Geister-
Krimi � Nr. 126 � 126
Andrew Hathaway �
Blutiger Mond � über Wales �
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»Was machst du da?« rief Amelie...
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Geister-
Krimi � Nr. 126 � 126
Andrew Hathaway �
Blutiger Mond � über Wales �
2 �
»Was machst du da?« rief Amelie Fuller erschrocken, als sie das Wohnzimmer betrat und ihren Mann am Fenster entdeckte. Ihre Hand griff nach dem Lichtschalter, die Deckenlampe flammte auf. »Lösch das Licht!« zischte Tom Fuller und versteckte sich rasch hinter dem Vorhang. »Er soll mich nicht sehen können!« Amelie Fuller stieß einen unterdrückten Schrei aus und knipste das Licht aus. »Bist du lebensmüde?« jammerte sie. »Wie kannst du dich in einer Vollmondnacht am Fenster zeigen? Zwei Menschen mußten schon sterben, und er wird sich noch weitere Opfer holen. Willst du der Nächste sein?« Ungeachtet der Warnungen seiner Frau stellte sich Tom Fuller wieder an die Glasscheibe und spähte angespannt nach draußen. Ihr Haus lag außerhalb des kleinen Dorfes Peareswood in Wales, nahe genug, um die Lichter der Häuser zu sehen, weit genug, um alles beobachten zu können, was sich drüben am Waldrand regte. »Er muß kommen«, flüsterte Tom Fuller, zitternd vor Aufregung, Angst und Neugierde. »Ich bin ganz sicher, daß er sich zeigt, wenn der Mond aufgeht! Du wirst es schon sehen, Amelie!« Amelie Fuller bekreuzigte sich hastig. »Ich will gar nichts sehen«, meinte sie mit einem leisen Schluchzen. »Zwei mußten sterben. Die Leute können glauben, was sie wollen, aber wir wissen, daß er es getan hat. Er wird…« »Still!« keuchte Tom Fuller. Augenblicklich senkte sich Totenstille über das einsam gelegene Haus. Langsam stieg eine tiefrote Scheibe hinter den Wipfeln der nachtschwarzen Bäume hoch. Der blutige Mond über Wales!
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»Es ist schon spät«, stellte Mary Blatcher stirnrunzelnd fest. Unschlüssig stand sie vor dem gedeckten Tisch und warf einen Blick auf die Wanduhr. »Beinahe Mitternacht! Wo dein Bruder nur bleibt!« »Ich glaube, du kannst die Teller abräumen«, entschied Harold Blatcher. »Wenn Alf nicht pünktlich zum Abendessen erscheint, kann man ihm nicht helfen. Dann muß er eben sehen, wo er etwas zu beißen bekommt. Er muß schließlich Rücksicht nehmen, wenn er schon bei uns lebt!« »Nun sei nicht gleich so wütend, Harold«, versuchte Mary, ihren Mann zu beruhigen. »Alf wird schon einen Grund haben, warum er noch nicht hier ist. Vielleicht ist etwas mit seinem Motorrad!« »Möglich«, lenkte Harold Blatcher ein. »Trotzdem brauchst du um diese Zeit das Essen nicht mehr für ihn warmzuhalten.« Mary Blatcher rumorte in der Küche, während ihr Mann noch einmal die Zeitung durchblätterte. Sie bewohnten ein Haus im Zentrum von Peareswood, geräumig genug, daß Harolds Bruder bei ihnen leben konnte. Bisher war es wegen Alf noch nie zu Reibereien gekommen, und Mary hoffte, daß es so bleiben würde. »Über die beiden Toten steht ein langer Artikel in der Zeitung«, rief Harold zu seiner Frau in die Küche hinüber. »Etwas Wichtiges?« rief Mary Blatcher zurück. Harold überflog den Bericht. »Man vermutet erstmals, daß es sich auch um einem Wolf handeln könnte und nicht um einen streunenden Hund, wie man zuerst meinte«, gab er dann in geraffter Form wieder. »Aber sicher ist sich der Reporter auch nicht, weil es einfach keine Wölfe bei uns gibt.« Mary Blatcher erschien im Wohnzimmer, die Hände an einer Schürze trockenreibend. »Warum schreibt er dann von einem 4 �
Wolf, wenn es keinen gibt?« fragte sie mit einem ratlosen Kopfschütteln. »So ein Unsinn!« »Die schweren Verletzungen der Leichen«, hielt ihr Harold entgegen. »Sie haben…« Er stockte und neigte lauschend den Kopf. Das Fenster stand einen schmalen Spalt offen, obwohl der September in diesem Jahr kühl und windig war. Von draußen wehte ein schwacher Ton herein. »Was war das?« fragte Harold Blatcher aufgeschreckt. »Das hörte sich an wie… wie…« Er suchte nach einem Vergleich, und ehe ihm etwas Passendes einfiel, erklang das ferne Heulen ein zweites Mal. »Wie ein Wolf!« flüsterte Mary Blatcher entsetzt. »Mein Gott, das ist wirklich ein Wolf!« »Nun laß dich nicht von der Zeitung verrückt machen!« fuhr Harold auf. »Ich wurde vor dreiundvierzig Jahren hier in Peareswood geboren, und in der ganzen Zeit tauchte kein einziger Wolf auf. Es wird einer der Hunde sein.« »Aus dem Dorf ist er nicht, dazu ist er zu weit weg.« Mary Blatcher knetete nervös ihre Finger. »Und ein herumstreunender Hund kann ebenfalls gefährlich sein.« Eine Weile schwiegen die beiden, dann zog Mr. Blatcher die Augenbrauen hoch. »Wohin wollte Alf eigentlich gehen?« »Ich weiß es nicht.« Seine Frau war weiß wie die Wand geworden. »Er hat nichts gesagt, nur, daß er zum Abendessen wieder hier sein wird. Und er fuhr mit dem Motorrad. Harold, es ist bestimmt etwas geschehen!« Als sollten ihre Worte bestätigt werden, erklang weit vor Peareswood zum dritten Mal das unheimliche Heulen. Hoch am Himmel stand die riesige rote Scheibe des Mondes. *
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Wütend versuchte Alf Blatcher, im Widerschein der Sterne die Zeit von seiner Armbanduhr abzulesen. Es gelang ihm nicht, weshalb er ein Streichholz anreißen mußte. Sein Ärger stieg, als er feststellen mußte, daß es nichts mehr wurde aus einem warmen Abendessen. Mary würde ganz schön schimpfen, dachte er. Seine Schwägerin hatte sich sicherlich Mühe gemacht, und jetzt konnte er nicht rechtzeitig daheim in Peareswood sein. Aber auch ausgerechnet auf halber Strecke zwischen Peareswood und dem Nachbardorf, wo er Bekannte besucht hatte, mußte sein Motorrad den Geist aufgeben. Und da er von Technik ungefähr so viel verstand wie ein Hund von französischer Küche – nämlich wie sie genossen, nicht aber gemacht wurde –, mußte er wohl oder übel das Rad nach Peareswood schieben. Diese Nacht schien überhaupt eine Unglücksnacht für ihn zu werden. Kein einziges Auto kam vorbei, und das Motorrad wagte er nicht neben der Straße liegen zu lassen aus Angst, es könnte gestohlen werden. Sein einziger Trost war, daß nach wenigen Minuten der Mond aufging, groß, zum Greifen nahe und blutrot. So wurde die Straße ausreichend beleuchtet, daß er nicht auch noch stürzte. Verbissen schob er das schwere Rad. Leichte Steigungen wechselten sich mit Gefällstrecken ab. Meistens führte die Straße durch Wald, der sich zu beiden Seiten wie schwarze Mauern erstreckte. Alf Blatcher, gewohnt, stets nur mit dem Motorrad unterwegs zu sein, wurde zum ersten Mal richtig aufmerksam auf die Geräusche der Nacht, das Knistern und Knacken, das Säuseln und Ächzen. Anfangs erschien es ihm unheimlich, doch dann gewöhnte er sich daran. Bis er das Heulen hörte. Es war weit entfernt, mußte ungefähr aus der Richtung des 6 �
Hauses der Fullers kommen, die ein Stück außerhalb von Peareswood wohnten. Oft schon hatte er nachts die Hunde im Dorf heulen gehört, aber noch nie bei diesen Lauten Angst empfunden. Diesmal schon! Über Alfs Rücken lief eine Gänsehaut, als ihm bewußt wurde, daß das Heulen nur aus einer einzigen Kehle stammte. Die Hunde, die sonst stets in den nächtlichen Gesang einfielen, schwiegen diesmal. Der Mann beschleunigte seine Schritte. Er stemmte sich gegen das Motorrad, gelangte auf ein abschüssiges Straßenstück und schwang sich seitlich in den Sattel. Dennoch ging es ihm zu langsam. Unter normalen Umständen hätte er jetzt Vollgas gegeben, um so schnell wie möglich dieser bedrückenden, bedrohlichen Atmosphäre der blutrot erleuchteten Nacht zu entkommen. Außer dem Singen der Reifen auf dem rauhen Asphalt war nichts zu hören. Die Nachttiere waren verstummt, nicht einmal die Bäume des Waldes knackten und knarrten mehr, als wären sie versteinert. Am Ende der Gefällstrecke lief das Motorrad noch ein Stück den nächsten Hügel hinauf. Keuchend sprang Alf Blatcher ab und schob erneut, doch nun kam er noch langsamer voran. Das zweite Heulen! Alf begann, mit den Zähnen zu klappern. Zwei Menschen waren zerfleischt aufgefunden worden! Zwei Leichen, die er zwar nicht gesehen hatte, die ihm jedoch lebhaft geschildert worden waren, so daß ihm der kalte Schweiß ausbrach. Ein herumstreunender Hund war erschossen worden, sobald man die erste Leiche gefunden harte, doch danach war der zweite Mann gestorben. Welche Bestie hatte diese beiden Menschenleben ausgelöscht? Und wieder heulte es, diesmal wesentlich näher. Alf Blatcher konnte jetzt schon das Haus der Fullers sehen. Es 7 �
lag stockdunkel mitten in den Wiesen, hinter keinem der Fenster brannte Licht. Entweder schliefen die Fullers oder sie hatten die Vorhänge dicht zugezogen – wahrscheinlicher, dachte Alf Blatcher, denn viele Leute in Peareswood hatten Angst und schliefen kaum noch, seit in zwei aufeinanderfolgenden Nächten zwei Menschen auf so schauderhafte Weise ums Leben gekommen waren. Heute war die dritte Nacht. Würde es ein drittes Opfer geben? Würde vielleicht sogar er dieses dritte Opfer sein? Am ganzen Körper zitternd, schob Alf Blatcher das Motorrad in den Straßengraben und ließ es trotz seiner anfänglichen Bedenken liegen. Was interessierte ihn das Rad? Jetzt hatte er das Gefühl, sein Leben retten zu müssen, obwohl er durch nichts bedroht wurde. Nur das Heulen hatte ihn so erschreckt. Er rannte los. Er wollte das Haus der Fullers erreichen, ehe es zu spät war und er das gleiche Schicksal erlitt wie die beiden anderen Männer vor ihm, die ebenfalls das Dorf ahnungslos verlassen hatten und nie mehr zurückgekehrt waren. Er lief querfeldein. Seine Lungen stachen von der ungewohnten Anstrengung, sein Puls hämmerte. Das Herz schlug ihm im Hals, das Blut rauschte in seinem Kopf, bis er meinte, keinen einzigen Schritt mehr laufen zu können. Er verdoppelte seine Anstrengungen, holte aus seinem Körper die letzten Kraftreserven. Das Haus der Fullers flog förmlich auf ihn zu, und doch war es noch schrecklich weit entfernt. Würde er es schaffen? Hinter ihm ertönte ein kurzes, tiefes Knurren. Er wandte mitten im Lauf den Kopf – ein tödlicher Fehler. Sein Fuß blieb an einem Stein hängen. Alf Blatcher schrie auf und stürzte. Er sah einen Schatten auf sich zufliegen, hörte ein hechelndes Keuchen. 8 �
Dann fiel ein schwerer Körper auf ihn. * »Der Mond«, murmelte Tom Fuller mit schwankender Stimme. »Jetzt wird es nicht mehr lange dauern, bis er sich zeigt.« Amelie Fuller antwortete nicht. Sie hatte die Hände vor das Gesicht geschlagen und saß bebend am Wohnzimmertisch. Im Raum brannte kein Licht, die Vorhänge an dem einzigen Fenster waren zurückgezogen, damit ihr Mann besser die von ihm erwarteten Vorgänge zwischen dem Haus und dem Wald beobachten konnte. »Amelie«, rief er seine Frau an. »Das solltest du dir nicht entgehen lassen. Komm her!« »Du scheinst dir auch noch ein Vergnügen daraus zu machen«, warf ihm seine Frau vor. »Tom, zwei Tote…« »Ich weiß«, wehrte er ungeduldig ab. »Aber uns kann nichts passieren. Glaube mir! Komm schon, nur wenige Menschen sehen den Werwolf, ohne von ihm…« »Tom!« schrie Amelie Fuller entsetzt auf. »Wie kannst du den Namen aussprechen! Du weißt doch, daß es ihn ruft, wenn man…« »Unsinn!« Tom Fuller erhob sich gereizt. »Ich gehe eben ins Bad. Paß auf und rufe mich sofort, wenn du etwas siehst.« Er verließ das dunkle Wohnzimmer. Amelie hörte ihn durch den Vorraum tasten, dann klappte eine Tür. Minutenlang kämpfte sie mit sich. Sollte sie dem Wunsch ihres Mannes folgen und sich wirklich ans Fenster stellen, um alles zu beobachten, was draußen vor sich ging? Am liebsten hätte sie sich in ihrem Bett verkrochen und sich um nichts gekümmert, doch dann wollte sie einem Streit mit Tom aus dem Weg gehen, erhob sich seufzend und näherte sich dem Fenster. 9 �
»Tom«, krächzte sie, von Grauen gepackt, doch so leise, daß ihr Mann sie nicht hören konnte. In geringer Entfernung auf einem Hügel sah sie die Umrisse eines großgewachsenen Mannes, um dessen Schultern ein Umhang wallte, der bis zum Boden reichte. Und dann erblickte sie den Kopf! Wie sah der Kopf nur aus! Es war der Schädel eines Wolfs! Deutlich sah sie im Mondschein die auf- und zuklappende Schnauze und hörte jetzt auch das klagende Heulen. Plötzlich setzte sich die Bestie in Bewegung, kam in einem zwar aufrechten, doch seltsam humpelnden Lauf direkt auf das Haus zu! Sie wollte schreien, um Hilfe rufen, doch kein Ton drang aus ihrem weit aufgerissenen Mund. Amelie Fuller griff sich ans Herz, zitternd und bebend auf das Ungeheuer starrend, das bereits die halbe Strecke zwischen dem Hügel und dem Haus zurückgelegt hatte. Schon glaubte sie, der Werwolf würde angreifen, als er die Richtung änderte, scharf umschwenkte und auf ein neues Ziel zuhielt. Amelie Fullers Augen zuckten herum, erfaßten einen Mann, gekleidet in schwarzes Leder. Motorradfahrer trugen solche Sachen, schoß es ihr durch den Kopf. Der Mann hatte jedoch kein Motorrad bei sich, sondern rannte mit aller Kraft auf das Haus zu. Der Werwolf schnitt ihm den Weg nicht ab, sondern hielt sich ständig in den Bodenwellen des Gebietes, so daß der Mann ihn nicht entdecken konnte. Amelie war unfähig, diesem Mann zu helfen oder ihn zu warnen. Alles Leben war aus ihrem Körper gewichen. Untätig mußte sie zusehen, wie die Bestie gleichsam aus dem Boden gewachsen hinter dem Mann auftauchte, dieser stürzte und das Ungeheuer sich auf ihn warf. 10 �
Sie sah noch, wie sich der Wolfsrachen weit öffnete, sah die Reißzähne im Mondlicht blitzen – dann brach sie ohnmächtig zusammen. * Amelie Fuller fühlte sich gepackt, hin und her gerissen. Die Bestie zerfleischte sie! »Nein!« schrie sie gellend auf. »Hilfe!« Der Rachen! Dieser weit aufgerissene Rachen vor ihrem Gesicht! Knurren des Brüllen scholl ihr entgegen. Mit Händen und Füßen wehrte sie sich gegen das Ungeheuer… … und schlug verwirrt die Augen auf. Über sich sah sie das fassungslose, entsetzte Gesicht ihres Mannes, der sie an den Schultern rüttelte. »Wach endlich auf!« rief Tom Fuller noch, dann merkte er, daß seine Frau wieder zu sich gekommen war. »Gott sei Dank!« seufzte er erleichtert auf. »Was ist los mit dir?« Amelie setzte zum Sprechen an, konnte nicht und brach in Tränen aus. Schluchzend klammerte sie sich an ihren Mann, der ihr beruhigend über den Kopf strich. »Ich bringe dir etwas zu trinken«, sagte Tom, machte sich von ihr los und ging an den Schrank. Erst jetzt merkte Amelie, daß sie auf dem Sofa im Wohnzimmer lag. Die Vorhänge waren zugezogen, die Deckenlampe brannte. »Ich kam aus dem Bad, als ich ein lautes Poltern hörte«, erzählte Tom, ein großgewachsener Mann um die fünfzig. »Du lagst vor dem Fenster auf dem Boden, ohnmächtig. Was ist bloß passiert?« Erst nachdem sie ein paar Schluck von dem Kognak getrunken hatte, den er ihr brachte, vermochte Amelie mit stockender 11 �
Stimme zu berichten, was sie beobachtet hatte. »Warum hast du mich nicht gerufen?« fragte Tom vorwurfsvoll. »Ich hätte dem Mann vielleicht helfen können. Wer war es denn?« . »Du hättest auch nichts tun können«, antwortete Amelie. »Die Bestie war so schrecklich schnell. Und ich konnte nicht rufen, ich konnte gar nichts tun.« »Wer war es?« wiederholte Tom seine Frage. »Ich habe es nicht gesehen«, weinte seine Frau leise vor sich hin. »Er trug schwarze Ledersachen, wie ein Motorradfahrer.« Tom Fuller schüttelte den Kopf. »Die Beschreibung paßt auf einige Männer aus Peareswood. Morgen früh werden wir es erfahren.« »Morgen früh?« Amelie setzte sich erstaunt auf. »Du willst nichts tun?« »Was denn?« Tom zuckte die Schultern. »Wenn ich jetzt bei der Polizei oder beim Bürgermeister anrufe, muß ich sagen, was du gesehen hast. Entweder halten die Leute dich für verrückt, oder wir ziehen das Unglück dadurch auf uns. Du hast selbst gesagt, daß man von ihm nicht sprechen darf.« Amelie schwieg erschrocken. Langsam nickte sie. »Und ich gehe um keinen Preis der Welt hinaus«, fuhr Tom fort. »Ich bin nicht lebensmüde. Wie sah er denn aus?« Amelie beschrieb die Bestie. »Er hatte ungefähr deine Größe«, schloß sie und fügte nachdenklich hinzu: »Ein… also, dieses Wesen ist eigentlich ein Mensch, der sich nachts in einen Wolf verwandelt, nicht wahr?« Tom nickte bestätigend. »Genau, ein Mensch in Wolfsgestalt. Aber sprich mit niemandem darüber. Halten wir uns aus allem heraus, sonst trifft es uns auch noch.« Amelie Fuller schlug die flackernden Augen nieder. »Ich habe nichts gesehen und nichts gehört. Der Herr stehe uns bei!« 12 �
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»Du bist verrückt«, erklärte Rick Masters entschieden. »Verrückt? Wieso!« protestierte die feurige Rothaarige, die sich bei ihm eingehakt hatte und fasziniert vor dem hellerleuchteten Schaufenster in der Londoner City stand. »Weil ich mir einen Pelzmantel wünsche, der doppelt so viel kostet wie das durchschnittliche Jahresgehalt eines Beamten?« »Du scheinst dich in Gehältern gut auszukennen, Sally«, grinste Rick Masters. »Natürlich«, nickte sie heftig, daß ihre rote Lockenpracht schwankte. »Ich muß schließlich wissen, welche Sorte von Männern für mich als Ehemänner in Frage kommt. Also, weshalb bin ich verrückt? Weil ich mir den Pelzmantel wünsche?« »Nein«, lachte Rick laut auf. »Sondern weil du behauptest, daß du den Mantel einmal bekommen wirst. Als Verkäuferin wirst du ihn dir nie leisten können.« »Ich bin Bardame«, verbesserte Sally ihn. »Das ist schon der vierte Beruf, den du angibst«, seufzte Rick. »Der erste war Lehrerin, der zweite Sekretärin, der dritte Verkäuferin, und jetzt bist du Bardame.« »Ich bin eben flexibel«, behauptete Sally Walsh und starrte fasziniert auf den Pelzmantel. »Und ich bekomme den Mantel, weil ich einen steinreichen Mann heiraten werde, der ihn mir schenkt.« »Dann bin ich wenigstens sicher, daß du mich nie heiraten wirst«, grinste Rick. »Wieso?« Sally zog die sorgfältig gezupften und schwungvoll nachgemalten Augenbrauen hoch. »Du bist doch steinreich, Darling! Du siehst nicht nur gut aus, du verfügst auch über ein hohes Bankkonto!« 13 �
Einige Passanten auf der nachtlichen Straße in der Londoner City drehten sich erstaunt um, als Rick Masters schallend loslachte. »Wie kommst du denn auf die Idee, ich könnte Millionär sein?« prustete Rick, sobald er sich einigermaßen erholt hatte. »Bist du es denn nicht?« Enttäuschung zeichnete sich auf Sallys Gesicht ab. »Du bist doch einer der erfolgreichsten und bekanntesten Privatdetektive von London. Du arbeitest für riesige Konzerne, Versicherungen, Millionäre, Adelige! Du mußt ganz einfach reich sein!« Ein neuerlicher Lachanfall folgte dieser Behauptung, bis Rick Masters nicht mehr konnte. Er wischte sich die Tränen aus den Augen. »Du solltest meine Kontoauszüge sehen«, seufzte er. »Meistens im Minus. Und wenn ich ein heimlicher Millionär bin, dann so heimlich, daß ich es sogar vor mir selbst verschwiegen habe.« »Wie denn das?« Sally Walsh raufte sich die sechsundzwanzigjährige rote Lockenpracht. »Du kassierst sicherlich anständige Honorare! Wo bleibt das Geld?« »Da mußt du das Finanzamt fragen und all diese häßlichen Leute, die mir Rechnungen ins Haus schicken und ganz böse werden, wenn ich sie nicht bezahle.« Rick warf einen kurzen Blick auf den Pelzmantel. »Ich glaube, da kann dir ein Beamter eher diesen Mantel schenken als ich! Beamte haben nämlich den Vorteil, daß sie regelmäßig ihr Gehalt bekommen, während ich… Sprechen wir nicht mehr darüber!« wischte er das Thema mit einer großzügigen Geste weg. »Bist du jetzt zufrieden mit unserem Ausflug?« »Nein!« schmollte Sally. »Ich dachte, morgen hätte ich den Mantel, von dir geschenkt natürlich!« »Das mußt du dir leider aus dem Kopf schlagen«, lächelte Rick. »Aus deinem übrigens sehr hübschen Kopf.« 14 �
Während Sally Walsh neben ihm zu seinem Wagen trottete wie ein begossener Pudel, dachte der Privatdetektiv amüsiert darüber nach, wie er dieses auf sehr liebenswürdige Weise verrückte Mädchen kennengelernt hatte. Sie war direkt vor seinen Wagen gelaufen. Ohne daß sie auch nur von der Stoßstange des Morgans, eines offenen Sportwagens im Oldtimer-Look, berührt worden wäre, war sie theatralisch auf der Straße zusammengebrochen. Einen Krankenwagen hatte sie abgelehnt, dafür durfte Rick sie nach Hause fahren. Als sie von ihm unterwegs erfuhr, daß es ihm beinahe nicht gelungen wäre, seinen Wagen rechtzeitig zum Stehen zu bringen, fiel sie in Ohnmacht – eine fingierte Ohnmacht, wie sie hinterher eingestand. Jedenfalls war sie seit drei Tagen nicht mehr von seiner Seite gewichen, und da er im Moment keinen Auftrag zu bearbeiten hatte, war ihm ihre Gesellschaft absolut nicht unangenehm. Doch wie es den Anschein hatte, war diese Beziehung nun an einem toten Punkt angekommen. »Ich bin wohl nicht mehr interessant genug für dich, Sally«, stellte Rick fest, während er den Morgan durch die nächtlichen Londoner Straßen zu seiner Wohnung steuere. »Zum Heiraten bist du nichts, aber ansonsten keine Einwände«, lächelte sie ihn offen an. »Ich bleibe bei dir, bis ich einen anderen Heiratskandidaten finde.« Rick unterdrückte eingedenk der Tatsache, daß er den Wagen steuern mußte, einen neuen Lachanfall, so daß sie sicher seine ebenfalls in der City gelegene Wohnung erreichten. Er stellte den Wagen in der Garage ab und stieg mit Sally hinauf zu seinem kombinierten Wohnbüro. »Du kannst uns schon Drinks machen«, schlug Rick vor, während er den automatischen Telefonbeantworter abhörte, in der Hoffnung, daß ein Auftrag eingegangen war. Er hätte dringend 15 �
einen brauchen können, da das Minus auf seinem Konto bereits in Höhen wuchs, die fast schon an den Preis von Sallys WunschMantel heranreichten. Leider störte auf dem Kontoauszug eben dieses Minus hinter der Zahl. Zu Ricks Enttäuschung gab es keinen Auftrag. Nur Chefinspektor Hempshaw, sein Freund bei Scotland Yard, hatte angerufen und eine Grobheit auf Band hinterlassen, weil er den Privatdetektiv nicht angetroffen hatte. Gleichzeitig hatte Hempshaw jedoch hinzugefügt, daß er kein Verlangen spürte, von Rick angerufen zu werden. »Dann kann ich mich dir ja voll und ganz widmen«, stellte Rick Masters mit einem eindeutigen Lächeln fest und setzte sich zu Sally auf die Ledergarnitur. Seine Hand glitt auf ihre Schulter. »Wir haben jede Menge Zeit anstelle von Geld. Ich glaube, die Nacht wird noch sehr ereignisreich.« Sally funkelte ihn unternehmungslustig aus ihren türkisfarbenen Augen an. »An mir soll es nicht liegen«, murmelte sie, stellte ihr Glas auf den Tisch und lehnte sich weit zurück. * Die Nacht war für das Ehepaar Fuller im walisischen Dorf Peareswood nur kurz gewesen. Seit dem Morgengrauen saß jeweils einer von ihnen am Wohnzimmerfenster und starrte in die Richtung, in der die Leiche liegen mußte – sofern der Werwolf sie nicht weggeschafft hatte. »Man kann ihn von hier aus nicht sehen«, sagte Amelie Fuller so leise, als habe sie Angst, der Tote könne durch ihr Sprechen gestört werden. »Ich war schon oben auf dem Dachboden«, gab ihr Mann zurück. »Aber auch von der Dachluke aus ist er nicht zu sehen. Ein Baum steht dazwischen.« 16 �
»Du konntest ja hinausgehen und nachsehen«, schlug Amelie vor. »Ich?« Tom schüttelte heftig den Kopf. »Ich denke gar nicht daran. Ich bin mehr als fünfzig Jahre alt geworden, und ich möchte noch eine Weile leben.« »Jetzt ist Tag«, hielt ihm Amelie vor. »Da brauchst du nichts mehr zu fürchten.« »Trotzdem«, beharrte er und nahm seinen Beobachtungsposten wieder ein, damit seine Frau das Frühstück zubereiten konnte. Sein Warten wurde nach einer Stunde belohnt. »Da kommt jemand, Amelie!« rief er zur Küche. Seine Frau lief sofort zu ihm. »Der hat ein Gewehr«, stellte sie fest. »Ein Jäger?« »Ich glaube, ich habe so etwas drinnen in Peareswood gehört«, erinnerte sich Tom. »Aus den umliegenden Dörfern sind Jäger gekommen, die den angeblichen streunenden und menschenfressenden Hund töten wollen. So ein Unsinn!« »Sie wissen es nicht besser.« Amelie ließ den Mann mit dem Gewehr keine Sekunde aus den Augen. Der Fremde steuerte zuerst das Haus der Fullers an, blieb dann jedoch stehen und legte die Hand über die Augen, um sie gegen die Strahlen der aufgehenden Sonne zu schützen. Er zuckte heftig zusammen und lief auf einen bestimmten Punkt zu. »Er hat die Leiche gesehen!« rief Tom Fuller aus und zog sich gleichzeitig ein Stück vom Fenster zurück. »Er soll uns nicht entdecken, damit wir keine Fragen beantworten müssen.« Der Jäger blieb wie vom Donner gerührt stehen, ging zögernd weiter und beugte sich vor. Taumelnd wich er ein paar Schritte zurück, warf sich herum und hetzte auf das Haus zu. Seine Faustschläge an der Tür hallten dumpf durch die Stille. »Wir machen nicht auf«, flüsterte Tom Fuller. »Wir schlafen einfach so tief, daß wir nichts hören.« 17 �
Nach zwei Minuten gab der Fremde seine Versuche auf. Sie sahen ihn in Richtung Peareswood davonlaufen. Walter Brennon konnte kaum sprechen, als er in die Polizeistation von Peareswood stürzte. Sein Gewehr knallte hart gegen die hölzerne Barriere, die den Raum in zwei Teile schied. »Ein… ein… Toter!« stieß Brennon hervor. »Draußen am Haus… Richtung Norden…!« Sergeant Brennon, der Bruder des Jägers, schnellte aus seinem Sitz hoch, als er die Tragweite der Meldung begriff. »Wieder wie die anderen?« fragte er hastig. Walter Brennon nickte und ließ sich schwer auf die hölzerne Bank an der Wand fallen, während der Sergeant in rasender Eile eine Nummer wählte und gleich darauf den Bürgermeister von Peareswood in der Leitung hatte. »Ja, Sir«, beendete er seine Meldung. »Genau wie die anderen! Es ist wieder dieser Hund oder Wolf.« Er hörte eine Weile noch zu, dann legte er wortlos auf. »Wir fahren sofort hinaus«, teilte er seinem Bruder mit. Walter hob entsetzt die Hände. »Mich bringen keine zehn Pferde mehr dorthin!« rief er aus. »Der Anblick der Leiche hat mir einmal genügt! Mein Gott, wenn ich daran noch denke!« »Du mußt mitkommen«, entschied der Sergeant. »Du mußt uns die Stelle zeigen.« Nach einigem Hin und Her kletterten beide in den geländegängigen Wagen der Polizei von Peareswood, als eben ein hochbeiniger alter Wagen um die Ecke fegte. »Der Bürgermeister«, erklärte Sergeant Brennon dem Begleiter und übernahm die Führung. »Das muß beim Haus der Fullers sein«, meinte er, als die Richtung genau feststand. »Seltsam, daß die beiden nichts gemerkt haben sollten?« 18 �
Es kam noch dicker für den Sergeant. Er als Leiter der Polizeistation mußte nicht nur die Leiche besichtigen, sondern auch die Umfragen anstellen. Da sich nur ein Haus mit möglichen Zeugen in der Nähe befand, konzentrierte sich seine Tätigkeit auf das Ehepaar Fuller, das behauptete, während der Nacht nichts gesehen oder gehört zu haben. Und auch am Morgen, als Sergeant Brennons Bruder an der Haustür geklopft hatte, waren sie angeblich nicht erwacht. »Die beiden lügen wie gedruckt«, behauptete Walter Brennon, als er nach der kurzen Befragung mit seinem Bruder allein war. »Ich habe so fest gegen die Haustür gedonnert, daß jeder davon wach werden mußte! Außer er ist schwerhörig, und keiner der beiden ist es. Sie lügen!« »Aber warum?« überlegte Sergeant Brennon laut. »Was versprechen Sie sich davon?« »Vielleicht war es gar kein Tier«, meinte Walter Brennon. »Vielleicht handelt es sich bei allen drei Toten um Mordopfer, Opfer eines Menschen. Und die Fullers haben den Mord beobachtet und fürchten die Rache des Mörders, falls sie sprechen.« »Das klingt zwar logisch, ist es aber nicht«, erwiderte Sergeant Brennon. »Unser Arzt hat einwandfrei festgestellt, daß die Verletzungen von einem sehr großen, starken Hund – oder Wolf – stammen.« »Dann weiß ich auch nicht weiter.« Walter Brennon zuckte die Schultern. »Ich bin Jäger, und ich bin hier, um die Bestie zu schießen. Alles andere ist deine Sache.« »Auch die Benachrichtigung der Angehörigen«, seufzte der Sergeant, der sich wieder der kleinen Gruppe von Männern näherte, die sich um den Toten scharte. »Diese Arbeit nimmt mir unser guter Bürgermeister nicht ab, auch wenn er jetzt so tut, als würde alles nur von ihm abhängen.« »Polizistenschicksal«, meinte Walter Brennon mit einem gekünstelten Lächeln, als er zu seinem Bruder in den Polizeiwa19 �
gen stieg und in die Stadt zurückkehrte. * Den Gang zu dem Ehepaar Blatcher mußte Sergeant Brennon tatsächlich allein antreten. Nicht einmal sein eigener Bruder begleitete ihn. Er mußte seine Meldung zweimal wiederholen, bevor Harold und Mary Blatcher überhaupt begriffen, was er sagte. Und dann war ihre Reaktion ganz anders, als er erwartet hatte. Sergeant Brennon hatte sich auf Tränen und Nervenzusammenbruch eingestellt, doch statt dessen wechselten Harold und Mary Blatcher einen Blick, den er nicht deuten konnte. »Wir wollen Alf sehen«, entschied Mary endlich. »Ausgeschlossen!« entfuhr es dem Sergeant. Ruhiger fügte er hinzu: »Ich würde es Ihnen nicht raten, Mrs. Blatcher. Ihr Schwager… er sieht… lieber nicht«, brach er verlegen ab. Die Blatchers blieben bei ihrem Verlangen, so daß sich der Sergeant letztlich fügen mußte. Er nahm das Ehepaar in seinem Dienstwagen mit hinaus zur Fundstelle, an der noch immer der Bürgermeister, der Arzt und andere Leute aus Peareswood mit der Leiche beschäftigt waren. Die Gespräche verstummten, als die Angehörigen des Toten eintrafen. Mary Blatcher stützte sich schwer auf ihren Mann. Vor ihren Augen verschwamm das Bild, so daß sie nur undeutlich die zerfetzte Lederkleidung ihres Schwagers sah, die entsetzlichen Wunden. »Das hat kein Hund getan«, sagte Harold Blatcher in die Stille hinein. »Wer das behauptet, der lügt bewußt!« Seine Worte riefen aufgeregtes Gemurmel hervor. Ehe es zu offenem Widerspruch kommen konnte, trat Mary Blatcher einen Schritt vor. Sie streckte den Arm gegen die blutige Leiche aus. 20 �
»Ihr alle habt ihn auf dem Gewissen!« schrie sie den zurückweichenden Leuten zu. »Ihr müßt von Anfang an gewußt haben, daß es kein Hund war! Schon beim ersten Toten! Aber was habt ihr gemacht? Wie die Verrückten habt ihr streunende Hunde gejagt! So eine verblendete Gemeinheit! Dann gab es das zweite Opfer, aber was tatet ihr? Nichts! Eure Jäger können nicht helfen, weil es hier nichts zu jagen gibt – wenigstens kein Tier!« »Was meinen Sie damit, Mrs. Blatcher«, raffte sich endlich der Bürgermeister, ein grobschlächtiger Mann mit einem harten Gesicht, zu einer Erwiderung auf. »Wo es eine menschenfressende Bestie gibt, gibt es auch etwas zu jagen! Das ist doch nur logisch!« »Logisch schon«, fiel ihm Harold Blatcher scharf ins Wort. »Aber mit Logik kommen wir hier nicht weiter. Jeder von uns hat schon einmal etwas über alte Geschichten gehört, und die sprechen von etwas anderem als von streunenden Hunden oder wilden Tieren. Ihr kennt die Geschichten genausogut wie wir, aber ihr wollt euch nicht daran erinnern, weil ihr Angst habt. Das ist alles!« »Das muß ein Ende haben!« schrie Mary Blatcher, am Rand ihrer Kraft angelangt. »Wir werden dafür sorgen, daß es nicht noch einmal zu einer so scheußlichen Tat kommt.« »Sie werden gar nichts!« brüllte der Bürgermeister, außer sich vor Zorn. Sein Gesicht verzerrte sich, »über meinen Kopf hinweg werden Sie gar nichts unternehmen!« Mr. und Mrs. Blatcher warfen ihm nur einen kurzen Blick zu, dann drehten sie sich um und gingen zu dem wartenden Polizeiwagen zurück. Sergeant Brennon saß noch hinter dem Steuer, ließ jetzt den Motor an und lenkte den Wagen zurück nach Peareswood. * 21 �
»Ich finde jemanden, der nicht nur lauter Minus auf seinem Konto hat«, eröffnete Sally Walsh Rick Masters, sobald dieser morgens verschlafen die Augen aufschlug. »Ich träumte heute nacht, ich wäre steinreich.« »Dann hast du entscheiden besser geträumt als ich«, seufzte der Privatdetektiv und rollte sich auf die andere Seite, fuhr jedoch gleich darauf mit einem lauten Schrei auf. »Oh, eine von meinen Haarnadeln«, rief Sally unschuldig und entfernte das spitze Ding, das Rick so unsanft aufgeschreckt hatte. »Ein Privatdetektiv lebt wirklich gefährlich«, seufzte Rick und ließ sich wieder auf die Matratze sinken, nachdem er sich mißtrauisch davon überzeugt hatte, daß es keine zweite Nadel in Reichweite gab. »Bisher bezog ich diesen Ausspruch immer auf Pistolenkugeln und Messerstiche, aber jetzt weiß ich es besser. Privatdetektive sterben meistens an den Haarnadeln ihrer Freundinnen.« »Ist es wirklich so gefährlich, Privatdetektiv zu sein?« erkundigte sich Sally, die offenbar nur mit halbem Ohr zugehört hatte. »Ich stelle es mir wahnsinnig aufregend vor – und wenn es nicht viel Geld einbringt.« »Krokodile sind meistens grün und leiden an Karies«, behauptete Rick mit todernstem Gesicht, sich das Grinsen verkneifend. »Wirklich? Ein Privatdetektiv kann nie reich werden?« Sally schwebte nicht auf dieser Welt. Rick lachte laut auf. »Du hast überhaupt nicht zugehört, welchen Unsinn ich von mir gab!« »Natürlich höre ich dir nicht zu«, erwiderte Sally ungerührt. »Ich träume von Millionären.« »Mit offenen Augen?« »Telefon!« Mit dieser ebenso lapidaren wie überflüssigen Mit22 �
teilung beendete Sally die Diskussion. Überflüssig, weil Rick das Schrillen des Apparates nicht überhören konnte. Er wälzte sich auf den Bauch, entging mit knapper Mühe einer zweiten Haarnadel, die sich beinahe in seinen Magen gebohrt hätte, und meldete sich endlich. Die Verbindung war schauderhaft, aber so viel verstand Rick, daß der Anrufer aus Wales sprach, in einem Dorf wohnte, in dem drei Menschen auf rätselhafte Weise ums Leben gekommen waren, und daß seine Hilfe dringend gewünscht wurde. Auch ein gutes Honorar stellte der Mann, der sich Harold Blatcher nannte, in Aussicht. Als er auch noch erwähnte, daß die Vermutungen von einem Hund oder einem Wolf als »Mörder« sprachen, in Wirklichkeit jedoch etwas dahintersteckte, worüber man nicht laut sprechen durfte, war Ricks Interesse hundertprozentig. »Ich möchte nur noch wissen, wie Sie ausgerechnet auf mich kamen!« schrie er ins Telefon. Durch Rauschen und Knacken hindurch hörte er: »Aus Zeitungsartikeln entnahmen wir vor einiger Zeit, daß Sie sich mit außergewöhnlichen Fällen beschäftigen, die von keiner Polizeitruppe gelöst werden können. Sie sind genau der richtige Mann für uns.« Der Anrufer fügte noch eine Beschreibung hinzu, wie Rick ihn finden konnte, und schloß: »Verraten Sie aber keinem Menschen ein Wort, weshalb Sie kommen. Es konnte sonst Komplikationen geben.« Ehe Rick nach der Natur der Komplikationen fragen konnte, wurde die Verbindung unterbrochen. Die Leitung war tot. »Wer war denn das?« fragte Sally mit einer Neugierde, die ebenso unverhüllt war wie ihr schlanker und gutproportionierter Körper, den sie aus dem Bett hochstemmte und ins Bad beförderte. 23 �
»Vermutlich die erste von hundert Raten für deinen Pelzmantel«, rief Rick ihr nach und überlegte, was ihn wohl in Wales erwartete. Gegen Abend würde er es wissen, denn er wollte sich sofort auf den Weg machen. Daraus wurde allerdings nichts, denn gleich darauf klingelte das Telefon zum zweiten Mal. Eine Mrs. Fender war in der Leitung, im Gegensatz zum ersten Gespräch tadellos zu verstehen. Sie wohnte auch in London und wollte Rick Masters persönlich sprechen. »Kann ich zu Ihnen ins Büro kommen?« wollte sie wissen. »Wenn Sie erst in einer Stunde aufkreuzen, läßt sich das machen«, entschied Rick, der noch keine Ahnung hatte, worum es ging. Mrs. Fender war einverstanden, so daß der Privatdetektiv wenigstens eine Stunde später begriff, daß er plötzlich zwei Aufträge gleichzeitig am Hals hatte – den mysteriösen Fall in Wales und eine Beschattung. Er vertraute sich Sally in seiner Not an. »Ich muß nach Wales, während Mrs. Fender glaubt, daß ich ihren Schwager hier in London überwache, der ihrer Meinung nach zuviel Geld in Spielcasinos ausgibt. Was soll ich nur machen?« »Du hast Mrs. Fenders Scheck bereits angenommen«, entschied Sally. »Also mußt du dich an ihren Schwager hängen.« »Ich mochte aber nach Wales«, beharrte Rick. So ging es eine Weile hin und her, bis Sally strahlend das Gesicht verzog. »Ich weiß!« rief sie aus. »Ich kümmere mich um diesen John Fender! Schließlich bin ich durch meine Tätigkeit als Personalchefin in einem Konzern bestens auf das Beobachten von Menschen vorbereitet.« »Der fünfte Beruf«, seufzte Rick. »Und gleich der sechste als Privatdetektivin.« Sally setzte ihm so lange zu, bis er sich endlich breitschlagen ließ. Warum auch nicht? Sie sah blendend aus, war trotz ihres 24 �
ausgefallenen Benehmens intelligent und konnte sich bestimmt in Spielclubs zeigen, ohne sofort aufzufallen. Sie war für die Beschattung Mr. John Fenders vielleicht sogar besser geeignet als Rick selbst. So kam es, daß er unversehens eine neue Mitarbeiterin für sein Detektivbüro gewonnen hatte und sich unbesorgt mit seinem Morgan auf den Weg nach Wales machen konnte. * »Wir müssen ihnen zuvorkommen!« Der dies mit donnernder Stimme durch den Versammlungsraum schrie, hieß Frank Jeffries, war achtundvierzig Jahre alt und der Bürgermeister von Peareswood. Wen er damit meinte, sprach er gleich darauf aus. »Diese Blatchers dürfen uns nicht durch ihre Hirngespinste gefährden!« Der erste Zwischenruf kam von einem Mann, von dem Mr. Jeffries am wenigsten einen Widerspruch erwartet hätte, da er gar nicht in Peareswood wohnte und daher in der Besprechung nur geduldet war. »Weshalb sollten Hirngespinste gefährlich werden?« fragte Walter Brennon. Der Bürgermeister stemmte die Fäuste in die Seiten und blitzte Walter Brennon, der als Jäger in das Dorf gekommen war, wütend an. »Weshalb mischen Sie sich in Dinge ein, die Sie nichts angehen?« rief Jeffries. »Weil ich mich an der Jagd nach einer wilden Bestie beteilige und dabei Kopf und Kragen riskiere«, gab Brennon schlagfertig zurück. Sein Bruder, Sergeant in Peareswood, hielt die Hand vor den Mund, um das Lächeln zu verdecken. Niemand wagte offenen Widerstand gegen den zwar tüchtigen, doch auch sehr 25 �
eigenwilligen Bürgermeister. »Sie glauben vielleicht, Sie könnten sich etwas herausnehmen, weil Ihr Bruder bei der Polizei ist«, versuchte Frank Jeffries in seiner gewohnten Form den Widerstand zu brechen, kam dabei aber bei Brennon an den Falschen. »Entweder Sie schenken uns reinen Wein ein, was das Ehepaar Blatcher vorhat und warum Sie die beiden fürchten, oder ich sorge dafür, daß Sie durch Reporter und Polizisten Unannehmlichkeiten bekommen«, drohte Walter Brennon. »Langsam erscheint mir die ganze Sache nämlich sehr seltsam. Der dritte Mann wurde auf schauderhafte Weise getötet, aber es ist nichts geschehen. Sollte sich da nicht endlich die Kriminalpolizei einschalten?« Das ging sogar dem Sergeant zu weit. Er machte seinem Bruder warnende Zeichen, die jener jedoch absichtlich übersah. »Ich habe den Eindruck, daß hier etwas vertuscht wird«, fuhr Walter Brennon ungerührt fort. »Die Presse ist hervorragend geeignet, um solche Versuche zu verhindern.« Bürgermeister Jeffries sah aus, als stünde er knapp vor einem Schlaganfall. Er brach jedoch nicht in tobendes Brüllen aus, wie Brennon erwartete, sondern lenkte ein, ein Zeichen dafür, daß er sich seiner Sache doch nicht so sicher war, wie er sich gab. »Sie kennen die Geschichte, Mr. Brennon«, tat Jeffries versöhnlich. »Als der erste Tote gefunden wurde, entdeckten wir direkt neben seiner Leiche Abdrücke von Pfoten, wie sie von einem großen Hund stammen könnten. Wir konnten die Spur allerdings nicht verfolgen, weil es vorgestern sehr stark regnete und alle Abdrücke verwischt wurden.« »Geschenkt«, winkte Walter Brennon gelassen ab. Jeffries schluckte auch das. »Und als gestern der zweite Tote gefunden wurde, hatten wir uns auch nichts vorzuwerfen«, fuhr der Bürgermeister fort. »Ein bissiger Hund, der schon mehrere 26 �
Menschen angefallen hatte, war erschossen worden. Wir waren überzeugt, daß nichts mehr geschehen konnte, bis wir gestern die Leiche fanden.« »Und daneben wieder Spuren eines riesigen Hundes, worauf Sie Jäger aus der ganzen Gegend nach Peareswood holten«, ergänzte Walter Brennon. »Das weiß ich alles. Ich zweifelte bisher auch nicht daran, daß wir es hier mit einem gefährlichen Tier, vielleicht sogar einem Raubtier zu tun haben. Doch das Verhalten der Blatchers gibt mir zu denken.« »Mir nicht«, knirschte der Bürgermeister unter Aufbietung seiner ganzen Selbstbeherrschung. »Diese Leute standen unter einem schweren Schock. Sie sahen die Leiche eines nahen Verwandten vor sich. Da gehen einem schon die Nerven durch.« »Mr. und Mrs. Blatcher wirkten nicht wie Menschen, die nicht wußten, was sie sagten«, blieb Brennon unbeugsam. Jetzt wurde die ganze Versammlung unruhig, der außer den Mitgliedern des Gemeinderates auch noch der Arzt und der Polizist angehörten. Auch die Jäger nahmen teil, die von überall zusammengekommen waren. Erst nach einer vollen Minute trat wieder Stille ein. »Tatsache ist«, wandte sich Walter Brennon nun auch an seinen Bruder, »daß die Spuren am Tatort nicht gesichert wurden.« Der Sergeant bekam einen roten Kopf. »Und daß niemand sich die Mühe machte, Fachleute zu Rate zu ziehen«, hakte Brennon nach. »Keiner kann mit Sicherheit sagen, wonach wir Jäger eigentlich suchen sollen. Wir können nicht alles abknallen, was uns in den Weg kommt. Ich glaube, ich sollte mich mit Mr. und Mrs. Blatcher und auch mit dem Ehepaar Fuller unterhalten. Die Fullers müssen etwas über den Mord wissen, sie schweigen nur aus Angst.« Das Wort »Mord« schlug wie eine Bombe ein. Die Aufregung war daraufhin so groß, daß es zu keinem vernünftigen Gespräch 27 �
mehr kommen konnte. Die Versammlung löste sich in wilder Unordnung auf, ohne zu einem Ergebnis gelangt zu sein. Die Folge war, daß sich schon wenige Minuten später die wildesten Gerüchte in Peareswood ausbreiteten. Eines davon lautete, daß Walter Brennon nach einem Mörder suchte. Es war ein lebensgefährliches Gerücht, sogar ein tödliches! * Von diesen Vorgängen wußte Rick Masters natürlich noch nichts, als er noch vor der Abenddämmerung seinen dunkelgrünen offenen Morgan über die Hauptstraße von Peareswood steuerte und nach dem Haus der Familie Blatcher Ausschau hielt. Sein Auftraggeber hatte ihm genaue Verhaltensmaßregeln erteilt, wie sie Kontakt miteinander aufnehmen sollten. Rick hielt es zwar für überflüssig, sich auf Umwegen an Mr. Blatcher sozusagen heranzuschleichen, doch er mußte sich nach dem Willen seines Auftraggebers richten. Vorläufig wenigstens, bis er einen Überblick gewonnen hatte. Später ließ er sich in einem Fall nie etwas dreinreden. Weisungsgemäß parkte er vor dem Gasthof und ging hinein, um die Rolle eines Durchreisenden zu spielen, der sich bei einem Glas Bier überlegte, daß er eigentlich über Nacht hierbleiben konnte, um nicht in der Dunkelheit fahren zu müssen. Zuerst fiel Rick auf, daß sich sehr viele Männer in der Wirtschaft aufhielten. Da er sich in einer ländlichen Gegend befand, wunderte er sich nicht über das Fehlen der Frauen im Pub, der Kneipe. Hier galten noch die alten Grundsätze. Daß sich mehr Gäste als gewöhnlich hier befanden, konnte er daran erkennen, daß sie einander fast auf die Zehen traten, so eng standen sie. Und daß sie sich über ein ganz spezielles Thema 28 �
unterhalten hatten, merkte er sehr deutlich daran, daß sich eisiges Schweigen über den Schankraum legte, sobald er eintrat. Ein Fremder kam bestimmt nicht oft nach Peareswood, das abseits aller bedeutenden Straßen und Städte lag, doch das allein war noch lange kein Grund für ein so auffälliges Verhalten. Rick tat, als ginge ihn das alles nichts an. Er bahnte sich einen Weg zur Theke, ließ sich ein Glas Dunkelbier geben und spielte den Übermüdeten, der sich kaum noch auf den Beinen halten konnte. So sehr spielen mußte er dabei gar nicht, da er sich nach der langen Fahrt von London hierher tatsächlich erschöpft fühlte. Als er den Wirt nach einem Zimmer fragte, hatten sich schon wieder Gespräche entwickelt, die sich ausschließlich um das Wetter drehten. Jetzt verstummten sie erneut. Rick wurde betrachtet wie eine Giftschlange, die ihren Weg an die Theke gefunden hatte und nun die Anwesenden mit ihren Zähnen bedrohte. Der Wirt schien sich nichts weiter bei der Frage des Fremden zu denken, da er sofort bejahte, er habe freie Zimmer. »George, das stimmt nicht!« mischte sich nun aber ein massiger Mann mit einem harten Gesicht und kalten Augen ein. »Deine Zimmer sind alle voll belegt.« Rick musterte den Hünen, dann den Wirt, der blaß wurde, »Was ist nun?« fragte er gelassen. »Bekomme ich ein Zimmer oder nicht?« Der Wirt wand sich vor Verlegenheit. »Sie haben doch gehört, Mister, daß das Haus voll ist«, murmelte er. »Gehört schon, aber ich glaube es nicht«, nickte Rick. »Wollen Sie behaupten, daß ich lüge?« schrie ihn der Hüne an. »Ja«, erwiderte der Privatdetektiv nur. Der Mann starrte ihn giftig an, als wolle er sich auf den Fremden stürzen, überlegte es sich dann aber doch. »Wie Sie meinen«, sagte er achselzuckend. »Dann halten Sie mich eben für einen 29 �
Lügner. Aber die Zimmer sind belegt.« »Interessant«, nickte Rick freundlich. »Ich werde veranlassen, daß die Zeitungen in dieser Gegend über den neuen Fremdenverkehrsboom von Peareswood berichten.« Ohne es zu wissen, hatte er den empfindlichen Nerv des anderen getroffen. »Das werden Sie nicht tun!« schnaubte der Mann. »Wollen Sie mich daran hindern?« Rick blickte sein Gegenüber herausfordernd an. »Wer sind Sie überhaupt, daß Sie sich in alles einmischen?« »Der Bürgermeister!« erfuhr er gleich darauf. »Dann lasse ich Ihren Namen mit in die Zeitung setzen«, versprach Rick. »Bekomme ich jetzt mein Zimmer?« Der Wirt nickte verkniffen. »Mir fällt eben ein, daß noch eines frei ist«, würgte er hervor. Im Haus war es ganz ruhig, als der Privatdetektiv hinter dem Wirt hinauf in den ersten Stock stieg, so daß Rick hätte wetten mögen, daß nicht ein einziges Zimmer belegt war. Er wurde immer neugieriger auf das Gespräch, das er gleich darauf mit seinem Auftraggeber führen wollte. Er versprach sich einige interessante Enthüllungen, und er sollte nicht enttäuscht werden. * Auch die Art, in der er an Mr. Blatcher herantreten sollte, hatte dieser am Telefon genau festgelegt. Sich an das Zeremoniell haltend, verließ Rick den Gasthof durch die Hintertür, gelangte auf eine Parallelstraße und wandte sich nach rechts. Nach einigen Häusern folgte er einem Seitenweg und stand endlich vor einer Hintertür, die hoffentlich zu Mr. Blatchers Haus gehörte. Rick klopfte. Im nächsten Moment schon flog die Tür auf. Drinnen brannte kein Licht, doch es bestand kein Zweifel, daß er 30 �
erwartet wurde. Ein Arm tauchte nämlich auf, Rick wurde gepackt und ins Haus gezerrt. Die Hintertür glitt lautlos wieder ins Schloß. Jetzt erst flammte Licht auf. Rick Masters sah sich einem Mann Anfang vierzig gegenüber, der ihn mit einer Mischung aus Angst, Neugierde und Nervosität betrachtete. »Sind Sie Rick Masters?« fragte der Mann. »Nein«, grinste Rick. »Ich schleiche nur zu meinem Vergnügen abends durch die Straßen von Peareswood und klopfe an Türen.« »Kommen Sie herein«, forderte ihn der Mann auf und ging in einen Wohnraum voran, in dem eine Frau Ende dreißig wie eine Steinstatue kerzengerade auf der Kante eines Sofas saß. »Ich bin Harold Blatcher, und das ist meine Frau Mary«, stellte der Hausherr vor. »Setzen Sie sich, Mr. Masters.« Rick nickte den beiden zu, folgte der Aufforderung und nahm dankend ein Glas Whisky an. »Ich weiß zwar nicht, worum es geht«, begann er, »aber der Empfang im Gasthof war ja sehr vielversprechend.« Er schilderte, wie er aufgenommen worden war. Das Ehepaar Blatcher war betroffen. »Wir rechneten nicht mit Schwierigkeiten, solange die Leute nicht wissen, wer und was Sie sind, Mr. Masters«, sagte Mary Blatcher besorgt. »Arbeiten Sie möglichst im Verborgenen, ehe etwas passiert.« »Woran soll ich überhaupt arbeiten?« drängte Rick ungeduldig. »Ich hätte es gern endlich erfahren.« »Werwölfe«, flüsterte Harold Blatcher. »Haben Sie davon schon etwas gehört?« Schreck fuhr ihm in die Glieder, weil Werwölfe besonders gefährlich und sehr schwer zu bekämpfen waren. Wenn hier in Peareswood tatsächlich eine dieser Bestien, die sehr selten auftraten, ihr Unwesen trieb, mußte er sich auf eine harte Auseinan31 �
dersetzung gefaßt machen. »Wie kommen Sie auf Werwölfe?« fragte er anstelle einer klaren Antwort. Er wollte erst hören, was seine Auftraggeber über die Sache wußten. Nicht selten war er bereits einer Ente aufgesessen. »Die Mehrzahl der Dorfbewohner, angeführt vom Bürgermeister, glaubt an einen wilden Hund oder einen Wolf«, faßte Mr. Blatcher die Lage zusammen. »Zumindest reden sie nur von einem wilden Tier. Vielleicht denken sie anders. Sie haben Jäger aus allen Gegenden kommen lassen, damit diese die gefährliche Bestie abschießen – bisher ohne Erfolg.« »Und der zweite Teil?« forschte Rick interessiert. »Niemand spricht seine Gedanken offen aus«, erklärte Mrs. Blatcher. »Alle haben Angst, sie könnten selbst in Gefahr geraten, wenn sie laut sagen, was sie denken. Aber aus Andeutungen hörten wir heraus, daß wir nicht die einzigen sind, die sich an die alten Legenden erinnern.« »Legenden?« horchte der Privatdetektiv auf. Er hatte schon oft die Erfahrung gemacht, daß mündliche Überlieferungen wichtige Hinweise liefern konnten. »Um welche Erzählungen handelt es sich?« »Werwölfe!« Harold Blatcher stieß das Wort wie einen Fluch hervor. »Manche Geschichten sprechen von einem Werwolf, andere von mehreren. Aber in allen wird ein Werwolf erwähnt, der vor vielen Jahrzehnten oder gar Jahrhunderten unsere Gegend unsicher machte. Er wurde in einem mörderischen Kampf von einem Mann besiegt, der selbst sein Leben lassen mußte. Wir hielten es früher einfach für eine hübsche Geschichte, die eine schöne Gänsehaut erzeugt. Aber jetzt…« Er brach ab und zuckte ratlos die Achseln. »Jetzt sind Sie nicht mehr so sicher, ob es sich wirklich um eine Legende handelt oder um einen Tatsachenbericht.« Rick lehnte 32 �
sich zurück und überlegte angestrengt. Es gab also keinen eindeutigen Hinweis auf das Wirken eines Werwolfes. Möglich, daß Mr. und Mrs. Blatcher durch den Todesfall in ihrer Familie so aufgerüttelt waren, daß sie weit über das Ziel hinausschössen mit ihrer Vermutung, dieses Fabelwesen könne hier sein Schreckensregiment aufgerichtet haben. Möglich aber auch, daß es sich tatsächlich… Rick schüttelte unwillig den Kopf. Spekulationen halfen ihm nicht weiter. »Ich übernehme den Fall«, entschied er endgültig. »Er ist interessant genug für mich, ganz gleich, ob es sich nun um einen Werwolf handelt oder nicht.« Die Blatchers blickten ihn betroffen an. »Glauben Sie uns etwa nicht?« rief Mr. Blatcher aus. »Das habe ich nicht gesagt«, wich Rick aus. »Ich hätte nur gern einen Beweis, ehe ich von dem Werwolf überzeugt bin.« »Den könnte Ihnen bestimmt das Ehepaar Fuller liefern«, behauptete Mrs. Blatcher überzeugt. »Die beiden verschweigen etwas.« »Sie hörten angeblich nichts, als mein Bruder dicht bei ihrem Haus getötet wurde«, knirschte Harold Blatcher. »Und als am Morgen einer der Jäger die Leiche fand und donnernd an ihre Haustür klopfte, wollen sie friedlich geschlafen haben. Keiner im Dorf glaubt ihnen, aber man kann ihnen auch nicht das Gegenteil nachweisen.« »Sehr interessant«, nickte Rick. »Ich glaube, ich sollte mir einmal dieses Ehepaar Fuller ansehen.« Er ließ sich den Weg zu dem vor Peareswood gelegenen Haus beschreiben, und da es noch nicht zu dunkel war, beschloß er, sich nach der langen Fahrt von London nach Wales die Beine zu vertreten und auf seinen Morgan zu verzichten. Er machte sich zu einem Gang ins Grauen auf.
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Erst als er das Haus der Fullers erreichte, das etwa eine Meile außerhalb von Peareswood lag, kam Rick seine Unvorsichtigkeit zum Bewußtsein. Wenn hier wirklich ein Werwolf sein Unwesen trieb, dann war es glatter Selbstmord, nachts und vor allem bei Vollmond zu Fuß unterwegs zu sein. Jeden Moment konnte ihn die Bestie angreifen! Endlich stand er vor der Haustür, atmete erleichtert auf und klopfte. Obwohl im Haus Licht brannte, kam niemand. Rick ließ sich jedoch nicht so leicht abschütteln. Er hämmerte so lange gegen die Tür, bis seine Fäuste schmerzten und schlurfende Schritte erklangen. »Wer ist da?« rief ein Mann. »Ich habe eine Nachricht vom Bürgermeister!« schrie Rick zurück. Da er keinen Spiegel in der Nähe hatte, konnte er nicht feststellen, ob er bei dieser Lüge rot wurde oder nicht. Es war ihm auch gleichgültig, ob sich sein Gesicht verfärbte, die Hauptsache war, daß sich endlich die Tür öffnete. Ein grauhaariger Mann musterte ihn verblüfft. »Ich dachte, es wäre Tom«, sagte Mr. Fuller. »Wer sind Sie? Ich habe Sie noch nie gesehen.« »Ich Sie auch nicht«, grinste der Privatdetektiv und betrat das Haus. Unverfrorenheit siegte! Mr. Fuller wußte nicht, was er tun sollte. Rick hatte sich sein Vorgehen genau überlegt. Wenn die Fullers vor den Dorfbewohnern etwas verbargen, würden sie sich hüten, zu hart gegen ihn aufzutreten oder gar irgend jemandem von seinem Besuch zu erzählen. Daher spielte er mit offenen Karten. »Ich bin Privatdetektiv«, erklärte er, zeigte seinen Ausweis und beobachtete Mr. Fuller scharf. »Ich komme aus London und 34 �
interessiere mich für die Todesfälle – und den Werwolf.« Allein schon Mr. Fullers Reaktion hätte genügt, um seinen Verdacht zu bestätigen, daß dieser Mann etwas wußte. Tom Fuller wurde kreidebleich und stützte sich an der Wand ab. Doch noch einen Beweis erhielt Rick Masters. Die Tür zum Wohnzimmer stand halb offen. Drinnen ertönte der Schreckensschrei einer Frau. Ohne auf Mr. Fullers Aufforderung zu warten, ging er an dem Hausbesitzer vorbei in den Wohnraum. Eine ebenfalls grauhaarige Frau, schmal und verhärmt, stand ihm gegenüber. Sie starrte ihn aus großen, angstgeweiteten Augen an. »Sagen Sie dieses Wort nie wieder in unserem Haus, ich flehe Sie an!« flüsterte sie, vor Aufregung des Sprechens kaum fähig. »Stürzen Sie uns nicht ins Verderben!« Rick tat die Frau leid. »Gut, Mrs. Fuller, ich halte mich an Ihre Wünsche, aber Sie sollten mir ebenfalls helfen.« »Helfen?« erklang hinter seinem Rücken die schneidend scharfe Stimme Tom Fullers. »Weshalb? Und wobei?« »Bei der Vernichtung des… eben dieses Wesens«, vermied Rick das gefährliche Wort. Mr. Fuller hatte sich vollständig verwandelt. War er zuerst tödlich erschrocken, zeigte er nunmehr keine Spur von Unsicherheit. Er war statt dessen aggressiv und wütend. »Sie drängen sich in unser Haus, bedrohen uns und verlangen von uns blanken Unsinn!« schrie er Rick an. »ich habe keine Ahnung, wovon Sie überhaupt sprechen!« »Ihre Frau weiß es um so besser«, fuhr Rick ins Wort. »Und Ihre Frau weiß auch, daß Sie beide in Gefahr schweben. Wo wurden die Leichen gefunden?« hakte er schnell nach. Mrs. Fuller ließ sich überrumpeln. »Eine drüben bei den Bäumen, eine oben auf dem Hügel und eine am Waldrand«, erwiderte sie, obwohl ihr Mann heftige Zeichen machte. 35 �
»Verdammt!« zischte Mr. Fuller, doch nun war es zu spät. »Sie haben also alle drei Morde beobachtet«, stellte Rick mit ätzender Schärfe in der Stimme fest. »Ja…«, setzte Mrs. Fuller an. »Nein!« fiel Tom Fuller ein. »Ja oder nein?« Rick setzte sich ungeniert. »Die drei Männer wurden alle in der Umgebung getötet, das stimmt schon«, mußte nun auch Mr. Fuller zugeben. »Aber wir haben nichts gesehen und gehört. Wir sind beide über fünfzig, ich beziehe eine Rente.« »Was hat das mit den Morden zu tun?« fragte Rick eisig. »Wir gehen zeitig schlafen und bleiben morgens lange liegen«, behauptete Tom Fuller. »So daß Sie nicht einmal hören, wenn ein Mann an der Haustür trommelt.« Rick nickte mit einem schiefen Grinsen. »Sie halten mich für sehr dumm. Aber gut, wenn Sie nicht wollen, daß ich dem ganzen Dorf und damit auch Ihnen gegen die Bestie helfe, müssen Sie die Folgen selbst tragen. Schließlich wohnen Sie ganz dicht an dem Gebiet, das gefährdet ist. Vielleicht wird einer von Ihnen beiden das nächste Opfer?« Das war nicht bloß eine leere Drohung, sondern erschien Rick Masters sogar als sehr wahrscheinlich. Dennoch erwiderte keiner der beiden etwas. Mrs. Fuller wagte offenbar nichts mehr zu sagen, damit sie mit ihrem Mann keinen Streit bekam. Und Mr. Fuller schien sich in den Kopf gesetzt zu haben, zu schweigen wie ein Grab. Entweder erkannte er die Gefahr nicht, die auch ihm und seiner Frau drohte, oder er brauchte sie aus irgendeinem Grund nicht zu fürchten. »Wenn Sie absolut nicht wollen, gehe ich zurück nach Peareswood«, seufzte Rick, der sich plötzlich müde und ohne Elan fühlte. »Sie dürfen doch jetzt nicht zu Fuß gehen!« rief Amelie Fuller 36 �
erschrocken aus. »Der Mond ist schon aufge…« »Laß ihn doch!« fuhr ihr Mann sie an. »Wer Spazierengehen will, soll es tun!« Rick Masters erhob sich mit einem Achselzucken. Auch diese kurze Meinungsverschiedenheit ließ tief blicken. Trotzdem unternahm er keinen Versuch mehr, etwas aus diesen Leuten herauszubekommen. Er nahm sich allerdings vor, sie nicht mehr aus den Augen zu lassen. Tiefe Dunkelheit umfing ihn, als die Haustür krachend hinter ihm zufiel. Mit sich und der Welt unzufrieden, machte er sich auf den Weg. Und dann hörte er das Heulen! Es kam aus der Richtung des Fullerschen Hauses, langgezogen, klagend. Rick, dessen Hand sofort zur Pistole zuckte, wirbelte herum und duckte sich. Er konnte das Haus von seinem Standpunkt aus nicht mehr sehen, ein Hügel hatte sich zwischen ihn und das Gebäude geschoben. War das ein Hund gewesen? Ein Wolf? Oder… der Werwolf? Die Hand mit der Pistole zitterte leicht, als Rick entsicherte und die Waffe in den Anschlag hochhob. Er wollte nicht das geringste Risiko eingehen, im Falle eines Angriffes durfte er keine Zeit verlieren. Der Werwolf – um einen solchen handelte es sich zweifellos – legte den Kopf weit in den Nacken, richtete die Schnauze zur blutroten Scheibe des Mondes. Erneut erscholl das klagende Heulen, hungrig, gierig, nach Blut geifernd. Im nächsten Moment war das Ungeheuer verschwunden. Rick verkrampfte sich sekundenlang. Er wußte, daß der Werwolf so lange an seinem Platz blieb, bis er eine Beute ausgemacht hatte. Erst dann verließ er jenen Punkt, von dem aus er den Mond durch sein Heulen verehrt hatte. 37 �
Wer war das Opfer, das dieses Ungeheuer erspäht hatte? Er selbst? Rick umspannte den Griff der Pistole, bereit, sofort auf die Bestie zu schießen. Ein neues, in dieser unheimlichen, spannungsgeladenen Situation fremdartiges Geräusch erregte die Aufmerksamkeit des Privatdetektivs. Lallen, Singen, Grölen! Hier irgendwo in der Nähe mußte sich ein Betrunkener herumtreiben. Die Erkenntnis traf Rick wie ein Schlag. Er glaubte, daß nicht er sondern dieser praktisch wehrlose Mann das Opfer werden sollte. Wieder hallte das Heulen des Werwolfes zu ihm, lauter jetzt und drohend, siegessicher. Das Ungeheuer hatte die Beute erspäht und näherte sich dem Ahnungslosen. Das heißt, ahnungslos war der Betrunkene nicht mehr. Er mußte das Heulen richtig gedeutet haben, denn sein Gelalle und Singen brach wie abgeschnitten ab. Rick hörte ein unterdrücktes ängstliches Stöhnen, gleich darauf das Platschen von Schritten auf einer nassen Stelle der Wiese. Der Mann versuchte zu fliehen! Rick verdoppelte seine Anstrengungen, bis er endlich einen Schatten vor sich sah, der mit ungeschickt rudernden Bewegungen das Gleichgewicht zu halten versuchte. Dabei kam der Betrunkene kaum von der Stelle. Ricks Pistole flog hoch, als hinter dem Fremden ein zweiter Schatten auftauchte und sich auf den Hilflosen stürzte. Sein Finger krümmte sich, doch in diesem Moment war ihm, als habe er einen fürchterlichen Tritt in den Rücken bekommen. Seine Hand schwenkte herum, der Schuß krachte in die Stille der Nacht hinein. Die Kugel verfehlte weit ihr Ziel, während Rick sich überschlug und kopfüber in den Morast fiel. Noch während des Sturzes sah er das Ende des Betrunkenen. Der Mann wurde von dem Werwolf umgerissen. 38 �
Rick glaubte, das Bewußtsein zu verlieren, als er den Schrei des Mannes hörte. Er hätte sich am liebsten die Ohren zugehalten, doch das ging nicht, weil er sich möglichst schnell wieder hochstemmte. Verletzt hatte er sich bei dem fürchterlichen Sturz nicht. Er blickte nach allen Seiten, während er sich benommen hochraffte. Niemand war in der Nähe, der ihn gestoßen haben konnte, und doch war er sicher, nicht einfach gestürzt zu sein. Jemand hatte ihn zu Fall gebracht! Als der Privatdetektiv endlich wieder auf den Beinen stand, hatte der Werwolf bereits sein grausiges Werk vollendet und wandte sich zur Flucht. Ohne einen Blick auf den Toten zu werfen, dem er doch nicht mehr helfen konnte, hetzte Rick hinter der Bestie her, waffenlos, denn die Pistole war in weitem Bogen weggeflogen. Mit schwer arbeitenden und stechenden Lungen blieb Rick stehen. Er war so erschöpft, daß er sich auf der Stelle ins nasse Gras sinken lassen wollte. Und nur eines konnte seine letzten Kraftreserven mobilisieren. Der entsetzte Schrei Amelie Fullers! * Rick Masters konnte nicht verstehen, was Mrs. Fuller schrie, aber ihre Stimme war von Panik erfüllt. Er überlegte nicht lange, setzte sich wieder in Bewegung. Sollte der Tote vielleicht gar Mr. Fuller sein? Das konnte es doch nicht geben. Wie hätte sich Tom Fuller in so kurzer Zeit betrinken sollen? Da es nicht ausgeschlossen war, daß es sich bei dem Opfer doch um Fuller handelte, nahm Rick den kleinen Umweg in Kauf, lief an der Leiche vorbei und überwand sich, einen Blick in 39 �
das Gesicht des Unglücklichen zu werfen. Das Gesicht, bleich vom Mond beschienen, hatte er noch nie gesehen. »Tom! Toooom!« konnte er jetzt die Rufe Mrs. Fullers verstehen. Es war also doch etwas mit ihrem Mann geschehen! Die Mordstelle lag ganz in der Nähe des einsam stehenden Hauses, so daß Rick nicht mehr lange brauchte. Mrs. Fuller verstummte, als sie ihn erblickte, wollte ins Haus zurückweichen und blieb stehen, als sie ihn erkannte. »Mr. Masters, Mr. Masters!« rief sie ihm schon von weitem entgegen. »Helfen Sie mir!« »Was ist passiert?« keuchte Rick, der kaum noch Luft bekam. »Mein Mann!« schluchzte Mrs. Fuller. »Er ist verschwunden!« Die wildesten Spekulationen wirbelten durch Ricks Kopf, während er sich ausgepumpt gegen die Hauswand lehnte. Warum sollte Mr. Fuller sein Heim verlassen? »Sind Sie ganz sicher?« stieß er hervor. »Ich habe alles nach ihm durchsucht, er ist nicht da!« Die Frau klammerte sich an seinem Arm fest. »Sie müssen mir helfen! Suchen Sie meinen Mann!« »Der Werwolf hat wieder ein Opfer getötet«, murmelte Rick, sich den Schweiß von der Stirn wischend. »Nein, nicht Ihren Mann«, fügte er schnell hinzu, als Mrs. Fuller taumelte. »Ein Betrunkener, den ich nicht kenne.« »Ich weiß, daß er hier war«, flüsterte Amelie Fuller kaum hörbar. »Ich hörte seine Stimme.« Ricks Augen zogen sich zu Schlitzen zusammen. »War Ihr Mann bei Ihnen, als Sie das Heulen hörten?« fragte er angespannt. »Nein«, antwortete sie spontan. »Da war er schon weg.« Also konnte auch Mr. Fuller der Werwolf sein, dachte Rick, sprach seine Vermutung jedoch nicht aus. »In den vergangenen drei Nächten, als die anderen Männer 40 �
getötet wurden«, erkundigte er sich in möglichst gleichgültigem Ton, »waren Sie da mit Ihrem Mann allein?« »Er war gar nicht im Raum«, erwiderte Mrs. Fuller, die in ihrer Angst um Tom kaum hinhörte, was Rick sie fragte. »Er war einmal im Bad, dann im Schlafzimmer. Warum fragen Sie?« »Ich dachte, das würde einen Hinweis geben, wo er jetzt ist«, schwindelte Rick. »Wir sollten die Polizei verständigen. Allein kann ich in diesem Fall nichts machen. Sie haben doch Telefon?« Mrs. Fuller nickte und ließ Rick eintreten. Der Privatdetektiv ging zum Telefon und rief in der Polizeistation von Peareswood an. Er meldete nur, daß er eine Leiche gefunden hatte und wo. Über die näheren Umstände erwähnte er nichts. »Ein Sergeant Brennon war am Apparat«, sagte er hinterher zu Mrs. Fuller. »Er gibt die Meldung an sämtliche Jäger weiter. Sie halten Ausschau nach Ihrem Mann.« Amelie Fuller war bereits ganz apathisch. Die Angst hatte sie ausgelaugt. »Ich gehe nach draußen und sehe mich um«, informierte Rick sie, doch sie hörte ihn wahrscheinlich gar nicht. Zitternd saß sie am Tisch und stierte ins Leere. Der Privatdetektiv zögerte, ob er die Frau in diesem Zustand allein lassen konnte. Noch ehe er sich entscheiden mußte, wurden vor dem Haus Stimmen laut. Er lief hinaus, dicht gefolgt von Mrs. Fuller, die mit einem Freudenschrei auf einen der in der Dunkelheit stehenden Männer zulief und ihm um den Hals fiel. »Tom!« schluchzte sie, dann verließen sie die Kräfte. Tom Fuller hob seine Frau hoch und trug sie ins Haus. Rick Masters wandte sich an einen etwa dreißigjährigen Mann in Polizeiuniform. »Sind Sie Sergeant Brennon?« fragte er. »Richtig«, bestätigte der Mann. »Und Sie sind Mr. Masters, der mich anrief? Zeigen Sie uns die Leiche?« Er deutete auf die ande41 �
ren Männer, von denen jeder ein Gewehr bei sich trug. »Ja… aber«, murmelte Rick verwirrt. »Haben Sie den Toten noch nicht gesehen?« »Wir kamen mit unseren Wagen sofort hierher«, erwiderte Sergeant Brennon. »Mr. Fuller nahmen wir auf halbem Weg von Peareswood hierher auf.« »Kommen Sie!« Rick übernahm die Führung. Vorbei an den in einem Halbkreis abgestellten Wagen der Jäger und des Polizisten gingen sie auf die Stelle zu, an der ein Mensch einen schauderhaften Tod gefunden hatte. »Sagte Mr. Fuller, wo er gewesen war?« wollte Rick von dem Sergeant wissen. »Er schwieg eisern«, meinte Brennon achselzuckend. »Er ist aber nicht der einzige, der sich nicht klar über seine Absichten ausspricht.« Dabei warf er einen Blick auf den neben ihm gehenden Privatdetektiv. Rick verstand die Anspielung auf seine Person sehr genau, doch er stellte sich taub. Noch brauchten die Leute nicht zu wissen, welche Rolle er in diesem Drama spielte. Der Mond schien noch immer hell genug, um die Leiche zu beleuchten. Die Taschenlampen der Jäger wären gar nicht nötig gewesen und enthüllten das Grauen nur noch schonungsloser. Keiner der Jäger sagte etwas, nur zwei von, ihnen machten sich auf die Suche nach Spuren, ein Unternehmen ohne Aussicht auf Erfolg, da das Licht nicht reichte und außerdem bereits zu viele Menschen den Boden zertrampelt hatten. Sie gaben ihre Suche auch bald wieder auf, ohne etwas gefunden zu haben, bis Sergeant Brennon einen lauten Ruf ausstieß. Er deutete wortlos auf eine Stelle neben dem Kopf der Leiche, eines im Dorf bekannten Trinkers. Sie alle sahen den Tatzenabdruck, klar und scharf in den feuchten Boden eingegraben. Nach Ricks Geschmack sogar etwas zu klar und zu scharf, doch er 42 �
behielt seine Meinung für sich, da ihn niemand danach fragte. Der Bürgermeister befand sich nicht bei dem kleinen Trupp. Rick verspürte auch keine Sehnsucht, mit diesem Mann zusammenzutreffen, der gegen alle Menschen rücksichtslos vorging, die anderer Meinung waren als er oder die ihn aus einem beliebigen Grund störten. Irgendwann würde es zwar zu einer Auseinandersetzung kommen, das fühlte er jetzt schon, doch für den Moment blieb er wenigstens verschont. Niemand stellte ihm Fragen, keiner wollte wissen, wer er wirklich war. Nur Sergeant Brennon befragte ihn kurz nach dem Hergang des Geschehens, aber Rick redete sich auf schlechte Lichtverhältnisse heraus. Er habe nichts sehen können. Bei dem hellen Mondlicht klang das zwar nicht glaubwürdig, doch niemand hakte nach, niemand stellte seine Aussage in Zweifel. Er konnte unbehelligt mit einem der Jäger zurück nach Peareswood fahren, während die anderen sich wieder verteilten und ihre Streifengänge aufnahmen. * »Du fällst in letzter Zeit oft in Ohnmacht«, stellte Tom Fuller mit einem fast fröhlichen Lächeln fest. Amelie schaute ihren Mann entgeistert an. Sie fühlte sich noch schwach nach all den Aufregungen und konnte nicht verstehen, wieso ihr Mann so gut gelaunt war. »Tom! Ein Mann ist tot! Und du lachst!« »Ein Fremder«, antwortete er achselzuckend. »Ich konnte nichts für ihn tun. Und gut gelaunt bin ich, weil ich diesen Privatdetektiv los bin, ohne etwas verraten zu haben.« Lange Zeit schwiegen sie, jeder seinen eigenen Gedanken nachhängend. Mrs. Fuller sprach als erste. »Du bist mir fremd geworden, Tom«, sagte sie traurig. »Du 43 �
hast dich verändert. Du genießt es, daß du mehr weißt als die anderen. Und du willst niemandem helfen.« »Mir hat mein Leben lang keiner geholfen, warum soll ich jetzt gut zu den Menschen sein.« Um Tom Fullers Mund erschien ein harter Zug. »Wer half mir denn, als ich den Unfall hatte und nicht mehr arbeiten konnte? Niemand! Und wer half mir, als wir von der kleinen Pension kaum leben konnten? Niemand!« »Das gibt dir nicht das Recht…«, wollte Amelie protestieren, aber er ließ sie nicht ausreden. »Recht?« fragte er verbittert. »Ich will nichts mit den Menschen zu tun haben, sie sollen mich in Ruhe lassen. Recht? Dieses Wesen, das Peareswood heimsucht, richtet sich nicht nach menschlichen Gesetzen.« »Wo warst du so lange?« lenkte seine Frau ab. Sie hatte eingesehen, daß sie bei ihrem Mann auf verschlossene Ohren stieß. »Ich machte mir entsetzliche Sorgen um dich!« »Er tötet nur einmal in jeder Vollmondnacht«, flüsterte Tom Fuller mit leuchtenden Augen. »Sobald er den Betrunkenen gemordet hatte, war ich sicher. Ich verfolgte ihn, blieb ihm auch auf der Spur, sogar viel länger als dieser Privatdetektiv aus London. Dann verlor auch ich ihn aus den Augen. Schade«, fügte er achselzuckend hinzu. »Ich hätte gern gewußt, wer sich dahinter verbirgt. Jetzt muß ich warten, bis es wieder Vollmond ist.« Amelie rückte ein Stück von ihm ab und betrachtete ihn kopfschüttelnd, zwischen Abscheu und Mitleid schwankend. Tom Fuller merkte es nicht. Seine Gedanken beschäftigten sich mit Dingen, die nichts mit dieser Welt zu tun hatten. Ein verderbliches Erbe hatte von ihm Besitz ergriffen. * Rick Masters engagierte sich in Fällen wie dem vorliegenden viel � 44 �
zu stark, als daß er nach »Dienstschluß« einfach hätte abschalten können. Auch im Schlaf verfolgten ihn die Erlebnisse des Tages, sah er den Werwolf, hörte er das Heulen, sah er die Leiche auf der nächtlichen Wiese. So war es kein Wunder, daß er am nächsten Morgen erwachte, als wäre er während der Nacht gerädert worden. Zu allem Überfluß schmerzten ihn auch noch die Beine, die er bei der Verfolgung des Werwolfes überanstrengt hatte. Mit einem ordentlichen Muskelkater setzte er sich auf dem Bett auf und stellte verdrossen fest, daß er in seinen Kleidern geschlafen hatte, was er auf den Tod nicht ausstehen konnte. Der weitere Verlauf des Morgens war nicht viel ermutigender. Beim Frühstück war der Tee schwach und schmeckte bitter, die Eier waren zu hart, der Toast verbrannt. Ricks Laune besserte sich auch nicht, als Mr. Harold Blatcher, sein Auftraggeber, den Schankraum betrat und sich zu ihm setzte. »Ich hatte eigentlich gedacht, Sie würden den Fall lösen«, sagte Blatcher leise und schielte dabei zu dem Wirt, der angestrengt seine Gläser hinter der Theke putzte, um sich kein Wort des Gesprächs entgehen zu lassen. Zu seinem Verdruß sprach Blatcher so leise, daß nur Rick es verstehen konnte. »Erst einmal sagt man ›guten Morgen‹ oder so ähnlich«, knurrte Rick, der absolut nicht in der Stimmung war, Vorwürfe einzustecken. Noch dazu, wenn die Vorwürfe nicht berechtigt waren. »Sie wissen genau, worum es für mich geht!« zischte Harold Blatcher, ohne den Einwurf des Privatdetektivs zu beachten. »Ich gebe mein Geld nicht dafür aus, daß Sie den… also, daß Sie ihn laufenlassen, diesen Unhold!« Rick starrte wütend über den verbrannten Toast hinweg in Blatchers Gesicht. »Wenn Sie so schlau und mutig sind, warum 45 �
haben Sie sich die Sache dann nicht selbst übertragen?« fragte er bissig. »Oder dachten Sie, ich müßte nur kommen, einmal hinsehen und hätte alles fertig und erledigt? Wie stellen Sie sich das eigentlich vor? Ich soll schließlich kein Schoßhündchen einfangen!« Blatcher schwieg verblüfft. Er hatte wahrscheinlich nicht weiter nachgedacht, als er den Privatdetektiv mit seinen Vorwürfen überfiel. Es war seine Enttäuschung darüber, daß der Werwolf noch ein viertes Opfer gefunden hatte, die er an Rick ausließ. »Wenn Sie mir nicht mehr zu sagen haben, hätten Sie sich den Weg sparen können«, versetzte Rick eisig, schob den nur zur Hälfte leergegessenen Teller von sich und steckte sich eine Zigarette an. Blatcher erhob sich und verließ wortlos den Schankraum. So hatte er sich das Gespräch mit Masters vermutlich nicht vorgestellt. Direkt vor dem Gasthof mußte Blatcher mit jemandem zusammengestoßen sein, denn Rick hörte seine laute und noch eine bekannte Stimme. Die beiden Männer stritten sich. »…hergeholt, das wissen wir schon!« hörte Rick den Bürgermeister sagen. »Aber damit kommen Sie bei uns nicht durch, Blatcher. Keiner in Peareswood wird Sie unterstützen, lassen Sie sich das gesagt sein!« Harold Blatcher erwiderte etwas ziemlich Unfeines und entfernte sich. Rick Masters seufzte hörbar. Nach der Auseinandersetzung mit seinem Auftraggeber stand ihm offenbar ein Streit mit dem Bürgermeister bevor, denn dieser betrat den Schankraum, blickte sich um und steuerte auf Ricks Tisch zu. Frank Jeffries blieb einen Moment vor dem Tisch stehen, so daß Rick ausreichend Gelegenheit bekam, den großen Mann zu mustern. 46 �
»Sie haben genau die Figur des Werwolfs«, sagte der Privatdetektiv, als unterhalte er sich über das Wetter. Die Wirkung war umwerfend. Frank Jeffries taumelte einen Schritt zurück, dann zog er sich einen Stuhl heran und ließ sich darauf sinken. In seine Augen trat ein kaltes Glitzern. »Haben Sie sich von diesem Idioten die Ohren vollsingen lassen?« fauchte er. »Glauben Sie, was Blatcher sagt?« »Ich glaube nur, was ich sehe«, gab Rick ungerührt zurück. »Und letzte Nacht sah ich, wie ein Werwolf den Betrunkenen tötete.« Der Bürgermeister schwieg, nagte an seiner Unterlippe und bemühte sich, sein Pokergesicht beizubehalten. Trotzdem merkte ihm Rick deutlich seine Zweifel an. »Ich glaube Ihnen nicht«, entschied der Bürgermeister endlich. »Wie Sie wollen«, sagte Rick achselzuckend. »Ich habe Sie nicht gebeten, sich zu mir zu setzen, und ich habe Sie nicht gebeten, mir zu glauben. Ich bitte Sie aber, mich in Ruhe zu lassen.« Frank Jeffries schluckte schwer, während der Wirt lange Ohren machte. »Sie können nicht so mit mir umspringen«, knirschte Jeffries. »Und warum nicht?« erkundigte sich Rick. »Weil… es geht nicht an, daß Fremde sich einmischen!« brüllte der Bürgermeister, zu seiner altgewohnten Grobheit Zuflucht nehmend. »Wenn es Ihnen unangenehm ist, daß ich mich einmische, ziehe ich mich natürlich sofort zurück«, tat Rick, als würde er bereitwillig auf Jeffries Verlangen eingehen. Der Bürgermeister hob bereits erstaunt die Augenbrauen, als für ihn die kalte Dusche kam. »Dann rufe ich aber Scotland Yard an, Chefinspektor Kenneth Hempshaw. Der Chefinspektor setzt sich sofort mit seiner kompletten Mordkommission in drei Dienstwagen und stellt Peareswood auf den Kopf. Sie können es sich aussuchen!« 47 �
Die Blicke der beiden Männer verkrallten sich ineinander. Der Bürgermeister senkte zuerst seine Augen. »Sie bluffen«, sagte er unsicher. »Begleiten Sie mich auf das Postamt, dort können Sie das Gespräch mit Scotland Yard abhören«, bot Rick an. Frank Jeffries kämpfte schwer mit sich, dann zuckte er die breiten Schultern. »Wie Sie wollen«, seufzte er. »Sie haben also gesehen, wie ein Hund den…« »Ein Werwolf«, verbesserte ihn Rick. »Ein Mensch mit einem Wolfskopf, um es ganz genau zu sagen.« Der Bürgermeister sah, daß ihm der Fremde keinen Schritt entgegenkommen wollte und auf keinen Fall auf seine Vertuschungsversuche eingehen würde. »Kommen Sie mir nicht in die Quere«, drohte er nur, stand auf und wollte gehen, als Rick ihn anrief. »Das gleiche wollte ich eben Ihnen empfehlen, Mr. Jeffries!« rief er dem Bürgermeister nach. »Sie handeln sich viel Ärger ein, wenn Sie mich in meiner Arbeit behindern!« Frank Jeffries ballte seine großen Hände zu Fäusten, schob diese in die Hosentaschen und stampfte hinaus auf die Straße, die Tür hinter sich zuschmetternd. Ricks Laune hatte sich durch die beiden Streits zwar nicht gebessert, doch dafür war der Rest von Schlaf verflogen, der ihn noch gelähmt hatte, und er vergaß, sich über das schlechte Frühstück zu beschweren. So konnte er ohne weitere Verzögerung den Gasthof verlassen, um diesmal seinerseits einem Menschen das Leben schwerzumachen. * Der Mann, dem Rick Masters das Leben schwermachen wollte, � war Sergeant Brennon, der eigentlich schon genug Ärger am � 48 �
Hals hatte. Er mußte nicht nur Rücksicht auf die Stimmung in Peareswood nehmen und durfte nichts tun, was den Zorn der Leute heraufbeschworen hätte, er mußte sich auch an seine Dienstvorschriften halten. Für ihn gab es nur einen einzigen Vorteil. Alle Aussagen über die vier gräßlichen Todesfälle ließen keinen Schluß auf einen menschlichen Täter zu. Die Jagd auf gefährliche Tiere fiel jedoch nicht in seinen Bereich. Als Rick Masters die Polizeistation betrat, saß Sergeant Brennon an seinem Schreibtisch hinter der hölzernen Barriere. Er verzog das Gesicht, als er den Privatdetektiv erblickte. »Guten Morgen, Mr. Masters«, grüßte er dennoch und kam Rick entgegen. »Kann ich etwas für Sie tun?« »Sie könnten sich überlegen, was Sie unternehmen«, erwiderte Rick kühl. »Schließlich sind vier Tote nicht nur ein Zufall, über den man mit einem Achselzucken hinweggehen kann.« »Das brauchen Sie mir nicht zu sagen«, gab der Sergeant zurück, sofort alle Freundlichkeit verlierend. »Ich kenne meine Pflichten.« »Wirklich?« Rick zog die Augenbrauen zusammen und fixierte den Sergeant, der unter seinem bohrenden Blick unsicher wurde. »Haben Sie Ihre vorgesetzte Dienststelle verständigt? Haben Sie die Spuren bei den Leichen gesichert? Wurden die Leichen gründlich untersucht?« Bei jeder dieser Fragen wurde der Sergeant kleiner und kleiner. Er setzte zu einer Entgegnung an, doch Rick ließ ihn gar nicht zu Wort kommen. »Sie haben nichts unternommen, weil Sie Ihren Mitbürgern nicht auf die Zehen steigen wollten«, redete er sich in Wut. »Vielleicht hätten sie einen, sogar zwei Morde verhindern können.« »Es waren keine Morde«, kam Sergeant Brennon nun doch zu Wort. 49 �
Rick blickte ihn hart an, am Rande einer Explosion schwebend. »Sie kennen doch sicher wie alle anderen Einwohner von Peareswood die Legende, die…« »Legenden?« unterbrach ihn der Polizist erstaunt. »Wovon sprechen Sie?« Sein Erstaunen war echt, so daß Rick etwas zugänglicher wurde. Bald schon stellte sich heraus, daß Sergeant Brennon erst vor zwei Jahren nach Peareswood versetzt worden war, daß er die Legenden über den Werwolf tatsächlich nicht kannte und nicht an die Existenz eines solchen Fabelwesens glaubte, wie er sich ausdrückte. Rick verzichtete darauf, ihm das »Fabelwesen« zu schildern, das er letzte Nacht mit eigenen Augen gesehen hatte. Menschen wie der Sergeant, die nicht an die Existenz von Übersinnlichem glaubten, konnten nicht durch Worte überzeugt werden. Sie mußten den Tatsachen gegenübergestellt werden. »Trotz allem haben Sie versäumt, die nötigen Spurensicherungsarbeiten durchzuführen«, kehrte Rick zu einem der ersten Vorwürfe zurück. »Es gab nichts zu sichern«, verteidigte sich Brennon. »Sie sahen es nicht, aber es waren zu viele Personen jeweils an der Fundstelle der Leichen. Bis auf zwei Pfotenabdrücke war nichts mehr zu sehen, und von diesen Spuren stellte ich Gipsabdrücke her. Mehr konnte auch ich nicht tun. Alles Weitere ist Sache des Bürgermeisters und der Jäger, wie Sie wissen.« »Die Spuren waren alle zertrampelt«, überlegte Rick halblaut. »Ja, richtig!« Sergeant Brennon wußte überhaupt nicht mehr, was er von diesem Rick Masters halten sollte, als ihn der Privatdetektiv ganz einfach stehenließ und aus der Station jagte, als wäre ihm etwas Lebenswichtiges eingefallen. Tatsächlich war Rick eine wichtige Idee gekommen, eine Idee, 50 �
die unter Umständen dem ganzen Fall eine entscheidende Wendung verleihen konnte. * Eilig lief Rick Masters zurück zum Gasthof, vor dem sein offener Sportwagen parkte. Er warf sich hinter das Steuer und raste aus dem Dorf hinaus. Das Auto mußte er schon vor seinem Ziel abstellen, weil sich der Morgan nicht für eine Querfeldein-Fahrt eignete. Das restliche Stück bis zur Fundstelle der letzten Leiche legte er zu Fuß zurück. Es hatte die Tage zuvor häufig geregnet, das hatte er von Mr. Blatcher erfahren. Doch während der letzten Nacht und im Laufe dieses Morgens war kein Niederschlag gefallen. Also mußten eigentlich alle Spuren, die jemand knapp vor und nach dem Mord an dem Betrunkenen hinterlassen hatte, noch vorhanden sein. Es stimmte zwar, was Sergeant Brennon behauptete, nämlich daß die Spuren rings um die Mordstelle zertrampelt worden waren, als sich die Jäger an der Leiche versammelten, doch der Werwolf war von einem weiter weg liegenden Hügel gekommen und in Richtung Peareswood geflohen. Rick wunderte sich, daß vor ihm noch niemand daran gedacht hatte, außerhalb der zertrampelten Stellen nach Spuren zu suchen. Oder aber die Leute hatten daran gedacht und nur deshalb nichts unternommen, weil sie die Folgen fürchteten. Noch ehe Rick Masters jenen Bereich betrat, in dem sich während der Nacht die meisten Leute aufgehalten hatten, wandte er sich zur Seite und begann, einen großen Kreis um den Ort des Schreckens zu schlagen. Er beobachtete dabei aufmerksam jeden Fußbreit Bodens, soweit er noch Einzelheiten erkennen konnte. 51 �
Kreuzten einmal zwei Fußspuren gleichzeitig seinen Weg, so daß sie eventuell eine schmale Wolfsspur überdecken konnten, folgte Rick ihnen vom Tatort weg, bis er eindeutig festgestellt hatte, daß hier nur Menschen gegangen waren. Erst danach nahm er seinen Rundgang wieder auf. In dieser Weise kam er zwar nur langsam voran, dafür hatte er Erfolg. Mit angehaltenem Atem betrachtete er endlich die Wolfsspur, die sich vom Hügel, auf dem er den Werwolf zuerst gesehen hatte, bis zur Mordstelle zog. Er verfolgte die Spur rückwärts und blieb schon nach wenigen Schritten wie angewurzelt stehen. Die Wolfsspur endete. Vom Hügel bis hierher war ein Mensch gegangen, ein Mensch mit ganz normalen Schuhen. Hier wechselte die Menschenspur auf eine Wolfsspur um. Rick Masters mußte sich über die Bedeutung seiner Entdeckung erst Klarheit verschaffen. Vorläufig konnte er noch keine richtigen Schlüsse daraus ziehen. Er kehrte zu seinem Rundgang zurück, entdeckte auch die zweite Spur, die der Werwolf bei seiner Flucht hinterlassen hatte, und kam auch diesmal an eine Stelle, an der die Wolfsfährte in eine Menschenspur überging. Der Werwolf, das stand nunmehr fest, hinterließ nur dann die echten Pfotenabdrücke eines Wolfs, wenn er kurz vor einem Mord stand und kurz danach. Davor und danach ging er in Menschengestalt, in Schuhen. Rick konnte noch nicht entscheiden, wie er sich weiterhin verhalten sollte, aber eines wurde ihm jetzt schon klar. Der Werwolf von Peareswood war vermutlich noch schwieriger unschädlich zu machen als andere Bestien seiner Art. *
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Auf dem Rückweg zu seinem Wagen wurde Rick Masters auf einen Mann aufmerksam, der sich ihm mit schnellen Schritten näherte. Als der Fremde näher kam, erkannte der Privatdetektiv in ihm einen der Jäger, die sich in der letzten Nacht an der Leiche eingefunden hatten. Er blieb stehen und wartete, bis ihn der Jäger eingeholt hatte. Als der junge Mann endlich vor ihm stand, fiel ihm eine entfernte Ähnlichkeit mit dem Sergeant aus Peareswood auf. Sein gutes Auge wurde gleich darauf bestätigt. »Mein Name ist Brennon, Walter Brennon«, stellte sich der Jäger vor und nickte Rick freundlich zu. »Ich bin der Bruder von Sergeant Brennon, und im Gegensatz zu meinem Bruder und zu den anderen Einwohnern dieses Nests freue ich mich, daß Sie hier sind.« »Und warum tun Sie das?« erkundigte sich Rick. »Sie wohnen nicht hier, nicht wahr? Welches Interesse haben Sie also daran, daß ich mich einmische?« Walter Brennon geriet keinen Moment in Verlegenheit. »Ich glaube, daß die Leute von Peareswood ein ganz mieses, abgekartetes Spiel treiben. Mich freut einfach, wenn dieses Spiel gestört wird. Die Wahrheit muß ans Tageslicht gebracht werden.« »Große Worte«, grinste Rick, »aber haben Sie sich schon überlegt, was getan werden muß?« Auch jetzt zögerte Walter Brennon nicht mit einer Antwort. »Ich glaube nicht an die Theorie mit dem wilden Hund oder dem Wolf. Ich bin überzeugt, daß wir es mit einem menschlichen Mörder zu tun haben, der nur die Tatzenabdrücke am Tatort hinterläßt. Er hat sich eine Wolfspfote verschafft und benützt sie wie… wie einen Stempel.« Rick wußte es besser, behielt das jedoch für sich. »Warum sollte er das tun?« forschte er weiter. »Entweder ist der Mann wahnsinnig«, meinte Brennon, »oder 53 �
sehr raffiniert. Ich habe etwas aufgeschnappt von einer alten Legende über einen Werwolf. Zufällig weiß ich, was ein Werwolf angeblich ist. Der Mörder kennt ebenfalls diese Legende, benützt sie für seine Zwecke und hat erreicht, daß niemand eine Untersuchung anstellt, weil alle vor dem angeblichen Werwolf zittern.« Rick wurde immer nachdenklicher. Nun gut, er hatte den Werwolf gesehen, aber schloß das aus, was Walter Brennon behauptete? Konnte es sich nicht tatsächlich um einen verkleideten Menschen handeln? Doch dann verneinte Rick für sich diese Frage. Ein Mensch konnte nicht die Geschwindigkeit erreichen, mit der der Mörder in der Nacht vor ihm geflohen war. Ein Mensch konnte nicht mit künstlichen Wolfspfoten an Beinen und Händen so schnell und sicher laufen wie der Werwolf vor und nach dem Mord. Außerdem hatte der Arzt des Dorfes bei allen vier Opfern festgestellt, daß sie von einer reißenden Bestie zerfleischt worden waren. Der Tod war nicht etwa durch die Verletzung mit einer Waffe eingetreten, sondern durch Wunden, die von Klauen und Zähnen hervorgerufen worden waren. Das wiederum schloß aus, daß sich ein Mann nur maskiert hatte, um den Verdacht auf ein Tier zu lenken. Wäre der Wolfskopf nur eine Attrappe gewesen, hätte der Mörder nie mit dem Wolfsgebiß tödliche Wunden zufügen können. »Sie sind der einzige Jäger, der auch tagsüber unterwegs ist«, stellte Rick fest, »Was versprechen Sie sich davon?« Über Walter Brennons Gesicht huschte ein flüchtiges Lächeln. »Ich befinde mich nicht mehr auf der Jagd wie die anderen«, erklärte er. »Das Gewehr trage ich zu meinem persönlichen Schutz bei mir. Ich suche nämlich auf eigene Faust den Mörder – einen Mann, kein Tier!« Rick nickte ihm aufmunternd zu. »Viel Glück«, wünschte er 54 �
dem jungen Mann. »Ich warne Sie aber! Seien Sie vorsichtig. Sie haben es mit einem gefährlichen Gegner zu tun.« »Sie glauben mir also?« rief Brennon erfreut. »Was tun Sie ausgerechnet in dieser Gegend?« lenkte Rick ab. »Suchen Sie hier nach Spuren?« Brennon schüttelte den Kopf. »Ich beobachte das Haus der Fullers. Die beiden verschweigen etwas. Sie haben den Mörder ganz bestimmt gesehen.« Nicht nur das, dachte Rick, schwieg auch diesmal und verabschiedete sich von Walter Brennon, nachdem er den Jäger noch einmal vor der Gefährlichkeit des Gegners gewarnt hatte. Die Fullers! Rick wußte mehr als Brennon. So wußte er, daß Tom Fuller entweder alles oder fast alles über den Werwolf bekannt war. Wenn er diesen Mann doch nur zum Sprechen hätte bringen können! Ricks Blick suchte das einsam stehende Haus, glitt weiter zu den Punkten, an denen in vier aufeinanderfolgenden Nächten vier Menschen unter den Klauen und Zähnen des Werwolfs gestorben waren. Er durfte nicht zulassen, daß noch jemand der Bestie zum Opfer fiel. Und wenn er mit allen Mitteln arbeiten mußte, er würde Tom Fuller oder seine Frau zum Sprechen bringen! Entschlossen änderte er seine Richtung und ging auf das Haus zu, das verschlossen war wie eine Burg. * Die Fullers waren daheim, eine Bewegung der Gardine hatte sie verraten. Trotzdem öffnete diesmal niemand, so stark Rick Masters gegen die Tür schlug und trat. »Na gut, dann eben anders«, murmelte der Privatdetektiv grimmig. Er stellte sich grinsend das triumphierende Gesicht 55 �
Mr. Fullers vor, als dieser sah, daß sich der Fremde zurückzog. Es war ein Rückzug, um besser angreifen zu können. Rick kehrte nämlich zu seinem Morgan zurück, fuhr wieder zu Fullers Haus und richtete die Kühlerschnauze auf die Eingangstür. In einer Entfernung von nur wenigen Schritten stehend, drückte er ohne Unterbrechung auf den Hupknopf. Vorher allerdings hatte er einen verborgenen Schalter betätigt. Das Schrillen war darauf ausgelegt, die Londoner Straßen freizufegen. Hier in der Stille der ländlichen Gegend wirkte es doppelt und dreifach. Rick brauchte nicht lange zu warten, und das war ihm nur lieb, sonst wäre womöglich ganz Peareswood hier draußen zusammengelaufen. Die Haustür flog auf. Tom Fuller kam mit hochrotem Gesicht herausgelaufen und blieb dicht vor Ricks Wagen stehen. Seine Lippen bewegten sich, doch nicht ein einziges Wort war zu hören. Der Privatdetektiv nahm den Finger vom Hupknopf und stieg lässig aus. »Wahnsinnig geworden?« konnte er eben noch aus Mr. Fullers Mund hören. »Sie hätten es sich erspart, wenn Sie geöffnet hätten«, antwortete Rick freundlich. »Ich öffne, wann ich will!« fauchte Fuller. »Und jetzt verschwinden Sie!« »Ich denke gar nicht daran!« brüllte Rick den erschrockenen Mann an. »Sie spucken auf der Stelle aus, was Sie wissen, sonst lernen Sie mich von einer anderen Seite kennen!« Er hütete sich, eine Drohung auszusprechen, die Fuller hinterher gegen ihn verwenden konnte. Doch sein Auftreten reichte aus, um den Mann unsicher werden zu lassen. »Ich weiß nicht, was Sie wollen«, versuchte Fuller sich zu retten. 56 �
»Doch!« Rick trat einen Schritt näher, Fuller wich zurück. Rick setzte nach, bis der Mann mit dem Rücken gegen die Hauswand gepreßt stand und sich nicht mehr zurückziehen konnte. »Raus mit der Sprache!« verlangte Rick. »Was wissen Sie? Heute nacht darf niemand mehr sterben! Ich werde es verhindern!« »Brauchen Sie gar nicht«, meinte Fuller kleinlaut. »Es wird niemand sterben.« »Ach!« Rick näherte sich dem Mann noch mehr. »Woher wollen Sie das wissen?« »Der Mond nimmt ab«, erklärte Tom Fuller. »Nur bei Vollmond kann der… der… kann er töten. Heute ist die Kraft des Mondes bereits zu schwach.« Rick nickte langsam und betont. »Dann verraten Sie mir nur noch eines!« verlangte er. »Woher wissen Sie das? So etwas liest man nicht in den Zeitungen!« »Das sage ich nicht«, trotzte Fuller und schüttelte hartnäckig den Kopf. »Sag es ihm doch, dann hast du Ruhe!« erklang in diesem Moment die Stimme seiner Frau von der Eingangstür her. »Er kriegt es ja doch heraus!« »Du schweigst!« schrie Tom Fuller aufgebracht. »Bringe uns nicht in Gefahr!« Rick wollte eingreifen, wollte den beiden klarmachen, daß sie erst recht in Gefahr gerieten, wenn sie ihm nicht halfen, doch er kam zu spät. Mrs. Fuller zog sich rasch ins Haus zurück und schlug die Tür hinter sich zu, und aus Fuller würde er die Wahrheit nur herausbekommen, wenn er Gewalt anwendete, was für ihn aber nicht in Frage kam. Resignierend trat er einen Schritt zurück. Er maß Tom Fuller mit einem durchbohrenden Blick. »Wenn doch noch ein Mensch stirbt, dann ist es Ihre Schuld«, sagte er leise. »Dann müssen Sie sich bis an Ihr Lebensende den Vorwurf machen, daß Sie diese Person retten konnten, wenn Sie gesprochen hätten.« 57 �
Rick blieb nur eine Hoffnung, nämlich daß Tom Fullers Behauptung stimmte, der Werwolf würde nicht weitermorden, weil der Mond bereits zuviel von seiner Kraft verloren hatte. Das war allerdings wirklich nur eine verzweifelte Hoffnung, mehr nicht. * »Dieser Privatdetektiv ist eine Niete!« schrie Harold Blatcher aufgebracht und ließ seine Faust krachend auf den Tisch schmettern, daß seine Frau erschrocken zusammenzuckte. »Wir bezahlen ihm ein horrendes Honorar, damit er die Bestie unschädlich macht, und was tut er? Sieht zu, wie dieser Säufer ermordet wird!« »Du weißt doch gar nicht, was geschehen ist, Harold«, versuchte Mary Blatcher, den Zorn ihres Mannes zu besänftigen. »Mr. Masters hat nicht umsonst einen guten, sogar einen hervorragenden Ruf. Aber was kann er gegen dieses Ungeheuer ausrichten?« »Wie meinst du das?« fragte Harold Blatcher, tatsächlich etwas ruhiger geworden. Seine Frau rückte ein Stück näher an ihn heran und senkte ihre Stimme zu einem geheimnisvollen Flüstern. »Wir glauben, daß es sich um den Werwolf handelt, von dem die alten Sagen sprechen, Harold. Was kann ein Mensch gegen dieses Wesen tun? Ich glaube Mr. Masters, wenn er behauptet, daß er machtlos war.« »Er hat keinen Verstand«, urteilte Harold. »Natürlich kann er den Werwolf nicht überwinden, wenn er nachts und noch dazu bei Vollmond mit ihm kämpft, aber es gibt ein ganz anderes Mittel.« »Warum hast du es ihm noch nicht verraten, wenn du eines 58 �
kennst?« fragte Mary gereizt. »Er hätte selbst daraufkommen können«, behauptete Mr. Blatcher. »Ein Werwolf lebt als normaler Mensch unter uns und verwandelt sich nur zu bestimmten Zeiten. Mr. Masters hätte sich auf die Lauer legen müssen, um zu sehen, wo die Bestie verschwindet. Genau das werde ich tun.« Mary Blatcher warf sich gegen die Haustür. »Ich gehe nicht von der Stelle!« schrie sie ihrem Mann entgegen. »Ich lasse nicht zu, daß du mit offenen Augen in dein Verderben rennst!« Sie hatte nicht mit Haralds Entschlossenheit gerechnet. Er zog sie von der Tür weg, verließ das Haus und war in der Dunkelheit verschwunden, noch ehe sie etwas tun konnte. Aus brennenden Augen starrte sie in die Richtung, die ihr Mann eingeschlagen hatte. Sie wußte, wie eng das Verhältnis zwischen ihrem Mann und seinem Bruder gewesen war, aber sie hatte nicht damit gerechnet, daß Harold eine solche Todesgefahr auf sich nahm, um Alf zu rächen. Schon wollte sie niedergeschlagen ins Haus zurückkehren, als ihr eine Idee kam. Hastig holte sie ihren Mantel und die Schlüssel, zwei Minuten später startete sie den Wagen und fuhr los. Vor dem Gasthof bremste sie. Wenn hier noch einer helfen konnte, dann war es der Privatdetektiv aus London! * Rick Masters stocherte lustlos in seinem Abendessen herum. Einerseits beschäftigte der Wirt eine schauderhafte Köchin, die den Ausspruch widerlegte, daß dicke Köchinnen gut kochen. Sie war zwar dick wie eine Tonne, doch Rick bemitleidete seinen Magen. Und andererseits war seine Laune auf den Nullpunkt gesunken. Schon lange war es ihm in keinem Fall mehr passiert, daß er 59 �
sich dermaßen festgefahren hatte. Er wußte, wo der Schlüssel des Rätsels lag, kam jedoch nicht heran. Das Ehepaar Fuller mußte sein Wissen preisgeben, aber er konnte die Leute nicht zwingen. Auf der anderen Seite war er nicht nur hier, um den Werwolf aufzufinden, sondern auch, um weitere Morde zu verhindern. Weder die eine noch die andere Aufgabe konnte er unter diesen Umständen erfüllen. Er hatte schon mit dem Gedanken gespielt, sich nachts auf die Lauer zu legen und den Werwolf zu verfolgen, um zu sehen, in wen sich das Wesen zurückverwandeln würde, hatte den Gedanken jedoch wieder verworfen. Er nahm seine Aufträge zwar stets ernst, ging jedoch nicht so weit, daß er Selbstmord betrieb. Und einem Selbstmord kam es gleich, sich dem Werwolf schutzlos zu nähern. Eine Pistole, das stand fest, war kein ausreichender Schutz. Um vor einem Angriff des Ungeheuers sicher zu sein, hätte er mehr über den Werwolf wissen müssen, seine Herkunft, seine Geschichte, die Ursache seines Auftauchens. An eben dieses Wissen kam er nicht heran, weil die Fullers schwiegen. Die Schlange biß sich in den Schwanz! Noch während Rick Masters düster nach einem Mittel grübelte, wie er den Teufelskreis durchbrechen konnte, flog die Tür des Schankraums auf. Er selbst saß in einem kleinen Nebenraum, in dem nur Platz für drei Tische war. Während draußen der normale Pub-Betrieb ablief, konnte er hier drinnen ungestört essen, da außer ihm niemand im Raum war. Die Eingangstür schlug gegen die Wand, die Gespräche verstummten. Die Männer im Pub betrachteten teils erstaunt, teils erschrocken Mrs. Blatcher, die in der offenen Tür stand und sich ängstlich umsah. Sie entdeckte Rick und lief in den Nebenraum. Der Privatdetektiv erhob sich beunruhigt. Deutlich konnte man sehen, daß etwas geschehen war. Hing es mit dem Werwolf 60 �
zusammen, daß Mrs. Blatcher sich an ihn wandte? Fuller hatte doch versichert, daß nichts mehr geschehen würde! Die Männer im Schankraum besprachen aufgeregt das Auftauchen der Frau. Keiner von ihnen folgte ihr, und das Gemurmel überdeckte jedes andere Geräusch, so daß das Gespräch zwischen Rick und Mrs. Blatcher nicht mitgehört werden konnte. »Sie müssen sofort kommen, Mr. Masters!« keuchte Mary Blatcher außer Atem. »Helfen Sie mir!« »Erst setzen Sie sich und erzählen mir, was geschehen ist!« verlangte Rick mit einem beruhigenden Ton in der Stimme. Mrs. Blatcher sah aus, als würde sie jeden Moment die Fassung verlieren, und dann würde er gar nichts mehr von ihr erfahren. »Mein Mann«, stieß sie hervor. »Er ist verrückt geworden! Er möchte der Bestie auflauern und sie verfolgen! Er möchte sehen, wer es ist! Er hält Sie für unfähig, weil Sie noch nicht auf den Gedanken gekommen sind, draußen bei den Fullers Posten zu beziehen!« »So ein Narr!« entfuhr es Rick. »Er müßte wissen, daß es tödlich ist, ohne Waffe gegen den Werwolf anzukämpfen.« Mrs. Blatcher wurde noch einen Schein blasser. »Er will ja nicht kämpfen«, murmelte sie tonlos. »Er will sich verstecken und…« »Der Werwolf findet ihn, auch wenn er sich irgendwo eingräbt«, flüsterte Rick. »Wo ist Ihr Mann jetzt? Noch zu Hause? Wir müssen ihn unbedingt aufhalten!« »Er ist zum Fuller-Haus gegangen«, gab Mrs. Blatcher Auskunft. »Glauben Sie wirklich, daß er in Todesgefahr ist?« Rick dachte daran, daß Mr. Fuller behauptet hätte, der Werwolf wäre von jetzt an wieder ungefährlich. Er konnte es nicht so recht glauben, seine Erfahrungen sprachen dagegen. »Beeilen wir uns«, wich er einer Antwort aus. »Sind Sie mit einem Wagen da?« Als Mrs. Blatcher nickte, verlor Rick keine Sekunde mehr. Er 61 �
bahnte ihr einen Weg nach draußen, ohne sich um die neugierigen Blicke und Fragen zu kümmern, sprang in seinen Morgan und ließ Mrs. Blatcher voranfahren. Mit zwei Wagen harten sie größere Chancen, Harold Blatcher einzukreisen, falls er ihnen zu entkommen suchte. Mary Blatcher jagte mit aufheulenden Reifen aus Peareswood hinaus, Ricks flacher Sportwagen schoß hinterdrein. Die Jagd mit dem Tod hatte begonnen. Sie brauchten gar nicht bis an das einsam gelegene Haus heranzufahren. Nur ein kurzes Stück außerhalb der Ortschaft erfaßten die Scheinwerfer von Mrs. Blatchers Wagen für einen Moment die Gestalt eines Mannes, der über die Wiesen lief. Da sie soeben eine Kurve durchfuhr, geriet der Mann augenblicklich wieder aus dem Lichtkegel, aber Rick reagierte geistesgegenwärtig. Er stieg voll auf die Bremse, sobald seine Scheinwerfer auf Mr. Blatcher gerichtet waren. An seinem Morgan war ein zusätzlicher Suchscheinwerfer montiert, den er jetzt einschaltete und kurz nach allen Seiten über die dunkle Wiese streichen ließ. Zu seiner Erleichterung war nirgendwo die furchterregende Gestalt des Werwolfs zu sehen. Mit einem Handgriff schaltete er den Motor aus und öffnete die Tür. Eine Verfolgung Mr. Blatchers mit dem Wagen war unmöglich, da auf der unebenen Wiese an ein Vorankommen nicht zu denken war. Er stand schon auf der Straße, als Mrs. Blatcher zurückstieß, wendete und nun ebenfalls ihren Mann hell beleuchtete. Mr. Blatcher war stehengeblieben und hielt schützend die Hände vor das Gesicht. Er wandte sich ab, um nicht weiter geblendet zu werden, und versuchte, in die Schattenzone der Wiese zu flüchten. Mary Blatcher wollte ihrem Mann ein Zeichen zur Umkehr geben und drückte lange auf die Hupe. Während der grelle Ton 62 �
durch die Stille schnitt, jagte Rick bereits in weiten Sprüngen über die Wiese, wobei er sich stets genau an die Grenze zwischen hell und dunkel hielt. So konnte er erkennen, wohin er trat, ohne geblendet zu werden. Der Hupton verstummte. Gleich darauf durchrieselte Rick ein eiskalter Schauer. Es hörte sich an, als würde ein Echo der Hupe zurückgeworfen. Rick wußte, daß es hier in Peareswood kein Echo geben konnte. Er wußte, was wie ein Nachhall klang. Mrs. Blatcher hatte es offenbar auch begriffen. Rick hörte sie schreien, dann röhrte der Motor ihres Wagens auf. Der Werwolf war in der Nähe! Sein Heulen hatte sein Kommen angekündigt! Mary Blatcher wollte schneller als die Bestie sein! Obwohl es sinnlos war, steuerte sie den Wagen auf die Wiese. Das Fahrzeug sprang krachend und ächzend über die Buckel und Mulden des feuchten Bodens. Die Räder drehten sich singend durch. Die Lichtkegel tanzten wie Geisterfinger durch die Luft, stachen einmal gegen den Nachthimmel, dann wieder verschwanden sie im Boden. Über allem stand die blutrote, in dieser Nacht schon beträchtlich kleiner gewordene Scheibe des Mondes. In ihrem Schein erkannte Rick Masters auch die rasch huschende Gestalt, die er so fürchtete. Der Werwolf befand sich auf der Jagd! »Harold!« gellte Mary Blatchers Schrei über die Wiese. Harold Blatcher streckte die Arme aus, als wolle er nach einem Halt tasten. Gleich darauf fiel er vornüber auf das Gesicht. Der Werwolf sprang ihn von hinten an das Maul weit aufgesperrt. Rick Masters war noch etwa hundert Schritte entfernt, als die 63 �
Bestie ihr Opfer mit einem Biß tötete. * Rick Masters schwankte zwischen tiefster Niedergeschlagenheit und kochender Wut. Er konnte nichts tun, als tatenlos zuzusehen, wie sich der Arzt aus Peareswood um Mrs. Blatcher kümmerte, die einen Nervenzusammenbruch erlitten hatte, und ihre leichten Verletzungen versorgte, die sie sich bei dem Unfall mit ihrem Wagen zugezogen hatte. Das Auto war in einer Bodenwelle zu einem Wrack verwandelt worden, die Achse gebrochen, ein Vorderrad abgerissen, die Windschutzscheibe zersplittert. Die Leiche Harold Blatchers hatte einer der Jäger mit einer Decke verhüllt, so daß Rick wenigstens diesen schrecklichen Anblick nicht mehr ertragen mußte. Gleich nach dem Mord hatte er sich um Mrs. Blatcher bemüht und danach versucht, Hilfe zu holen. Wegbringen konnte er die Frau nicht, da sie sich mit aller Kraft an das Lenkrad ihres Wagens klammerte. Zu dem Ehepaar Fuller wollte er nicht gehen, weil er nicht damit rechnete, daß sie ihn ans Telefon lassen würden. Also hatte er es mit dem in seinem Wagen eingebauten Sprechfunkgerät versucht und tatsächlich Glück gehabt. Sergeant Brennon, der sich auf Streifenfahrt befand, hatte seinen Ruf aufgefangen. Jetzt waren sie alle versammelt, die in irgendeiner Form in Peareswood das Sagen hatten und somit mitverantwortlich waren für die Mordserie. Rick ersparte seinen unausgesprochenen Vorwurf nur den Jägern, die aus den umliegenden Dörfern hergeholt worden waren. Sie konnten die Wahrheit nicht kennen. Alle anderen hatten sich jedoch mitschuldig gemacht. Ein Gedanke ließ dem Privatdetektiv keine Ruhe. Mr. Fuller 64 �
hatte mit Überzeugung und ehrlich behauptet, es werde keine Toten mehr geben. Nun hatte der Werwolf doch noch gemordet. Entweder waren Fullers Informationen falsch gewesen, oder der Werwolf hatte Harold Blatcher aus einem anderen Grund getötet als nur um seine Blutgier zu stillen. Diese Frage erlaubte es schließlich nicht mehr, daß Rick am Tatort blieb. Er wartete einen Moment ab, in dem ihn niemand beobachtete, und verschwand in der Dunkelheit. Wie er bereits erwartet hatte, brannte im Haus der Fullers kein Licht. Dennoch zweifelte er keine Sekunde daran, daß beide wach waren und das Geschehen auf der Wiese, sowohl den Mord als auch die anschließende Suche der Jäger nach dem vermeintlichen Wolf, beobachtet hatten. Rick Masters hatte nicht mehr die Geduld und die Nerven, um sich auf die bisher üblichen Arten Einlaß zu verschaffen. Deshalb schlug er einen Bogen, näherte sich dem Haus von der entgegengesetzten Seite und musterte das Gebäude, um einen Weg zu finden, auf dem er eindringen konnte. Die Regenrinne bot sich an, die an einem nicht ganz geschlossenen Fenster vorbeiführte. Rick kletterte hoch, hielt sich mit den Beinen und nur einer Hand fest und schob mit der anderen das Fenster auf. Wie ein schwereloser Schatten glitt er in das Haus hinein und fand sich in einem unbewohnten Zimmer wieder, das als Abstellraum für Möbel diente. Die Tür hinaus auf den Korridor im ersten Stock war unverschlossen. Er hatte gehofft, ein Gespräch des Ehepaares Fuller belauschen zu können, das ihm irgendwelche Aufschlüsse geben würde, sah sich aber getäuscht. Zwar konnte er an verschiedenen Geräuschen erkennen, daß sie sich beide wie vermutet im Wohnzimmer aufhielten, sie sprachen jedoch nicht. Rick trat in die offene Wohnzimmertür und schaltete das Licht ein. Amelie Fuller fuhr mit einem Schrei herum. Ihr Mann starrte 65 �
aus schreckgeweiteten Augen auf Rick, dann verzerrte sich sein Gesicht vor Wut. »Was erlauben Sie sich?« brüllte er den Privatdetektiv an. »Sie kommen hier einfach herein und… Moment! Wie sind Sie überhaupt hereingekommen?« »Unwichtig«, winkte Rick entschieden ab. »Mr. Fuller, ich habe Sie gewarnt! Dort draußen liegt wieder eine Leiche – Harold Blatcher! Und nur, weil Sie schwiegen! Weil Sie irgendwelchen erfundenen Unsinn erzählten, der Werwolf würde nicht mehr jagen!« »Kein erfundener Unsinn!« schrie Fuller und merkte im nächsten Moment, daß er sich verraten hatte. »Dann haben Sie es irgendwo gehört oder gelesen?« Rick setzte sich auf einen Stuhl und nickte näher an den Mann heran. Amelie Fuller behielt er aus den Augenwinkeln heraus im Blickfeld. »Sie haben gelesen, daß der Werwolf nur in vier aufeinanderfolgenden Nächten mordet, nicht wahr? Deshalb waren Sie so sicher, daß heute nacht nichts mehr passiert. Geben Sie es endlich zu, kein Mensch kann Ihnen deshalb etwas tun!« Tom Fuller reagierte in einer Weise, mit der Rick nicht gerechnet hatte. »Raus«, sagte er kaum hörbar. »Sie verlassen auf der Stelle mein Haus, oder ich zeige Sie wegen Hausfriedensbruchs an. Sie wissen, daß ich das tun könnte. Ohne meine Erlaubnis…« »Schon gut, sparen Sie sich die Mühe!« Rick erhob sich und maß Fuller mit einem verächtlichen Blick. »Sie bekommen die Rechnung noch präsentiert.« »Ist das eine Drohung?« Der Mann schnellte von seinem Platz hoch. Rick schüttelte den Kopf. »Nein, eine Warnung! Es scheint Ihnen sogar noch Freude zu bereiten, daß Ihre Mitmenschen leiden und sterben müssen. Das geht nicht gut, Mr. Fuller. Nicht mehr lange, und Sie werden…« 66 �
Der Privatdetektiv brach seufzend ab. Jedes Wort war reinste Verschwendung. Er ging hinaus in den Vorraum. Mrs. Fuller folgte ihm. »Sie kommen mit dem altmodischen Schloß nicht zurecht«, sagte sie laut, als sie neben ihm an die Haustür trat. »In einer Stunde an den Ruinen«, flüsterte sie ihm rasch zu, dann öffnete sie für ihn die Tür. Rick sagte nichts, nickte nur. So unerfreulich das Gespräch verlaufen war, es schien wenigstens eine gute Wirkung hervorgerufen zu haben. Wenn er sich nicht schwer täuschte, würde ihm Amelie Fuller endlich die Informationen liefern, die er so dringend benötigte, um dem Schrecken von Peareswood ein Ende zu bereiten. In einer Stunde an den Ruinen! Rick konnte kaum erwarten, daß die Zeit verstrich. * Die Aufregungen hatten Tom Fuller so sehr erschöpft, daß er innerhalb weniger Minuten einschlief. Bis in den Schlaf hinein verfolgten ihn jedoch die Vorwürfe des Privatdetektivs. In einem Alptraum sah er die einzelnen Morde noch einmal, die Männer mit ihren entsetzten Gesichtern und der Panik in den Augen, wenn sie den Werwolf erblickten. Er erlebte jede Einzelheit, warf sich stöhnend von einer Seite auf die andere. »Amelie!« keuchte er, schreckte aus seinem Schlaf hoch, tastete nach seiner Frau und fand ihren Platz leer. Sekundenlang blieb er benommen liegen, dann begriff er, daß sie nicht da war. Hatte sie trotz allem das Haus verlassen? Tom Fuller sprang aus dem Bett und lief zum Fenster. Tatsächlich! Er konnte eben noch sehen, wie sie sich dem Wald näherte. Im nächsten Moment wurde sie vom Schatten der Bäume verschluckt. 67 �
In fliegender Hast kleidete er sich an, rannte nach unten und stürmte aus dem Haus. Er vergaß in der Eile sogar seinen Mantel, spürte jedoch die Kühle der Nacht gar nicht. Im Moment dachte er nur daran, Amelie zu hindern, dem Fremden alles zu erzählen. Er durfte sich die Folgen gar nicht vorstellen! Die Angst trieb ihn an. So war er seit vielen Jahren nicht mehr gelaufen! Er stolperte mehrmals, konnte sich eben noch auf den Beinen halten und lief weiter. Der Waldrand rückte viel zu langsam näher. Hätte er bloß gewußt, wo Amelie diesen Masters treffen wollte! Er erreichte die Dunkelzone. Jetzt konnte er nur noch hoffen, daß er seine Frau rechtzeitig einholte, sonst war er verloren. * Mehrmals drehte sie sich um, während sie die freie Fläche zwischen dem Haus und dem Wald überwand. Es war schließlich möglich, daß Tom erwachte und ihr folgte. Sie kam jedoch bis zu den Bäumen, ohne daß sich drüben beim Haus etwas rührte. Endlich fühlte sie sich sicher, als sie zwischen den Bäumen untertauchte. Zwar sah sie kaum die Hand vor den Augen, sie konnte aber auch nicht mehr gesehen werden. Sie hatte keine Uhr mitgenommen, konnte daher auch nicht feststellen, wieviel sie zu spät kam. Hoffentlich wartete Rick Masters auf sie. Wenn sie daran dachte, wie sehr er an ihrem Wissen interessiert war, glaubte sie es schon. Das Buch! Es hatte ihnen bisher kein Glück gebracht. Es wäre Mrs. Fuller lieber gewesen, Tom hätte das Buch nie entdeckt! Sie sah nicht, wohin sie trat, weshalb sie viel Lärm verursachte. 68 �
Büsche rauschten, wenn sie sich ihren Weg mitten durch das Unterholz bahnte, trockene, auf dem Boden liegende Zweige knackten unter ihren Füßen. Trotz des Lärms glaubte Mrs. Fuller plötzlich, etwas gehört zu haben. Unsicher blieb sie stehen, neigte den Kopf und hielt den Atem an. Ihr Herz klopfte zum Zerspringen. Bisher war sie nur darauf bedacht gewesen, von ihrem Mann wegzukommen, daß sie keine Angst empfunden hatte. Nun aber begann sie zu zittern. Die Augen weit aufgerissen, starrte sie in die Dunkelheit. Zwischen den Bäumen hindurch sah sie blitzende, tanzende Lichter. Das waren die Taschenlampen der Jäger, die sich an der Leiche Harald Blatchers versammelt hatten und wieder auszuschwärmen begannen, um ihre nächtlichen Streifen fortzusetzen. Sie mußte darauf achten, daß sie nicht von einem von ihnen für das gesuchte wilde Tier gehalten und angeschossen wurde! Noch etwas fiel ihr siedendheiß ein. Der Privatdetektiv war fremd in Peareswood und Umgebung. Er hielt sich noch nicht lange hier auf. Wußte er überhaupt, wo die Ruinen lagen, die sie ihm als Treffpunkt genannt hatte? Wenn sie nur hier herumstand, erreichte sie überhaupt nichts. Zögernd setzte sich Amelie Fuller wieder in Bewegung. Da sie in der Gegend aufgewachsen war, fand sie sich hier im Schlaf zurecht. Fünf Minuten noch, sagte sie sich zur Aufmunterung. Fünf Minuten, dann war sie an den Ruinen. Da! Diesmal hatte sie ganz deutlich etwas gehört, das wie ein Knurren oder Fauchen klang! Zitternd drückte sich Amelie gegen einen Baumstamm. Ein Stück vor ihr schimmerte es hell durch die Bäume. Dort war eine kleine Lichtung, beruhigte sich etwas, als sie ihre Umgebung wieder sehen konnte, ließ sich in das feuchte Gras sinken. Sie 69 �
wollte sich nur einen Moment ausruhen. Hinter ihr scharrte etwas. Sie wandte den Kopf. Da war nichts! Doch dann hörte sie es deutlich. Ein heiseres Hecheln, dann ein bösartiges, drohendes Knurren. Zwischen den Baumstämmen tauchten gelb schimmernde Augen auf. Amelie Fullers Mund öffnete sich zu einem fürchterlichen Schrei. * Rick Masters war erleichtert darüber, daß er sich tagsüber in der Gegend umgesehen hatte. So mußte er niemanden fragen, welche Ruinen Mrs. Fuller gemeint haben konnte. Es gab im weiten Umkreis nur ein verfallenes Gemäuer, das auf einem Hügel bei dem Fullerschen Haus stand. Ganz in der Nähe hatte der Werwolf eines seiner Opfer gefunden. Rick wartete die Stunde nicht ab. Vom Haus zu den Ruinen war es ein Fußweg von höchstens einer Viertelstunde, doch er ging sofort an den Treffpunkt, um Mrs. Fuller auf keinen Fall zu verpassen. Dazu waren ihm die erhofften Informationen viel zu wichtig. Der Privatdetektiv setzte sich auf einen einigermaßen trockenen Stein und begann zu warten. Dabei drehten sich seine Gedanken naturgemäß immer wieder um das bevorstehende Zusammentreffen. Er überlegte krampfhaft, ob die Ruinen vielleicht in einem Zusammenhang mit dem Werwolf standen, daß ihn Mrs. Fuller deshalb herbestellt hatte. Eine Antwort konnte nur sie ihm geben, weshalb er seine Spekulationen unterdrückte. Immer wieder schaute er auf seine Armbanduhr, und als die Stunde vorbei war, ohne daß Mrs. Fuller auftauchte, wurde er unruhig. Er wartete noch eine Viertelstunde, dann beschloß er; 70 �
ihr entgegenzugehen. Da sie wahrscheinlich in gerader Linie von ihrem Haus zu den Ruinen kommen würde, konnte er sie kaum verfehlen. Allerdings führte der Weg durch den Wald, den er auf dem Herweg vermieden hatte, weil er ihn nicht kannte. Um nicht an Mrs. Fuller vorbeizulaufen, mußte er ihn jetzt durchqueren. Rick kam nur ganz langsam voran, da er sich den Weg erst ertasten mußte. Immer wieder blieb er stehen, um auf Geräusche zu lauschen, die von Mrs. Fuller verursacht werden konnten. Er rief auch ein paarmal halblaut ihren Namen, ohne Antwort zu erhalte«. In dieser Nacht noch mußte er mit Mrs. Fuller sprechen, auch wenn Tom Fuller seine Frau eingesperrt haben sollte! Rick ging weiter. Plötzlich sträubten sich seine Nackenhaare. Er hörte ein Hecheln, dann ein kurzes Knurren. Der Werwolf! Er war in dieser Nacht nicht nach dem ersten Mord zurückverwandelt worden, sondern suchte nach einem weiteren Opfer! Gleich darauf gellte ein von Panik gepeitschter Schrei zu Rick herüber. Er kam von einer Stelle, an der es zwischen den Bäumen hell schimmerte. Dort mußte sich eine Waldlichtung befinden. Der Privatdetektiv jagte los, preschte durch das Unterholz, ohne auf seine Kleidung zu achten. Er riß sich die Hände blutig, fühlte es nicht. An seine Pistole dachte er in diesem Moment nicht, auch daran nicht, daß er dem Werwolf nichts entgegenzusetzen hatte und im Fall eines Kampfes verloren war. Er wußte nur Mrs. Fuller in Gefahr! Rick flog auf die Lichtung. Seine schlimmsten Befürchtungen wurden bestätigt. Im Mondlicht sah er die Gestalt der Frau auf der Erde liegen. Der Werwolf erhob sich in diesem Moment, 71 �
wandte ihm den Wolfsrachen zu, stieß ein heiseres Knurren aus und hob die Tatzen. Der weite Umhang verhüllte seinen Körper. Rick wußte nicht, ob Mrs. Fuller noch lebte, doch als sich der Werwolf wieder über sie beugte, anstatt zu fliehen, schnellte er auf seinen Feind. Der erste Angriff ließ den Werwolf zurücktaumeln, der sich aber aufrecht wie ein Mensch hielt und auch nicht das Gleichgewicht verlor. Rick blickte in tückisch blitzende Augen, begriff das volle Ausmaß der Gefahr und riß seine Pistole aus dem Halfter. Umlegen des Sicherungshebels und Feuern geschah innerhalb einer Sekunde, und doch war der Werwolf schon heran. Der Werwolf kam auf ihn zu, rasselnd nach Luft ringend. Ein Stöhnen und Winseln drang aus seiner Kehle. Dicht vor Rick blieb er stehen. Schon glaubte sich der Privatdetektiv endgültig verloren. Er wollte seine Haut aber so teuer wie möglich verkaufen. Obwohl er sich nicht würde erfolgreich wehren können, stemmte er sich hoch und hob die Fäuste. Plötzlich wirbelte der Werwolf herum und verschwand im Wald. Rick wollte hinterherlaufen, erinnerte sich aber dann an Mrs. Fuller, der er zuerst helfen mußte. Nur zögernd trat er näher. Er fürchtete sich davor, was er zu sehen bekommen würde. Ein schwaches Seufzen drang an sein Ohr. Rasch kniete er nieder, beugte sich über die Frau. Auf den ersten Blick sah er, daß er ihr nicht helfen konnte, daß dies niemand mehr vermochte, auch nicht der beste Arzt der Welt. Dennoch lebte Mrs. Fuller noch. Sie versuchte zu sprechen. Rick brachte sein Ohr dicht an ihren Mund. »Mr. Masters…«, hauchte sie. »Tom… weiß… alles!« Nach einem letzten Aufbäumen fiel sie zurück auf die Erde. 72 �
Amelie Fuller war tot. * Tom weiß alles! Rick biß sich die Lippen blutig. Deshalb war Mrs. Fuller bestimmt nicht hergekommen, um ihm das zu sagen. Sie hatte gewußt, daß es mit ihr zu Ende ging, und nicht mehr die Kraft gefunden, ihm das eigentlich Wichtige zu sagen. Es war alles umsonst gewesen! Rick Masters richtete sich wie unter einer Zentnerlast auf. Jetzt blieb ihm nichts übrig, als zu Mr. Fuller zu gehen und ihm vom Tod seiner Frau zu berichten. Vielleicht würde der Mann endlich die Wahrheit sagen. Sein Schweigen hatte schließlich nicht nur Fremden das Leben gekostet, sondern nunmehr auch seiner eigenen Frau. Rick orientierte sich, ging auf den Wald zu und trat bereits unter die überhängenden Zweige der Bäume, als er links neben sich eine Bewegung wahrnahm. Erschrocken erinnerte er sich daran, daß er vergessen hatte, nach seiner Pistole zu suchen. Er war waffenlos! Wenn jetzt der Werwolf zurückkam… Es war nicht der Werwolf, der langsam zwischen den Bäumen hervortrat und auf die Leiche zuging. Es war Tom Fuller. Rick sah das totenblasse Gesicht, die weit aufgerissenen Augen, die bebenden Lippen. Fuller ging wie ein Schlafwandler mit schleppenden Schritten näher, blieb endlich dicht vor seiner Frau stehen und sank in die Knie. Der Privatdetektiv sprach den Mann nicht an. Er hätte gar nicht gewußt, was er sagen sollte. Rick ließ Fuller allein mit seiner toten Frau, damit er zur Vernunft kommen konnte und endlich reden würde. Inzwischen suchte er nach seiner Pistole, fand sie und Steckte sie zurück in sein Schulterhafter. Tom Fuller kniete noch immer an derselben Stelle. Er zuckte 73 �
zusammen, als Rick neben ihn trat. Langsam hob er den Kopf und schaute aus erloschenen Augen hoch. »Sie ist tot«, murmelte er. »Amelie ist tot!« Rick mußte sich zusammennehmen, um dem Mann nicht auch noch Vorwürfe zu machen. »Ihre Frau sagte zuletzt: Tom weiß alles«, sagte er leise. »Ich weiß, was sie meinte, und Sie auch, Mr. Fuller. Wollen Sie jetzt sprechen?« Er mußte seine Frage mehrmals wiederholen, ehe sie in Fullers Bewußtsein sickerte. Endlich nickte der Mann. Rick half ihm auf die Beine. Es dauerte einige Zeit, bis Tom Fuller sich soweit gefaßt hatte, daß er gehen konnte, doch noch immer stützte er sich schwer auf Rick. »Kommen Sie«, sagte er. »Ich werde Ihnen alles erzählen, Mr. Masters. Vielleicht denken Sie dann anders über mich.« Mit einem letzten Blick auf die Leiche seiner Frau verließ Tom Fuller die Waldlichtung. * Der Rückweg zog sich gräßlich in die Länge. Rick Masters mußte Tom Fuller führen, der nicht sah, wohin er lief. Außerdem behielt er die Umgebung ständig unter Kontrolle, im Wald nur nach dem Gehör, draußen auf der freien Wiese dann auch durch ständiges Umblicken. Er wollte nicht riskieren, vom Werwolf angegriffen zu werden, solange er durch den halb Ohnmächtigen in seiner Bewegungsfreiheit behindert wurde. Ricks Erleichterung kannte keine Grenzen, als sie das Haus betraten und hinter sich zuschlössen. Tom Fuller wankte sofort zum Schrank und holte eine Whiskyflasche hervor. Rick konnte sich ausrechnen, wie lange es dauern würde, bis der Mann vollkommen betrunken war. Er mußte ihn vorher zum Reden brin74 �
gen. Zuerst hatte er jedoch noch eine unangenehme Pflicht zu erfüllen. Er ging, von Fuller nicht beachtet, zum Telefon und wählte die Nummer der Polizei. Auf dem Herweg hatte er bereits gesehen, daß sich niemand mehr an der Stelle aufhielt, an der in derselben Nacht Harold Blatcher getötet worden war. Rick hoffte nur, daß er Sergeant Brennon erreichte. Es glückte, Rick gab die Meldung vom zweiten Mord durch und beschrieb die Stelle. Er sagte nicht, wo er sich gegenwärtig aufhielt. Wenn alles so verlief, wie er sich das vorstellte, würde Sergeant Brennon erst die Jäger alarmieren, da er sich allein sicherlich nicht in den Wald wagte. Bis alle versammelt waren und die Leiche geborgen hatten, verging genügend Zeit, in der er Mr. Fuller aushorchen konnte. Danach war erst mit dem Auftauchen des Sergeants zu rechnen. Kaum hatte Rick das Telefongespräch beendet, als er zu Tom Fuller ging und erschrak. Der Mann hatte bereits eine halbe Flasche Whisky in sich hineingeschüttet. Rick wollte ihm die Flasche wegnehmen, doch Fuller umklammerte sie, als wäre sie lebensrettend für ihn. »Lassen Sie mich«, flehte er mit erstickter Stimme. »Ich kann sonst nicht mehr!« »Sie müssen mir…«, setzte Rick an, doch Fuller fiel ihm ins Wort. »Ich brauche Ihnen gar nichts zu erzählen«, widersprach er. »Gehen Sie hinauf in das Schlafzimmer. Unter meinem Kopfkissen liegt ein Buch. Ich fand es vor Jahren auf dem Dachboden. Lesen Sie, dann werden Sie alles wissen. Und jetzt geben Sie mir wieder die Flasche!« Rick lockerte seinen Griff, Fuller riß die Flasche an den Mund und nahm einen tiefen Schluck. Der Privatdetektiv ging nach oben, fand das Buch und kehrte ins Wohnzimmer zurück. Auch 75 �
wenn Fuller bereits halb betrunken in seinem Sessel hing, wollte er ihn doch nicht aus den Augen lassen. Wer weiß, wozu dieser Mann imstande war. Zu den Morden des Werwolfs durfte nicht auch noch ein Selbstmord kommen. Rick beeilte sich mit dem Überfliegen des Buches. Die Zeit bis zum Eintreffen des Sergeants reichte sicherlich nicht aus, um alles zu lesen. Es stellte sich jedoch schnell heraus, daß es auch nicht nötig war, das gesamte Buch zu studieren. Es handelte sich um eine Sammlung von Berichten, von denen sich nur einer auf den Werwolf von Peareswood bezog. Plötzlich sah Rick klar. Im sechzehnten Jahrhundert hatte ein Mann in genau diesem Haus gewohnt, das heute Mr. Fuller gehörte, und der damalige Besitzer hatte die Fähigkeit besessen, sich zur Zeit des Vollmondes in einen Werwolf zu verwandeln. Über viele Jahre hinweg hatte er in völlig unregelmäßigen Abständen als Werwolf gemordet, und zwar jeweils in vier aufeinanderfolgenden Nächten und in jeder dieser Nächte nur einmal. Dabei waren Menschen, die sich in seinem eigenen Haus aufhielten, sicher vor ihm. Der Privatdetektiv verstand nun, wieso Fuller behauptet hatte, es werde keine weiteren Morde geben, und wieso der Mann auch keine Angst vor dem Werwolf gezeigt hatte, nachdem dieser den Betrunkenen getötet hatte. Tom Fuller hatte sich in Sicherheit gewußt. Rick warf einen brennenden Blick zu dem Hausherrn hinüber, der sich kaum noch aufrecht halten konnte, weil der Whisky zu wirken begann. Hätte Fuller ihm früher gesagt, daß der Werwolf nur einmal pro Nacht mordete, hätte Rick ihn ja doch verfolgen können! Nur einmal? In dieser Nacht hatte die Bestie alle alten Regeln durchbrochen, mehr als vier Morde insgesamt und mehr als 76 �
einen in einer Nacht begangen! Aufgeregt suchte Rick in dem alten Bericht nach einem Hinweis auf dieses ungewöhnliche Verhalten, fand zwar keinen, entdeckte dafür etwas anderes, die Erklärung nämlich, warum Tom Fuller letztlich zu seinem eigenen Schaden so hartnäckig geschwiegen hatte. Am Ende des Berichts stand nämlich ein Fluch, der jeden treffen sollte, der sein Wissen über den Werwolf an Außenstehende preisgab. Diesem Menschen wurde der schrecklichste Tod durch die Bestie angekündigt. Das entschuldigte wenigstens teilweise die starre Haltung, machte Mrs. Fuller aber auch nicht mehr lebendig. Den entscheidenden Hinweis erhielt Rick Masters ganz zuletzt. Danach mußte der in der Gegenwart mordende Werwolf die wiedererstandene Leiche des historischen Werwolfs aus dem sechzehnten Jahrhundert sein. Die Leiche lag angeblich in einem Grab in der Nähe, war unversehrt und konnte beliebig oft durch geheimnisvolle, unbekannte Kräfte zu einem neuen schauerlichen Leben erweckt werden. Erst wenn der Werwolf aufhörte zu existieren, zerfiel auch sein Körper und wurde zum Skelett. Das Grab des Werwolfs! Für Rick Masters stand jetzt schon fest, daß er es finden mußte, koste es, was es wolle. * Die Meldung, die Rick Masters an Sergeant Brennon durchgegeben, und die daher auch die Jäger erreicht hatte, war nur kurz gewesen. Der Privatdetektiv hatte den Schuß erklären müssen, der von allen gehört worden war. Und da in dieser Nacht nur Leute unterwegs waren, die etwas von Waffen verstanden, war auch allen klargewesen, daß dieser einzelne Schuß aus einer Pistole und nicht aus einem Gewehr stammte. 77 �
Rick Masters hatte also angegeben, einen Schuß auf den Mörder abgefeuert zu haben. Der Privatdetektiv hatte von einem Mörder und nicht von einem wilden Tier gesprochen, hatte aber auch vermieden, diesen Mörder in irgendeiner Weise zu beschreiben. In jedem anderen Fall wäre es unmöglich gewesen, daß sich niemand nach dem Aussehen des Täters erkundigte. Die Leute von Peareswood waren hingegen froh, daß der Fremde darauf verzichtete, die Dinge beim Namen zu nennen. Insgeheim glaubte jeder bereits an die alten Legenden, die von einem Werwolf sprachen, doch keiner wollte es wahrhaben. Noch etwas kannten alle Jäger, als sie zu Mrs. Fullers Leiche vordrangen, nämlich die erste Aussage von Mary Blatcher, die Zeugin des Mordes an ihrem Mann geworden war. Sie hatte von einem Menschen mit einem Wolfskopf gesprochen, doch wog ihre Behauptung nicht allzu schwer, weil sie im Moment des Mordes mit dem Wagen den Unfall gehabt hatte und noch immer unter einem schweren Schock stand. Die Einwohner von Peareswood beruhigten sich wenigstens mit diesen Argumenten und achteten nicht weiter darauf, daß Mary Blatcher sie dringend vor einer Bestie warnte, halb Mensch, halb Wolf. Bürgermeister Jeffries sprach sogar offen aus, daß er Mrs. Blatcher nicht für zurechnungsfähig hielt und nach wie vor an einen streunenden Hund als »Mörder« glaubte. Einer, der die Meinung des Bürgermeisters über Mrs. Blatcher nicht teilte, der aber auch nichts von der Theorie mit dem Hund hielt, war Walter Brennon, der Bruder von Sergeant Brennon. Er hielt nach wie vor an seiner eigenen Version fest, nach der sich ein irrer oder ein besonders raffinierter Mörder nur eines Tricks bediente, durch den er den Verdacht auf ein Tier lenken wollte. Walter Brennon suchte daher nach anderen Spuren als seine Kollegen. Er hielt Ausschau nach rein kriminalistischen Hinweisen, die auf einen menschlichen Täter abzielten. 78 �
Er hatte sich von den anderen abgesondert, da er sich nichts von einer Besichtigung der Leiche versprach. Statt dessen durchstreifte er in weiten Kreisen den Wald rings um die Lichtung, auf der Mrs. Fuller getötet worden war und Rick Masters den Schuß auf den Täter abgegeben hatte. Nach zwei Stunden – die Leute aus Peareswood waren noch immer auf der Lichtung versammelt – bückte sich Brennon plötzlich überrascht und starrte aufgeregt auf ein Stuck Stoff, das mitten auf einem schmalen, durch das Unterholz getretenen Pfad lag. Mit spitzen Fingern ergriff er den Stoffetzen, der von einem Anzug oder einer einfachen grauen Jacke stammen konnte. Dunkle Flecken identifizierte er sehr rasch als Blut. Außerdem klebten borstige Haare daran, Haare, die er unter anderen Umständen dem Fell eines Wolfs zugeordnet hätte. Für Walter Brennon war die Sache klar, und den letzten Beweis erhielt er, als er eine versengte Stelle am Rand des Stoffstückes fand. Der Mörder, der sich als Wolf verkleidet hatte, um Verwirrung unter eventuellen Zeugen zu stiften, war von Rick Masters angeschossen worden. Daher stammte die versengte Stelle. Er war verletzt worden, deshalb die Blutspuren. Und er war nicht mehr sicher auf den Beinen gewesen bei seiner Flucht, war hängengeblieben und hatte sich das Stück Stoff aus dem Umhang, Anzug oder aus der Jacke gerissen, was immer er getragen hatte. Walter Brennon brauchte nur den Mann zu finden, aus dessen Kleidung das entsprechende Stück fehlte. Die Verletzung, hervorgerufen durch die Kugel des Privatdetektivs, würde auch nicht so schnell heilen, so daß sich Walter Brennon eine Frist von ungefähr drei Tagen ausrechnete, innerhalb derer er den Tater stellen und überführen mußte. Drei Tage, dachte er, waren eine lange Zeit. Er wußte nicht, daß ihm nur noch ein Bruchteil dieser Zeit 79 �
blieb. � *
Kopfschüttelnd betrachtete Rick Masters den Mann auf dem Sofa. Tom Fuller hatte sich sinnlos betrunken, um zu vergessen und Ruhe zu haben. Beides war ihm offenbar nicht gegönnt, denn er warf sich im Schlaf von einer Seite auf die andere, drohte mehrmals herunterzufallen, stöhnte und ächzte zum Erbarmen. Ein Blick auf die Uhr zeigte dem Privatdetektiv, daß sich Sergeant Brennon und die Jäger sehr viel Zeit mit der Untersuchung der Leiche ließen. Ihm konnte es nur recht sein, denn auch wenn er nicht die Absicht hatte, das wertvolle alte Buch wieder herzugeben, wollte er doch so schnell wie möglich alles Wissenswerte lesen, um auf die nächste Auseinandersetzung mit dem Werwolf gründlich vorbereitet zu sein. Und wann diese stattfinden würde, konnte niemand sagen. In einer Stunde vielleicht, vielleicht auch erst in einer Woche, vielleicht nie. Rick hatte alles behalten, was es über den Werwolf von Peareswood zu erfahren gab. Deshalb wandte er sich jetzt den anderen Kapiteln des Buches zu, las sie quer und fand schnell heraus, daß es sich zwar um hochinteressantes Material handelte, daß er davon aber im Moment nichts brauchen konnte. Er wollte das Buch schon aus der Hand legen, als er auf einen Anhang aufmerksam wurde. Sobald er umblätterte, hielt er fasziniert den Atem an. Das war der eigentliche Schlüssel zur Lösung des Falles und zur Vernichtung des Werwolfs. Der Verfasser des Buchs hatte eine grobe Skizze und eine kurze Beschreibung des Grabes angefertigt, in dem angeblich die vollständig erhaltene Leiche des Werwolfs liegen sollte. Rick fand sich zwar nicht zurecht, doch 80 �
das war kein Problem. Er kannte die Örtlichkeiten nicht gut genug, ein Einheimischer hingegen mußte ohne Schwierigkeiten das Grab finden können. Die einzige Frage, die sich Rick stellte, war, wen er als Führer nehmen sollte. Er wollte nicht das Risiko eingehen, daß jemand aus Peareswood ihn absichtlich falsch führte, weil er das Grab der Bestie scheute. Ehe er diese Frage hinreichend geklärt hatte, klopfte es. Rick schaltete die Außenbeleuchtung ein und erkannte durch ein Seitenfenster Sergeant Brennon, Bürgermeister Jeffries und eine Anzahl von Jägern und Dorfbewohnern. Er öffnete und ließ die Leute eintreten. Sergeant Brennon, der vorangegangen war, blieb mit einem ärgerlichen Ausruf stehen, sobald er Fuller erblickte. »Was sollen wir mit dieser Schnapsleiche?« rief er. »Er kann keine Angaben machen.« »Sie merken auch alles«, versetzte Rick bissig und betrat das Wohnzimmer. »Mr. Fuller kann im Moment nicht sprechen, er könnte Ihnen aber auch nichts von Bedeutung mitteilen.« »Können Sie es?« mischte sich der Bürgermeister ein. Rick ignorierte ihn und wartete, bis der Sergeant ihm die gleiche Frage stellt. »Ich kann nur sagen, daß ich ebenso wie Ihre Jäger Patrouille ging, Mrs. Fullers Schreie hörte und ihr helfen wollte. Obwohl ich den Täter anschoß, konnte er fliehen.« »Eine Beschreibung haben…«, setzte ein Rick unbekannter Mann an. »Nicht nötig«, fiel Frank Jeffries hastig ein. »Wir wissen selbst, wonach wir suchen müssen. Ich denke, wir sollten jetzt wieder gehen und Mr. Fuller allein lassen.« »Jemand sollte bei ihm bleiben, damit er sich nichts antut«, machte Rick die Leute aufmerksam. »Ich selbst habe bis jetzt Wache gehalten und fahre nun zurück in den Gasthof. Ich kann Sie nur warnen, setzen Sie Mr. Fullers Leben nicht leichtfertig 81 �
aufs Spiel.« Seine Warnung bewirkte, daß sich drei Männer anboten, bei dem auf so tragische Weise zum Witwer gewordenen Mr. Fuller zu bleiben. Sie entschieden untereinander, wer diese Aufgabe übernahm. Rick interessierte sich nicht mehr dafür. Für ihn war die Hauptsache, daß Fuller nicht allein blieb. Er konnte sich kaum noch auf den Beinen halten vor Müdigkeit, weshalb er nur noch den einen Wunsch hatte, so schnell wie möglich in sein Bett zu gelangen. Diesen Wunsch setzte er sofort in die Tat um. Auch in dieser Nacht schlief Rick Masters in seinen Kleidern ein. * Am nächsten Morgen stellte Rick Masters fest, daß er wohl eine Ausnahme unter den Menschen darstellte. Die meisten Leute gingen auf das Land, um sich zu erholen. Für ihn bedeutete ein Aufenthalt außerhalb Londons meistens höchste körperliche Anstrengungen und Lebensgefahr, weil er seine Heimatstadt nur verließ, um einen Auftrag auszuführen, der mit einem hohen Risiko verbunden war. So erging es ihm auch in Peareswood. Anstatt die angeblich so beruhigende Hügellandschaft von Wales zu genießen, hatte er mit Leichen, einem Werwolf und einem Grab zu tun, das er unbedingt finden mußte. Das Grab des Werwolfs! Während des Frühstücks, das an diesem Tag mindestens genauso schlecht war wie am vergangenen, überlegte er intensiv, wie er dieses Problem lösen sollte. Er brauchte jemanden, der ihm half, jemanden, der sich gut auskannte in Peareswood und Umgebung. An einen Einwohner des Dorfes wollte er sich nicht wenden, weil er Schwierigkeiten befürchtete. Mrs. Blatcher lag krank in 82 �
ihrem Haus, der Schock über die Ermordung ihres Mannes hatte sie vollständig umgeworfen. Mit ihrer Hilfe konnte Rick also auch nicht rechnen. Flüchtig dachte der Privatdetektiv an einen der auswärtigen Jäger, verwarf diese Idee jedoch auch wieder, weil sich diese Männer wahrscheinlich nicht gut genug auskannten. Bis auf einen! Walter Brennon, der Bruder des Sergeants, streifte seit Tagen in der Gegend herum und war auf der Suche nach einem Mörder, einem menschlichen Mörder. Er hatte sicherlich die Augen offengehabt und auf Dinge geachtet, die anderen entgangen waren, die sich nur auf ihre eigentliche Aufgabe konzentriert hatten. Wenn ihm einer helfen konnte und wollte, war es Walter Brennon. Gleich nach dem Frühstück machte sich Rick auf die Suche nach dem Jäger, erlebte jedoch eine Enttäuschung. Walter Brennon war nirgends aufzutreiben. Als bereits der halbe Vormittag um war, gab Rick die vergebliche Suche auf. Sorge beschlich ihn, während er zu Fuß das Dorf verließ, um auf eigene Faust nach dem Grab zu forschen. War Brennon vielleicht etwas zugestoßen? Den Gedanken an den Jäger schob er beiseite, als er in einiger Entfernung einen etwa zwölfjährigen Jungen über die Wiesen streifen sah. Der Junge hatte sich Indianerkopfschmuck übergezogen und schlenderte lustlos dahin. Rick Masters beeilte sich, holte den Jungen ein und sprach ihn an. »Auf dem Kriegspfad, großer Häuptling?« fragte er lächelnd. »Ich heiße Tom, bin kein großer Häuptling, und mir ist langweilig«, gab der Junge verdrossen zurück. »Fein, ich heiße Rick, habe den Lageplan eines Schatzes und will ihn suchen. Hilfst du mir dabei?« »Was für ein Schatz ist das denn?« fragte Tom mißtrauisch. »Ich suche eine ganz bestimmte Stelle, an der ein Schatz vergraben liegt«, schwindelte Rick. »Wenn wir diese Stelle gefun83 �
den haben, bekommst du ein Pfund von mir. Ist das ein Vorschlag?« Toms Augen begannen zu leuchten. Er war mit allem einverstanden und wollte unbedingt mehr über diesen Schatz wissen, so daß Rick eine abenteuerliche Geschichte erfand. Sie begannen mit der Suche. Zu Ricks Freude kannte Tom wenigstens einige der Hinweise, die in dem alten Buch angegeben waren, zum Beispiel einen Felsen in Form eines Kopfes, eine besonders hohe Tanne, ein kleines Moor. Der Privatdetektiv hütete sich allerdings, seinem jugendlichen Führer die genaue Stelle zu verraten, die er suchte. Tom könnte sonst, angelockt von dem vermeintlichen Schatz, Nachforschungen anstellen, die ihn in tödliche Gefahr zu bringen vermochten. Als sie noch ungefähr eine Meile von dem Werwolfsgrab entfernt waren, blieb Rick an einem Felsen stehen, der überhaupt nicht im Plan verzeichnet war. Er war überzeugt, von hier aus seinen Weg allein zu finden, holte aus seiner Tasche eine Pfundnote und drückte sie Tom in die Hand. Da der Junge jedoch keine Lust hatte, nach Peareswood zurückzukehren, blieb Rick nichts anderes übrig, als ihn zu begleiten, um ihn nicht als gefährlichen Augenzeugen bei dem dabei zu haben, was er noch plante. Rick Masters sollte diesen seiner Meinung nach überflüssigen Gang nicht zu bereuen haben. * Ungefähr auf halber Strecke zwischen dem Werwolfsgrab und dem Dorf erblickte Rick plötzlich einen Mann, der aus dem Wald kam. Die Entfernung war noch zu groß, um zu erkennen, um wen es sich handelte, doch nach der Richtung konnte Rick abschätzen, daß der Mann auf der Lichtung gewesen war, auf 84 �
der in der letzten Nacht Amelie Fuller gestorben war. Sein Interesse war erwacht, so daß er die Route änderte und dem anderen den Weg nach Peareswood abschnitt. Zuerst wollte der Mann ausweichen, aber schon nach wenigen Minuten sah er ein, daß er ein Zusammentreffen mit Rick nicht verhindern konnte. Er blieb stehen und erwartete den Privatdetektiv. Als er ihn erkannte kam er sogar auf Rick zu. Masters war nicht wenig überrascht, sich Walter Brennon gegenüberzusehen. »Ich habe Sie den ganzen Morgen über gesucht«, empfing er den Bruder des Polizisten. »Wo haben Sie gesteckt?« Tom ging auf Ricks Wink weiter, so daß er nicht hören konnte, was die beiden Männer miteinander zu besprechen hatten. »Sie wissen doch, wonach ich suche«, antwortete Walter Brennon vorsichtig. »Ich lasse nicht locker, bis ich nicht mein Ziel erreicht habe.« Rick betrachtete den Jäger aufmerksam. Im Verhalten Brennons schien sich etwas verändert zu haben. Er war sicherer in seinem Auftreten. »Haben Sie schon etwas herausgefunden?« forschte Rick neugierig. Er glaubte zwar nicht an einen Erfolg Brennons, weil er bereits zu wissen meinte, daß der Werwolf nur in seinem Grab bekämpft werden konnte, aber ihn interessierte alles, was mit dem Fall zusammenhing. Brennon zögerte, dann fuhr seine Hand unter seine Jacke und kam mit einem Stück Stoff und Haaren wieder zum Vorschein. »Das fand ich letzte Nacht durch einen Zufall in der Nähe der Waldlichtung da hinten«, sagte er leise, obwohl sich niemand in der Nähe befand. Er reichte Rick den Stoff, deutete mit dem Daumen über seine Schulter nach hinten, wo, die Mordstelle lag, und drückte dem Privatdetektiv das Haarbüschel in die Hand. Rick runzelte die Stirn, nahm beides entgegen und wußte 85 �
sofort, worum es sich handelte. Der Stoff mußte aus dem Umhang des Werwolfs stammen, den er zumindest durch einen Streifschuß verletzt hatte, die Haare aus dem Fell. Wäre ein Mensch als Mörder in Frage gekommen, hätte Rick sofort Scotland Yard und somit Chefinspektor Hempshaw verständigt und ihm die Beweisstücke übergeben. So aber wußte er, daß der Mörder zu diesem Zeitpunkt als lebloser Körper in einem einsamen Grab am Waldrand lag und nur nachts durch geheimnisvolle Kräfte zu einem schauerlichen Leben erwachte. Er reichte Brennon mit einem Achselzucken das Stoffstück zurück. »Was wollen Sie damit machen?« fragte er zurückhaltend. »Um etwas damit anfangen zu können, müßten Sie das Kleidungsstück haben, aus dem es stammt.« »Ich habe schon so meine Vorstellungen, wie es weitergehen soll«, antwortete Walter Brennon unklar. »Lassen Sie mich nur machen, ich finde den Mörder.« Genau das wirst du nicht, weil du keine Ahnung von dem Werwolfsgrab hast, dachte Rick Masters. Laut sagte er: »Viel Glück, Mr. Brennon, ich muß weiter.« Rick Masters meinte, der Jäger würde sich auf einer völlig falschen Spur befinden. Rick unterlief selten ein Fehler, aber eben manchmal doch… so wie jetzt in Peareswood! * Um jeden möglichen Beobachter zu täuschen, schlug Rick Masters erst einmal den Weg zur Waldlichtung ein. Die Stelle des Grabes hatte er sich eingeprägt, so daß er sie auch von einer anderen Richtung aus finden würde. Im Wald beschrieb er einen Bogen, so daß er schließlich knapp vor dem Grab unter den Bäumen hervorkam. Ein rascher Rund86 �
blick, niemand war in der Nähe. Er lief auf die Stelle zu, an der jener Werwolf begraben sein sollte, der schon vor Jahrhunderten sein Unwesen in der Gegend getrieben hatte und auch jetzt Peareswood in Angst und Schrecken versetzte. Tom hatte ihn wirklich gut geführt. Rick fand das Grab, wenn auch nur unter Schwierigkeiten. Er hatte nicht mit einer ausgebauten Gruft oder einem Grabstein rechnen dürfen, weshalb er erst gar nicht danach suchte. Er konzentrierte sich auf Dinge, die nicht natürlich in die Landschaft paßten, und so fielen ihm die vier rechteckigen Steine auf, die etwa die Größe eines mittleren Koffers hatten. Verband man sie miteinander durch gedachte Linien, erhielt man ein Rechteck ungefähr von der Größe eines Grabes. Durchaus möglich, daß diese Steine früher als Pfeiler für eine Grabplatte gedient hatten. Im Moment konnte er nichts unternehmen, weshalb Rick ins Dorf zurückkehrte. In seinem Morgan lag im Kofferraum immer eine zerlegbare Schaufel, die ihm schon gute Dienste geleistet hatte. Er konnte sie jedoch nicht einfach mitnehmen, weil sonst die Leute aufmerksam geworden wären. Also stieg er in seinen Wagen und tat, als wolle er eine Spazierfahrt unternehmen. Auf großen Umwegen näherte er sich so weit wie möglich dem Grab des Werwolfs, versteckte sein Auto zwischen Büschen und ging das letzte Stück zu Fuß. Von Peareswood aus konnte man ihn nicht sehen, so daß er ungestört seine Arbeit aufnahm. Zwar bestand das Risiko, daß ihn einer der herumstreifenden Jäger entdeckte, aber das mußte Rick in Kauf nehmen. Nach einer Stunde harter Arbeit hatte er es geschafft. Seine Schaufel stieß auf einen harten Widerstand. Rasch legte er eine Steinplatte frei, die einen hohlen Ton von sich gab, als er mit dem Stiel der Schaufel darauf klopfte. Als er den ersten Blick in das offene Grab werfen konnte, prallte er entsetzt zurück, nicht entsetzt über das Bild, das sich 87 �
ihm bot, sondern über die Folgen, die sich daraus ergaben. Aus geweiteten Augen starrte er auf das zerfallene Skelett eines Menschen mit Wolfsschädel und Wolfspranken! * Seit drei Stunden belauerte Walter Brennon den Mann, den er für den Massenmörder von Peareswood hielt. Der Mann hielt sich in seinem Haus auf und schien es an diesem Tag überhaupt nicht verlassen zu wollen. Brennon begann langsam zu verzweifeln. Er mußte sich erst Gewißheit verschaffen, ob sein Verdacht stimmte, sonst würde er sich böse Schwierigkeiten einhandeln. Er mußte das Kleidungsstück finden, aus dem der Stoffteil stammte, den er im Wald entdeckt hatte. Er mußte es einfach schaffen und durfte nicht nachlassen! Seine Ausdauer wurde belohnt, der Verdächtige kam endlich am frühen Nachmittag aus dem Haus und entfernte sich mit raschen Schritten. Von einer Verletzung war nichts zu sehen. Trotzdem hätte Walter Brennon darauf schwören mögen, daß der Mann einen Streifschuß abbekommen hatte. Walter Brennon wartete, bis der andere nicht mehr zu sehen war, dann schlich er an das Haus heran, fand ein offenes Fenster und kletterte hinein. Drinnen führte ihn sein Weg sofort ins Schlafzimmer, wo er den Kleiderschrank aufriß. Enttäuscht wurde er schon bei einer flüchtigen Durchsuchung. Nichts deutete darauf hin, daß in diesem Haus der Mörder wohnte. Nicht einmal schmutzige Schuhe fand er im untersten Fach. Nachdenklich richtete sich Walter Brennon wieder auf. Er glaubte nicht daran, daß er sich irrte. Und er kannte die Beschreibungen des Täters. Das zusammengenommen mußte bedeuten, daß der Mörder ein Wolfskostüm verwendete, wenn 88 �
er seine Taten beging Brennon schlug sich wütend an die Stirn. Wie hatte er so naiv sein können, zu glauben, der Mörder wurde das am meisten belastende Beweisstück in seinem Kleiderschrank aufbewahren! Das Kostüm war natürlich irgendwo versteckt! Das Haus war geräumig, weshalb eine Suche viel Zeit in Anspruch nehmen mußte. Brennon hatte Sorge, der Mörder könnte ihn bei seiner Arbeit überraschen. Vorsichtshalber ging er an verschiedene Fenster und blickte nach allen vier Richtungen nach draußen. Der Hausherr war nirgendwo zu sehen, so daß sich Brennon einigermaßen beruhigt an die Untersuchung der verschiedenen Räume machte. Er begann beim Dachboden, dessen Kisten und Kästen den meisten Erfolg versprachen, und arbeitete sich nach unten vor. Schon glaubte er an einen Mißerfolg seiner Bemühungen, als er sich dem Keller zuwandte. Ein Abteil, angefüllt mit Kartoffeln, erregte seine Aufmerksamkeit. Zahlreiche Kartoffeln wiesen Beschädigungen auf, als wären sie oft zur Seite geräumt und dabei durch eine Schaufel aufgeschnitten und teilweise zerdrückt worden. Brennon blickte sich um, fand tatsächlich in einiger Entfernung eine Schaufel und entdeckte Reste von Kartoffeln am Schaufelblatt. Eine ungeheure Anspannung ergriff ihn, so daß er sogar die einfachsten Vorsichtsmaßnahmen vergaß. Er hatte nur noch den Wunsch, die Beweise für die Schuld dieses Mannes im wahrsten Sinn des Wortes freizulegen. Mit zunehmender Hast schaufelte er die Kartoffeln auf die Seite und stockte, als plötzlich unter dem Berg die Tatze eines Wolfs zum Vorschein kam. Er mußte sich überwinden, um danach greifen und sie hervorziehen zu können. Sie war hart wie Stein und mit nadelspitzen Krallen versehen. Die restlichen Kartoffeln entfernte Walter Brennon mit seinen 89 �
Händen. Er legte noch drei weitere Tatzen frei, die alle mit Riemen versehen waren, so daß sie an Händen und Füßen eines Menschen festgeschnallt werden konnten. Zuletzt stieß er auf einen großen Gegenstand, der in ein dickes Tuch eingewickelt war. Vorsichtig hob er den annähernd kugelförmigen Gegenstand an das Licht der Kellerlampe und schlug den Stoff auseinander. Der Wolfskopf! Und das Tuch war der Umhang, den der Mörder bei seinen Taten trug. Er war das eigentliche Beweisstück, denn das Stoffquadrat mit Blutflecken und Brandspuren paßte genau in ein Loch an der Seite des Umhanges, als Brennon es dagegenhielt. »Vielen Dank, daß Sie mir dieses gefährliche Ding wiederbrachten!« sagte eine Stimme hinter ihm. Brennon brach vor Schreck fast in die Knie. Der Mörder! Er hatte sich leise herangeschlichen. Der Jäger zuckte herum, sah eben noch die große Gestalt des Mannes, die Hände, die auf seinen Hals zuschnellten. Er ließ sich fallen, hoffte dem Würgegriff entgehen zu können. Doch der Mörder war unheimlich schnell. Er legte seine Hände wie Stahlklammern um Brennons Kehle und drückte zu. Das Stoffstück entfiel den zuckenden Händen des Jägers. Die beiden miteinander kämpfenden Männer taumelten, fielen gegen die Wand, rollten auf den Boden. Brennon kämpfte verbissen, ging es doch um sein Leben. Der Mörder war verletzt. Trotzdem war er der Stärkere, nicht rein körperlich, aber auf seiner Seite standen Kräfte, gegen die ein gewöhnlicher Sterblicher nichts aufzubieten hatte. Minuten nur dauerte das Drama in dem Keller, dann richtete sich der Mörder mit einem tückischen Funkeln in den Augen auf. Dieser Gegner war ausgeschaltet. Nun mußte er an die Verwirklichung der nächsten Stufe, des 90 �
großen Plans gehen. � * Der Körper des Werwolfs war zu einem Skelett zerfallen! Rick Masters wurde von dieser Erkenntnis niedergeschmettert. Zu deutlich hatte er noch alle Angaben über den Werwolf im Gedächtnis. Der historische Werwolf würde so lange immer wieder aus seinem Grab auferstehen, wie sein Körper nicht verfiel. Sobald aber nur noch ein Skelett übrigblieb, verlor der Werwolf auch die Fähigkeit, seine Ruhestätte zu verlassen. Er war aber nur noch ein Skelett, kam also nicht als Mörder in Frage! Rick kletterte aus dem Grab, setzte sich auf einen der quadratischen Steine und zündete sich eine Zigarette an. Als er das Feuerzeug zurück in die Tasche gleiten ließ, stutzte er. Seine Finger trafen auf etwas Nachgiebiges, das leicht gegen seine Haut stach. Er zog die Hand zurück und hielt das Büschel Haare zwischen den Fingern, das ihm Walter Brennon zusammen mit dem blutigen Stoffstück gegeben hatte. Er mußte, ohne daß der Jäger es gemerkt hatte, ganz in Gedanken die Haare in seine eigene Tasche gesteckt haben. Rick rieb die Haare gegeneinander, hielt sie dicht vor die Augen und zuckte überrascht zusammen. Ganz plötzlich sah er klar. Er hatte es nicht mit einem echten Werwolf zu tun, sondern mit einem Menschen, der sich nur als Wolf verkleidete! Rick war verwirrt. Dazu paßten nämlich wieder einige Dinge nicht: die traumwandlerische Sicherheit, mit der dieser falsche Werwolf seine Opfer fand; die Schnelligkeit, mit der er sich fortbewegte; und die Wolfsspur knapp vor und hinter dem Tatort. Ein gewöhnlicher Mensch vermochte es nicht, mit bloß aufmontierten Wolfspfoten so schnell zu laufen wie jener Mörder, der sich als Werwolf verkleidet hatte. 91 �
Die Zigarette verglimmte in der Hand des Privatdetektivs, ohne daß dieser es merkte. Erst als die Glut Ricks Finger versengte, schleuderte er die Kippe weg, sprang hinunter in das Grab und barg den Wagenheber. Danach setzte er sich in seinen Morgan und fuhr schnellstens zurück nach Peareswood. Den Wagen parkte er wieder vor dem Gasthof, zog sich auf sein Zimmer zurück und wechselte seine lehmverschmierte Kleidung. Der nächste Weg führte ihn in die Polizeistation, wo er zu seiner Erleichterung Sergeant Brennon antraf. »Ich muß sofort mit Ihrem Bruder sprechen!« keuchte Rick, der das Stück vom Gasthof hierher gelaufen war. »Es ist sehr dringend.« »Ich möchte auch mit Walter sprechen«, antwortete der Sergeant zurückhaltend. »Ich kann ihn nur leider nicht auftreiben. Seit Stunden schon nicht!« Rick Masters erschrak. Es mußte nichts zu bedeuten haben, daß Walter Brennon nicht auffindbar war. Schließlich hatte er selbst den Jager am Morgen gesucht und nicht gefunden, weil dieser sich in den Wäldern herumgetrieben hatte. Doch diesmal war es etwas anderes. Rick wußte jetzt nämlich, daß Brennon von falschen Voraussetzungen ausging, obwohl er die richtige Idee gehabt hatte. Brennon suchte nach einem Menschen, der die Mordserie von Peareswood begangen hatte. Das war richtig. Doch er meinte, es mit einem gewöhnlichen Menschen zu tun zu haben, und das war ein verhängnisvoller Irrtum. Rick Masters wußte es jetzt besser. Der Mörder stand im Bund mit unheimlichen Mächten, vielleicht sogar mit dem Geist des historischen Werwolfs, der ihm bei der Ausführung seiner Taten geholfen hatte. Und gegen einen solchen Mörder hatte Walter Brennon nicht die geringste Chance. Rick mußte ihn finden, ehe es zu spät war. 92 �
Oder sollte es sogar schon zu spät sein? * »Wünschen Sie noch etwas, Mr. Masters?« Rick schreckte aus seinen Gedanken hoch und schaute Sergeant Brennon verwirrt an. »Wie? Ach so, nein, nein, ich gehe schon. Aber wenn Ihr Bruder auftaucht, soll er sich sofort mit mir in Verbindung setzen. Richten Sie ihm das aus!« »Mache ich«, versprach der Sergeant und blickte dem Privatdetektiv nach, der die Polizeistation verließ. Rick hatte das Gefühl, daß auch Sergeant Brennon ihn so wie die anderen Einwohner von Peareswood lieber gehen als kommen sah. Er konnte nur hoffen, daß der Sergeant sein Wort hielt und wirklich seinen Bruder darüber unterrichtete, daß Rick ihn dringend sprechen mußte. Unschlüssig blieb der Privatdetektiv vor der Station stehen. Was sollte er nun unternehmen? Mit dem Grab des historischen Werwolfs war nichts mehr zu erreichen, dieser Spuk war ein für allemal vorbei. Rick mußte sich nunmehr auf rein kriminalistische Untersuchungen beschränken. Wieder spielte er mit dem Gedanken, Chefinspektor Hempshaw zu Hilfe zu rufen, doch auch jetzt unternahm er noch nichts, da er nicht beweisen konnte, daß es sich um Morde und nicht um Angriffe eines wilden Tieres handelte. Den einzigen existierenden Beweis besaß Walter Brennon, eben jenes Stück Stoff mit den Blut- und Brandspuren. Bevor Rick sich zu etwas entschließen konnte, wurde er auf mehrere Personen aufmerksam, die sich dem Dorf näherten. Sie kamen aus der Richtung, in der Tom Fullers Haus stand, und schoben einen Handkarren zwischen sich. Welche Fracht sie beförderten, konnte Rick noch nicht erkennen, doch die betroffe93 �
nen und verschlossenen Gesichter der Männer alarmierten ihn. Er ging auf die Leute zu, als er hinter sich ein Geräusch hörte. Die Tür der Polizeistation öffnete sich, Sergeant Brennon kam heraus, lief an Rick vorbei und erreichte vor dem Privatdetektiv den Wagen. Rick hörte den gräßlichen Schrei Sergeant Brennons, sah, wie der Polizist wankte, sich am Wagen festhielt und zusammenbrach. Noch bevor er selbst den Wagen genauer sah, wußte er bereits, was darauf lag. Die Leiche Walter Brennons. Er hatte sich nicht getäuscht. Rick schloß die Augen, als er den Toten sah. Der Werwolf hatte ihn ebenso schauderhaft zugerichtet wie die anderen. Brennons Kleider waren zerrissen. Am ganzen Körper wies er Kratz- und Bißspuren auf. Und doch war etwas anders als bei den übrigen Leichen. Rick nagte an der Unterlippe und überlegte fieberhaft, was ihm aufgefallen war, ohne in sein Bewußtsein einzudringen. Zoll für Zoll musterte er den Toten, bis er zusammenzuckte. Der Hals! Am Hals waren Würgemale zu sehen, die von Fingern stammten! Das war der Unterschied. Die anderen Opfer waren nur durch Bisse und Kratzer getötet worden. Wenn Rick nicht völlig falsch urteilte, war Walter Brennon erwürgt worden. Die Bißspuren hatte ihm der Mörder erst hinterher zugefügt. Die Männer, die bisher den Wagen geschoben hatten, kümmerten sich alle um den zusammengebrochenen Sergeant, so daß Rick Gelegenheit hatte, unbemerkt die Taschen des Toten zu durchwühlen. Das Stoffstück, das wichtige Beweismittel, fand er nicht! Der Mörder mußte es Brennon abgenommen haben. Endlich rief jemand nach dem Arzt. Rick konnte weiterhin den stummen Beobachter spielen und brauchte nicht selbst den Arzt 94 �
zu holen, den er für die Klärung einer wichtigen Frage brauchte. Es ging darum, ob Walter Brennon wirklich erwürgt worden war oder nicht. Der Arzt, ein Mann um die vierzig, mürrisch und verschlossen, kam und kümmerte sich zuerst um Sergeant Brennon. »Nichts Ernstes«, konstatierte er rasch. »Bringt ihn in meine Praxis. Dort kann er bleiben, bis er sich erholt hat.« Danach warf er einen flüchtigen Blick auf den Toten auf dem Wagen. »Wie üblich«, murmelte er. »Der Hund oder der Wolf!« Damit wollte er sich abwenden, doch Rick Masters hielt ihn zurück. »Doktor!« rief er. »Möchten Sie den Toten nicht genauer untersuchen?« Der Arzt wandte ihm erstaunt das Gesicht zu und runzelte die Stirn. »Warum? fragte er knapp. »Sieht doch jeder, daß…« »Und das hier?« fragte Rick und deutete auf den Hals des Toten. Er konnte es dem Arzt nicht verübeln, daß er sich von den zahlreichen Wunden täuschen ließ. Der Mann trat näher an die Leiche heran. Um seinen Mund zuckte es, als er die Würgemale erblickte. Er schickte die übrigen Leute mit einem energischen Wink weg und untersuchte Walter Brennon gründlicher. »Sie haben recht, Mr. Masters«, nickte der Arzt endlich. »Dieser Mann starb nicht durch ein Tier, er wurde erwürgt. Das bedeutet aber…« »Ich weiß, was es bedeutet«, nickte Rick, sobald der Arzt betroffen schwieg. »Da Sergeant Brennon nicht in der Lage ist, etwas zu unternehmen, werde ich Scotland Yard verständigen. Besten Dank für Ihre Hilfe.« Rick ging noch zu einem der Männer, die den traurigen Transport begleitet hatten. »Wo fanden Sie Mr. Brennon?« wollte er wissen. 95 �
»Ganz in der Nähe von Tom Fullers Haus«, lautete die Antwort wie erwartet. »Wir klopften zuerst bei Tom, aber er öffnete nicht, obwohl er sicher zu Hause ist. Schließlich holten wir den Wagen Rick bedankte sich für die Auskunft und suchte nach einem Postamt. Es gab keines, nur einen Postschalter im Kaufladen. Er konnte dennoch ungestört telefonieren, da es eine eigene Kabine dafür gab. Chefinspektor Hempshaw staunte nicht schlecht, als Rick sich aus Wales meldete. »Jagen Sie dort wieder hinter irgendwelchen Hirngespinsten her?« rief Hempshaw mit einem dröhnenden Lachen. »Etliche Tote, Kenneth«, erwiderte Rick, worauf das Lachen erstarb. »Die Leute glaubten zuerst an einen Werwolf, jetzt habe ich aber den Beweis, daß es sich um einen menschlichen Mörder handelt.« »Was denn!« rief Hempshaw erstaunt aus. »Sie versuchen doch sonst mit allen Mitteln, mich davon zu überzeugen, daß immer und überall Übersinnliches im Spiel ist. Und diesmal geht es ›nur‹ um einen Menschen, der mordet?« »Um einen Menschen, der mit übersinnlichen Mächten im Bund steht«, versetzte Rick trocken. »Dennoch muß etwas von Seiten der Polizei geschehen, da der örtliche Polizist durch Nervenschock ausgefallen ist. Wollen Sie sich um den Fall kümmern?« Der Chefinspektor überlegte nicht lange. »Ich werde sehen, was ich tun kann«, versprach er. »Entweder schicke ich jemanden, oder ich komme selbst. Aber schlagen Sie sich die Sache mit den übersinnlichen Einflüssen aus dem Kopf. Das zieht bei mir nicht!« Er legte auf, und Rick tat zur gleichen Zeit in Wales dasselbe. Trotz der ernsten Lage mußte er in sich hineingrinsen. Der Chefinspektor war und blieb der alte Skeptiker, was übersinnliche 96 �
Phänomene anbelangte, obwohl er es mittlerweile schon besser wissen mußte. Rick hatte ihm bereits genügend Beweise geliefert. Als er das improvisierte Postamt verließ, bewegte ihn ein Gedanke. Warum hatte der Mörder diesmal auf »gewöhnliche« Weise getötet und sein Opfer erwürgt? Warum hatte er Walter Brennon nicht wie die anderen durch Bisse umgebracht? * Die Stimmung in Peareswood nahm gefährliche Formen an. Nicht etwa, daß die Menschen aufgebracht, wütend und handgreiflich geworden wären, sondern sie ließen sich im Gegenteil hängen, wollten nichts mehr unternehmen. Rick Masters konnte diese Haltung verstehen, auch wenn sie genau falsch war. Wenn niemand etwas gegen den unheimlichen Mörder unternahm, würde dieser weiterhin sein Unwesen treiben. Nun, es war seine Aufgabe, den Mörder zur Strecke zu bringen. Und er wußte inzwischen auch schon, wie er das anstellen konnte. Eine einfache Schlußfolgerung hatte ihm weitergeholfen. Wer auch immer der Mörder war, er mußte irgendwie auf den historischen Werwolf gestoßen sein, vermutlich auf sein Grab. Nur so konnte Rick sich erklären, daß der Mörder Übermenschliches leistete, wenn er seine Opfer holte. Logischerweise dachte Rick sofort an das alte Buch, das er von Mr. Fuller erhalten hatte. Wer dieses Buch einmal gelesen hatte, kam als Mörder in Frage – in erster Linie natürlich Mr. Fuller selbst. Während Rick Masters zu seinem Morgan ging und sich hinter das Steuer setzte, holte er noch einmal das Haarbüschel aus seiner Tasche, jene Haare, die aus dem Fell des vermeintlichen Werwolfs stammten. Mit einem grimmigen Lächeln schob er sie 97 �
zurück und nickte. Ohne diese Haare wäre er wahrscheinlich weiterhin einer falschen Spur nachgejagt. Sie erst hatten ihn auf die richtige Fährte gebracht. Ohne besondere Hast fuhr er hinaus zu dem einsam stehenden Haus. Tom Fuller war bestimmt daheim. Rick hatte aus Gesprächen der Männer gehört, daß er noch immer – oder schon wieder – sinnlos betrunken war. Auf diese Trunkenheit baute Rick seinen Plan auf. Erst mußte er sich davon überzeugen, ob Mr. Fuller der Mörder war, also auch seine eigene Frau getötet hatte. Erst wenn Fuller von jedem Verdacht befreit war, konnte er der Spur weiter folgen. Den Morgan stellte er an einer Stelle ab, an der er vom Haus aus nicht gesehen werden konnte. Das letzte Stück