren Sie nicht in der HJ?“ „Nein. Ich fand die HJ albern und blöde.“ Sie blieb stehen. Er spürte ihr Mißtrauen, als sie frage: „Ist das wahr, oder erzählen Sie mir das alles nur, weil –„ „Nein, es ist wahr. Früher war ich in der bündischen Jugend. Erst bei der deutschen Freischar und dann bei den Nerodern. Wir haben uns oft
mit der HJ geprügelt. Dann hat man die bündische Jugend verboten. Wir sollten geschlossen übertreten. Sie haben uns zu ihren Heimabenden eingeladen. Einmal war ich dort. Und was war los? Sie haben ein Kapitel aus dem Hitlerjungen Quex vorgelesen, dann haben sie ‚Schinkenkloppen’ gespielt, und zum Schluß sangen sie uns ihre ‚neuen Lieder’ vor. Es waren alles Lieder der bündischen Jugend, die sie uns gestohlen hatten. Sie waren zu blöde, einen richtigen Heimabend zu veranstalten. Deshalb sind wir auch nicht mehr hingegangen. Wir wollten auch keine Uniform anziehen.“ „Ach so, ich verstehe. Die Offiziere mögen die SA und die SS nicht, weil die Braunen so großschnäuzig auftreten, und Sie waren nicht in der HJ, weil Sie darüber gekränkt waren, daß man die bündische Jugend verbot. Das ist alles!“ „Ja, das ist alles“, wiederholte er verwirrt. Er verstand ihre offensichtliche Enttäuschung nicht. „Ich dachte, es gäbe auch noch andere Gründe, weswegen man mit den Braunen oder der HJ nicht einverstanden sein kann.“ Jeremin zuckte die Achseln. „Eigentlich habe ich nicht politisch gedacht. Ich bin auf der Schule gewesen, es ging uns immer gut. Ich bin ja auch erst neunzehn Jahre alt. Ich habe nie zu wählen brauchen. Nur – ich wollte eben nicht in die HJ. Das habe ich Ihnen zu erklären versucht.“ „Es gibt Menschen, die lehnen die Nazis nicht nur ab, weil sie so großschnäuzig sind“, sagte Renate. „Mein Vater hat einen Freund. Er trägt auch eine Uniform. Ich glaube, er ist Oberstleutnant oder so etwas. Er hat uns geholfen, als Mutter weg mußte. Sonst wäre sie vielleicht in einem Konzentrationslager verschwunden. Wenn man versuchen würde, Ihre Mutter in en Konzentrationslager zu bringen, würden Sie vielleicht auch etwa mehr über die Verhältnisse nachdenken.“ „Gewiß“, gab Jeremin unbehaglich zu. „Sicher haben Sie recht. Ich werde über diese Dinge im nächsten Urlaub mit meinem Vater sprechen.“ Renate lächelte: „Sie halten wohl viel von Ihrem Vater?“ „Natürlich. Er ist ein fabelhafter Kerl. Kommen Sie, setzen wir uns auf die Bank.“ Er bot eine Zigarette an. „Wissen Sie was, am nächsten Sonnabend gehen wir tanzen“, schlug er vor. „Ins Café Müller am Bahnhof. Tanzen Sie gern?“ „Schrecklich gern.“
Und dann plauderten sie miteinander, sahen sich an und lächelten. Nach einer Weile warf Jeremin einen Blick auf seine Uhr. „Ich muß in die Kaserne zurück. Mein Freund hat Strafdienst, er wartet auf mich.“ Als sie zurückgingen, tastete er nach ihrer Hand und fühlte einen leichten Gegendruck. „Gute Nacht.“ Sie blieben vor dem Haus stehen und blickten sich schweigend an. Sein Herz klopfte. Dann wandte sich das Mädchen rasch ab und schlüpfte durch das Gartentor. Auf dem halben Weg zum Haus blieb sie noch einmal stehen, winkte und verschwand. Langsam wanderte Jeremin weiter. Immer noch sah er sie auf dem Kiesweg im Mondlicht stehen. Hochbeinig, mit langen schwarzen Lokken. Ein warmes Gefühl durchströmte ihn. Noch immer fühlte er ihren leisen Händedruck. Aber zwischen seinen liebevollen Gedanken schwang unterbewußt ein unbehagliches Gefühl. Das machte ihn unruhig. Er versuchte sich darüber klar zu werden, was ihn eigentlich bedrückte, und plötzlich wußte er es. Renate war Halbjüdin. Die nationalsozialistische Propagandawalze hatte auch in seiner Seele Spuren hinterlassen. Auch in ihm löste das Wort „Jude“ automatisch Assoziationen von „schlecht, ekelhaft und minderwertig“ aus. Jeremin versuchte sich gegen diese Vorstellung zu wehren. Er tröstete sich, daß eine Halbjüdin etwas ganz anderes als eine Volljüdin sei, und er ertappte sich dabei, daß auch er eine Volljüdin für ein verachtungswertes Geschöpf hielt. Wütend blieb er stehen. Zum Teufel, dachte er, wie komme ich dazu, Menschen zu verurteilen, nur weil sie einer anderen Religion und Rasse angehören als ich? Weil allgemein so geurteilt wird und alle das gleiche sagen? Alle? Ja, auch seine Eltern sprachen manchmal abfällig von den Juden. Erschrocken dachte er daran, was wohl sein Vater sagen würde, wenn er ihm von Renate erzählte.
Trotzdem würde er mit ihm über Renate sprechen. Er mußte es ihm sagen – er mußte ihm sagen, daß er ein Mädchen gern hatte, dessen Mutter Jüdin war. * Rotenburg, gewarnt durch die herannahenden Schritte, nahm Front zur Tür und zog den Karabiner an. Die Tür wurde aufgerissen, Machulke starrte in die Scheiben der Gasmaske. In der Vorfreude auf das Kommende hatte es das Schild an der Tür übersehen. Zufrieden registrierte er die stinkende Hitze der Latrine und stellte sich vor, wie sehr Rotenburg unter dem dicken Wachmantel schwitzen mußte. Schweigend ging er zu einem der vier Aborte und knöpfte sich die Hose ab. Sofort vollführte Rotenburg eine Wendung und präsentierte das Gewehr. Machulke saß auf der Brille und sah sein Opfer von unten herauf an. Er verspürte nicht die geringste Notwendigkeit, der von ihm angedeuteten Betätigung nachzukommen, aber er beschloß, so lange auf der Brille sitzen zu bleiben, bis der Karabiner aus Rotenburgs Händen fallen würde. Gelangweilt griff der Unteroffizier zu seinem Zeitungsblatt und begann zu lesen. In der Latrine war es sehr still. Rotenburgs Arme begannen zu zittern. Er ahnte, was Machulke vorhatte. Er spürte, wie ihm der Schweiß über den Körper lief, und er atmete schwer. Die Minuten verrannen zäh in der stickigen Luft. Langsam starben seine Hände ab. Rotenburg hatte Angst, daß ihm der Karabiner entfallen könnte. Er wußte, daß dies eine militärische Todsünde war. Machulke studierte mit großem Interesse Todesanzeigen von Leuten, deren Namen er nie gehört hatte. Von der Stadt her schlug eine Turmuhr neunmal. Noch eine Stunde bis zum Zapfenstreich – dachte Rotenburg verzweifelt. Länger kann er mich auf keinen Fall stehen lassen. Aber ich halte es sowieso nicht mehr aus. Er fühlte seine Knie weich werden. Die Kacheln der Wand gerieten in Bewegung, ihre Linien begannen sich zu
verschieben. Das Blut wich aus seinen Fingern. Zentnergewichte drückten seine Arme herab. Die Haltebänder der Gasmaske schnürten seinen Hinterkopf schmerzhaft zusammen. Und dann geschah es – klirrend polterte der Karabiner auf die Fliesen. Rotenburg taumelte rückwärts. Der Raum drehte sich vor seinen Augen. Langsam hob Machulke den Schädel. Er blickte auf den vor ihm liegenden Karabiner und von dem Karabiner zu Rotenburg. Ohne Eile stand er auf, brachte seine Uniform in Ordnung und zog die Handschuhe an. Dann legte er die Hände auf den Rücken. In seiner Stimme schwang grenzenlose Verachtung, als er sagte: „Sie armseliger Sack. Wissen Sie, was Sie eben getan haben? Sie haben einen Befehl verweigert und Ihrem Vorgesetzten die Waffe vor die Füße geworfen. Wenn ich Tatbericht einreiche, sind Sie reif für die Sonderabteilung Münsingen. Und was die dort mit Ihnen anstellen, halten Sie uniformierte Filzlaus nie aus.“ Rotenburg schwieg und stand stramm. Machulke glaubte den impertinenten Blick hinter den Klarscheiben der Gasmaske zu erkennen. Seine alte Wut gegen den Soldaten sprang auf. „Wissen Sie, was ein Untermensch ist?“ schrie er plötzlich. „Ein Untermensch ist ein degenerierter Armleuchter wie Sie, der Wasser in den Adern und Schlamm in den Knochen hat. Der zu schlapp ist, sein Gewehr festzuhalten. Heben Sie endlich die Knarre auf, Sie Niete!“ Rotenburg bückte sich und griff nach dem Karabiner. Vor sich sah er die stämmigen Beine des Unteroffiziers. Plötzlich überfiel ihn eine unsinnige Wut. Wer gibt diesem Hund das Recht, mich so zu schikanieren, dachte er. Warum renne ich ihm nicht das Bajonett in den Leib? Aber während dieser Gedanken gehorchte sein Körper automatisch dem militärischen Drill. Er erstarrte in Grundstellung. Schritte näherten sich. Jeremin betrat die Latrine. Da an diesem Ort Ehrenbezeigungen nicht üblich waren, begann er sein Wasser abzulassen, scheinbar ohne von den Vorgängen um sich Kenntnis zu nehmen.
Machulke war glücklich, einen Zeugen für die Demütigung Rotenburgs gefunden zu haben. „So, Sie elender Jammerlappen. Wenn Sie schon zu schlapp sind, Ihre Knarre festzuhalten, dann wollen wir mal sehen, ob Sie noch ein bißchen Luft in Ihrer matschigen Lunge haben. Ein Lied: Es ist so schön, Soldat zu sein – drei – vier!“ Durch den Gasmaskenfilter drangen einige dumpfe Laute. „Halt!“ – rief Machulke. „Nehmen Sie die Gasmaske ab, damit wir auch etwas hören!“ Er warf Jeremin einen triumphierenden Blick zu. Rotenburg nahm die Gasmaske ab. Sein Gesicht glänzte vor Schweiß. „Los! Drei – vier!“ befahl Machulke. Der Schütze Rotenburg öffnete den Mund und sagte sehr laut und sehr deutlich: „Leck mich am Arsch!“ Machulke riß ungläubig die Augen auf und neigte den schweren Schädel, als habe er schlecht verstanden. Dann lief er gefährlich rot an und brüllte: „Jetzt sind Sie dran, Rotenburg! Jetzt ist ein Tatbericht fällig! Sie kommen sofort mit mir zum Hauptfeldwebel. Und Sie auch, Jeremin! Sie haben es gehört. Der Bursche kann sich nicht mehr herausreden. Befehlsverweigerung vor versammelter Mannschaft!“ Jeremin wandte sich dem Korporal zu, stand stramm und erkundigte sich mit dem dümmsten Gesicht der Welt: „Bitte Herrn Unteroffizier fragen zu dürfen, was ich gehört haben soll?“ „Mensch!“ donnerte Machulke, „Sie haben doch ganz genau gehört, was er Schütze Rotenburg eben zu mir gesagt hat.“ Jeremin schüttelte treuherzig den Kopf: „Bitte Herrn Unteroffizier melden zu dürfen, daß ich gar nichts gehört habe!“ Machulke glotzte von einem Soldaten zum anderen. Dann begriff er. „Gut“, sagte er leise. „Sehr gut! Ich kriege Euch noch. Keine Angst!“ Gleich darauf knallte hinter ihm die Latrinentür ins Schloß. „Danke“, lächelte Rotenburg erschöpft und wischte sich den Schweiß aus den Augen. „Quatsch keine Opern“, erwiderte Jeremin und grinste zufrieden. *
Der Tag der Bataillonsbesichtigung war angebrochen. Sofort nach dem Wecken stürzten die Korporalschaftsführer auf die Mannschaftsstuben. Etwas später tauchten die Zugführer auf, gingen von Gruppe zu Gruppe und winkten milde lächelnd alle zackigen Meldungen ab. In ihren Stimmen schwang ein väterlicher Ton, wenn sie sagten: „Na, Jungens, heute wird sich mal so richtig am Riemen gerissen, was?“ „Diese Spinner“, flüsterte Burkhard. „Sonst heben sie ihren faulen Hintern erst fünf Minuten vor dem Raustreten aus der Falle, und heute kreiseln sie herum wie die Irren.“ Jeremin nickte geistesabwesend. Er hatte die Aufgabe übernommen, den Gefreiten Schmidt kampfunfähig zu machen. Rotenburgs Plan konnte nur gelingen, wenn Schmidt bei der Besichtigung fehlte. Machulke betrat die Stube und grunzte etwas, das sich die Soldaten als Morgengruß auslegen konnten. Dann setzte er sich auf den gescheuerten Eßtisch. „Mal herhören, Leute! Wenn ihr heute nicht die beste Gruppe der Kompanie seid, dann wird es bis zu eurer Entlassung nicht mehr viel geben, über das ihr euch freuen könnt. Sollte aber einer dem Herrn Major persönlich auffallen, dann bügle ich dem Betreffenden die Kerbe aus dem Hintern.“ Nach dieser kernigen Ansprache warf er Rotenburg und Jeremin einen finsteren Blick zu und ließ sich von allen Soldaten den Brustbeutel und ein sauberes Taschentuch zeigen. Das hatte einen guten Grund. Der Kommandeur, Major Janke, pflegte bei den Besichtigungen eine ausgesprochene Neugier an den Tag zu legen, die sich nicht zuletzt auf Brustbeutel und Taschentücher konzentrierte. Diese in der Heeresdienstvorschrift an letzte Stelle rangierenden Ausrüstungsgegenstände schienen für ihn aus unerfindlichen Gründen eine bedeutsame strategische Rolle zu spielen. Major Janke war genau das, was man unter einem „preußischen Offizier alter Schule“ verstand. Seine Offiziere und Unteroffiziere fürchteten ihn ob seiner friderizianischen Logik in dienstlichen Fragen. Er war nicht dumm, aber so geradeaus in seinem Denken, Fühlen und Handeln wie eine Einbahnstraße.
* Die Gruppe machte sich fertig zum Antreten. Aller Augen ruhten verstohlen auf Jeremin. Nur der Gefreite Schmidt wienerte noch ahnungslos an seinen glänzenden Stiefeln herum. Jeremin säuberte mit dem Stubendienst den Eßtisch. Als Schmidt sich dem Tisch näherte, hob Jeremin die schwere Eichenplatte an, brachte sie aus dem Gleichgewicht und ließ sie mit ihrer scharfen Kante den Gefreiten Schmidt auf den Fuß fallen. Schmidt stieß einen Schrei aus und tanzte auf einem Bein in der Stube herum. Zwei Soldaten führten ihn zu seinem Bett und halfen ihm dabei, den Stiefel auszuziehen. Durch die rauhe Wolle der Socke quoll ein wenig Blut. Der Fuß schwoll an. „Tut mir leid“, sagte Jeremin. „So kannst du natürlich keinen Dienst machen“, meinte Burkhard. „Du mußt ins Revier. Ich sage Machulke Bescheid.“ Während der Gefreite fluchend abschnallte, hatte Jeremin das Gefühl, er habe jemanden aus dem Hinterhalt erschlagen. * Hauptfeldwebel Hannemann musterte die angetretene Kompanie und begann feierlich: „Soldaten der ersten Kompanie! Selbstverständlich ist unser Haufen der beste im ganzen Bataillon. Alle Nieten habe ich auf Wache, in die Küche oder auf das Revier geschickt. Ihr könnt euch also nicht herausreden, irgendeine Flasche hätte die Besichtigung versaut. Trotzdem frage ich noch einmal: Fühlt sich einer von euch heute nicht auf Draht? Ich habe noch ein paar Plätze auf der Waffenkammer frei und nehme es keinem übel, wenn er sich meldet.“ Niemand trat vor. „Gut“, nickte der Spieß zufrieden. „Ich sehe, ihr seid alle in Hochform. Das freut mich.“ Im Eingang des Kompaniegebäudes erschien die dürre Gestalt Leutnant Mussils. Hannemann meldete, flüsterte „Hauptmann von links“ und eilte auf seinen Platz. „Augen rechts“, gellte Mussils dünne Stimme.
Hauptmann Endres inspizierte noch einmal die angetretenen Männer. Er war mittelgroß, mittleren Alters und von mittlerer Intelligenz. Sein Leben wurde bestimmt von dem Alptraum, an der Majorsecke hängenzubleiben, von der leidenschaftslosen Zuneigung zu seiner farblosen Zuneigung zu seiner farblosen Frau und von einem sich regelmäßig meldenden Magengeschwür. Er war phantasielos, von absoluter Durchschnittlichkeit – kurz: ein brauchbarer Truppenoffizier der großdeutschen Wehrmacht. Nach einem Blick auf die Uhr entschloß er sich, an diesem Tag der Ansprachen und Ermahnungen keine Ausnahme zu machen. „Männer, ihr wißt, was heute von Euch erwartet wird. Bis jetzt war ich stolz auf meine Kompanie. Ich möchte es auch bleiben. Ist das jedem von Euch klar?“ „Jawohl, Herr Hauptmann!“ schrieen die Soldaten, und manche von ihnen empfanden in diesem erhabenen Augenblick einen leichten Schauer. „Abrücken“, schnarrte Endres. Leutnant Mussil übernahm das Kommando. * Kurz nach neun gellte eine Trillerpfeife über den weiten Exerzierplatz. Die Kompanien erstarrten. Vom Stabsgebäude her näherte sich Major Janke. Neben ihm lief sein viel kleinerer Adjutant, Oberleutnant Brause. Der dienstälteste Kompaniechef meldete das Bataillon. „Weitermachen!“ hallte es über den Platz. Hauptmann Endres befahl für seine Kompanie gruppenweises Exerzieren. Auf diesen Augenblick hatte Machulke gewartet. Wenn der Kommandeur geruhen würde, einen Augenblick die dritte Gruppe zu beobachten, würde er sehr schnell wissen, wer der beste Unteroffizier des Bataillons war und wer das Portepee verdiente. Machulkes Spezialität waren die Kommandos: „Tausend Meter vor, marsch, marsch“ – und das anschließende „Achtung!“ Diese Exerzierübung diente nach Meinung ihrer Erfinder dazu, die Reaktionsfähigkeit der Soldaten zu fördern, damit der Kontakt zwischen Untergebenen und Vorgesetzten auch im feindlichen Feuer nicht verlorengehe. In erster
Linie aber durfte man die Ausführung dieses Kommandos als wirkungsvolle Schaunummer bei Besichtigungen bezeichnen. Jedem Kommandeur mußte doch das Herz im Leibe hüpfen, wenn er beobachtete, wie sich eine blitzschnell über den Platz rasende Korporalschaft nach dem Kommando – Achtung! – in Soldatendenkmale verwandelte. Ein lebender Beweis vorbildlicher Manneszucht. Machulke beobachtete die Gruppe der Offiziere aus den Augenwinkeln und ließ die Soldaten Wendungen ausführen, um ihre Lungen für die geplante Glanznummer zu schonen. Langsam steuerte der Major das Exerzierfeld der ersten Kompanie an. Von dem eifrig auf ihn einredenden Hauptmann Endres unauffällig gelenkt, wandte er sich der dritten Gruppe zu. Endres wußte, daß Machulke sein schärfster Ausbilder war. Er rechnete damit, daß die dritte Gruppe des ersten Zuges aus diesem Grunde auch am besten funktionieren würde. Außerdem lag der Beförderungsantrag des Unteroffiziers zur Unterschrift bereit. Bei Vorlage der Akte würde sich der Kommandeur zweifellos an den tüchtigen Unteroffizier erinnern. „Hoffentlich scheucht er uns, dann klappt alles“, flüsterte Burkhard. „Achtet auf mein Kommando“, zischte Rotenburg vom rechten Flügel. Der Major blieb stehen und beobachtete wohlgefällig die abgemessenen Bewegungen der Soldaten. Interessiert trat er näher. Machulke drückte seinen mächtigen Brustkasten heraus und donnerte: „Achtung! Dritte Gruppe tausend Meter vor, marsch, marsch!“ „Jetzt –“, flüsterte Rotenburg, als die Gruppe davonstob. Befriedigt konstatierte der Kommandeur, wie die Soldaten mit affenartiger Geschwindigkeit über den Exerzierplatz flitzten, den Karabiner vorschriftsmäßig in der Waagerechten. Machulke gestattete sich einen raschen Blick auf die zufriedenen Gesichter der Offiziere und brüllte mit beachtlicher Lautstärke: „Achtung!“ Aber die Rekruten blieben nicht befehlsmäßig wie angewurzelt stehen, sondern rasten mit unverminderter Geschwindigkeit weiter. Major Janke hob überrascht die borstigen Augenbrauen. Endres zuckte zusammen, und der Korporal schrie ein zweites Mal aus Leibeskräften: „Achtung!“ Die dritte Gruppe schien Tempo zuzulegen.
„Öhum“, räusperte sich der Kommandeur gefährlich. Machulke hatte die Vision eines auf sich zurasenden D-Zuges. Er begann vor Aufregung zu schwitzen. „Achtung, Achtung, Achtung!“ schrie er fast bittend. Das Augenlid des Hauptmanns zuckte nervös, und sein Magengeschwür meldete sich schmerzhaft. „Holen Sie Ihren verdammten Sauhaufen zurück!“ bellte er. „Achtung! Achtung! …“ – Machulke lief mit weichen Knien hinter der Gruppe her. Aber die Soldaten behielten ihre Geschwindigkeit bei und änderten ihre Richtung nicht. Stur liefen sie durch das Exerzierfeld der zweiten Kompanie. Das ganze Bataillon verfolgte mit schadenfrohen Blicken den ungeheuerlichen Vorgang. Die Chefs der zweiten und dritten Kompanie dankten Gott und allen Heiligen, daß ihnen das nicht passiert war. Die Gruppe hatte die Mauer des Exerzierplatzes erreicht und trat dort auf der Stelle. Machulke kam mit jagenden Pulsen angerannt und keuchte ein letztes: „Achtung!“ Sofort vollführten die Soldaten die vorschriftsmäßige Kehrtwendung und erstarrten in vorbildlicher Grundstellung. Der Unteroffizier glotzte jeden einzelnen aus leeren Augen an und krächzte: „In Linie zu einem Glied angetreten. Das Gewehr über, links um, ohne Tritt marsch!“ Interessiert hatte der Major die Vorgänge an der fernen Kasernenhofmauer beobachtet. Er räusperte sich erneut und wandte sich an Endres: „Herr Hauptmann, seit wann habe ich eine Korporalschaft Schwerhöriger in meinem Bataillon?“ Das Magengeschwür des Hauptmanns zog sich schmerzhaft zusammen. Er legte die Hand an die Mütze: „Bitte Herrn Major melden zu dürfen, daß die Männer meines Erachtens durch den starken Gegenwind den Befehl des Unteroffiziers nicht hören konnten!“ Vielleicht läßt er mir die goldene Brücke – dachte er. Aber der Major neigte nicht zu derartigen Inkonsequenzen. Er erkundigte sich bei seinem Adjutanten: „Herr Brause, woher weht der Wind?“ Oberleutnant Brause konnte Endres nicht leiden. Eifrig trat er einen Schritt vor, befeuchtete seinen Zeigefinger mit Speichel, hob den Finger in die Luft und machte ein äußerst konzentriertes Gesicht.
Nach einigen Sekunden nahm er Haltung an: „Melde Herrn Major gehorsamst, daß gar kein Wind weht.“ „Es weht kein Wind“, wiederholte der Kommandeur und sah Endres abwartend an. „Es ist mir unerklärlich, warum die Soldaten das Kommando des Unteroffiziers nicht gehört haben“, bemerkte Endres schwach. „Sie sind also tatsächlich der Ansicht, daß die Soldaten den Befehl nicht gehört haben?“ fragte Janke. „Es ist mir unerklärlich…“, wiederholte Endres. „So -!“ der Kommandeur schnitt ihm den Satz ab. Seine Stimmbänder schienen aus Stahl: „Es ist Ihnen unerklärlich! Wieso ist Ihnen in Ihrer Kompanie etwas unerklärlich, was für mich durchaus erklärlich ist?“ Endres schwieg verstört. „Ihr Schweigen“, grollte der Major, „überzeugt mich davon, daß Ihre Einheit aus lauter Taubstummen besteht.“ „Bitte Herrn Major melden zu dürfen…“ „Herr Hauptmann, ich werde mir erlauben, Ihnen das soeben erlebte Phänomen zu erklären. Die Soldaten wollten ihren Unteroffizier auffallen lassen. Was schließen Sie daraus?“ „Ich werde eine Untersuchung einleiten…“ „Es interessiert mich nicht zu erfahren, was Sie zu tun beabsichtigen, sondern was sie aus dem Verhalten Ihrer Gruppe schließen.“ „Ich schließe daraus, daß irgendein Schweinehund seine Kameraden zur Befehlsverweigerung aufgehetzt hat.“ „So“, der Kommandeur sah den Hauptmann eisig an. Dann explodierte er: „Wissen Sie, was ich aus dem Verhalten Ihrer Männer schließe? Ich schließe daraus, daß das Vertrauensverhältnis zwischen Mannschaften und Ausbildern ein verheerendes sein muß. Ich bin entsetzt über die Zustände in Ihrer Einheit. Sollte ich aber auch noch einen Tatbericht auf meinem Schreibtisch vorfinden und damit gezwungen sein, diese skandalösen Tatbestände zur Kenntnis des Herrn Regimentskommandeurs bringen zu müssen, so werde ich Ihre Meldung mit dem Vermerk versehen, daß Sie, Herr Endres, nicht in der Lage sind, in Ihrer Einheit für Ordnung und Disziplin zu sorgen. In meinem Bataillon gibt es keine Meutereien, hat es nie gegeben und wird es auch nicht geben. Auch keine unfähigen Kompaniechefs. Guten Morgen!“ Brüsk wandte er sich ab und stelzte, gefolgt von seinem Adjutanten, in den Exerzierbe-
reich der zweiten Kompanie. Endres blieb wie versteinert stehen und vergaß die Hand vom Mützenrand zu nehmen. * Nach Dienstschluß dieses denkwürdigen Tages zog die dritte Gruppe geschlossen in Kulickes Kneipe, um den Sieg über Machulke zu feiern. Erstaunlicherweise hatte beim Wegtreten weder Hauptmann Endres ein Wort über den Vorfall verloren, noch hatte sich Machulke auf der Stube sehen lassen. Die Bierstiefel kreisten, und die Soldaten sangen das schöne Lied vom Sanitätsgefreiten Neumann. Rotenburg war ein wenig betrunken. Er saß neben Jeremin und starrte auf die rohe Tischplatte. Dann griff er wieder nach seinem Glas und sagte: „Der ganze Kommiß ist ein auferlegter Schwindel. Bei der Vereidigung fängt er schon an. Mit Gottesanwesenheit und so. Sie wollen uns nur chloroformieren.“ „Du hättest dich ja weigern können, diesen Eid zu leisten“, meinte Jeremin. „Wir müssen unsere zwei Jahre so oder so herunterreißen. Es hat keinen Zweck, darüber nachzudenken.“ „Es hat keinen Zweck, darüber nachzudenken“, wiederholte Rotenburg wütend. „Das ist es ja eben. Beim Nachdenken kämst du nämlich dahinter, daß sie uns auf Massenmord trainieren, dafür bezahlen und durch Beförderungen prämieren. Einmal werden wir zeigen müssen, was wir gelernt haben. Wenn der Befehl zum Angriff kommt.“ Jeremin sah seinen Freund überrascht an: „Fritz, du spinnst. Niemand will Krieg. Deutschland am allerwenigsten. Wir haben gerade erst einen verloren.“ „Eben drum“, murmelte Rotenburg. „He“, schrie Maurer vom anderen Tischende, „wollt ihr nicht auch einen ausgeben?“ * Zur gleichen Stunde lag Machulke auf seinem Bett und starrte die gekalkte Zimmerdecke an. Er traute sich nicht in die Kantine. Er fürchtete
den Spott der anderen Unteroffiziere. Er glaubte, noch nie in seinem ganzen Leben so gedemütigt worden zu sein wie an diesem Vormittag. Sie hatten ihn, ihren Herrn, fertiggemacht, die elenden Knechte! Machulke war immer der Meinung gewesen, seine Tressen seien ein hinreichender Schutz gegen die als Soldaten verkleideten Zivilisten, die einer Welt angehören, aus der er geflohen war. Kompromisse zu schließen oder gar Konzessionen zu machen, war nicht Art des Unteroffiziers. Für ihn gab es nur Starke und Schwache, Macht und Angst, treten und getreten werden. Seit Jahren lebte er in der dumpfen Zufriedenheit, oben zu sein und Macht zu besitzen, die unantastbar war und im eisernen System des preußischen Militarismus wurzelte. An diesem Vormittag aber hatten ihn seine Tressen im Stich gelassen. Eine Welt war zusammengebrochen. Machulke hatte plötzlich Angst. Er fürchtete um seine Tressen, die ihm mehr bedeuteten als das Licht seiner Augen. Unruhig wälzte er sich auf dem Feldbett. Er wußte, daß seine Beförderung zum Feldwebel in nebelhafte Ferne gerückt war. Er wußte, daß man sich in dieser Stunde über ihn lustig machte. Morgen – dachte er. Morgen werde ich wieder vor ihnen stehen! Ich werde ihnen zeigen, was los ist! Ich werde sie schleifen, bis sie mir ihre dreckigen Lungen vor die Füße kotzen. Ich mache sie kaputt! Morgen – dann schlief er ein. * Zur gleichen Stunde kauerte Renate mit angezogenen Beinen in einem tiefen Sessel neben der Couch. Ihr Vater lag auf dem Rücken und sah dem Rauch seiner Zigarre nach. „Es wäre besser, du würdest zu deiner Mutter nach Luzern fahren“, sagte er. „Irgendwann werde ich nachkommen.“ „Du würdest nicht nachkommen“, lächelte Renate. „Du wärst unglücklich in der Schweiz. Wovon sollten wir auch leben? Hier hast du deine Praxis.“ „Wenn es Krieg gibt, wird man mich einziehen. Du wirst allein sein.“
„Paps“, das Mädchen glitt vom Sessel und setzte sich zu ihm auf die Couch. „Es wird keinen Krieg geben. Und wenn doch, werde ich hier auf dich warten.“ Er streichelte ihre Hand. „Einmal wirst du mich ja doch allein lassen, wenn du heiratest. Übrigens – was macht dein musikalischer Freund aus der Kaserne?“ Renate wurde verlegen. „Er ist doch nicht mein Freund. Wir haben uns nur zweimal gesehen. Vielleicht gehen wir Samstag tanzen. Er ist ja noch fast ein Kind.“ „Dieses Kind trägt aber eine Uniform. Und vielleicht trägt es diese Uniform gern. Du weißt, was ich meine?“ Das Mädchen schwieg einige Sekunden. Dann sagte sie: „Er weiß, daß Mutter Jüdin ist. Ich habe es ihm erzählt.“ „Warum?“ Herxheimer stützte sich auf. „War das nötig? Man sollte am besten gar nicht darüber sprechen. Wie hat er reagiert?“ An der Haustür wurde geklingelt. Renate lief hinaus und kam gleich darauf mit dem Oberstleutnant zurück. „Ah, Bommelsdorff“, der Arzt erhob sich von der Couch. „Wie nett, daß Sie uns besuchen!“ Der Offizier ließ sich in einen Sessel fallen. „Es liegt allerhand in der Luft. Ab morgen sind die Lebensmittel rationiert. Es wird Karten geben wie im Weltkrieg. Ich glaube, Sie hatten recht. Hitler wird marschieren.“ „Polen“, sagte Herxheimer leise. „Und dann Frankreich. Und dann -?“ „Gibt es was neues“, fragte Renate. Sie hatte zwei Kognakgläser geholt und schenkte ein. „Wahrscheinlich gibt es Krieg“, Bommelsdorff steckte umständlich seine Zigarre an. „Am besten fahren Sie noch heute in die Schweiz.“ „Ich fahre nicht in die Schweiz. Wieso sollte ich?“ Das Mädchen setzte dich wieder auf die Couch. „Vielleicht werden Sie Schwierigkeiten haben“, sagte der Oberstleutnant. „Sie sind Mischling ersten Grades.“ „Wen interessiert das?“ fragte das Mädchen. Bommelsdorff sah sie verblüfft an. „Die Behörden natürlich. Die Partei.“ „Sie auch?“
„Renate“, Herxheimer griff zu seinem Glas, „sei nicht albern. Bommelsdorff hat recht. Er sagt diese Dinge doch nicht, um dich zu kränken.“ „Verzeihung. Ich weiß.“ „Man wird Ihren Vater einziehen. Sie sind dann allein. Zum Glück ist der Kleine ja nun auch in Luzern“, meinte der Offizier. „Wenn Sie aber allein sind, wird man Sie vielleicht zu irgendwelchen Arbeiten heranziehen. Man wird Ihre Papiere überprüfen, Sie werden in die Behördenmühle geraten – und dann kommt es auf den Mann an, der Ihre Akte bearbeitet. Sie werden sehr vorsichtig sein müssen.“ „Ich habe niemandem etwas getan.“, sagte das Mädchen heftig. „Sei vernünftig und fahre zu Mutter nach Luzern“, bat Herxheimer. „Ich denke nicht daran!“ Renate stand auf und verließ das Zimmer.
II Hitler-Befehl: „…Ziel ist die Beseitigung der lebendigen Kräfte, nicht die Erreichung einer bestimmten Linie. Auch wenn im Westen Krieg ausbricht, bleibt die Vernichtung Polens im Vordergrund. Ich werde den propagandistischen Anlaß zur Auslösung des Krieges geben, gleichgültig, ob glaubhaft oder nicht. Der Sieger wird später nicht danach gefragt, ob er die Wahrheit gesagt hat oder nicht. Bei Beginn und Führung des Krieges kommt es nicht auf das Recht an, sondern auf den Sieg.“
Nr. 62 519 wälzte sich auf der harten Pritsche. Alle Knochen des dürren Körpers schmerzten. Aber er merkte es nicht. In seiner Seele brannte die Verzweiflung. O du Gott – dachte der Mann -, wenn es dich wirklich gibt, warum schlägst du nicht zu? Warum bist du gut zu den Tieren und schlecht zu den Menschen? Eine Maus quält keine Maus. Ein Löwe quält keinen Löwen, ein Spatz quält keinen Spatz. Du hast es verboten. Aber die Menschen dürfen einander quälen und töten. Warum schlägst du nicht zu? Gib wenigstens ein Zeichen, du Gott, damit wir nicht an dir verzweifeln. Die Barackentür flog auf. Grelles Licht flammte von der Decke. Untersturmführer Becker stemmte die Fäuste in die Seiten. Hinter ihm standen zwei Posten. Entkräftet und unbeholfen krochen die erbärmlichen Gestalten unter ihren Fetzen hervor und standen neben den Pritschen. Der Barackenälteste meldete. Das gesunde dicke Gesicht des Untersturmführers glühte. Anscheinend hatte er getrunken. Langsam wanderte er durch die Baracke.
Die mißtrauischen Augen der Häftlinge folgten ihm. Becker blieb vor Nr. 62 519 stehen: „Zieh dich an.“ Langsam schritt er weiter: „Du auch und du auch. Los, wird’s bald?“ Die Häftlinge zogen die gestreiften Kittel über. „Mitkommen!“ schweigend verließen sie den stickigen Raum. Draußen warteten andere Häftlinge. „Antreten!“ schrie Becker. Der jammervolle Haufen formierte sich. Breitbeinig stand der Untersturmführer vor der Front. In den vor Hunger übergroßen Augen las er zu seiner Zufriedenheit nackte Angst. „Ihr braucht keine Angst zu haben“, höhnte er. „Der Führer gibt euch die Chance eures Lebens. Wir veranstalten jetzt einen kleinen Maskenball. Jeder von euch wird seine ihm zugewiesene Rolle anständig bis zum Schluß spielen. Hat alles geklappt, so seid ihr frei und könnt gehen, wohin ihr wollt. Links um, ohne Tritt marsch!“ Nr. 62 519 starrte hinauf zu den funkelnden Sternen. Herr – dachte er -, ist das dein Zeichen? Hast du uns wirklich nicht vergessen? Sie wurden in eine leere Baracke geführt. In einer Ecke lag ein Stapel sauberer Uniformen. Daneben standen Stiefel und Lederzeug. „Los, zieht das an“, befahl Becker. „Nehmt euch Zeit. Ihr sollt anständig aussehen.“ Polnische Uniformen – dachte Nr. 62 519 verwirrt. Warum sollen wir polnische Uniformen anziehen? Was für eine Teufelei haben die mit uns vor? Er betastete das rauhe Tuch. Als sie wieder auf dem Hof standen, brüllte der Untersturmführer vor Lachen. „Kleider machen Leute, ihr Dreckhaufen.“ Langsam schritt er die Reihe der Häftlinge ab. Vor Nr. 62 519 blieb er stehen. „Bitte vorbeigehen zu dürfen, Herr Major!“ Der Häftling verstand nicht. „Na los, willst du mir nicht gestatten, vorbeizugehen? Du bist doch Major!“ Wieder schüttelte er sich vor Lachen. Nr. 62 519 tastete über seinen Kragenspiegel. Er trug die Rangabzeichen eines polnischen Majors. Der Untersturmführer baute sich stramm vor ihm auf und grüßte. „Willst du nicht zurückgrüßen?“ schrie er. Nr. 62 519 hob die Hand an den Mützenschirm. Zwei Lkw brummten heran. „Aufsitzen!“ schrie Becker. Mühsam kletterten die Häftlinge auf die Wagen.
Einige SS-Männer blockierten die der Zeltplane am nächsten gelegenen Plätze. Als alle drin waren, wurde die Plane zugeknöpft. Der Motor sprang an. Sie fuhren. Jetzt sind wir am inneren Tor, dachte Nr. 62 519, als der Wagen kurz hielt. Schlüssel klirrten. Dann passierten sie das äußere Tor. Der Lkw brummte über eine glatte Landstraße. Draußen wartet die Freiheit, dachte Nr. 62 519. Zwischen der Welt und uns liegt kein starkstromgeladener Stacheldraht mehr – nur noch die dünne Zeltplane. Ein Messer müßte man haben. Ein raschen Schnitt, und dann sich fallen lassen. Vielleicht hätte ich Glück. Er tastete mit der Hand über das kühle, feste Ruch der Plane. Aber nirgends fand er ein kleines Loch, das man hätte aufreißen können. Einer der Posten rauchte. Durch das Dunkel glühte rot die Spitze der Zigarette. Die Häftlinge machten begierig runde Nasenlöcher. Der Rauch zog in Schwaden durch den Laderaum des Wagens. Plötzlich hielten sie. Die Plane wurde aufgeknöpft. „Raus“ klang eine Stimme. Es war immer noch dunkel. Sie befanden sich auf einer Chaussee. Rechts und links die Umrisse schlafender Häuser. Zwei weitere Lkw tauchten aus der Nacht, hielten mir abgeblendeten Lichtern. Und plötzlich wimmelte es von Männern in polnischen Uniformen. Aber diese anderen waren bewaffnet. Das sind keine von uns, dachte Nr. 62 519 erschrocken. Die Uniformen saßen prall auf den gutgenährten Körpern, und plötzlich entdeckte er den Untersturmführer Becker. Auch er trug eine Litewka und eine polnische Offiziersmütze. In der Faust hielt er eine schwere „08“. „Los!“ brüllte jemand. Alle liefen, auch die Häftlinge. Ihnen folgte ein Teil der SS-Leute in polnischer Uniform. Schüsse bellten, Fensterscheiben splitterten. In einzelnen Häusern flammte Licht auf. Sie aber rannten weiter. Da wuchs in der Dunkelheit ein großes Gebäude vor ihnen auf, dahinter ein Sende-
mast. Handgranaten detonierten vor dem Portal des Gebäudes, die Flügeltüren sprangen auf. Verwirrt blieb Nr. 62 519 stehen. Er blickte sich um, suchte nach einem Fluchtweg. Da sah er entsetzt, wie einige SS-Leute die Waffen auf die Häftlinge richteten. Maschinenpistolen knatterten. Die ersten dürren Gestalten schlugen in den Schmutz der Straße. Plötzlich tauchte die breite Gestalt des Untersturmführers auf. „Nein!“ – schrie die Nr. 62 519, „ihr habt uns versprochen, wir sollen frei sein. Wir sollen nur eine Tolle spielen.“ „Du mußt sie zu Ende spielen“, lachte Becker höhnisch. „Weißt du, was du für eine Rolle hast? Du spielst eine polnische Offiziersleiche. Siehst du – so…“ Nr. 62 519 starrte auf die Pistolenmündung. Ist das dein Zeichen, du verdammter Gott – dachte er verzweifelt, ist das –? Grell sprang das Mündungsfeuer auf. Sein Kopf schien zu platzen. Er sackte zusammen. Becker feuerte noch zweimal. „Idiot“, sagte ein Sturmführer neben ihm scharf, „fällt euch nichts anderes ein, als den Kerlen in den Kopf zu schießen? Das wirkt doch unecht. Schießt ihnen in den Bauch und in den Hals…“ * Als die ersten Schüsse durch die Nacht bellten, ging der polnische Landarbeiter Tadeusz Bronski gerade auf den nahen Grenzübergang zu. Erschrocken tastete er nach dem Passierschein, der in der Tasche seines Hemdes steckte. Dann sah er die heranrasenden Lastwagen, hörte das Kreischen der Bremsen, bewaffnete Gestalten huschten durch das Dunkel, Mündungsfeuer zuckten, Maschinenpistolen knatterten. Bronski warf sich in den mit hohem Gras bewachsenen Straßengraben. Genagelte Stiefel stampften an ihm vorüber, Pistolenschüsse peitschten ganz in der Nähe, er hörte halblaute deutsche Befehle, Männer schrieen auf, ihre Stimmen erstarben in gurgelndem Stöhnen, ein Maschinengewehr hämmerte, Glas splitterte, Handgranaten detonierten dumpf. Der Landarbeiter Bronski wurde von Entsetzen geschüttelt.
Seine Finger krallten sich in die lehmigen Wände des Grabens. Den Kopf in das staubige Gras gepreßt, erwartete er irgend etwas Furchtbares, Grauenhaftes. Aber ihm geschah nichts. Der Kampflärm verstummte plötzlich, schwere Motoren heulten auf, die Wagen zogen an, ihr Brummen verlor sich in der Ferne. Nur ein seltsames Geräusch, ganz in seiner Nähe, blieb. Bronski hob zitternd den Kopf. Da hörte er es deutlicher, es war ein entsetzliches Stöhnen. Der Pole versuchte in der Dunkelheit etwas zu erkennen. Er richtete sich langsam auf. Als er über den Grabenrand blickte, zuckte er entsetzt zurück. Vor ihm lag zusammengekrümmt ein Mensch, Blut stand in einer schwarzen Lachen neben dem Schädel. Und aus diesem zerschossenen Schädel kam das entsetzliche Stöhnen. „Maria und Josef“ – betete Bronski, „steht mir bei.“ Wieder richtete er sich auf und beugte sich über den Sterbenden. Ein polnischer Offizier, dachte er erschrocken, ein Major. Einer unserer Leute. Es ist doch kein Krieg. Was haben unsere Soldaten auf der deutschen Seite zu suchen? Der Sterbende murmelte etwas. Er schien bei Besinnung. Bronski sprach rasch auf ihn ein: „Ich werde Sie hinüberbringen, Herr Major. Ich werde Ihnen helfen.“ Aber Nr. 62 519 verstand kein Polnisch. „Gott, du verdammter Gott“, murmelte er, „du hast uns verraten.“ Bronski beugte sich dicht über den Major. Er spricht deutsch – dachte er verblüfft, wieso spricht er deutsch? Nr. 62 519 versuchte sich aufzurichten. Er starrte in das nahe Gesicht des polnischen Landarbeiters. „Man hat uns in die Uniformen gezwungen“, keuchte er. „Wir sind keine Polen, wir sind deutsche KZ-Häftlinge. Sagen Sie es allen, allen, die ganze Welt soll – „ Stöhnend brach er wieder zusammen. Ein Zucken ging durch den ausgemergelten Körper. Dann lag er ganz still. Bronski richtete sich auf und wich langsam von dem Toten zurück. Er versuchte zu begreifen, was er eben gehört hatte. Dabei wurde ihm klar, daß er in höchster Gefahr schwebte. Wie gehetzt sprang er über den Straßengraben und rannte auf den schützenden Waldrand zu, in Richtung Grenze.
* In den frühen Morgenstunden dieser Nacht saß der Gefreite Immelmann vor dem Klappenschrank der Bataillonsvermittlung. Er gähnte und überlegte, ob er alle Stöpsel ziehen und Leitungsprobe markieren solle, um sich eine halbe Stunde aufs Ohr zu legen. Um diese Zeit rief sowieso kaum jemand an. Sein nächtliches Plauderstündchen mit dem Fräulein vom Amt hatte er bereits beendet. Leise surrend fiel eine Klappe. Nanu – dachte Immelmann und stöpselte. Noch bevor er sich melden konnte, schnarrte eine aufgeregte Stimme: „Hier Oberst von Plauen. Verbinden Sie mich sofort mit Major Janke.“ So ein Witzbold, dieser Franz von der dritten Kompanie, dachte Immelmann. Gibt sich als Regimentskommandeur aus. Vorige Woche hat er als General Fitzliputz angerufen. „Mach keine Witze, Franz“, sagte Immelmann. „Auf den Quatsch falle ich nicht mehr rein. Wenn ich den Alten wecke, hängst du auf. Was gibt’s denn Neues?“ „Mensch, sind Sie wahnsinnig“, tobte die Stimme am anderen Ende der Leitung. „Verbinden Sie mich sofort mit Major Janke.“ „Reg dich ab“, riet Immelmann seinem unsichtbaren Gesprächspartner, wurde aber doch etwas unsicher. Einen Augenblick blieb es ruhig in der Leitung. Man hörte nur das aufgeregte Schnaufen eines Mannes. Dann wurde der Hörer anscheinend auf einen Tisch geknallt. Verschiedene Stimmen sprachen durcheinander. Komisch – dachte Immelmann, da stimmt etwas nicht. Plötzlich tönte eine andere Stimme. Höher und schärfer: „Hier Regimentsadjutant Hauptmann Vonhoff. Wenn Sie Idiot nicht in drei Sekunden die von Herrn Oberst gewünschte Verbindung herstellen, dann komme ich in Ihre Vermittlung. Wissen Sie, wer hier spricht?“ Donnerkacke – dachte der Gefreite Immelmann. Er kannte Vonhoffs Stimme genau. Kalte Schweiß trat auf seine Stirn. Mit zitternden Händen unterbrach er die Verbindung. Sofort fiel die Klappe aufs neue. Der Soldat griff nach einem Stück Durchschlagpapier, stöpselte, hielt das Papier über die Muschel und meldete sich. „Erstes Bataillon, Stabs-
vermittlung, Gefreiter Immelmann.“ Wieder schnarrte die Stimme Vonhoffs: „Habe ich eben mit Ihnen gesprochen?“ „Nein“, antwortete Immelmann durch das Papier, „mit wem spreche ich?“ Er hörte, wie Vonhoff zu jemand sagte: „Wir waren anscheinend verkehrt verbunden. Immer diese Idioten von der Regimentsvermittlung.“ Dann dröhnte der Baß des Obersten: „Verbinden Sie mich mit Major Janke.“ „Sofort.“ Immelmann stellte die Verbindung her. Entgegen aller Vorschriften blieb er in der Leitung. Janke meldete sich. Seine Stimme klang verschlafen. „Muß Sie leider stören“, hörte Immelmann den Oberst sagen. „Polnische Einheiten haben den Sender Gleiwitz angegriffen und vorübergehend besetzt. Bitte verfahren Sie gemäß GeKaDoS Nr. 7265 Absatz 2. Haben Sie verstanden?“ Der Gefreite Immelmann vergaß den Stöpsel zu ziehen. Als Stabsbulle und Freund des Bataillonsschreibers wußte er, daß die „Geheime Kommandosache Nr. 7265“ die allgemeine Mobilmachung betraf. „Donnerkacke“, murmelte er wieder, „jetzt ist es mit der ruhigen Kugel vorbei. Diese dreckigen Pollacken!“ * Im Westen aber blieb alles ruhig. Zwar hatten Frankreich und England den Kriegszustand mit Deutschland proklamiert, aber sie begannen keine Offensive, um dem verbündeten im Osten zu helfen. Polen fiel nach achtzehn tagen. Die Fanfaren der Sondermeldungen dröhnten aus allen Lautsprechern. Nur hin und wieder hörte man etwas von erbitterten Straßenkämpfen in Warschau. Es sollte eine Unmasse von Toten auf polnischer Seite gegeben haben. Warum haben die verdammten Polskis auch angefangen, dachte der deutsche Durchschnittsbürger. Hätten sie Danzig und den Korridor herausgerückt und den hinterhältigen Überfall auf den Sender Gleiwitz unterlassen – jetzt sollen sie sich nicht beklagen! Die ersten Eisernen Kreuze wurden verliehen, die ersten Gefallenenanzeigen erschienen in den Zeitungen, und die ersten Mütter zeigten den Verlust ihrer Söhne in „stolzer Trauer“ an.
„In stolzer Trauer“, sagte Rotenburg und zerknüllte das Zeitungsblatt. „Hat man schon jemals so etwas Perverses, Widerwärtiges gelesen? Kannst du dir deine Mutter vorstellen, daß sie stolz ist, wenn du irgendwo armselig verreckst? Sie, die dich aufgezogen hat, die an deinem Bett zitterte, wenn du krank warst, die Angst hatte, wenn draußen Nord- oder Ostwind im Herbst wehte, Angst um deine zarte kleine Lunge. Sie soll stolz sein – wenn du abkratzt? Was sind wir doch für ein erbärmliches Volk von Lügnern.“ Jeremin sah ihn erschrocken an: „Was ist denn mit dir los?“ „Ist deine Mutter auch stolz, wenn du verblutest?“ schrie Rotenburg fast. „Los, antworte mir.“ „Nein, natürlich nicht“, antwortete Jeremin, ohne die Erregung des Freundes zu begreifen. „Sie würde wahrscheinlich sehr unglücklich sein.“ „Na also“, seufzte Rotenburg. „Aber wenn wir fallen, dann fallen wir auch für diese Weiber, die ihrem Ortsgruppenleiter, ihrem Kreisleiter, Ihrem Führer anläßlich des Todes ihres Sohnes noch mit einer Anzeige in den Hintern kriechen. Es ist zum Kotzen!“ Eine Weile war es still zwischen den beiden. Jeder hing seinen eigenen Gedanken nach. „Gut, daß die Ausgangssperre vorbei ist“, versuchte Jeremin dann abzulenken. „Heute abend dürfen wir wieder aus der verdammten Kaserne raus. Nächste Woche soll es Urlaub geben.“ Rotenburg steckte sich eine Zigarette an: „Du gehst wohl zu deiner Renate?“ „Ich will mal sehen, ob sie da ist.“ „Mann“, Rotenburg schüttelte den Kopf. „Hast das Mädchen zweimal gesehen und erzählst mir seitdem lange Romane von ihr. Dich hat’s aber anständig erwischt.“ „Blödsinn. Hast du noch nie erlebt, daß man einen Menschen kennenlernt und plötzlich das Gefühl hat, man sei schon seit vielen Jahren befreundet?“ „Hoffentlich gehört sie nicht auch zu den Frauen, die – wenn sie einen Sohn hätten, in stolzer…“ „Nein“, unterbrach ihn Jeremin heftig. Er zögerte einen Augenblick. Da er Rotenburgs Einstellung zu diesem Problem aber kannte, wagte er zu sagen: „Ihre Mutter ist Jüdin.“
Rotenburg pfiff durch die Zähne. „Das ist was anderes. Tut mir leid. Sie wird es schwer haben, deine Renate – und du auch.“ „Die Mutter ist in der Schweiz.“ „Das ist gut. Sag deiner Renate einen schönen Gruß von mir.“ „Gern“, Jeremin schnallte um. „Gehst du auch in die Stadt?“ Rotenburg zuckte die Schultern. „Was soll ich dort? Ich gehe in die Kantine und sauf mir einen an. Mir ist heute so danach. Mach’s gut!“ Jeremin verließ die Stube. * Es regnete. Jeremin hastete durch das Dunkel. Er hatte in den letzten Wochen Zeit gehabt, über Renate nachzudenken. Was er für sie empfand, half ihm Rassenvorurteile, die man ihm eingeimpft hatte, abzubauen, und als einer der Kameraden auf der Stube von polnischen Saujuden sprach, zuckte er zusammen und unterdrückte mühsam eine scharfe Antwort. Vorsichtig hatte er an den langen Abenden während der Ausgangssperre bei Rotenburg auf die Judenfrage gebracht, ohne Renate in diesem Zusammenhang zu erwähnen. Der Freund hatte ihn nicht enttäuscht. Fast emphatisch verteidigte Rotenburg die Gleichberechtigung aller Menschen und Rassen. „Menschen zweiter Klasse sind wir Landser vielleicht“, sagte er bitter. „Wir haben uns zum Schlachtvieh degradieren lassen, ohne uns zu wehren. Man hält uns in den Kasernen eingepfercht, und man wird uns nur wieder herauslassen, damit wir sterben dürfen. Die Juden sind viel stolzer und tapferer als wir. Seit Tausenden von Jahren verfolgt man sie, versucht, die in Gettos zu pressen, zu verhöhnen und zu quälen – aber sie haben nie aufgegeben. Sieh uns dagegen an, die Herrenrasse, die stolzen Germanen, zu denen nicht zuletzt auch Herr Machulke gehört, wir jubeln jedem hergelaufenen Diktator zu und lassen uns freudig verheizen.“ „Sprichst du vom Führer?“ hatte Jeremin erschrocken gefragt. „Natürlich, von wem denn sonst. Ob Führer, ob Kaiser Wilhelm – immer brauchen wir einen ‚starken Mann’, der uns sagt, was wir zu tun haben und
wie wir es zu tun haben. Wir sind ein erbärmliches Volk von Schwächlingen.“ Jeremin hatte ihn verständnislos angesehen. „Aber Fritz, wir sind eine starke Nation.“ „Du redest Spruchbänder, Jeremin! Du solltest mehr denken und bessere Bücher lesen. Beschäftige dich mal mit einigen dieser verpönten Juden wie Tucholsky und Feuchtwanger, deren Bücher sie heute verbrennen. Ich habe sie gelesen. Ganze Jahrgänge der ‚Weltbühne’ habe ich durchgestöbert. Meine Mutter hat sie gesammelt. Und was hast du gelesen? Dwinger, Ettighofer. Stimmt’s?“ – Und nun stand Jeremin zum erstenmal seit Wochen wieder vor dem kleinen weißen Haus. Die Fensterscheiben waren fest verschlossen, aber durch die Ritzen schimmerte dem Verdunklungsbefehl zum Trotz gelbes, warmes Licht. Jeremin war aufgeregt. Wochenlang hatte er an Renate gedacht. Wenn er auf Wache stand, hatte er in Gedanken lange Gespräche mit ihr geführt. Ihm war es, als kannte er sie schon lange. Er vergaß völlig, daß er sie erst zweimal in seinem Leben gesehen hatte. Mit jedem Tag war seine Zuneigung zu ihr gewachsen, verstärkt durch das unbestimmte Gefühl, sie gegen eine feindliche Welt, die letztlich seine Welt war, beschützen zu müssen. Aber wie er sie schützen wollte, das wußte er noch nicht. Er wußte nur, daß er das Mädchen gern hatte und daß er alles tun würde, um sie nicht wieder zu verlieren. Während er vor dem kleinen Haus stand, versuchte er sich vorzustellen, wie Renate gleich die Tür öffnen würde, wie sie lächelnd auf ihn zukäme, seine Hände ergriffe und ihn in das Haus hineinführe. Plötzlich war es gar nicht mehr das Haus des Dr. med. J. Herxheimer, sondern sein Haus, das er mit Renate teilte. Er hatte das Gefühl, nach einer langen Odyssee zurückgekehrt zu sein. Und dann erwachte er aus seinen Träumen. Der Regen machte seinen Mantel schwer. Das Wasser lief an seinem Hals herab. Jeremin fröstelte. Er pfiff die Tschaikowskische Melodie. Nichts rührte sich. Er pfiff ein zweites Mal. Langsam breitete sich in ihm eine tiefe Enttäuschung aus. Der Gedanke kam ihm, daß Renate vielleicht gar nicht so viel an ihn gedacht hatte, wie er an sie. Vielleicht hatte sie ihn sogar vergessen.
Unschlüssig beobachtete er das Haus. Dann raffte er sich auf. Schließlich ist Krieg, dachte er. Bald fahre ich auf Urlaub und dann vielleicht sofort an die Front. Soll ich Monate oder Jahre an ein Mädchen denken, von dem ich nicht weiß, ob es überhaupt möchte, daß ich an sie denke? Er ging auf das Gartentor zu und klingelte. Sekunden vergingen. Dann summte der elektrische Öffner. Jeremin drückte das Gartentor auf und ging über den Kiesweg auf das Haus zu. Er hatte ein unbehagliches Gefühl. Wie würde Renate seinen Besuch aufnehmen? Die Tür öffnete sich. „Alex“, rief das Mädchen überrascht. „Wie nett, daß Sie kommen. Ich fürchtete schon, Sie säßen in irgendeinem Schützengraben und hätten mich vergessen.“ Er spürte den Druck ihrer Hand und fühlte, daß sie sich freute. Verlegen sagte er: „Ich habe gepfiffen, zweimal!“ Sie lachte: „Armen Alex. Ich war in der Küche und konnte Sie nicht hören. Kommen Sie herein. Sie können mit uns zu Abend essen.“ „Lieber nicht“, zögerte Jeremin. „Vielleicht kann ich Sie in einer Stunde abholen? Wir haben Ausgang bis Mitternacht. Bald fahren wir auf Urlaub. Wahrscheinlich werden wir nicht mehr lange in den Kasernen bleiben.“ „Erst essen Sie mit uns.“ Renate schloß die Tür und schob ihn in die kleine Diele. Er schnallte zögernd ab. Ein älterer Herr trat aus einem der Zimmer. „Das ist Herr Jeremin, Vater“, sagte Renate schnell. Herxheimer sah den Soldaten prüfend an und gab ihm die Hand. „Ich nehme an, Sie sind der musikalische Freund meiner Tochter. Sie hat mir von Ihnen erzählt.“ „Ich bin gar nicht besonders musikalisch“, antwortete Jeremin verblüfft. „Ich bitte um Entschuldigung, wenn ich störe.“ „Keineswegs.“ Sie gingen in das Eßzimmer. Renate legte ein drittes Gedeck auf. Jeremin fühlte sich unbehaglich. Er spürte, daß der Arzt ihn beobachtete. Das Mädchen brachte Tee aus der Küche, goß ein und reichte die Aufschnittplatte über den Tisch.
„Wann fahren Sie in Urlaub, Alex?“ fragte sie. „In den nächsten Tagen. Nach dem Urlaub werden wir wahrscheinlich im Westen eingesetzt.“ „Dann wollen Sie sicher auch ein Held werden, nicht wahr?“ erkundigte sich der Arzt plötzlich. Jeremin verschluckte sich an einem Stück seines Schinkenbrotes. Auf eine derartige Eröffnung der Konversation war er nicht gefaßt. „Meine Frage überrascht Sie“, lächelte Herxheimer und reagierte nicht auf die vorwurfsvollen Blicke seiner Tochter. „Aber ich bin Arzt und Psychologe und habe nur wenig Gelegenheit, mit jungen Menschen zusammen zu sein. Bald wird man auch von Ihnen verlangen, daß Sie ein Held sind. Es interessiert mich, wie ein junger Mann wie Sie darüber denkt. Möchten Sie ein Held sein?“ Jeremin legte die Gabel zur Seite: „Ich glaube, ich möchte kein Held sein. Ich wollte auch nie erster in meiner Klasse werden oder der beste Rekrut der Korporalschaft. Ich habe keinen persönlichen Ehrgeiz.“ „Warum nicht?“ Der Arzt sah ihn interessiert an. „Es liegt mir nichts daran, bewundert zu werden“, fuhr Jeremin stokkend fort, „man muß nur seine Pflicht tun. Im Kriege und auch sonst.“ „Und was sehen Sie im Krieg als Ihre erste Pflicht an?“ „Man sollte immer fair sein.“ Herxheimer lächelte: „Sie sehen den Krieg wohl als eine Art Sport an? Leider hinkt der Vergleich. Der Krieg ist eine verteufelt ernste Angelegenheit! Aber wir sprachen über den Helden. Vielleicht beruht Ihre unbewußte Abneigung der Rolle des Helden auf der irrigen Vorstellung, der Held sei ein rücksichtsloses geltungsbedürftiges Individuum. Meine Vorstellung ist eine andere. Ich glaube, ein Held ist ein Mann, der nicht nur den Orden, der Titel und der Begeisterung seiner Mitmenschen wegen Außerordentlich leistet. Ich halte einen Mann, der aufrecht und kompromißlos seine Überzeugung vertritt, für einen größeren Helden, besonders, wenn er dabei gegen eine Welt voll Haß und Unverständnis ankämpft. Mein Held trägt in seinem Gepäck nicht den Marschallstab sondern eine ungeheure moralische Verpflichtung.“ „Es gibt Menschen“, sagte Jeremin, „die verweigern den Wehrdienst und lassen sich dafür einsperren. Sind diese Leute für Sie auch Helden?“ „Ja, wenn sie eine bestimmte Überzeugung vertreten. Es gibt da religiöse Überzeugungen, pazifistische – und es gibt auch Menschen, die
sich weigern, eine Waffe zu tragen, weil sie den derzeitig geführten Krieg, seine Hintermänner und deren Ziele ablehnen.“ „Aber das sind doch Märtyrer“, meinte Jeremin. „Sie haben keine Chance. Sie machen sich nur unglücklich.“ „Nein“, sagte der Arzt, „das stimmt nicht. Ihr Beispiel beeindruckt Millionen, und ihrem Heldentum verdankt die Menschheit ihre Weiterentwicklung.“ * Es hatte aufgehört zu regnen. „Bis Mitternacht habe ich Zeit“, sagte Jeremin. „Noch eine knappe Stunde also.“ Renate hing sich bei ihm ein. „An was denken Sie, Alex?“ „Im Augenblick, daß es laut Heeresdienstvorschrift verboten ist, Arm in Arm auf der Straße zu gehen“, antwortete er wahrheitsgemäß. Renate zog ihren Arm zurück. „Sie sind ein dummer Kerl. Mit einem Satz zerstören Sie eine Stimmung.“ „Ich habe doch nur Ihre Frage beantwortet“, Jeremin lächelte. „Hätte ich lügen sollen?“ „Vielleicht –„ „Ich habe ja nicht gesagt, daß ich diese blöde Vorschrift richtig finde. Ich hatte eben nur daran gedacht. Dabei habe ich mich wochenlang darauf gefreut, Sie wiederzusehen.“ Renate hakte sich wieder bei ihm ein: „Warum?“ „Sie fragen wie Ihr Herr Vater“, meinte Jeremin unbehaglich. „Natürlich weil – weil ich Sie eben gern habe.“ Sie blieb stehen und sah zu ihm auf: „Ist das wahr?“ Durch das Dunkel schimmerte matt ihr zartes Gesicht. * Sie hielten sich wie zwei Kinder an den Händen und wanderten durch die Nacht. Vor ihnen wuchsen die gewaltigen Blöcke der Kaserne aus der Finsternis. „Heute bringe ich dich nach Hause“, sagte Renate leise. Kurz vor der Wache blieben sie stehen.
Gleichmäßig knirschten die Schritte des Postens auf dem Kies der Einfahrt. Er faßte ihre Schultern: „Renate, was hältst du davon, wenn ich im Urlaub ein paar Tage zu dir komme?“ „Das kannst du doch nicht machen. Deine Eltern werden es dir übelnehmen.“ „Das ist mir egal. Vielleicht fahren wir schon übermorgen. Dann geht es sicher an die Front. Wer weiß, wann wir uns wiedersehen. Möchtest du denn nicht, daß ich komme?“ „Doch Alex“, sagte sie leise. „Ich rufe dich von zu Hause an. Auf Wiedersehen.“ Ihre Lippen lösten sich. Rasch lief er auf die Wache zu. * „Muß ich nun vor dir stramm stehen oder nicht?“ lachte Jeremin, als ihn der Vater in der Uniform eines Oberstabsarztes vom Bahnhof abholte. „Aber ja doch“, sagte der alte Jeremin und kniff ein Auge zu. „Alle Väter und Söhne sollten Uniform tragen, wenn die Sprößlinge ein gewisses Alter erreicht haben. Dann wäre die Frage unserer schwindenden Autorität sehr schnell gelöst.“ „Und wenn der Sohn Leutnant ist und es der Vater nur bis zum Gefreiten gebracht hat?“ erkundigte sich Jeremin lächelnd. „Nicht auszudenken!“ Der Oberstabsarzt schob seinen Sohn in den bereitstehenden Wagen. Am Abend saßen sie in dem behaglichen Herrenzimmer. Der Vater hatte eine seiner besten Flaschen spendiert. „Paß nur immer gut auf, wenn du an die Front kommst“, sagte die Mutter. „Unsinn“, widersprach der Vater, „was soll denn schon passieren? In einigen Wochen ist der Krieg zu Ende. Paris wird fallen, ehe die Poilus ihre Geschütze in Stellung bringen. Und England – die Tommys werden froh sein, wenn sie auf ihrer Insel in Ruhe gelassen werden.“ „Hast du eigentlich einen Freund bei den Soldaten?“ fragte die Mutter.
Jeremin lächelte: „Ich verstehe mich eigentlich mit allen gut. In unserer Gruppe gibt es einen Rotenburg. Mit dem bin ich befreundet.“ „Rotenburg, Rotenburg –“, wiederholte der Oberstabsarzt. „Ich kannte im Jahre 1915 einen Rotenburg. Verdammt schneidiger Hund. Bekam später den ‚Pour le mérite’. Frag mal deinen Kameraden, ob er mit diesem Rotenburg verwandt ist.“ „Gern, Vater. Aber mein Freund hält nicht viel von Orden und so. Er meint, der Kommiß in seiner heutigen Form sei überholt. Es würde genügen, im Ernstfall sein Land zu verteidigen.“ „Eigentlich hat er recht“, meinte die Mutter. „Was?“, brauste der Oberstabsarzt auf. „Was sind das für idiotische Ansichten? Ich habe die Jahre nach dem letzten Krieg noch gut in Erinnerung. Französische Offiziere trieben im Rheinland die Zivilisten vom Bürgersteig. Das darf es nie wieder geben.“ „Natürlich“, nickte Jeremin. „Mein Freund sagt ja auch nur, man solle nicht andere Länder angreifen, sondern sich auf die Verteidigung der Heimat beschränken.“ „Was versteht ihr junges Gemüse schon von Politik“, brummte der Vater. „Überhaupt ist Angriff die beste Verteidigung.“ Er schob die Zigarrenkiste über den Tisch und lachte wieder. „Am besten denkst du nicht zuviel über Dinge nach, die du noch nicht verstehst. Das kannst du auch deinem Freund Rotenburg empfehlen. Bevor ihr zu Ende gedacht habt, ist der Krieg sicher gewonnen, wir haben unsere Kolonien zurückerobert, du kannst studieren und hast eine großartige Zukunft vor dir. Dann nimmst du dir eine nette Frau und setzt dich in meine Praxis. Überhaupt – wie sehen denn die Mädchen in eurer Garnison aus?“ Jeremin wurde verlegen: „Ich kenne ein sehr nettes Mädchen. Sie heißt Renate.“ „Anständige Familie, will ich hoffen“, der Oberstabsarzt biß die Spitze einer neuen Zigarre ab. „Der Vater ist auch Arzt.“ „Verkehrst du in der Familie?“ erkundigte sich die Mutter. „Der Vater ist sehr nett. Die Mutter von Renate lebt in der Schweiz. Sie ist Jüdin.“ Der Oberstabsarzt nahm seine Zigarre aus dem Mund und legte sie auf den Aschenbecher.
„Ach du lieber Gott“, entfuhr es der Mutter. „Was ist denn dabei?“ fragte Jeremin. „Dafür kann doch Renate nichts.“ Der Vater räusperte sich: „Natürlich kann sie nichts dafür. Aber du weißt doch, wie der Führer in der Judenfrage denkt. Gewiß, es mag anständige Menschen unter den Juden geben. Aber ehrlich gesagt, es wäre mir ziemlich peinlich, eine Halbjüdin zur Schwiegertochter zu haben.“ „Such dir doch ein andres Mädchen“, schlug die Mutter vor. „Denk doch nur an die kleine Christa Haustein. Ihr habt euch doch früher so gut verstanden. Sie ist seit einigen Wochen wieder zu Hause. Du solltest sie einmal besuchen.“ „Christa Haustein interessiert mich überhaupt nicht mehr. Ich habe Renate sehr gern, und ich werde sie in diesem Urlaub einige Tage besuchen“, erwiderte Jeremin ungeduldig. „Wie?“ der Vater sah ihn erstaunt an. „Du willst zu ihr fahren? Mein lieber Junge, das kommt gar nicht in Frage. Du bist noch viel zu jung für solche Eskapaden. Schreib ihr einen Brief. Das dürfte genügen.“ „Ich bin ja auch nicht zu jung, um vielleicht schon in ein paar Wochen zu sterben“, antwortete Jeremin. „Ich habe ihr versprochen zu kommen, und ich werde fahren.“ „Du versündigst dich“, jammerte die Mutter. Der Oberstabsarzt zog nervös an seiner Zigarre. „Gut“, sagte er. „Du kannst zu deiner Renate fahren. Aber mit mir.“ * „Wirst du wiederkommen?“ fragte die zierliche Frau leise. Rotenburg sah in die Glut des herabgebrannten Kaminfeuers: „Ich hoffe es, Mutter.“ Sie schwieg. „Dein Vater sei ein tapferer Mann gewesen, schrieb man mir damals“, begann sie nach einer Weile und ließ ihre Häkelarbeit sinken. „Er stürmte mit seinen Leuten eine Höhe. Aber er kam nie wieder. Fritz, bitte versprich mir, daß du niemals eine Höhe stürmen wirst.“ Rotenburg lächelte: „Ich verspreche es, Mutter.“ „Wird der Krieg lange dauern?“ „Wer soll dir das beantworten können, Mutter. Es hat keinen Zweck, darüber nachzudenken.“
„Vielleicht! Aber ich kann für dich beten.“ Zu wem – dachte Rotenburg. Zu dem, der auf seiten der stärkeren Bataillone ist? Aber er schwieg. Zärtlich küßte er die schlanken Hände der Mutter. * Burkhard und Maurer wischten sich den Bierschaum vom Mund. Sie saßen mit ihren Vätern und einigen anderen Bauern in der Wirtschaft des kleinen Heidedorfes. „Anno achtzehn“, erzählte der alte Burkhard, „da hatten wir einen Hauptmann, der wollte immer noch Paris erobern. ‚Für Kaiser, Gott und Vaterland’ brüllte er bei jedem Artillerieeinschlag. Dann ist der Kaiser getürmt.“ „Und der Hauptmann?“ fragte Maurer. „Der verschob später unseren Troß und wurde ein reicher Mann.“ Die Bauern lachten. „Ja, ja, die Herren Offiziere“, schrie einer, „die verstehen das Kind schon zu schaukeln.“ „Drei Dinge müßt ihr euch merken, ihr Buben“, sagte der alte Burkhard. „Meldet euch nie freiwillig zu etwas, haltet immer die Rübe im Dreck und vergeßt nie, euer Eßbesteck einzustecken. Dann kommt ihr aus dem Mist wieder heraus.“ „Zu jedem Ernteurlaub fordern wir euch an“, versicherte der alte Maurer. „Prima“, riefen die Soldaten und freuten sich. „Fangt gleich nächste Woche damit an. Die Kartoffeln müssen raus.“ * Auch Machulke hatte Urlaub bekommen. Faul lag er auf seiner Stube, versoff sein Verpflegungsgeld und übernahm gegen ein Honorar von fünf Mark freiwillig Sonntagswachen. Dann ließ er sich mit einem Mädchen aus der Bataillonsküche ein, und als er erführ, daß sich Folgen zeigten, fluchte er gotteslästerlich. *
Jeremin hatte Renate angerufen und ihr gesagt, daß sein Vater ihn zwei Tage vor Urlaubsende in die Garnison bringen würde. „Natürlich kommst du mit deinem Vater zum Essen“, schlug das Mädchen vor. „Ach, Alex, ich freue mich.“ Und nun fuhren sie zusammen über die Autobahn. Der Oberstabsarzt trug einen neuen Maßmantel. Seine Schulterstücke glänzten. „Wir sind heute abend bei Renate eingeladen“, sagte Jeremin. „In Ordnung“, der Vater hüllte sich in blaue Rauchwolken. „Ich weiß nicht, ob du mich richtig verstehst, mein Junge. Ich will dich nicht bevormunden, wenn du mal ein Mädchen hast. Ich bin nicht prüde. Aber in diesem Falle – es ist besser für alle Beteiligten, wenn ich mich im die Sache kümmere.“ „Weil ihre Mutter Jüdin ist, nicht wahr?“ „Ja“, sagte der Oberstabsarzt. „Und was willst du machen?“ erkundigte sich Jeremin. „Ich will das Mädchen und ihren Vater erst einmal sehen. Dann können wir uns über diese Sache weiter unterhalten.“ „Sieh mal“, begann Jeremin nach einer Weile. „Wenn ich sie nun sehr liebe, glaubst du, du könntest irgend etwas an den Dingen ändern, wenn du mir verbietest, sie zu sehen oder ihr zu schreiben?“ „Ja“, sagte der Oberstabsarzt, „das könnte ich.“ „Hättest du die in meinem Alter von deinem Vater in solchen Dingen Vorschriften machen lassen?“ „Damals stand das Problem der Juden noch nicht vor uns. Wenigstens nicht in der Form wie heute. Man gefährdet seine Familie nicht wegen eines Flirts.“ „Es ist kein Flirt“, versicherte Jeremin. „Wie oft habt ihr euch denn schon gesehen?“ „Dreimal.“ „Dreimal“, wiederholte der Oberstabsarzt. „Nun sieh mal an! Und jetzt ist das schon die große Liebe. Ich will nicht, daß es erst Komplikationen gibt. Hätte ich dich allein fahren lassen, so hättest du vielleicht mit ihr geschlafen. Möglicherweise wäre ein Kind auf die Welt gekommen. Ein Kind muß man auf dem Standesamt anmelden. Die Behörden schalten sich ein. Man fragt nach dem Vater des Kindes. Du vergißt, daß es in Deutschland Rassengesetze gibt, mein Junge. Ich mische mich nicht
in deine Angelegenheiten, weil ich ein moralinsaurer alter Herr bin, sondern weil ich Schwierigkeiten sehe, die du noch nicht übersiehst.“ Jeremin schwieg. Er starrte auf das graue Band der Straße. Plötzlich wandte er sich dem Vater zu: „Bitte, beantworte mir eine Frage.“ „Natürlich.“ „Was hältst du von den Nazis?“ Der Oberstabsarzt nahm den Fuß vom Gashebel. „Was? Du stellst deinem Vater eigenartige Fragen, mein lieber Junge.“ „Ich bin kein Junge mehr. Ich bin ein Mann, und ich habe die Arbeit eines Mannes zu tun. Ich bin Soldat, und ich bitte dich, mir meine Frage zu beantworten. Es ist sehr wichtig für mich.“ Der Oberstabsarzt fuhr den Wagen rechts heran, schaltete die Zündung aus und suchte nervös nach seiner Zigarrentasche. „Du stellst die Frage wegen Renate?“ „Ja. Aber nicht nur deshalb.“ „Warum sonst?“ „Weißt du, wenn man erwachsen wird, merkt man, daß man eigentlich von seinen Eltern nicht viel weiß. Solange man Kind ist, geht das hin, aber später macht man sich so seine Gedanken. Unser Verhältnis ist nicht mehr das gleiche wie früher. Ich lasse mir nichts mehr verbieten – ich lasse mir aber gern helfen von dir. Das setzt natürlich voraus, daß wir Vertrauen zueinander haben.“ „Ich bin nicht in der Partei“, sagte der Oberstabsarzt kurz. „Deshalb kannst du trotzdem mit dem System einverstanden sein“, entgegnete Jeremin. Endlich hatte der Oberstabsarzt seine Zigarre angesteckt. Sie schien schlecht zu ziehen. Er zog hastig an ihr und schwieg. Jeremin wartete. „Nun“, sagte der Vater nach einer Weile, „das scheint mir ein Gespräch unter Männern zu werden, und vielleicht ist es auch gut so. Ich halte nichts von den Nazis. Ich habe immer deutschnational gewählt. Früher war ich Monarchist, aber ich habe eingesehen, daß die Monarchie vielleicht eine etwas überlebte Staatsform ist. Ich sehe in Hitler und seinen Leuten eine Horde widerlicher Parvenüs und Desperados, mit einigen Ausnahmen vielleicht. Meine Hoffnung ist die Armee; die alten Generale. Wenn wir den Krieg gewonnen haben, werden sie das Gesindel
hinwegfegen. Und was dich besonders interessiert: ich lehne die Judenverfolgung ab. Zugegeben, Juden waren mir nie besonders sympathisch. Man muß nicht unbedingt mit ihnen verkehren, wenn es auch ausgezeichnete Leute unter ihnen geben mag, aber man rottet sie nicht aus. Das ist blanker Terror. Ich bin froh, daß ich die Uniform der Armee trage. Die Partei hat mir absolut nichts zu sagen, und ich werde mir auch von den Kerlen nichts sagen lassen.“ „Und warum bist du dann gegen meine Freundschaft mit Renate?“ fragte Jeremin. „Um dir Kummer zu ersparen“, antwortete der Vater. „Es wäre etwas anderes, wenn ihr euch jahrelang kennen würdet. Aber das ist ja nicht der Fall. Ich will dir nur helfen, mein Junge.“ „Hast du Angst, Vater?“ fragte Jeremin leise. Der Oberstabsarzt nahm die Zigarette aus dem Mund und sah den Sohn fest an: „Ja, Alex. Ich habe Angst. Nicht nur um dich, auch um mich. Und das ist das Entsetzliche. Ich habe vor dem System der Brutalität äußerlich kapituliert. Ich will Mutter, dich und mich hinüberretten in eine bessere Zeit. Ich will nicht, daß wir gefährdet werden wegen eines Flirts. Wäre es eine feste und langjährige Verbindung, so würde ich mich anders verhalten und versuchen, euch zu helfen. Ganz bestimmt, Alex, das kannst du mir glauben. Du mußt mich verstehen, und du mußt deine Gefühle Renate gegenüber unter Berücksichtigung unseres heutigen Gesprächs prüfen und dich entscheiden. Du siehst, ich habe Vertrauen zu dir.“ „Ja, Vater.“ Der Oberstabsarzt trat auf den Anlasser, und der Wagen zog wieder an. * „Ganz nettes Haus“, bemerkte der alte Jeremin, als sie über den kiesbestreuten Gartenweg gingen. Renate öffnete die Tür. „Guten Abend“, sagte sie unbefangen und lächelte. „Wie nett, daß Sie mitgekommen sind, Herr Dr. Jeremin. Hallo Alex.“ „Hoffentlich machen wir Ihnen keine Umstände“, erkundigte sich der alte Jeremin steif.
„Ganz und gar nicht. Das ist mein Vater.“ Herxheimer stand in der Diele und starrte den Oberstabsarzt an. Jeremin beobachtete verblüfft, wie sein Vater recht unhöflich den alten Herxheimer fixierte. „Verflucht und zugenäht“, polterte der Oberstabsarzt, „das ist doch der zahme Jonathan aus dem Feldlazarett Nancy.“ Das zerfurchte Gesicht Herxheimers strahlte: „Und du bist der verfaulte Appendix.“ Renate und Jeremin sahen sich verständnislos an. Die beiden Männer schüttelten sich die Hände. „Daß ich nicht gleich darauf gekommen bin, als ich deinen Namen hörte“, versicherten sie sich gegenseitig. „Mensch, wie lange haben wir uns nicht gesehen? Warte mal, mehr als zwanzig Jahre. Zuletzt 1917.“ Sie hatten sich untergehakt und verschwanden im Herrenzimmer. „Das ist vielleicht ein Ding“, sagte Jeremin verdutzt. Aus dem Herrenzimmer hörte man das unzweideutige Geräusch eines Korkens, der aus einer Kognakflasche gezogen wird. „Am besten lassen wir sie in Ruhe“, lachte Renate. „Komm, wir gehen in mein Zimmer.“ „Moment“, meinte Jeremin. „Ja“, sie drehte sich um. „Ich habe dir noch gar nicht guten Tag gesagt.“ Sie küßten sich. „Ich bin so froh, daß du gekommen bist“, flüsterte Renate. „Und wie günstig, daß sich die alten Herren kennen“, sagte Jeremin und strahlte über das ganze Gesicht. „Renate, machst du uns was zu essen?“ rief Herxheimer. „Sofort!“ „Jetzt sehe ich dein Zimmer doch nicht“, meinte Jeremin traurig. „Dafür siehst du die Küche. Komm, du kannst mir ein bißchen dabei helfen.“ * Nach dem Essen tranken sie eine Flasche Sekt. „Wieso hat man Sie damals den ‚verfaulten Appendix’ genannt?“ erkundigte sich Renate.
„Weil ich einen vereiterten Blinddarm hatte. Ihr Vater schnitt ihn mir in letzter Minute heraus. Er war der einzige, der in dieser Nacht von den Ärzten unseres Lazaretts noch nüchtern war. Wir haben unheimlich gefeiert.“ Herxheimer lachte: „Du hast deinen Appendix dann in Spiritus gelegt und monatelang mit dir herumgeschleppt.“ „Ja – aber eigentlich war es gar nicht so komisch. Wenn du nicht nüchtern gewesen wärest, hätte die Sache dumm ausgehen können.“ Der Oberstabsarzt hob sein Glas: „Prost Jonathan.“ „Prost!“ „Ich werde mal vorsichtshalber noch eine Flasche holen“, meinte Renate und verschwand. Jeremin sah ihr nach. „Na, hilf ihr schon die richtige Flasche auszusuchen“, der Oberstabsarzt lachte. Als die Männer allein waren, sahen sie sich an. „Warum bist du mitgekommen?“ fragte Herxheimer. „Der Junge hat dir die Sache mit meiner Frau erzählt, nicht wahr?“ „Ja“, sagte der alte Jeremin. „Das war der Grund.“ „Ehrlich bist du schon immer gewesen“, Herxheimer lächelte ein wenig traurig. „Was sollen wir machen? Ich verstehe dich. Sicher wäre ich an deiner Stelle genauso besorgt.“ „Ich werde helfen, wo immer ich kann“, sagte der Oberstabsarzt. „Weil ich es bin?“ „Ja, weil du es bist.“ „Aber einem anderen hättest du die jüdische Frau nicht verziehen?“ „Darum geht es nicht. Mir liegt nur daran, Komplikationen zu vermeiden, wo sie zu umgehen sind. Das wäre das beste für alle Beteiligten.“ Hoffentlich zwingt nicht auch er mich, zuzugeben, daß ich Angst habe, dachte der Oberstabsarzt. Herxheimer schwieg. „Wir waren befreundet, Jonathan“, führ Jeremin fort, „und ich denke, wir sind es noch. Du hast mir damals das Leben gerettet. Ich werde dir immer dankbar dafür sein. Vielleicht sind wir jetzt in einer Lage, wo ich helfen kann. Wir können die Verhältnisse nicht ändern. Aber wir können dafür sorgen, da die Kinder möglichst unbelastet bleiben.“
„Indem sie sich nicht mehr sehen?“ „Indem wir sie schützen. Wenn sie sich wirklich lieben, wäre es lächerlich, wenn gerade wir beide uns zwischen diese Zuneigung stellen würden. Alex geht in zwei Tagen zur Truppe zurück. Man wird ihn an die Front schicken. Wenn er – was ich hoffe – wieder zurückkommt, werden wir sehen, wie stark die Gefühle der beiden füreinander sind. Du und ich aber, wir sollten Tuchfühlung halten.“ Renate und Jeremin erschienen in der Tür. „Kann Alex die Flasche aufmachen?“ fragte das Mädchen. „Ja“, Herxheimer nickte nachdenklich.
III Es war ein mörderischer Marsch. Seit vielen Tagen schob sich die Division als staubiger Wurm gen Westen. Jeremin hatte geglaubt, es müsse ein großes Erlebnis sein, zum ersten Male Feindesland zu betreten. Er hatte sich vorgestellt, sein Kommandeur würde hoch zu Roß neben dem zersplitterten Schlagbaum die Parade seiner Truppen abnehmen. Aber nichts dergleichen war geschehen. Müde und erschöpft schob sich die Kompanie eines Abends an dem verlassenen Grenzerhäuschen vorbei. Der Schlagbaum war nicht einmal zersplittert. Man hatte ihn einfach ausgehängt und in den Graben geworfen. Die endlose Straße blieb sich gleich. Nur waren die Meilensteine weißrot und trugen französische Aufschriften. Jeremin, er war inzwischen Gefreiter geworden, schleppte sein Maschinengewehr an der Spitze des ersten Zuges. Vor ihm schritt Machulke wie ein alter, knorriger Bauer. Sein breiter Rücken war leicht gebeugt, und auf der staubigen Feldbluse zeichneten sich dunkle Schweißflecken ab. Seit dem Tage der Bataillonsbesichtigung war er noch schweigsamer und finsterer geworden. Bevor die Kompanie zum Einsatz kam, hatte Feldwebel Stichling in der Kantine zu ihm gesagt: „Hüte dich, Machulke. Jetzt ist Krieg, und du mußt mit deinen Landsern an die Front. Paß auf, daß sie dir keinen von hinten verplätten. Im Weltkrieg hat’s so was gegeben.“ Machulke dachte über diese Bemerkung Stichlings nach. Er hatte keine Angst vor einem Schuß in den Rücken aus dem Karabiner eines seiner Soldaten. Er hatte auch keine Angst, an der Kugel des Gegners zu verbluten. Angst hatte er nur um seine Tressen. Nach langem Grübeln kam er zu der Überzeugung, daß die Tressen weder durch einen Schuß von hinten noch von vorne ernstlich gefährdet waren. Wenn er fiel, fiel er als Unteroffizier – und das beruhigte ihn. Was ihn aber beunruhigte, war die völlig veränderte Lage. Der gleichmäßige Ablauf des gewohnten Lebens war zerstört. Es gab keine Rekruten mehr, sondern nur noch Soldaten, von denen die meisten Gefreite waren. Es gab keinen geregelten Dienstplan mehr, sondern es galt
– wie Hauptmann Endres gesagt hatte – gegebenenfalls eigene Entschlüsse zu fassen, zu schießen und zu improvisieren. Machulke hatte sich das Wort „improvisieren“ erklären lassen. Es machte ihn sehr mißtrauisch, da es sich in keine Heeresdienstvorschrift einordnen ließ. Jeremin versuchte fluchend eine neue Trageweise für das Maschinengewehr zu finden, währen Rotenburg hinter ihm unter der Last zweier Munitionskästen keuchte. Das MG wog knapp vierzig Pfund. Gewöhnlich schleppte Jeremin es auf der rechten Schulter. War die Schulter nach fünfzehn Kilometer Marsch eine schmerzende Blutblase, so legte er es auf die linke Schulter. Da die rechte Schulter aber nicht so schnell heilte, wie sich die linke Schulter ebenfalls in eine Blutblase verwandelte, blieb dann nur noch die Möglichkeit, das Maschinengewehr zur Abwechslung um den Hals oder auf den Rücken zu hängen. Außer dem MG schleppte er noch das Koppel, an dem die Pistole, der Brotbeutel, die Feldflasche, die gerollte Zeltbahn, das Seitengewehr, das Schanzzeug, der Stahlhelm und die MG-Tasche mit dem Ersatzschloß baumelten. Die rauhe Uniform rieb und scheuerte auf der Haut, stank nach Dreck und Schweiß, und seine Füße in den Knobelbechern waren unförmig angeschwollen, voller Blasen und Schwielen. Jeremin hatte eine eigene Methode entwickelt, um nicht dauernd die langsam vorbeiziehenden Kilometersteine anzustarren und zu zählen. Er träumte von Renate, der Zukunft und vergaß darüber die holprige Straße, die blutunterlaufenden Stellen auf der Schulter und die schmerzenden Füße. Er stellte sich vor, Renate säße unter einer Stehlampe in einem gemütlichen Zimmer. Er käme nach Hause, küßte sie und erzählt ihr von der Arbeit des Tages. Sehr oft richtete er im Geiste ein kleines Haus ein. Er kannte schon jeden Winkel der Räume – nur das Schlafzimmer nicht. Das sollte Renate selbst einrichten. Dann wieder dachte er an die letzten zwei Abende des Urlaubs, an ihre innigen Küsse, während die Väter alte Erinnerungen austauschten, an den Abschied, als sie sagte: „Jetzt bin ich eine Soldatenbraut. Ich hätte nie geglaubt, daß ich eine Soldatenbraut werde. Jetzt muß ich Angst haben wie Millionen andere Frauen –„
Es begann zu dämmern. Seit Stunden schlurften und humpelten die Soldaten stumpfsinnig vorwärts. Hauptmann Endres, der auf einem Apfelschimmel vor der Kompanie herschaukelte, gab das Zeichen zum Halten. Fluchend rannten die Männer aufeinander auf. Die Feldküche scherte aus und rumpelte auf das Feld. Die Gefechtsfahrzeuge folgten. In der Dämmerung erkannte man verschwommen die Umrisse einer Scheune. * Am frühen Nachmittag des nächsten Tages kam der Einsatzbefehl. Die Maschinengewehrbedienungen rannten an die Spitze der Züge. Auch die Offiziere setzten die Stahlhelme auf. „Ohne Tritt, marsch“, befahl Feldwebel Stichling, der mit den anderen Zugführern vom Befehlsempfang zurückkehrte. „Was ist los?“ fragte Unteroffizier Hartmann. „Wir marschieren jetzt zum Fluß“, antwortete Stichling. „Die Pioniere haben Behelfsstege gebaut. Wir müssen als erste über die Stege und von drüben den Feuerschutz für die nachrückenden Einheiten übernehmen. Dann sollen wir irgendein Nest erobern.“ Der Zug marschierte durch ein Wäldchen, folgte einem Stück der Chaussee, schwenkte nach zwanzig Minuten links ab und hielt hinter einigen kleinen Häusern. In der Nähe stand hohes Schilf. Es roch nach Wasser, aber der Fluß war nicht zu sehen. Friedlich strichen Schwalben über die Bäume. „Wir haben noch keinen Schuß gehört, seit wir in Frankreich sind“ meinte Burkhard. „Ich glaube, hier ist überhaupt nichts los.“ Ein Pionierunteroffizier tauchte auf und sagte zu Stichling. „Kommt hinter mir her und sag deinem Verein, er soll die Schnauze halten.“ Machulke staunte. Das wurde ja immer schöner. Seit wann erlauben sich junge Unteroffiziere zu einem alten Feldwebel einfach „du“ zu sagen? Auch Stichling wunderte sich. Als er im Knopfloch des Pioniers das EK-II-Bändchen entdeckte, schwieg er.
„Los, ein bißchen schneller als sonst“, drängte der fremde Unteroffizier. „Die Franzosen haben drüben Beobachter zu sitzen. Wenn ihr noch lange herumtrödelt, wird es knallen.“ Die Männer folgten im Gänsemarsch. Links und rechts stand hohes Schilf. Unter ihren Stiefeln fühlten sie schwankende Bohlen. Die Bohlen lagen auf leeren Benzinfässern, und die Benzinfässer schwammen auf schwarzem, brackigem Wasser. Man sah nichts als Schilf und Binsen. „Wann kommen wir endlich aus diesem verdammten Sumpf heraus zum Fluß?“ flüsterte Stichling. „Das ist doch der Fluß, wir sind gleich drüben“, antwortete der Pionier. „Sei froh, daß das so eine vergammelte Rinne ist, sonst käme bei Tage kein Mensch auf die andere Seite. Nur die letzten paar Meter sind ohne Deckung. Da müßt ihr flitzen, wenn ihr alle heil ans Ufer kommen wollt.“ Schillernde Schmeißfliegen summten über das Brackwasser. Libellen standen bewegungslos in der heißen Treibhausluft. Dann hörte das Schilf plötzlich auf. Greifbar nahe lag das jenseitige Ufer. „Los!“ schrie der Pionier und rannte geschickt balancierend über die Bohlen. Die Männer folgten taumelnd unter der Last ihrer schweren Ausrüstung. Jeremin keuchte unter dem Maschinengewehr. Die Hitze machte ihn schwindlig. Er hatte Angst, von der Bohle abzugleiten. Nur wenige Meter trennten ihn noch vom Ufer. Plötzlich bellte weit rechts ein MG. Im Wasser standen kleine Fontänen, die sich dem Steg näherten. Es sah aus, als habe man eine Handvoll Steine in den Fluß geworfen. Jeremin stolperte, fühlte festen Boden unter den Füßen und warf sich an die Uferböschung. Neben ihm tauchte Rotenburg mit den Munitionskästen auf. Auch die anderen Männer keuchten heran und starrten erschrocken auf die ferne Landzunge, wo das MG-Nest war. Einige Soldaten, die als letzte über die Bohlen hasteten, schrieen auf. Zwei fielen klatschend ins Wasser, einer schleppte sich an Land und brach zwischen dem Ufergeröll stöhnend zusammen. „Was glaubst du eigentlich, wofür du deine Musspritze hast?“ schrie der Pionierunteroffizier Jeremin an. „Willst du das Ding nicht langsam in
Stellung bringen und denen da drüben auf der Landzunge eins vor den Latz knallen?“ „Visier dreihundert, Feuer frei!“, brüllte Stichling. Jeremin machte mit sicheren Griffen das MG schußfertig, und Rotenburg zerrte das Gurtende aus dem Kasten. Das MG begann zu feuern. Die kleinen Wasserfontänen verschwanden. „Feuer einstellen“, schrie Stichling. Kaum hatte Jeremin den Koben abgesetzt, da zirpten die ersten Garben heran. „Stellungswechsel, ihr Pfeifen“, fauchte der Pionierunteroffizier. „Das ist hier kein Schießstand.“ Jeremin riß das MG hoch, kletterte die Böschung hinauf, entdeckte einen flachen Granattrichter und ließ sich hineinfallen. Rotenburg und Maurer folgten. Wieder richteten sie den Lauf der Waffe auf die Landzunge. „Da kommen die anderen“, flüsterte Rotenburg. Wie Ameisen liefen die Soldaten über die Behelfsstege. Immer neue Reihen brachen aus dem Schilf. „Nehmt die Landzunge unter Feuer“, rief Stichling. Alle Maschinengewehre begannen zu hämmern. Bald bewegte sich das Bataillon in breitem Schützenschleier auf das Dorf zu. Hauptmann Endres lief an der Spitze seiner Kompanie, fuchtelte mit der Pistole in der Luft herum und schrie immer wieder: „Mir nach!“ Auf dem von den Deutschen besetzten Ufer dröhnte es dumpf. Die laufenden Männer zogen unwillkürlich den Kopf ein, als die Granaten der deutschen Artillerie heranjaulten und krachend einschlugen. Das Dorf brannte an verschiedenen Stellen. Jeremin zuckte erschrocken zurück, als plötzlich in seiner Nähe eine Erdfontäne hochspritzte. Der Luftdruck der Detonation ließ ihn taumeln. Erdbrocken und Steine klatschten auf seinen Stahlhelm. Die französische Artillerie schoß Sperrfeuer. Trotzdem stolperten Die Soldaten weiter. Langsam rückte das Dorf näher. Von den Häusern lösten sich kleine Wölkchen. Infanteriegeschosse zirpten heran, sangen wie stählerne Saiten, die man zupft, oder brumm-
ten als Querschläger wie giftige Hornissen. Maschinengewehre hämmerten und sägten die fette Grasnarbe auf. „Volle Deckung!“ schrie Hauptmann Endres. Jeremin warf sich auf die Erde und brachte automatisch das MG in Stellung. „Hier“, sagte Rotenburg und führte das Gurtende ein. „Nicht den – den mit Leuchtspur.“ Jeremin machte den Finger krumm und hielt auf eine Scheune, in der er ein französisches MG vermutete. Eine grelle Flamme schlug aus dem Dach. Dunkler Qualm wälzte sich in den Sommerhimmel. Jeremin sah einige Männer aus der Scheune laufen und jagte ihnen einen Feuerstoß nach. „Sprung auf, marsch, marsch!“ gellte Hauptmann Endres. „Seitengewehr aufpflanzen!“ Jeremin packte sein MG und begann zu rennen. Über ihm jaulten die Geschosse. Überall schlugen Granaten ein. Feuer und Dreck standen wie eine Mauer über dem Feld. Ein heißer Luftzug warf ihn zu Boden. Ein scharfes Zischen, eine brüllende Detonation, Erdklumpen hagelten auf seinen Körper herab. Ein Mann schrie auf. Ein anderer heulte langgezogen wie ein Wolf im Winter. Schleier beißenden Qualms wehten vorbei. Die Erde zitterte unter dem Hagel schwerer Einschläge. Jeremin hustete, hob den Kopf ein wenig und blickte um sich. Der Himmel, noch vor Minuten strahlend blau, war ein fremder Himmel aus Dreck und Qualm, erfüllt von stählernen Geschossen und den Schreien sterbender Männer. Mühsam raffte sich Jeremin auf, preßte das Maschinengewehr an sich und taumelte weiter. Er sah Machulke mit einer Stielhandgranate in der Faust über einen Zaun springen, ein Artilleriegeschoß krepierte zwischen den Häusern, ein Stück Wellblech flatterte durch die Luft, krachend stürzten Mauern zusammen. Jeremin rannte auf das nächste Haus zu und lehnte sich schwer atmend an die kühle Wand. Über dem Geld wackelte eine rote Leuchtkugel und sank mit dünnem Rauchschwanz zur Erde. Gleich darauf verstummte das Artilleriefeuer.
Mit zitternden Fingern zerrte Jeremin seine Zigaretten aus der Brusttasche. So ist das also – dachte er. Mit erhobenen Armen taumelten die ersten Franzosen aus den Kellerlöchern. Rotenburg tauchte unter den Obstbäumen eines nahen Gartens auf. „Hierher, Fritz“, schrie Jeremin. Er kam heran und warf die Blechkästen auf die Erde. „Mensch“, keuchte er, „das war ein Ding! Gib mir ’ne Zigarette. Meine sind Kleinholz vom vielen Hinschmeißen.“ Jeremin gab ihm die Packung. Er freute sich, daß Rotenburg lebte. Die Sonne versank rot hinter dem Rand des Feldes. Von ferne hörte man vereinzelt Gewehrschüsse. Zwei Soldaten führten eine Gruppe Gefangener vorbei. Sie hatten die Läufe ihrer Karabiner auf die Franzosen gerichtet und schrieen: „Los, los, nicht so lahm, ihr Salatfresser!“ „Wie die beiden sich vorkommen“, sagte Rotenburg verächtlich. Die Franzosen trotteten verzweifelt dahin. Ihre Uniformen waren zerfetzt. Fast alle trugen Wickelgamaschen. „Komm, wir müssen die anderen suchen!“ Jeremin nahm das MG auf die Schulter. Sie gingen die Dorfstraße entlang. Ein paar Häuser brannten. Im zukkenden Schein der Flammen lagen braune Klumpen. „Tote“, flüsterte Rotenburg erschüttert. Ein französischer Offizier lag über einem halb verkohlten Balken. Kleine Flammen umzüngelten das Holz. Langsam fing das Haar des Toten Feuer. Mit weit offenen Augen glotzte er auf das Pflaster. Seine Hände waren in den Schutz der Straße gekrallt. So ist das also – dachte Jeremin wieder. Er fühlte eine plötzliche Schwäche in den Knien. „Paß auf!“ schrie Rotenburg und riß ihn zur Seite. Prasselnd stürzte ein Haus zusammen. Funken stoben auf. Ein schwerer Balken torkelte durch die Luft und fiel krachend zu Boden. Einige Meter weiter lagen die Reste einer französischen Schreibstube herum. Deutsche Soldaten hockten zwischen zerrissenen Postsäcken und zeigten sich grinsend Fotografien nackter Frauen. Ein Feldwebel steckte mehrere Bogen Briefmarken ein.
Quer über der Straße lag ein stinkender, aufgedunsener Pferdekadaver. Sie erreichten einen freien Platz vor der Kirche. Überall saßen und standen Soldaten. Über dem Eingang eines großen Hauses wehte schlaff eine Rot-Kreuz-Fahne. Sanitäter schleppten Tragen vorbei. Verwundete humpelten und verschwanden in der Tür des großen Hauses. „He, Jeremin!“ rief Feldwebel Stichling. „Da sind ja die anderen“, sagte Rotenburg. „Komm, gehen wir rüber.“ * „Jeder Zug stellt einen Mann ab, um Gefangene zum Depot zu bringen. Sie sprechen doch französisch, Jeremin?“ „Jawohl!“ „Hier haben Sie meine Maschinenpistole, Geben Sie Rotenburg das MG. Melden Sie sich bei Stabsfeldwebel Brumme hinter der Kirche.“ Jeremin hängte sich die Maschinenpistole um und ging hinter die Kirche. „Ich soll Gefangene zurückbringen.“ „Recht so“, knurrte der Stabsfeldwebel und sah sich um. Apathisch hockten Hunderte von gefangenen Franzosen auf dem Pflaster. Brumme riß einen Neger hoch. „Zehn Mann, Bimbo“, schrie er den verdutzten Schwarzen an. „Zehn!“ Er spreizte die Hände. „Ich soll zehn von euch zurückbringen“, sagte Jeremin französisch. Der Neger nickte, begann mit seinen Kameraden zu schnattern, und gleich darauf standen neun farbige Poilus auf. „Na das klappt ja“, meinte Brumme zufrieden. „Lassen Sie die Sarottisoldaten die Hände hinter die Birne nehmen. Schießen Sie bei der geringsten verkehrten Bewegung. Wir haben noch keine Zeit gehabt, alle zu filzen. Kann sein, daß mancher noch ein niedliches Messerchen in der Tasche hat. Sie gehen jetzt die Dorfstraße runter bis zur Kreuzung. Dann rechts ab. Am Ende des Nests ist das Depot.“ Die Gefangenen stellten sich in einer Reihe auf und legten die Hände hinter den Kopf. „Allez!“ befahl Jeremin. Er entsicherte die MP und ging hinter den Männern her.
„À droite!“ rief er, als sie die Kreuzung erreicht hatten. Die Gefangenen schwenkten rechts ab. Vor ihm marschierte ein riesiger Neger. Die brennenden Häuser blieben zurück. In dem schwachen Licht des aufgehenden Mondes waren die Umrisse der Männer nur undeutlich zu erkennen. Jeremin war ganz allein mit den Gefangenen. Rechts und links der Straße standen die verlassenen und zerschossenen Häuser. „Grand malheur, la guerre. Pour vous, pour nous, pour tout le monde“, sagte der hünenhafte Schwarze vor ihm. „Oui, oui“, gab Jeremin einsilbig zurück. Natürlich war der Krieg ein Unglück. Vor allen Dingen für die, die ihn verloren. Die Häuser wurden seltener. Deutlich hörte man das Plätschern eines Brunnens. „Soif!“ – stöhnte einer der Neger. „Soif!“ – wiederholten die anderen. Auch Jeremin hatte Durst. Er fühlte seine geschwollene Zunge, die am Gaumen klebte. „Boire, seulement un petit peu“, bettelten die Neger. Jeremin überlegte fieberhaft. Lasse ich sie trinken, verliere ich die Übersicht. Entweder hauen sie ab, oder sie machen mich im Dunkeln fertig. „Tut mir leid, aber es geht nicht“, sagte er. Das Plätschern des Brunnens kam näher. „Seulement un petit peu“, flehte der hünenhafte Mann vor ihm. „Nein!“ schrie Jeremin. „Wartet, bis ihr am Sammelplatz seid. Ich besorge euch dort Wasser. Ich verspreche es euch.“ Auch er empfand die magnetische Anziehungskraft des Brunnens. Er stellte sich den dünnen Strahl vor. Glasklar. Eiskalt. Ein unaufhörlich rieselnder Strahl, der nutzlos versickerte. Deutlich traten die Umrisse des Brunnens aus dem Dunkel. Ein richtiger Dorfbrunnen mit einem langen Trog für das Vieh. „L’eau – boire“, stöhnte der riesige Neger. Die Köpfe der Gefangenen waren dem plätschernden Brunnen zugewandt. „L’eau“, brüllte der Hüne und machte einen plötzlichen Sprung auf den Brunnen zu. „Nein“, schrie Jeremin fast bittend und riß den Abzug der Maschinenpistole hoch. Es knatterte trocken, und die Garbe klatschte in den
breiten Rücken des Mannes. Der Neger sprang in die Luft und stürzte schwer auf das Kopfsteinpflaster. Gurgelnd wälzte er sich neben dem Brunnen, stampfte mit den Füßen und schlug wild um sich. Dann begann er zu röcheln. Schon war die Reihe vorbei. Jeremin hörte das leiser werdende Stöhnen. Auch das Plätschern des Brunnens erstarb. Die Neger schwiegen. Eine Welle dumpfen Hasses ging von ihnen aus. Sie schritten weiter, die Hände hinter dem Kopf gefaltet. Nein – dachte Jeremin. Sein Herz schlug rasend. Lieber Gott, du weißt, daß ich ihn bestimmt nicht töten wollte. Weil man Durst hat, muß man doch nicht sterben. Seine Zähne schlugen aufeinander. Automatisch ging er weiter. Dann hörte er Stimmen. Der abgeblendete Scheinwerfer eines Lastwagens sprang aus der Finsternis. „Da kommen ja wieder ein paar Sarottisoldaten“, sagte ein Unteroffizier. „Ist gut, Kamerad, kannst zurückgehen.“ „Es waren zehn“, stöhnte Jeremin. „Einer lief weg. Ich habe ihn erschossen.“ Der Unteroffizier sah ihn einen Augenblick an. Dann lachte er. „Macht nichts. Wir haben genug von der Sorte.“ Er trieb die Neger zu den anderen Gefangenen. „Macht nichts?“ murmelte Jeremin. Langsam drehte er sich um und ging davon. Er hatte gehofft, der Unteroffizier würde entsetzt sein, eine Meldung schreiben. Irgend jemand würde ihn zur Verantwortung ziehen. Jeremin wünschte, man würde ihn vor ein Gericht stellen, um zu klären, warum er den Mann töten mußte – oder ihn verurteilen. Macht nichts – hatte der Unteroffizier gesagt. Der Eindruck des ersten Gefechts, der eben erlebte Schock verwirrten seine Gedanken. Das Plätschern des Brunnens kam näher. Jeremin begann zu zittern. Ich kann quer über das Feld gehen oder durch die Gärten, dachte er. Ich brauche nicht an dem verdammten Brunnen vorbei. Der Marktplatz ist ja nicht zu verfehlen. Ich kann quer über das Feld gehen. Aber seine Beine trugen ihn immer weiter, dem plätschernden Brunnen entgegen. Seine Zähne schlugen gegeneinander.
Dann sah er den Toten. Er lag auf dem Bauch, ganz nahe dem Trog. Seine Hände waren weit gespreizt. Ein dünnes Wasserrinnsal sickerte über die Straße und vermischte sich mit dem Blut des Mannes. Jeremin begann zu rennen. Da – endlich tauchte der Marktplatz vor ihm auf. Die Kameraden, Rotenburg. „Was ist denn mit dir los?“ fragte Rotenburg, als Jeremin herantaumelte. „Wie siehst du denn aus?“ „Gib her“, keuchte Jeremin und deutete auf die Flasche in Rotenburgs Hand. „Prima Rotwein, sage ich dir. Da vorne liegt der ganze Keller voll.“ Jeremin riß ihm die Flasche aus der Hand und trank gierig, ohne abzusetzen. Der Wein lief an seinen Mundwinkeln herab und tropfte auf die Uniform. „Prost“, sagte Rotenburg verblüfft. * Die Sterne funkelten. Mit dem Nachtwind kam der Brandgeruch aus dem nahen Dorf. Jeremin und Rotenburg saßen im Garten des kleinen Landhauses, das der Kompanie als Quartier diente. Ihre Zigaretten glühten. „Scheußliche Sache, das mit dem Neger“, sagte Rotenburg. „Ich kann dich verstehen. Aber du mußt darüber hinwegkommen. Wir werden noch mehr Menschen töten müssen, wenn wir nicht selbst getötet werden wollen. Wir stehen schließlich im Kampf, auch wenn wir ihn nicht gewollt haben.“ „Kampf“, Jeremin schüttelte müde den Kopf, „das war kein Kampf. Das war Mord. Man könnte verrückt werden, wenn man darüber nachdenkt … Ich will keinen Krieg, der Neger wollte keinen Krieg, und du und viele Millionen anderer Menschen wollen auch keinen Krieg. Und trotzdem sitzen wir hier, um zu töten oder um getötet zu werden. Es gibt gar keine andere Möglichkeit für uns.“ „Und warum?“ Rotenburg warf seine Zigarette weg. „Dir kommt das vielleicht alles sehr sinnlos vor. Aber für diejenigen, die uns hierherge-
schickt haben, ist der Krieg nicht sinnlos. Sie wissen ganz genau, was sie wollen. Sie wissen, warum sie uns auf Massenmord trainiert haben, uns dafür bezahlen und mit Orden und Beförderungen belohnen. Wir sollen erobern. Wenn wir erobern, schaffen wir neuen Besitz. Weißt du, was es heißt, ein Land zu erobern? Das heißt Eisen, Stahl, Fabriken, Maschinen, Grund und Boden, Kunstschätze, Arbeitskraft. Und alles bekommen sie durch uns so billig. Wie billig ist für sie unser Leben! Aber für uns, die wir unser Leben in ein Geschäft investieren, das andere machen, ändert sich nichts, wenn wir überleben. Wir werden ein Bändchen im Knopfloch tragen, wir werden als Veteranen gelten, die man kurz bewundert und für den Rest ihres Lebens vergißt. Eine Stellung wird man uns vielleicht geben, weil man unsere Arbeitskraft braucht, aber wir werden immer die kleinsten Arbeiter im Weinberg der Macht sein. Weil wir so dumm sind. Für einen Orden, für Tressen oder Schulterstücke ‚reißen wir uns am Riemen’. Für die bewundernden Blicke dummer Gänse setzt mancher von uns sein Leben besonders freudig aufs Spiel. Was kostet ein Orden? Ein paar Pfennige. Uns kostet er einen Arm, ein Bein und mehr.“ „Aber warum kämpfen wir dann? Sollten das nicht mehr Menschen durchschauen?“ „Weil man Millionen von uns mit fauler Moral und verlogenen Parolen besoffen gemacht hat. Auch dich und mich. Hättest du nachgedacht, wenn das mit dem Neger nicht passiert wäre? Wenn du nicht besonders sensibel wärst? So ist es doch immer. Erst wenn dir die Därme aus dem Leib hängen, erst wenn du vor den Leichen deiner Familie, vor den Trümmern deines Hauses stehst, dann fällt dir das berühmte Brett vom Kopf. Dann werden alle normal. Das war 1918 so, und das wird auch nach diesem Krieg so sein. Wenn wir nur einmal daraus lernen wollten!“ * „Schach!“ sagte Herxheimer. Bommelsdorff stützte das kantige Kinn in die Hände. „Finito“, lächelte er. „Wann werde ich Sie endlich einmal schlagen?“ „Sie haben mich doch schon geschlagen.“ „Vor acht Tagen. Das war Glück.“ Der Oberstleutnant griff zu seiner Zigarre. „Sie hätten Generalstabsoffizier werden sollen, Herxheimer.“
Ich habe vorhin Beromünster gehört“, sagte der Arzt. „Gibt es was Neues?“ „Kaum. Ich überlege mir dauernd, warum die Franzosen und Engländer uns nicht angreifen, nachdem sie den Kriegszustand proklamierten. Hitler war in Polen beschäftigt, sie hatten die beste Gelegenheit. Es gibt eigentlich nur eine Erklärung.“ „Welche?“ erkundigte sich Bommelsdorff. „Sie hofften, Hitler würde in Rußland einmarschieren.“ „In Rußland? Aber wir verstehen uns doch mit den Russen! Warum sollte Hitler das tun?“ „Weil Nationalsozialismus und Kommunismus grundsätzlich Todfeinde sind. Der Kommunismus ist die größte Gefahr für Hitler, und auch England und Frankreich fürchten die Sowjetunion. Ich glaube, die westlichen Alliierten wären Hitler nicht in den Rücken gefallen, wenn er weiter nach Osten vormarschiert wäre.“ Der Offizier zuckte die Achseln. „Hitler hatte anderes zu tun in dieser Zeit. Unsere Truppen haben Dänemark, Norwegen, Belgien, Luxemburg und Holland besetzt.“ „Neutrale Länder!“ warf Herxheimer ein. „Die Reichsregierung hat lediglich Terrain gesichert“, meinte Bommelsdorff. „Wären wir nicht einmarschiert, so hätten die Franzosen oder Engländer den sogenannten Schutz der Neutralen übernommen und dadurch Aufmarschgebiete gewonnen.“ „Sie haben es aber nicht“, sagte der Arzt heftig, „und sie hatten Zeit dazu. Und Hitler ist nicht nur einmarschiert. Er hat auch neutrale Städte bombardieren lassen. Dreißigtausend starben in Rotterdam. Viele Frauen und Kinder.“ „Die Holländer leisteten Widerstand!“ „War das nicht ihr gutes Recht?“ Der Offizier schwieg. „Was glauben Sie eigentlich, was man in zwanzig Jahren in den Geschichtsbüchern über uns lesen wird?“ fragte Herxheimer. „Die Geschichtsbücher werden wir schreiben. Oder rechnen Sie etwa damit, daß wie den Krieg verlieren?“ Bommelsdorff sah den Freund ungläubig an. „Wir werden ihn verlieren. Wir müssen ihn verlieren. Er ist ein ungerechter Krieg, ein Raubkrieg – ein Verbrechen!“
„Aber Herxheimer!“ „Es gab keine Notwendigkeit, Polen zu überfallen und den Weltkrieg auszulösen. Was Hitler tut, der grauenhafte Terror, den er innen- und außenpolitisch anwendet, wird ihn eines Tages zum größten Kapitalverbrecher der Geschichte machen. Wir aber, Bommelsdorff, wir alle und unsere Kinder werden die Verantwortung und die Folgen dafür tragen müssen.“ „Ich nicht jeder Krieg Ihrer Ansicht nach ein Verbrechen?“ fragte der Stabsoffizier. „Nein“, antwortete Herxheimer heftig. „Wenn alle Unterdrückten dieses unmenschlichen Systems, alle Gequälten, Geschlagenen und Geknechteten sich bewaffnen und die töten, die an diesem entsetzlichen Verbrechen schuldig sind, wäre das zwar der schlimmste aller Kriege, nämlich ein Bürgerkrieg, aber eine heroische Tat, die die Bewunderung späterer Generationen verdient hätte. Uns aber, uns Deutsche, die wir uns als Herrenrasse bezeichnen, wird man noch in Hunderten von Jahren verfluchen. Wir führen einen ungerechten, verbrecherischen Krieg. Wir sind nicht besser als Räuber und Mörder, die andere überfallen und berauben. Das sind imperialistische Methoden.“ „Ich bin Offizier“, sagte Bommelsdorff, „und ich zog die Uniform nicht ohne Grund an.“ „Gewiß“, nickte der Arzt. „Aber Sie gingen damals von Voraussetzungen aus, die heute nicht mehr gegeben sind. Sie wollten verteidigen, die Heimat schützen. Aber niemand hatte Deutschland bedroht. Werden Sie auch bald ins Feld gehen?“ „Vielleicht. Sie wissen ja, daß ich nur noch einen Lungenflügel habe. Bis jetzt hat man es abgelehnt, mir ein Truppenkommando zu geben.“ „Möchten Sie ein Truppenkommando haben?“ „Ja!“ „Warum?“ „Weil es dann für mich gegebenenfalls die Einzige Möglichkeit der Desertation gibt, die Desertation in den Soldatentod – falls Sie recht haben.“ *
„Orléans“, sagte Hauptmann Endres zu seinen Zugführer, „ist eine Stadt, die durch eine Jungfrau berühmt geworden ist. Aber was eine Jungfrau ist, werden Sie wohl kaum wissen, meine Herren!“ Die Feldwebel grinsten. „Dieses Orléans“, fuhr der Hauptmann fort, „werden wir morgens mit der ersten Aufklärungsabteilung einnehmen. In der Stadt ist ein Brükkenkopf zu bilden und solange zu halten, bis Entsatz kommt. Verstanden?“ Die Feldwebel hatten verstanden und gingen zu ihren Zügen. „Orléans“, meinte Jeremin. „Wenigstens etwas. Paris haben wir nur von weitem gesehen.“ „Mir alles egal“, brummte Rotenburg. „Wenn ich nach Paris fahre, dann bestimmt nicht in dieser verdammten Uniform.“ „Wollen wir ein bißchen Schach spielen?“ schlug Jeremin vor und holte sein Steckschach heraus. „Na schön.“ Rotenburg setzte sich auf. Machulke beobachtete die beiden Soldaten. Er saß in der Nähe und reinigte seine Maschinenpistole. Der Oberschütze Bretzel hatte ihm vor einigen Tagen nach dem Genuß mehrerer Flaschen Beaujolais gestanden, daß Rotenburg und Jeremin die Initiatoren seiner entsetzlichen Blamage bei der Besichtigung gewesen waren. Seit dieser Minute brannte in Machulke ein dumpfer Haß gegen die beiden Soldaten. Aber was sollte er machen? Es gab keinen Kasernenhof mehr. Er konnte sie nicht schleifen. Er konnte sie auch nicht zusammenschlagen, denn er war Vorgesetzter. Irgendeine Gelegenheit wird schon kommen – hoffte er inbrünstig. Ich werde die Hunde schon kriegen. Er setzte die Waffe sorgfältig zusammen, rieb sie noch einmal ab, legte sie auf eine Decke und schlug sie ein. Dann stand er auf. Breitbeinig kam er über die Wiese gestampft und beobachtete eine Weile mißbilligend das ihm unverständliche Spiel. „Tut den blöden Kram weg und reinigt euer MG“, knurrte er. „Aber ein bißchen dalli.“ Soviel ich weiß, ist kein Waffenappell befohlen“; Jeremin sah ihn ruhig an, „außerdem ist unser MG in Ordnung.“ „In Ordnung“, wiederholte Machulke gedehnt. „Soll ich einmal nachsehen?“
„Da drüben steht es“, maulte Rotenburg. „Eben hat Feldwebel Stichling befohlen, wir sollen auf Vorrat schlafen. Ich schlafe jetzt. Gute Nacht!“ Der Unteroffizier schnaufte wütend: „Einmal kriege ich euch doch noch. Einmal ist der Krieg zu Ende. Ich weiß genau, wer das Ding bei der Besichtigung mit mir gedreht hat. Einmal kommen wir wieder in die Kaserne. Dann gnade euch Gott!“ „Selig sind die Bekloppten, denn sie brauchen keinen Hammer“ – Rotenburg sah dem Unteroffizier nach. * Über der sonnendurchglühten Landstraße stand eine Staubwolke, aufgewirbelt von der Aufklärungsabteilung 12, verstärkt durch die Kompanie Endres. An der Spitze der langen Fahrzeugkolonne schaukelte ein Panzerspähwagen. Auf dem ersten Dreiachser, gleich hinter dem Panzerspähwagen, hockte die Gruppe Machulke. Seit einer Stunde lag der Großteil der marschierenden deutschen Truppe weit hinter ihnen. Die auf der Landstraße nach Süden rollende Einheit befand sich im Bereich einer fliehenden französischen Armee und war ganz allein auf sich gestellt. „Seht euch das an“, rief Jeremin aufgeregt und deutete nach vorn. Die Soldaten reckten die Hälse. Hochbeladene Fuhrwerke, Karren, Automobile, Leiterwagen und altmodische Camions verstopften die Straße. Menschen liefen hin und her, schrieen und zeigten auf die näherkommende Kolonne. Neugierig starrten die Soldaten auf das Gewimmel. Man sah einige Männer mit langen Sätzen über das Feld laufen und im nahen Wald verschwinden. Mit kreischenden Bremsen hielten die Lastwagen neben den letzten Fahrzeugen des Flüchtlingstrecks. Unter den Zivilisten brach eine Panik aus. Frauen warfen sich schreiend vor den Panzerspähwagen und hielten ihre Säuglinge in die Luft. Kinder wimmerten. Eine Greisin sank in die Knie und betete laut. Alte Männer humpelten heran und hoben die dürren Arme. „Die haben ja Angst vor und“, staunte Burkhard. Der Kommandeur kletterte fluchend aus dem Panzerspähwagen. Sein Adjutant folgte.
Wütend sah der Major die Straße entlang. So weit der Blick reichte, war alles mit Fahrzeugen und Menschen verstopft. Aus dem kreischenden, heulenden Knäuel löste sich eine Frau mit offenem Haar. Die trat auf die Offiziere zu, warf sich auf die Knie und flehte in gutem Deutsch: „Schonen Sie uns! Schonen Sie hilflose Frauen und Kinder. Wir sind keine Franctireurs. Will wollen keinen Krieg. Schonen Sie uns!“ Der Major war seinem Adjutanten einen ärgerlichen Blick zu und versuchte sein Bein zurückzuziehen, das die Frau umklammert hielt. Der Oberleutnant sprang hinzu, zog die Frau weg und stellte sie wieder auf die Füße. „Schonen Sie uns – “, flehte sie verängstigt. „Hören Sie auf zu heulen“, sagte der Major barsch. „Kein Mensch will Ihnen etwas tun. Wann haben Sie die letzten französischen Truppen gesehen?“ „Gestern, mein Herr“, antwortete die Frau zitternd. „Sie marschierten zu Fuß und hatten einige Kanonen bei sich.“ „Was heißt, sie hatten einige Kanonen bei sich“, grollte der Kommandeur. „Zogen sie die Kanonen an einem Bändchen hinter sich her, oder hatten sie sie gar im Tornister?“ Die Frau fing wieder an zu weinen: „Sie hatten Pferde.“ „Bespannte Artillerie“, schnarrte der Adjutant. „Kradmelder nach vorn!“ befahl der Major. „Kradmelder nach vorn!“ krähte der Adjutant. Die Soldaten auf den Wagen gaben den Befehl weiter. Eine schwere BMW donnerte heran und hielt in einer Staubwolke. „Sauerei“, sagte der Major und nieste. „Passen Sie mal auf, gut Frau“ begann er wieder und versuchte seiner Stimme einen freundlichen Ton zu geben. „Sie setzen sich jetzt auf dieses Motorrad. Der Soldat wird ganz langsam mit Ihnen vorausfahren. Sagen Sie Ihren Landsleuten, daß niemandem etwas geschieht. Wir brauchen nur Platz. Alle sollen auf die linke Straßenseite oder auf das Feld fahren. Aber es muß schnell gehen.“ „Sofort, mein Herr, ich danken Ihnen, ich danke Ihnen“, stammelte die Frau und kletterte auf das Motorrad. Der Kradfahrer grinste dämlich, als sie sich an ihm festhielt. Langsam rückte die Kolonne vor.
Die Soldaten kramten in ihren Brotbeuteln und warfen den Kindern Würfelzucker zu. Bald regnete es von allen Seiten Süßigkeiten, Brot und einzelne Zigaretten auf die verdutzten Flüchtlinge. „Heult doch nicht, ihr blödes Volk“, rief Maurer immer wieder. „Wir wollen euch doch nicht fressen.“ Neben Jeremin schaukelte ein mit Hausrat und Betten hochbeladener Wagen vorbei. Auf einer Matratze saß hoch oben ein alter Mann. Er trug einen gewaltigen Schnauzbart. An seiner zerschlissenen Jacke klimperten einige Orden. Der Greis starrte die Deutschen finster an und drohte mit der geballten Faust. „Wenigstens einer, der Mut hat“, sagte Rotenburg. Jemand warf dem Alten eine Zigarette zu. Die Zigarette blieb auf der Matratze liegen, rollte hin und her und fiel vom Wagen. Der Alte würdigte sie keines Blickes. Dann war der Treck vorbei, und die Flüchtlinge blieben zurück. Gleichmäßig brummten die Motoren der schweren Lastwagen. „Das sind die, die jeden Krieg bezahlen“, sagte Rotenburg leise. „Jetzt hast du sie gesehen.“ Jeremin blickte nachdenklich zurück. * Gegen Abend verlangsamte die Kolonne ihre Fahrt. Dann blieben die Lkw stehen. Gedeckt durch einige Bäume tastete sich der Spähwagen zum Waldrand vor. Im Tal dehnte sich das Häusermeer von Orléans. Senkrecht stieg Rauch aus vielen Schornsteinen in die unbewegte Abendluft. Von ferne klangen die langgezogenen Töne einer Ziehharmonika herauf. „Die da unten werden staunen, wenn wir sie besuchen“, meinte Burkhard. „Hoffentlich haben sie was Anständiges zum Abendessen.“ Die Offiziere und Zugführer versammelten sich bei dem Panzerspähwagen. Es begann zu dämmern. In der Ferne schlängelte sich schimmern das Band der Loire. „Hoffentlich stehen da unten keine Straßensperren“, murmelte Rotenburg, „sonst können wir mit unseren Lkw einpacken. Wenn wir doch wenigstens einen oder zwei Panzer hätten.“
Der Adjutant hob die Winkerkelle. Die Zugführer liefen zu den Fahrzeugen. Langsam – wie witternde Riesentiere – schoben sich die schweren Wagen aus dem Walsrand. Geduckt kauerten die Soldaten hinter den Planken der Seitenwände. Die Kolonne fuhr fast geräuschlos mit abgestellten Motoren eine abschüssige Straße hinab. Dann warfen die Fahrer krachend die Gänge herein, die Maschinen heulten auf. Donnernd raste die Kolonne über die Straße, fegte mit wimmernden Reifen um die Kurven und näherten sich der Stadtmitte. Menschen starrten zu Tode erschrocken aus den Fenstern. Rolläden rasselten herab. Zwei Polizisten sprangen an einer Kreuzung auf den Bürgersteig und rissen ihre Pistolen aus den Futteralen. Ein Feuerstoß aus der Maschinenpistole Stichlings warf die Männer auf den Asphalt. „Wir werden einen Strafzettel bekommen, weil wir so schnell fahren“, sagte Maurer. Aber er war blaß. Aus einer Seitengasse kam ein Fuhrwerk. Der Kutscher riß die Pferde zurück, aber sie scheuten und rasten in die Kolonne. Jeremin beobachtete, wie ein Kübelwagen gegen das umgestürzte Fuhrwerk prallte, sich überschlug und brennend liegenblieb. Die Pferde wälzten sich mit hervorquellenden Augen auf der Straße. „Das ist eine Höllenfahrt, eine richtige Höllenfahrt“, sagte Rotenburg leise. Ohne sich um den brennenden Wagen zu kümmern, schlängelten sich die nachfolgenden Lkw in halsbrecherischem Tempo durch die schmale Lücke. Kirchenglocken dröhnten, Fliegeralarmsirenen heulten. Vor ihnen peitschten die ersten Schüsse aus Fenstern und von Hausdächern. Die Spitze erreichte den Platz an der Brücke. Befehle gellten. Der Panzerspähwagen ging an der Brückenauffahrt in Stellung. Pkw preschten zum Ufer, Pak-Geschütze wurden abgeprotzt. Ein paar Soldaten rannten auf die Brücke zu und entrollten im Laufen eine Strickleiter, knüpften sie am Geländer fest und begannen außerhalb der Brüstung herabzuklettern. Atemlos starrten die Besatzungen der Lkw auf die Stelle, wo die Soldaten verschwunden waren.
Schon nach wenigen Minuten tauchte der erste wieder auf. Er winkte. „Sie haben die Sprengkabel zerschnitten“, seufzte Stichling erleichtert. „Absitzen!“ Die Lkw fuhren unter dem Bäumen des Platzes in Form einer Wagenburg auf. Es wurde dunkel. Vom jenseitigen Ufer bellten Maschinengewehre. Die Geschosse klatschten gegen das eiserne Brückengeländer und brummten als Querschläger zwischen die Lkw. Jeremin stand hinter einem der Bäume und blickte auf die Silhouette der Stadt, die sich gegen den hellen Nachthimmel abhob. Frankreich – dachte er. Wie sehr habe ich mir immer gewünscht, einmal nach Frankreich zu kommen. Kühle erhabene Kathedralen, charmante Frauen, herrliche Weine, laue Sommerabende in den Tuilerien, das Grab Victor Hugos, die lichtschimmernden Champs-Elysées und den Invaliden-Dom. Das alles wollte ich erleben. Und nun bin ich gekommen, um all das zu zerstören, auf das ich mich freute. Nun ist Frankreich kein Traumland mehr, sondern plötzlich wieder der Erbfeind. ElsaßLothringen muß wieder deutsch werden, wir haben Revanche für 1918 zu fordern, vom Arc de Triomphe soll das Hakenkreuz flattern. Siegreich wollen wir Frankreich schlagen, so singt die Kompanie schon seit Wochen. Dabei lernten wir noch vor wenigen Jahren die gallische Kultur zu bewundern. Tausende von Deutschen erholten sich jährlich an der Riviera. Zehntausende waren glücklich in Paris. Man war dabei, 1918 zu vergessen, und das war gut so. Über Nacht aber wurde der alte Haß künstlich wieder entflammt. Hitler wollte es so, und Millionen sangen wieder wie 1914: Siegreich wollen wir Frankreich schlagen. – Bewunderung, Liebe und Achtung verwandelten sich über Nacht in Haß, weil ein Mann es befahl. Hauptmann Endres kam über den Platz gelaufen: „Der erste Zug unter Leutnant Mussil kämmt die Seitenstraßen durch. Der zweite geht am Ufer in Stellung. Der dritte Zug legt sich unter die Fahrzeuge und bleibt in Reserve.“ Die Männer der Aufklärungsabteilung zerrten ein Pak-Geschütz an die Zufahrtsstraße des Platzes und beobachteten die dunklen Häuser. Mussils dürre Gestalt tauchte auf. Er blickte durch die Finsternis zum jenseitigen Ufer. „Bin nur neugierig, ob die mit Artillerie anfangen“, sagte er.
„In den Häusern sitzt doch noch ein Teil der Zivilbevölkerung. Na, jetzt können Sie mal zeigen, was Sie bei den Geländespielen gelernt haben, Stichling.“ „Ich war nicht in der HJ“, knurrte der Feldwebel einsilbig. „Nein? Na, warum denn nicht? Ich war sogar Unterbannführer. Wir haben oft Straßenkampf geübt. Jetzt können wir den Salatfressern endlich zeigen, was ’ne Harke ist. Sammeln Sie Ihre Männer!“ Stichling brachte den ersten Zug heran. Über den Platz zitterte eine Leuchtkugel. Der Panzerspähwagen auf der Brücke warf einen dunklen Schatten. Von drüben horte man ein dumpfes Plopp-Plopp. Rauschend gurgelte es heran und schlug hinter dem Platz ein. Der Leutnant fuhr erschrocken zusammen. Stichling beobachtete es und grinste. „Das sind Granatwerfer“, sagte er. „Wenn die einen unserer Munitionswagen treffen, gibt’s Kleinholz.“ „Schweinerei“, murmelte Mussil. Die Pak-Geschütze an der Böschung eröffneten das Feuer. Der Leutnant gab sich einen Ruck: „Jeremin, Rotenburg, Hofmann und Burkhard. Sie gehen mit mir. Das MG bleibt stehen. Nehmt Karabiner und Handgranaten. Zwei Gruppen übernehmen je eine Straße. Klar, Stichling?“ „Dann wollen wir mal“, murmelte der Feldwebel und entsicherte seine Pistole. * „Wir nehmen die linke Straßenseite“, flüsterte der Leutnant. „Jeder Zivilist, der mit der Waffe in der Hand angetroffen wird, ist zu erschießen. Ich will keine Schwachheiten erleben, meine Herren!“ Die Soldaten sahen sich an. Plötzlich prasselte es in den Bäumen über ihnen. Ganz nahe hämmerte ein Maschinengewehr. Die Männer drückten sich an die dicken Baumstämme. „Da hockt so ein Schwein auf einem Dach und rotzt uns in aller Gemütsruhe die Bude voll“, fluchte Mussil. Wieder hämmerte das Maschinengewehr.
„Hier auf dem Dach sitzt er“, flüsterte Hofmann. „Ich habe das Mündungsfeuer gesehen.“ „Wir müssen in das Haus“, brummte der Leutnant unbehaglich. „Los, versuch mal einer, ob die Türe offen ist. Na, Hofmann, laufen Sie schon rüber.“ Lauf doch selbst, du Armleuchter – dachte der Soldat und glitt aus dem Schatten, lief über die Straße und warf sich gegen die Tür. Sie war verschlossen. Keuchend kam er zurück. „Nichts zu machen. Die Tür ist verschlossen und wahrscheinlich verbarrikadiert.“ „Na und?“ fauchte der Offizier, „sollen wir vielleicht deshalb wieder nach Deutschland zurückmarschieren? Sorgen Sie dafür, daß die verdammte Tür aufgeht.“ „Schließlich hab ich ja keinen Schlüssel“, murrte Hofmann. Wieder bellte das Maschinengewehr auf dem Dach. Es regnete Äste und Blätter auf die Männer herab. „Los, los“, befahl der Leutnant nervös, „macht die elende Tür auf.“ Rotenburg beobachtete ihn verächtlich. Der Kerl hatte ja jetzt schon die Hosen voll. „Wie sollen wir denn die Tür aufmachen?“ erkundigte er sich gedehnt. „Fragen Sie nicht so dämlich. Ich habe befohlen, Tür aufmachen. Auf was warten Sie noch?“ Rotenburg hatte sich vorgenommen, solange er eine Uniform trug, niemals etwas freiwillig zu tun und nur dann zu schießen, wenn er sich in Notwehr befand. Die Unfähigkeit des dürren Offiziers reizte ihn aber. „Ich werde mal die Tür aufmachen“, sagte er lässig. „Es wäre aber ganz zweckmäßig, wenn sich Herr Leutnant so lange unter einen der Lkw legen würden. Vielleicht staubt es ein bißchen.“ Mussil starrte ihn verblüfft an. Er spürte, daß Rotenburg ihn verspottete, aber er schwieg. „Gut. Machen Sie, was Sie wollen. Volle Deckung!“ Er verschwand mit Hofmann unter einem der Lastwagen. Jeremin blieb stehen. „Ich gebe dir Feuerschutz.“ Rotenburg lief über die Straße.
Rasch befestigte er an der Türklinke eine Handgranate. Dann zog er ab, rannte zurück und schrie: „Hau dich hin, Alex!“ Schwer atmend warf er sich neben Jeremin auf das Pflaster hinter dem Baum. Die Explosion der krepierenden Handgranate hallte dumpf von den Wänden der Häuser wider. Splitternd flog die Eichentür in den Hausgang. „Los, sofort hinein!“ Rotenburg und Jeremin sprangen auf und verschwanden in dem Haus. Sie tasteten sich durch das rauchige Dunkel. Gleich darauf kamen auch Mussil und Hofmann angekeucht. Der beißende Qualm der Handgranate ließ die Männer husten. „Na also“, flüsterte der Leutnant, „war doch ganz einfach.“ „Können sich Herr Leutnant merken, falls Sie mal den Hausschlüssel vergessen haben“, sagte Rotenburg. „Ha, ha“, lachte Mussil, „sehr gut. Alter Trick. Hab ich natürlich schon längst gekannt.“ Warum hat er es dann vorhin nicht befohlen? – dachte Hofmann. Der Leutnant schaltete eine abgeblendete Taschenlampe ein. Vorsichtig begannen die Soldaten die Treppen des hohen Mietshauses emporzusteigen. Nichts regte sich hinter den Korridortüren. Von oben hörte man das MG bellen. „Die haben anscheinend nicht gemerkt, daß wir im Hause sind“, flüsterte Rotenburg. „Unser Glück“, Jeremin sah nach oben. „Die brauchen doch nur ein paar Handgranaten runterzuwerfen.“ Auf dem obersten Treppenabsatz blieben die Männer stehen. Das MG schwieg. Von draußen hörte man das „Plopp“ der Granatwerfer und die dumpfen Einschläge. Dazwischen knallten trocken die Abschüsse der Pak. Eine schmale Holzstiege führte zu einem Dachboden. Plötzlich fluchte ganz nahe eine Stimme. Scharrend wurde ein schwerer Gegenstand über den Boden gezerrt. „Eine Munitionskiste“, flüsterte Jeremin. „Sie sind da oben hinter der Tür.“ Die Tür war nur angelehnt. Das MG feuerte wieder. „Los Hofmann“, Mussil stieß den Soldaten an, „schmeißen Sie den Hunden eins in die Fresse.“
Hofmann schraubte den Verschluß einer Handgranate ab, lehnte seinen Karabiner vorsichtig an die Wand, sprang mit wenigen Sätzen die Treppe empor, stieß die Tür auf und warf. Dann ließ er sich fallen und rutschte die wenigen Stufen herab. Krachend detonierte die Handgranate. Glas splitterte. Dachziegel zerbrachen und polterten auf den Boden. Ein Mann schrie auf und begann zu stöhnen. Das Maschinengewehr rasselte noch einige Minuten und verstummte. „Na also“, sagte der Leutnant wieder. „Nun wollen wir mal nachsehen.“ Er blieb hinter Jeremin. Jeremin stieg die wenigen Stufen hinauf. Als er sich der Tür näherte, knallte es trocken, und ein Geschoß klatschte neben seinem Kopf in die Wand. „Volle Deckung“, brüllte Mussil. „Idiot“, murmelte Rotenburg. „Sollen wir uns auf die Treppe legen und waren, was der da oben macht?“ Er stieß den Leutnant zur Seite, schraubte den Verschluß ab und ward eine zweite Handgranate. „Zurück, Alex!“ Jeremin rutschte die Treppe herunter, richtete sich auf und warf ebenfalls eine Handgranate durch die Türöffnung. Die beiden Explosionen folgten schnell hintereinander. Die Tür zum Dachboden schlug durch den Luftdruck wie rasend hin und her und flog aus den Angeln. Mussil richtete den dünnen Kegel seiner Taschenlampe nach oben. Die Soldaten starrten abwartend auf die Türöffnung. Aus dem dicken Qualm taumelte blutüberströmt ein Franzose. Seine Uniform war zerfetzt. Mit weit aufgerissenen Augen starrte er in den Kegel der Taschenlampe. Langsam hob er einen schweren Armeerevolver. Da knallte Hofmanns Karabiner. Der Franzose öffnete den Mund, ohne einen Laut von sich zu geben, sackte zusammen und kollerte die Stufen herab. Die Soldaten sprangen zur Seite. „Das war kein Feigling“, murmelte Rotenburg und stieg über den Toten hinweg. Vorsichtig betraten die Männe den Dachboden.
Durch den Luftdruck der Handgranaten war ein Teil der Ziegel abgedeckt. Ein Poilu lag über einer halbgeöffneten Munitionskiste. Er war tot. Mussil leuchtete in das erstarrte Gesicht. Jeremin trat zur Dachluke, in der das MG stand. Man konnte von hier aus den ganzen Platz übersehen. „Die hätten uns gemütlich fertigmachen können“, sagte Hofmann. „Und wie“, brummte Rotenburg. * Als sie das Haus verlassen wollten, klirrten die Scheiben. Kalk klatschte in dicken Brocken von der Decke. Irgendwo in der Nähe schlug es krachend ein. „Jetzt fangen sie doch mit Artillerie an“, sagte der Leutnant. An der Ecke brannte ein Haus. Das schwarze Pflaster der Straße leuchtete blutrot. Vorsichtig traten sie ins Freie. Infanteriegeschosse zirpten vorüber, und an der Hauswand gab es ein Geräusch, als habe man eine Handvoll Erbsen dagegen geworfen. Mussil schrie auf. Die Männer verschwanden wieder im Flur. „Ich glaube, mich hat’s erwischt“, sagte der Leutnant. Jeremin nahm ihm die Lampe ab und leuchtete über den linken Arm des Offiziers. Ein wenig Blut quoll aus kleinen Löchern über dem Handgelenk. „Schrot“, staunte Jeremin. „Herr Leutnant haben ein paar Schrotkörner abbekommen. Können Sie die Finger bewegen?“ „Ja, es geht“, stöhnte Mussil. „Da schießt also ein Schwein mit Schrot.“ Jeremin umwickelte den Unterarm des Offiziers mit einem Verband. „So, nun das Haus gegenüber“, befahl der Leutnant. „Erst der Hausschlüssel“, meinte Rotenburg. „Achtung!“ Er warf eine Handgranate auf die gegenüberliegende Tür. Die Handgranate prallte ab, rollte auf das Pflaster und detonierte. Die Tür klaffte auf. „Los!“ Sie liegen über die Straße und verschwanden in dem Haus. „Jede Wohnung wird überprüft“, befahl der Leutnant.
Er trat die Flurtür der Parterrewohnung ein. Der Kegel seiner Lampe huschte über geöffnete Schränke, auf dem Boden verstreute Kissen, herausgerissene Schubladen. „Alle getürmt“, sagte er. Im zweiten Stock war die Wohnungstür angelehnt. Hofmann stieß sie mit dem Lauf seines Karabiners auf. Die Diele war von den Flammen des brennenden Hauses hell erleuchtet. Ein hagerer Mann stand in der Mitte des kleinen Raumes. An den Wänden hingen Rehgeweihe und der ausgestopfte Kopf eines Wildschweins. Langsam hob der hagere alte Mann die Arme. Mussil sah auf die Geweihe an der Wand und von den Geweihen auf den Franzosen. „Du Chasseur, du Jäger?“ fragte er heiser. „Oui, Monsieur“, antwortete der Mann ruhig. Langsam zog der Leutnant die schwere „08“ aus dem Futteral, entsicherte sie, richtete den Lauf auf das Gesicht des Mannes und drückte ab. Es gab ein häßliches Geräusch. Wo Nase und Mund des Mannes gewesen waren, glänzte ein blutiger Brei. Die Augen quollen aus ihren Höhlen. Der Franzose schlug auf den Dielenboden und zuckte noch ein paarmal. Jeremin spürte, wie sich sein Magen umdrehte. „Aber er hatte doch die Arme gehoben“, flüsterte er. „Er ist Jäger, er hat mit Schrot auf mich geschossen“, schrie Mussil hysterisch und steckte die Waffe hastig wieder ein. Rotenburgs Gesicht war maskenhaft starr. Hofmann hielt seinen Karabiner umklammert und sah scheu auf die Leiche. „Weiter!“ befahl der Leutnant. Als sie zehn Minuten später wieder vorsichtig auf die Straße hinaustraten, brannten zwei weitere Häuser. Es war sehr hell. „Nun da drüben das Haus, wo der Bäckerladen ist“, rief Mussil. Sie rannten über das Pflaster. Wieder peitschte ein Schuß. Mussil taumelte.
Sie zerrten ihn zurück in den Flur. Rotenburg hob die Taschenlampe vom Boden auf und leuchtete den Offizier an. „Schrot“, sagte er tonlos, „diesmal hat der Bursche besser getroffen.“ Mussil röchelte. Die kleinen Körner hatten seine Halsschlagader zerfetzt. „Es war also gar nicht der alte Mann da oben“, sagte Hofmann heiser. Sie preßten ein Verbandpäckchen auf die sprudelnde Wunde und schleppten den Offizier zu den Fahrzeugen. * Rotenburg, Jeremin und Hofmann ließen den sterbenden Leutnant bei den Sanitätern und kämmten ihre Straßenseite weiter durch. Geduckt hasteten sie an den Hauswänden entlang. An der Ecke blitzte das Mündungsfeuer eines Maschinengewehrs. Die Garben schlugen klatschend in die Mauern. Jeremin und Rotenburg warfen sich in einen Hausflur. Hofmann hatte sich fallen gelassen und kroch hinter einen Torbogen. Das MG schwieg. Vorsichtig sah Jeremin auf die Straße. Die Glut der ausgebrannten Häuser überzog das Pflaster und die Hauswände mit einem roten Schein. Rotenburg kramte seine Zigaretten hervor. „Hier kriegst du Fritzchen vorläufig nicht mehr heraus. Solange das MG an der Ecke steht, ist für uns Feierabend.“ Jeremin steckte sich auch eine Zigarette an. Im Türrahmen des gegenüberliegenden Hauses erschien die breite Gestalt Machulkes. Hinter ihm tauchten Burkhard und Maurer auf. Der Unteroffizier sah über die Straße, erkannte Rotenburg und Jeremin und brüllte: „Ihr faulen Hunde raucht Zigaretten anstatt zu kämpfen. Ich werde euch helfen, ihr verdammten Schweinepriester.“ „Bleiben Sie in Deckung“, rief Jeremin. „Feiges Schwein“, schrie Machulke, „warte – „ Er lief auf die beiden Soldaten zu. Das Maschinengewehr bellte.
Machulke fühlte erstaunt, wie ihm die Beine unter dem Bauch weggerissen wurden, brach in die Knie und rollte auf das Pflaster. Er versuchte zu kriechen. Aber sein Körper wog viele Tonnen. Hilflos öffnete und schloß er die Finger. En brennender Schmerz riß in seinen Eingeweiden. Er stöhnte und erbrach sich. Ausgerechnet die beiden Schufte müssen zusehen, wenn ich verrecke – dachte er. Nun kriege ich sie doch nicht mehr. Ganz deutlich sah er, wie Rotenburg mit Jeremin sprach. „Wir müssen ihn reinholen“, sagte Jeremin. „Das MG steht dahinten an der Ecke. Du wirfst eine Handgranate, und ich zerre ihn in den Hausflur.“ „In Ordnung!“ Rotenburg schraubte den Verschluß einer Handgranate ab und stand auf. Machulke beobachtete ihn mit weit geöffneten Augen. Jetzt werfen sie mir eine Handgranate in die Fresse – dachte er. Macht nichts. Geht dann auch schneller zu Ende. Ich würde ihnen auch gern so ein Ding unter ihre faulen Hintern schmeißen. Wieder schüttelte ihn der brennende Schmerz. Er hustete blutigen Schaum. Die Handgranate krepierte. Jeremin sprang auf den Unteroffizier zu und schleppte ihn über den Bürgersteig. Machulke brüllte vor Schmerz auf. Rotenburg warf eine zweite Handgranate. Dann lag Machulke stöhnend im Hausflur. „Saubere Arbeit“, riefen Burkhard und Maurer von der anderen Straßenseite. Machulke war noch bei Besinnung. Er begriff. Sie hatten ihn von der Straße hereingeholt. Vor hilfloser Wut krallte er seine Hand in den rauhen Stoff der Hose. Da lag er nun, ein blutendes Bündel, armselig und machtlos. Wenn er davonkam, verdankte er sein Leben den beiden Schnöseln. Er empfand seine Rettung als Demütigung. Sein aufgespeicherter Haß war so groß, daß er beinahe wünschte, sie hätten ihn draußen liegenlassen. Rotenburg öffnete die Feldbluse des Unteroffiziers und schob das blutige Hemd zur Seite. Der Einschuß lag zwischen den Rippen der rechten Brustseite. Dann tastete er den Rücken ab und zog seine blutige Hand zurück.
„Glatter Durchschuß“, sagte er, „na, wie geht’s?“ „Prima“, stöhnte Machulke; seine Lippen zitterten. Rotenburg begann den Unteroffizier zu verbinden. Jeremin ging die Treppe hinauf und trat die Korridortür der ersten Wohnung ein. Aus einem Bett riß er zwei Decken und ein Kissen. Merkwürdig, so eine fremde Wohnung – dachte er. Auf dem Tisch in der Küche lag ein aufgeschlagenes Bilderbuch. An der Wand hing eine Uhr. Der Perpendikel stand. Es roch nach Kohl und saurer Milch. In der Speisekammer fand Jeremin eine halbe Flasche Aperitif. „Könnte ja auch Essig oder Öl drin sein“, murmelte er und nahm einen großen Schluck. Es brannte angenehm. Dann ging er wieder zurück. „Ein zäher Hund“, flüsterte Rotenburg. Jeremin legte das Kissen unter den Kopf des Verwundeten und deckte ihn zu. Auch das noch – dachte Machulke. „Trinken Sie!“ Jeremin setzte die Flasche an die Lippen des Unteroffiziers. Machulke trank und mußte husten. Rasch setzte Jeremin die Flasche wieder ab. „Sag dem Sani, wo ich bin und haut endlich ab“, keuchte der Unteroffizier. „Wenn wir abhauen, dann hauen wir alle ab“, sagte Rotenburg. „Wir nehmen Sie mit. Aber im Augenblick ist das ein bißchen ungünstig.“ Immer hat er was zu meckern, dieser Rotenburg – dachte Machulke. Er starrte auf die Taschenlampe über sich. Die Lampe begann auf und ab zu hüpfen und kreiste in wilden Schwingungen. Der Unteroffizier verlor das Bewußtsein. * Jeremin zog die Decken zurecht und legte den Kopf des Verwundeten tiefer. „Er wird uns doch nicht abkratzen?“ „Der nicht“, versicherte Rotenburg. Burkhard und Maurer hockten im Hausflur gegenüber und rauchten. Das MG schwieg.
„Vielleicht sind die Franzosen abgehauen?“ meinte Rotenburg. „Werden wir gleich sehen.“ Jeremin ging wieder in die Wohnung und kam gleich darauf mit einem Besen zurück. „Gute Idee“, lachte Rotenburg, „kehr mal ein bißchen die Straße.“ „Wart nur ab.“ Jeremin hing seinen Stahlhelm über den Besen und schob ihn ganz langsam aus dem Hausflur. „Aha“, sagte Rotenburg. Nichts rührte sich. Maurer und Burkhard verfolgten die Sache mit dem Besen sehr interessiert. „Die scheinen abgehauen zu sein“, rief Maurer. Er stand schwerfällig auf und lief über die Straße. Burkhard folgte. Die Soldaten hoben Machulke auf und schleppten ihn zu den Fahrzeugen. Stichling stand unter den Bäumen. „Wen bringt ihr denn da?“ fragte er müde. „Machulke“, antwortete Jeremin. „Wo sollen wir ihn hinlegen?“ „Da drüben ist der Sani.“ Stichling kratzte sich sein stoppeliges Kinn. „Jungens, diesmal haben wir mit Zitronen gehandelt. Wenn es hell wird, merken die Franzosen, daß wir nur ein paar Männeken sind und machen uns zur Spirale. Helm ab zum Gebet, Leute!“ Burkhard und Maurer schleppten den Unteroffizier zu dem Wagen des Sanitäters. „Was ist denn das?“ Rotenburg hob den Kopf. Von ferne hörte man wütendes MG-Feuer. Hauptmann Endres kam mit dem Major über den Platz. „Das ist die nachstoßende Division“, rief Endres, „wir sind gerettet!“ Der Major sah ihn eisig an. „Hatten Sie daran gezweifelt?“ „Natürlich nicht“, versicherte Endres. „Wir müssen Verbindung mit der nachstoßenden Truppe aufnehmen“, schnarrte der Major. „Freiwillige vor.“ Er sah sich um, als stünde er vor einem Bataillon. „Ich gehe“, knurrte Feldwebel Stichling. Jeremin warf einen Blick in das verfallene Gesicht des Feldwebels: „Ich auch!“ Er trat vor.
Rotenburg stellte sich neben ihn. Burkhard und Maurer folgten zögernd. „Brave Burschen“, lobte der Major. „Zwei Mann genügen. Der Feldwebel und der Gefreite da. Führen Sie die Vorhut hierher.“ „Mach’s gut, Alex“, flüsterte Rotenburg. Stichling und Jeremin verschwanden zwischen den Bäumen. Sprungweise arbeiteten sie sich vor. Der Gefechtslärm kam näher. Es wurde langsam hell. „Bleib du hinter mir“, sagte Stichling. „Du“ – hat er gesagt, staunte Jeremin. Er empfand dieses persönliche „Du“ als eine Auszeichnung. Sie liefen auf eine Kreuzung zu. „Paß auf“, schrie Stichling und verschwand in einer Toreinfahrt. Verzweifelt starrte Jeremin in das grelle Mündungsfeuer eines Maschinengewehrs, spürte einen wuchtigen Schlag, taumelte und versuchte sich an der Hauswand festzuklammern. Aber seine Hände hatten keine Kraft mehr. Langsam brach er in die Knie. Merkwürdig – dachte er, es tut gar nicht weh, wenn man stirbt. Vor seinen Augen tanzten perlmuttfarbene Nebel. Der Bürgersteig war aus Watte.
IV Es schien Jeremin, als dämmere er viele Jahre dahin. Manchmal hörte er aus weiter Ferne Stimmen und fühlte einen Stich im Arm. Es roch süßlich, und er versank immer wieder in purpurnen Tiefen. Eines Tages gelang es ihm mit großer Anstrengung, die Augen zu öffnen. Das helle Tageslicht tat seinen Augen weh. Jemand sagte: „Na, Kumpel, du bist ja immer noch nicht abgekratzt. Seit drei Tagen geben sie dir die letzte Ölung mit Sauerstoff.“ Jeremin versuchte zu verstehen, was die Stimme meinte. Aber es gelang ihm nicht. Er schloß die Lider und begann erneut in einen bodenlosen Abgrund zu fallen. Als er wieder zu sich kam, war es nicht mehr so hell. Er entdeckte zwei dunkle Augen, die ihn freundlich beobachteten. Natürlich, das ist die Mutter – dachte Jeremin. Er fühlte weiche Hände auf seiner Stirn. Irgendwann hatte er das Gefühl, ausgeschlafen zu sein. Er sah sich um und versuchte den Arm zu bewegen. Aber es ging nicht. Das lag an einem dicken Gipsverband, der seine Brust einschnürte. Aus dem Nachbarbett starrte ein sommersprossiges Gesicht. „Du bist vielleicht ein zähes Luder“, sagte das Gesicht. „Nach der Heeresdienstvorschrift wärst du schon längst Stubenältester im Massengrab.“ „Wieso?“ wollte Jeremin fragen, aber aus seinem Mund drang nur ein heiseres Krächzen. Ein stechender Schmerz bohrte in seiner Brust. Dann sah er wieder die dunklen Augen über sich. Sie befanden sich unter einer weißen Haube mit einem roten Kreuz. Nun wußte Jeremin, daß er im Lazarett lag und verwundet war. Die behutsamen Hände der Schwester hoben seinen Kopf, drehte das Kissen um und strichen die Decke glatt. Dann schob sie ihm eine Schnabeltasse zwischen die trokkenen Lippen. * Eines Tages legte die Schwester mehrere Briefe auf seinen Nachttisch.
Der eine war von zu Hause. Der Vater schrieb, das Lazarett habe ihm mitgeteilt, man hätte drei Bluttransfusionen vornehmen müssen. Na ja, ein Jeremin sei eben aus gutem Material. Er würde schon dafür sorgen, daß der Genesungsurlaub recht lange bemessen würde. Die Mutter hatte in ihrer zierlichen Schrift innige Grüße darunter gesetzt und ein Päckchen angekündigt. Der zweite Brief war von Rotenburg. Er empfahl Jeremin, die Stellung im Lazarett so lange wie möglich zu halten und sich dann als Ausbilder in einem Ersatzbataillon zu etablieren. Leider habe es bei ihm noch nicht zu einer hübschen gvH-Verwundung gereicht. Burkhard und Maurer ließen herzlich grüßen. Hofmann sei tot. Der dritte Brief war von Renate. Natürlich hatte Jeremin ihre Schrift sofort erkannt; er hob ihn sich aber bis zuletzt auf. Ein kleines Paßbild fiel ihm entgegen. Ja – das war Renate. Sie lächelte ein wenig, und da sie bei der Aufnahme in die Kamera geblickt hatte, sahen ihn ihre Augen an, von welcher Seite auch immer er das kleine Bild betrachtete. Dann entfaltete er den Bogen. Renate schrieb, sie habe über Jeremins Vater von der Verwundung erfahren. Er möge ihr doch ein Telegramm schicken, wann sie ihn besuchen könne. Natürlich würde sie einige Tage bleiben. Ihr Vater habe nichts dagegen. Jeremin ließ das Papier mit den wenigen Zeilen sinken. Sie wollte zu ihm kommen. Er rechnete fieberhaft. Das Lazarett lag mehr als fünfhundert Kilometer von der kleinen Garnisonsstadt entfernt. Wie brauchte einen Tag für die Reise. Wenn er sofort telegrafierte, konnte sie am nächsten Abend da sein. Aber dann dachte er daran, daß er hilflos im Bett lag, daß der Sommersprossige im Nachbarbett jedes Wort hören könne und daß ein Uringlas unter seinem Bett stand. Nein – dachte er. Wenn sie kommt, will ich sie außerhalb des Lazaretts treffen. Er faltete die Briefe zusammen und legte sie in die Nachttischschublade. Das kleine Bild aber schob er unter sein Kopfkissen und achtete darauf, daß niemand ihn dabei beobachtete.
* Zwei Wochen später erschien Schwester Rita mit einem gestreiften Lazarettanzug. Glühend vor Verlegenheit duldete Jeremin, daß sie ihm mit geschickten Händen in die Hose half. Der Sommersprossige im Nachbarbett feixte. „Sie sollen übrigens mal zur Schreibstube kommen“, sagte die Schwester freundlich, „aber erst, wenn sie sich kräftig genug fühlen.“ Einige Tage später wanderte er mühsam durch die langen Gänge des Lazaretts. Vor der Schreibstube machte er halt, klopfte und meldete sich. Der Spieß kramte in Papieren und Akten. „Jeremin“, murmelte er, „Jeremin mit J. Ich habe doch da irgendeinen Vorgang.“ Dann schien der das Richtige gefunden zu haben. Er kam zur Barriere, strecke seine große Hand aus und sagte feierlich: „Ich habe Ihnen mitzuteilen, daß Sie mit Wirkung vom letzten Ersten zum Unteroffizier befördert sind. Außerdem wurden Ihnen das EK II und das Verwundetenabzeichen in Schwarz verliehen. Gratuliere, Unteroffizier Jeremin.“ „Danke“, stotterte Jeremin verblüfft, nahm die Kästchen und die Verleihungsurkunden in Empfang und stand zwei Minuten später wieder auf dem langen Flur. „Das muß ich gleich nach Hause schreiben“, dachte er. Der Schreibstubenunteroffizier kam ihm nach. „Na, da freust du dich“, sagte er. „Wenn du mal Nachturlaub brauchst, komm zu mir. Ich gebe dir einen Schein. Allerdings mußt du dafür in der Kantine was springen lassen.“ „Klar“, nickte Jeremin. „Kannst du für mich ein Telegramm aufgeben?“ „Er schrieb auf einen Zettel: „Bitte komm bald, es geht mir prima, Alex“, setzte Renates Adresse hinzu und gab dem Korporal fünf Mark. „Aha“, sagte der Schreibstubenunteroffizier und las den Text durch. „Glasklarer Fall. Da wirst du bald verschiedene Runden ausgeben müssen, denn du wirst allerhand Nachturlaub brauchen. Wohin soll ich das restliche Geld bringen?“ „Laß nur“, lachte Jeremin, „behalt’s als Anzahlung für die Runden, die ich dir bald schulde.“
* Jeremin bekam zu erstenmal zwei Stunden Stadtausgang. Er freute sich und ging zur Schreibstube, um sein Soldbuch abzuholen. „Ich glaube“, sagte der Schreibstubenunteroffizier, „du brauchst heute schon Nachturlaub.“ „Wieso?“ staunte Jeremin. „Lies mal das“, der andere kniff ein Auge zu. Es war ein Telegramm. Renate teilte mit, daß sie mit dem Zug um 19.15 Uhr eintreffen würde. „Siehst du“, sagte der Unteroffizier befriedigt und holte ein Papier aus der Schublade. „Ich habe dir das Ding schon fertiggemacht. Gilt bis zum Wecken. Bin ich ein Kumpel?“ „Ja“, sagte Jeremin glücklich. „Du bist zehn Kognak wert.“ *
Herxheimers alte Sprechstundenhilfe öffnete die Tür zum Wartezimmer. „Der nächste bitte.“ Herein trat der Kolonialwarenhändler Strantzki. „Hei Hitler, Herr Doktor.“ Herxheimer überhörte den forschen Gruß. „Na, Herr Strantzki. Immer noch Beschwerden?“ „Es wird nicht besser und wird nicht besser. Immer wenn ich eine Treppe steige, bleibt mir die Luft weg. Und dann die Stiche auf der Brust, die Herzschmerzen. Manchmal glaube ich, ich muß sterben.“ „Na, na. Mit ihren achtundzwanzig Jahren haben Sie doch noch keine angina pectoris“, meinte Herxheimer, griff nach einem schmalen entwikkelten Filmstreifen und warf einen prüfenden Blick darauf. „Sie haben ein wunderschönes EKG, die Brustwandableitung ist einwandfrei und die Röntgenaufnahme ohne Befund. Sie können sich freuen Herr Strantzki. Es kann sich bei Ihnen nur um nervöse Beschwerden handeln.“ Der Mann machte ein enttäuschtes Gesicht. „Das verstehe ich gar nicht. Ich fühle doch die Schmerzen. Übrigens, Herr Doktor, könnte ich
Sie mal unter vier Augen - ?“ Er machte eine Kopfbewegung in Richtung der Schwester. „Wenn’s sein muß. Lassen Sie uns bitte einen Augenblick allein, Schwester Mathilde.“ Die Schwester ging hinaus. Strantzki trat ganz nahe an Herxheimer heran. „Sie müssen mir helfen, Herr Doktor. Übernächste Woche bin ich wieder zur Musterung bestellt. Ich habe eine Frau und zwei kleine Kinder. Wer soll denn den Laden machen, wenn ich weg bin. Sie haben doch auch seit Jahren bei mir gekauft. Ich habe Sie immer gut bedient. Sehr gut sogar. Ihr Fräulein Tochter war immer sehr zufrieden.“ „Ich behandle Sie, so gut ich kann“, antwortete der Arzt. „Aber Sie haben ein einwandfreies Herz. Was wollen Sie mehr?“ „Verstehen Sie denn nicht?“ Strantzkis Stimme ging in ein Flüstern über. „Es gibt doch Mittel, daß die Musterungskommission einen zurückstellt. Sie haben doch einen ganzen Schrank voll Tablette. Oder vielleicht eine Spritze?“ „Mann! Sind Sie von allen guten Geistern verlassen? Ausgerechnet Sie, ein alter SA-Mann und guter Parteigenosse verlangen so etwas von mir? Ich dachte, Sie wären froh, dem Vaterland dienen zu dürfen.“ „Bin ich ja auch, Herr Doktor, bin ich ja auch. Ich setze mich mit allen Kräften für den Endsieg ein. Ich bin Blockleiter, Luftschutzwart, Hilfssanitäter und Hausobmann. Ich tue, was ich kann. Außerdem sorge ich dafür, daß in meinem Laden alles klappt, daß die Bevölkerung alles hat, was sie braucht. Wenigstens meine Kunden. Ich kann in der Heimat genau so viel leisten wie an der Front. Vielleicht noch mehr.“ „Sagen Sie das doch der Musterungskommission“, schlug der Arzt vor. „Aber das geht doch nicht. Sie wissen doch, wie die Militärärzte sind. Dann bin ich gleich kv. Herr Doktor, jeder hat so seine Schwierigkeiten, aber man kann sich doch gegenseitig ein bißchen helfen. Sie haben den Kummer mit Ihrer Gattin, na, und ich eben den meinen.“ „Was hat meine Frau damit zu tun?“ fragte Herxheimer scharf. Strantzki grinste vertraulich. „Machen wir uns doch nichts vor, Doktor. Das sind doch Probleme für Sie! Und das nächste, was auf Sie zukommt, wird die Sorge um Ihr Fräulein Tochter sein. Vielleicht könnte ich Ihnen dabei helfen. Wenn
ich hierbleibe, werde ich wahrscheinlich Ortsgruppenleiter, und da hat man schon Einfluß! Sie wissen, daß man demnächst versuchen wird, Ihr Fräulein Tochter in einer Fabrik einzusetzen oder so.“ - Oder so, dachte Herxheimer bitter. Er hatte davon gehört, daß man neue Gesetze für die Kinder aus Mischehen ausarbeitete. Aber sollte er sich deshalb in die Hand dieses schmierigen Nazis begeben? „Tut mir leid“, sagte er steif. „Sie haben ein gesundes Herz. Ich kann es nicht ändern. Und mit Tabletten kommen Sie auch nicht um die Musterungskommission herum. Sie stellen sich das etwas zu einfach vor. Es gibt in der Medizin genug Möglichkeiten, um zu überprüfen, ob wirklich eine Krankheitsursache vorliegt oder nicht.“ „Sie wollen mir also nicht helfen“, stieß Strantzki hervor. Der Arzt zuckte die Achseln. „Gut. Es gibt noch andere Ärzte. Ich werde mir diesen Tag aber gut merken. Heil Hitler.“ Herxheimer wandte sich schweigend seinem Schreibtisch zu. Strantzki wartete noch eine Augenblick an der Tür und verließ dann schnell das Zimmer. Wenig später stand Herxheimer am Herd seiner Küche und briet Spiegeleier. Ungeschickt hantierte er mit der Pfanne. Er sah auf die Uhr. Nun würde Renate bald bei Jeremin sein. Im Kasten fand er Brot und schnitt eine Scheibe ab. Dann setzte er sich an den Küchetisch und begann lustlos zu essen. Die Einsamkeit des Hauses bedrückte ihn. Renate hatte recht. Er war es nicht gewohnt, allein zu sein. Er versuchte sich vorzustellen, wie es wäre, wenn auch Renate in der Schweiz lebte – und schauderte. Die Klingel schlug an. Herxheimer legte die Gabel aus der Hand und ging hinaus. Der Lichtschein der Diele fiel auf einen untersetzten Mann. „Ich habe Schmerzen“, stöhnte der Mann. „Entsetzliche Schmerzen.“ „Bitte.“ Herxheimer schloß die Tür und ging voraus in das Sprechzimmer. Er schob einen Stuhl vor seinen Schreibtisch. Der Mann sprach einen harten Akzent. Er schien Ausländer zu sein. „Wo haben Sie die Schmerzen?“ „Im Kopf“, ächzte der Mann. Gewohnheitsmäßig streifte der Arzt den Ärmel des Mannes zurück und griff nach dem Puls. Der Puls ging ruhig.
„Fieber haben Sie nicht.“ Jetzt erst blickte er dem Mann richtig ins Gesicht und bemerkte, daß der nur ein Auge hatte. „Haben Sie Ihr Auge an der Front verloren?“ „Nein“, sagte der Mann. „Man hat es mir ausgeschlagen, die Gestapo hat es mir ausgeschlagen. Bei einem Verhör. So ganz nebenbei. Verstehen Sie?“ Herxheimer schwieg. Er ging zu einem weißen Metallschrank, entnahm ihm eine Spritze und eine Ampulle, sägte den Glasansatz ab und sog die farblose Flüssigkeit an. „Gleich werden die Schmerzen nachlassen.“ Nach der Injektion bot er dem Mann eine Zigarette an. Der Einäugige rauchte hastig. „Interessiert es Sie nicht, warum die Gestapo mir ein Auge ausgeschlagen hat?“ „Nein“, sagte Herxheimer. „Angst?“ fragte der Mann. „Vielleicht –„ Es war sehr still in dem kleinen, warmen Behandlungsraum. Plötzlich sagte der Einäugige: „Wir kennen Sie, Herr Doktor, und wissen um Ihre Probleme. Ihre Frau ist eine geborene Ruth Wolff und lebt in Luzern, nicht wahr?“ Der Arzt sah erschrocken auf. „Was wollen Sie von mir?“ „Wir haben uns mit Ihnen beschäftigt. Seit Monaten. Wir haben Vertrauen zu Ihnen.“ „Und wer ist das: wir?“ fragte Herxheimer unbehaglich. Der Einäugige machte eine vage Handbewegung: „Meine Freunde und ich. Es gibt nicht nur Nationalsozialisten in Deutschland. Wußten Sie das nicht?“ „Aber Sie – Sie sind doch kein Deutscher?“ „Nein, ich bin Pole. Man hat mich als Fremdarbeiter hierher verschleppt. Ich sorge dafür, daß die Räder für den Sieg rollen.“ Der Mann lachte müde. „Ach, Sie sind bei der Reichsbahn?“ „Nein, so viel Vertrauen schenkt man mir nicht. Ich darf nur ganz schmutzige Arbeiten verrichten. Aber sprechen wir von Ihnen, Doktor. Wie halten Sie nicht für einen Nationalsozialisten. Wir haben Vertrauen zu Ihnen. Deshalb kam ich zu Ihnen. Wollen Sie uns helfen?“
„Bitte drücken Sie sich deutlicher aus“, Herxheimer griff nervös zu der Zigarettenpackung. „Es gibt in Deutschland und den besetzten Gebieten eine Widerstandsbewegung. Auch ich gehöre dazu. Früher war ich einmal ein einfacher polnischer Landarbeiter. Dann aber brachte mich der Zufall mit dem Nationalsozialismus in Berührung, und ich lernte die ganze Brutalität dieses Systems kennen. Mehr kann ich Ihnen jetzt nicht erzählen. Es wäre viel zu gefährlich für Sie. Jedenfalls kämpfe ich nun für mein Land und die Sache der Gerechtigkeit dort, wo man mich hingestellt hat. Und mit mir kämpfen viele unbekannte, namenlose tapfere Männer. Deutsche, Polen, Franzosen. Wir sind auch eine Armee. Aber eine Armee ohne Sold, ohne Verpflegung, ohne Uniformen, ohne Orden. Uns verbindet der Haß. Die meisten von uns sitzen in Zuchthäusern oder Konzentrationslagern. Trotzdem sind wir gut organisiert. Aber wir brauchen Freunde. Wir brauchen auch Ärzte, die nicht viel fragen, wenn es in der Nacht an ihren Türen klingelt. Viele von uns sind krank oder verwundet. Manchmal gelingt es einem unserer Kameraden, aus einem KZ zu entkommen. Aber er ist dann durch seine Tätowierung gekennzeichnet. Wir können nicht zu jedem Arzt gehen, wenn wir krank oder verwundet sind. Wir hoffen, daß Sie uns nicht verraten, wenn wir Sie einmal als Arzt brauchen. Mehr wollen wir nicht von Ihnen. Aber Sie leisten uns in diesen Zeiten einen unschätzbaren Dienst damit.“ Er schwieg. Sein gesundes Auge starrte Herxheimer an. „Werden Sie uns helfen?“ Herxheimer begriff langsam. „Ja“, antwortete er nach einer Weile. „Ich werde Ihnen helfen, soweit es in meiner Macht steht.“ „Ich danken Ihnen Herr Doktor! Ich werde Ihr Verbindungsmann bleiben. Nennen Sie mich bitte Martin.“ Minuten später war der Einäugige in der Nacht verschwunden. Herxheimer schloß sorgfältig zu und ging in sein Sprechzimmer zurück. Erregt wanderte er durch den kleinen Raum. Stunde um Stunde, ohne Ruhe zu finden. * Bereits eine Stunde vor Einfahrt des Zuges stand Jeremin in der Halle des Bahnhofs und beobachtete nervös den Zeiger der großen Uhr.
Er hatte in einem Hotel ein Zimmer reservieren lassen, war zum Friseur gegangen, hatte Blumen gekauft und in einem Kino gesessen, ohne den Vorgängen auf der Leinwand wirklich Beachtung zu schenken. Aber immer noch war es viel zu früh. Er wanderte in der zugigen Halle auf und ab. Seine einzige Beschäftigung war das Grüßen von Vorgesetzten. Die Zeiger der Uhr krochen nur langsam vorwärts. Endlich kam der Zug. Jeremin hielt die Eisenstangen der Sperre umklammert und blickte in das Gewimmel der Menschen. Dann entdeckte er Renate. Sie ging hochaufgerichtet durch die Menge. Ihre Blicke tasteten die Menschen an der Sperre ab. Jeremin winkte und rief: „Hallo, Renate, hier bin ich, hier!“ „Sie spinnen wohl? Benehmen Sie sich nicht wie ein Pfeifenzeisig! Schließlich tragen Sie Tressen, Mann!“ grollte eine Stimme neben ihm. Unter dem Stahlhelmrand funkelten böse die Schweinsaugen des an der Sperre Dienst tuenden Stabsfeldwebels. Jeremin stand stramm, sagte: „Jawohl, Herr Stabsfeldwebel“, und wandte sich dann wieder Renate zu. Sie kramte in ihrer Handtasche nach den Fahrkarten und lächelte ihn an. Als sie endlich vor ihm stand, wußte er nicht, was er sagen sollte. Sie zog ihren Handschuh aus. Er spürte den Druck ihrer schlanken Finger. „Laß dich ansehen“, sagte sie. „Du bist noch ein bißchen blaß.“ „Ich freue mich ganz blödsinnig, daß du da bist!“ Jeremin strahlte vor Freude und griff nach ihrem Koffer. „Wir nehmen ein Taxi!“ Im Hotel empfing sie ein alter, gutmütiger Hausdiener. „Hier hinauf“, sagte er, klirrte mit seinen Schlüsseln, öffnete eine Tür, stellte den Koffer auf einen Hocker und verschwand. Jeremin wurde rot. Sie standen vor zwei riesigen aufgedeckten Betten. Das Zimmer war ein Doppelzimmer. „Renate“, stotterte er, „ich hatte nur ein Zimmer bestellt, wirklich, du mußt mir das glauben.“ Das Mädchen lächelte unbefangen: „Versuch doch mal, ob das warme Wasser läuft.“ Er ging verblüfft zu dem Becken und drehte die Hähne auf. „Ja, es läuft.“
„So, und nun geh bitte ’runter ins Restaurant, bestelle etwas Vernünftiges zu essen und warte auf mich. Ich möchte mich ein bißchen frisch machen.“ Er verließ das Zimmer und stieg die Treppe hinunter. Im Restaurant war es voll. Mit Mühe fand er einen kleinen freien Tisch. Eine Kellnerin brachte die Speisekarte. Plötzlich fiel ihm ein, daß er überhaupt nicht wußte, was Renate gern aß. Er beschloß zu warten und steckte sich eine Zigarette an. Ein tiefes Glücksgefühl breitete sich in ihm aus. Renate war da! Bald würde sie ihm gegenübersitzen, sie hatten Zeit füreinander, und morgen würde er sie wiedersehen. Als die Kellnerin wieder an ihm vorbeiging, bestellte er eine Flasche Wein. Renate kam durch die Glastür und sah sich suchend um. Jeremin sprang auf und brachte sie an den Tisch. „Ich dachte, du hättest ein paar schöne Schnitzel bestellt“, lachte sie, „dabei sitzt du vor einer Flasche Wein.“ „Ich wußte ja gar nicht, ob du überhaupt Schnitzel magst“, sagte Jeremin. „So schlecht kennen wir uns. Aber das wird anders. Darauf wollen wir trinken!“ Er hob sein Glas. „Und auf deine Gesundheit“, sagte sie leise. „Du hattest Glück. Ich bin sehr froh, daß du Glück hattest.“ Jeremin bestellte Schnitzel. Renate gab die Marken ab. Als die Platten endlich kamen, war die erste Flasche leer. Sie aßen schweigend und lächelten sich an. Sie empfanden das Glück, beieinander zu sein. * Als Jeremin mitten in der Nacht aufwachte, hatte er ein Gefühl wie ein Kind zu Weihnachten. Er war reichlich beschenkt worden, und der nächste Tag war ein Feiertag. Durch das Fenster fiel das Licht des Mondes. Renate lag neben ihm. Ihr Gesicht war gelöst. Sie atmete tief, und er konnte sich plötzlich vorstellen, wie sie als kleines Mädchen ausgesehen haben mußte. Ihre dunklen Locken berührten seine nackte Brust und fühlten sich an wie Seide. Er zog das Mädchen an sich. Sie seufzte und öffnete die Augen.
„Tut dir etwas weh?“ flüsterte sie. Ihre Fingerspitzen glitten zart über die frische Narbe auf seiner Brust. „Nein“, er preßte sie an sich, „nein, nein!“ * Drei Wochen später erhielt Jeremin Genesungsurlaub. Renate und ihr Vater kamen für einige Tage zu Jeremins Eltern. Die jungen Menschen waren glücklich. Sie schmiedeten Zukunftspläne, sie nahmen sich vor, in Jeremins nächstem Urlaub zu heiraten – und die Eltern schwiegen. Am vorletzten Abend des Urlaubs gingen Renate und Jeremin ins Theater. „Wie unbeschwert sie sind“, die Mutter schloß hinter ihnen die Tür. „Würdest du uns bitte einen Tee machen?“ sagte der alte Jeremin und ging mit Herxheimer in sein Arbeitszimmer. Die Männer saßen sich schweigend gegenüber. „Es ist ein Wahnsinn“, stöhnte Herxheimer. „Alex kann ins Zuchthaus kommen, nur weil er Renate liebt, und sie hat mit der Internierung in einem Konzentrationslager zu rechen, wenn man erfährt, daß sie mit ihm zusammen war.“ „Unvorstellbar, daß die beiden nur ihrer Liebe leben und sich um kein Gesetz kümmern“, sagte der alte Jeremin und sah dem Rauch seiner Zigarre nach. „Jonathan. Solange diese Regierung besteht, werden die Kinder nie heiraten dürfen. Hast du es Renate gesagt?“ „Nein! Hast du mit Alex darüber gesprochen?“ „Nein!“ „Was soll aber geschehen?“ fragte Herxheimer. „Es gibt etwas, was du noch nicht weißt“, sagte der alte Jeremin langsam, „bald werden sich Mischlinge ersten Grades wöchentlich zweimal bei der Gestapo melden müssen. Das ist der Anfang. Man wird sie nicht mehr aus den Augen lassen. Man wird sie unter Umständen sterilisieren. Man wird sie vielleicht für irgendwelche Arbeiten verpflichten. Und man wird versuchen, sie gegebenenfalls verschwinden zu lassen. Ich habe es heute erfahren.“ Herxheimer beugte sich in seinem Sessel vor: „Ist das wahr?“ Jeremin nickte. „Leider!“
Wieder schwiegen die Männer. Man hörte nur das Ticken der Schreibtischuhr. „Renate muß weg zu ihrer Mutter, es gibt keine andere Lösung“, sagte Herxheimer leise. „Hör zu, Jonathan“, entgegnete der alte Jeremin, „laß mir Renate hier. Ich bringe sie in meinem Lazarett als Hilfsschwester unter. Diese Stadt ist sehr groß. Niemand kennt sie hier. Vielleicht kann ich ihr andere Papiere besorgen. Sicher glaubt man dir, wenn du den Behörden erklärst, sie hätte ohne deine Zustimmung versucht, ihre Mutter in der Schweiz aufzusuchen. Viele Menschen gehen über die grüne Grenze. Das ist doch bekannt.“ „Du würdest Renate schützen? Es ist gefährlich für dich. Darüber mußt du dir im klaren sein“, sagte Herxheimer leise. „Würdest du den Jungen nicht schützen?“ lächelte der alte Jeremin. „Wir haben jetzt zwei Kinder, Jonathan.“ * Jeremin meldete sich auf der Schreibstube seines Ersatztruppenteils. „Du wohnst auf Stube zehn. Da liegt schon ein anderer Kapo, der gestern aus dem Lazarett gekommen ist“, sagte der Schreibstubenunteroffizier. „Aber lange werdet ihr bei uns die Stellung nicht halten können.“ Jeremin zuckte die Achseln. „So schön wird es bei euch auch nicht sein.“ Er nahm sein Gepäck und ging durch den langen Flur der Kaserne. Dann hatte er das Zimmer gefunden und öffnete die Tür. An dem Fenster des schmalen Raumes saß ein Unteroffizier und las die Zeitung. Der Mann drehte ihm den Rücken zu. „Servus, ich bin dein neuer Stubengenosse“, sagte Jeremin und warf seine Sachen auf das freie Bett. Der Unteroffizier drehte sich langsam um. Es war Machulke. Beinahe hätte Jeremin stramm gestanden. Er lächelte verlegen und gab ihm die Hand. „Leck mich am Ärmel“, staunte Machulke. „Die Niete Jeremin haben sie zum Unteroffizier gemacht. Den größten Blindgänger meiner Gruppe. Seit wann tragen Sie denn die Gurkenschalen, Mensch?“
„Seit dem ersten September“, antwortete Jeremin befangen. „Na, dann kannst du ja seit dem ersten September du zu mir sagen“, grinste Machulke. „Ich werde mich beeilen, daß ich Feldwebel werde. Du weißt doch, daß wir beide noch etwas glattzumachen haben, aus der Kaserne.“ Jeremin schwieg. Machulke ging noch einmal um ihn herum und betrachtete ihn von allen Seiten. Dann baute er sich mit auf den Rücken gelegten Händen vor Jeremin auf. „Das EK hat er auch, der Wurzelknecht. Na ja, hast du auch eher verdient als die Tressen. Übrigens“, setzte er verlegen hinzu, „ich danke dir auch noch für Orléans. Hat mich ja gewurmt, daß ausgerechnet du und der Rotenburg mich von der Straße geholt habt. Ich heiße Karl.“ „Ich heiße Alex.“ „Nach dem Platz in Berlin, was?“ erkundigte sich Machulke. „So ein Angebername. Jetzt bist du dran, du Spund. Weißt du, was du zu tun hast?“ „Nein, Herr Unteroffizier“, Jeremin stand stramm. „Keine Lebensart. Und so was trägt Gurkenschalen“, seufzte Machulke mißbilligend. „Jetzt bist du dran, einen Anständigen auszugeben. Ziel erkannt?“ Sie gingen zusammen in die Kantine. Der Pächter sah ihnen erfreut entgegen. „Neue Kundschaft. So ist es recht. Ein strammer Kapo mit dem EK bekommt zur Begrüßung immer einen gratis.“ Er schenkte die Gläser randvoll. „Das ist so en Würstchen aus meiner Gruppe“, prahlte Machulke. „Vor einem Jahr war er noch ein stinkender Rekrut. Jetzt haben sie ihn als Unteroffizier verkleidet. Eine Schande, was heute alles Tressen trägt.“ „Prost“, nickte der Kantinier. Machulke schob Jeremin zu einem Tisch. „Stell einen Kasten kalt“, befahl er dem Pächter, „und laß eine Batterie abprotzen.“ Der Kantinier stellte vor jeden seiner Gäste drei Flaschen Bier. Jeremin staunte, aber Machulke belehrte ihn: „Gesoffen wird gruppenweise. Drei Pullen sind eine Gruppe. Der Kapo ist ein Doppelstöckiger. Da kommt er schon.“
Zwei doppelte Steinhäger rückten an. „Prost, du Mündungsschoner.“ Sie kippten die Schnäpse. Nach einer Stunde stand quer über den Tisch sauber ausgerichtet eine lange Doppelreihe leerer Bierflaschen. Machulke prüfte die Richtung, und Jeremin schrie die Flaschen an: „Rechte Schulter zurück, linke Hüfte unter den Leib, rechts Ohr höher. Das ist doch keine Richtung, ihr Nieten!“ „Wir werden den Sauhaufen scheuchen, daß die welken Ohren flattern“, verkündete Machulke. „Tausend Meter vor, marsch, marsch!“ Mit einer Handbewegung fegte er die lange Reihe leerer Flaschen vom Tisch. Klirrend rollten sie über den Dielenboden. „Na, na“, brummte der Kantinier, „macht’s halblang.“ Aber er brachte Nachschub. Machulke nahm einen tiefen Zug, stützte die Arme auf den Tisch und glotzte Jeremin tiefsinnig an. „Weiß du, was du bist? Ein Rialo! Was ist ein Rialo?“ „Herr Unteroffizier?“ stammelte Jeremin betrunken und versuchte aufzustehen, was ihm jedoch mißlang. „Ein Rialo ist ein Riesenarmleuchter“, erklärte Machulke. „Jawohl, Herr Unteroffizier“, lallte Jeremin. „Jawohl, Herr Unteroffizier“, äffte Machulke nach. „Das ist alles, was ihr Nieten herausbringt. Na, dann wollen wir mal eine neue Lage verkasematuckeln. Prost, du Rialo!“ Erstaunt beobachtete er seinen Zechkumpan. Jeremin sackte zusammen, schlug mit dem Kopf auf die Tischkante und rülpste. Der Kantinier wiegte den Kopf. „Dein Kumpel ist fertig, schätze ich.“ „Diese jungen Bettenbauer. Nicht mal ’nen kleinen Schluck können die Kerle vertragen“, brummte Machulke verächtlich. „Aber ich kriege dich schon noch, Freundchen. Wir sind noch nicht glatt. Ich mach dich noch fertig.“ „Warum?“, fragte der Kantinier. „Was hat er dir denn getan?“ „Das verstehst du nicht!“ Machulke öffnete mit geübtem Griff eine neue Flasche. *
Der Kolonialwarenhändler Strantzki saß zusammengekauert auf einem harten Holzstuhl. Seine Wieselaugen streiften die hohen Regale mit Akten, glitten an den vergitterten Fenstern vorbei und kehrten wieder zu dem breitschultrigen Mann hinter dem Schreibtisch zurück, der damit beschäftigt war, seine Nägel mit einem Taschenmesser zu reinigen. Strantzki hatte sich seinen Besuch im Büro der Geheimen Staatspolizei ganz anders vorgestellt. Er hatte geglaubt, Männern zu begegnen, die ihn mit Röntgenblicken beobachteten und seine Wachsamkeit loben würden. Statt dessen hatte man ihn an diesen Klotz von einem Beamten verwiesen, der hinter einem tintenfleckigen Schreibtisch in einem Büro hockte, das den Ansprüchen des Herrn Ortsgruppenleiters wohl schwerlich genügt hätte. „Also was wollen Sie nun eigentlich?“ fragte der Breitschultrige und klappte das Taschenmesser zusammen. „Sie kommen hierher und erzählen mir von einem Arzt, dessen Tochter immer bei ihnen eingekauft hat, und nun ist sie plötzlich nicht mehr da. Die lieber Gott, vielleicht ist sie verreist. Erkundigen Sie sich doch beim Einwohnermeldeamt, da wird ja die Reiseabmeldung vorliegen. Was haben wir denn damit zu tun?“ „Aber es liegt keine Reiseabmeldung vor“, sagte Strantzki rasch, „ich war auf dem Revier. Das ist es ja eben.“ Der Gestapobeamte zuckte die Achseln: „Vergehen gegen die Meldeordnung. Angelegenheit der örtlichen Polizeibehörde.“ „Verstehen Sie mich denn nicht“, ereiferte sich der Kolonialwarenhändler, „ich spreche von Dr. Herxheimer. Seine Frau ist Jüdin und lebt in der Schweiz. Die Tochter ist Mischling ersten Grades. Ich habe gehört, daß sie mit einem Soldaten herumpoussiert hat. Und nun ist sie plötzlich verschwunden. Vielleicht bekommt sie ein Kind von dem Soldaten. Das wäre aber Rassenschande. Ich bin alter SA-Mann und Parteigenosse. Ich halte es für meine Pflicht, Ihnen die Vorkommnisse zu melden.“ „Sie meinen Ihre Vermutungen“, brummte der Beamte unfreundlich. „Wie heißt der Arzt?“ „Herxheimer. Dr. Jonathan Herxheimer.“ „Hm!“ Der Breitschultrige stand auf und ging ins Nebenzimmer.
Strantzki konnte nicht verstehen, was er dort mit einem anderen Mann sprach. Dann kehrte der Beamte mit einem Aktendeckel zurück, ließ sich auf seinen Schreibtischsessel fallen und blätterte in den Personalbogen. Jetzt wird er doch wenigstens lebendig, dachte der Kolonialwarenhändler zufrieden. „Warum sind Sie eigentlich nicht Soldat?“ fragte der Breitschultrige plötzlich. „Ich“, Strantzki war so verblüfft, daß er im ersten Moment keine rechte Antwort fand. Dann stotterte er, „ich, ich habe einen Herzfehler, ein Attest, die Musterungskommission hat mich zurückgestellt, Stiche, hier – bis herab zum Unterarm. Dauerndes Schwindelgefühl.“ „Waren Sie bei Dr. Herxheimer in Behandlung?“ Der Gestapobeamte machte gar keinen schläfrigen Eindruck mehr. „Ja, nein, das heißt im Anfang, aber ich ging dann zu einem anderen Arzt.“ „Herxheimer hat Ihnen wohl nicht das richtige Attest gegeben was?“ – der Breitschultrige beugte sich ein wenig vor. Strantzki schrumpfte zusammen. Diese Wendung des Gesprächs hatte er nicht erwartet. „Nein. Ich habe einen anderen Arzt aufgesucht, nachdem ich erfuhr, daß die Frau Dr. Herxheimers Jüdin ist. In diesem Augenblick war es mir als SA-Mann und altem Parteigenossen nicht mehr zumutbar…“ „Quatsch“, widersprach der Beamte. „Vorhin haben Sie erzählt, die Herxheimers kaufen seit Jahren bei Ihnen ein. Sie wußten doch seit Jahren, daß er mit einer Jüdin verheiratet ist. Schwindeln Sie mich nicht an, Sie Würstchen. Sie können den Mann nicht leiden, und jetzt wollen Sie ihm eins auswischen. Das kennen wir schon. Uns soll es egal sein, wenn Ihre Angaben stimmen. Aber wenn Sie uns hier nur Arbeit machen wollen, um ihr Mütchen zu kühlen, dann können Sie was erleben. Wie heißen Sie? Strantzki? Sind Sie polnischer Abstammung?“ „Nein“, sagte der Kolonialwarenhändler zitternd, „ich bin in Oberschlesien geboren und groß geworden. Ich spreche allerdings polnisch.“ „Auch russisch?“ „Auch ganz gut russisch. Ich habe als junger Mensch im Osten gearbeitet. In der schlechten Zeit. Erst später kam ich hierher. Ich habe in den Laden hineingeheiratet.“
„So, so“, der Beamte machte sich ein paar Notizen. „Aber Sie waren immer Reichsdeutscher.“ „Jawohl.“ „Seit wann in der Partei?“ „Seit 1931. Seit 1930 bin ich in der SA.“ „Na schön“, der Breitschultrige kratzte sich sein kantiges Kinn. „Und Sie glauben, die Tochter des Herxheimer sei getürmt. Hat sie derartige Absichten vielleicht einmal beim Einkauf in Ihrem Laden geäußert? Ich meine nicht direkt, aber vielleicht irgend etwas über Heimweh nach der Mutter oder so?“ Strantzki tat so, als denke er scharf nach. Natürlich hatte sie nie Derartiges gesagt, sie hatte im Vergleich zu anderen Kundinnen überhaupt nie über persönliche Dinge gesprochen. Aber vielleicht war es besser, wenn ihm doch etwas einfiel. Niemand konnte ihm schließlich das Gegenteil beweisen. Der Beamte sah ihn abwartend an. „Ich glaube“, begann der Kolonialwarenhändler, „sie hat einmal gesagt, in der Schweiz lebe man viel besser als hier und viel freier. Ja, so ähnlich drückte sie sich aus. Und ein anderes Mal erwähnte sie, daß sie ihre Mutter bald einmal wiedersehen möchte.“ „Wann war das?“ fragte der Mann hinter dem Schreibtisch schnell. „Nun, warten Sie, ich glaube – ja, das kann so etwa drei Wochen her sein“, log Strantzki. „Kennen Sie den Soldaten, mit dem die Herxheimer ging?“ fragte der Beamte. „Haben Sie die beiden zusammen gesehen? Wissen Sie, wie er heißt? Welchen Dienstgrad hat er?“ „Ich habe sie ein paarmal zusammen gesehen. Ganz eng umschlungen sind sie auf der Straße zu den Kasernen hinaufgegangen. Aber es war dunkel. Sein Gesicht konnte ich nicht erkennen. Ich habe auch keine Rangabzeichen gesehen. Aber die Frauen im Laden haben darüber gesprochen. Sie haben gesagt, der Soldat soll über Nacht bei ihr geblieben sein. So eine Schweinerei, haben sie gesagt. Da verführt so ein Judenbalg unsere Soldaten. Der arme Kerl weiß sicher gar nicht, was er sich da angelacht hat.“ „Und seit wann glauben Sie, ist das Mädchen verschwunden?“
„Seit etwa 14 Tagen. Sie hat immer eingekauft bei mir. Jeden Tag. Manchmal sogar zweimal. Und seit vierzehn Tagen kommt jetzt die Sprechstundenhilfe vom Doktor.“ „Vielleicht ist das Mädchen krank?“ meinte der Beamte. „Das glaube ich nicht, das hätte die Sprechstundenhilfe sicher erzählt.“ „Na schön“, der Breitschultrige hinter dem Schreibtisch machte ein mürrisches Gesicht. „Besten Dank für Ihren Hinweis. Sie können jetzt gehen.“ „Heil Hitler“, Strantzki hatte es sehr eilig, aus dem stickigen Büro herauszukommen. Der Beamte sah ihm nach. Dann nahm er die Personalakte Herxheimers, schrieb mit Rotstift auf den Deckel: „Ermittlungssache“ und legte den Hefter in einen kleinen Drahtkorb.
V Der Rumpf der schweren Transportmaschine dröhnte und zitterte. Jeremin kauerte an einem der runden Fenster und starrte hinaus. Der Himmel starrte in gleißendem Blau. Das Wasser unter ihnen war dunkler mit einem türkisfarbenen Schimmer. Breit auseinandergezogen donnerte der Verband gen Süden. Regelmäßig fegten die Jäger des Begleitschutzes über den Pulk. Man hatte Jeremin und Machulke nach einigen ruhigen Wochen im Ersatzbataillon zu ihrer alten Einheit versetzt. Dort waren sie von den Kameraden mit einer großen Kantinenfeier empfangen worden. Besonders Rotenburg war überglücklich, als er Jeremin die Hand drückte. Es hatte sich nicht viel geändert. Hauptmann Endres wurde immer noch von seinem Magengeschwür geplagt, Hannemann war noch fetter geworden; für den verbluteten Leutnant Mussil stand nun ein Leutnant Piper vor der Front. Die Gefallenen des Frankreichfeldzuges waren durch neue Gesichter ersetzt worden. Eines Tages war die Division nach dem Truppenübungsplatz Baumholder verlegt worden. Die Offiziere machten geheimnisvolle Gesichter. Eine Urlaubs- und Ausgangssperre wurde ausgegeben, alle Fahrzeuge erhielten einen gelben Anstrich. Tropeninstrukteure erschienen, und genaue ärztliche Untersuchungen setzten ein. In zwei Stunden werden wir Afrika sehen, dachte Jeremin aufgeregt. Neben ihm hockte Rotenburg und blickte ebenfalls hinaus. Einige luftkranke Soldaten würgten in die vorgehaltenen Tropenhelme. Machulke saß auf einer Munitionskiste und las ein Dreigroschenheft. Der Flug von Sizilien nach dem neuen Kontinent schien ihn nicht mehr zu beeindrucken als eine Kleinbahnfahrt. Afrika, dachte Jeremin und freute sich. In seiner Vorstellung malten sich wiegende Palmen, im Paßgang schaukelnde Kamelkarawanen, weiße Häuser unter tropischen Blüten und glutäugige Frauen. Der Funker tauchte aus der Pilotenkanzel auf und brüllte durch das Donnern der Motoren: „Anschnallen und nach der Landung sofort raus aus der Kiste!“ „Land“, Rotenburg deutete aus dem kreisrunden Fenster. Jeremin sah eine dünne rötliche Linie, die schnell näherkam. Er war enttäuscht. Was
sie ansteuerten, waren keinen weißen Tropenstädte unter schlanken Palmen, nicht einmal eine Oase, sondern eine felsige, steil abfallende Küste, hinter der sich gelbgrau schmutzig eine unendliche Fläche dehnte. Der Verband donnerte über eine steinige Wüste, durchschnitten von ausgetrockneten Flußbetten. Man sah eine kerzengerade Straße, die aus dem Dunst der Ferne auftauchte und in der anderen Richtung wieder verschwand. Auf der Straße rollte in einer riesigen Staubwolke eine Lkw-Kolonne. Die Maschinen kurvten weit ausholend. Man erkannte die bröckelnden Mauern eines Forts. Rundum starrten die Rohre schwerer FlakGeschütze. Jetzt kreisten die Flugzeuge über einem behelfsmäßig befestigten Platz. Die Ju drückte nach unten und setzte hart auf. „Raus, ihr Säcke“, schrie der Bordfunker, während die Maschine noch ausrollte, „nischt wie raus, bevor die Tommys kommen.“ Die Seitentüren wurden aufgerissen, und die Männer sprangen einer nach dem anderen hinaus. Auch Jeremin ließ sich fallen und landete fluchend auf dem steinigen Boden. Neben ihm plumpste Rotenburg wie eine reife Pflaume herab. „Los, los“, rief Stichling und warf ihren Wäschebeutel, Tornister, Munitionskästen und Ersatzteile hinterher. Aus einem anderen Flugzeug zerrten einige Soldaten eine schwere Seitenwagenmaschine. Das Motorengebrumm der restlichen, immer noch kreisenden Flugzeuge hing über dem Platz wie deine dröhnende Glocke. Jeremin nahm Stichling die Maschinengewehre ab. Plötzlich bemerkte er, daß der Pilot aus der Kanzel etwas hinausschrie und in den strahlenden Himmel deutete. Winzige schwarze Punkte lösten sich aus der Sonne und stießen auf den Pulk der kreisenden Transportmaschinen. Bordkanonen donnerten. Die Flak zauberte weiße Wölkchen in das Blau des Himmels. Jeremin warf sich unter die Transportmaschine, hörte das pfeifende Geräusch, als der Jäger wieder hochzog, und gleich darauf die Explosion kleiner Bomben. „Verdammte Sauerei“, brüllte der Pilot aus seiner Kanzel. „Macht endlich, daß ihr fertig werdet.“ Der Bordfunker gab Jeremin, der vor den Laufrädern lag, einen Tritt. „Hau ab, oder sollen wir dich überfahren?“ „Was ist denn los?“ Jeremin sah ihn verwirrt an.
„Wir wollen abhauen, du Idiot. Glaubst du, wir waren, bis die Tommys uns die Startbahn mit ihren Bomben zur Sau gemacht haben?“ „Unsere Sachen sind noch im Flugzeug“, Jeremin sprang auf. „Steckt euch eure Sachen an den Hut.“ Der Funker schwang sich in die Maschine, stieß Feldwebel Stichling hinaus, der Propellerwind riß Jeremin die Mütze vom Kopf, die Männe sprangen fluchend zur Seite, und schon rollte die Ju 52 aufheulend an. „Verdammte Bande“, brüllte der Feldwebel und sah dem sich abhebenden Flugzeug nach. „Die Hälfte der Tornister ist noch drin.“ Von den englischen Jägern war nichts mehr zu sehen. Auch die Flak hatte aufgehört zu schießen. Sanitäter schleppten ein paar Verwundete zu einem Zelt. Zwei neue Transportmaschinen setzten zur Landung an. „Nette Gegend“, brummte Rotenburg. „Hier scheint ja allerhand los zu sein.“ „Was los?“ meinte der Flak-Unteroffizier, der in der Nähe stand, „hier war doch nichts los. Wenn die Tommys richtig angreifen, sind dreißig Prozent eines Pulks im Eimer. Das waren nur ein paar Jäger vom Dienst. Ihr könnt euch beim lieben Gott recht herzlich bedanken, daß ihr so gut runtergekommen seid.“ „Das soll Tripolis sein?“ Maurer sah sich um. „Tripolis? Wie kommst du denn darauf?“ erkundigte sich der FlakUnteroffizier. „Man hat uns gesagt, wir fliegen nach Tripolis.“ Der Unteroffizier wollte sich ausschütten vor Lachen. „Lach doch nicht so dämlich“, Jeremin rieb sein aufgeschlagenes Knie. „Da soll man nicht lachen. Tripolis ist dreitausend Kilometer entfernt. Ihr seid auf einem Feldflughaben in der Nähe von Tobruk.“ „Die haben uns aber verladen“, staunte Burkhard. „Stichling“, rief Hauptmann Endres, „hier herüber!“ Die Kompanie sammelte sich in einem ausgetrockneten Flußbett. „Wir wollen doch mal sehen, wo wir eigentlich sind.“ Unteroffizier Hartmann breitete seine Karte aus. „Das ist die Küste. An der Küste läuft eine einzige Straße in diesem Saftland, die Via Balbo. Da liegt Tobruk“, er legte seinen schmutzigen Zeigefinger auf einen kleinen roten Punkt. „Ein paar hundert Kilometer weiter fängt schön Ägypten an.“
„Tobruk“, brummte Burkhard. „Da sitzen die Tommys drin, und unsere Eierköpfe haben uns pfeilschnell hierhergeflogen, anstatt nach Tripolis. Wißt ihr was? Morgen ist der 1. Mai. Ich glaube, Rommel will eine Sondermeldung produzieren – Tätärätätä -, Tobruk ist gefallen!“ „Hier stinkt’s“, murmelte Rotenburg. „Ich glaube, Burkhard hat recht.“ „Herhören“, rief Hauptmann Endres und kletterte auf die sandige Böschung. „Wir marschieren jetzt in eine etwa drei Kilometer entfernte Bereitstellung. Heute nacht tritt die Division, unterstützt von italienischen Verbänden, zum Angriff auf die Festung Tobruk an. Ich hoffe, daß ihr euch genauso tapfer schlaft, wie in Frankreich. Wenn wir morgen früh Tobruk genommen haben, bitte ich mir strengste Disziplin aus. Alkoholgenuß in den Tropen ist gefährlich.“ „Da haben wir’s“, schimpfte Maurer. „Hätte ich das gewußt, dann hätte ich mir in Catania ’nen anständigen Tripper anhängen lassen und wäre jetzt im Lazarett, anstatt heute nach den Helden zu markieren. „Ohne Tritt, marsch“, befahl Leutnant Piper. Die Kompanie stolperte über Steine, stachligen Kameldorn, und dazwischen versanken ihre Füße im weichen Sand. Vor den Männern dehnte sich die weite, leere Öde. Sie kamen an Flakstellungen vorbei. Lastwagen und Zugmaschinen standen unter Tarnnetzen. Als sie einmal anhielten, tastete Jeremin nach seiner Feldflasche. „Sauf langsam, Kamerad“, rief ihm ein Kraftfahrer zu, der an seinem Wagen herummontierte. „Der Tag ist lang, und es gibt nur einen halben Liter.“ „Was gibt es?“ fragte Jeremin erschrocken. Der Mann ließ sein Montiereisen fallen und kam heran. Einige Soldaten, die vor einem Zelt gehockt hatten, folgten ihm. Ohne sich um die Offiziere zu kümmern, blieben die Männer, die Hände in den Hosentaschen vergraben, bei der Kompanie stehen. „Na“, sagte einer zu Stichling. „Du siehst ja aus wie frisch gebacken. Ihr seid wohl eben erst angekommen?“ „Das haben Sie doch wohl gesehen“, knurrte der Feldwebel mürrisch. Machulke musterte die Soldaten. Sie sahen aus wie Strauchdiebe. Ihre Uniformen waren schmutzig, zerrissen und ausgebleicht. In den gegerbten Gesichtern wucherten verfilzte Bärte. Jeder trug anscheinend, was ihm paßte. Manche hatten Shorts an, andere Breecheshosen.
„Nehmt die Hände aus den Taschen, wenn ihr mit einem Feldwebel sprecht“, grollte Machulke. „Halt deine Fresse“, verwies ihn einer der Soldaten. „Erstens bin ich selbst Feldwebel, und zweitens gibt’s hier kein Männchenbauen. Wir haben andere Sorgen.“ Machulke klappte verblüfft den Mund zu. „Tragt ihr hier keine Rangabzeichen?“ erkundigte sich Stichling unbehaglich. „Haben wir mal getragen. Als wir so taufrisch ankamen wie ihr. Jetzt sind wir froh, wenn wir ein paar Beutehemden erwischen. Unser Kram steht vor Dreck und Schweiß. Waschen gibt’s hier nicht.“ „Warum?“ fragte Machulke. „Weil’s kein Wasser gibt, du Hornochse. Oder kannst du mit Sand waschen?“ „Wie ist das mit dem Wasser?“ fragte Jeremin. „Stimmt das, mit dem halben Liter pro Tag? „Ohne Tritt marsch“, rief Hauptmann Endres. Die Kompanie stolperte weiter. „Feines Ländchen“, murmelte Rotenburg. „Dagegen scheint Frankreich ein Spaziergang gewesen zu sein.“ Über der marschierenden Kompanie lag eine dichte Staubwolke. Der feine Staub legte sich auf die Gesichter und Uniformen, bedeckte die Waffen und verklebte die Poren der schweißnassen Haut. Vor allem aber trocknete er die Kehlen der Männer aus. Sie husteten, und zwischen ihren Zähnen knirschte der sandige Speichel. Jeremin kämpfte einen heroischen Kampf mit sich selbst und ließ die Feldflasche hängen. Die Sonne begann zu sinken. Es wurde kühler. Eine halbe Stunde später stieg ein übergroßer Mond vom Rande der Wüste auf. Die Sanddünen warfen dunkle Schatten. Rotenburg streifte mit seinem Blick die aus dem Flugsand herausragenden Felsbrocken. „Hier sieht es mies aus, wenn wir uns eingraben müssen“, sagte er zu Jeremin. „Und Deckung gibt es überhaupt keine.“ Wieder hielt die Kompanie. „Hinsetzen“, befahl Leutnant Piper. „Unteroffiziere zu mir.“ „In drei Stunden greifen wir an“, erklärte Hauptmann Endres. „Tobruk ist von einem dreifachen Bunkergürtel umgeben. Die Bunker sind
schwer auszumachen, da sie mit dem Erdboden abschließen und erstklassig getarnt sind. Unsere Kompanie hat vier Bunker zu nehmen. Nachdem die Bunker genommen sind, setzen wir den Marsch auf Tobruk fort. Dem Angriff geht ein Trommelfeuer unserer Artillerie voraus. Wir werden von Panzern unterstützt. Die Festung muß unter allen Umständen heute nacht fallen.“ Jeremin ging wieder auf seinen Platz zurück und gab weiter, was der Hauptmann gesagt hatte. „In drei Stunden fahren wir vielleicht schon zur Hölle“, murmelte Rotenburg. * „Geheime Staatspolizei“, sagte einer der beiden Männer, steckte seinen Ausweis wieder ein und trat in die Diele. Der andere folgte. „Sie sind allein, Herr Doktor?“ Der Beamte warf einen Blick auf die Haken der Flurgarderobe. „Ja“, antwortete Herxheimer. Er sah ruhig in das ausdruckslose Gesicht des breitschultrigen Mannes. Er hatte geahnt, daß sie einmal kommen würden. Aber an diesem Abend hatte er sie nicht erwartet. Der nächste Tag war ein Feiertag. Der erste Mai. „Ich möchte das Zimmer Ihrer Tochter sehen“, sagte der Mann und wandte sich an seinen Begleiter: „Sie bleiben hier unten.“ Woher weiß er, daß Renates Zimmer im ersten Stock ist? dachte Herxheimer, während er die Treppe hinaufstieg, die Tür öffnete und Licht anknipste. Der Beamte öffnete den Kleiderschrank, zog die Schublade der Kommode heraus und setzte sich an den kleinen weißen Schreibtisch des Mädchens. „Wo ist Ihre Tochter eigentlich?“ erkundigte er sich und blätterte einige Briefe durch. Herxheimer stand an der Wand: „Sie muß verreist sein.“ „Wohin denn? Sie hat sich nicht vorschriftsmäßig abgemeldet.“ „Sie hat sich auch bei mir nicht abgemeldet“, sagte Herxheimer. „Ach?“ – der Mann sah ihn an. „Mit anderen Worten, das Mädchen ist sogar für Sie völlig überraschend weggefahren.“ „Sie ist volljährig“, antwortete Herxheimer leise.
„Herr Doktor!“ der Beamte lehnte sich auf dem schmalen Stuhl zurück. Das dünne Holz knackte unter seinem Gewicht. „Sie wollen doch nicht behaupten, daß Sie keine Ahnung haben, wo sich ihre Tochter befinden könnte?“ Der Arzt schwieg. „Könnte es sein, daß Ihre Tochter versucht hat, illegal die Schweizer Grenze zu überschreiten? Ihre Frau lebt doch in der Schweiz.“ „Es könnte sein –„, murmelte Herxheimer. „Sie wären wohl ganz froh, wenn es ihr gelungen wäre?“ erkundigte sich der Mann. Herxheimer antwortete nicht. „Na, na“, auf dem breitflächigen Gesicht des Beamten erschien ein joviales Grinsen, „wir sind keine Unmenschen. Wir verstehen, was ein liebendes Vaterherz empfindet.“ „Wirklich?“ Der Arzt sah ihn an. „Gewiß! Aber wir müssen uns eben um die Sache kümmern. Hier liegt eine Verletzung der Meldepflicht vor. Natürlich können wir Sie nicht für strafbare Handlungen Ihrer Tochter verantwortlich machen. Wollen wir auch gar nicht. Vielleicht ist sie wirklich drüben angekommen. Dann ist für uns der Fall erledigt.“ Der Mann stand auf, ging im Zimmer auf und ab, blieb an dem Toilettentisch stehen und begegnete im Spiegel Herxheimers Augen. Ohne sich umzudrehen fragte er: „Und Sie, Herr Doktor?“ Sie wollen doch wohl hierbleiben?“ „Ich? Natürlich. Ich bin Stabsarzt der Reserve. Ich unterstehe der Militärgesetzlichkeit. Eden Tag kann mein Einberufungsbefehl kommen.“ „Sie erhielten im Weltkrieg verschiedene Auszeichnungen“, der Beamte drehte sich langsam um. „Wir halten Sie für einen anständigen Deutschen. Deshalb werden Sie Verständnis für die Erfüllung einer kleinen Formalität haben, um die wir Sie bitten.“ „Eine Formalität?“ „Sie werden sich scheiden lassen!“ Der Mann blieb vor Herxheimer stehen. „Ich soll mich scheiden lassen? Ich soll meine Frau verleugnen? Ich hätte ja kein Recht mehr, sie zu unterstützen.“ „Ich nehme an, Sie kennen Ihre Pflicht und wissen, was Sie als Deutscher zu tun haben. Auf dem hiesigen Amtsgericht liegt ein Antrag auf Einreichung der Scheidung unterschriftsbereit“, sagte der Beamte kalt.
„Kommen Sie bitte übermorgen zwischen acht und zehn. Zimmer dreißig.“ Er wandte sich ab, verließ das Zimmer, und gleich darauf fiel unten die Tür ins Schloß. Ein wagen wurde angelassen und fuhr davon. Herxheimer ging langsam zu dem schmalen Stuhl vor dem Schreibtisch, setzte sich und starrte auf die Fotografien in dem silbernen Rahmen. „Ich soll euch verleugnen“, murmelte er, „ich soll euch abschwören, wie man die Menschen in den Religionskriegen zwang, ihrem Glauben abzuschwören. Mörder und Verbrecher wollen es mir befehlen. O mein Gott, in welcher Zeit leben wir.“ Schwer sank sein Kopf auf die Arme. Zum erstenmal dachte er an die Mauserpistole in der Schublade seines Nachttischs. * „Dieser verdammte Staub!“ Oberstleutnant Mellenthin trat an den Zelteingang und spuckte hinaus in den heißen Sand. Dann ging er zum Kartentisch zurück. Oberst Brand spielte mit dem Stechzirkel. „Was halten Sie von dem Vortrag des Kommandierenden?“ fragte er. „Nehring war ja sehr optimistisch.“ „Und Rommel war natürlich begeistert von seinem Optimismus. Ich siehe die Sache nicht so rosig. Hier“, er legte seinen Finger auf den Plan der Festung Tobruk, „sitzt die britische Elite, verstärkt durch die schottische Garde, die 6. südafrikanische Feldbatterie und indische Eliteeinheiten. Die Gazalastellung ist ein schwerer Brocken. Überall in den Fels gesprengte Bunker und Aristellungen, Panzergräben, versteckte MGNester. Fast 40 000 Mann werden in der kommenden Nacht versuchen, uns das Leben zur Hölle zu machen. Ich wollte, wir hätten schon das berüchtigte Straßenkreuz von Sidi Mahmud genommen. Dann wäre mir wohler.“ „Mir auch“, seufzte der Oberst. „Es ist eine Schweinerei, daß wir keine genauen Pläne der Befestigungsanlagen und des Bunkerringsystems haben. Nur diesen nichtssagenden Fetzen hier“, er schlug wütend auf die
Karte. „Damit kann man nichts anfangen. Unauffindbar, sagen die Spaghettis.“ „Glauben Sie wirklich, daß der italienische Generalstab undichte Stellen hat, ich meine -?“ Oberst Brand zuckte die Achseln. „Ich weiß es nicht. Es ist auch nicht mehr zu ändern. Rommel hat es sich in den Kopf gesetzt, daß Tobruk heute nacht fallen wird, und er wird das Letzte aus unseren Leuten herausholen. In Rastenburg wird man ungeduldig. Haben Sie die Funksprüche aus dem Führerhauptquartier gelesen?“ Mellenthin nickte: „Sie scheinen irgend etwas vorzuhaben. Wenn Tobruk fällt, ist der Weg nach Kairo und Alexandrien offen. Dann können wir den Suezkanal besetzen, haben die Kontrolle über die Ölquellen des Vorderen Orients und beherrschen den Persischen Golf. Darauf kommt es Hitler an. Jeder Tag, den wir vor Tobruk verlieren, ärgert ihn. Das kann ich verstehen. Deutschland braucht nicht die libysche Wüste, sondern den Suezkanal und das arabische Öl.“ „Trotzdem“, der Oberst wiegte den grauhaarigen Kopf. „Man soll nichts überstürzen. Wir müssen überall gleichzeitig angreifen heute nacht. Bei Knightsbridge, bei Gazala, bei El Adem. Die letzten Truppen sind heute nachmittag angekommen. Keine Kenntnis des Geländes, keine Tropenerfahrung. Und auf die italienischen Divisionen kann man sich sowieso nicht verlassen. Wenn sich der Angriff irgendwo festfährt, ist es aus. Entweder es klappt sofort oder gar nicht.“ „Die Italiener“, Mellenthin lachte verächtlich. „Wenn wir Tobruk wirklich nehmen, wird Mussolini einen italienischen Sieg daraus machen.“ „Soll er doch“, meinte der Oberst und zog einen langen dünnen Zigarillo aus der Tasche. „Dafür wird er niemals etwas am Suezkanal oder in Saudiarabien zu sagen haben. Wir werden bis zum Persischen Golf vorstoßen und dann verfügen wir über die größten Ölvorkommen der Welt. Damit ist die Vormachtstellung Deutschlands gesichert. Eisenhower und Montgomery werden bald keinen Tropfen Sprit mehr für ihre Panzer haben.“ „Wissen Sie, was ich mir manchmal überlege?“ sagte Mellenthin nachdenklich. „Wer soll eigentlich all die Länder, die wir erobern, besetzen? Wir werden ein Volk von lebenslangen Berufssoldaten sein müssen. In Deutschland wird es dann nicht mehr sehr viele Männer geben.“
„Daran scheint der Führer auch schon gedacht zu haben“, meinte der Oberst. „Sie züchten doch auf den Ordensburgen schon einen tüchtigen Nachwuchs. Die Hauptsache, alle rassischen Anlagen stimmen Die Ehe wird überflüssig. Der Staat ersetzt Vater und Mutter.“ „Ich weiß nicht“, der Oberstleutnant machte ein unbehagliches Gesicht, „was soll man sich darunter vorstellen? Ohne Ehe, ohne Familienleben. Man kann doch nicht eine Generation rassischer Roboter züchten, die Frauen zu Gebärmaschinen und die Männer zu Ortsbullen degradieren.“ „Man kann alles“, sagte der Oberst. „Wenn wir die Welt erobern, so müssen wir sie auch besetzen können. Und wenn uns die Menschen dazu fehlen, so werden wir sie eben fabrizieren müssen.“ * Rotenburg warf einen Blick auf die Leuchtziffern seiner Uhr. „Noch zehn Minuten“, sagte er, „dann gibt’s Feuerwerk.“ Jeremin und er kletterten die Böschung des Wadis hinauf und legten sich auf den Kamm. Es roch nach Staub. Der Mond hing sehr groß und sehr hell am Himmel. Sein fahles Licht übergoß die Wüste mit grünlichweißem Schimmer. Die Sandverwehungen sahen aus wie die erstarrte Dünung eines Meeres. „Eine richtige Mondlandschaft“, sagte Jeremin. Rotenburg starrte nach Norden. Dort, wo der dunkle Himmel mit der nächtlichen Wüste zusammenstieß, lag Tobruk. Er tastete nach seinen Zigaretten. „Man glaubt, vor uns sei alles einsam, öde und verlassen. Dabei liegen nur wenige Kilometer weiter Tausende schwer bewaffneter Männer. Sie kauern sprungbereit in ihren Gräben, Löchern und Bunkern. Sie hocken am Steuer ihrer Panzer und stehen am Abzugskopf ihrer Geschütze. Wir werden heute nach versuchen, diese Männer zu töten, und sie werden versuchen, uns zu töten. Und warum? Vielleicht weil Rommel noch ein paar Auszeichnungen braucht und ‚seinem Führer’ morgen zum Mittagessen eine Sondermeldung servieren will. Man sollte einmal ausrechen, wieviel Hektoliter Blut man für eine solche Sondermeldung braucht.“ „Einmal müssen wir Tobruk doch einnehmen, außerdem brauchen wir Wasser. In Tobruk gibt es Wasser.“
„Wasser hatten wir zu Hause genug“, antwortete Rotenburg bitter. Ein dumpfes Gebrüll zerriß plötzlich die nächtliche Stille. Hinter den deutschen Linien flammte der Horizont. Die Luft wurde von heranjaulenden, heulenden und orgelnden Granaten aller Kaliber zerfetzt. „Unsere Artillerie“, flüsterte Jeremin. Das riesige Maul eines Untiers schien sich zu öffnen, spie gewaltige Mengen glühenden Stahls, brüllte in dumpfer Wut und stampfte die zitternde Erde. Da bäumte sich das zweite Ungeheuer auf. Der Himmel über Tobruk wurde von tausend Blitzen erhellt. Wie eine Wand standen aufspritzende Erdfontänen krepierender englischer Geschosse als tödlicher Sperriegel vor den britischen Gräben. Felsbrocken taumelten durch die kochende Luft. Minenfelder detonierten in krachenden Kettenexplosionen. Herankriechende Panzer hoben sich gegen den flammenden Himmel als plumpe Silhouetten ab. Ihre Motoren brummten wie ein Schwarm blutgieriger Hornissen. „Da hast du eine Todessymphonie, komponiert von menschlicher Dummheit“, schrie Rotenburg durch den höllischen Lärm. Jeremin starrte in die grellzuckende Nacht. „Großer Gott“, dachte er. „Da müssen wir mitten hindurch.“ Er empfand so starke Angst, daß er zitterte. * Hauptmann Endres stand auf dem Rand des Wadis und beobachtete nervös die Leuchtzeiger seiner Armbanduhr. Die Luft zitterte unter dem Donner der Geschütze. „Noch zwei Minuten“, schrie er Leutnant Piper zu. Der Leutnant nickte geistesabwesend. So habe ich mir immer eine Schlacht vorgestellt, dachte er. Ein großartiges Schauspiel. Aber wenn man eine Rolle in diesem Schauspiel hat, wenn man in dieses mörderische Treiben hinein muß, wird es weniger großartig sein. Mit unsicherer Hand tastete er nach dem Bild seiner Braut, das zerknittert und schweißfeucht in seiner linken Brusttasche steckte. Die Männer der Kompanie standen mit eingezogenen Köpfen in dem Wadi, wie eine Herde Tiere, die das Herannahen eines Orkans verspürt.
„Mein lieber Mann“, murmelte Machulke vor sich hin, „mein lieber Mann!“ Burkhard und Maurer kauerten nebeneinander an der Böschung. Sie beteten halblaut ein Vaterunser. Sie hatten es so gelernt in ihrem Heidedorf. Vor der Ernte, wenn Hagel, Frost und Seuche drohten, betete man. Es war keine Schande für einen Mann, die Hände zu falten, wenn er Furcht hatte. Der Hauptmann hob den Arm. Seine Stimme ging in dem Höllenlärm unter. Die Soldaten kletterten die Böschung hinauf. Tausende deutscher und italienischer Soldaten standen in dieser Minute rund um Tobruk auf. Den Namen der Mutter Gottes oder einen Fluch auf den Lippen, bewegten sie sich der feuer- und stahlspeienden Festung entgegen. Jeremin schritt steif, mit weit aufgerissenen Augen, in den kochenden Hexenkessel des Sperrfeuers. Vom Meer her grollten Schiffsgeschütze. Ihre mächtigen Kaliber rauschten durch die Nacht, als brausten vollbeladene Güterzüge in wahnwitzigem Tempo dahin. Über den englischen Stellungen zitterten Leuchtkugeln. Sekundenlang standen sie wie blutige Zyklopenaugen auf einem Fleck und verlöschten. Deutlich hörte man zwischen dem Heranjaulen und Bersten der Granaten das hysterische Bellen schwerer Maschinengewehre. Glühende Fäden zogen sich über den steinigen Boden. Sie schießen Leuchtspur, dachte Jeremin erschrocken. Es genügt nicht, daß sie unsere Körper durchlöchern, nein, sie wollen uns auch noch mit Phosphor vergiften und uns die Eingeweide aus dem Leib brennen. Dann hatten sie den Riegel des Sperrfeuers durchschritten. Die Menschen gerieten in das Inferno krepierender Geschosse, wirbelnder Erdund Steinbrocken, Splitter, stählern singender Querschläger und beißenden Qualms. Eine Stichflamme schoß steil empor. Prasselnd explodierte ein Munitionsstapel. Panzer brannten und wurden zu langsam dahinkriechenden Fackeln, bis sie glühend stehenblieben. Die Schreie und das Todesröcheln der Sterbenden gingen im Getöse des entfesselten Stahls unter. Rotenburg schritt mit steinernem Gesicht, die Händen in den Taschen vergraben, langsam vorwärts. Seinen Karabiner hatte er umgehängt. Auf was sollte er schießen?
Zur Zeit der Christenverfolgung gingen die Märtyrer aufrecht in die Arena und ließen sich von den Bestien mit einem Lächeln auf den Lippen zerfetzen – dachte er. Sie waren glücklich, denn sie glaubten an einen Sinn ihres Todes, an einen Zweck ihres Opfers. Auch wir betreten in dieser Minute eine Arena. Man wirft unsere Körper gegen eine Wand aus berstenden Stahl und Eisen. Tausende werden in dieser Stunde ihr Leben für eine kleine machthungrige Clique lassen. Die meisten wissen nicht, daß es so ist, aber ich weiß es. Genauso war es damals, als mein Vater fiel. Ich verstehe meine Mutter. Ich weiß, warum sie haßt. Auch mein letzter Gedanke wird ein quälendes „Warum?“, und mein letztes Gefühl wird Haß sein, Haß auf diejenigen, für die wir jungen Menschen nichts weiter als Kanonenfutter sind. * Burkhard und Maurer taumelten verwirrt durch den Hagel der Geschosse. Sie hielten sich an den Händen, um sich nicht zu verlieren. „Achtung“, schrie Burkhard, „dort ist ein Bunker!“ Er ließ seinen Karabiner fallen und riß Maurer mit sich zu Boden. Vor ihnen bellte ein Maschinengewehr. Vorsichtig krochen sie auf einen nahen Granattrichter zu und ließen sich hineingleiten. „Gott sei Dank“, murmelte Maurer und wischte sich den Schweiß aus den Augen. „Hier sind wir eine Weile sicher.“ „Mein Karabiner“, sagte Burkhard, „ich muß meinen Karabiner holen.“ „Laß doch“, rief Maurer, aber Burkhard kroch aus dem Trichter. ‚Ich kann doch mein Gewehr nicht liegenlassen’, dachte er. ‚Das ist verboten.’ Eine Leuchtkugel zitterte hoch. Überdeutlich sah Burkhard in dem fahlen Licht den Karabiner. Das englische Maschinengewehr hämmerte. Burkhards Hand schloß sich um den Lauf der Waffe. Hoffentlich ist kein Sand im Schloß, dachte er, und schob sich zentimeterweise rückwärts. Eine zweite Leuchtkugel stand über dem feindlichen Bunker.
In ihrem Licht beobachtete Burkhard aufspritzende kleine Sandfontänen, die in gerader Linie auf ihn zukamen. Sie haben mich gesehen – durchzuckte es ihn. Entsetzt starrte er in das Mündungsfeuer des nahen Maschinengewehrs. Dann bäumte er sich brüllend auf. Maurer hatte jede Bewegung des Freundes verfolgt. „Warte“, schrie er, „ich hole dich.“ In wenigen Sätzen war er bei Burkhard und zerrte ihn zu dem Trichter. Immer noch hielten Burkhards Finger den Lauf der Waffe fest umklammert. Der Kolben schleifte im Sand. Das Maschinengewehr bellte hämisch. „Noch zwei Meter“, schrie Maurer dem Freund ins Ohr, „gleich sind wir …“ Seine Stimme ging in ein Gurgeln über. Eine Faust preßte seine Eingeweide zusammen. Sein Mund füllte sich mit Blut. Der Boden unter ihm schien aus Gummi zu sein. Er sackte über Burkhard zusammen. Die Leuchtkugel verlosch. * Blind und taub vom Blitzen und Krachen der Detonationen stolperte Jeremin immer noch vorwärts. Mein Gott – dachte er, wenn ich hier wieder lebend herauskomme, will ich irgend etwas Gutes tun. Sage mir nur, was ich tun soll. Er war benommen von dem brodelnden Hexenkessel um sich und wußte nicht einmal, in welcher Richtung er taumelte. Sich hinzuwerfen, um den nahen Einschlägen auszuweichen, erschien ihm sinnlos. Nirgends gab es Deckung. Die Luft war voller Eisen die die Erde voller Steine. Solange sich meine Beine bewegen, lebe ich, dachte er. Einmal muß ich ja aus dieser Hölle herauskommen. Plötzlich hörte er ganz nach ein kurzes Zischen, als lasse neben ihm eine Lokomotive Dampf ab. Ein weißer Blitz stand vor ihm. Dann sah er in ein Feuermeer und schlug die Hände vor die Augen. Der Donner einer furchtbaren Explosion hüllte ihn ein. Unter seinen Füßen begann die Erde zu schwanken. Ein Riese packte sein Genick und schüttelte ihn wie einen jungen Hund. Heißer Sturmwind wirbelte ihn vor sich her. Dann fühlte er Sand zwischen den Zähnen, beißender Qualm füllte seine Lungen.
Meine Beine marschieren nicht mehr – dachte er verwundert. Ich liege, endlich habe ich Ruhe. Die Schreie der Sterbenden, das Krachen der Explosionen und das Heulen der Granaten wurden leise wie ein plätschernder Bach und entfernten sich immer mehr. * Stunden später bewegte er sich, fröstelte und griff um sich, als suche er eine verrutschte Bettdecke. Seine Hände berührten die spitzen Stacheln eines Kameldornbusches. Er hob schwerfällig den Kopf und lauschte. In der Nähe schien jemand zu singen. Jeremin schüttelte den schmerzenden Schädel. Sand rieselte aus seinen Haaren in den Kragen des Hemdes. Langsam kehrte die Erinnerung zurück. Der Gesang verwandelte sich in das langgezogene Heulen eines Mannes und erstarb in einem Wimmern. Vorsichtig versuchte Jeremin seine Beine zu bewegen. Er hatte ein Gefühl, als habe man ihm mit einem Holzhammer jede Rippe einzeln zerschlagen. Ich muß ihm helfen, dachte er und kroch auf das Wimmern zu. Aus der Dunkelheit tauchte der verkrampfte Körper eines Mannes auf. Jeremin tastete nach dem Gesicht. Verwundert stellte er fest, daß sich die Lippen des Mannes nicht bewegten, obgleich das Wimmern immer noch deutlich zu hören war. Erschrocken zuckte er zurück. Er hatte den Mund eines Toten berührt. Langsam ließ der Druck auf seinem Trommelfell nach. Er hörte das Schreien, Stöhnen, Wimmern und Seufzen vieler anderer Männer. Ein kühler Wind strich vom Meer her über das Schlachtfeld und ließ das Schreien der Verwundeten anschwellen und wieder schwächer werden. Aber es fiel kein Schuß. In dem fahlen Licht des untergehenden Mondes begann er die Umrisse der Gestalten zu erkennen. Sie lagen in Klumpen oder allein. Viele rührten sich nicht mehr. Andere krochen stöhnend durch den Sand und schleiften ihre zerschossenen Glieder über Steine und Kameldorn. Neben Jeremin bäumte sich ein Mann, schüttelte sich im Todeskampf und wand
sich zwischen den Felsbrocken, die Hände vor den zerfetzten Leib gepreßt. Jeremin stand taumelnd auf und stolperte weiter. „Wasser“, bettelte eine heisere Stimme zu seinen Füßen. „Gib mir Wasser.“ Eine Hand krallte sich um sein Bein. „Ich habe kein Wasser, laß mich los“, schrie Jeremin und schüttelte die Hand ab. Angst sprang in ihm auf. Panische Angst. Von ferne hörte er leises MG-Feuer. Ohne sich um das Wimmern, Stöhnen und Schreien zu kümmern, begann er zu laufen und versuchte die Richtung auf die einzelnen Schüsse zu halten. Dort, wo geschossen wird, sind Menschen - dachte er, seine Zähne schlugen gegeneinander. Ich will zu den Lebenden. Ich bin noch nicht tot. Die Schüsse schienen ihm die Verkörperung des pulsierenden Lebens. Er empfand nicht das grauenhafte Groteske seiner Situation - daß er von den Toten dahin floh, wo getötet wurde. Schweiß lief über seinen erschöpften, zerschlagenen Körper. Er stolperte über Leichen, trat auf Hände, die unter seinem Fuß zuckten und stierte auf das gespenstisch glühende Gerippe eines ausgebrannten Kübelwagens. Der Mond berührte den Rand der Wüste. Im Osten dämmerte es zart. Wo mögen die anderen sein? - dachte Jeremin. Sie werden Tobruk erobert haben, während ich bewußtlos war. „He“, schrie eine Stimme vor ihm, „hierher, Kamerad.“ Entsetzt blieb Jeremin stehen. Sie rufen mich wieder, die Toten - dachte er zitternd; aber ich will nicht hierbleiben. Ich will weg. Er sah sich um, ohne aber den Rufer zu erblicken. Nur einige verkrampfte Leichen lagen neben einem zerschossenen Motorrad. „Hierher“, rief die Stimme wieder, „kannst du Idiot mich denn nicht sehen?“ Jeremin entdeckte den Mann. Er ragte mit dem Oberkörper aus der Erde und winkte. Jeremin taumelte auf ihn zu und fiel in einen zementierten Graben. „Schlecht zu erkennen, der Bunker - was?“ fragte der Mann und half Jeremin auf die Beine. „Wo kommst du denn her?“ „Ich weiß nicht“, keuchte Jeremin. „Verwundet?“ fragte der Mann. „Ich weiß nicht.“
„Verschwinde mal nach unten“, empfahl der Mann und schob Jeremin zu einer Luke. Er fühlte die Sprossen einer Eisenleiter und begann hinabzuklettern. Warmes Kerzenlicht schimmerte ihm entgegen. Er starrte in bärtige Gesichter, knickte zusammen und fiel auf den harten Zementboden. Ein Flaschenhals wurde ihm zwischen die Zähne geschoben. Schnaps rann beißend durch seine Kehle und brannte in seinem Bauch. „Du hast ja 'ne schöne Mattscheibe“, sagte eine Stimme. Jeremin starrte in ein Dickicht roter Haare. Kräftige Fäuste packten ihn und setzten ihn mit dem Rücken gegen die Wand. Aus dem Haargestrüpp blickten blaue, wäßrige Augen. Jemand schob ihm eine brennende Zigarette zwischen die aufgesprungenen Lippen. „Was ist los?“ fragte Jeremin verstört. Er hatte keinen der Männer jemals gesehen. „Was soll schon los sein?“ sagte einer der Männer. „Wir haben heute nacht vom Tommy ein Ding vor die Fresse bekommen. Mit ‚Erwins’ Sondermeldung wird’s nichts werden.“ „Haben wir Tobruk nicht erobert?“ fragte Jeremin. „Erobert ist gut“, grinste der Mann. „Von den befohlenen zwanzig Kilometern haben wir genau achthundert Meter geschafft. Ein paar Bunkerchen sind gefallen. Das ist alles. Draußen liegt mehr als die Hälfte der Division.“ „Kann ich ein bißchen schlafen?“ bat Jeremin. „Von mir aus“, meinte der Mann. „Oder willst du ’ne schriftliche Sondergenehmigung?“ Ein paar Soldaten lachten. Jeremin ließ sich an der Betonwand herabrutschen und schlief fast augenblicklich ein. * Jemand rüttelte an seiner Schulter. Langsam kam er zu sich. Sein Kopf dröhnte. Jede Bewegung des Körpers schmerzte. „Steh auf“, schrie eine rauhe Stimme. „Du kannst nicht den ganzen Krieg verpennen. Auf jeden Fall nicht vor der Einstiegluke.“
„Jawohl“, antwortete Jeremin schlaftrunken und stand schwerfällig auf. Soldaten mit Maschinengewehren und Munitionskästen drängten sich an ihm vorbei. Plötzlich empfand er rasenden Durst. Er hakte seine Feldflasche ab und nahm einen Schluck von dem Rest des modrig schmeckenden Tees. Während er sich selbst befahl, die Flasche abzusetzen, hatte er bereits alles ausgetrunken. Dann riß er eine Tube Käse auf und preßte sich den Inhalt in den Mund. Langsam kletterte er die eiserne Leiter empor. Die Sonne schien nur matt durch dichten grauen Dunst. Es war sehr heiß. Kein Windhauch regte sich. Ein ekelhafter Gestank lag über der Wüste. „Sieht sehr nach Sandsturm aus“, meinte ein Soldat, der hinter einem MG kauerte und vorsichtig über den Grabenrand spähte. Sandsturm - dachte Jeremin. Er kannte das Wort nur aus seiner Schulzeit. Er sah über die Brüstung des Laufgangs. Unendlich dehnte sich die Steinwüste. Wenige Meter vor dem Bunker lagen einige Leichen und glotzten in den grauen Himmel. „Vielleicht gibt es Regen?“ sagte Jeremin. „Regen?“ der Soldat hinter dem MG lachte laut. „Mann, hier hat es seit vierzehn Jahren nicht geregnet.“ „Du spinnst“, Jeremin sah ihn wütend an. „Das ist Tatsache. Ich sage dir, es gibt einen Gibli.“ „Gibli?“ „So nennen die Araber den Sandsturm. Man meint, du wärst erst seit gestern hier.“ „Ich bin auch erst seit gestern hier“, antwortete Jeremin. Dabei hatte er das Gefühl, schon jahrelang in der verdammten Wüste zu sitzen. „Ach so“, sagte der Soldat. „Na, dann freu dich mal auf deinen ersten Gibli. Ich habe schon vier hinter mir. Einer hätte gereicht.“ „Wie ist das, so ein Sandsturm?“ „Es gibt kalte und heiße“, erklärte der Mann hinter dem MG. „Die kalten sind harmlos. Einfach Sturm mit viel Dreck in der Luft. Aber die heißen. Mit sechzig, siebzig Grad kommt das Windchen an und drückt dir den feinen Sand in alle Poren. Du glaubst, du müßtest verrecken. Die Tommys haben Staubmasken und greifen sogar bei einem heißen Gibli an. Wir haben natürlich nichts.“
„In ein paar Stunden wird es hier stinken, daß es kein Mensch mehr aushält“, fuhr der Soldat fort und sah auf die Leichen. „Wir sollten hinauskriechen und nachsehen, ob einer noch was in der Feldflasche hat. Heute abend wimmelt es hier von Ratten.“ Jeremin ging den Laufsteg entlang. Wer noch Waffen und Munition besaß, kauerte an der Zementwand und hielt sich für einen Gegenstoß bereit. Am Ende des Grabens befand sich eine zementierte Kanzel, in der ein englisches Pak-Geschütz stand. Daneben waren einige Munitionskisten aufgestapelt. Ein Leutnant und ein Unteroffizier hockten hinter dem Geschütz. Ab und zu blickte der Leutnant mit einem Feldstecher ins Gelände. „He“, sagte er und nahm das Glas von den Augen. „Ich glaube, da drüben ist ein anderer Bunker.“ Dann bemerkte er Jeremin. „Wollen Sie nicht mal 'rüberkriechen und nachsehen, wer da drin sitzt?“ „Jawohl, Herr Leutnant“, Jeremin stand stramm. Auf dem schmutzigen, bartüberwucherten Gesicht des Offiziers erschien ein Grinsen: „Brechen Sie sich nur keinen ab. Meinen Sie, es wäre mein Ernst, daß Sie da rüberkriechen sollen?“ „Warum nicht, Herr Leutnant?“ fragte Jeremin verwirrt. „Es könnten ja auch Tommys in dem Bunkerchen sitzen“, meinte der Unteroffizier. „Du scheinst mir eine schöne Flasche zu sein.“ „Kann ich mal durch das Glas sehen?“ bat Jeremin ärgerlich. „Stundenlang.“ Der Unteroffizier gab ihm den Feldstecher. Jeremin nahm das Glas vor die Augen und tastete langsam das Gelände ab. Greifbar nahe waren Kameldornbüsche und Steine. Dann erschien das fletschende Gesicht eines Toten in seinem Blickfeld. Rasch schwenkte er weiter und entdeckte einen Mann, der offensichtlich ebenfalls in einem Laufgraben stand und winkte. Dieser Mann war Rotenburg. „Das ist einer von meiner Kompanie“, rief Jeremin und setzte das Glas ab. Er war glücklich. Rotenburg lebte also. „Sind Sie sicher?“ fragte der Leutnant. „Ganz sicher!“ „Das ist was anderes. Dann müssen wir wirklich Verbindung aufnehmen. Aber es ist schwer. Die Bunker sind ringförmig auf Luke rund um
Tobruk angelegt. Es kann sein, daß hundert Meter weiter ein anderer von den Tommys besetzt ist. „Wir könnten ja auch mal winken“, schlug Jeremin vor. „Dann kommt überhaupt niemand mehr herüber“, sagte der Offizier. „Ihr Freund scheint ja unseren Bunker bemerkt zu haben. Aber die Tommys wissen deshalb noch lange nicht, ob wir oder ihre Kameraden hier drinsitzen.“ „Ich werde versuchen, rüberzukriechen“, Jeremin hing seine Maschinenpistole um den Hals. „Vielleicht kann mir jemand Feuerschutz geben.“ „Klar“, der Unteroffizier stand auf, „ich hole ein MG.“ „Wenn Sie drüben einen Offizier treffen, dann sagen Sie ihm, daß hier sechzig Mann der 15-Panzer-Pi und etwa dreißig weitere Versprengte anderer Einheiten liegen“, befahl der Leutnant. Jeremin nickte. Der Unteroffizier kam mit einem MG zurück. Ein Soldat schleppte zwei Munitionskästen heran. Sie brachten das MG in Stellung. „So, jetzt kannst du deinen Spaziergang antreten.“ Der Unteroffizier grinste. „Hals- und Beinschuß!“ Jeremin kletterte über den Grabenrand und begann auf den Bunker zuzukriechen. Verwesungsgeruch durchzog die brütende Hitze.,, Der Himmel wurde immer bleifarbener. Jeremin atmete schwer. Er schwitzte unerträglich. Plötzlich zuckte er zurück. Beinahe hätte er seine Hand auf einen graugrünen Skorpion gelegt. Das Tier verschwand hinter dem sandverwehten Stein. Die Engländer schienen die Bewegung gesehen zu haben. Von rechts bellte ein Maschinengewehr. Staubsäulen standen zwischen den Kameldornbüschen. Querschläger klatschten gegen die Steine. Jeremin preßte sich dicht an den Boden. Hinter ihm begann das deutsche MG zu feuern. Jetzt wissen sie wenigstens, wo die Tommys sitzen -dachte Jeremin verzweifelt und kroch weiter. Vorsichtig hob er nach Minuten den Kopf. Er sah, daß der Bunker höchstens noch zwanzig Meter entfernt war. „Alex“, schrie Rotenburg, „Alex, sei vorsichtig.“
Wieder hämmerte das englische MG. Die Staubsäulen kamen näher. Entweder - oder, dachte Jeremin. Wenn ich jetzt verrecken soll, dann wird es so oder so geschehen. Er sprang auf und rannte. Sein Herz hämmerte wild.; Noch zwei Meter - dachte er, machte einen letzten Satz und fiel in den Zementgraben. „Junge, Alex, hast du was abbekommen?“ Rotenburg beugte sich über ihn. Aus seinem staubbedeckten Gesicht sahen ihn die braunen Augen besorgt an. „Alles in Ordnung, Fritz“, Jeremin stand auf. „Mensch, was freu ich mich, daß du lebst.“ „Na, und ich“, sie klopften sich gegenseitig auf die Schulter. Staub wirbelte auf. Sie mußten niesen. „Melde dich beim alten Endres zurück. Er hockt unten“, sagte Rotenburg. „Wenn ich abgelöst werde, komme ich auch runter.“ Jeremin kletterte die Eisensprossen hinab. In dem flackernden Licht einer Kerze entdeckte er einen Teil der Kompanie. Hauptmann Endres saß in einer Ecke. Sein Gesicht war blutverschmiert. Neben ihm hockte Leutnant Piper auf einem Munitionskasten und schlief. „Da kommt ja wieder ein verlorener Sohn“, meinte der Hauptmann müde. „Wo sind Sie denn abgeblieben?“ „Ich war einige Stunden bewußtlos“, berichtete Jeremin. „Irgendein Erdbrocken muß mir auf den Kopf gefallen sein. Aber ich bin nicht verwundet.“ „Uns kannst du auch mal guten Tag sagen“, grunzte Machulke. Jeremin sah sich um. Aus dem Dämmer des Bunkers winkten ihm vertraute Gesichter zu. Dazwischen kauerten Soldaten und Unteroffiziere fremder Einheiten. „Etwa hundertfünfzig Meter von hier ist ein anderer Bunker“, wandte sich Jeremin wieder dem Hauptmann zu. „Dort sitzen ungefähr 90 Mann und ein Leutnant von der 15. Panzer-Pi Links befindet sich eine englische Stellung. Ich wurde aus dieser Richtung beschossen, als ich herüberkroch.“
„So“, Endres stand schwerfällig auf. „Ich komme mit Ihnen in den Laufgraben. Zeigen Sie mir die beiden Bunker.“ Als sie zur Einstiegluke emporkletterten, heulte draußen der Wind. Sand wirbelte in den Schacht. „Was ist denn das?“ fragte Endres erstaunt. „Die Kameraden in dem anderen Bunker meinten, ein Sandsturm sei im Anzug“, antwortete Jeremin. Sie standen im Laufgraben und blickten über die Wüste zu dem anderen Bunker. Wirbelnder Staub verdunkelte den Himmel. Heiße Luftstöße trieben Sandwolken vor sich her. Die Sicht wurde schlecht. „Auch das noch“, sagte der Hauptmann. Plötzlich wandte er sich Jeremin zu: „Wissen Sie, wie die meisten Soldaten in der letzten Nacht gefallen sind?“ Jeremin schwieg. Er wußte nicht, worauf der Hauptmann hinauswollte. „Durch Kopfschüsse. Und warum? Weil niemand ihnen gesagt hat, daß sie die Staubbrillen vom Tropenhelm entfernen sollen, bevor sie angreifen. In diesen Brillen spiegelt sich nämlich der Mond.“ Jeremin begann zu begreifen. „Morgen“, fuhr der Hauptmann finster fort, „wird man vergessen, uns etwas anderes zu sagen. Man hat uns ohne Vorbereitung und ohne genügende Ausbildung in einen fremden Erdteil geschickt, an eine Front, die wir nicht kennen, deren klimatische Verhältnisse uns nicht vertraut sind. Auch die Herren in den Stäben haben keine Ahnung. Sie denken nur an ihre Erfolgsmeldungen.“ Achselzuckend wandte er sich ab und kletterte die Leiter wieder hinunter. * Eine Stunde später raste der Gibli brüllend und heiß wie die Hölle über die Steinwüste des Hammada. Vor sich her trieb er Tonnen glühenden Staubes. Windhosen wirbelten über die englischen und deutschen Stellungen. Die Leichen starrten mit toten Augen in den schwarzen Himmel. Ihre matten Pupillen wurden von dem fein rieselnden Sand be-
deckt. Ihre verkrampften Körper verwandelten sich in sanfte Hügel. Der Sturm erbarmte sich ihrer und begrub sie. Auch unten im Bunker war das Heulen des Giblis zu hören. Unablässig rieselten Staub und Sandwolken durch den Einstieg. Die Kerzen flakkerten und zerschmolzen. Apathisch hockten die Männer mit eingezogenen Köpfen an den Betonwänden. Sie atmeten keuchend, röchelten und husteten. Alle hatten sich mit Taschentüchern oder Stoffetzen Nase und Mund umwickelt. Die fremden Soldaten scharten sich um einen Feldwebel, flüsterten und zeigten hinüber zu Hauptmann Endres. Der Feldwebel stand auf. Seine entzündeten Augen starrten voller Haß in die Ecke der Offiziere. „Wir haben genug von dieser verdammten Mausefalle“, stieß er hervor. „Meine Kameraden und ich werden jetzt versuchen, zu unseren Einheiten durchzukommen. Hier bleiben ja nur zwei Möglichkeiten, entweder zu verdursten, oder die Engländer werfen uns geballte Ladungen herunter.“ „Weißt du denn, wohin du marschieren mußt?“ erkundigte sich Stichling höhnisch. „Ihr werdet im Kreis herumrennen und abgeknallt werden. Oder willst du vielleicht überlaufen?“ „Schließlich weiß ich ja, was man mit einem Marschkompaß macht“, knurrte der fremde Feldwebel. „Außerdem bin ich schon ein bißchen länger in der Wüste als du. Ich weiß, was ein Gibli ist. Er kann drei, vier und sechs Tage dauern. Das hält kein Mensch ohne Wasser aus. Wir gehen.“ Die Soldaten hängten ihre Waffen um. Hauptmann, Endres stand auf und befahl: „Sie bleiben hier. Als höchstem Dienstgrad untersteht dieser Bunker mir.“ „Wer sind Sie denn eigentlich?“ erkundigte sich der Feldwebel gereizt. „Ich bin Hauptmann Endres, Chef der ersten Kompanie des dritten Infanteriebataillons und außerdem in diesem Augenblick Ihr Bunkerkommandant. Setzen Sie sich in Ihre Ecke.“ „Können Sie mir Wasser geben?“ fragte der Feldwebel. „Nein!“ „Dann sind Sie auch nicht mein Kommandant. Ein Kommandant hat die Verpflichtung, die ihm anvertraute Truppe zu erhalten. Sie wollen uns aber hier verrecken lassen, weil Sie sich nicht heraustrauen aus der
Mausefalle. Sie können ja mit mir gehen. Ich bringe den Verein schon zurück.“ Der Mann zog einen Marschkompaß aus der Tasche und wandte sich den Soldaten zu: „Wer hierbleiben will, kann hierbleiben. Der Rest hält sich hinter mir.“ Endres ging quer durch den Bunker und stellte sich vor die Eisenleiter: „Niemand verläßt den Bunker ohne meine Genehmigung.“ Die Soldaten murrten laut und sahen den Feldwebel an. „Gehen Sie von der Leiter weg“, knurrte der Feldwebel. „Sie haben gehört, was ich gesagt habe.“ Der Hauptmann blieb stehen. Der Feldwebel stierte Endres aus blutunterlaufenen Augen an. Plötzlich schrie er: „Gehörst du auch zu den Schweinen, die uns heute nacht für eine dreckige Sondermeldung verheizen wollten? Weißt du, warum draußen Tausende liegen? Weißt du, warum wir zusammengeschossen worden sind? Weil niemand die Lage der Bunker kennt. Die Italiener haben die Bunker gebaut. Sie haben die Pläne. Aber die Pläne sind unauffindbar. Unauffindbar! Verstehst du! Irgendein von den Tommys bestochenes Schwein hat die Pläne verschwinden lassen. Rommel hat es gewußt. Wir alle wissen es, seit Wochen. Trotzdem hat man uns in den Tod rennen lassen, weil morgen der erste Mai ist. Mach Platz!“ Der Mann riß seine Maschinenpistole von der Schulter. Ein Schuß hallte dumpf durch den betonierten Raum. Der Feldwebel drehte sich mit vor Staunen offenem Mund um, ließ die Maschinenpistole fallen und griff fluchend nach seinem Arm. Leutnant Piper schob die Pistole in das Futteral zurück und steckte sich eine Zigarette an. Hauptmann Endres war blaß. „Was haben Sie. da eben von den Plänen gesagt“, wiederholte Endres. „Ist das wahr?“ „Es ist wahr!“ keuchte der Feldwebel. „So wahr, wie ich diesem Hund, der mich eben angeschossen hat, ein Seitengewehr zwischen die Rippen jagen werde.“ Schaum stand vor seinem Mund. Mit dem gesunden Arm hob er seine Maschinenpistole auf. „Legt den Kerl um“, gellte ein Obergefreiter, „weg von der Leiter!“ Leutnant Piper hatte seine Pistole wieder in der Hand. Aber Hauptmann Endres kehrte mit hängenden Schultern auf seinen Platz zurück. „Sie können gehen“, sagte er heiser.
Schweigend begannen die Männer einer nach dem anderen die Leiter emporzusteigen. * Stunden vergingen. Das Heulen des Sturmes wurde stärker. Der feine Sand verstopfte die Poren. Die Haut konnte kaum mehr atmen. Jeremin rang keuchend nach Luft. Dumpfe Angst breitete sich in ihm aus. Rasselnd pfiff sein Atem durch die aufgesprungenen Lippen. Sein Herz schlug langsam und hart. Er starrte auf Rotenburg. Der Freund sah unverwandt in das Licht der Kerze. Seine Brust hob und senkte sich. Auch er rang nach Atem. „Wasser!“ durchschnitt plötzlich eine Stimme die dumpfe Hitze. „Wasser, gebt mir Wasser. Ich ersticke.“ Die Männer zuckten zusammen wie unter einem Peitschenhieb. „Wasser!“ schrie Unteroffizier Hartmann, „Wasser!“ „Halt dein Maul“, brüllte Machulke, „sonst schlage ich dir die Zähne ein.“ Hartmann kicherte und begann mit brüchiger Stimme zu singen: „Es klappert die Mühle am rauschenden Bach, klipp klapp ...“ „Sei doch still“, keuchte Stichling. Hartmann sang weiter. Dann lachte er laut. Machulke stand auf. „Halt endlich dein verfluchtes Maul“, schrie er und ging auf den Unteroffizier zu. Hartmann sah ihn schräg von unten an: „Gib mir doch mal dein liebes kleines Feldfläschchen. Ich weiß, daß noch was drin ist.“ Mit einem Fluch riß Machulke die Feldflasche vom Koppel, schraubte den Verschluß ab und hielt sie senkrecht nach unten. „Kein Tropfen ist drin“, brüllte er. „Kein Tropfen?“ krächzte Hartmann. „Du Betrüger, du Lump, du Schuft.“ Taumelnd stand er auf und riß das Seitengewehr aus der Scheide. „Machen Sie keinen Unsinn“, rief Endres. „Meinen Tee her“, schrie Hartmann und stach nach Machulke. Der Unteroffizier sprang zurück, holte aus und schlug dem Unteroffizier zwischen die Augen.
Hartmann taumelte gegen die Wand und fing laut an zu weinen: „Ich will doch nur was zu trinken“, schluchzte er. „Gib ihm noch eine, damit er still ist“, sagte Stichling. Machulke nickte und schlug noch einmal zu. Hartmann sackte zusammen und fiel gegen einen an der Wand sitzenden Soldaten. Jeremin zitterte. Gleich fange ich auch an, dachte er. Dann wird mich ein anderer zusammenschlagen. Vielleicht Rotenburg. Seine Zunge war angeschwollen und schien die ganze Mundhöhle auszufüllen. Jetzt weiß ich, was Durst ist, dachte Jeremin. Jetzt weiß ich, warum der Neger in Frankreich zum Trog sprang. Ich habe ihn erschossen, nur weil er Durst hatte. Jetzt werde ich dafür vor Durst verrecken. Durch die Einstiegluke drang außer dem Heulen des Sturmes entferntes MG-Feuer. Jemand schrie in den Schacht: „Raus, die Tommys greifen an!“ Endres war als erster bei der Leiter und kletterte empor. Die Männer folgten. Im Laufgang riß der Gibli sie fast um. Durch den treibenden Sand huschten schemenhafte Gestalten. Maschinenpistolen knatterten. Die ersten Handgranaten detonierten. „Folgen“, schrie Endres und schwang sich aus dem Graben. Die Männer stolperten hinter ihm her, traten auf Leichen und staubverkrustete Kameldornbüsche. Die Luft kochte. Jeremin sah schwarze tanzende Kreise vor den Augen. Hinter ihm peitschten Schüsse. Dann wurden die Schüsse leiser. Um die fliehenden Männer raste der Sturm. Plötzlich wurde die Gewalt des Giblis schwächer. Schwer senkten sich dichte Staub- und Sandwolken auf die erschöpften Soldaten. Hauptmann Endres blieb stehen und sah auf seinen Marschkompaß. Ein roter Sonnenball schimmerte durch den Dunst. Jeremin warf einen Blick auf seine Uhr. Sie stand. Hoffnungslos versandet. „Da vorne liegen deutsche Soldaten“, rief Stichling und setzte sein Fernglas ab.
Müde setzten sich die Männer wieder in Bewegung. Nach zehn Minuten standen sie vor mühsam zusammengetragenen Steinwällen. Maschinengewehrläufe stachen spitz aus der Deckung. Mißtrauisch sahen ihnen einige Posten entgegen. „Wer liegt denn hier?“ fragte Endres. „Panzerjäger fünfzehn!“ „In Reihe folgen“, rief Endres. Die Soldaten formierten sich. Aus dem Dunst tauchten Lastwagen auf. Sie gingen auf die Lastwagen zu. „Halt!“ rief ein Soldat und hob den Karabiner. Die Männer blieben verdutzt stehen. „Glauben Sie vielleicht, wir wären Engländer?“ erkundigte sich der. Hauptmann. „Nein“, antwortete der Posten, „aber ich habe Befehl, auf jeden zu schießen, der sich den Fahrzeugen nähert.“ „Der ist verrückt“, brummte Machulke. „Und warum darf man sich Ihren kostbaren Fahrzeugen nicht nähern?“ fragte Endres. „Weil immer wieder versucht wird, das Kühlerwasser auszutrinken. Dann sind die Fahrzeuge nicht mehr einsatzbereit. Seit zwei Tagen ist kein Tankwagen mehr aus Derna durchgekommen.“ Die Männer sahen sich schweigend an. „Wo liegt Ihr Einheitsführer?“ fragte der Hauptmann. „Dort hinten bei den Zelten.“ Der Posten behielt den Finger am Abzug. „Weißt du, warum heute so ein schöner Tag ist?“ höhnte Rotenburg. „Nein“, Jeremin sah ihn erstaunt an. „Heute ist der erste Mai! Händchen falten, Köpfchen senken, immer an den Führer denken!“ Rotenburg spuckte in den Sand. * „Nun ja“, brummte Oberstleutnant Mellenthin, „wir haben die Erfahrung gemacht, daß wir nicht alles können. Das war der härteste Schlag, den das DAK jemals einstecken mußte. Bis zum Straßenkreuz sind unsere Panzer gekommen und keinen Meter weiter. Dann haben die Tommys
die Einbruchstelle abgeriegelt. Viele Panzerbesatzungen sind zu Fuß zurückgekommen. Vorhin war erst ein Abteilungskommandeur der 15. PD hier. Es muß grauenhaft gewesen sein in dieser Nacht.“ Der Oberst ging erregt im Zelt auf und ab. „Ich habe ja gesagt, es ist zu früh. Ich habe es Nehring ausreden wollen. Aber diese Niederlage ist nicht entscheidend. Vor einer Stunde habe ich Rommel gesprochen. Es ist wunderbar, wie er darüber hinwegkommt. Er hat neue Pläne ausgearbeitet. Wir werden Tobruk einschließen und nach Bardia-Sollum weiter vorstoßen. In vierzehn Tagen werden wir die ägyptische Grenze erreicht haben, auch ohne daß die Festung gefallen ist. Es ist nur schade um die Masse der Truppen, die wir als Belagerer zurücklassen müssen.“ „Werden wir Ersatz aus Deutschland bekommen?“ fragte Mellenthin. „Wir werden Ersatz bekommen. Die Division ‚Brescia’ ist im Anmarsch. Die Bersaglieri sind die Elite der italienischen Truppe. Verlassen Sie sich darauf, Mellenthin, in vierzehn Tagen stehen wir in Ägypten.“ Der Oberst nahm einen Stapel Meldungen vom Tisch und blätterte sie durch. „Wenn Rommel Tobruk umgeht, werden wir es schaffen. Wir haben noch genug Panzer. Nur die Infanterie hatte heute nacht hohe Verluste. Tausende liegen vor den Bunkern.“ „Infanterie“, der Oberst zuckte die Achseln. „Es war schon immer das Schicksal der Infanterie, die größten Blutopfer zu bringen. Das ist nicht zu ändern. Hier aber kommt es nur auf die Panzer und die 8,8-Flak an. Gott sei Dank sind die meisten Panzer gar nicht mehr zum Einsatz gekommen. Mellenthin, wenn man es sich richtig besieht, haben wir noch Glück im Unglück gehabt.“
VI Herxheimer ging nicht zum Amtsgericht. Weder an dem ihm befohlenen Tag noch an irgendeinem anderen. Er schrieb einen Brief an den alten Jeremin, verständigte ihn von dem Vorgefallenen, bat ihn, wegen Renate äußerst vorsichtig zu sein, und warf den Brief, mit einem falschen Absender versehen, in den Kasten. Es bedrückte ihn, daß er Renate nicht schreiben konnte. Wenn die Gestapo wirklich glauben sollte, daß das Mädchen in die Schweiz geflohen war, galt es jedoch, jeden Fehler zu vermeiden. Außerdem rechnete Herxheimer damit, daß man ihn beobachtete, da er sich geweigert hatte, die Scheidung zu beantragen. Aber es geschah nichts. Die Gestapo meldete sich nicht, noch fiel ihm etwas Verdächtiges auf. Tage vergingen. Eine Woche, zwei Wochen. Von dem alten Jeremin war ein Brief gekommen. Zwischen den Zeilen konnte Herxheimer lesen, daß es Renate gut ging. Als der Arzt eines Abends von einem Krankenbesuch zurückkam, löste sich ein Schatten aus den Sträuchern des Vorgartens. Es war Martin. „Ich wollte fragen, ob wir Ihnen einen Kameraden bringen können. Er ist verwundet.“ „Noch heute nacht?“ „In einer Stunde.“ „Gut“, Herxheimer schloß die Tür auf. „Ich erwarte Sie.“ Er bereitete im Sprechzimmer alles vor und setzte sich an den Schreibtisch. Es war Wahnsinn, in seiner Situation mit Martin und dessen Freunden Verbindung zu halten. Er hätte es dem Mann sagen müssen. Die Klingel schrillte kurz. Herxheimer ging hinaus, löschte das Licht in der Diele und öffnete. Der Einäugige und ein zweiter Mann schleppten eine wimmernde Gestalt herein. „Legen Sie ihn im Sprechzimmer auf den Untersuchungstisch“, sagte der Arzt und verriegelte die Tür. Dann trat er an den Tisch und zog die Lampe tief herab. Er schauderte. Vor ihm lag das Wrack eines Menschen. Der Mann wog höchstens
achtzig Pfund. Sein Gesicht war zerschlagen, tiefe, häßlich gezackte Wunden bedeckten seine Hände und Arme. Die Augen waren geschlossen. Er röchelte. Herxheimer betastete die Wunden. „Das ist nur vom Stacheldraht“, meinte der Einäugige. „Er hat einen Rückenschuß. Deshalb haben wir ihn gebracht.“ Sie legten den Verwundeten vorsichtig auf den Bauch und entkleideten ihn. Herxheimer wusch sich die Hände. Martin entfernte einen schmutzigen Verband. „Was ist das?“ fragte der Arzt. Über den knochigen Rücken des Verwundeten liefen rote, halbverheilte breite Narben. „Er hat ein paarmal den Bock bekommen“, erklärte der zweite Mann. „Den Bock?“ Herxheimer sah den Fremden mit dem zerfurchten Gesicht und den brennenden Augen fragend an. „Man hat ihn ausgepeitscht!“ „Machen sie so etwas mit Frauen auch?“ Der Arzt biß sich auf die Lippen. „Das und noch ganz andere Sachen.“ Herxheimer griff zu seinem Stethoskop. Der Einschuß lag unterhalb des rechten Schulterblatts. Die Männer beobachteten ihn schweigend. Der Verwundete schien ohne Bewußtsein. Nur manchmal wimmerte er. „Ein Lungensteckschuß“, sagte Herxheimer. „Normalerweise nicht unbedingt gefährlich. Aber bei der Konstitution Ihres Freundes ... Ich gebe ihm jetzt eine Traubenzucker-Strophantin-Injektion. Wir müssen das Herz stärken. Der Mann muß sofort in ein Krankenhaus.“ Als der Arzt die Spritze aufzog, sagte der Einäugige: „Unser Kamerad ist vorgestern aus einem Lager entflohen. Wir können ihn nicht in ein Krankenhaus bringen.“ , Herxheimer stieß die Nadel in die Vene des Verwundeten und drückte langsam den Glaskolben herab. Ich bin ihre letzte Rettung - dachte er. Vielleicht wird irgend jemand auch einmal meine letzte Rettung sein. Er zog die Spritze zurück und tupfte die Einstichstelle ab.
Müde stand er auf. „Ihr Kamerad ist nicht transportfähig. Ziehen Sie ihn aus und waschen Sie ihn. Ich werde einen Schlafanzug bringen. Dann tragen Sie den Patienten in das Zimmer meiner Tochter.“ Als er das Sprechzimmer verließ, folgte ihm Martin. „Sie wollen ihn wirklich hierbehalten?“ fragte er „Das werden wir Ihnen nie vergessen!“ * In seiner Sorge um den Verwundeten vergaß er die Gefahr. Er aß nicht mehr im Restaurant, sondern kaufte ein Kochbuch und bereitete die Mahlzeiten selbst. Schon nach wenigen Tagen verlor der Verwundete seine Apathie. Das Geschoß in der Lunge schien sich einzukapseln. „Wie heißen Sie?“ fragte Herxheimer, als er am Abend eine Tasse Fleischbrühe brachte. „Weber, Karl Weber. Ich danke Ihnen, Herr Doktor. Ich danke Ihnen für alles.“ „Sprechen Sie nicht soviel.“ Herxheimer setzte die Schnabeltasse an den Mund des Verwundeten. „Wollen Sie noch Rührei mit Schinken?“ Weber nickte: „Ich habe Hunger. Immer habe ich Hunger. Seit drei Jahren.“ „Sie werden schnell zunehmen und gesund werden“, lächelte der Arzt. „Ich gehe jetzt in die Küche und mache das Rührei.“ Als er den Schinken schnitt, fiel ihm ein, daß er bald mit seiner Ration am Ende war. Die Lebensmittelmarken reichten ja kaum für einen, geschweige für zwei. Ich kann ja im Restaurant Stammgericht essen, dachte er, dann werde ich etwas länger auskommen. Er war fast glücklich, nicht mehr allein zu sein. Außer seiner ältlichen mürrischen Sprechstundenhilfe und den Patienten hatte er wochenlang fast mit niemandem gesprochen. Bommelsdorff saß in Frankreich und schrieb nur kurze, nichtssagende Feldpostbriefe. Herxheimer tat das Ei auf einen Teller, legte eine Gabel dazu und trug das Tablett hinauf. Der Mann aß heißhungrig. „Sind Sie Jude?“ fragte der Arzt.
„Nein. Ich habe in einer Widerstandsgruppe gearbeitet. Ich bin Autogenschweißer in einem großen Berliner Betrieb. Es fanden sich in letzter Zeit ein paar Männer, die sich uns anschließen wollten. Einer davon war ein Spitzel. Er zeigte mich an. Man verhaftete mich und brachte mich in ein Konzentrationslager.“ Herxheimer setzte sich auf den Rand des Bettes. „Es gibt richtig organisierte Widerstandsgruppen?“ „Ja.“ „Hat das denn alles einen Sinn?“ „Wir können viel tun“, das bleiche Gesicht des Verwundeten rötete sich. Er versuchte sich aufzurichten. „Wir drucken Flugblätter und verteilen sie, manchmal fällt ein Nagel in das Getriebe einer kriegswichtigen Maschine, manchmal verschwinden Akten aus den Regalen der Gestapo, manchmal hat einer der Schläger aus dem KZ einen Unfall, wenn er auf Urlaub nach Hause kommt. Wir glauben an den Sturz des Faschismus. Wir glauben an eine neue Zeit. Dann wird man uns brauchen. Wir werden dafür sorgen, daß die nazistischen Bluthunde sich nicht in irgendwelchen Mauselöchern verkriechen können. Auch wir führen Akten. Wir werden sie herauszerren aus ihren Verstecken, und sie werden ihrer Strafe nicht entgehen. Jeden Tag werden Kameraden von uns verhaftet, aber jeden Tag stoßen neue Männer zu uns. Auch Sie sind doch einer von uns, Herr Doktor, sonst hätte mich Martin nicht hierhergebracht.“ „Ja“, sagte Herxheimer leise. „Auch ich bin einer von euch.“ * Strantzki saß wieder vor dem Schreibtisch des Breitschultrigen. Der Beamte hörte ihm aufmerksam zu. „So, so“, sagte er, „der Doktor ist mit seiner Lebensmittelkarte fast fertig? Das ist ja interessant.“ Er warf einen Blick auf den Wandkalender. „Heute haben wir doch erst den elften. Und sonst ist er mit seinen Marken immer gut ausgekommen, sagen Sie?“ „Ja, immer. Aber ich habe noch mehr erfahren. Seit einer Woche ißt er mittags und abends im Restaurant Waldhorn. Er bestellt immer nur das Stammgericht. Dafür braucht er nämlich keine Marken. Trotzdem hat er bei mir in knapp zehn Tagen die ganze Butter, das Fett und fast alle Wurst abgekauft.“
„Und was schließen Sie daraus?“ erkundigte sich der Gestapobeamte. „Na, das ist doch sonnenklar. Der Kerl verpflegt irgend jemand in seinem Haus. Vielleicht ist die Tochter zurückgekommen? Die könnte doch keine Marken mehr beantragen, nachdem sie getürmt war.“ „Die Tochter?“ - meinte der Breitschultrige gedehnt. „Das halte ich für unwahrscheinlich.“ Strantzki schwieg. „Immerhin. Vielleicht war sie noch gar nicht drüben und hat sich nur irgendwo verborgen gehalten. Vielleicht aber gibt er seine Lebensmittel irgend jemand anderem. Der Betreffende muß ja nicht im Haus wohnen.“ „Sie sollten mal nachsehen“, drängte Strantzki. „Wir wissen schon selbst, was wir zu tun haben“, sagte der Beamte kühl. „Immerhin, besten Dank für Ihre Informationen. Halten Sie die Augen weiter offen.“ „Das wird nicht mehr gehen“, antwortete der Kolonialwarenhändler. „Man hat mich eingezogen. Nächsten Montag muß ich mich bei meiner Einheit melden.“ „So, zu welcher Waffengattung hat man Sie denn eingezogen?“ „Zur Dolmetscher-Ersatzabteilung. Vielleicht werde ich Sonderführer. Man braucht zur Zeit Dolmetscher für Polnisch und Russisch.“ „Na, da haben Sie ja die richtige ruhige Kugel erwischt“, der Gestapobeamte stand auf. „Alles Gute.“ Er nickte Strantzki zu, ohne ihm die Hand zu geben. * An diesem Abend schlief Herxheimer ruhig und zufrieden ein. Er hatte lange am Bett des Verwundeten gesessen. Mit glänzenden Augen hatte der Mann Einzelheiten aus den Tagen seiner Untergrundarbeit erzählt. Er wartete ungeduldig darauf, daß sich die Wunde in seinem Rücken schließen würde. Wie ein Kriegsfreiwilliger des Jahres 1914 fieberte er seinem Einsatz in den Reihen der Widerstandskämpfer entgegen. Die dreijährige Haft im Konzentrationslager hatte seinen Haß bis an die Grenze der Unerträglichkeit gesteigert. „Stellen Sie sich das nicht so einfach vor“, hatte Herxheimer gewarnt. „Als man Sie verhaftete, war noch kein Krieg. Damals war vieles einfacher. Heute sind die Fabriken, Werften und Brücken schwer bewacht.“
„Das macht nichts“, antwortete der Verwundete eifrig. „Es wird hier nicht schwieriger sein, eine Brücke zu sprengen oder eine Gleisanlage, als für die Soldaten im Feindesland. Sie schaffen es ja auch. Für uns steht der Feind hier. Wir haben den Vorteil, daß wir meist das Gelände genau kennen, während man es an der Front erst mühsam erkunden muß. Wir sind getarnt, harmlose Zivilisten, während man einen Soldaten schon von weitem an seiner Uniform erkennt. Und wir haben genau so wenig oder so viel zu verlieren wie ein Soldat. Wir kämpfen. Entweder überleben wir, oder wir sterben. Aber wir wissen wenigstens genau, wofür wir kämpfen. Und wir wissen, daß wir im Recht sind. Unser Opfer wird nicht sinnlos sein. Die Soldaten haben es leichter als wir. Sie schieben die Verantwortung für das, was sie tun, auf ihre Vorgesetzten, auch die Verantwortung für ihr eigenes Leben. Wir tragen die Verantwortung selbst mit allen Konsequenzen. Aber wir tragen sie gern. Man gibt uns keine Orden, keine Löhnung, keinen Urlaub, keine Waffen und keine Uniformen. Und trotzdem sind wir vielleicht die einzigen wirklichen Soldaten Deutschlands, denn wir haben das richtige Ziel erkannt. Wir richten unser Gewehr auf den wahren Feind und nicht auf Menschen, die wir erst zu unseren Feinden gemacht haben.“ Herxheimer dachte über die Worte des Mannes nach, als er in seinem Bett lag. Gehörte auch er nun zu der Geisterarmee der Tausenden, die nicht aufgegeben hatten? Die mit unvorstellbarem Mut gegen die Gewaltherrschaft des Faschismus kämpften, die meist namenlos waren, namenlos blieben und zu Hunderten und Tausenden in den Konzentrationslagern und Zuchthäusern totgeprügelt und totgequält wurden, wenn man sie fing? Herxheimer war fast stolz darauf, daß Männer wie Martin und der Verwundete den Weg zu ihm gefunden hatten und ihm vertrauten und daß es ihnen gelungen war, ihn aus seiner verbitterten Resignation herauszureißen. Langsam, von der Begeisterung des Verwundeten mitgerissen, begann auch er zu glauben, daß einmal eine andere Zeit kommen würde, daß die Räder der Geschichte Hitler und seine Paladine zermalmen und das millionenfache Unrecht eines Tages seine Sühne finden würde. * Anhaltendes Läuten der Türklingel weckte ihn.
Er knipste das Licht an und sah auf die Uhr. Es war halb fünf. Wahrscheinlich ein Unfall, dachte er, zog seinen Bademantel an und ging durch die Diele zur Tür. Drei Männer drängten ihn zur Seite. Im fahlen Licht der Morgendämmerung erkannte er die Umrisse einer schweren Limousine vor dem Gartentor. „Wir kennen uns ja schon“, sagte der breitschultrige Gestapobeamte und lachte ein wenig. „Wie geht es dem Fräulein Tochter?“ „Ich weiß es nicht“, Herxheimer fröstelte. Er spürte, wie Angst in ihm aufstieg. Die beiden anderen Männer standen hinter dem Breitschultrigen. Sie hatten ihre Hände in den Manteltaschen vergraben. Ihre Gesichter waren kalt und ausdruckslos. „Der wievielte ist heute?“ fragte der Beamte. „Ich glaube, der sechzehnte“, antwortete Herxheimer erstaunt. „Der sechzehnte. Sie sagen es. Und da sind Sie mit ihren Marken schon am Ende? Erstaunlich! Oder haben Sie vielleicht Besuch? Ist das Fräulein Tochter vielleicht verfrüht zurückgekehrt?“ Herxheimer versuchte mühsam, ein gleichgültiges Gesicht zu machen: „Ja, ich habe Besuch, ein entfernter Verwandter.“ „Ihrer Frau?“ fragte der Beamte rasch. „Nein. Ein Vetter zweiten Grades von mir.“ „Und warum haben Sie Ihren Besuch nicht auf dem Polizeirevier ordnungsgemäß angemeldet? Es ist Krieg, Doktor. Die Meldegesetze werden sehr strenggenommen. Wo ist denn Ihr Vetter? Wir möchten ihm gern guten Morgen wünschen.“ „Er schläft im Zimmer meiner Tochter.“ „Ihr bleibt hier unten“, sagte der Beamte zu den beiden Männern. Dann wandte er sich an Herxheimer. „Kommen Sie Doktor.“ Sie stiegen die Treppe hinauf. Herxheimer öffnete die Tür und machte Licht. Der Verwundete saß im Bett. Mit weit aufgerissenen Augen starrte er den breitschultrigen Beamten an. „Nein“ - schrie er gellend, „nein, nein, nein -“ Er spreizte die Finger seiner dürren Hand, warf sich gegen die Wand und zog die Decke über seinen Kopf. „Mein Vetter ist krank“, stieß Herxheimer heiser hervor.
Der Gestapobeamte schwieg. Langsam ging er auf das Bett zu, riß die Decke zurück und zerrte den Mann am Arm hoch. Sofort entdeckte er die Tätowierung. „Feines Haus“, stellte er fest. „Ziehen Sie sich an, Herxheimer, Sie sind verhaftet.“ Der Verwundete stöhnte. Er hielt den Kopf abgewandt. „Raus aus dem Bett, du Dreckhaufen“, brüllte der Breitschultrige dann. Langsam stieg Herxheimer die Treppe hinab. Er fühlte sich leer und tot. Der Arzt ging in sein Schlafzimmer. Aus - dachte er. Alles aus. Jetzt werden sie auch mich durch den Fleischwolf drehen. Erst werden sie meine Seele töten und dann meinen Körper. Sein Blick fiel auf die halbgeöffnete Nachttisch-Schublade. Bläulich schimmerte der Lauf seiner Mauserpistole. Die Waffe war geladen und gesichert. Draußen hörte er die polternden Schritte des Breitschultrigen, der den Verwundeten vor sich her die Treppe hinabstieß. Herxheimer griff nach der Pistole und drückte den Sicherungshebel herab. Sein Herz schlug ganz ruhig. Auch ich bin ein Soldat der Geisterarmee, dachte er. Die Front verläuft für mich jetzt genau durch dieses Zimmer. Ich muß meine Pflicht tun wie all die Namenlosen. „Na, Doktor -“, der Breitschultrige erschien in der Tür. „Sind Sie endlich fertig? Wo haben Sie das Miststück eigentlich aufgegabelt? Wer hat Ihnen den Vogel ins Haus gebracht? Warum so schweigsam? Aber Sie haben recht, wir haben ja noch viel Zeit. Sie werden uns bald alles erzählen. Wollen wir wetten?“ Herxheimer drehte sich langsam um und hob die Waffe. Der Schuß peitschte durch den Raum. Die Augen des Gestapobeamten nahmen einen verwunderten Ausdruck an. Er taumelte, preßte die Hand gegen die Brust und sackte langsam in die Knie. Herxheimer feuerte ein zweitesmal, ein drittesmal, ein viertesmal. Dann nahm er den Lauf zwischen die Zähne und drückte ab.
VII Drei Monate lagen sie schon vor Tobruk und warteten. Rommel aber hatte die ägyptische Grenze überschritten. Die Fronten erstarrten im Stellungskrieg. Fliegen summten in dichten Schwärmen über den Gräben, krochen auf den Gesichtern der unruhig schlafenden Männer und hingen als widerwärtige schwarze Trauben unter den Dächern der Zelte. Diese Fliegen hatten die Angewohnheit, ihre Eier unter die Haut der Schlafenden zu legen und verursachten eiternde Geschwüre. Außer den Millionen buntschillernder Schmeißfliegen gab es Sandflöhe, Ratten, Skorpione, Sandvipern und giftige Spinnen, die den Männern das Leben zur Hölle machten. Wer in der glühenden Steinwüste des libyschen Hammada von den englischen Granaten, dem Biß der Sandviper, den Sandflöhen und Skorpionen verschont blieb, krümmte sich in rheumatischen Schmerzen und lag alle paar Wochen in mit Blut und Kot durchtränkten Hosen unter seiner Zeltplane. Das brackige Wasser verursachte bei den meisten Soldaten Ruhr oder schwere Gastritis. Jeremin, Rotenburg, Meier und Lehmann hockten in ihrem von Steinbrocken umgebenen Schützenloch. Sie pokerten. „Ich setze einen Trinkbecher Tee gegen tausend Lire“, sagte Lehmann. „Einverstanden.“ Ein Trinkbecher modrigen, nach Chlor schmeckenden und stinkenden Tees war durchaus tausend Lire wert. Jeremin kaufte drei Damen. Rotenburg erhöhte um 500 Lire. „Sehen!“ knurrte Meier. Lehmann hatte drei Zehner und zwei Buben. „Volles Haus“, sagte er grinsend und streckte die Hand nach dem Becher aus. Die Männer sahen ihm schweigend zu, wie er in kleinen Schlucken trank.
Alle hatten sie verfilzte Barte. Ihre Augen waren von dem ewigen Flugsand entzündet und ihre Nägel abgebrochen. Die Uniformen, zerrissen und schweißfleckig, hingen an den abgemagerten Körpern. „Ich habe Hunger“, sagte Jeremin, „aber der Fraß hängt mir zum Halse heraus. Heute abend gibt es wieder Sardinen.“ „Mensch, laß mich mit den Mittelmeerforellen in Ruhe“, brummte Lehmann, „Ölsardinen, Tubenkäse, alten Mann in Dosen - das geht schon seit Monaten so.“ „Die Feldküche kann doch nicht kochen“, meinte Rotenburg. „Der Fraß ist hoffnungslos versandet, wenn die Küchenbullen einmal den Kessel aufmachen.“ Meier steckte sich eine Zigarette an: „Hinter dem Hauptverbandplatz an der Via Balbo soll ein italienischer Verpflegungsstab liegen. Die Itaker verscheuern alles gegen Lire. Man sollte mal hinfahren und was organisieren.“ „Was verscheuern sie denn?“ erkundigte sich Jeremin. „Rotwein, eingemachtes Obst, manchmal sogar Eier und Limonen.“ „Wäre nicht schlecht“, sagte Rotenburg. „Alex, du hast doch beim Alten einen Stein im Brett. Geh doch mal zu ihm und frage, ob wir nicht einen Tag für die Kompanie organisieren dürfen.“ „Los, Mensch“, drängten die anderen. „Frag den Alten.“ Jeremin stand auf und verschwand im Laufgraben. Hauptmann Endres saß auf einer Decke und schrieb einen Brief. Leutnant Piper hatte zwei gefangene Skorpione in eine Blechbüchse gesetzt und hetzte sie mit einem brennenden Streichholz aufeinander. „Was ist los?“ fragte Endres. „Hinter dem HV-Platz soll ein italienischer Verpflegungsstab liegen. Die Spaghettis verkaufen alles Mögliche unterderhand. Die Kameraden lassen fragen, ob wir dort nicht etwas für die Kompanie organisieren können.“ „Das ist Korruption“, sagte Endres. „Ist bei den Itakern doch ganz normal, Herr Hauptmann“, der Leutnant sah Jeremin interessiert an: „Was haben die Kerle denn alles?“ „Wein, eingemachtes Obst, sogar Eier“, berichtete Jeremin. Endres seufzte: „Die Kompanie ist nur noch 45 Mann stark. Wenn Sie fahren, muß es sich natürlich lohnen. Alle sollen etwas bekommen.“ „Natürlich, Herr Hauptmann!“
„Also gut. Haut ab, meldet euch beim Troß. Hannemann soll euch den Kübelwagen geben und einen Marschbefehl zur Werkstattkompanie. Von Geschäften weiß ich nichts. Wen wollen Sie mitnehmen?“ „Den Obergefreiten Rotenburg.“ Leutnant Piper lachte: „Kann ich mir denken. Wen wird der Jeremin anders mitnehmen als seinen Kumpel. Macht’s gut, und bringt recht viel mit.“ * Nach einer Stunde wußte die ganze Kompanie Bescheid. Stichling taufte die Aktion „Unternehmen Bratkartoffel“. „Wenn ihr in der Etappe rumsegelt, müßt ihr anständig aussehen“, sagte er. „Ich pumpe euch ein Hemd.“ „Von mir bekommt ihr auch eins“, bot Meier an. „Aber laßt euch damit nicht von den Tommys erwischen. Es ist ein Beutehemd aus dem Bunker bei Ras el Madauer.“ Lehmann bestand darauf, Jeremin die tressengeschmückten Schulterklappen aufzunähen. Machulke trat heran und gab Jeremin seine Schützenschnur. „Häng dir die Affenschaukel um. Die Spaghettis halten dich dann für einen General und rücken ein paar Liter Wein mehr heraus.“ Stichling bot noch seine Maschinenpistole an. „Damit ihr keine Karabiner mitzuschleppen braucht“, meinte er. Bei Einbruch der Dunkelheit gingen Jeremin und Rotenburg zurück. Sie stolperten durch die Nacht und hielten die Leitung der Feldfernsprecher in der Hand. So konnten sie sich nicht verirren. Nach einer Stunde erreichten sie den Troß. Hannemann schmunzelte. „Der Alte hat schon angerufen. Alles klar. Jeremin, du hast einen Brief.“ Jeremin verzog sich mit dem Brief in eine Ecke des Zeltes. Hastig riß er den Umschlag auf. Renate schrieb, ihr Vater sei gestorben. Ganz unerwartet. Sie war fassungslos, sie durfte nicht einmal zur Beerdigung fahren. Jeremin sollte nie an sie direkt schreiben, sondern seine Briefe denen an die Eltern beilegen. „Unangenehme Nachrichten?“ erkundigte sich Rotenburg, der den Freund beobachtete.
„Renates Vater ist gestorben“, sagte Jeremin leise. „Sie schreibt so komisch. Nur ganz kurz. Lies selbst.“ Rotenburg überflog den Brief. „Klar, daß du nicht an sie direkt schreiben kannst. Dein Vater hat sie doch sicher unter irgendeinem anderen Namen in seinem Lazarett untergebracht. Es ist eine Schweinerei. Du hältst hier die Rübe für die Hunde in Berlin hin, für die verdammten Nazisäue, die deinem Mädchen das Leben zur Hölle machen würden, wenn sie sie fänden. Tut mir leid, Alex. Solche Briefe sind immer unangenehm.“ Jeremin seufzte und steckte den Brief ein. Hannemann hatte ein Galadiner aufgefahren: Ölsardinen und Tubenkäse. Unter einem Stapel Decken zog er eine Chiantiflasche hervor: „Aber Schnauze halten“, knurrte er und goß ein. „Da habt ihr noch zwanzigtausend Lire aus der Kompaniekasse“, sagte der Spieß am nächsten Morgen. „Der Wagen ist vollgetankt. Die Marschbefehle liegen bei den Fahrzeugpapieren. Heute abend seid ihr wieder da!“ Der schwere Horch stieß und holperte über die Piste, die Federn knackten. Eine gelbe Staubwolke stand über ihnen. Nach einer halben Stunde tauchte das glitzernde Band der Via Balbo auf. „Ich komme mir vor, als führen wir auf Urlaub“, sagte Rotenburg vergnügt, suchte den Himmel nach Tieffliegern ab und pfiff vor sich hin. Jeremin saß am Steuer. Er dachte an Renate. Der Vater hatte ihm nicht genau erklärt, warum er sie unter allen Umständen in seinem Lazarett unterbringen wollte. Er hatte nur angedeutet, daß es für das Mädchen besser wäre, da man ihr sonst vielleicht eine unangenehmere Beschäftigung zuweisen würde. Aber er hatte nie erwähnt, daß er gezwungen war, Renate unter falschem Namen in den Listen zu führen. „Warum meinst du, daß Renate unter einem anderen Namen bei meinem Vater arbeitet?“ fragte er den Freund. Rotenburg hörte auf zu pfeifen: „Eine Halbjüdin darf doch nicht deutsche Verwundete betreuen“, sagte er bitter. „Das ist doch für die in Berlin schon eine halbe Rassenschande.“ „Woher weißt du das?“ erkundigte sich Jeremin.
„Es gibt da die sogenannten Nürnberger Gesetze“, antwortete Rotenburg. „Nach diesen elenden Paragraphen kannst du mit Zuchthaus bestraft werden, wenn du mit einer Halbjüdin schläfst. Das Mädchen aber muß damit rechnen, in einem KZ zu verschwinden.“ Jeremin trat auf die Bremse und hielt mit einem scharfen Ruck. „Ist das wahr?“ „Es ist wahr!“ „Fritz“, sagte Jeremin heiser, „ich habe Angst um Renate. Was passiert, wenn mein Vater an die Front versetzt wird? Wenn irgendein anderer sein Lazarett übernimmt?“ „Dein Vater ist doch zu alt. Der behält sein Lazarett“, versicherte Rotenburg. „Er wird schon alles richtig machen.“ Jeremin steckte sich eine Zigarette an. „Mensch“, sagte er, „das ist doch eine ungeheure Sauerei. Ich habe mir das nie so richtig durchdacht. Da werden wir an die Front geschickt, um angeblich durch unseren Einsatz unsere Angehörigen in der Heimat zu schützen, unsere Eltern, Geschwister, Frauen, Bräute. Da aber meine Braut eine verkehrte Mutter hatte, können sie das Mädchen einsperren, während ich hier draußen meine Knochen riskiere. Ich werde sie sofort heiraten. Vielleicht geht es mit Ferntrauung.“ „Alex“, Rotenburg sah den Freund traurig an. „Du kannst sie doch gar nicht heiraten. Du bekommst doch keine Heiratserlaubnis.“ „Ich kann sie nicht heiraten?“ „Natürlich nicht.“ „Dann kann ich sie also nur heiraten, wenn wir diesen Krieg verlieren“, sagte Jeremin langsam. „Oder wenn du mit ihr Deutschland verläßt.“ Jeremin schwieg. Er starrte über die flirrende Steinwüste. „Weißt du, was ich machen werde?“ sagte er heiser, „in meinem nächsten Urlaub haue ich ab in die Schweiz. Ich habe unter diesen Umständen keine Lust mehr, in Deutschland zu bleiben.“ „Es ist schwer, in die Schweiz zu kommen“, meinte Rotenburg. „Es ist ein sehr großes Risiko. Vielleicht hat dein Vater für Renate andere Papiere besorgt. Das wäre doch das allereinfachste. Dann kannst du sie auch heiraten.“ Jeremin schwieg wieder. Dann sagte er: „Fritz, du hast mir einmal in Frankreich erklärt, daß wir Soldaten nichts anderes seien als Lands-
knechte, die für einige wenige Machthungrige neuen Besitz erobern. Mir leuchtete das ein, und das zu wissen, ist schon schlimm genug. Aber wenn ich daran denke, daß die gleichen Männer, die uns aus Berlin ihre Befehle schicken, auch jederzeit befehlen können, Renate einzusperren, nur weil sie das Blut einer Rasse hat, die man verachtet und ausrottet, obgleich sie Deutsche ist wie du und ich, dann könnte ich mir sofort den verdammten Hoheitsadler von der Brust reißen.“ „Es geht nicht nur dir so. Es geht vielen Tausenden so“, Rotenburg lachte bitter. „Aber was können wir machen? Ich habe es mir oft überlegt. Schon in Gedanken rennt man gegen eine Gummiwand. Was nutzt es, wenn wir überlaufen? Was geschieht, wenn wir mit den Kameraden über diese Dinge sprechen? Sie werden es nicht verstehen, uns aber wird man umlegen. Erst wenn der eine oder andere persönlich betroffen ist, so wie du, dann fängt er an zu denken. Wir haben eine Chance. Wenn die da oben ihren Amoklauf weiter fortsetzen, wenn sie noch mehr Länder angreifen, wenn sie zum Beispiel mit dem riesigen Rußland anbinden dann werden immer mehr von uns begreifen, was los ist, dann werden sich Verbrechen und Größenwahn nicht mehr durch Sondermeldungen verbergen lassen, weil es keine Sondermeldungen mehr geben wird. Dann wird vielleicht auch die Bereitschaft in der Truppe dasein, diesen Krieg so schnell wie möglich zu beenden, um jeden Preis, und das ist das Ende Hitlers. Aber Millionen von uns werden noch verrecken müssen, bis es soweit ist. Alex, man darf gar nicht darüber nachdenken, sonst wird man verrückt.“ „Du hast recht“, murmelte Jeremin und fuhr langsam wieder an. * Vor ihnen tauchte ein langgestrecktes weiß gekalktes Gebäude auf. „Das weiße Haus am Kilometer dreißig“, rief Rotenburg. „Das ist der HV-Platz. Hier müssen wir fragen.“ Sie hielten. „Was ein richtiges Lazarett ist, das hat auch einen eigenen Friedhof“, äußerte Jeremin ironisch. Auf der anderen Straßenseite standen unzählige aus Kistenbrettern zusammengeschlagene Kreuze. Darüber hingen schlaff die deutsche und die italienische Flagge. Sie betraten das Gebäude. Es war kühl zwischen den Luftziegelmauern. Ein Sanitätsoffizier saß hinter einem Tisch und las.
„Wir suchen den italienischen Verpflegungsstab“, sagte Jeremin. „Wo liegen denn die Brüder? Wir haben gehört, sie verscheuern so allerhand.“ Der Sanitäter sah auf: „Umsonst ist der Tod“, meinte er und las weiter. Rotenburg legte fünfhundert Lire auf den Tisch: „Quatsch dich aus, Bruder.“ Der Unteroffizier besah sich die Banknote und steckte sie ein. „Na also. Ihr fahrt noch zwanzig Kilometer weiter auf der Via Balbo. Dann seht ihr auf der rechten Seite einen ausgebrannten Panzer. Hinter dem Panzer ist eine Piste. Die fahrt ihr ungefähr drei Kilometer hinunter, und dann seht ihr schon die Zelte.“ „Gott zum Gruße“, nickte Rotenburg, „überarbeite dich nur nicht, du Karbolhengst.“ „Schnauze“, knurrte der Sanitäter. Sie fuhren bis zu dem ausgebrannten Panzer und schwenkten von der Straße ab. Bald entdeckten sie wie angekündigt große Zelte, vor denen sich riesige Kistenstapel türmten. Einige Lkw standen herum. Sie wurden von schwitzenden Italienern beladen. Jeremin steuerte zwischen Steinen und Sandverwehungen auf die Zelte zu. „Halt mal an“, sagte Rotenburg. Jeremin bremste. „Häng dir die Affenschaukel um. Vielleicht ist der Trick mit der Generalsmasche gar nicht schlecht. Vielleicht können wir dann mehr erben.“ „Meinst du, die wissen nicht, wie ein deutscher General aussieht?“ erkundigte sich Jeremin. Rotenburg grinste: „Weißt du vielleicht, wie ein italienischer General aussieht?“ „Nein, ich habe noch keinen gesehen. Er wird einen Haufen Lametta an seinen Klamotten haben.“ „Richtig“, nickte Rotenburg. „Dir hänge ich jetzt auch Lametta an. Und hier“, er zog ein Kästchen aus der Tasche, „ist mein EK. Ich habe das Ding noch nie getragen. Siehst du, es hängt noch am Band. Das bekommst du jetzt um den Hals. Wir sind beide so eingestaubt, daß wir aussehen wie unsere eigenen Großväter. An den Tropenhelmen gibt es
sowieso keine Rangabzeichen, auch für Generale nicht. Es wird schon hinhauen.“ Er befestigte die silberne Schützenschnur und hing Jeremin das EK um den Hals. „Mann, was für ein Theater“, knurrte Jeremin. „Der ganze Krieg ist Theater“, meinte Rotenburg. „Jetzt setzt du dich auf den Rücksitz, und ich bin dein Fahrer.“ Jeremin kletterte auf den Rücksitz. Rotenburg rutschte ans Steuer und fuhr an. Sie hielten auf das größte Zelt zu und bremsten in einer Staubwolke. Fässer, Kanister, Kisten und Säcke lagen umher. Ein dicker Capitano erschien neugierig im Zelteingang. Rotenburg sprang aus dem Wagen, riß den Schlag auf und produzierte eine zackige Ehrenbezeigung. „Bitte Herrn General, die Tür aufhalten zu dürfen“, schnarrte er. Der Italiener zuckte bei dem Wort „General“ zusammen. „Du bist wohl übergeschnappt“, murmelte Jeremin und kletterte aus dem Horch. Ein paar italienische Soldaten kamen neugierig heran. Der Capitano verscheuchte sie mit einer Handbewegung, zog sich nervös das Koppel zurecht und salutierte vor Jeremin. Jeremin schüttelte ihm die fette Hand. „Sprechen Sie französisch?“ fragte er. „Gewiß“, versicherte der Italiener, „bitte treten Sie ein.“ Er nötigte Jeremin auf einen Klappstuhl in einem kleinen Verschlag und entkorkte eine Flasche Marsalla. Auch das noch, dachte Jeremin. Das Gesöff kenne ich. Drei Gläser, und man ist fertig. Wasser wäre mir lieber. „Es ist mir eine Ehre“, dienerte der Capitano und goß ein. Sie tranken. Der dickflüssige Wein war warm und schwer. „Ich benötige Ihre Hilfe, mon Colonel“, begann Jeremin. Der mit „Oberst“ angesprochene Zahlmeister strahlte: „Was ich besitze, steht zu Ihrer Verfügung, amigo.“ Die Hälfte würde schon genügen, dachte Jeremin und fuhr fort: „Unsere Nachschubfahrzeuge sind steckengeblieben. Unsere Fahrer sind nicht so hervorragend wie die Ihren.“ Ein wachsamer Ausdruck glomm in den Augen des Capitanos auf. Er ahnte einen Angriff auf seine Vorräte.
Schlau lächelnd hob er seine ringgeschmückte behaarte Hand: „Sie spaßen, mon camerade. Bei Ihrer hervorragenden Organisation sind Sie doch nicht auf meine bescheidene Hilfe angewiesen.“ „Ein Sandsturm“, meinte Jeremin, „gegen einen Gibli sind auch wir machtlos.“ „Natürlich“, nickte der Italiener. „Ein Sandsturm. Was kann ich für Sie tun?“ Mit elegantem Schwung warf er eine lange Liste auf den Tisch. Heiliger Strohsack, dachte Jeremin, der Kerl hat ja ein ganzes Warenhaus. Er bat um 3 Kisten Zitronen, eine Kiste Speck, fünfzig Dosen Aprikosen, fünf Kilo Schokolade und zehn Kanister Rotwein. „Ist das alles?“ erkundigte sich der Capitano mitleidig. Er hatte damit gerechnet, mindestens zwei LKW-Ladungen loszuwerden. „Falls möglich, noch hundert Eier“, sagte Jeremin rasch. „Bueno!“ Jeremin griff in die Tasche und legte zehntausend Lire auf den schmutzigen Tisch. „Madonna“, fuhr der Italiener auf, und seine Augen funkelten. „Ich könnte mir beim Rasieren nie mehr in die Augen sehen, wenn ich von einem Waffenbruder auch nur einen Soldino nehmen würde.“ Aber seine Hand näherte sich langsam der Banknote. „Es ist auch nicht für Sie, es ist für die Armen Ihrer Heimatgemeinde, mon Colonel“, lächelte Jeremin milde. „Für die Lazzaroni“, der Capitano ließ blitzschnell das Gold verschwinden. „Man wird für Sie beten, amigo.“ Im Puff von Derna, dachte Jeremin. Der Offizier brüllte mit gewaltiger Stimme einige Befehle. Zwei Soldaten begannen die Kisten zu verladen. Rotenburg staunte. Als Jeremin nach vielem Händeschütteln aus dem Zelt kam, folgte der Capitano. „Belieben Herr General jetzt weiterzufahren?“ - fragte Rotenburg und riß den Schlag auf. Madonna - dachte der Capitano. Ich hatte doch richtig gehört. Der Kerl ist General. Er salutierte heftig. Jeremin tippte an seinen Mützenrand. Mit einem gewaltigen Satz schoß der Wagen davon.
* Als sie außer Hörweite waren, lachten sie beide. „Das hat ja geklappt“, freute sich Rotenburg. „Jetzt werden wir erst einmal picknicken.“ Sie fuhren den Wagen hinter eine Wanderdüne, öffneten ein Glas Aprikosen und tranken einige Becher Wein. „Ich glaube, ich bin blau“, murmelte Rotenburg. „Kann stimmen, ich nämlich auch“, bestätigte Jeremin. „Egal, her mit der Pulle.“ Es begann zu dämmern. „Fritz“, Jeremin wackelte ein bißchen mit dem Kopf, „jetzt fahren wir nach Hause. Hier herunter, da können wir quer durch die Wüste ein Stück abschneiden. Los, fahr deinen General nach Hause.“ „Jawoll, Herr General“, Rotenburg warf krachend die Gänge hinein und gondelte in leichtem Zickzackkurs durchs Gelände. Jeremin rutschte zusammen und schlief ein. Als er aufwachte, war es dunkel. „He“, fragte er, wieder nüchtern geworden, „wo sind wir?“ „Keine Ahnung“, brummte Rotenburg, „auf jeden Fall nicht auf der Via Balbo.“ „Gib mir mal deinen Marschkompaß“, sagte Jeremin. „Marschkompaß?“ wiederholte Rotenburg. „Der liegt bei meinen Klamotten in der Stellung. Hast du denn auch keinen dabei?“ „Ich habe meinen im alten Hemd.“ Jeremin sah über die mondübergossene unendliche Fläche. „Fritz, das Ding ist sauer.“ Rotenburg stellte die Zündung ab. Der Motor schwieg. Es war sehr still, so still, daß die Ruhe in den Ohren summte. „Morgen früh haben wir es leichter“, sagte er. „Wir fahren einfach der aufgehenden Sonne entgegen. Passieren kann nichts. Die Via Balbo muß östlich liegen.“ „Du hast vielleicht schon fünf Kreise und zehn Kurven gefahren“, meinte Jeremin. „Die Via Balbo kann überall liegen.“ „Auf jeden Fall ist Tobruk östlich von hier.“ Rotenburg kramte nach seinen Zigaretten. „Wir fahren in Richtung der aufgehenden Sonne und werden irgendwann an die Front kommen.“ Sie rauchten schweigend.
„Diese elende Ruhe ist unheimlich“, begann Jeremin nach einer Weile. „Wenn man doch wenigstens Artillerie hören würde.“ Die Mondlandschaft des erstarrten Hammada dehnte sich majestätisch-seelenlos und verlor sich im Ungewissen. „Versuchen wir zu schlafen“, brummte Rotenburg. Sie kauerten sich eng aneinander und schlossen die Augen. Der Nachttau durchnäßte ihre Hemden und ließ sie frösteln. „Ein verfluchtes Land“, murmelte Jeremin. * Gegen Morgen erwachten sie. Ihre Glieder waren steif und schmerzten. Schweigend beobachteten sie das prächtige Farbenspiel des aufglühenden Horizonts. Langsam stieg die rote Sonnenscheibe am Rande der Wüste empor. Bereits eine Stunde später war es wieder so heiß wie in einem Brutkasten. Die Sonne ist unsere einzige Chance, dachte Jeremin, als er den Wagen über Steine, Kameldorn und durch Sandlöcher steuerte. Wenn wir aber nicht die richtige Richtung finden, wird die Sonne unser Tod sein. „Wir müssen doch bald auf die Küstenstraße kommen“, Rotenburg wurde nervös. „Vielleicht landen wir im Sudan oder sonstwo“, brummte Jeremin und tastete nach seinem verschwitzten Lederetui in der Brusttasche. Als er entdeckte, daß er nur noch drei Zigaretten besaß, fluchte er. „Wie sieht es mit dem Benzin aus?“ erkundigte sich Rotenburg. „Die Benzinuhr geht nicht. Ich schätze, wir haben noch zwanzig Liter. Das reicht im Gelände für sechzig Kilometer. Dann ist Feierabend.“ „Prima“, brummte Rotenburg. Jeremin entdeckte plötzlich einen dunklen Punkt. Der Punkt stieß aus dem flirrenden Himmel herab, genau auf die Staubwolke des Wagens zu. „Tiefflieger“, schrie Jeremin, „raus aus der Mühle.“ Er bremste scharf. Aber die Maschine donnerte bereits über sie hinweg. Es war eine englische Hurricane. Sie flog sehr tief. Jeremin glaubte das Gesicht des Piloten gesehen zu haben.
„Er kommt zurück“, rief Rotenburg, „jetzt aber raus.“ Sie sprangen aus dem Wagen, rannten ein Stück in die Wüste und warfen sich zwischen die Steine. Die Hurricane brauste im Tiefangriff heran. Acht Maschinengewehre hat der Hund, dachte Jeremin verzweifelt. Er wird uns solange anfliegen, bis der Wagen und wir Kleinholz sind. In das Dröhnen der Flugzeugmotore mischte sich das Hämmern der Bordwaffen. Die Maschine heulte vorbei. Jeremin richtete sich auf. Der Kübelwagen hatte keine Windschutzscheibe mehr. Aus dem Benzintank schoß eine steile Stichflamme. Dunkler Rauch quoll zwischen den Vordersitzen empor. In wenigen Sekunden stand der Horch in Flammen. Jeremin wollte um den Wagen rennen, aber der Engländer fegte schon wieder heran. Die MGs bellten. Dann zog die Maschine steil nach oben, wurde kleiner und kleiner und verschwand. „Dieses elende Schwein“ schrie Jeremin wütend, griff nach seiner Maschinenpistole und sprang auf. Er versuchte, aus dem brennenden Wagen wenigstens den Wein oder die Obstkonserven zu retten, aber die Hitze war so stark, daß er zurücktaumelte. Mit knallendem Geräusch zerplatzten die Eier. Unser Wein wird kochen, dachte er bitter und starrte in die prasselnden Flammen. Dann sah er sich nach Rotenburg um. Der Freund lag immer noch zwischen den Kameldornbüschen. „Komm her“, rief Jeremin ärgerlich. Aber Rotenburg antwortete nicht. Jeremin erschrak. Er lief hinüber zu den Kameldornbüschen. Rotenburg lag auf dem Rücken. Seine Zähne hatten sich vor Schmerz tief in die Lippen gegraben. Beide Unterarme waren zerschossen. Über dem Gürtel quoll Blut hervor. Ein dunkelroter Fleck breitete sich langsam auf dem gebleichten Hemd aus. Um Gottes willen, dachte Jeremin, er hat eine ganze Garbe abbekommen. „Fritz“, flüsterte er. „Ich verbinde dich. Dann hole ich Hilfe. Lieg nur ganz still.“
Mit zitternden Händen zog er die Verbandspäckchen aus der Tasche und riß sie auf. Rotenburg bewegte den Kopf und stöhnte: „Laß nur, das hat keinen Zweck mehr.“ „Unsinn“, Jeremin schob das Hemd des Verwundeten hoch. Entsetzt starrte er auf das zerrissene Fleisch. Rotenburg wimmerte. „Laß mich liegen. Dreh mich nicht um.“ „Ist ja schon gut“, sagte Jeremin beruhigend, stand auf, riß sich das Hemd vom Leib und begann es in lange Streifen zu zerfetzen. Er wickelte den schmutzigen Stoff um die zerschossenen Unterarme des Freundes und zog die Knoten fest an, um die Blutung zu stillen. „Alex“, flüsterte Rotenburg. „Ja, Fritz?“ Jeremin beugte sich zu ihm herab. „Nimm meine Brieftasche und die Zigaretten aus meiner Brusttasche.“ Jeremin nahm die Brieftasche und die Zigaretten und legte beides in den heißen Sand. „Das Zeug drückt dich, nicht wahr?“ Rotenburg versuchte ein verzerrtes Lächeln. Die braune Haut seines Gesichtes verfärbte sich zu einer grünlichen Blässe. „Alex“, flüsterte er wieder. „Es ist aus. Du weißt, daß du mich nicht tragen kannst. Ich würde es auch nicht aushalten. Ich bin fertig.“ „Dummes Zeug“, sagte Jeremin heiser. „Man wird uns finden.“ „Man wird uns nicht finden“, murmelte Rotenburg. „Du darfst keine Zeit verlieren. Versuche die Via Balbo zu erreichen. Nimm meine Sachen und geh.“ „Du weißt genau, daß ich dich hier nicht liegenlasse.“ Jeremin sah den Freund verzweifelt an. „Es hat also keinen Zweck, darüber zu sprechen.“ Rotenburg schwieg. Seine Augen waren unnatürlich geweitet. Er versuchte die zerschossenen Arme zu bewegen. „Sei mein Freund und hilf mir“, stöhnte er. „Natürlich, Fritz, was soll ich tun?“ Rotenburgs Augen wanderten zu der Maschinenpistole im Sand. Jeremin begann zu begreifen. „Nein“, stieß er hervor, „nein, Fritz. Das kann ich nicht. Man wird uns finden. Verlaß dich drauf.“
Rotenburg versuchte den Kopf zu heben. „Feigling. Willst du mich verrecken lassen wie einen Hund?“ Ich kann ihn doch nicht erschießen, dachte Jeremin. Ich kann es einfach nicht. „Muß ich vor Durst und Schmerzen erst noch wahnsinnig werden, bevor ich endlich sterben darf?“ flüsterte Rotenburg. „Schlaf ein bißchen“, bat Jeremin. Er setzte sich so, daß sein Schatten auf das Gesicht des Freundes fiel. Hätten wir doch nur den Wein, dachte er. Ich könnte Fritz betrunken machen. Er hätte es dann leichter. Die Minuten verrannen. Rotenburg begann zu zittern. Seine Beine bewegten sich. Der schmale Körper zuckte. „Was hast du?“ fragte Jeremin erschrocken. Der Sterbende antwortete nicht. Auf seine Lippen trat Schaum. Er winselte wie ein junger Hund, bäumte sich auf und begann plötzlich gellend zu schreien. Jeremin sprang auf. „Fritz“, rief er, „Fritz, hörst du mich?“ Rotenburgs Beine stampften auf den Boden. Immer wieder versuchte er sich aufzurichten. Seine Augen starrten in unbeschreiblicher Qual. Wieder begann er zu schreien. Jeremin atmete schwer. Steif bückte er sich und hob die Maschinenpistole auf, zielte sorgfältig auf die linke Brustseite des Freundes, schloß die Augen und zog ab. Er hörte das trockene Knattern, fühlte den kurzen, harten Rückstoß der Waffe und dachte immer wieder: zweiunddreißig Schuß sind im Magazin, zweiunddreißig Schuß. Dann war es sehr still. Nur die Flammen des brennenden Kübelwagens prasselten. Langsam öffnete Jeremin die Augen. Rotenburg lag ganz ruhig auf dem Rücken. Sein Kopf war zur Seite gerollt. Quer über die Brust lief ein dunkler Streifen. Jeremin ließ die Waffe in den Sand fallen. Sein Kiefer begann zu zittern. *
Der Kübelwagen glühte noch. Eine dünne Rauchsäule stieg senkrecht in die flirrende Luft. Jeremin trug Steine zusammen. Seine Hände bluteten. Er achtete nicht darauf, daß die glühende Sonne seinen nackten Rücken unbarmherzig verbrannte. Nach einer Weile war nur noch Rotenburgs Kopf unter den zusammengeschichteten Steinen zu sehen. Jeremin holte in seinem Tropenhelm Sand und schüttete ihn mit abgewandtem Gesicht auf Rotenburgs Kopf. Als der Sandhügel groß genug war, legte er Steine darauf. Mit hängenden Armen stierte er auf seine vollendete Arbeit und dachte: „Die meisten Menschen beten jetzt. Sie beten zu dem, der solche Dinge geschehen läßt. Wahrscheinlich bedanken sie sich auch noch dafür.“ Er bückte sich, steckte die Brieftasche und die Zigaretten ein und setzte seinen Tropenhelm auf. Die Maschinenpistole ließ er liegen, er hatte keine Munition mehr. Schwerfällig drehte er sich um und ging davon. Es war ihm ganz gleich, in welcher Richtung er sich bewegte. Die Hände in den Hosentaschen vergraben, taumelte er vorwärts. Sein Gehirn war verdorrt, und alle Erinnerungen zerfielen zu Staub. Als er über einen Felsbrocken stolperte und zu Boden fiel, blieb er liegen und schlief vor Erschöpfung ein. * Nach vielen Stunden kehrte er aus den Abgründen eines bleiernen Schlafes zurück. Die Sonne stand bereits wieder am Himmel. In den aufgeplatzten Brandblasen seines nackten Rückens saß feiner Flugsand. Er fühlte wahnsinnige Schmerzen. Als er emportaumelte, erhob sich summend eine dichte Wolke buntschillernder Fliegen. Fieber raste durch seinen ausgemergelten Körper. Wenn er den Kopf bewegte, fühlte er ein schweres Stück Blei, das hin und her rutschte. Wasser, dachte er. Ich werde erst einmal etwas trinken. Gewohnheitsmäßig tastete er mit der Hand nach der Feldflasche.
Dann fiel ihm ein, daß sein Koppel im Kübelwagen mit verbrannt war, daß Rotenburg unter einem Wall von Steinen lag und daß er, Jeremin, mitten in der Wüste stand, ohne Kompaß, ohne Wasser, den sicheren Tod vor Augen. Er fröstelte trotz der brütenden Hitze. Dann lachte er laut. „Ich bin entlassen“, murmelte er. „Ich kann spazierengehen, so lange ich will, spazierengehen in Gottes schöner Natur. Ich möchte nur wissen, was sich der verdammte liebe Gott dabei denkt, wenn er mich hier spazierengehen sieht.“ Gleichgültig stolperte er vorwärts. Ein paar Skorpione oder eine Sandviper reichen, dachte er. Dann brauche ich mich nicht mehr so lange zu quälen. Er begann mühsam große Steine herumzudrehen. Endlich entdeckte er einen grünen Skorpion. Ungeschickt griff er nach dem Tier. Aber der Skorpion lief mit seinen dünnen Beinen davon und verschwand in einer Felsspalte. „Das ist Betrug“, krächzte Jeremin. „Der verdammte liebe Gott betrügt mich sogar noch um einen anständigen Tod.“ Wieder begann er nach Skorpionen und Sandvipern zu suchen. Plötzlich richtete er sich auf. Vor sich sah er eine sprudelnde Quelle. Das glitzernde Wasser drängte sich zwischen den Felsblöcken hervor, verbreiterte sich zu einem silbernen Bach, der fröhlich dahinplätscherte und in einem ungeheuren See am fernen Horizont mündete. „Ich wußte, daß ich Glück haben würde“, jubelte Jeremin. Er sah ganz deutlich, wie das klare Wasser zwischen den bemoosten Steinen dahinschoß und sich in kleinen Wirbeln drehte. Weit öffnete er die Arme, torkelte auf das glitzernde kühle Wasser zu, brach in die Knie und schlug schwer in den heißen Sand. * Oberstabsarzt Jeremin knöpfte seinen Uniformmantel zu und griff nach dem Koppel mit der Pistolentasche. „Wir operieren morgen früh um acht Uhr dreißig und fangen mit dem Oberschenkelbruch an. War sonst noch etwas, Brockmann?“
„Jawohl, Herr Oberstabsarzt“, sagte der Oberfeldwebel und legte eine Akte auf den Schreibtisch. „Da ist noch die Sache mit dem Gefreiten Niedermeyer. Herr Oberstabsarzt wissen doch, der Mann mit der Amputation der drei Finger an der rechten Hand. Das Gericht der 34. Division hat ein Gutachten angefordert.“ „Was für ein Gutachten?“ „Ob Selbstverstümmelung vorliegt. Der Mann gibt an, sich beim Waffenreinigen aus Versehen in die Hand geschossen zu haben. Von der Einheit wurde Tatbericht eingereicht. Bei Selbstverstümmelung kann auf Todesstrafe erkannt werden.“ Der alte Jeremin sah den Sanitätsoberfeldwebel an. „Würden Sie sich eine Stellungnahme zutrauen? Der Mann wurde hier mit einer zerschossenen Hand eingeliefert. Wir waren nicht dabei, als der Schuß losging. Wir wissen auch nicht, was sich der Gefreite dachte, als er den Abzug der Waffe berührte. Ich bin weder Hellseher noch Untersuchungsrichter, sondern Chirurg.“ „Jawohl, Herr Oberstabsarzt. Aber wir müssen irgend etwas antworten.“ „Schreiben Sie, ich halte die Sache für einen Unglücksfall. Schußverletzungen durch Unachtsamkeit hat es schon im tiefsten Frieden gegeben.“ „Jawohl, Herr Oberstabsarzt.“ Der alte Jeremin ging langsam durch die Gänge des Lazaretts, an der Wache vorbei, trat auf die dunkle Straße und tastete sich vorsichtig zu seinem Wagen auf dem Parkplatz unter den Bäumen. Hinter dem Wagen tauchte der Schatten eines Mannes auf. „Herr Doktor Jeremin?“ „Ja?“ Der Oberstabsarzt vermochte das Gesicht des Mannes nicht zu erkennen. „Ich bin ein Bekannter Ihres Freundes Doktor Herxheimer.“ „Doktor Herxheimer ist tot. Was wünschen Sie?“ „Seine Tochter ist bei Ihnen“, sagte der Mann. Der alte Jeremin erschrak. „Sie führen das Mädchen in den Listen des Lazaretts unter dem Namen Renate Stoll. Hier ist ein Personalausweis. Dieser Ausweis ist auf den Namen Renate Stoll ausgestellt. Er ist in Ordnung. Es existiert sogar
eine Karteikarte bei der ausstellenden Behörde. Nehmen Sie den Ausweis.“ Der Oberstabsarzt zögerte. Wollte man ihm eine Falle stellen? Natürlich. Das war es. „Ich weiß nicht, was Sie wollen“, sagte er steif. „Wissen Sie, wie Ihr Freund Herxheimer gestorben ist?“ „Ich erfuhr über die Ärztekammer, er sei einem Herzschlag erlegen.“ „Das stimmt nicht. Unser gemeinsamer Freund Herxheimer starb den Heldentod.“ „Heldentod? Er war doch gar nicht eingezogen -“ „Bei seiner Verhaftung durch die Gestapo erschoß er einen Beamten und dann sich selbst.“ „Er sollte verhaftet werden?“ der Oberstabsarzt wurde unruhig. „Ja. Er war nicht nur Ihr Freund. Er war auch unser Freund. Er half uns, deshalb helfen wir jetzt Ihnen. Hier nehmen Sie.“ „Wer sind Sie? Was hatten Sie mit ihm zu tun?“ Der alte Jeremin fühlte einen Ausweis zwischen den Fingern. Aber der Mann gab keine Antwort. Er tauchte lautlos zwischen den Bäumen des Parkplatzes unter und verschwand in der Nacht. Der Oberstabsarzt nahm seine Mütze ab und wischte sich über die feuchte Stirn. Man hatte Herxheimer verhaften wollen, und Herxheimer hatte sich gewehrt. Ob seine Verhaftung mit Renate zusammenhing? Herxheimer mußte schwerwiegende Gründe gehabt haben, um zur Waffe zu greifen. Hatte er durch seinen Tod vermeiden wollen, zum Sprechen gezwungen zu werden? Hatte die Gestapo einen Verdacht, daß Renate im Lazarett arbeitete? Der alternde Mann zitterte ein wenig. Wieder wischte er sich über die schweißnasse Stirn. Rasch schloß er den Wagen auf und schaltete die Armaturenbeleuchtung ein. In dem matten Licht lächelte ihm Renates Gesicht entgegen. Das Paßbild war vorschriftsmäßig gestempelt. Nur der Raum für die handschriftliche Unterschrift darunter war noch frei. * Viele Wochen dämmerte Jeremin in völliger Apathie dahin. Zwischen der Welt und ihm befand sich ein dichter Musselinvorhang. Er hatte weder Lust noch Kraft, diesen Vorhang zu entfernen.
Als er damals das erstemal erwachte, drang das Dröhnen schwerer Flugzeugmotoren an sein Ohr. Er bemerkte, daß er sich in einer Maschine befand. Nach Stunden landete diese Maschine, man hob seine Trage heraus, verlud ihn in einen Wagen und legte ihn in ein anderes Bett. Man stach ihn mit Nadeln, man führte Schläuche in alle möglichen Körperöffnungen ein, man fütterte ihn, man sprach ihn immer wieder an, aber er antwortete nicht. Alles war ihm völlig gleichgültig. Eines Tages aber unterschied er eine bekannte Stimme in dem Gemurmel an seinem Bett. „Hören Sie mich denn nicht, Jeremin?“ fragte jemand. Mit großer Kraftanstrengung öffnete Jeremin die Augen und blinzelte in die Helligkeit des Raumes. Hauptmann Endres hatte sich über ihn gebeugt. „Na, wie fühlen Sie sich?“ fragte der Hauptmann. „Ich fühle mich überhaupt nicht“, murmelte Jeremin. „Man soll mich in Ruhe lassen.“ Seine Stimme kam ihm fremd vor. Türen klappten. Nach einer Weile sagte Endres: „Wir sind allein, Jeremin.“ Jeremin öffnete die Augen. Der Hauptmann sah ganz anders aus als in dem Graben vor Tobruk. Sein Gesicht war schmal, aber sauber rasiert. „Wo sind wir?“ fragte Jeremin. „In Tripolis. In einem Lazarett“, Endres setzte sich auf den Rand des Bettes. „Es wird Zeit, daß Sie aufhören, den Scheintoten zu spielen.“ Jeremin tastete die Gestalt des Hauptmanns mit den Augen ab. Irgend etwas war fremd. Dann sah er, daß der linke Uniformärmel leer war. „Sie haben einen Arm verloren“, sagte Jeremin. Endres nickte. „Ich liege auch in diesem Lazarett. Ein paar Zimmer weiter. Morgen besuche ich Sie wieder.“ * Jeremin brauchte an diesem Abend nicht mehr gefüttert zu werden. Er aß, was man ihm brachte, aber er sprach mit niemand. Weder mit der Schwester noch mit dem Arzt. Am nächsten Morgen kam Hauptmann Endres wieder. „Warum sprechen Sie eigentlich mit niemand?“ fragte er. „Die Leute wollen Ihnen doch nur helfen.“
Jeremin schwieg. „Aber mit mir werden Sie sich doch unterhalten?“ lächelte Endres. „Bitte“, knurrte Jeremin. „Sie hatten einen ganz schönen Nervenschock“, berichtete der Hauptmann. „Eine arabische Patrouille der Wüstenpolizei hat Sie gefunden. Halbverdurstet, halbverrückt Ihr Rücken war böse zugerichtet. Was ist denn mit Rotenburg passiert?“ „Er ist gefallen“, murmelte Jeremin. „Tieffliegerangriff. Wo hat man mich gefunden?“ „Ganz in der Nähe der Via Balbo. Wie konnten Sie sich denn nur verirren?“ Jeremin begann stockend zu erzählen. Aber er verschwieg, daß er Rotenburg erschoß. Er konnte nicht darüber sprechen. „Sie hatten keine große Lust mehr zu leben“, meinte Endres, „daran wären Sie beinahe gestorben. Das haben mir wenigstens die Ärzte erzählt.“ „Ich habe auch jetzt noch keine Lust“, sagte Jeremin. „Übrigens sind Sie zum Feldwebel befördert worden“, lächelte der Hauptmann. „Und hier habe ich noch etwas.“ Er zog zwei Kästchen aus der Tasche und legte sie auf den Tisch. „Das EKI und das Infanteriesturmabzeichen.“ Jeremin schwieg. „Außerdem“, fuhr Endres fort, „habe ich Sie als Offiziersanwärter vorgeschlagen. Man wird Sie auf die Kriegsschule schicken. Dort können Sie eine ruhige Kugel schieben. Vielleicht geht mittlerweile der Krieg zu Ende.“ Jeremin lachte plötzlich heiser. „Was ist los?“ Endres sah ihn verblüfft an. „Kriegsschule“, lachte Jeremin voll bitterem Hohn, „das ist ja ein ganz idiotisches Wort. Glauben Sie, man muß mir beibringen, was Krieg ist? Ich bin es satt, dieses ganze dreckige Theater. Ich will nicht mehr. Ich will überhaupt nichts mehr. Warum hat man mich nicht in der Wüste verrecken lassen?“ „Ich verstehe Sie nicht. Seien Sie doch froh, daß Sie hier. sind“, sagte der Hauptmann vorwurfsvoll. „Sie werden Urlaub bekommen. Sie haben doch Eltern, eine Braut, Menschen, die auf Sie warten.“ Jeremin schwieg. Nach einer Weile sagte er: „Ich weiß nicht, ob Sie mich verstehen. Aber das alles kotzt mich so an. Da hilft auch ein Urlaub
nichts. Dieser ganze dreckige, verlogene Krieg! Was ist denn von unserer Menschenwürde, von unserer Freiheit übriggeblieben? Wir müssen vor unsere Oberen hintreten und sagen: ,Bitte sterben zu dürfen’ - damit wir eine Chance zum Überleben haben. Sagen wir das nicht, weigern wir uns, so werden wir unter Garantie aufgehängt. Orden, Urlaub, Beförderungen - das reicht doch nicht, um den ganzen Wahnwitz unserer Situation zu vergessen.“ Der Hauptmann sah ihn aufmerksam an. „Und was wollen Sie tun?“ „Ich will keinen Krieg, und ich werde es jedem sagen, ob er mich danach fragt oder nicht“, schrie Jeremin. „Und was versprechen Sie sich davon?“ „Nichts, gar nichts. Ich weiß es. Aber ich kann nicht von anderen etwas verlangen, zu dem ich selbst nicht bereit bin. Ich muß es einfach tun.“ „Und wenn Sie dadurch Ihre Eltern, Ihre Braut, Ihre Freunde gefährden? Das Günstigste, was Ihnen passieren kann, ist doch eine Einweisung in eine Irrenanstalt.“ Jeremin schwieg. „Nein“, der Hauptmann legte seine Hand auf den Arm Jeremins. „Das hat alles keinen Sinn. Sie stehen unter der Einwirkung eines schweren Schocks. Konzentrieren Sie Ihre Gedanken und Gefühle auf die Menschen, die Sie lieben, und nicht auf die Menschen, die Sie hassen. Sprechen Sie sich mit Ihrem Vater aus. Sprechen Sie mit Ihrer Braut. Versuchen Sie erst einmal, wieder zu sich selbst zu kommen.“ „Ja“, sagte Jeremin leise, „ich will es versuchen.“ „Bis morgen.“ Endres stand auf. Als er die Tür hinter sich geschlossen hatte, fegte Jeremin die beiden Kästchen mit den Auszeichnungen vom Nachttisch, vergrub den Kopf in den Kissen und wurde von einem Weinkrampf geschüttelt. * „Es gibt eine ganze Menge Neues“, berichtete Hauptmann Endres am nächsten Tag, „wir stehen mit Rußland im Krieg.“
„Haben die Russen uns den Krieg erklärt?“ erkundigte sich Jeremin verblüfft. „Dazu hatten sie keine Zeit. Unsere Divisionen sind einmarschiert.“ „Wir haben also Rußland überfallen“, Jeremin schüttelte den Kopf. „Das wird den Krieg schneller beenden.“ „Nun, Rußland ist nicht so schnell zusammenzuschlagen wie Frankreich“, gab Endres zu bedenken. „Eben drum“, höhnte Jeremin, „sie werden uns zusammenschlagen. Wir werden dieses riesige Land niemals besiegen.“ „Jeremin“, der Hauptmann sah ihn befremdet an. „Sie hoffen doch nicht im Ernst, daß wir den Krieg verlieren? Seien Sie froh, daß wir allein in diesem Zimmer sind. Viele Leute haben kein Verständnis für solche Äußerungen.“ „Man kann nur noch hoffen, daß wir diesen Krieg verlieren. Unsere Regierung überfällt ohne Grund ein Volk nach dem anderen und riskiert damit die Zukunft Deutschlands. Wir können doch nicht die ganze Welt erobern! Die Brüder in Berlin sind ja größenwahnsinnig.“ „Größenwahnsinnig, aber Jeremin!“ „Doch, doch. Es gibt ja unwiderlegbare Symptome dafür. Die rassische Überheblichkeit, der Wahn von dem germanischen Menschen, von der Herrenrasse. So fing es doch an. Und nun die Angriffe auf jeden nur erreichbaren Gegner. Und wie ist man mit den Juden umgegangen? Was hat man mit uns vor Tobruk gemacht, am l. Mai? Sie haben es mir doch selbst gesagt, Herr Hauptmann. Man war entschlossen, uns zu verheizen, ohne Rücksicht auf Verluste. Nicht an uns hat man gedacht. Nur an den Erfolg. Und so werden sie ganz Deutschland verheizen.“ „Jeremin“, Endres schüttelte den Kopf. „Mir scheint, ich habe Ihnen jetzt lange genug zugehört. Sie waren sonst ein ganz vernünftiger Mann! Aber Sie werden eines Tages schon wieder zu Verstand kommen. Ich werde morgen nach Deutschland geflogen. Vielleicht sehen wir uns beim Ersatzhaufen wieder. Ich wünsche Ihnen alles Gute.“ Als der Hauptmann die Tür hinter sich geschlossen hatte, ging er zum Stabsarzt. „Ich glaube“, sagte Endres, „der Mann aus meiner Kompanie hat einen schwereren Schock, als Sie dachten. Ich fürchte fast, er ist geisteskrank.“ „Geisteskrank?“ Der Stabsarzt blickte erstaunt auf. „Wie kommen Sie zu dieser Vermutung?“
„Er spricht völlig unverständliches Zeug. Er sagt Dinge, die ihn den Kopf kosten können, wenn man ihn ernst nimmt. Glauben Sie, daß er durch die Schockwirkung zeitweilig unzurechnungsfähig ist?“ „Das ist durchaus möglich“, meinte der Stabsarzt. „Temporäres Irresein nach tiefgehenden Schockwirkungen ist keine Seltenheit. Wir werden ihn schon wieder hinkriegen, Herr Hauptmann.“ „Das würde mich freuen“, sagte Endres. * Als Jeremin aufstehen durfte, ging er in den Waschraum, um sich zu rasieren. Erschrocken sah er in den Spiegel. Seine Haut war olivfarben und spannte sich über den Backenknochen. Tiefe Falten gruben sich von den Nasenflügeln zu den Mundwinkeln. Die Augen lagen tief in den Höhlen. Er sah nicht aus wie ein Dreiundzwanzigjähriger, sondern wie ein Mann von vierzig. Man gab ihm eine Uniform mit den Rangabzeichen eines Feldwebels. Stundenlang strich er durch den Suc-el-Turc, das Araberviertel, und sah den feilschenden Händlern zu. In Tripolis fand er alles, was er sich einst von Afrika erträumt hatte: wiegende Palmen, weiße Moscheen, schwarzäugige Frauen, die durch die Perlvorhänge der Trattorias spähten, märchenhafte Villen unter blühenden Bäumen und Kamelkarawanen, die hinaus in die Oasen zogen. Aber die tropische Welt ließ ihn völlig gleichgültig. Ohne ein Lächeln beobachtete er, wie einige Soldaten jeden Morgen Kupfermünzen unter eine Horde brauner Eingeborenenkinder warfen und die kleinen Araber und Neger dafür im Sprechchor brüllten: „Wir wollen heim ins Reich.“ Das ganze Lazarett lachte sich täglich über diese Vorstellung halbtot. Das einzige, was Jeremin aus seiner Gleichgültigkeit riß, war ein kleiner Zierbrunnen in der Nähe des Uadan-Hotels. Stundenlang saß er auf einer Bank in der Nähe des Brunnens und beobachtete, wie das Wasser unablässig über die kleinen Kaskaden plätscherte und nutzlos versickerte. Er empfand diese Verschwendung als Todsünde. Zweimal schrieb er flüchtige Briefe nach Hause, und eines Tages wurde er sich der Tatsache bewußt, daß er trank. Er zechte immer allein in einer schmierigen Bar am Hafen, starrte über das Meer, ohne die Menschen auf dem Boulevard zu beachten, und
leerte ganze Karaffen des beißenden Palmschnapses, den die Araber „Toddy“ und die Soldaten „den weißen Blitz“ nannten. Gegen Morgen warf er einen Schein auf den Tisch, taumelte in ein arabisches Bordell oder stelzte steifbeinig und total betrunken zurück ins Lazarett. Er kümmerte sich weder um Vorschriften noch um den Zapfenstreich. Er kam und ging, wie es ihm paßte. Er sprach mit niemandem ein Wort, und die anderen Soldaten mieden ihn. Weder der Wachhabende noch der Unteroffizier vom Dienst wagten ihn anzusprechen, wenn er aufrecht, mit glasigen Augen am frühen Morgen das Lazarett betrat und sich in sein Bett warf. Man hielt ihn für verrückt, und er genoß eine Art Narrenfreiheit. * Einige Wochen später wurde er mit einem Verwundetentransport nach Deutschland geflogen. Er trug einen Marschbefehl in der Tasche und hatte sich beim Tropenlazarett in München zu melden. Die Ju 52 rollte aus. Jeremin verließ die Maschine. Als er auf dem Flugplatz stand, fröstelte ihn. Zwischen den Hallen leuchteten herbstbunte Bäume. Von den nahen Bergen wehte ein kühler Wind. Die Feldgendarmen an der Kontrolle waren freundlich und hilfsbereit. Afrikakämpfer genossen Seltenheitswert. Einer der Feldwebel blätterte in Jeremins Soldbuch. „Mensch“, sagte er, „du hast ja jede Menge Auszeichnungen. Warum trägst du deinen Klempnerladen denn nicht?“ Jeremin zuckte die Schultern, steckte das Soldbuch wieder ein und ging weiter. Dann stand er auf der Straße und wußte nicht, was er tun sollte. Er hatte keine Lust, sofort in das Lazarett zu fahren. „Taxi?“ fragte ein alter Chauffeur. Jeremin nickte. Er setzte sich in den Wagen und ließ sich zur Heereszahlstelle fahren, wo man ihm einen erheblichen Betrag an Tropenzulage und Gehalt aushändigte, da ein Teil des Geldes in Afrika einbehalten worden war. Achtlos steckte er das Banknotenbündel in die Tasche und wanderte ziellos durch die Straßen.
Ein Zivilist sprach ihn an, klopfte ihm auf die Schulter und fragte, wann mit der Einnahme Kairos zu rechnen sei. Jeremin schüttelte den Schwätzer ab und flüchtete in ein nahes Café. Das Café war sehr groß und gähnend leer. Trostlos standen die kahlen Marmortische in langen Reihen. Nur an einem Tisch saßen zwei Damen. Jeremin hatte plötzlich das Bedürfnis, mit jemandem zu sprechen. Nicht über den Krieg, sondern über ganz belanglose Dinge. Er ging zu dem Tisch der Frauen. „Hätten Sie etwas dagegen, wenn ich mich zu Ihnen setze?“ Die Ältere zog die Augenbrauen hoch, sah ihn kühl an und meinte: „An freien Tischen ist um diese Zeit doch wohl kein Mangel, junger Mann.“ „Eben deshalb“, sagte Jeremin. „Ich war lange nicht mehr in Deutschland und bin eben erst angekommen. Aber, wenn. ich störe...“ „Bitte nehmen Sie doch Platz“, die Jüngere, eine hübsche Frau, sah ihn freundlich an. „Sie kommen sicher aus Afrika. Sie tragen doch eine Tropenuniform, nicht wahr?“ „Ja“, antwortete Jeremin und setzte sich. „Heute morgen bin ich in Rom abgeflogen.“ „Wie interessant. Rom, die ewige Stadt“, seufzte die Ältere gefühlvoll. „Was die jungen Leute alles zu sehen bekommen heutzutage. Haben Sie auch den Petersdom besichtigt?“ Jeremin sah die Frau mißtrauisch an: „Ich habe nur den Flugplatz und ein paar Kneipen in Ostia besichtigt. Es war nämlich keine Vergnügungsreise, müssen Sie wissen.“ „Erzählen Sie uns aus Afrika“, lächelte die Hübsche. „Was soll ich Ihnen erzählen“, knurrte er verdrießlich. „Es ist sehr heiß. An der Front gibt es wenig Wasser. Es wird geschossen, und man kann von Sandvipern, Flöhen und Skorpionen gebissen werden.“ „Flöhe“, rief die Ältere, „wie entsetzlich!“ Dumme Kuh, dachte Jeremin. „Sie haben sicherlich allerhand erlebt“, meinte sie dann bedeutungsvoll. „Was sind Sie denn von Beruf, junger Mann?“ „Medizinstudent, aber es wird noch eine Weile dauern, bis wir wieder auf die Universität gehen können.“
„Lächerlich“, die Ältere schnippte mit den Fingern, „ihr Jungens werdet mit den Russen genau so schnell fertig wie mit den Engländern.“ „Fertig?“ wiederholte Jeremin. „Wir sind mit den Engländern noch lange nicht fertig. Vor Tobruk sind in einer Nacht dreitausend von uns gefallen.“ „In einer Nacht, was Sie nicht sagen“, staunte die Ältere und ließ einen Löffel Apfeltorte in ihrem Mund verschwinden. Nicht einmal dreitausend Tote verschlagen diesem aufgetakelten Zirkuspferd den Appetit, dachte Jeremin gereizt. „Was darf ich Ihnen bringen?“ fragte die Kellnerin. „Bringen Sie mir was zu trinken, vielleicht einen doppelten Kognak.“ „Kognak am frühen Mittag, glauben Sie, daß das gesund ist?“ erkundigte sich die Ältere entsetzt. „Glauben Sie, daß ein Infanteriegeschoß in der Lunge gesund ist?“ Jeremin wurde wütend. „Mir haben sie in Orléans um sechs Uhr morgens eins verpaßt. Noch vor dem Frühstück. Stellen Sie sich das vor!“ Die Ältere schwieg beleidigt und sah zum Fenster hinaus. „Wo wohnen Sie denn in München?“ fragte die Hübsche. Jeremin zuckte die Achseln. „Ich kann sofort ins Tropenlazarett gehen, aber ich habe noch keine Lust. Nach meinem Marschbefehl habe ich bis morgen Zeit.“ „Können Sie ihn nicht aufnehmen?“ schlug die junge Frau vor. „Ich habe nämlich eine Pension“, sagte die Ältere unfreundlich, „für eine Nacht wird es gehen.“ Jeremin schrieb sich die Adresse auf. Die Frauen verabschiedeten sich und gingen. Jeremin sah ihnen nach und bestellte erneut einen Doppelstöckigen. Am Nachmittag fuhr er in die Pension, ließ sich von dem Dienstmädchen sein Zimmer zeigen, warf den Wäschebeutel auf einen Stuhl und setzte sich auf das Bett. Neben dem Bett stand ein Telefon. Ich könnte Vater anrufen, dachte er. Vielleicht könnte ich auch mit Renate und Mutter sprechen. Vater würde veranlassen, daß ich sofort zu ihm ins Lazarett verlegt werde. Ich könnte morgen abend zu Hause sein. Aber er nahm den Hörer nicht ab. Er fürchtete sich vor der Welle warmer Liebe und Fürsorge, die sich über ihn ergießen würde.
Er fürchtete sich vor den Küssen der Mutter, vor Renates Umarmung und der liebevoll polternden Stimme des Vaters. Er fühlte, daß er diese Menschen, die ihn liebten, enttäuschen würde. Er war innerlich immer noch erstarrt. Seine Seele war wie gelähmt, er konnte sich nicht freuen, und er konnte nicht traurig sein. Unruhig ging er im Zimmer auf und ab. Dann klingelte er dem Mädchen. „Bringen Sie mir eine Flasche Kognak.“ „Eine ganze Flasche?“ fragte sie erstaunt. „Ich glaube, wir haben gar keinen Kognak im Hause. Wir sind kein Restaurant, müssen Sie wissen.“ Jeremin griff in die Tasche und holte das Banknotenbündel heraus. Das Mädchen starrte auf den dicken Packen Scheine. Er gab ihr fünfzig Mark. „Besorgen Sie mir eine Flasche. Der Rest ist für Sie.“ „Sofort“, das Mädchen knickste und verschwand. Nach zehn Minuten erschien sie mit einer Flasche Kognak und einem kleinen Schnapsglas. Jeremin schloß hinter ihr die Tür, schob das Glas beiseite, öffnete die Flasche und füllte den Zahnputzbecher. Er rauchte, trank, sah auf die herbstliche Straße hinaus und dachte an Rotenburg. „Fritz“, murmelte er, „wenn du hier bei mir säßest, wenn wir zusammen trinken und sprechen könnten. Dann wäre alles anders.“ Jeremin war nicht in der Stimmung, ein Lokal zu besuchen. Er wollte niemand sehen. Trotzdem empfand er seine Einsamkeit unangenehm. Irgendeine unbestimmte Sehnsucht machte ihn unruhig. Als er von der Toilette zurückkam, öffnete sich eine Tür auf dem Gang, und die hübsche junge Frau trat heraus. „Hallo“, sagte sie, „haben Sie doch zu uns gefunden?“ „Natürlich“, er blieb stehen. „Haben Sie Lust, ein Glas mit mir zu trinken?“ „Warum nicht. Wohin wollen wir gehen?“ „Ich habe eine Flasche in meinem Zimmer“, sagte er. Es kam ihm nicht in den Sinn, daß es unschicklich war, eine fremde Frau in sein Zimmer zum Schnaps einzuladen. Sie lächelte, zuckte die Achseln und nickte zustimmend.
In seinem Zimmer rückte er ihr den einzigen Sessel zurecht, schob ihr das Glas hin, das ihm vorher gebracht wurde, zog sich einen Stuhl heran, füllte die Gläser und stellte die Flasche auf den Boden. „Trinken Sie immer aus Zahnputzbechern?“ erkundigte sich die Frau. „Es ist praktischer. Zum Wohl.“ „Es ist schwer. Ihr Alter zu schätzen“, begann sie wieder. „Sie könnten dreißig sein.“ „Ich bin dreiundzwanzig“, sagte Jeremin verlegen. Die Frau lachte: „Dann bin ich ja fünf Jahre älter. Übrigens“, sie wurde wieder ernst. „Sie sollten nicht so viel trinken.“ „Ich will aber trinken“, sagte er. „Sie brauchen keine Angst zu haben. Ich vertrage ziemlich viel. Dieser Kognak ist nichts gegen Toddy.“ „Was ist Toddy?“ fragte sie neugierig. Er erklärte es ihr. „Trotzdem“, meinte sie. „Sie machen sich kaputt mit den vielen Trinken. Denken Sie nicht soviel zurück. Bald werden Sie Ihre Eltern wiedersehen; sicher haben Sie auch eine Braut. Haben Sie schon zu Hause angerufen?“ „Nein!“ „Aber warum denn nicht? Ihre Eltern machen sich sicher Sorgen um Sie!“ „Ich weiß nicht. Vielleicht muß ich mich erst an den Gedanken gewöhnen, wieder in Deutschland zu sein“, er steckte sich nervös eine neue Zigarette an. „Ich bin noch gar nicht richtig hier. Es ging alles so schnell. Ich kann mich auch nicht freuen, hier zu sein. Wenn ich nach Hause komme, werden sie alle vor Liebe über mich herfallen. Sie werden erwarten, daß ich genauso glücklich bin wie sie. Sie werden mich fragen, sie werden mich auffordern, zu erzählen. Aber ich will nichts erzählen. Ich will, daß man mich in Ruhe läßt. Ich will keine Verwandten und Bekannten sehen, die mich mit blödsinnigen Fragen quälen, die mir auf die Schulter klopfen und sagen: ‚Na, Jungens, ihr werdet es schon schaffen.’“ Sie schwiegen. Jeremin griff zur Flasche und goß ein, „Wahrscheinlich sind Sie über Nacht erwachsen geworden“, sagte die junge Frau nachdenklich, „und nun haben Sie Angst.“ „Vielleicht habe ich Angst“, nickte Jeremin. „Wenn man erwachsen ist, kann man nicht mehr soviel fragen. Und meist wissen es die anderen
auch nicht besser. Als Kind verließ man sich auf die Erwachsenen. Man war überzeugt, daß sie auf alles eine Antwort wüßten.“ „Und Ihr Vater?“ fragte die junge Frau. „Mit ihm können Sie doch bestimmt über alles sprechen.“ Jeremin hob die Schultern. „Das ist es ja gerade, wovor ich Angst habe. Wenn auch er mich plötzlich nicht mehr verstehen würde, wenn auch er plötzlich keine Antwort auf meine Fragen wüßte - das wäre eine entsetzliche Enttäuschung.“ „Patentlösungen wird er nicht haben. Sie können sich nur austauschen mit ihm. Denn wer soll die Fragen Ihres Vaters beantworten?“ Die Frau sah ihn ruhig an. „Wir sind eben keine Kinder mehr. Sie nicht. Ihr Vater nicht und ich auch nicht. Wir sind erwachsen. Wir können miteinander sprechen, aber wir können von unseren Partnern keine Wunder verlangen. Als mein Mann vor einem Jahr fiel, stand ich vor einem luftleeren Raum. Die Kraft zu überwinden kann nur aus uns selbst kommen. Sie dürfen nicht die Kraft für Ihr Leben bei anderen suchen. Sie müssen sie in sich selbst finden. Kognak zum Beispiel“, sie lächelte, „bedeutet keine Lösung aller Fragen.“ „Sicher haben Sie recht“, meinte Jeremin müde. „Es ist feige, zu trinken, um zu vergessen. Außerdem hilft es nichts. Man kann ja nicht immer betrunken sein.“ „Was wollen Sie eigentlich vergessen?“ fragte die Frau. Er schwieg. Es war dämmrig in dem kleinen Pensionszimmer. Der Herbstwind rauschte in den Kronen der Kastanien vor dem Fenster. Und in dieser Stimmung begann Jeremin zu erzählen. Von dem Neger, den er am Wassertrog erschoß, von Renate, von dem Angriff auf Tobruk, von der Sekunde, in der er die Maschinenpistole auf Rotenburg richtete, und von dem Wahnwitz dieses Krieges, den er verabscheute. „Denken viele Soldaten so wie Sie?“ fragte die junge Frau leise. „Leider noch zu wenige“, antwortete Jeremin, „sonst gäbe es keinen Krieg. Wenn man mit einzelnen darüber spricht, werden sie es vielleicht verstehen. Vielleicht, ich habe auch lange dazu gebraucht. Aber die durch Gewalt und falsche Ideale zusammengehaltene große Masse ist im Augenblick noch unerreichbar für solche Argumente.“ „Und was werden Sie tun?“ Die Frau sah ihn an.
„Ich glaube, daß man im Kampf gegen das Unrecht auch mit beharrlicher Resistenz etwas erreichen kann. Danach werde ich handeln.“ „Sie sind sehr unvorsichtig“, sagte die Frau leise, „Sie kennen mich nicht. Trotzdem machen Sie mich zum Mitwisser Ihrer geheimsten Gedanken und Absichten. Es sind staatsfeindliche Gedanken, und es ist hier in Deutschland vielleicht gefährlicher, derartiges zu äußern, als an der Front. Hier dürfen Sie keine selbstverständliche Kameradschaft voraussetzen.“ Er sah sie überrascht an. „Ich hatte Vertrauen zu Ihnen.“ „Und wenn Sie sich getäuscht hätten?“ Sein abgemagertes Gesicht nahm einen harten und zynischen Ausdruck an. „Ich galt wochenlang im Lazarett für verrückt. Warum soll ich plötzlich normal geworden sein? Außerdem gibt es keine Zeugen. Tun Sie, was Sie nicht lassen können.“ Die Frau beugte sich ein wenig vor und strich über seine Hand. „Sie dürfen Vertrauen zu mir haben. Ich sagte das eben nur, um Sie zu warnen. Sie haben mir Dinge gesagt, die Sie den Kopf kosten könnten. Solche Offenheit dürfen Sie sich nie gestatten. Aber jetzt muß ich gehen. Leben Sie wohl.“ Die Tür fiel ins Schloß. Jeremin war allein. Er trat zum offenen Fenster. Tief atmete er die kühle feuchte Herbstluft ein. Das Gespräch hatte ihm gut getan. Es war ihm vieles klar geworden. Ich brauche nur die Front zu wechseln, dachte er. Das Risiko ist das gleiche. Ich brauche nicht einmal überzulaufen. Ich brauche mich nur dazu entschließen, eine unsichtbare Demarkationslinie zu überschreiten und so zu handeln, wie ich es vor meinem Gewissen und nicht vor meinen Vorgesetzten verantworten kann. So leicht erschien ihm auf einmal alles. Er ahnte nicht im entferntesten, was er sich damit vorgenommen hatte. Langsam ging er auf den Nachttisch zu, hob den Telefonhörer ab und wählte die Nummer des Fernamtes, um seinen Vater anzurufen.
VIII Der Oberstabsarzt fuhr am nächsten Morgen nach München. Gegen Abend kam er an, sprach mit seinem Kollegen im Tropenlazarett und erwirkte eine Verlegung Jeremins. „Wo ist mein Sohn?“ fragte er, als die Papiere ausgefertigt waren. „Ich möchte ihn gleich mitnehmen.“ „Als Sie ankamen, haben wir ihn sofort suchen lassen“, antwortete der Chefarzt, „aber wir konnten ihn nicht finden. Ich werde den Schreiber in die Kantine schicken, Vielleicht ist er dort.“ Als der Schreibstubengefreite den Hof überquerte, sah er, wie der Feldwebel in der ausgebleichten Tropenuniform gerade die Wache passierte. „Sie möchten zum Herrn Oberfeldarzt kommen“, keuchte er. „Der Herr Oberfeldarzt hat Sie suchen lassen. Ihr Vater ist da.“ Jeremin lachte: „Er ist schon da? Prima! Ich mußte nur jemand ein paar Blumen schicken. Wo ist denn mein alter Herr?“ Er folgte dem Gefreiten. „Geh nur rein“, knurrte der Spieß, als Jeremin die Schreibstube betrat. „Wirst schon erwartet.“ Jeremin klopfte und meldete sich beim Oberfeldarzt. „Ihr Vater will Sie mitnehmen. Alles Gute, Feldwebel.“ „Alex“, der Oberstabsarzt ging mit ausgebreiteten Armen auf Jeremin zu. „Wir freuen uns so, daß du zurück bist. Laß dich anschauen. Du bist ein Mann geworden, mein Junge.“ „Ja, Vater“, Jeremin lächelte, „Afrika war kein Kinderspielplatz.“ Als sie im Wagen saßen, fragte er sofort nach Renate. „Alles in Ordnung“, antwortete der Vater, „aber ich muß dir etwas sagen, bevor wir zu Hause sind. Herxheimer hat sich erschossen, als man ihn verhaften wollte. Angeblich hat er vorher noch einen Gestapobeamten getötet. Irgend etwas Furchtbares muß mit ihm geschehen sein.“ Jeremin war entsetzt. „Woher weißt du das?“ Der Oberstabsarzt erzählte von seiner Begegnung mit dem geheimnisvollen Unbekannten.
„Der Mann hat dir einen Ausweis für Renate gegeben?“ wiederholte Jeremin ungläubig. „Er behauptete, mit Doktor Herxheimer befreundet zu sein? Mit dem gleichen Doktor Herxheimer, der einen Gestapobeamten erschoß und sich dann selbst umbrachte? Vater, glaubst du, daß es in Deutschland eine Widerstandsbewegung gibt?“ Der Oberstabsarzt nickte. „Das ist doch schon ein Beweis dafür. Es gibt auch verschiedene Geheimsender. Zum Beispiel ‚Gustav Siegfried eins’. Er soll von einem Oberst betrieben werden, der seinerzeit desertierte. Auch im Soldatensender Calais wird eine deutsche Untergrundbewegung erwähnt. Dieser Soldatensender ist eine englische Propagandastation, die erstaunlich gut informiert zu sein scheint.“ „Es gibt eine Widerstandsbewegung“, murmelte Jeremin. „Es gibt Geheimsender. Es geschieht wirklich etwas.“ „Aber die Leute haben doch keine Chance“, sagte der Vater. „Keine Chance?“ Jeremin sah ihn erstaunt an. „Immerhin hat Renate durch sie einen Ausweis bekommen. Vielleicht gibt es schon Tausende solcher Ausweise, die Tausenden von Menschen das Leben retten. Das ist mehr, als die ganze Wehrmacht leistet, die Millionen tötet.“ „Der Ausweis ist einwandfrei“, sagte der Oberstabsarzt rasch. „Ich habe neulich die Frau des Polizeipräsidenten operiert. Ziemlich kitzlige Sache. Einige Wochen später war er abends bei uns. Ich zeigte ihm den Ausweis und sagte ihm, daß es sich um meine Nichte handle. Ich bat um Auskunft, ob Renate irgendwelche Eintragungen benötige, wenn sie bei mir bliebe. Er sah sich das Papier genau an und meinte, eine Eintragung sei nicht notwendig. Daraufhin haben wir sogar Lebensmittelkarten für Renate beantragt und auch bekommen.“ „Dann kann ich Renate heiraten?“ fragte Jeremin. „Du kannst sie heiraten. Formal wirst du noch ein paar Wochen in meinem Lazarett liegen. Renate gehört ebenfalls zum Lazarettpersonal. Also muß ich die Heiratsgenehmigung erteilen. Es wird kaum Schwierigkeiten geben.“ „Dann bekommt sie ja wieder neue Papiere, und diese neuen Papiere sind dann ganz echt“, Jeremin fühlte sein Herz schlagen. Er empfand ein tiefes Dankbarkeitsgefühl gegenüber dem Unbekannten. „Renate weiß natürlich nichts von dem tragischen Tod ihres Vaters. Sie kennt nur die Version des Herzschlags“, sagte der Oberstabsarzt.
„Natürlich.“ Jeremin starrte durch die Scheibe auf die vorbeihuschende Bäume. Seine Freude war verflogen. Schaudernd fühlte er, mit welcher Brutalität sich das faschistische Regime über Menschen wie Doktor Herxheimer hinwegsetzte. Er hatte Angst, wie es weitergehen sollte. * In den nächsten Tagen jedoch überflutete Jeremin die Welle der ihm dargebrachten Liebe. Seine innere Starre und Ratlosigkeit wich einer wunschlosen Gelöstheit. Wenn er erwachte, lag Renate neben ihm. Wenn er sich zum Essen niedersetzte, verwöhnte ihn die Mutter. Wenn der Vater zu ihm sprach, so sprach er nicht mehr zu dem Kind, sondern zu einem gleichgeachteten Mann. Bereits am zweiten Tage nach seiner Ankunft reichte Jeremin die Heiratserlaubnis ein. Es bedurfte einiger persönlicher Rücksprachen des Oberstabsarztes, um die fehlenden Urkunden Renates beim Standesamt durch eidesstattliche Erklärungen zu ersetzen. Unter dem Zeitdruck - Jeremin hatte sich zu einem bestimmten Termin auf der Kriegsschule zu melden - ließ sich der Standesbeamte herbei, den Tag der Eheschließung vorzeitig festzusetzen. An einem regnerischen Freitag fuhren sie zum Rathaus. Jeremin trug seine verblichene Tropenuniform. Renate saß blaß und sehr aufrecht neben ihm. Hinter dem Paar standen die Trauzeugen - Angestellte des Rathauses, die man rasch herübergebeten hatte. Es war dem Oberstabsarzt nicht ratsam erschienen, aus dieser Hochzeit eine große Familienfeier zu machen. Der Beamte trug einen Bürstenhaarschnitt. Von dem Revers seines Gehrocks glänzte das goldene Parteiabzeichen. Er sprach von den Pflichten des jungen Paares gegenüber Führer und Reich. Wenn er doch nur aufhören würde, dachte Jeremin. Renate starrte mit zusammengepreßten Lippen auf den großen Hoheitsadler an der Wand. Wenn es nach dem Willen dieses Mannes ginge, so dachte sie, dann hätte ich jetzt glücklich zu sein in dem Gedanken, eine nationalistische
Gebärmaschine zu werden und darauf zu warten, daß Hitler eines Tages meine Kinder in seinem Namen verbluten läßt. Als ihr der Beamte mit dem Bürstenhaarschnitt anschließend das Buch „Mein Kampf“ überreichte und die Hand gab, hatte sie das Gefühl, sich zu beschmutzen. * Die Eltern waren zu Bett gegangen. Renate lag auf der Couch, und Jeremin saß neben ihr und streichelte ihr Haar. In den Gläsern perlte der Rest des Champagners. „Es war alles so ganz anders, als ich es mir vorgestellt hatte“, sagte das Mädchen leise. „Unsere Hochzeit war damals, als du mich im Lazarett besuchtest und wir in dem altmodischen Hotel wohnten“, lächelte Jeremin. „Das heute war nur eine Formalität. Jetzt bist du auch für die Nazis meine Frau.“ „Und alles verdanken wir dem Mann, der deinem Vater den Ausweis gab“, sagte Renate. „Es war wie ein Märchen.“ „Ein sehr realistisches Märchen“, Jeremin wurde ernst. „Ich habe nie geahnt, daß es hier in Deutschland eine zweite Front gibt. Diese Männer, die illegal im Dunkel gegen das Verbrechen kämpfen, sind die wirklichen Helden dieses Krieges. Wenn die Armeen zerschlagen sein werden, werden vielleicht diese Männer das neue Gesicht Deutschlands bestimmen. Sie werden dafür sorgen, daß es anders wird, daß Menschlichkeit das erste Gesetz des Handelns wird. Wenn ich doch nur die Möglichkeit hätte, diesen Männern zu helfen. Aber wie soll man an sie herankommen?“ Sie schwiegen. „Wenn du Offizier wirst“, fragte Renate nach einer Weile, „ist es dann für dich nicht noch viel gefährlicher draußen?“ „Draußen ist es immer gefährlich, aber lange nicht so gefährlich wie hier für die Männer, die den Kampf gegen Hitler aufgenommen haben.“ „Alex“, sie schmiegte sich an ihn, „warum können wir nicht friedlich zusammenleben? Du gehst morgens zur Arbeit, und ich freue mich auf den Abend und weiß, daß du kommen wirst. Wir hätten ein kleines Haus und vielleicht Kinder, wir würden kleine Reisen machen und hätten nie mehr Angst. Nie mehr Angst haben, das wünsche ich mir so sehr. Ob es das noch einmal für uns beide geben wird?“
„Bestimmt“, er küßte sie zärtlich. „Dann werden wir um so glücklicher sein. Aber wir wollen diese entsetzliche Zeit nie vergessen. Wir werden dafür sorgen, daß unsere Kinder glücklicher und unbelasteter aufwachsen als wir.“
IX Monate waren vergangen. Jeremin hatte die Kriegsschule mit Erfolg absolviert und war nach einem kurzen Urlaub als Leutnant an die Nordfront in Karelien geschickt worden. Der neue Bataillonskommandeur empfing ihn mit offenen Armen und einem Wasserglas voll Wodka. „Endlich bekommen wir einmal Männer und keine Säuglinge“, sagte er mit einem Blick auf Jeremins Orden. „Sie können sich gar nicht vorstellen, was hier los ist. Der Ersatz aus Deutschland wird immer mieser. Kein Wunder. Irgendwann sterben ja die deutschen Männer einmal aus. Die Verluste im Mittelabschnitt sind enorm. Die Russen sind keine Franzosen. Na, Sie werden schon noch merken, wie das hier bei uns ist. Ihre Kompanie liegt in einer Ruhestellung. Sie haben Gelegenheit, Ihre Leute kennenzulernen.“ Ein Soldat brachte Jeremin zu der neuen Einheit. Der Schnee lag meterhoch. Mühsam stapften die beiden Männer über einen Trampelpfad. Es war sehr kalt. Jeremin merkte, wie seine Wangen gefühllos wurden. „Wie ist das so bei euch hier oben?“ fragte er den Soldaten. „Großer Mist, Herr Leutnant. Viele von uns hatten schon seit Norwegen keinen Urlaub mehr. Vor achtzehn Monaten war ich zum letztenmal zu Hause. Meine Frau hat vor acht Wochen ein Sechzehnmonatskind bekommen. Komisch, was? Wenn das so weitergeht, werde ich mir eine Erfrierung dritten Grades zulegen.“ „Was werden Sie?“ erkundigte sich Jeremin verblüfft. „Ich werde irgend etwas solange in den Schnee halten, bis es reicht“, knurrte der Mann. Jeremin lächelte: „Sind Sie nicht ein bißchen unvorsichtig, wenn Sie mir so etwas erzählen? Ich könnte Sie vor ein Kriegsgericht bringen.“ „Herr Leutnant, ich bin seit 1937 beim Barras. Sie sehen nicht aus wie ein Spinner. Und wenn man mich einsperrt - auch gut. Dann muß man mich nach hinten bringen. Es wäre eine Abwechslung. Wenn ich nicht bald etwas anderes sehe als den Schnee vor meinem Karabinerlauf, dann werde ich sowieso verrückt.“
„Und der Iwan?“ fragte Jeremin. „Wie sind denn die Brüder so?“ „Der Iwan?“ wiederholte der Obergefreite, „das ist ein Kapitel für sich. Der läßt sich nicht in die Flucht schlagen wie die Franzosen. Die Russen sind stur, und sie haben keine Angst. Im Frühjahr werden wir was erleben hier oben. Haben Sie schon eine sibirische Schützenbrigade im Angriff gesehen?“ „Nein“, sagte Jeremin, „wie ist das?“ „Wie das ist? Die Kerle stehen aus ihren Löchern auf und kommen. Der Russe bleibt nicht stehen. Er bleibt nur liegen, und dann muß er tot sein. Die Burschen haben unsere Stellungen am Ladogasee gestürmt, als ob wir mit Knallerbsen schmissen. Wir mußten flitzen. Und kaum hatten wir uns wieder neue Bunker gebaut, da kam die Stalinorgel. Herr Leutnant, wenn Sie mal eine Stalinorgel erlebt haben, dann sehnen Sie sich nach einem normalen Artillerietrommelfeuer. Hier werden wir keine Blumentöppe gewinnen. Die meisten Kompanien sind nur noch achtzig bis hundert Mann stark.“ Vor ihnen tauchten kleine Schneehügel auf. Aus den Hügeln ragten Ofenrohre. Der Qualm stieg senkrecht in die eisige Luft. Es roch nach Birkenholzfeuer. Am Waldrand zersägten einige Soldaten dicke Stämme. „Hier ist die Schreibstube“, sagte der Obergefreite und blieb vor einem Schneehügel stehen. „Kann ich jetzt abhauen?“ Jeremin nickte und kletterte die vereisten Stufen hinab, stieß eine aus Kistenbrettern zusammengeschlagene Tür auf und stand in einem warmen Erdbunker. Der Hauptfeldwebel setzte sein Kochgeschirr ab, aus dem er eine Brühe gelöffelt hatte, und stand auf. „Ich bin Ihr neuer Kompaniechef“, Jeremin gab ihm die Hand. „Lassen Sie sich nicht stören, sonst wird Ihre Suppe kalt.“ „Hauptfeldwebel Moritz“, sagte der Mann, schob eine Kiste heran, setzte sich und löffelte weiter. Jeremin legte seine Zigarettenpackung auf den Tisch. „Erzählen Sie mir von der Kompanie.“ „Wir liegen in Ruhestellung“, Moritz gab ihm Feuer. „Die Kompaniestärke beträgt einen Offizier, sechzehn Unteroffiziere und zweiundneunzig Mann. Sechzehn befinden sich im Lazarett.“ „Viel Verluste gehabt?“ erkundigte sich Jeremin.
„Es geht. Im letzten Monat zwanzig Tote, fünfzehn Verwundete und acht schwere Erfrierungen. Die Jungens vom Ersatz halten das Klima nicht aus, und wenn der Iwan angreift, kriegen sie einen Nervenschock. Alte Landser sind Mangelware geworden. Entweder sind sie tot, oder sie halten irgendwo hinten die Stellung. Darf ich jetzt Herrn Leutnant die Unterkunft zeigen?“ Sie kletterten aus dem dämmrigen, überheizten Bunker wieder in die klirrende Kälte hinaus und gingen zu einem anderen Schneehügel. „Hier hinein“, sagte Moritz. „Ich lasse in einer halben Stunde die Kompanie antreten. Haben Herr Leutnant irgendeinen Wunsch? Soll ich Kaffee schicken?“ „Später“, Jeremin stolperte die wenigen Stufen hinab. Der kleine Raum war sauber mit Rundhölzern ausgelegt. Durch ein winziges Fensterloch sickerte schwaches Licht. Auf dem Tisch aus Tannenästen brannte eine dicke Kerze. Ein dürrer junger Mann im Rollpullover erhob sich von einem Deckenlager. „Leutnant Prinz“, sagte er. „Herzlich willkommen im verdammten Karelien. Ich vermute. Sie sind mein neuer Chef?“ „Richtig“, lachte Jeremin und legte sein Gepäck auf die Erde. „Hier ist Ihre Ecke“, Prinz deutete auf einige zusammengefaltete Decken. „Nun wollen wir zur Begrüßung erst mal einen heben.“ „Prost“, Jeremin griff nach dem Becher. „Das ist ja französischer Kognak. Wo haben Sie denn den her?“ „Marketenderware. Von dem Zeug gibt's genug hier. Auch Sekt. Mit dem Essen ist es schlechter. Na, Sie werden es schon merken. Wo waren Sie zuletzt?“ „In Afrika“, Jeremin packte seine Sachen aus. „Da war es mit dem Trinken schlecht. Sind Sie schon immer hier oben?“ „Ich bin auch erst vor drei Wochen gekommen. Eigentlich -“ Prinz zögerte, er schien sich zu schämen, „war ich überhaupt noch nicht an der Front.“ „Seien Sie froh“, Jeremin streifte ihn mit einem Blick, „wie alt sind Sie denn?“ „Neunzehn!“ Jeremin schüttelte den Kopf, „hatten Sie es denn so eilig?“ „Was heißt eilig. Notabitur, Ausbildung, Kriegsschule, und jetzt bin ich hier. Die anderen hatten es eilig. Es gibt nicht mehr genug Offiziere.
Aber ich glaube, wir müssen jetzt nach der Kompanie sehen. Moritz läßt antreten. Sie wollen doch sicher eine Begrüßungsrede schwingen.“ Die beiden Offiziere schnallten um und verließen den Bunker. Die Kompanie war angetreten. Moritz meldete Leutnant Prinz, und Leutnant Prinz meldete Jeremin. „Danke“, sagte er und ließ rühren. Er sah die Soldaten an, müde, hohläugige Männer in zerdrückten, schmutzigen Uniformen. Sie sahen aus wie ein Haufen Schwerkranker. Abschätzend beobachteten die Männer den neuen Offizier. Zwischen den verwitterten Gesichtern alter Landser schimmerte die blasse Haut junger Rekruten aus den Ersatzbataillonen. Ihre Augen starrten ängstlich. Was soll ich ihnen sagen, dachte Jeremin. Soll ich ihnen vielleicht die verlogenen Sprüche vom nahen Endsieg vorbeten mit anschließendem Sieg-Heil auf Führer, Volk und Vaterland? Hauptfeldwebel Moritz räusperte sich abwartend. Die Soldaten standen wie eine schweigende Mauer. Von einer nahen Tanne hob sich eine Krähe und strich quarrend über die verschneiten Wipfel. „Kameraden“, rief Jeremin. „Ich heiße Jeremin und bin euer neuer Kompanieführer. Ich hoffe genau wie ihr, daß möglichst viele von uns wieder in die Heimat zurückkommen, und was ich dazu tun kann, werde ich tun. Weitermachen.“ Hauptfeldwebel Moritz sah den Führer des ersten Zuges verblüfft an: „Hast du schon mal so was gehört?“ flüsterte er, „der kommt wohl von der Heilsarmee?“ Der Zugführer zuckte die Achseln: „Besser als ein Spinner. Was haben wir von einem, der auf unseren Knochen ein Ritterkreuz verdienen will?“ Moritz trat vor die Front. Ein Gefreiter schleppte einen Sack herbei, und der Spieß begann mit der Postverteilung. „Wollen wir einen Spaziergang machen?“ schlug Jeremin vor. „Gern!“ Prinz folgte ihm. Sie gingen den Trampelpfad hinab und verschwanden aus den Augen der Kompanie. * „Der Fraß ist wirklich zum Kotzen“, brummte Leutnant Prinz einige Tage später und kaute auf seiner Gummiwurst herum. „Eins verstehe ich
übrigens nicht. Wenn man abends durch das Kompanierevier geht, riecht es immer nach Schweinefleisch. Schweinefleisch habe ich aber noch nie in meinem Kochgeschirrdeckel gesehen.“ „Es riecht nach Schweinefleisch“, staunte Jeremin, „Sie meinen nach gebratenem Schweinefleisch?“ „Genau!“ „Interessant.“ Jeremin strich über sein stoppeliges Kinn. „Dann werden wir beide heute abend mal einen Spähtrupp starten.“ Sie spielten eine Partie Schach. Prinz sah auf seine Uhr. „Es ist fast Mitternacht. Um die Zeit kann man es meistens riechen.“ Jeremin griff nach seinem Mantel. Sie stiegen die Stufen des Bunkers hinauf. Über ihnen wölbte sich ein glitzernder Sternenhimmel. Der Mond übergoß die erstarrte Schneelandschaft mit eisgrünem Licht. Vom Waldrand hallte das Knirschen der Postenschritte. Aus den Ofenrohren der Bunker wehte weißlicher Qualm. Funken stoben über den Schnee. Die beiden Offiziere stapften erwartungsvoll durch das Kompanierevier. „Hier, riechen Sie selbst!“ Prinz blieb stehen und schnupperte. Jeremin nickte. Ganz deutlich kitzelte der unverkennbare Duft gebratenen Schweinefleisches seine Nase“ Sie gingen auf einen großen Erdbunker zu. Der Geruch wurde stärker. „Wohnt hier nicht unser Putzer, der Obergefreite Bart?“ fragte Jeremin leise. Prinz nickte. Jeremin rutschte die Stufen zum Eingang hinab und stieß die Tür auf. Hinter ihm drängte sich Prinz in den überheizten Raum. Ein Unteroffizier schrie „Achtung!“, und die Soldaten rappelten sich von ihren Kisten und Reisiglagern auf. In einer Ecke stand ein großes Benzinfaß, das als Ofen diente. Auf dem Ofen brutzelten in einer riesigen Pfanne große Fleischfetzen. „Weitermachen“, sagte Jeremin und setzte sich an den Tisch. Vor dem Benzinfaßofen stand der Putzer Bart und versuchte mit seinem breiten Rücken die Pfanne zu verdecken. Leutnant Prinz lehnte mit verschränkten Armen an einem Bunkerpfosten und sah hungrig in Richtung der Pfanne. Jeremin steckte sich eine Zigarette an und sagte: „Bart, drehen Sie den Braten um, sonst brennt er an. Wer ist hier der Bunkerälteste?“
„Hier“, ein Unteroffizier trat an den Tisch heran. Sein Gesicht war verschlossen. „Was gab es heute als Abendverpflegung?“ erkundigte sich Jeremin. „Blutwurst, Brot, Butter und je drei Mann eine Tafel Schokolade.“ „Und gestern?“ „Eine Dose Fisch, Brot, Butter und Graupensuppe.“ „Und vorgestern?“ „Käse, Kakao, Butter, Brot.“ „Und wann gab es Schweinefleisch?“ Der Unteroffizier schwieg. „In zehn Minuten melden Sie sich mit dem Obergefreiten Bart in meinem Bunker“, befahl Jeremin, stand auf und verließ mit Prinz den Raum. Auch aus den anderen Bunkern roch es nach gebratenem Schweinefleisch. „Wo die Kerle das Zeug nur geklaut haben“, murmelte Jeremin nachdenklich. „Hier gibt es doch in tausend Kilometern Umkreis keine Schweine. Höchstens Rentiere und Elche. Eiserne Rationen waren es auch nicht, dazu waren die Stücke zu groß.“ Prinz stolperte neben ihm durch den hohen Schnee. „Die machen mich noch verrückt mit ihrem gebratenen Fleisch“, stöhnte er, „ich könnte fünf Pfund auf einmal fressen.“ „Wären Sie Landser, dann hätten Sie auch Fleisch“, spottete Jeremin. „Das sind so die Nachteile, wenn man Offizier ist.“ Sie gingen wieder in ihren Bunker. „Was wollen Sie machen?“ erkundigte sich Prinz. „Das werden Sie schon sehen“, sagte Jeremin lächelnd. Der Unteroffizier und Bart erschienen. „Na“, begann Jeremin, „erzählt mal. Ihr wißt doch, was ich hören will.“ „Jawohl, Herr Leutnant“, brummte der Unteroffizier und schwieg. Jeremin wartete. Aber die beiden Männer starrten Löcher in die Wand. „Hat die ganze Kompanie Schweinefleisch?“ fragte Jeremin. „Jawohl, Herr Leutnant.“ „Der Spieß auch?“ „Jawohl, Herr Leutnant.“
„Schön“, sagte Jeremin, „dann ist der Spieß ja auch der richtige Mann, um mir zu erzählen, was los ist. Schickt ihn her.“ Der Unteroffizier und Bart drückten sich erleichtert aus dem Bunker. „Verstehen Sie das?“ fragte Prinz. „Ziemlich. Das ist eine organisierte Klauerei. Was würden Sie an meiner Stelle tun?“ „Ich weiß nicht“, Prinz zuckte die schmalen Schultern. „Vielleicht einen Tatbericht-?“ „Einen Tatbericht“, höhnte Jeremin. „Prinz, Sie spinnen. Sie wollen als Kompanieführer gegen Ihre gesamte Kompanie einen Tatbericht einreichen?“ Hauptfeldwebel Moritz stolperte die Stufen herab, klopfte und erschien im Kerzenlicht. „Sie können mich ja ablösen lassen“, sagte er finster. „Was ich kann und was ich nicht kann, weiß ich selbst“, antwortete Jeremin kühl. „Wo ist das Fleisch her?“ „Geklaut!“ „Kann ich mir denken. Und von wem, wenn ich fragen darf?“ „Das war so“, begann der Spieß. „Setzen Sie sich doch“, meinte Jeremin, „Ihre Geschichte dauert sicher länger.“ „Das war so“, wiederholte der Hauptfeldwebel, sah den Offizier mißtrauisch an und setzte sich. „Eigentlich haben wir ja einen Anspruch auf das Fleisch. Aber wenn wir es uns nicht organisiert hätten, dann hätten wir es nie gesehen. Der Sani - wollte sagen der Sanitätsunteroffizier Krause hat beim HV-Platz erfahren, daß Gefrierfleisch für die Division unterwegs sei. Ein Zahlmeister hat ihm dann noch erzählt, daß es nicht für alle Einheiten ausreiche und nur an die Stäbe verteilt würde. Krause hat sich am nächsten Tag ein paar Männer mitgenommen, die als zahnkrank gemeldet waren. Sie gingen aber nicht zur Zahnstation, sondern drückten sich an der Rollbahn herum, bis der Fleisch-Lkw kam. Offenbar muß sich ein großes Loch in der Rollbahn befunden haben. Der Lkw blieb stecken. Der Fahrer bat Krause und die Leute, ihn herauszuschieben. Das haben sie auch getan. Einer kletterte aber auf den Lkw und warf zehn Kisten in den Schnee. Der Fahrer mußte Vollgas geben, um nicht wieder stecken zu bleiben. Gemerkt hat er nichts. Alle Kisten, im ganzen vier Zentner,
wurden beim Furier abgegeben. Das Fleisch wurde unter die Kompanie verteilt.“ „War das Loch schon immer in der Rollbahn?“ erkundigte sich Jeremin. Moritz zuckte die Achseln. „Sie wissen doch selbst, wie schlecht die Straßen sind.“ „Haben Sie jemals eine Anfrage auf dem Dienstweg nach dem verschwundenen Fleisch bekommen?“ „Nein, Herr Leutnant!“ Jeremin sah nachdenklich in die flackernde Flamme der Kerze: „Ich fasse zusammen, Moritz. Sie haben mir soeben erklärt, daß die Einheit überraschend eine Zuteilung an Schweinefleisch erhalten hat. Sie haben sich weiterhin dafür entschuldigt, daß durch ein Versehen der Feldküche die Leutnant Prinz und mir zustehenden Portionen nicht ausgegeben wurden. Sie versicherten, das Versäumte sofort nachzuholen. Habe ich Sie richtig verstanden?“ Moritz glotzte erst verständnislos. Dann aber ging ein breites Grinsen über sein verwittertes Gesicht. „Jawohl, Herr Leutnant. Ich werde den Küchenbullen sofort zur Sau machen.“ „Tun Sie das“, empfahl Jeremin. Der Spieß verließ den Bunker. „Wir sollen von dem geklauten Fleisch essen?“ fragte Leutnant Prinz verwirrt. „In diesem Kriege sind ganze Länder geklaut worden“, brummte Jeremin, „Sie können ja auf Ihre Portion verzichten.“ „Keinesfalls“, versicherte Prinz lachend. Der Obergefreite Bart erschien. Er stellte eine große Pfanne, in der vier mächtige Stücken Fleisch dampften, auf den Tisch und verschwand. „Haben Sie noch Brot?“ fragte Jeremin. „Ja, fast noch einen halben Laib“, Prinz legte das Brot auf den Tisch. „Das ist gut“, Jeremin schnitt eine Scheibe ab, „wegen der Soße.“ *
Die Nacht darauf verbrachte Jeremin in der vordersten Schützenstellung, um sich für den Fall der Ablösung einweisen zu lassen. Er kroch mit dem Kompaniechef der Einheit durch die schmalen Laufgräben. Die Soldaten hockten frierend und dick vermummt wie halbverschneite dunkle Hügel hinter ihren Maschinengewehren und starrten über die verharschte Schneefläche. Die russischen Vorposten waren kaum hundert Meter entfernt. Ab und zu zitterte eine Leuchtkugel in die eisige Nacht. Verirrte Karabinerkugeln zirpten über die weiße Fläche. In der Ferne grollte leichte Artillerie. „So geht das seit Wochen“, flüsterte der Kompaniechef. „Es ist zum Verrücktwerden. Wir hocken in unseren Erdlöchern, lassen uns von den Läusen auffressen und warten. Im Frühjahr, wenn die große Schmelze einsetzt, wird das Wasser dreißig Zentimeter hoch in den Gräben und Bunkern stehen. Voriges Jahr lebten wir wochenlang auf Holzrosten. Unter uns gluckste das Wasser. Es wimmelte von Kreuzottern und Ratten. Und dann kamen die Moskitos. Ein verdammtes Land, kann ich Ihnen sagen.“ „Glauben Sie nicht, daß wir eines Tages angreifen müssen?“ fragte Jeremin. „Natürlich. Entweder greifen wir an oder die Russen. Die Zeit arbeitet für den Iwan. Er kennt das Land und das Klima. Ihm macht es nichts aus. Aber wir werden langsam ausgehöhlt. Kaum eine Einheit ist auch nur noch annähernd kriegsstark. Die Leute sind krank, wurden bei sinnlosen Stoßtruppunternehmen zusammengeschossen, und manche werden sogar verrückt. Die Russen haben einen mächtigen Verbündeten, den General Winter. Aber im Sommer sind die karelischen Sümpfe fast noch schlimmer. Ich sage Ihnen, wir werden hier eingehen.“ „Schon Napoleon siegte sich in diesem ungeheuren Land tot“, meinte Jeremin. „Man hätte aus der Geschichte lernen sollen.“ „Es ist nicht nur das Land“, der Hauptmann sah hinüber zu den russischen Stellungen, „es sind auch die Menschen. Sie sind besessen von einer Idee, und sie sind tapfer bis zur Selbstaufopferung. Ich habe zwei Angriffe am Ladogasee mitgemacht. Wenn man wirklich einmal eine russische Stellung erobert, findet man nur Tote. Selbst Schwerverwundete kämpfen noch, bis ihnen die Waffe aus der Hand fällt. Wir haben diesen Elitetruppen nichts mehr entgegenzusetzen. Unsere besten Leute wurden in den Blitzkriegen verheizt, und die Jungens aus den Ersatzba-
taillonen rennen blind in das feindliche Feuer oder bleiben in ihren Löchern liegen, von Angst und Grauen geschüttelt.“ „Die Russen verteidigen ihr eigenes Land“, sagte Jeremin, „und wir kämpfen Tausende von Kilometern von der Heimat entfernt. Können Sie sich vorstellen, was von uns übrig sein wird, wenn man uns hinter Deutschlands Grenzen zurückdrängt?“ „Ich weiß nicht“, der Hauptmann zuckte müde die Achseln. „Hier draußen verbluten wir langsam, und in der Heimat werden unsere Städte zerbombt. Unsere Frauen und Kinder sind nicht sicherer als wir hier in den Gräben. Dadurch ist doch der Einsatz des Soldaten sinnlos geworden. Wir sind ja nicht mehr in der Lage, unsere Frauen und Kinder zu schützen, das ist es, was mich fast verrückt macht. Es ist heute durchaus möglich, daß meine Frau und mein Kind von einer Bombe zerfetzt werden, während ich in der Ruhestellung mit einigen Kameraden Skat spiele und mich besaufe. Nicht nur unsere Angehörigen müssen um uns zittern, wir müssen genau so um unsere Familien zittern. Das hat es in keinem Krieg gegeben. Wissen Sie was?“ er wurde plötzlich ganz aufgeregt, „wir haben auch keine Ehre mehr. Die ganze Armee ist das Werkzeug der Parteibonzen. Immer und zu allen Zeiten war es der Stolz der Armee, unpolitisch zu sein. Denken Sie an die Zeiten des Kaisers oder der großen preußischen Könige. Das waren doch wenigstens noch Soldaten. Aber unser ‚oberster Kriegsherr’ ist ein Faschist, und er versucht aus uns eine Armee von Faschisten zu machen. Das diskriminiert uns Soldaten. Wir sollen nicht nur Deutsche, sondern in erster Linie Nationalsozialisten sein. Und viele Offiziere sind Faschisten, sonst würde manches anders aussehen.“ „Stimmt“, sagte Jeremin, „aber glauben Sie nicht, daß vielleicht gerade der Kaiser und die von Ihnen zitierten preußischen Könige erst das Feld für den Faschismus bereitet haben? Nicht umsonst bezieht sich Hitler immer wieder auf die alte preußische Tradition.“ „Mag sein“, brummte der Hauptmann. „Und welche Konsequenzen ziehen Sie nun aus unserer Situation?“ „Konsequenzen“, der Offizier lachte bitter. „Ein Wort, mit dem Sie in unserer Situation überhaupt nichts anfangen können. Soll ich mich erschießen? Soll ich mit meiner Kompanie überlaufen? Soll ich im nächsten Urlaub fahnenflüchtig werden, um meine Frau und mein Kind mit meinem Körper zu decken? Wir sind doch keine Individuen mehr, die
auch nur die geringste Handlungsfreiheit besitzen. Wir erhalten Befehle, und wir haben zu gehorchen. Und wenn wir nicht gehorchen, tötet man uns. Ziehen Sie einmal in einer solchen Situation Konsequenzen. Es gibt nur eine unerbittliche Konsequenz, die das Schicksal für uns zieht: Wir müssen die Suppe auslöffeln, die wir uns eingebrockt haben. Und das Grauenhafte ist, daß unsere Kinder noch an den Resten dieser Suppe würgen werden, wenn wir schon längst nicht mehr sind.“ Als Jeremin sich mühsam durch den Schnee zurückarbeitete, dachte er über die Worte des Hauptmanns nach. Aber auch er sah keinen Weg, sich aktiv für ein schnelleres Kriegsende einzusetzen. Es war kein Vertrauen in die eigene Kraft vorhanden, keine Zuversicht und kein Glaube an eine bessere, menschenwürdigere Zukunft. * Jeremin erwachte. Jemand hatte seine Schulter berührt. Moritz stand vor seinem Lager. „Herr Leutnant. Ersatz aus Deutschland ist da. Ein Feldwebel mit fünfzehn Mann. Wollen Sie sich die Leute ansehen?“ „Wie spät ist es?“ Jeremin richtete sich schlaftrunken auf. Gegen Morgen hatte er den Bunker erreicht und war todmüde auf seine Decken gefallen. „Vier Uhr nachmittags“, sagte der Spieß. „Übrigens noch besten Dank wegen der Sache mit dem Schweinefleisch. Das wird Ihnen die Kompanie nicht vergessen und ich auch nicht.“ Jeremin stand auf und strich über seinen drei Tage alten Bart. Dann schnallte er um und stieg, gefolgt von Moritz, aus dem Bunker. Es hatte zu schneien begonnen. Vor der Schreibstube stand ein kleiner Trupp Soldaten und trat frierend von einem Bein aufs andere. Als der Leutnant näherkam, schrie der Kommandoführer „Achtung!“ und meldete. Jeremin starrte in die porzellanblauen Augen des Feldwebels. „Machulke“, murmelte er, „Machulke, alter Sack!“ In dem kantigen Gesicht des Feldwebels verzog sich keine Miene.
Jeremin ließ rühren und ging auf die Soldaten zu. Zitternd vor Kälte sahen sie ihm entgegen. Viel zu junge Gesichter unter dem viel zu schweren Stahlhelm. Am rechten Flügel stand ein älterer Mann. „Was wollen Sie denn hier?“ staunte Jeremin. „Wie alt sind Sie denn?“ „Vierundvierzig, Herr Leutnant. In Deutschland zieht man noch ältere Jahrgänge ein. Ich war schon im ersten Krieg dabei.“ Soweit ist es schon, dachte Jeremin. Sie schicken uns Kinder und alte Männer. Dann wandte er sich an Machulke: „Sie melden sich in fünf Minuten in meinem Bunker.“ „Jawohl, Herr Leutnant.“ Jeremin freute sich, als habe er einen Bruder getroffen. An der Schreibstube lief ihm der Obergefreite Bart über den Weg. „Bart“, sagte Jeremin, „ich brauche etwas zu trinken. Etwas für Männer, und zwar in fünf Minuten.“ „Ziel erkannt“, lachte der Obergefreite. „Werde Herrn Leutnant erstklassig bedienen.“ Jeremin kletterte die Stufen hinab. Prinz hockte in seiner Ecke und las. „Na, Chef“, sagte er, „wie sieht der Ersatz aus?“ „Am besten, Sie sehen sich die Leute selbst an und kümmern sich um die Unterkunft“, meinte Jeremin. „Schadet Ihnen gar nichts, wenn Sie Ihre Männer kennenlernen.“ „Soll ich wirklich in die Kälte raus?“ maulte Prinz. Jeremin lachte: „Hauen Sie ab. Ich kann Sie in den nächsten zwei Stunden hier nicht brauchen. Spielen Sie mit dem Spieß Skat oder machen Sie einen Besuch beim Bataillon. Ich kriege Besuch.“ „Ein Weib?“ Leutnant Prinz riß seine Kinderaugen weit auf. „Das nicht. Aber ein alter Kamerad.“ Prinz schnallte fluchend um und verschwand. Wenige Minuten später wurde an die Tür geklopft. Machulkes massige Figur erschien im Türrahmen. „Bitte Herrn Leutnant, eintreten zu dürfen!“ „Altes Haus“, strahlte Jeremin, „steck dir deinen Leutnant an den Hut, und mach die Tür zu.“
Die Männer schüttelten sich die Hand. „Das ist der schwerste Schlag meines Lebens „.brummte Machulke, „daß ich dich mit Schulterstücken sehe. Nun kann ich dich nie mehr fertigmachen wegen der Sache in der Kaserne.“ „Vergiß es“, Jeremin schob ihm eine Kiste hin. „Außerdem hast du ja jetzt dein Portepee. Lebt noch jemand von unserem alten Haufen?“ Machulke hob die schweren Schultern. „Als ich in Tripolis verladen wurde, waren noch ganze zehn Mann von der Kompanie übrig. Die Engländer haben uns zur Spirale gemacht. Du weißt ja, daß es kein Afrikakorps mehr gibt.“ Der Obergefreite Bart polterte die Stufen herab und erschien mit einer Literflasche Wodka. „Ich kann noch Nachschub besorgen“, meinte er und verschwand wieder. Jeremin öffnete die Flasche und füllte zwei Trinkbecher. „Prost Karl!“ „Prost Alex!“ „Ich bin froh, daß du hier bist, Karl. Wenigstens ein vertrautes Gesicht! Hier ist es nicht wie in Frankreich oder in Afrika. Hier ist es viel schwerer und härter. Hast du die Kinder gesehen, die man uns schickt? Diese Kinder sollen wir gegen die stärkste Armee der Welt führen. Sei dir klar darüber, daß du hier auf verlorenem Posten sitzt.“ Machulke nickte mit dem Kopf: „Ich hab's ja im Ersatzbataillon gesehen, was los ist. Mir ist alles egal.“ Sie tranken. „Hast du dir einmal überlegt, was sein wird, wenn wir den Krieg verlieren?“ fragte Jeremin. „Nein“, antwortete Machulke, „und ich brauche auch gar nicht darüber nachzudenken. Wenn es soweit ist, lebe ich nicht mehr. Das weiß ich.“ „Und woher weißt du das?“ Machulke nahm einen tiefen Schluck aus seinem Wodkabecher. „Ich ziehe meine Uniform nicht aus. Wenn es keine Soldaten mehr gibt, dann gibt es auch keinen Machulke mehr. Du weißt nicht, wie es für mich war, bevor ich eine Uniform anzog. Aber ich weiß es, und das will ich nie mehr erleben.“ Jeremin schwieg.
„So“, brummte der Feldwebel und stand auf. „Jetzt werde ich mich um meinen Haufen kümmern.“ * Machulke stampfte mit seinen Leuten durch den Schnee. Sie hatten Äxte empfangen und begannen ein paar Stämme umzuschlagen. „Beeilung, ihr Säcke“, grollte der Feldwebel, „sonst habt ihr heute abend nichts für den Ofen.“ Fünfzig Meter weiter standen die Bunker eines Musikzuges. Der Musikzug war in eine Hilfssanitäter- und Totengräberkolonne umgewandelt worden. Die Instrumente verstaubten viele tausend Kilometer entfernt in den Kasernen. Machulke dachte an die Worte Jeremins. Nie in seinem Leben hatte er damit gerechnet, seine Uniform ausziehen zu müssen. Aber wenn der Krieg wirklich verlorenging, wenn man die Soldaten nach Hause schickte, dann würde man auch keine Verwendung mehr für den Feldwebel Machulke haben. Dann würde sich der Feldwebel Machulke wieder in den Hilfsarbeiter Machulke verwandeln. Man würde ihn zurückstoßen in die dumpfe Masse der Rechtlosen, Verachteten und Getretenen. „Nein“, murmelte Machulke. „Lieber will ich mit dem Seitengewehr auf einen russischen Panzer losgehen und verrecken, als das noch einmal erleben.“ „Her mit dem Ding“, schnauzte er einen Soldaten an und riß ihm die Axt aus der Hand. Unter seinen wuchtigen Hieben splitterte ein dicker Stamm. Das tut gut, dachte Machulke und holte weit aus. Plötzlich tauchte aus einem der Bunker ein kleiner säbelbeiniger Mann in einem Rollpullover auf, lief auf Machulke zu und schrie: „Ihr elenden Vollidioten haut mir meine ganze Deckung weg. Schert euch woanders hin, ihr Drecksäcke.“ „Wer ist hier ein Drecksack?“ erkundigte sich Machulke finster und wog drohend die schwere Axt in der Hand. „Halten Sie Ihr vorlautes Maul, Sie Esel“, zeterte das Männchen. „Wenn Sie nicht in zwei Minuten verschwunden sind, können Sie was erleben.“
„Ist das vielleicht dein Wald, du Würstchen?“ Machulke stemmte die mächtigen Arme in die Seiten und sah auf den zornigen Zwerg herab. Die Soldaten hörten auf zu arbeiten und widmeten der Auseinandersetzung ihr ungeteiltes Interesse. „Hauen Sie ab. Sie Vollidiot“, schrillte das Männchen. „Vollidiot?“ Machulke röhrte wie ein angeschossener Hirsch und schwang seine Axt. „Wenn du Dreikäsehoch nicht gleich in deinem Mauseloch verschwindest, zerhacke ich dich zu Kleinholz und verheize dich in meinem Ofen.“ Das Männchen retirierte mit weit aufgerissenen Augen zu seinem Bunker. Die Soldaten lachten. Aber das Lachen blieb ihnen im Halse stecken. Das Männchen kehrte zurück. Aber diesmal trug es einen Waffenrock, auf dem die Achselstücke eines Stabsmusikmeisters glänzten. Weiß vor Wut marschierte es auf den verdutzten Machulke zu, baute sich vor ihm auf und schnarrte: „Name?“ „Feldwebel Machulke!“ Machulke stand stramm. „Einheit?“ „Zweite Kompanie des ersten Infanteriebataillons.“ „Axt ablegen.“ Machulke ließ die Axt in den Schnee fallen. „Folgen!“ Der Musikmeister setzte sich in Bewegung und steuerte die Schreibstube an. Machulke trottete hinter ihm her. „Jetzt verliere ich meine Tressen, noch bevor dieser verdammte Krieg zu Ende ist“, dachte er. „Dieser elende Zwerg wird einen Tatbericht einreichen.“ * Der Obergefreite Bart hatte die Vorgänge vom Donnerbalken aus beobachtet, rannte zu Jeremin und stolperte die Bunkertreppen hinab. „Sie kriegen Besuch“, keuchte er atemlos. „Der Stabsmusikmeister kommt. Der neue Feldwebel wollte ihm mit der Axt die Fresse polieren.“
„Reden Sie keinen Quatsch“, brummte Jeremin mit schwerer Zunge. Er hatte, während er seinen trüben 'Gedanken nachhing, die Flasche Wodka langsam ausgetrunken. Bart übersah die Situation. „Ich hole Kaffee“, sagte er und verschwand. Am Bunkereingang lief er dem wutschnaubenden Männchen in die Arme. „Wohnt hier der Kompaniechef?“ „Jawohl, aber der Herr Leutnant ist gerade nicht da. Würden Sie so lange auf der Schreibstube warten? Er wird jeden Augenblick kommen.“ Der Musikmeister warf Machulke einen vernichtenden Blick zu und befahl: „Vorwärts!“ Bart holte starken Kaffee und kehrte zu Jeremin zurück. „Trinken Sie, Herr Leutnant“, flehte er. „Trinken Sie den Kaffee.“ Jeremin trank den Kaffee und begann wieder nüchtern zu werden. „Schöner Mist“, fluchte er, als Bart ihm einen Lagebericht gab. „Bringen Sie die beiden her.“ Bart holte den Stabsmusikmeister und Machulke. Dann bezog er seinen Horchposten am Ofenrohr des Bunkers. „Gestatten, Hackedanz“, schnarrte das Männchen und klapperte mit den Absätzen. Jeremin war aufgestanden und bot dem Musikmeister Platz an. „Zigarette?“ „Bin so frei“, dankte das Männchen. „Dieser Mensch hier“, er zeigte verächtlich auf den in der Ecke stehenden Machulke, „hat mich vor wenigen Minuten mit einer Axt vor versammelter Mannschaft tätlich bedroht und ungebührlich beschimpft. Ich verlange Tatbericht und kriegsgerichtliche Bestrafung.“ „Aber Herr Hackedanz“, sagte Jeremin beruhigend. „Das war doch wohl ein Mißverständnis. Ich kenne den Mann seit Jahren.“ „Zweifeln Sie etwa an meinen Worten?“ ereiferte sich der Zwerg. Jeremin wandte sich an Machulke: „Nun erzählen Sie mal.“ Machulke trat einen Schritt vor: „Ich habe mit meinen Leuten auf Befehl des Hauptfeldwebels Holz geschlagen. Wir arbeiteten etwa fünfzig Meter von dem Bunker des Herrn Stabsmusikmeisters entfernt. Plötzlich kam der Herr Stabsmusikmeister im Pullover aus seinem Bunker, nannte uns Drecksäcke und Vollidioten, verlangte, wir sollten verschwinden, behauptete, wir schlügen ihm die Deckung fort. Da ich annahm, es handle
sich um einen Soldaten, fiel meine Antwort entsprechend aus. Darauf zog sich der Herr Musikmeister in den Bunker zurück und erschien gleich darauf in Uniform. Nachdem ich die Rangabzeichen des Herrn Stabsmusikmeisters erkennen konnte, führte ich jeden Befehl des Herrn Stabsmusikmeisters widerspruchslos aus.“ „Stimmt das, Herr Hackedanz?“ fragte Jeremin. „Nicht ganz. Der Kerl bedrohte mich vor versammelter Mannschaft mit der Axt. Sie wissen, was das bedeutet.“ „Aber doch nur, solange er in Unkenntnis Ihres Ranges war“, meinte Jeremin geduldig. „Spielt keine Rolle“, zeterte das Männchen, „ich will den Tatbericht sehen, bevor er zum Bataillon geht.“ Jeremin steckte die Hände in die Hosentaschen. „Ich werde gar keinen Tatbericht schreiben. Der Feldwebel entschuldigt sich bei Ihnen, und damit ist der Fall erledigt.“ „Erledigt? Sie weigern sich, Tatbericht einzureichen?“ Das Männchen sprang auf wie ein Gummiball. „Dieser Lump hat mich tätlich bedroht. Vor versammelter Mannschaft. Mich, einen Offizier der deutschen Wehrmacht. Solche Vorkommnisse untergraben die Disziplin der Truppe. Ohne Disziplin aber ist der Endsieg gefährdet. Das sollten Sie sich klarmachen, Herr Leutnant. Ich werde den Kerl nach Torgau bringen. Sie sind wohl verrückt geworden, hier von Entschuldigungen zu sprechen.“ Jeremin schob seine Kiste so hart zurück, daß sie polternd umfiel, und donnerte das verdutzte Männchen an: „Meine Leute sind keine Lumpen, merken Sie sich das! Und Sie sind kein Offizier, sondern Beamter. Blasen Sie auf Ihrer Trompete für den Endsieg, aber lassen Sie mich mit Ihrem blöden Tatbericht in Ruhe. Wir sind hier an der Front und nicht in der Kaserne. Wenn Sie Wert darauf legen, auch im Pullover als Musikmeister erkannt zu werden, dann nähen Sie sich gefälligst Schulterstücke drauf. Von mir aus auch auf Ihre Nachthemden. Für mich ist der Fall erledigt!“ „Trompete blasen - Nachthemden“, zischte das Männchen, „ich werde einen Tatbericht gegen Sie einreichen, wegen Verächtlichmachung in Gegenwart Untergebener, und zwar sofort. Das kann Sie Ihr Patent kosten, Herr Leutnant.“ Er drehte sich um und stob aus dem Bunker. Der Obergefreite Bart richtete sich rasch auf. Er griente unverschämt, als der Stabsmusikmeister ihn anbrüllte: „Wo liegt das Bataillon?“
„Ich zeige es Ihnen ganz genau“, sagte Bart beflissen, „Sie gehen jetzt den Trampelpfad hinunter bis zu der großen Tanne, biegen rechts ab, bis Sie einen ausgebrannten Lkw sehen. Dort halten Sie sich links und sind bald da.“ „Große Tanne, Trampelpfad, Lkw - gut, gut“, wiederholte das Männchen, gab sich einen Ruck und hastete mit kleinen, schnellen Schritten davon. * „Dumme Sache“, meinte Jeremin, „der Kerl wird Stunk machen.“ „Es war genauso, wie ich es gesagt habe“, brummte Machulke. An der Tür wurde geklopft. Bart erschien und meldete: „Soeben hat mich der Herr Stabsmusikmeister nach dem Weg zum Bataillon gefragt. Darf ich Herrn Leutnant den Rat geben, den Bataillonsadjutanten anzurufen?“ „Gute Idee“, nickte Jeremin, „aber der wildgewordene Mündungsschoner wird schon dort sein.“ „Das glaube ich nicht“, meinte Bart. „Wieso?“ „Weil ich dem Herrn Stabsmusikmeister den Weg zur vordersten Schützenstellung gezeigt habe.“ Jeremin und Machulke sahen sich einen Augenblick verblüfft an, und dann lachten sie schallend. * Als Jeremin am Abend auf seinen Decken lag und keinen Schlaf finden konnte, dachte er über Machulke und sich nach und fragte sich, warum er so froh war, daß er den Feldwebel einige Bunker weiter wußte. Wer war denn Machulke eigentlich? Nichts anderes als die vollkommenste Soldatenmaschine, die sich die Schöpfer des preußischen Militarismus jemals erträumten. Was verband ihn, Jeremin, mit diesem Mann, für den heute noch die Heeresdienstvorschrift das Evangelium und der Karabiner oder die Maschinenpistole das beste Handwerkszeug waren, das er sich vorstellen konnte. War nicht gerade Machulke der Prototyp eines Befehlsempfängers? Und obwohl er selbst sich in dieser Hinsicht von
Machulke kaum unterschied, empfand er doch, daß die Millionen Machulkes mit schuld daran waren, daß Deutschland rettungslos dem Abgrund entgegentrieb. Und trotzdem hatte er sich beim Anblick des Mannes gefreut, als habe er seinen Bruder getroffen. Es war das Gefühl der Kameradschaft, die ihn durch gemeinsame Erlebnisse mit ihm verband. Die vielgerühmte Frontkameradschaft - das wurde Jeremin plötzlich klar, war schon längst in das Kalkül Hitlers und seiner Generale aufgenommen worden. Die Kameradschaft war der Kitt, der die Truppe neben dem Gehorsam zusammenhielt, und sie trug dazu bei, daß der Massenmord noch lange kein Ende nehmen würde, denn die Kameradschaft hielt das Rachegefühl wach. So war denn auch eine der wenigen Männertugenden zu einem gut funktionierenden Instrument des totalen Krieges geworden. * Eines Abends kam der Angriffsbefehl. Wenige Stunden später stampfte die Kompanie durch die eisige Nacht. Oft brachen die Männer bis zu den Hüften im Schnee ein. In ihren weißen Tarnhemden sahen sie aus wie Gespenster. In Jeremins Brusttasche knisterte ein Brief. Renate erwartete ein Kind. Die Nachricht hatte ihn völlig unvorbereitet getroffen. Am Nachmittag hatte er den Brief erhalten und war über eine Stunde lang durch den schweigenden Wald gegangen. Ein tiefes Glücksgefühl durchströmte ihn. Wir werden ein Kind haben, dachte er. Ein kleines, warmes, weiches Etwas, das nur aus Renate und mir besteht. Wir sind es, die diesen neuen Menschen geschaffen haben und formen müssen. Die große Aufgabe, die vor einem Elternpaar liegt, überwältigte ihn, machte ihn ernst und brachte ihm die ungeheure Verantwortung zum Bewußtsein. Als er zu seinem Bunker zurückkehrte, überraschte ihn der Angriffsbefehl. Er erschrak. Vielleicht entschied dieses Stück Papier über das Schicksal des noch ungeborenen Kindes. Vielleicht würde es seinen Vater nie kennenlernen,
weil dieser Vater vor einem russischen Stützpunkt am Ladogasee verblutet war und den Menschen, die ihn wirklich brauchten, nicht mehr helfen konnte. Er überlegte, ob er sich krank melden sollte. Er dachte einen Augenblick an den Soldaten, der von Erfrierungen sprach, vom Lazarett und dem damit verbundenen Genesungsurlaub. Jeremin ging zur Schreibstube und sah auf das kleine Außenthermometer. Achtundzwanzig Grad unter Null. Vielleicht würde es genügen, wenn ich meinen nackten Fuß eine halbe Stunde in den Schnee halte, dachte er. Oder die linke Hand. Ich will gerne einen Fuß oder eine Hand für mein Kind opfern. Aber ich will mein Leben nicht mehr für die verlieren, die schon längst das Recht auf ihr eigenes Leben verwirkt haben. Dann sah er Machulke mit einer Gruppe Soldaten aus dem Wald kommen. Die Männer gingen ganz dicht an ihm vorbei. Er sah das vertraute Gesicht des Feldwebels. Er sah die hoffnungslosen Augen, die grauen Gesichter der Soldaten, und er beobachtete, wie sie mit hängenden Schultern in ihren Bunkern verschwanden. Wie viele meiner Männer haben auch Kinder, dachte Jeremin. Sie sehnen sich genauso heim wie ich. Sie verlassen sich darauf, daß ich ausweglose Situationen vermeide, denn das steht vielleicht in meiner Gewalt. Ich habe ihnen versprochen, dafür zu sorgen, daß möglichst viele von ihnen zurückkommen. Das war übriggeblieben von seinen großen Plänen, von seiner Hoffnung, als Offizier mehr Möglichkeiten zum Widerstandskampf zu haben. Er gehorchte und führte seine Männer in den Tod für eine verlorene Sache. * Und nun marschierten sie in die Ausgangsstellung zum Angriff. Machulke stolperte neben Jeremin durch den tiefen Schnee, fluchte leise, kontrollierte ständig den Marschkompaß und gab die Richtung an. Der Wald lichtete sich. Aus dem Morgendunst tauchten die verschwommenen Umrisse einiger Blockhäuser auf. Dahinter dehnte sich die unendliche Eiswüste des Ladogasees.
„Sie haben nicht einmal Feuer an“, flüsterte Machulke. Die klobigen Schornsteine der Hütten ragten kalt und dunkel in den fahlen Winterhimmel. Die Soldaten hockten hinter den Stämmen der dicken Bäume und starrten in Richtung des sowjetischen Stützpunktes. Jeremin prüfte das Gelände. Ein Angriff aus dem Walde durch den metertiefen Schnee auf die Häuser war ausgeschlossen. Entlang des Ufers zog sich ein breiter Schilfgürtel. Der Wald stieß einen Kilometer weiter rechts bis fast an das Schilf. „Es gibt nur eine Möglichkeit“, sagte er zu Machulke. „Wir umgehen das Dorf im Wald, kriechen vom Wald durch das Schilf und greifen, gedeckt durch das Schilf, vom Eis her an. Wir müssen versuchen, die ersten Häuser zu nehmen, damit wir Deckung haben. Dann geben wir dem Rest der Kompanie Feuerschutz. Ein Zug bleibt hier und riegelt den Fluchtweg zum Wald ab.“ Der Feldwebel nickte: „Das ist die einzige Möglichkeit. Aber wenn sie uns auf dem Eis entdecken, ist Feierabend.“ Jeremin sah sich um. Leutnant Prinz stand hinter einem Baum. Er war sehr blaß. Sein schmales Gesicht sah aus wie das eines Sechzehnjährigen. Machulke folgte dem Blick Jeremins. „Laß um Gottes Willen den Milchknaben mit einem Zug hier. Der Kerl macht sich doch die Hosen voll, wenn es nachher knallt.“ Jeremin tat die Bemerkung Machulkes mit einer Handbewegung ab und gab seine Befehle. Prinz atmete erleichtert auf. Dann setzten sich die beiden Züge in Bewegung. Der Atem der keuchenden Männer wehte in kleinen weißen Wolken. Trotz der schneidenden Kälte lief ihnen der Schweiß den Körper hinab. Manchmal blieben sie vor Erschöpfung stehen. „Der Schnee kann einen fertigmachen“, stöhnte Machulke. Dann hatten sie die Waldspitze erreicht. Die Hütten lagen nun links von ihnen. Jeremin wischte sich den Schweiß von der Stirn. „Am besten ist es, wir stellen einen Stoßtrupp zusammen. Wenn der Stoßtrupp durchkommt, dann kann der Rest folgen. Fünfzehn Mann genügen.“
Machulke kroch zurück und versammelte eine Gruppe älterer Soldaten um sich. Die Männer ließen sich von den Zurückbleibenden alle Handgranaten geben. „Fertig!“ sagte der Feldwebel, „kann ich jetzt abhauen?“ „Immer langsam“, meinte Jeremin, „vielleicht darf ich auch mitkommen?“ „Führe du deine verdammte Kompanie. Das bißchen Stoßtrupp mache ich alleine“, brummte Machulke. ... das bißchen Stoßtrupp mache ich alleine - dachte Jeremin. Das war Machulke! Ein Angriffsbefehl war gegeben. Sofort griffen die Zahnräder dieser vollkommenen Soldatenmaschine ineinander und bewegten den Mann nach vorne, ohne Rücksicht darauf, ob er eine Chance hatte, ohne Rücksicht darauf, wen und warum er töten mußte. Jeremin wandte sich an Feldwebel Brauner: „Wenn ich eine rote Leuchtkugel schieße, brechen Sie aus dem Schilf und greifen an. Sie werden schon sehen, in welchen Häusern wir sitzen.“ Neben Machulke machte er sich zum Angriff bereit. Langsam kroch der Stoßtrupp aus dem Waldrand. Die gefrorenen Halme des Schilfes knickten wie Streichhölzer, als die Männer sich auf den See zuarbeiteten. Dann fühlten sie das Eis unter sich. Der Wind fegte in harten Stößen den Schnee von der glatten Fläche. Jeremin wartete, bis die Soldaten herangekommen waren. Warum bin ich nicht zurückgeblieben? - dachte er. Ich hatte die Gelegenheit dazu. Niemand hat mich gezwungen, diesen Stoßtrupp zu führen. Im Gegenteil, mein Platz wäre bei der Kompanie gewesen. Ich bin aus Sentimentalität mitgegangen, einem Machulke zuliebe, der überhaupt keine Antenne für Sentiments besitzt. Ich Narr riskiere in diesem Augenblick mein Leben aus Kameradschaft zu einer Maschine, anstatt an Renate und das Kind zu denken. „Wollen wir?“ - flüsterte der Feldwebel und entsicherte seine Maschinenpistole. Jeremin richtete sich langsam auf. Das Schilf war mannshoch. Sie schlichen gedeckt durch die Halme auf die Hütte zu. Die letzten fünfzig Meter krochen sie wieder. Wenn jetzt einer niest oder hustet, sind wir fertig, dachte Jeremin. Die ersten Blockhäuser waren deutlich zu erkennen. Nichts rührte sich.
Vielleicht ist überhaupt niemand in den Hütten, dachte Jeremin. Vielleicht sind die Russen längst auf und davon. Vielleicht haben wir Glück. Das nächste Blockhaus besaß zur Seeseite keine Fenster. Nur eine Tür, und die schien fest verschlossen. Die Entfernung betrug etwa zehn Meter. „Komm“, flüsterte Jeremin. „Nimm noch zwei Mann mit. Wir versuchen es. Der Rest bleibt liegen.“ Machulke nickte, winkte zwei Soldaten heran und machte den anderen ein Zeichen. Jeremin stand auf, zog eine Handgranate ab und warf sie gegen die Haustür. Mit der Detonation stolperten die vier Männer auf das splitternde Holz zu. Machulke warf eine zweite Handgranate in das Innere der Hütte. In dem wehenden Qualm erkannte Jeremin einige zusammengekrümmte Gestalten. Neben ihm knatterte die Maschinenpistole des Feldwebels. „Besetzt die Tür“, schrie Jeremin den beiden Soldaten zu. Machulke hielt die schwere 08 in der Hand und drehte die Toten um. Am Fenster stand ein Maschinengewehr. Es war genau auf den Waldrand gerichtet. Keiner von uns wäre über die Lichtung gekommen, dachte Jeremin. Dann lief er zur Tür und befahl einem der Soldaten, das Maschinengewehr am Fenster zu übernehmen. Die Hütten waren miteinander durch tiefe Schneegräben verbunden. Jeremin riß die Leuchtpistole aus dem Futteral und feuerte eine rote Leuchtkugel ab. Aus dem Schilf brach der Rest des Stoßtrupps hervor. Die ersten russischen Maschinengewehre bellten aus den Nachbarhütten und zersägten die gefrorene Schneedecke. Durch den Graben arbeiteten sich einige sowjetische Soldaten heran. Einer richtete sich auf und warf eine Handgranate. Die Handgranate prallte an der Wand der Blockhütte ab und detonierte neben der Tür. Machulke taumelte. Jeremin riß den schweren Körper des Feldwebels von der Tür weg. „Karl“, rief er, „Karl, was ist los?“ Machulke richtete sich langsam wieder auf. „Es war nur der Luftdruck“, sagte er benommen. Das russische Maschinengewehr wurde stärker.
Die Soldaten des Stoßtrupps hatten sich in den Schnee gewühlt und schossen auf die anderen Hütten. Vorsichtig spähte Jeremin aus der Türöffnung. Er entdeckte die Stellung eines der sowjetischen Maschinengewehre. Es stand ganz nahe in einem Blockhaus. Neben dem Blockhaus war ein Heuschober. Jeremin lud die Leuchtpistole wieder und drückte ab. Zischend raste die Leuchtkugel auf den Schuppen zu und wühlte sich in die gefrorenen Halme. Es qualmte ein bißchen, und plötzlich schlugen Flammen steil empor. Dicke Rauchwolken wälzten sich über die Dächer. Dann griff das Feuer auf das harzige Holz der Hütte über. Im Schütze des Rauchs gelang es einigen Soldaten des Stoßtrupps, Jeremins Blockhaus zu erreichen. Sie brachten ihr Maschinengewehr in Stellung und nahmen das brennende Haus unter Beschuß. Sowjetische Soldaten taumelten aus dem Qualm und ließen sich in den Schneegraben fallen. Gleich darauf knallten ihre automatischen Karabiner. Sie gaben nicht auf. Der Gefreite am Fenster schrie spitz auf, drehte sich langsam und sackte zusammen. Jeremin war mit einem Satz am Fenster. Er erschrak. Durch den Schnee arbeiteten sich einige sowjetische Soldaten heran. Einer der Männer trug ein schweres Gerät auf dem Rücken. In der Hand hielt er einen Schlauch. Der Schlauch war auf das Hüttenfenster gerichtet. Die beiden anderen Soldaten hielten ihre Karabiner im Anschlag. Flammenwerfer - dachte Jeremin. Ein Stoß aus dem Schlauch, und sie räuchern uns aus wie die Ratten. Er richtete sich auf und griff zum Abzug des sowjetischen Maschinengewehrs. Die sowjetischen Soldaten hoben blitzschnell ihre Karabiner. Jeremin sah noch, wie der Mann mit dem Flammenwerfer in der Garbe des Maschinengewehrs zusammenbrach, dann fühlte er einen Schlag an der Schläfe, Blut lief ihm in die Augen, und seine Beine knickten unter ihm weg. Ich werde gar nicht bewußtlos - dachte er erstaunt. „Langsam, langsam“, hörte er die Stimme Machulkes. „Du wirst mir doch nicht abkratzen.“ Die klobigen Finger des Feldwebels fuhren unter den Stahlhelmriemen, der Stahlhelm polterte auf den Boden.
„Ein Streifer“, brummte Machulke beruhigt und riß ein Verbandspäckchen auf. Jeremin fühlte sich immer noch schwach. Aber das Blut hörte auf zu fließen. Er konnte wieder sehen. „Die anderen kommen“, schrie ein Soldat an der Tür. Das halbe Dorf stand in Flammen. Vom See her griff Feldwebel Brauner an. Der dritte Zug erschien zwischen den Blockhäusern. Langsam erstarb das Infanteriefeuer. Machulke sprang in den Schneegraben. Er sah sich um und entdeckte den bläulich schimmernden Lauf eines automatischen Gewehrs, der sich langsam aus dem Fenster einer unversehrten Hütte schob. Er versuchte einen Satz aus dem Graben zu machen, brach im Schnee ein - die Schüsse peitschten. Machulke spürte, wie sich die Geschosse in seinen Rücken bohrten und seine Lunge zerfetzten. Ganz nahe sah er das blutverschmierte Gesicht Jeremins, dessen Augen unter dem weißen Verband entsetzt herüberstarrten. Der Verband verschwamm mit der Schneefläche. Machulke versuchte noch einmal zu grinsen. Aber ein rasender Schmerz höhlte seine Brust aus, sein mächtiger Körper zitterte und sank in den Schnee. Feldwebel Brauner hatte den Gewehrlauf entdeckt. Er nahm das Fenster unter Feuer. Ein Soldat rannte von der Seite auf das Haus zu, kroch im toten Winkel an das Haus heran und warf zwei Handgranaten. Als sich der Qualm wieder verzog, war der Lauf des Gewehres nach oben gekippt. Die Mündung starrte in den bleigrauen Himmel. Jeremin stand neben Machulke und starrte in das tote, breitflächige Gesicht des Feldwebels. „Soll ich ihm das Soldbuch und die Brieftasche abnehmen?“ fragte der Obergefreite Bart. „Das mache ich selbst.“ Jeremin kniete neben dem Toten nieder und öffnete mit steifen Fingern die Knöpfe des blutigen Mantels.
X Zwei Tage später erschien Moritz in Jeremins Bunker: „Sie möchten sofort zum Bataillon kommen. Dicke Luft, Herr Leutnant.“ „Was ist los?“ fragte Jeremin. Moritz zuckte die Achseln: „Soweit ich meinen Kumpel von der Bataillonsschreibstube verstanden habe, handelt es sich um die Meldung des Herrn Stabsmusikmeisters.“ Jeremin schnallte um und machte sich auf den Weg zum Bataillonsgefechtsstand. In der Nacht war Neuschnee gefallen. Immer wieder brach Jeremin bis über die Knie ein. Die gefrorenen Äste der Tannen ächzten unter der schweren Last. Ein Eichelhäher schrie heiser. Der Kommandeurbunker tauchte zwischen den Stämmen auf. Vor dem Eingang schaukelte eine rote F-Flagge. Jeremin meldete sich auf der Schreibstube. Ein Melder brachte ihn zum Major. „Herr Jeremin“, begann der Kommandeur, nachdem der Soldat verschwunden war, „unangenehme Sache. Sie können sich denken, worum es sich handelt?“ „Jawohl, Herr Major!“ „Hm“, der Kommandeur ging in dem überheizten Raum auf und ab. „Der wildgewordene Beethoven verlangt Ihren Kopf. Er hat eine Meldung gegen Sie erstattet, wegen Verächtlichmachung vor Untergebenen. Der Feldwebel ist ja wohl inzwischen gefallen, wie?“ „Jawohl, Herr Major!“ „Günstig, günstig. Es gibt also keinen Zeugen.“ Jeremin schwieg. „Wissen Sie“, fuhr der Major fort und blieb vor Jeremin stehen, „ich habe nichts für Tatberichte übrig. Erst recht nicht, wenn sie von einem Beamten gegen einen meiner Truppenoffiziere eingereicht werden. Wie ich sehe, haben Sie einen Streif er am Kopf abbekommen?“ „Jawohl, Herr Major!“ „Das erleichtert die Sache. Ich werde Sie mit sofortiger Wirkung abkommandieren. Zur Erholung, sozusagen. Sie übernehmen für ein paar Wochen ein STALAG-Lager bei Alakurtti. Wenn über die Sache Gras
gewachsen ist, kommen Sie zurück. Der Musikus wird glauben, es handele sich um eine Strafversetzung und wird sich beruhigen.“ „Jawohl, Herr Major.“ „Alles Gute, Herr Jeremin. In einigen Wochen sehen wir uns wieder.“ * Der Zug hielt zischend mit kreischenden Bremsen in Rovaniemi. Jeremin nahm sein Gepäck und stieg aus. Trotz der Mittagszeit war es fast dunkel. Dem Bahnhof gegenüber befand sich das Soldatenheim, ein großer Holzbau. Jeremin verließ den Bahnhof und ging auf das Soldatenheim zu. Schlitten, die von struppigen Steppenponys gezogen wurden, glitten vorbei. Dick vermummte Zivilisten stolperten durch die klirrende Kälte. In dem Soldatenheim war es warm und hell. Jeremin setzte sich an einen der Tische. Eine Rotkreuzschwester brachte ihm heißen Kaffee. An der Wand hing ein riesiges Transparent: „Willkommen am Polarkreis.“ Es fiel Jeremin ein, daß Rovaniemi auf dem Polarkreis lag. „Wollen Sie nicht ein Eismeerstraßeabzeichen kaufen?“ fragte die Schwester, „an der Theke gibt es welche. Die Eismeerstraße beginnt hier in Rovaniemi.“ „Und was soll ich mit dem Abzeichen machen?“ erkundigte sich Jeremin. „Es ist ein Souvenir“, lächelte die Schwester. „Viele heften es auf die Pistolentasche oder an die Bukos, die zweischneidigen Finnendolche. Sie haben doch schon einen Buko?“ „Nein“, Jeremin ging zur Theke, kaufte einen Finnendolch und ein Abzeichen, kehrte zu seinem Tisch zurück und steckte die Sachen in seinen Wäschebeutel. „Das ist ja hier wie in einem Kurort, mit Souvenirs und so“, lächelte er, als die Schwester wieder vorbeikam. Sie setzte sich an seinen Tisch und warf einen neugierigen Blick auf den Ärmelstreifen an seinem Mantel. „Sie waren in Afrika?“
Er nickte. „Da werden Sie hier ziemlich frieren.“ „Ich habe schon ziemlich gefroren. Zuletzt war ich an der Ladogaseefront. Ist es hier immer so dunkel?“ Die Schwester nahm die angebotene Zigarette: „Sechs Monate ist es dunkel, und sechs Monate ist es Tag und Nacht hell. Die Mitternachtssonne ist fast noch schwerer zu ertragen als die ewige Nacht. Sie macht die Menschen unruhig. Man kann nicht schlafen. Hier kriegen viele den Polarkoller. Vor allen Dingen bei Nordlicht. Es wirkt auf anfällige Naturen viel schlimmer als Föhn.“ „Ich habe das Glück, immer an die verdammtesten Ecken dieser Erdkugel verladen zu werden“, meinte Jeremin. „Und wie haltet ihr Mädchen das so aus?“ Sie zuckte die schmalen Schultern: „Es geht. Bleiben Sie länger hier? Ich bin Schwester Anneliese.“ Er sah sie an. Ihre Augen waren feucht und hungrig. Von der kleinen Nase liefen zwei kaum sichtbare Linien zu den Mundwinkeln. Sie bemerkte seinen Blick und zog den Pullover unter der Schürze zurecht. Sogar Flirt gibt es hier, dachte Jeremin. Die ewige Nacht muß ja ideal sein für Liebespaare. Aber er hatte kein Verlangen nach einem flüchtigen Erlebnis. Er fühlte sich schon von dem Gedanken an Renate und das werdende Kind ausgefüllt. „Leider muß ich heute noch weiter. Irgendwo in der Nähe von Alakurtti soll ich ein STALAG-Lager übernehmen“, sagte er freundlich. Sie sah ihn enttäuscht an. * Die altmodische Lokomotive stand unter Dampf. Vor ihre Puffer waren drei sandgefüllte Loren gekoppelt. Hinter dem Tender konnte man zwei Personenwagen in der Dunkelheit erkennen. Aus dem Dach der Wagen ragten dünne Schornsteine. Funken stoben in die Nacht. „Was sollen denn die Sandloren vor der Maschine?“ erkundigte sich Jeremin bei dem Bahnhofsoffizier. „Wegen der Minen“, brummte der Oberleutnant aus seinem Pelzkragen. „Das ganze Gebiet zwischen Alakurtti und hier ist partisanenverseucht. Sie versuchen immer wieder, den Zug hochzujagen.“
„Und wann fahren wir ab?“ Der Bahnhofsoffizier hob die Schultern: „Wann der finnische Lokomotivführer Lust hat. Die Kerle lassen sich keine Vorschriften machen.“ „Gibt es denn keine Fahrpläne?“ fragte Jeremin erstaunt. „Die Strecke ist eingleisig. Hier läuft nur ein Zug, und es ist immer derselbe. Erst wenn ihn die Partisanen erwischen, wird ein neuer eingesetzt. Sie haben schon einige in die Luft gejagt. Viele Finnen stecken mit dem Iwan unter einer Decke. Vor allem die Lappen.“ „So, so“, meinte Jeremin. „Gehen Sie an die Murmansk-Front?“ fragte der Oberleutnant. „Nein, ich bin zu einem STALAG abkommandiert. Ich soll mich erholen.“ „Erholen?“ der Bahnhofsoffizier wandte ihm sein verfrorenes Gesicht zu. „Die Lager liegen mitten im Partisanengebiet. Immer wieder versuchen die Russen, ihre Kumpels aus dem Stacheldraht herauszuholen. Zweimal ist es ihnen bereits gelungen. Bei den Bewachungsmannschaften gab es keine Überlebenden.“ Die Lokomotive pfiff. „Hals- und Beinschuß“, sagte der Bahnhofsoffizier und wandte sich ab. Jeremin kletterte in einen der Wagen. * „Wir sind gleich da, Herr Leutnant“, sagte der Gefreite, „da vorne ist das Lager.“ Jeremin war erschöpft von dem langen Schneemarsch. „Bleiben Sie dicht hinter mir“, der Gefreite bog in einen schmalen Trampelpfad, „links und rechts liegen S-Minen.“ Gegen den fahlen Nachthimmel hoben sich die Wachtürme schwarz ab. Aus verschneiten Baracken schimmerte Licht. Der Gefreite öffnete eine Tür: „Hier hinein bitte.“ Jeremin stolperte in den warmen Raum. Zwei Männer erhoben sich. Ein kleiner Sonderführer mit Windhundkopf und Wieselaugen. Der zweite Mann war ein Stabsfeldwebel. Er schien angetrunken.
„Willkommen, Herr Leutnant“, der Sonderführer kam auf ihn zu. „Mein Name ist Strantzki. Ich bin Ihr Dolmetscher.“ „Stabsfeldwebel Hauk“, der andere produzierte eine Ehrenbezeigung. „Guten Abend“, sagte Jeremin und sah sich ziemlich verblüfft um. Der Barackenraum war fast luxuriös eingerichtet. Handgeflochtene Sessel, ein fester Tisch. Überall brannten Kerzen. Sie steckten in ziselierten Blechhaltern. An der Wand hingen zwei Elchgeweihe, dazwischen einige bunte Aquarelle. „Los, Sascha, hilf Herrn Leutnant!“ befahl der Sonderführer. Aus einer Ecke kam ein mächtiger Mann in zerrissenen braunen Lumpen. Sein Schädel war glattrasiert. Er sah Jeremin aufmerksam, fast prüfend an, senkte aber rasch wieder die Augen und half ihm aus dem Mantel. Ein Russe, dachte Jeremin. Sie halten sich hier gefangene Russen als Burschen. „Herr Leutnant haben sicher Hunger“, Strantzki wies auf den Tisch. „Und Durst“, grinste der Stabsfeldwebel. „Sie leben hier nicht schlecht“, staunte Jeremin. Auf dem Tisch lag frisch gebackenes Weißbrot, standen die verschiedenartigsten Konserven, türmten sich dicke Butterklumpen, schimmerten Flaschen und dampfte eine große Schüssel. „Soljanka“, erklärte der Sonderführer, „natürlich haben wir einen Iwan als Privatkoch. Bitte, nehmen Sie doch erstmal Platz.“ Jeremin setzte sich und begann zu essen. Er war ausgehungert von der langen eisigen Fahrt. Der Stabsfeldwebel goß ihm einen Grog ein. „Die harten Schnäpse kommen dann später“, erläuterte er grinsend. Strantzki beobachtete den Leutnant. Er schien befriedigt. „Morgen zeige ich Ihnen das Lager“, sagte er. „Es ist bald März. Für zwei Stunden wird es schon hell.“ * Am nächsten Morgen übernahm Jeremin das Lager. Strantzki hielt sich dicht neben ihm. Im Hintergrund stand ein Unteroffizier. Er war fast doppelt so alt wie Jeremin.
„Das ist Unteroffizier Baumbach von den Landesschützen“, stellte Strantzki vor. „Mein Assistent.“ „Ihr was?“ erkundigte sich Jeremin verblüfft. Er beobachtete den verächtlichen Ausdruck in den Augen des Unteroffiziers. „Nun, mein Assistent“, antwortete Strantzki munter. „Herr Leutnant werden sich schon an unsere zivilen Sitten hier gewöhnen. Im übrigen brauchen Sie sich um nichts zu kümmern.“ Er lächelte ölig. „Schließlich sollen Sie sich doch hier erholen. Ich und Baumbach werden mit den Iwans schon fertig. Den Schreibkram erledigt Stabsfeldwebel Hauk. Das Personal liegt dort drüben in den Baracken. Mehr als hundert Mann. Die eine Hälfte schiebt Wache, die andere Hälfte ruht sich aus. Ganz ruhiger Dienst. Ich empfehle Herrn Leutnant, auf Birkhuhnjagd zu gehen. Es gibt auch eine Menge Schneehühner und manchmal sogar einen Elch.“ Jeremin sah durch die Scheiben. Fahles Dämmerlicht lag über der Schneedecke. Hinter dem hohen Stacheldrahtzaun duckten sich die Unterkünfte der Gefangenen. „Wieviel Russen liegen hier?“ fragte er. „Mehr als tausend.“ „Ich möchte das Lager sehen.“ „Kann ich Ihnen nicht empfehlen, Herr Leutnant. Die Kerle stinken wie nasse Füchse.“ „Daß das hier kein Töchterpensionat ist, weiß ich selbst“, knurrte Jeremin. Strantzki wurde ihm immer unsympathischer. „Kommen Sie!“ „Sagen wir in zwei Stunden?“ versuchte der Sonderführer auszuweichen. Baumbach machte ein undurchdringliches Gesicht. „Ich will wissen, wie das Lager jetzt aussieht, und nicht, was ich in zwei Stunden zu sehen bekommen darf.“ Jeremin zog seinen Mantel an. Strantzki kniff die schmalen Lippen zusammen und griff nach seinem Schafspelz. Baumbach holte einen Wachmantel aus dem Spind. Sie traten hinaus in die eisige Kälte. Auf den Türmen hockten die Wachmannschaften. Die Läufe ihrer schweren Maschinengewehre waren auf die Baracken hinter dem Stacheldraht gerichtet. Der Doppelposten am Lagertor nahm Haltung an, als Jeremin herankam.
Die Schritte der Männer knirschten auf der festgetrampelten Lagerstraße. Nirgends war auch nur ein einziger Russe zu sehen. „Wo sind die Gefangenen?“ erkundigte sich Jeremin. „Zum Teil auf Arbeit im Wald, zum Teil in den Baracken,“ knurrte Strantzki. Jeremin öffnete die erste Tür. Ein entsetzlicher Gestank schlug ihm entgegen. Mühsam versuchte er, das Halbdunkel des Raumes zu durchdringen. Eine Kerze flackerte unruhig auf einer Kiste. An der Wand hockten frierend und gleichgültig abgemagerte Männer. Sie waren in Fetzen gehüllt und drängten sich gegeneinander. In einem Ofen brannte ein klägliches Feuer. Es war sehr kalt in der Baracke. Der Sonderführer schrie einen russischen Befehl. Die Männer taumelten empor. „Passen Sie mal auf“, sagte Strantzki, sah Jeremin an und lächelte böse. Er zog aus der Tasche seines Mantels einen Kanten Kommißbrot und warf ihn in den Raum. Einige der Gefangenen stürzten sich mit einem heiseren Schrei auf das Brot, kratzten, schlugen und bissen sich. Die Mehrzahl der Russen blieb an der Wand gelehnt stehen und starrte die Deutschen voll abgrundtiefen Hasses an. Jeremin war so überrascht und erschüttert, daß er schwieg. Er beobachtete, wie einer der abgemagerten Männer aus dem Knäuel der Kämpfenden kroch. Er hielt das Stück Brot zwischen den Zähnen und verschwand in einer Ecke. Schweigend folgte Jeremin Strantzki und Baumbach wieder hinaus. Das Innere der anderen Baracken bot den gleichen grauenhaften Anblick. Am Ende der Lagerstraße stand eine Blockhütte. Um die Blockhütte zog sich ein gesonderter Stacheldrahtzaun. An den Außenwänden waren Reisig, Äste und Birkenrinde gehäuft. Daneben standen zwei Benzinkanister. „Was ist das?“ erkundigte sich Jeremin und blieb stehen. „Da sind die Geiseln drin“, erklärte Strantzki. Jeremin ging durch eine schmale Lücke im Stacheldraht und versuchte die Tür des Blockhauses zu öffnen. Sie war verschlossen. „Machen Sie die Tür auf!“ befahl er dem Sonderführer. Der Mann zögerte. „Ich habe keinen Schlüssel bei mir. Einer der Posten, die auf Außenarbeit sind, hat ihn.“
Jeremin wurde wütend. Er fühlte, daß Strantzki log. „Dann holen Sie eine Axt und schlagen Sie die Tür ein. Ich will sehen, was hier los ist.“ „Nicht nötig“, sagte die tiefe Stimme Baumbachs. „Ich habe den Schlüssel hier.“ Der Sonderführer fuhr herum und starrte den Unteroffizier wütend an. „Idiot“, zischte er leise. Jeremin beobachtete das unbewegte Gesicht des Mannes, der ruhig die Tür aufschloß und zur Seite trat. Seine dunklen braunen Augen sahen den Leutnant abschätzend an. Im Inneren des Blockhauses hockten zwanzig Russen auf der Erde. Sie waren aneinandergefesselt. In ihren Augen stand dumpfe Wut und beginnender Wahnsinn. Der Ofen war leer. Es war eiskalt in dem Raum. Jeremin sah von Baumbach zu Strantzki. „Wollen Sie mir keine Erklärung geben?“ Baumbach schwieg. „Die Schweine waren aufsässig“, sagte Strantzki. „Das ist hier die Strafbaracke.“ „Und das Reisig und die Benzinkanister? Sprachen Sie nicht vorhin von Geiseln?“ „Die Insassen der Strafbaracke gelten für uns als Geiseln. Sollte das Lager angegriffen werden, so setzen wir das Reisig in Brand.“ „Wer hat das befohlen?“ fragte Jeremin. Er sah diesmal Baumbach an. Der Unteroffizier erwiderte seinen Blick und schwieg. „Ich habe Sie etwas gefragt, Mann“, schrie Jeremin außer sich. „Ich habe es gehört“, antwortete der Unteroffizier ruhig. „Da ich aber nicht weiß, wer den Befehl gegeben hat, kann ich Ihnen auch nicht darauf antworten.“ „Ich habe es befohlen“, Strantzki machte ein herausforderndes Gesicht. Als sie wieder auf der Lagerstraße standen, sagte Jeremin heiser: „Ich will die Küche sehen, wo für die Gefangenen gekocht wird.“ Strantzki zuckte die Achseln: „Bitte, wenn Sie Wert darauf legen.“ Jeremin sah in das brutale Gesicht. Aber er beherrschte sich. Erst wollte er alles sehen. Die Küche lag außerhalb des Lagers.
Ein paar sowjetische Gefangene drückten sich erschrocken an die Wand, als die Deutschen eintraten. Neben dem Kessel der Feldküche saß ein dicker Unteroffizier auf einem Stuhl und rauchte. Als er Jeremin erkannte, sprang er mühsam auf, Im Kessel brodelte eine stinkende Brühe. Jeremin sah hinein. „Wo ist der Speiseplan für die Gefangenen?“ fragte er. „Es gibt Suppe und für je zehn Mann ein Brot“, antwortete der Unteroffizier. „Ich habe Sie nicht gefragt, was es gibt, sondern ich will den Speiseplan sehen.“ Der dicke Unteroffizier warf einen hilflosen Blick auf Strantzki. Er zuckte die breiten Schultern: „Wir haben keinen Speiseplan. Es gibt immer nur Suppe.“ „Diese Suppe?“ fragte Jeremin. „Jawohl.“ „Haben Sie ein Kochgeschirr?“ „Jawohl, Herr Leutnant!“ Der Unteroffizier griff verblüfft nach einem Kochgeschirr auf dem Wandbord. „Füllen Sie es!“ Der Mann füllte es mit einer Kelle. „Trinken Sie es aus!“ befahl Jeremin. „Es - es ist zu heiß“, stammelte der Küchenunteroffizier. „Ich habe Zeit.“ Jeremin lehnte sich an die Wand. „Aber das ist doch nicht möglich“, zischte Strantzki. „Herr Leutnant untergraben ja die Autorität des Wachpersonals in Gegenwart der Gefangenen.“ „Ich habe Sie nicht nach Ihrer Meinung gefragt“, erwiderte Jeremin scharf und sah den Unteroffizier abwartend an. Der Mann begann den Inhalt des Kochgeschirrs herunterzuwürgen. „Füllen Sie das Kochgeschirr noch einmal“, befahl Jeremin. Der Unteroffizier griff zur Kelle. Seine Hand zitterte. „Geben Sie das Kochgeschirr dem Sonderführer.“ „Nein“, sagte Strantzki. Er war blaß geworden. „Geben Sie es dem Sonderführer“, wiederholte Jeremin.
Die sowjetischen Gefangenen hatten sich in einen Winkel der Küchenbaracke zurückgezogen. Sie schienen genau zu begreifen, was sich vor ihren Augen abspielte. Der Unteroffizier hielt immer noch das Kochgeschirr in der Hand und sah Strantzki an. Der Sonderführer machte keine Anstalten, ihm das Gefäß abzunehmen. „Ich gebe Ihnen den dienstlichen Befehl, dieses Kochgeschirr auszutrinken“, sagte Jeremin eisig. Strantzki griff zögernd nach dem Kochgeschirr und begann zu trinken. Er verschluckte sich und spuckte die Brühe angeekelt wieder aus. Jeremin sah Baumbach an. Das Gesicht des Unteroffiziers hatte einen zufriedenen Ausdruck. Als er den Blick des Leutnants bemerkte, fragte er ruhig: „Soll ich auch ein Kochgeschirr austrinken?“ „Nein“, sagte Jeremin, drehte sich um und verließ die Küchenbaracke. * Jeremin stand am Fenster der Baracke und trommelte nervös mit den Fingern gegen die Scheibe. Er sah, wie nach einer Weile Strantzki, Baumbach und der dicke Unteroffizier aus der Küche kamen. Sie unterhielten sich erregt. Strantzki machte Baumbach aus irgendwelchen Gründen Vorwürfe. Er gestikulierte aufgeregt und tippte sich einigemal an die Stirn. Baumbach schien wenig beeindruckt. Er kramte einen Stumpen aus seinem Wachmantel und steckte ihn an. Der Küchenunteroffizier machte ein empörtes Gesicht und sagte etwas zu dem Sonderführer. Der nickte. Sie ließen Baumbach stehen und verschwanden in dem Quartier des Stabsfeldwebels Hauk. Baumbach machte sich auf den Weg zur Schreibstube. Sie lag direkt neben Jeremins Baracke. Jeremin öffnete das Fenster und rief den Unteroffizier an. „Herr Leutnant?“ Der Mann blieb stehen. „Kommen Sie bitte zu mir“, sagte Jeremin und schloß das Fenster wieder.
Gleich darauf trat Baumbach ein und blieb abwartend an der Tür stehen. „Ziehen Sie Ihren Mantel aus und setzen Sie sich.“ Jeremin schob einen zweiten Stuhl an den rohen Holztisch. Die Männer saßen sich gegenüber. Jeremin sah in das ernste Gesicht des Unteroffiziers. „Wie alt sind Sie?“ fragte er. „Vierundvierzig.“ „Sie könnten beinahe mein Vater sein.“ Baumbach schwieg. „Was halten Sie von der Behandlung der Gefangenen hier?“ Jeremin sah den Unteroffizier voll an. Baumbach erwiderte den Blick, aber er antwortete nicht. „Hören Sie mal“, begann Jeremin, „Sie scheinen keine große Lust zu haben, sich mit mir über diese Dinge zu unterhalten.“ „Stimmt“, sagte Baumbach. „Warum nicht?“ „Ich habe gelernt, die Schnauze zu halten, Herr Leutnant.“ Die Männer schwiegen und rauchten. Nach einer Weile sagte Jeremin: „Können Sie sich vorstellen, daß man diese Verhältnisse hier ändert?“ „Was wollen Sie von mir?“ fragte der Unteroffizier zurück. „Ich brauche jemand, der mir hilft.“ „Wobei?“ „Diesen verdammten Saustall hier auszuräumen“, antwortete Jeremin erregt. „Was ich heute morgen gesehen habe, ist menschenunwürdig. Man behandelt die Gefangenen wie Tiere. So etwas mache ich nicht mit. Schließlich sind die Russen Soldaten, die ihre Pflicht tun wie wir, Menschen wie wir.“ „Es sind Untermenschen und Bolschewisten“, sagte Baumbach spöttisch, „das wird Ihnen jeder NSFO bestätigen. Untermenschen und Bolschewisten behandelt man wie Tiere.“ Jeremin stand auf und ging im Zimmer auf und ab. Dann blieb er vor dem Unteroffizier stehen: „So kommen wir nicht weiter. Ich habe zu Ihnen Vertrauen, sonst hätte ich diese Unterhaltung nicht begonnen. Können wir nicht miteinander sprechen wie zwei normale. Menschen? Geben Sie endlich Ihr Mißtrauen auf, und haben Sie Vertrauen.“
„Kann ich das denn?“ fragte Baumbach gedehnt. „Sie sind ein junger Offizier. Vielleicht sind Sie ehrgeizig. Vielleicht haben Sie nur eben eine sentimentale Anwandlung. Ich habe eine Familie. Eine Frau und sechs Kinder. Verstehen Sie das?“ „Ich verstehe es. Wollen Sie mir trotzdem helfen? Ich habe keine sentimentale Anwandlung, ich versuche nur Mensch zu bleiben. Schön, ich bin Offizier. Ich bin auch jung. Deshalb habe ich mich ja an Sie gewandt. Aber nicht nur, weil Sie älter sind als ich, sondern weil ich gespürt habe, daß Sie diese Zustände hier genauso anwidern wie mich und daß Sie etwas weiter denken als bis zum nächsten Löhnungsappell.“ „Wie kommen Sie zu dieser Auffassung?“ erkundigte sich Baumbach. „Nun zum Beispiel gaben Sie unaufgefordert den Schlüssel für die Geiselhütte heraus, obwohl Strantzki log. Sie wollten, daß ich die gefesselten Gefangenen sehe.“ „Ja, das wollte ich“, sagte der Unteroffizier. „Sie werden mir also helfen?“ fragte Jeremin. „Ja!“ antwortete Baumbach. „Gut“, Jeremin atmete auf. „Ich danke Ihnen.“ „Keine Ursache“, der Unteroffizier erhob sich. Er nahm seinen Mantel und verließ den Raum. Jeremin steckte sich eine Zigarette an. Nachdenklich öffnete er die Tür und trat hinaus auf den Appellplatz. Er spürte nicht die schneidende Kälte. Der Schnee knirschte unter seinen Stiefeln. Langsam ging er am Stacheldraht entlang. Dünne Rauchsäulen stiegen aus den Schornsteinen der Baracken. Von der Schreibstube kam ein Gefreiter und lief zur Küche. Als er Jeremin sah, machte er eine Ehrenbezeigung. „Kommen Sie doch mal her“, rief der Leutnant. Der Gefreite kam heran. „Sagen Sie Stabsfeldwebel Hauk, daß ich in einer Stunde sämtliche wachfreien Unteroffiziere und Feldwebel einschließlich des Sonderführers Strantzki zu einer Besprechung bei mir erwarte.“ Der Gefreite wiederholte den Befehl und ging davon. *
Endlich - dachte Jeremin glücklich, als er auf seine Baracke zuging, endlich kann ich auch einmal etwas tun. Er setzte sich an den Tisch und wartete. Durch das Fenster beobachtete er, wie die Unteroffiziere, um Strantzki geschart, diskutierend auf die Baracke zukamen. Neben dem Sonderführer trottete Stabsfeldwebel Hauk. Er sprach mit niemandem und machte ein finsteres Gesicht. Die Männer traten die Füße auf den Schneerosten ab und drängten sich in den Raum. Hauk meldete: „Sämtliche wachfreien Unteroffiziere wie befohlen angetreten.“ Jeremin stand auf. „Lesen Sie die Dienstvorschriften für die Behandlung russischer Kriegsgefangener vor.“ Hauk entfaltete ein auf dem Tisch liegendes Formblatt und begann nuschelnd zu lesen. „Lauter und deutlicher“, befahl Jeremin. „Fangen Sie noch einmal an.“ Der Stabsfeldwebel warf ihm einen wütenden Blick zu und begann erneut. „Ich stelle fest“, sagte Jeremin, als Hauk geendet hatte, „daß die einzelnen Punkte der Vorschrift in geradezu unglaublicher Weise mißachtet worden sind.“ Er wandte sich an den Furier: „Lesen Sie vor, was den Gefangenen seitens der STALAG an Verpflegung zusteht.“ Der Furier machte ein mürrisches Gesicht und zählte die Posten auf einer Liste auf. „Haben die Gefangenen die Lebensmittel erhalten?“ erkundigte sich Jeremin. „Jawohl“, sagte der Furier. Jeremin wandte sich an den Küchenunteroffizier: „Warum haben Sie mich angelogen? Sie haben mir vorhin erklärt, es gäbe jeden Tag Suppe, und zehn Gefangene bekämen ein Brot. Soeben hören wir aber von dem Furier, daß je sechs Gefangenen ein Brot zusteht und Margarine, Marmelade, Zucker, Tee, Trockengemüse und Gefrierfleisch vorhanden sind.“ „Ich habe Sie nicht belogen, Herr Leutnant“, antwortete der Küchenunteroffizier finster. „Ich kann nur das kochen, was ich bekomme.“
Jeremin ging auf den ihm zunächst stehenden Unteroffizier des Wachkommandos zu: „Was erhielten Sie gestern als Abendverpflegung?“ „Drei Mann eine Büchse Blutwurst, Butter, Brot, Lebertran und einen achtel Liter Schnaps. Außerdem Tee.“ Jeremin sah Hauk an: „Aus welchem Grund gab es gestern abend bei uns vier verschiedene Wurstkonserven, Käse, Suppe, beliebige Mengen Butter und verschiedene Getränke?“ „Das hat Ihr Vorgänger eingeführt. Hauptmann Luckscheck“, antwortete Hauk schnell. Einige Unteroffiziere murrten. Jeremin ging auf seinen Platz zurück: „Spricht jemand von Ihnen russisch?“ Die Männer schwiegen. Dann trat Baumbach vor: „Ich spreche russisch, Herr Leutnant.“ „Sie sind ab sofort mein Dolmetscher. Strantzki, Sie sind abgelöst und machen Wachdienst. Hauk, Sie übergeben die Geschäfte des Hauptfeldwebels an diesen Unteroffizier und übernehmen einen Wachzug. Sämtliche Köche sind abgelöst. Ebenfalls der Furier und der Rechnungsführer. Das ist alles. Sie“, er wandte sich an Baumbach, „bleiben hier. Der Rest kann wegtreten.“ „Sie können mich gar nicht ablösen“, sagte Strantzki blaß vor Wut. „Ich bin Sonderführer. Ich unterstehe dem STALAG-Kommandeur direkt.“ Jeremin sah ihn an: „Geben Sie mir Ihr Soldbuch!“ Strantzki nestelte sein Soldbuch hervor. Jeremin schlug es auf. „Sie sind Ihrem wirklichen Dienstgrad nach Gefreiter und nur Sonderführer auf Zeit. Für mich ist diese Zeit abgelaufen. Haben Sie mich verstanden, Gefreiter Strantzki?“ „Jawohl“, knurrte der Mann. Die älteren Unteroffiziere grinsten schadenfroh. „Wegtreten.“ Die Männer schoben sich schweigend durch die Tür. Jeremin war mit dem Unteroffizier allein. Er sagte: „Setzen Sie neue Köche, einen neuen Furier und einen neuen Rechnungsführer ein. Haben die Russen einen Vertrauensmann, der deutsch spricht?“ „Jawohl, Herr Leutnant.“
„Bringen Sie den Mann her.“ Jeremin setzte sich erschöpft an den Tisch und steckte sich eine Zigarette an. Nach wenigen Minuten kehrte Baumbach zurück. Er schob einen abgemagerten Mann mit übergroßen ernsten Augen in den Raum. „Das ist er, Herr Leutnant.“ Der Russe blieb an der Tür stehen. „Setzen Sie sich an den Tisch“, sagte Jeremin. „Sie auch, Baumbach.“ Der Gefangene kam zögernd näher und setzte sich. Baumbach zog sich einen Stuhl heran. „Können Sie deutsch lesen?“ fragte Jeremin. „Ja“, nickte der Russe. „Dann lesen Sie sich diese Vorschriften durch, die für Ihre Behandlung erlassen wurden. Sie können das Blatt mitnehmen. Hier ist eine Aufstellung der Lebensmittelmengen, die Ihnen zustehen. Wenn nur im geringsten gegen die Vorschriften verstoßen wird, oder wenn Sie die Ihnen zustehenden Lebensmittelmengen nicht erhalten, so melden Sie sich sofort bei mir.“ „Ich danke Ihnen“, sagte der Russe. „Haben Sie Wünsche oder Beschwerden, die sofort erledigt werden können?“ „Die Geiseln -“, murmelte der Russe. „Einige unserer Kameraden werden in einem Blockhaus gefesselt gehalten.“ „Das Blockhaus wird sofort geräumt. Außerdem erhalten Sie ausreichende Mengen an Holz. Es ist kalt in den Baracken. Baumbach, sorgen Sie dafür.“ Als Jeremin eine Stunde später am Stacheldrahtzaun entlangging, summte es in den Baracken der Gefangenen wie in einem Bienenstock. * Der Sonderführer Strantzki hatte ohne Jeremins Genehmigung das Lager verlassen und kam gegen Mittag beim Divisionsstab an. Nun saß er in der Schreibstube des NSFO. „Morgen früh verheizen sie wieder einen“, sagte der Schreibstubenunteroffizier halblaut und machte eine Kopfbewegung zur Tür.
Strantzki versuchte durch die halbgeöffnete Tür zu verstehen, was im Nebenzimmer gesprochen wurde. Er hörte die knarrende Stimme des Gerichtsoffiziers: „Sie kriegen Arbeit, Herr Moll. Der Gefreite Haßmann ist wegen Fahnenflucht zum Tode verurteilt. Morgen früh fünf Uhr fünfundvierzig tritt das Peloton an. Gemäß Paragraph 16 der diesbezüglichen Anweisungen hat der Verurteilte Anspruch auf den geistlichen Beistand eines Pfarrers seiner Konfession.“ „Weiß der Wehrmachtsgräberoffizier schon Bescheid?" erkundigte sich der NSFO. „WGO stellt Sarg und Transportkommando. Er weiß Bescheid.“ „Fahnenflucht“, sagte der Pfarrer Moll. „Diese Schande. Wie kann ein deutscher Soldat Fahnenflucht begehen? Gott sei seiner Seele gnädig. Aber vielleicht hätte man ihm doch Bewährung -“ „Nur keine falschen christlichen Manschetten“, knurrte der Gerichtsoffizier. „Heute letzte Ölung. Morgen früh ist er fällig. Wer desertiert, verspielt seinen Kopf. Klarer Fall. Morgen früh noch ein zackiges Vaterunser, dann Schluß mit Jubel.“ Richtig - dachte Strantzki. „Trotzdem“, begann der Pfarrer, aber die Stimme des NSFO schnitt ihm das Wort ab. „Der Mann ist nicht nur fahnenflüchtig geworden, sondern er war außerdem ein Defätist. Drei Anzeigen lagen vor wegen Wehrkraftzersetzung. Davon hatte er gehört, und deshalb türmte er. Wo kämen wir denn hin, wenn hier jeder dämlich quatschen wollte?“ „Hat er denn überhaupt geistlichen Zuspruch und Beistand gewünscht?“ fragte der Pfarrer. „Vielleicht ist er sogar ein Atheist?“ „Ganz egal, laut Paragraph 16 bekommt er Ihre Hilfe, Herr Moll, ob er sie haben will oder nicht. Niemand soll uns nachsagen, wir wären nicht korrekt“, entschied der NSFO. „Alles klar, meine Herren?“ Stühle rückten. Dann kam der Pfarrer heraus. Das silberne Kreuz auf seiner Brust klirrte leise gegen die Knöpfe der Feldbluse. Hinter ihm erschien der Kriegsgerichtsrat. Strantzki grüßte. Dann betrat er das Zimmer des NSFO. Der Hauptmann steckte sich sorgfältig eine schwarze Brasil an. Seine Hände waren gepflegt und sehr weiß. Auf der Feldbluse prangte das Parteiabzeichen.
„Na, Strantzki?“ - sagte er. „Klappt alles draußen im Lager? Setzen Sie sich.“ „Gar nichts klappt, seit wir einen neuen Kommandanten haben. Das scheint ein Verräter zu sein.“ „Wer?“ „Dieser Leutnant Jeremin. Er geht den Iwans um den Bart, als wäre er scharf auf einen Stalinorden. Vielleicht sammelt er Persilscheine, um überzulaufen.“ Der NSFO hob den langen, kahlen Schädel. Seine goldgefaßte Brille glitzerte: „Na, na, Strantzki, nun mal der Reihe nach, warum sind Sie denn auf den Mann so sauer?“ „Weil mit ihm irgend etwas nicht stimmt. Er hat die Strafbaracke räumen lassen, den Verpflegungssatz für die Russen erhöht, mich vor versammelter Mannschaft und vor den Gefangenen angeschrien und lächerlich gemacht. Außerdem hat er mich abgelöst.“ „Ach so, er hat Sie abgelöst. Und mit welcher Begründung?“ „Weil ich die Gefangenen ungerecht behandeln würde. Dabei habe ich mich genau an Ihre Instruktionen gehalten, Herr Hauptmann. Sie haben mir ausdrücklich gesagt -“ „Lassen wir das“, unterbrach ihn der NSFO, „Sie sagen, er geht den Iwans um den Bart. Hat man Ihnen vielleicht einen Pfaffen als Kommandanten geschickt?“ „Nein. Er war vorher Kompaniechef und hat eine Menge Auszeichnungen.“ „Und dann stellt er sich so mit den Russen an? Natürlich kann er Sie nicht einfach ablösen. Scheint ja ein merkwürdiger Offizier zu sein.“ Strantzki schwieg. „Hm -“, der Hauptmann blies den aromatischen Rauch seiner Brasil gegen die Decke. „Ich kann nicht gegen einen Offizier vorgehen, nur weil er Sie angebrüllt hat. Ich bin nicht sein Disziplinarvorgesetzter. Aber vielleicht verwickeln Sie den Leutnant einmal in ein politisches Gespräch, Strantzki. Natürlich vor Zeugen. Vielleicht ergibt sich daraus eine Möglichkeit, eine Handhabe für mich - Sie verstehen?“ Der Sonderführer stand auf: „Ich verstehe, Herr Hauptmann.“ „Nur mit handfestem Material kann ich mich nach Berlin wenden“, fügte der NSFO hinzu und lächelte dünn. „Mit sehr handfestem Material.“
* „Der Strantzki ist draußen und will Sie sprechen“, sagte Unteroffizier Baumbach nach dem Abendessen. „Soll reinkommen“, knurrte Jeremin. Strantzki trat ein. Er grüßte und warf einen Blick auf Baumbach. „Kann ich bitte Herrn Leutnant unter vier Augen sprechen?“ Der Unteroffizier wollte den Raum verlassen. „Bleiben Sie hier“, befahl Jeremin. „Es kann sich hier nur um ein dienstliches Gespräch handeln. Sie sind jetzt Spieß und haben ein Recht darauf, dabeizusein. Was wollen Sie, Strantzki?“ „Ich möchte Herrn Leutnant darauf aufmerksam machen, daß Sie mich nicht zum Wachdienst abkommandieren können. Ich bin Sonderführer und als Dolmetscher eingesetzt. Herr Leutnant kennen auch anscheinend nicht die allgemeinen Richtlinien für die Behandlung der russischen Gefangenen. Die Gefangenen sind unter härtesten Bedingungen zu halten. Meine Einschränkung der Lebensmittelzuteilung stellte eine Strafmaßnahme dar, weil sich die Gefangenen durchweg renitent und aufsässig zeigten. Ich bin ausdrücklich ermächtigt, derartige Strafmaßnahmen durchzuführen.“ „Von wem?“ erkundigte sich Jeremin. „Von dem NSFO des Stabes.“ „Sagen Sie mal“, Jeremin stand auf und ging auf Strantzki zu, „wer ist hier Lagerkommandant. Der nationalsozialistische Führungsoffizier beim Stab oder ich?“ „Im Augenblick Sie, Herr Leutnant, aber nach meiner Beschwerde wird man Sie sicher ablösen.“ „Meinen Sie?“ „Jawohl! Sie haben meine Autorität vor den Gefangenen untergraben. Die Disziplin des Lagers ist gefährdet. Sie haben meine vom Stabe ausgesprochene Ernennung zum Sonderführer für null und nichtig erklärt. Das können Sie gar nicht. Das kann nur meine unmittelbar vorgesetzte Dienststelle.“ „Ist Ihnen eigentlich nicht klar“, fragte Jeremin, „daß die Gefangenen buchstäblich verhungern müssen, wenn Sie ihnen die sowieso lächerlich klein bemessenen Rationen noch kürzen?“
„Das ist mir klar, und es ist durchaus im Sinne des Führers. Der NSFO beim Stabe hat mir ausdrücklich gesagt, daß eine Dezimierung der russischen Kriegsgefangenen im Interesse der deutschen Kriegsführung liege. Todesfälle brauchen nicht begründet zu werden. Sie gehen ja aus der täglichen Iststärkemeldung der Belegung hervor und werden global erwähnt.“ „Wenn Sie also auf die Idee kommen, einen russischen Gefangenen aus Langeweile totzuschlagen oder verhungern zu lassen, so ist das Ihrer Meinung nach kein Verbrechen, sondern eine Handlung, die im Interesse des Führers liegt?“ Jeremins Stimme war fast leise. „Die Art der Dezimierung wurde nicht erwähnt“, antwortete Strantzki einsilbig. „Finden Sie nicht, daß das Wort .Mord die einzig richtige Übersetzung des Wortes ‚Dezimierung’ ist, so wie Sie diesen Ausdruck verstanden haben wollen?“ „Wie darf ich das verstehen?“ fragte Strantzki lauernd. „Genau wie ich es gesagt habe. Diese Art der Dezimierung ist für mich Mord. Und wer sie befiehlt oder ausführt, ist ein Mörder.“ In den Augen des Sonderführers leuchtete Triumph. „Ich werde dem NSFO beim Stabe melden, daß Sie ihn einen Mörder genannt haben. Du hast es gehört“, er wandte sich an den Unteroffizier. „Du bist mein Zeuge.“ Baumbach erwiderte: „Tut mir leid, was soll ich gehört haben?“ Der Sonderführer kniff die Augen zusammen. „Ach so ist das. Kein Wunder, daß du nicht spurst. Eigentlich hättest du es verdammt nötig. Baumbach. Ich kenne deine Personalakte. Sei froh, daß du nicht im KZ gelandet bist, aber was nicht ist, kann ja noch werden.“ Jeremin sagte scharf: „Wir sprechen von Ihnen, Strantzki, und nicht von Unteroffizier Baumbach.“ „Warum hast du mich eigentlich zu deinem Assistenten gemacht?“ erkundigte sich der Unteroffizier. „Damit ich dich dauernd in meiner Nähe habe und beobachten kann“, sagte der Sonderführer gehässig. „Auf höheren Befehl, wenn du es genau wissen willst. Jeder beim Stab weiß doch, daß du ein Roter bist.“ Nach diesen Worten grüßte er kurz und verließ den Raum. Jeremin setzte sich und steckte eine Zigarette an. Es war sehr still im Zimmer. Man hörte nur das Holz im Ofen knacken.
„Der Strantzki ist gefährlich“, sagte Baumbach nach einer Weile. „Er hat beste Verbindungen zum Stab und ist lieb Kind beim NSFO, weil er alter PG und SA-Mann war. Wir werden Schwierigkeiten bekommen.“ „Soll ich vielleicht dulden, wie unter meinen Augen Menschen ermordet werden?“ fragte Jeremin. „Natürlich nicht“, sagte der Unteroffizier. „Ich habe, seit ich hier bin, auch hier und da für die Iwans etwas getan, wo ich konnte. Niemand hat je etwas gemerkt. Aber das wird Staub aufwirbeln! Strantzki wird Wind machen beim NSFO, und mit dem NSFO ist nicht zu spaßen. Er hat einen langen Arm und schreibt Direktmeldungen nach Berlin. Vor dem zittert sogar der Divisionskommandeur, Strantzki hat auch Verbindungen zur Gestapo. Wenigstens hat das selbst erzählt. Er soll schon, bevor er zur Wehrmacht eingezogen wurde, in seiner Heimatstadt jemand erledigt haben. Er kommt aus S.“ „Aus S.?“ Jeremin hob aufmerksam den Kopf. „Dort war ich in Garnison. Was hat der Strantzki denn dort getrieben?“ „Er soll ein Kolonialwarengeschäft haben. Angeblich hat er einen Arzt denunziert. Der Arzt hat sich später erschossen. Irgend so etwas hat Strantzki auf der Stube erzählt.“ Jeremins Hand zitterte ein wenig, als er sich eine neue Zigarette ansteckte. „Wissen Sie, wie der Arzt hieß?“ „Keine Ahnung, Herr Leutnant.“ „Danke, Baumbach, Sie können gehen.“ Der Unteroffizier nahm seine Papiere zusammen und verließ den Raum. Jeremin blieb reglos am Tisch sitzen. Langsam brannte die Zigarette ab und verwandelte sich in ein graues, ein wenig durchhängendes Stäbchen. Als die Glut Jeremins Finger erreichte, ließ er den winzigen Stummel auf die Erde fallen und trat ihn aus. Dann stützte er den Kopf in die Hände und starrte auf die rissige Tischplatte. Seine Gedanken liefen im Kreis. War es Strantzki gewesen, der Herxheimer denunziert hatte? Aber das war doch beinahe nicht möglich! Jeremin stand auf. Unruhig lief er im Raum hin und her.
* „Ich werde zu dir sein wie eine Mutter zu ihrem Kind“, sagte der Gestapobeamte freundlich. Das eine Auge des Mannes mit dem zerfetzten Gesucht starrte gequält in den auf ihn gerichteten Scheinwerfer. Der Scheinwerfer stand auf einem Tisch. „Sei ein guter Junge“, erklang wieder die sanfte Stimme aus dem Dunkel hinter dem grellen Licht. Martin schwieg. Die Fünfhundert-Watt-Glühlampe verursachte ihm rasende Kopfschmerzen. „Wo habt ihr die Ausweise her, und wem habt ihr sie gegeben?“ In der Stimme des Gestapobeamten schwang Ungeduld. „Legt mich doch um“, murmelte der Einäugige. „Aber nicht doch“, der Mann hinter dem Scheinwerfer steckte sich eine neue Zigarette an. „Den Gefallen tun wir dir nicht. Und wenn du uns noch so darum bittest. Sei doch nicht so unhöflich. Warum antwortest du nicht auf meine Fragen?“ Der Einäugige preßte die zerschlagenen Lippen zusammen. „Sicher stört das Licht“, die Stimme hatte plötzlich einen besorgten Klang. „Das können wir natürlich sofort ändern. Sicher wirst du dann auch gesprächiger werden.“ Der Gestapobeamte stand auf. Seine behaarte Hand erschien in dem grellen Licht des Scheinwerfers. Die Hand hielt einen Stechzirkel. Die Spitze des Zirkels war genau auf das eine Auge Martins gerichtet. Der Einäugige stöhnte auf. Er versuchte, mit dem Kopf der langsam näherkommenden Spitze auszuweichen. Aber die Fäuste in seinem Genick hielten eisern fest. „Bleib ruhig sitzen“, grollte der Mann hinter ihm. „Ich habe eine sehr sichere Hand“, erklärte der Gestapobeamte freundlich, „ich kann mit der Spitze des Zirkels ganz genau die Mitte deiner Pupille treffen. Willst du uns nicht lieber etwas erzählen? Wer ist Alfred Drechsler? Wer ist Franz Müßig? Wer ist Renate Stoll? Wir werden alle diese Leute verhaften müssen, wenn du nicht sprichst. Komm schon, überlege nicht lange, du hast schließlich nur noch ein Auge.“ Die Spitze des Zirkels blitzte in dem grellen Licht. Martin begann zu zittern. Er sah auf die Hand, die den Zirkel hielt. Eine schwarz behaarte Mörderhand mit brutalen kurzen Fingern und breiten Nägeln.
Martin versuchte sein Gehirn zu zwingen, an etwas anderes zu denken. An eine Frau, zu der er einmal Mutter gesagt hatte. An ihre zarten Hände, die ihn streichelten, wenn er sich wehgetan hatte. An ihre weiche, volle Stimme, an ihren Geruch... Ein flammender Blitz sprang vor ihm auf, ein wahnsinniger Schmerz zerriß sein Hirn, als sich die Zirkelspitze in seine Pupille bohrte, dann wurde der grelle Scheinwerfer immer matter und erlosch. * „Verhaftet alle Leute, die auf der Liste von dem Kerl stehen“, befahl der Gestapobeamte. „Interessant. Auch ein Frauenzimmer ist dabei. Sie wohnt bei einem Oberstabsarzt. Vielleicht hat der auch Dreck am Stekken. Na, wir werden es ja bald wissen. Halten Sie die Häftlinge ab neun Uhr morgen früh zur Vernehmung bereit.“ „Jawohl.“ Einer der beiden Männer steckte die Liste ein und nahm einen Autoschlüssel vom Tisch. „Einzelhaft oder Sammelzelle?“ „Einzelhaft natürlich.“ * „Post, Herr Leutnant“, Unteroffizier Baumbach legte den Brief auf den Tisch. Jeremin riß das Kuvert auf. Der Brief war vierzehn Tage alt. Renate schrieb von dem kleinen Peter, der sich schon bewegte. Sie zählte auf, wieviel Windeln, Jäckchen, Einschlagdecken und Strampelhosen sie besitze, und sie schilderte alle modischen Einzelheiten einer Ausfahrgarnitur in Muschelmuster. Jeremin lächelte und ließ den Brief sinken: „Wissen Sie, was ein Muschelmuster ist?“ fragte er Baumbach. Der Unteroffizier sah ihn verblüfft an. „Ein Muschelmuster -?“ „Meine Frau schreibt mir von einer Ausgehgarnitur oder Ausfahrgarnitur in Muschelmuster. Für meinen Sohn, verstehen Sie?“ „Sie haben einen Sohn?“ erkundigte sich der Korporal erstaunt.
„Ungefähr sechs Monate“, lachte Jeremin. „Allerdings sechs Monate vor seiner Geburt. Eigentlich ist ein Kind ja neun Monate alt, wenn es auf die Welt kommt.“ „So ist das also“, sagte Baumbach lächelnd, „dann wünsche ich Ihnen alles Gute dazu. Aber was ein Muschelmuster ist, kann ich Ihnen auch nicht sagen.“ Und er machte sich wieder an seine Listen. Peter - dachte Jeremin. Wie kommt sie nur auf diesen Namen. Wir haben in der ganzen Familie keinen Peter. Aber es klingt hübsch. Er faltete den Bogen zusammen und steckte ihn sorgfältig in die Brusttasche. Plötzlich hatte er Heimweh. Er ging hinaus und stapfte durch den Schnee. Es fiel ihm ein, daß er vorläufig nicht die geringste Aussicht hatte, Renate wiederzusehen. Aber in einem halben Jahr würde der kleine Peter schon da sein. Ein halbes Jahr - dachte Jeremin. Ein halbes Jahr im Kriege bedeutet einhundertzweiundachtzig Tage größtes Risiko. Plötzlich sprang ihn die Angst an. Die Angst um Renate und das Kind. Jede Stunde dieser einhundertzweiundachtzig Tage konnte den Tod bringen. Hier und in der Heimat. Und die Geburt? Würde alles glattgehen? Hatte er nicht schon oft gehört, daß Frauen in ihrer schweren Stunde verbluteten? Aber dann sah er das ruhige, beherrschte Gesicht des Vaters vor sich. Der Vater im weißen Mantel, wie er ihn so oft gesehen hatte, wenn er ihn nach der Schule von der Klinik abholte. Auf Vater konnte er sich verlassen. Es war herrlich, daß man einen Vater besaß, der ein guter Arzt und ein wunderbarer Mensch war. Die Angst ließ nach, aber das Heimweh blieb. Jeremin stand vor dem Tor des Gefangenlagers. Hinter dem Stacheldraht war tausendfältiges Heimweh. All diesen Männern ging es wie ihm. Es ging ihnen noch viel schlechter. Sie erhielten keine Post, und sie konnten auch nicht nach Hause schreiben, um ihre Familien zu trösten. Aus einer der Baracken kam ein leises melodisches Geräusch. Es klang wie eine Spieluhr. Jeremin hörte eine Weile zu, dann öffnete er das Tor und ging in das Lager. Der Posten sah ihm verblüfft nach. Es klingt wie Balalaikamusik, dachte Jeremin und blieb stehen. Dann öffnete er die Tür der Baracke und trat ein. Die Russen sprangen auf und starrten ihn an.
Einige von ihnen hielten merkwürdige Instrumente in den Händen, Zigarrenkisten, an die ein Brett genagelt war. Über die mit einem runden Loch versehene Kiste spannten sich dünne Telefondrähte. Jeremin lächelte. Er ging auf einen der Männer zu: „Balalaika?“ fragte er „Balalaika?“ Der Russe nickte. Mit einer Geste forderte Jeremin sie auf weiterzuspielen und setzte sich auf eine Kiste. Die Russen verstanden, lachten leise und flüsterten miteinander. Dann griffen einige in die Saiten der primitiven Instrumente und spielten, die anderen Männer summten die Melodien mit. Das ist schön - dachte Jeremin, sah in das Licht der flackernden Kerze und tastete nach seinen Zigaretten. Rasch zog er die Hand wieder zurück. Es fiel ihm ein, daß er nicht genug Zigaretten für alle bei sich hatte. Er beschloß, später Tabak zu verteilen, und verzichtete darauf zu rauchen. Das Summen der Männer wurde stärker, schwoll an, und dann sangen sie laut und kräftig Lieder, die er nie gehört hatte, deren Sinn er nicht verstand, deren Kraft aber auf ihn übersprang und ihn ausfüllte wie starker alter Wein. * Renate saß, unter der großen Stehlampe und träumte. Sie träumte von dem Kind in ihrem Leib. Sie sah es heranwachsen in einer Welt, in der es keine Kriege gab, sie glaubte, daß es ein Sohn sein würde, und sie empfand schon jetzt manchmal in Gedanken leichte Eifersucht, wenn sie daran dachte, daß dieser Sohn sie eines Tages um einer anderen Frau wegen verlassen würde. „Wie weit bist du mit dem Jäckchen?“ fragte die Mutter Jeremins und nahm das winzige blaue Gebilde von Renates Schoß. Sie lächelte: „Bist du nicht ein bißchen leichtsinnig? Die ganze Ausstattung in Blau? Was machen wir, wenn es ein Mädchen wird?“ „Wir werden einen Sohn haben“, antwortete Renate leise. „Ich weiß es. Vorhin hat er sich wieder bewegt. Er ist sehr temperamentvoll.“
Der alte Jeremin lachte: „Natürlich werde ich einen Enkel haben. Was sollen wir auch mit einem Mädchen, Mutter? Wir würden es nur schamlos verwöhnen. Aber einen Jungen kann man erziehen.“ „Hast du dir schon einen Namen ausgedacht?“ erkundigte sich die Mutter. Draußen heulten die Luftschutzsirenen. Renate zuckte zusammen. „Nur keine Aufregung“, der alte Jeremin stand auf. „Wir sind es doch nun schon gewöhnt. Du darfst keine Angst haben, Renate. Es schadet dem Kind.“ „Ja“, sagte Renate. Sie war blaß geworden und raffte die Häkelarbeit zusammen. „Ich kann ja im Killer weiterarbeiten, das lenkt ab.“ * Die wenigen Menschen im Keller saßen geduckt an den Wänden. Zwei Nachbarn waren noch rasch herübergekommen, denn der alte Jeremin hatte besonders starke Stützbalken einziehen lassen. In einer Ecke hockte verschüchtert ein Straßenpassant, den niemand kannte. Er war bei Beginn des Alarms rasch auf das nächste Haus zugelaufen. Von draußen hörte man dumpf die Abschüsse der Flak. Sehr leise brummte es, aber das Brummen schwoll an. „Scheint ein ziemlich großer Pulk zu sein“, sagte der Nachbar. „Wir sollten gelegentlich im Garten Splittergräben ausheben. Splittergräben sind ein besserer Schutz als ein Keller.“ „Warum haben Sie denn noch keinen ausgehoben?“ knurrte der alte Jeremin. Die ersten Bomben rauschten herab. Die Detonationen waren noch weit entfernt. Die Flak feuerte wütend. Hier im Keller hörte sich das an wie ein sommerliches Feuerwerkfinale. „Bomben gehen ja noch“, fing der Nachbar wieder an, „aber gegen Luftminen ist kein Kraut gewachsen.“ Der alte Jeremin bemerkte Renates Unruhe. „Verschonen Sie uns mit Ihrem Geschwätz“, sagte er ärgerlich. Der Mann schwieg beleidigt.
Das Dröhnen der Motoren kam näher. Es rauschte. Eine krachende Explosion ließ die Menschen im Keller zusammenfahren. Kalk rieselte von den Wänden. Die Lampe an der Decke begann zu schwingen und verlosch. Renate legte schützend ihre schmalen Hände auf den Leib. Der alte Jeremin tastete sich durch die Finsternis zu ihr und legte beruhigend seinen Arm um ihre schmalen Schultern. Er spürte, wie sie zitterte. „Bleib ganz ruhig“, flüsterte er, „gleich ist...“ Es zischte, als lasse eine gewaltige Maschine Dampf ab, im gleichen Augenblick donnerte auch schon die Explosion, splitternd knickten die Stützbalken, der alte Jeremin warf sich über Renate, eine gewaltige Last schien auf seinen Schultern zu ruhen, sein Kopf wurde von einem Eisenträger zerquetscht, bevor er den begonnenen Gedanken zu Ende denken konnte -. Wo das Haus gestanden hatte, wehte Explosionsqualm vermischt mit wirbelndem Staub. * Eine Stunde später hielt eine schwarze Limousine da, wo das Haus des Oberstabsarztes gestanden hatte. Der Mann am Steuer zog ein Stück Papier hervor. „Das muß hier gewesen sein“, sagte er zu seinem Begleiter und warf einen Blick auf die qualmenden Trümmer. „Kannst du streichen, Paul.“ Aufheulend zog der Wagen an, holperte durch kleine Trichter und verschwand hinter einer Kurve. * „Weiß Ihr Lagerkommandant, daß Sie hier sind?“ fragte der NSFO. „Nein“, brummte Strantzki. „Und wenn er eine Meldung wegen unerlaubter Entfernung gegen Sie losläßt?“ „Die anderen decken mich. Sie wollen ihm sagen, ich sei im Wald Holz holen.“
„Na schön“, der Hauptmann begann in seinem Dienstzimmer auf und ab zu wandern. „Es war nicht sehr geschickt von Ihnen, dem Leutnant zu sagen, ich hätte die Spezialbehandlung der Gefangenen angeordnet. Das war nur ein interner Hinweis an Sie. Wer war dabei, als er mich einen Mörder nannte?“ „Unteroffizier Baumbach.“ „Sonst niemand?“ „Nein!“ „Aber das ist doch alles Mist“, rief der Hauptmann erregt. „Ausgerechnet der Mann, über den Sie mir die Meldung abgegeben haben. Das ist doch kein Zeuge. Außerdem kann ich noch immer nichts unternehmen. Der Mann hat bestenfalls gegen mich polemisiert. Das ist doch kein politischer Fall. Sie müssen mit ihm über grundsätzliche politische Fragen ins Gespräch kommen, in Gegenwart eines Mannes, auf den Sie sich verlassen können. Haben Sie einen solchen Mann?“ „Jawohl, den Stabsfeldwebel Hauk.“ „Na also. Vielleicht werden Sie bei dieser Gelegenheit erfahren, warum der Leutnant mit den Russen so offensichtlich sympathisiert. Sagten Sie mir nicht, er habe den Vertrauensmann der Gefangenen die Vorschriften lesen lassen?“ „Ja!“ „Unglaublich. Damit ist natürlich disziplinarisch schon etwas anzufangen. Aber nicht politisch. Ich werde hier die richtige Stimmung machen und warte auf Ihren Bericht. Seien Sie vorsichtig. Zeigen Sie sich nachgiebig, so daß Leutnant Jeremin überhaupt mit Ihnen diskutiert, und lassen Sie sich dann die offizielle Genehmigung geben, das Lager zu verlassen. Schützen Sie irgendeinen Grund vor. Es wäre dumm, wenn mit Ihrem Bericht gleichzeitig eine Anzeige gegen Sie wegen unerlaubter Entfernung beim Stab einträfe.“ „Sie können sich auf mich verlassen.“ * Die Kasinobaracke war überheizt. Als der General endlich zur Gabel griff, atmeten die Offiziere auf und begannen auch zu essen.
Ordonnanzen schleppten Platten mit Schweinebraten heran. Auf dem Tisch standen Batterien französischen Beuteweins. Der NSFO saß neben dem IC, Major Brandel, und hob sein Glas. „Darf ich mir erlauben, Herr Major?“ Brandel sah verblüfft auf. „Was ist denn mit Ihnen los? Ich habe doch keinen Geburtstag.“ „Ich weiß, ich trinke auch nur auf unsere Zusammenarbeit.“ „Wollen Sie in die Abwehr hinüberwechseln?“ erkundigte sich der Major. Der Hauptmann lächelte: „Eigentlich haben wir doch sehr ähnliche Aufgaben. Sie sorgen für die Abwehr des äußeren Feindes und ich für die Abwehr und Entlarvung des inneren Feindes. Ein guter Nationalsozialist ist immer treu. Ein schlechter Nationalsozialist oder gar ein Gegner der Partei ist auch anfällig für zwielichtige Verbindungen.“ „So, so“, brummte der Major unbehaglich. „Wenn Sie vom Parteibuch ausgehen, so werden Sie im Offizierskorps nur verdammt wenig PGs finden. In Friedenszeiten pflegte man Politik und Soldatentum streng zu trennen.“ „Ich erwarte auch keine Parteigenossen, sondern Nationalsozialisten hier zu finden“, erklärte der NSFO sanft. „Oder können Sie sich vorstellen, daß ein guter Soldat, ein guter Offizier der großdeutschen Wehrmacht ein schlechter Nationalsozialist sein könnte? Das ist eine Frage der Gesinnung und nicht eine Frage des Parteibuchs. Der Führer des Volkes ist auch der Führer der Armee. Schließlich tragen wir doch alle den Hoheitsadler mit dem Hakenkreuz auf der Brust. Und das Hakenkreuz ist ursprünglich ein Parteiemblem.“ „Natürlich“, beeilte sich der Major zu versichern. Wieder griff der Hauptmann zu seinem Glas: „Ich glaube, Herr Major, ich habe etwas für Sie. Es gibt im Divisionsbereich einen jungen Offizier, der augenblicklich Kommandant eines Kriegsgefangenenlagers ist. Aus sehr zuverlässiger Quelle habe ich erfahren, daß er mit den Gefangenen konspiriert, ja - er hat sogar dem Vertrauensmann der Russen Einsicht in Heeresdienstvorschriften gegeben.“ „Einblick in Heeresdienstvorschriften?“ Der Major legte das Besteck zur Seite. „Ist der Mann verrückt geworden?“ „Das glaube ich nicht“, lächelte der NSFO, „ich glaube eher, daß er einen ganz bestimmten Zweck verfolgt.“
„Welchen Zweck?“ „Nun -“, der Hauptmann zuckte die Achseln, „vielleicht versucht er, sich ein gutes Alibi bei den Russen zu verschaffen, oder er zweifelt am Endsieg. Vielleicht aber unterhält er schon länger gewisse Verbindungen und ist ein Agent?“ „Dann würde er niemals so unvorsichtig sein“, sagte der Major. „Anscheinend war doch ein Zeuge zugegen, als er dem Gefangenen die Vorschriften zeigte. Um welche Vorschriften handelt es sich überhaupt?“ Der Hauptmann bemerkte, daß er einen Fehler gemacht hatte. „Nach meinen Informationen handelte es sich um die Vorschriften über die Behandlung von Kriegsgefangenen. Aber möglich, daß er dem Russen auch noch andere Unterlagen gezeigt hat.“ „Na, wenn's nur die Vorschriften für die Behandlung der Kriegsgefangenen waren, so ist das zwar überflüssig, ungeschickt und gegebenenfalls disziplinarisch zu verurteilen, aber kein Beinbruch. Deshalb braucht sich meine Abteilung nicht damit zu beschäftigen.“ „Gewiß, aber das ganze Verhalten des Leutnants ist sehr merkwürdig“, fuhr der Hauptmann rasch fort. „Er kommt den Gefangenen in auffälliger Weise entgegen. Er verschafft ihnen alle möglichen Vergünstigungen, und - gewisse Anzeichnen sprechen dafür, daß er ein Gegner unserer Weltanschauung ist. In Gegenwart zweier Untergebener äußerte er defätistische Meinungen, die schon fast als Wehrkraftzersetzung gelten könnten.“ Der Major löffelte verdrossen sein Kompott und brummte: „Das ist Ihre Sache und die Sache des Gerichtsoffiziers, vorausgesetzt, jemand reicht einen Tatbericht ein. Es hat aber nichts mit Abwehrfragen zu tun. Wenn Sie mir vernünftige Anhaltspunkte geben, daß er wirklich mit den Russen konspiriert, daß gewisse Verbindungen bestehen, so ist das etwas anderes. Auf jeden Fall werde ich mir seine Personalakte ansehen.“ „Tun Sie das“, meinte der Hauptmann. „Sie liegt bereits bei mir. Ich schicke sie Ihnen heute nachmittag rüber.“ * Nach dem Essen näherte sich der NSFO dem General.
Der General saß in einer Ecke, rauchte und studierte eine drei Wochen alte Zeitung. In seiner Nähe unterhielten sich der Divisionsadjutant und ein Oberst. Der Hauptmann wartete, bis der General die Zeitung zusammenfaltete. Ich muß ihn auf die Sache vorbereiten, dachte er. Es ist besser, er hat den Namen Jeremin schon einmal gehört, wenn er den Tatbericht bekommt. Ich kann ihn nicht übergehen. „Na?“ fragte der General und sah auf, „Sie stehen ja da herum wie bestellt und nicht abgeholt.“ „Wenn Herr General erlauben, möchte ich Herrn General mit einer etwas unangenehmen Angelegenheit vertraut machen.“ „Sprechen Sie mit meinem Adjutanten“, der General stand auf. „Unangenehme Angelegenheiten erledigt er.“ „Es handelt sich um einen Offizier“, sagte der Hauptmann schnell. Der General hob die borstigen Augenbrauen „Aus meinem Stabe?“ „Nein, um den Kommandanten des STALAG-Lagers 15, einen gewissen Leutnant Jeremin. Er konspiriert mit den Russen.“ „Erstens“, sagte der General, „glaube ich das nicht, und zweitens ist das Sache des IC. Wieso stecken Sie eigentlich Ihre Nase in Dinge, die Sie nichts angehen, und wo beziehen Sie Ihre Weisheiten her?“ „Es gibt nichts, was mich nichts angeht“, der SFO nahm Haltung an, „bitte Herrn General, mich richtig zu verstehen. Aber meine Aufgaben vertragen keine Eingrenzung.“ „Ihre Aufgaben“, wiederholte der General spöttisch. „Eine Planstelle mit Ihren Funktionen ist ein Novum in der Armeegeschichte aller Zeiten.“ „Aber notwendig“, setzte der Hauptmann hinzu „Ich bitte Herrn General, doch zu begreifen, daß in diesem Kriege nicht nur Tapferkeit und Schlachtenglück, sondern auch die fundierte Weltanschauung und Überzeugung des einzelnen entscheidend sind. Der Soldat kämpft diesmal mit äußeren und inneren Waffen.“ „Etwas Ähnliches behauptet der Divisionspfarrer auch“, erwiderte der General, „dabei steht Gott bekanntlich doch auf seiten der stärkeren Bataillone.“ Der Hauptmann versuchte es noch einmal: „Herr General werden mir zugeben, daß ein guter deutscher Offizier auch ein guter Nationalsozialist sein muß, im Herzen meine ich. Leutnant Jeremin ist nach meinen
Informationen ein Feind des Nationalsozialismus, und als solcher ein Feind Deutschlands. Herr General sind doch auch ein guter Nationalsozialist. Herr General stehen hier doch für Führer und Volk.“ „Na ja“, der General kramte unbehaglich nach seiner Zigarrentasche. „Also was wollen Sie nun mit Ihrem Leutnant Jeremin?“ „Meine Untersuchungen sind noch nicht abgeschlossen. Aber bald werde ich sehr genau informiert sein. Die Sache muß nach Berlin gemeldet werden. Der IC ist bereits verständigt. Ich wollte Herrn General nur vororientieren. Es handelt sich immerhin um einen Offizier.“ „Schön, ich habe die Sache zur Kenntnis genommen.“ Der Hauptmann grüßte und ging aus der Kasinobaracke. Wenn Strantzki spurt, dachte er, dann ist dieser Jeremin reif. * Jeremin saß mit Baumbach in der Schreibstube und zeichnete die Routineberichte ab. Ein Gefreiter holte die Papiere. Der Unteroffizier stand auch auf. „Bleiben Sie doch noch ein bißchen“, bat Jeremin, „oder haben Sie etwas vor?“ „Was soll ich vorhaben auf einem Stützpunkt im karelischen Urwald?“ fragte Baumbach und setzte sich wieder. Jeremin holte zwei Trinkbecher und eine Flasche Schnaps. „Prost Baumbach.“ „Prost Herr Leutnant.“ Sie tranken. „Hat der Strantzki schon eine Meldung geschrieben?“ fragte der Unteroffizier. „Bis jetzt nicht.“ Baumbach fuhr über sein stoppeliges Kinn. „Ich glaube, der Kerl hat irgend etwas vor. Er tuschelt dauernd mit dem Hauk herum. Von einem Kameraden erfuhr ich, daß er eine lange Meldung über mich geschrieben hat. Ich habe keine sehr gute Nummer beim NSFO. Ich werde mehr denn je als politisch unzuverlässig gelten. Man wird mir ein Frontkommando verpassen oder irgendein Verfahren anhängen. Bei uns alten Sozialde-
mokraten ist das einfach. Wir sind schnell bei den 999ern. Dann werden wir auf Himmelfahrtskommandos verheizt.“ „Langsam, ich bin ja auch noch da“, sagte Jeremin. „Ich glaube, daß Sie versuchen würden, mir zu helfen“, meinte Baumbach müde. „Aber das hat nicht viel Sinn. Sie werden nichts für mich tun können. Wenn die mir etwas anhängen wollen, bringt sie nichts davon ab.“ „Was soll man Ihnen denn anhängen?“ fragte Jeremin. „Sie haben meine Befehle ausgeführt. Sonst nichts.“ „Ich bin aber kein Nazi“, sagte der Unteroffizier. „Man weiß das, und man wartet auf eine Gelegenheit, mir das Genick zu brechen. Nun ist die Gelegenheit da, weil ich offen mit Ihnen sympathisiere.“ „Ich bin auch kein Nazi“, versicherte Jeremin. „Eben“, nickte Baumbach. „Den Eindruck hat Strantzki auch, und er wird das weitermelden. Nun, Sie sind Offizier. Bei Ihnen werden es die Burschen vielleicht nicht ganz so leicht haben.“ „Ich helfe Ihnen, Baumbach. Verlassen Sie sich drauf. Wenn Strantzki eine Meldung einreicht, fahre ich mit dieser Meldung persönlich zum Stab. Machen Sie sich keine Sorgen.“ * Aber Jeremin machte sich selbst viele Sorgen über das, was werden sollte, und immer dringender stieg der Wunsch in ihm auf, sich einmal mit einem der sowjetischen Gefangenen zu unterhalten. Eines Abends ließ er sich den Vertrauensmann der Gefangenen rufen. Nach wenigen Minuten trat der Russe in die Baracke und blieb abwartend an der Tür stehen. Jeremin erhob sich. Er fühlte sich unbehaglich und der Situation nicht ganz gewachsen. Er kam sich wie ein Schuljunge vor. „Setzen Sie sich bitte“, Jeremin wies auf einen Stuhl, „wenn Sie Zeit haben, möchte ich mich mit Ihnen ein wenig unterhalten.“ Zögernd kam der Russe näher. Jeremin fühlte, wie dumm die Einleitung gewesen war. Natürlich hatte ein Gefangener Zeit. „Bitte setzen Sie sich.“ Er ging zum Schrank, nahm einen Trinkbecher heraus, füllte ihn mit Schnaps und stellte ihn vor den Russen.
„Danke“, sagte der Mann. „Aber verstehen Sie bitte, daß ich keinen Alkohol trinken kann. Ich würde ihn in meinem Zustand nicht vertragen.“ Jeremin schob den Becher zur Seite. „Rauchen Sie?“ „Ja, danke.“ „Haben Sie nun im Lager alles, was Sie brauchen?“ „Ja, und wir danken Ihnen dafür. Wir alle wissen, was Sie für uns getan haben.“ „Ich habe lediglich dafür gesorgt, daß Sie erhalten, was Ihnen zusteht“, sagte Jeremin steif. „Das ist meine Pflicht als Offizier.“ „Sie sind mehr als ein Offizier, Sie sind ein Mensch“, die großen brennenden Augen des Russen waren auf Jeremin gerichtet. „Unteroffizier Baumbach ist auch ein Mensch. Dafür danken wir Ihnen. Wir werden es nie vergessen. Vielleicht können wir es später einmal gutmachen.“ „Sie sprechen so, als seien Sie davon überzeugt, den Krieg zu gewinnen“, meinte Jeremin. „Wir werden den Krieg gewinnen.“ Auf dem hageren Gesicht des kahlgeschorenen Mannes erschien ein ruhiges Lächeln. „Wir wissen es. Und deshalb ertragen wir alles und verzweifeln nicht.“ „Und dann werden Sie sich an uns rächen, nicht wahr?“ sagte Jeremin „und Sie werden Grund dazu haben.“ „Ja, wir hätten Grund“, antwortete der Russe. „Aber wir werden es nicht tun. Gewiß, Schuldige wird man bestrafen, sehr hart. Aber nicht ein ganzes Volk. Es wäre ein schlechter Dienst am Sozialismus, für dessen Sieg wir kämpfen, wenn wir ein Volk zerschlagen würden, das gezwungen wurde, für den Imperialismus zu kämpfen. Man würde uns hassen und somit auch unsere Idee. Den Imperialismus besiegen heißt aber, die Menschen von der Richtigkeit unserer Auffassungen zu überzeugen.“ „Und Sie glauben, daß Ihnen das gelingen wird?“ fragte Jeremin. „Wir wissen auch das, weil es ein Teil der geschichtlichen Entwicklung ist, die die Welt durchmacht.“ Woher nimmt er diese Zuversicht, fragte sich Jeremin, und laut fragte er: „Denken alle in den Baracken so wie Sie?“ „Ja, alle. Wir sind eine große Gemeinschaft, und wenn einer der Genossen mal den Mut verliert, helfen die anderen ihm darüber hinweg.
Ihre Leute machen es uns ja leicht, zu sterben. Aber wir wollen leben, weil man uns noch brauchen wird.“ Jeremin schwieg. Dann stand er auf. „Bitte kommen Sie immer zu mir, wenn Sie glauben, daß ich Ihnen und Ihren Kameraden helfen kann.“ „Ich danke Ihnen im Namen meiner Freunde. Bitte, bringen Sie mich zum Lager zurück. Ich darf nicht allein gehen.“ Die beiden Männer verließen den Raum. * Am Nachmittag des anderen Tages meldeten sich Strantzki und Stabsfeldwebel Hauk bei Jeremin. „Was ist los?“ fragte der Leutnant kurz. „Wir wollten uns mit Ihnen aussprechen“, begann Strantzki und machte einen niedergeschlagenen Eindruck. „Wir haben uns die Sache überlegt. Herr Leutnant hatten vielleicht doch recht.“ Jeremin freute sich. Er vergaß, was Baumbach über den Sonderführer angedeutet hatte. Man mußte den Leuten nur mit gutem Beispiel vorangehen. „Nehmen Sie Platz“, sagte er. „Sie haben also eingesehen, daß russische Gefangene auch Menschen sind. Das freut mich.“ „Ja“, nickte Strantzki. „Man weiß ja auch nie, wie alles einmal läuft.“ „Was meinen Sie?“ fragte Jeremin. „Nun“, Strantzki zuckte die mageren Achseln, „wir sind ja unter uns, Herr Leutnant. Ich meine, schließlich ist es ja noch gar nicht heraus, ob wir diesen verdammten Krieg gewinnen.“ Stabsfeldwebel Hauk starrte unbehaglich aus dem Fenster und schwieg. „Warum zweifeln Sie daran?“ erkundigte sich Jeremin. „Ich zweifle nicht daran“, meinte Strantzki rasch, „aber man muß doch mit der Möglichkeit rechnen.“ „Ach so“, Jeremin steckte sich enttäuscht eine Zigarette an, „deshalb haben Sie Ihren Fehler plötzlich eingesehen.“ „Nicht nur deshalb, aber manchmal gewinnt man den Eindruck, daß wir für dumm verkauft werden, Herr Leutnant.“
„Ist das Ihr Ernst?“ fragte Jeremin. „Ich dachte, Sie sind ein guter Nationalsozialist.“ „Ich war immer ein guter Nationalsozialist. Das ist schon richtig“, beteuerte der Sonderführer, „aber es gibt da so viele Dinge, mit denen man plötzlich nicht mehr fertig wird. Ich habe auch darüber nachgedacht, was Sie mir über den NSFO sagten. Es ist wirklich Mord, was hier mit den Gefangenen angestellt wurde. Sie hatten ganz recht. Und sehen Sie“, Strantzki sah den Offizier treuherzig an, „das alles verwirrt uns alte Parteigenossen.“ Jeremin schwieg und rauchte. Vielleicht meinte es der Mann wirklich ehrlich. Vielleicht konnte man wirklich offen mit ihm sprechen. „Wie das Ende des Krieges aussehen wird, das wissen wir noch nicht. Die Russen glauben auch, daß sie den Krieg gewinnen“, sagte er vorsichtig. „Ich habe gestern abend mit einem von ihnen gesprochen. Sie sind überzeugt von ihrer Idee. Sie glauben, daß die Menschheit sich in einem notwendigen Entwicklungsprozeß befindet, aus den ihre Sache siegreich hervorgehen wird.“ „Glauben Sie das auch?“ fragte Strantzki rasch. „Man muß sich mehr mit den Dingen beschäftigen, um sich dazu äußern zu können“, antwortete Jeremin. „Eines ist allerdings sicher, wir haben diesen Krieg gewollt, und wir haben ihn angefangen. Nicht die anderen. Diese Verantwortung werden wir vor der Geschichte nie loswerden. Wir, die Soldaten, verteidigen nicht unsere Heimat, sondern wir erobern auf Befehl der Männer, die behaupten, den Willen des Volkes zu repräsentieren. Dieser Krieg ist das, was man in der Geschichte einen Raubkrieg nennt. Er war zu vermeiden.“ „So!“ Strantzki stand auf, „es war sehr interessant, das von Ihnen zu hören, Herr Leutnant. Ihre Ausführungen waren ungemein lehrreich.“ Betroffen von dem veränderten Ton blickte Jeremin auf. Als er in das höhnische Gesicht blickte, begriff er. „Und ich glaubte, Ihnen seien ehrlich Zweifel gekommen“, sagte er leise. „Stimmt“, lächelte der Sonderführer dünn, „aber ich hatte gehofft, von meinem Vorgesetzten in meinem Glauben an den Endsieg bestärkt zu werden. Ich hatte gehofft, daß Sie, Herr Leutnant, meine Zweifel zerstreuen könnten. Ich kam vertrauensvoll zu Ihnen. Sie aber haben mein Vertrauen auf das gröbste enttäuscht. Sie haben versucht, mich defätistisch zu beeinflussen. Nun ist mir alles klar. Ich bitte um Genehmigung,
das Lager verlassen zu dürfen, um beim Divisionsstab meine Meldung persönlich abgeben zu können.“ Jeremin war erblaßt. Ihm wurde erst jetzt das ganze Maß der Gemeinheit bewußt, mit der er hier von Strantzki provoziert worden war. Hauk hatte alles mit angehört. Baumbach hatte recht gehabt. Strantzki war ein widerlicher Denunziant. „Wenn Sie eine Meldung schreiben wollen, so steht dem nichts im Wege“, sagte er scharf. „Aber das Lager verlassen Sie nicht. Versuchen Sie es trotzdem, so nehme ich Sie wegen unerlaubter Entfernung von der Truppe fest und schreibe einen Tatbericht. Im übrigen sind Sie in meinen Augen ein widerliches Schwein. Machen Sie, daß Sie hinauskommen.“ „Sie weigern sich, mir die Genehmigung zu einer persönlichen Meldung beim Stabe zu erteilen?“ fragte Strantzki wütend. „Ihre schriftliche Meldung wird ja nicht weniger persönlich sein“, höhnte Jeremin. „Es steht Ihnen derselbe Dienstweg zur Verfügung, wie jedem anderen Soldaten. Sie können die Meldung ja gleich mit unterschreiben“, wandte er sich an Hauk. „Sie spielen doch wohl ohnehin den Zeugen in Sachen Jeremin, nicht wahr?“ Hauk trat unruhig von einem Fuß auf den anderen und schwieg. „Also, meine Herren, auf was warten Sie noch?“ Strantzki und Hauk grüßten, dann verließen sie die Baracke. Jeremin setzte sich müde an den rohen Holztisch. Er ärgerte sich maßlos über seine Dummheit. Wie konnte er auf diesen schmierigen kleinen Denunzianten hereinfallen. Aber wenn Strantzki wirklich am Tode Herxheimers schuld war, würde er mit ihm abrechnen. Er mußte Gewißheit haben, und er würde den Sonderführer niemals aus dem Lager lassen, bevor er genau wußte, was damals in S. geschehen war. * Am nächsten Morgen gegen zehn Uhr betrat Baumbach die Baracke Jeremins. „Herr Leutnant, der Strantzki ist abgehauen“, sagte er rasch. „Er ist zum Stab. Er hat überall erzählt, eine Beschwerde hätte keinen Sinn. Herr Leutnant würden die Beschwerde ja doch nicht weitergeben. Er wollte seine Meldung persönlich abgeben.“
„Wann ist Strantzki weggegangen?“ Jeremin sprang auf. „Vor einer Viertelstunde ungefähr. Der Stab ist etwa fünfzehn Kilometer weiter hinten.“ „Er kommt doch nie durch den hohen Schnee“, sagte Jeremin. „Er braucht ja mindestens zwanzig Stunden.“ „Er hat Skier mitgenommen“, erklärte Baumbach. „Bis heute abend wird er hinten sein.“ „Haben Sie Skier?“ fragte Jeremin. „Wir haben alle Skier“, antwortete Baumbach. „Das gehört zur Ausrüstung des Lagerpersonals. Soll ich sie Ihnen holen?“ „Bitte!“ Während Baumbach die Skier holte, dachte Jeremin nach. Strantzki hatte gegen seinen Befehl das Lager verlassen. Selbstverständlich hätte Jeremin die Meldung weitergereicht, aber mit seinem Kommentar versehen. Nun würde Strantzki beim Stab die Vorgänge so schildern, wie er es für richtig hielt. Auch das wäre Jeremin noch gleichgültig gewesen. Aber da war die Sache mit Renates Vater. Wenn Strantzki zum Stab kam, war er aus Jeremins Gesichtskreis verschwunden. Jeremin würde nie erfahren, ob Strantzki wirklich der Denunziant Herxheimers gewesen war oder nicht. Baumbach brachte die Skier. Jeremin fuhr über die glatten gewachsten Flächen, zog seinen Mantel an und hing die Maschinenpistole um. „Wollen Sie ein Kommando mitnehmen?“ fragte Baumbach. „Nicht nötig.“ Jeremin verließ die Baracke, schnallte die Skier an und schlug den Weg zum Stab ein. Es war ein klarer Tag. Der Schnee war verharscht, und bald hatte Jeremin die Spur Strantzkis gefunden. Da er in den festen Rillen des Sonderführers dahinglitt, kam er schneller voran als dieser. Jeremin schwitzte. Weißlich wehte sein Atem durch die frostklare Luft. Weit ausholend glitt er durch den Wald. Birkhühner flatterten auf und strichen über den Wipfeln der Bäume dahin. Dieses Schwein, dachte Jeremin und fühlte, wie sein Herz hämmerte, dieses verdammte Schwein! Ich muß ihn einholen. Ich werde ihn zurückbringen, aber erst, nachdem ich weiß, ob er der Mann ist, der Herxheimer denunzierte. Gegen Mittag sah er Strantzki.
Der Sonderführer hatte die Skier abgeschnallt, saß mit dem Rücken zu Jeremin auf einem Baumstumpf und rauchte. Der Leutnant glitt fast lautlos heran und blieb stehen. „Na, Strantzki“, sagte er, „wie man sich so trifft.“ Der Sonderführer sprang auf und fuhr herum. Seine Hand zuckte zur Pistolentasche. „Lassen Sie das“, befahl Jeremin. Sein Finger lag am Abzugshebel der Maschinenpistole. Strantzki starrte ihn gehässig an. „Eigentlich schade, daß wir uns so schlecht verstehen“, meinte Jeremin, „dabei kommen wir beinahe aus demselben Ort.“ Der Sonderführer machte ein erstauntes Gesicht. Er hatte nicht erwartet, daß der Leutnant in einem versöhnlichen Ton mit ihm sprechen würde. Vielleicht hatte der Kerl Angst bekommen? Vielleicht wollte er einlenken. „Ich bin aus S.“, sagte er kurz. „Ich war dort in Garnison“, Jeremin gelang sogar ein dünnes Lächeln. „Hübsche Stadt. Hatten Sie dort nicht einen Kolonialwarenladen?“ „Stimmt“, antwortete Strantzki verblüfft. „Kannten Sie einen Doktor Herxheimer?“ Aha - dachte der Sonderführer. Daher weht der Wind. Irgend jemand hat ihm von der Geschichte erzählt. Darum hat er Angst. Er glaubt, daß ich gute Beziehungen zur Gestapo habe. „Ich kannte einen Doktor Herxheimer“, sagte Strantzki. „Er war mit einer Judensau verheiratet. Die türmt aber rechtzeitig in die Schweiz und danach seine Tochter. Er wäre sicher auch abgehauen, aber ich habe dafür gesorgt, daß er nicht mehr herauskam. Immerhin hat der Hund einen Gestapobeamten umgelegt, bevor er sich selbst eine Kugel gab. Das kommt davon, wenn man so human mit dem Gesindel umgeht.“ Jeremin schwieg. Er sah den Mann an, der da vor ihm stand, breitspurig, mit einem überlegenen Grinsen. Eine ungeheure Wut stieg in ihm auf. „Doktor Herxheimer war mein Schwiegervater“, sagte er mit spröder Stimme. Das Grinsen erstarb auf Strantzkis wulstigen Lippen. Jeremin beobachtete den Mann. Er glaubte fast zu sehen, wie es hinter der Stirn arbeitete.
„Was wollen Sie von mir“, fragte der Sonderführer unsicher. „Ich sagte, Doktor Herxheimer war mein Schwiegervater. Sie sind an seinem Tod schuld, Strantzki.“ „Es war Selbstmord.“ „Wir wollen das Thema fallen lassen“, Jeremins Stimme war kalt. „Sprechen wir von Ihnen.“ „Von mir?“ „Sie haben entgegen meinem ausdrücklichen Befehl Ihre Unterkunft, das Lager und damit die Truppe verlassen. Befehlsverweigerung und unerlaubte Entfernung von der Truppe im Frontbereich. Also Fahnenflucht. Wissen Sie, was darauf steht?“ „Lächerlich“, knurrte Strantzki, „ich befinde mich lediglich auf dem Wege zu meiner vorgesetzten Dienststelle. Inwieweit Sie mein Disziplinarvorgesetzter sind, wird sich bald herausstellen.“ „Schnallen Sie Ihre Skier an und nehmen Sie Richtung auf das Lager. Ich werde Ihnen folgen.“ „Nein“, stieß der Sonderführer heftig hervor, „ich gehe jetzt zum Stab. Wenn Sie wollen, können Sie ja mitkommen.“ „Das war die zweite Befehlsverweigerung“, sagte Jeremin schneidend. „Ist Ihnen bekannt, daß jeder Vorgesetzte an der Front den Gehorsam seiner Untergebenen notfalls mit der Waffe erzwingen kann?“ „Sie sind nicht mein Vorgesetzter“, schrie Strantzki. „Ich bin Sonderführer und unterstehe direkt...“ „Strantzki“, sagte Jeremin leise, „ich habe Ihnen genug Zeit gelassen.“ „Sie sind mit einer Halbjüdin verheiratet!“ gellte die Stimme des Sonderführers durch den stillen Wald. „Von Ihnen lasse ich mir überhaupt nichts befehlen. Wenn das der NSFO erfährt, sind Sie sowieso fertig. Ich habe Sie in der Hand! Sie werden mich noch anbetteln, nur damit ich meine Schnauze halte.“ „Nein“, sagte Jeremin, „das werde ich nicht. Und Sie werden nie mehr aus diesem Wald herauskommen. Haben Sie mir noch irgend etwas mitzuteilen?“ Der Sonderführer starrte auf die Maschinenpistole. Plötzlich schien er zu begreifen. Sein Unterkiefer begann zu zittern. Er wurde blaß. „Das werden Sie nicht wagen“, stammelte er. „Das ist Mord.“
„Das ist Dezimierung eines verdammten Nazischweins“, erklärte Jeremin. Seine Augen wurden eng. „Außerdem bin ich militärgesetzlich im Recht. Befehlsverweigerung. Fahnenflucht. Was wollen Sie mehr -“ Die Maschinenpistole knatterte trocken. Strantzki krümmte sich, als habe man ihm in den Leib getreten. Ohne einen Laut von sich zu geben, fiel er vornüber in den Schnee, zuckte noch einmal und blieb regungslos liegen. Jeremin sah auf ihn herab. Es hatte leise zu schneien begonnen. Die Flocken fielen auf Strantzkis Rücken, und nach wenigen Minuten lag eine dünne Schneeschicht auf dem Tuch des Mantels. Jeremin seufzte und hing die Maschinenpistole um. Seine Hand zitterte nicht, als er sich eine Zigarette ansteckte. Tief zog er den Rauch in die Lungen. Langsam drehte er sich um und kehrte zum Lager zurück. *
Gegen Morgen griffen die Partisanen an. Jeremin fuhr aus dem Schlaf, als er das Hämmern der Maschinengewehre von den Türmen hörte. Durch die Scheibe der Baracke ergoß sich das fahle Licht grüner Leuchtkugeln. Er sprang auf, fuhr in seine Filzstiefel und griff nach der Maschinenpistole. Vorsichtig öffnete er die Tür. Über den Platz zwischen den Baracken huschten Gestalten. Handgranaten detonierten, er sah, wie der Posten vor dem Tor des Lagers in den Schnee schlug. Die Gefangenen drängten schreiend über seine Leiche hinweg. Aus der Küchenbaracke stieg eine steile Flamme empor. Baumbach kam aus dem Nebenraum. Er keuchte: „Wir müssen türmen, Herr Leutnant. Sie werden keinen von uns am Leben lassen.“ „Doch“, rief Jeremin, „ich muß mit dem Vertrauensmann der Gefangenen sprechen.“ Er stieß die Tür auf und lief hinaus auf den Platz. Ein Mann in einer Pelzmütze hob seine Maschinenpistole mit dem runden Magazin. „Nein“, schrie Jeremin, „ich will mit einem von euch sprechen. Fragen Sie doch den ...“ Er brach in dem Feuerstoß zusammen. Ein Gefangener lief auf den Mann mit der Pelzmütze zu und rief etwas. Der Mann ließ die Waffe sinken. „Kann ich doch nicht wissen. Brüderchen“, sagte er. Sie beugten sich über den Leutnant. „Er lebt noch“, der Gefangene richtete sich auf. „Wir werden ihn mitnehmen.“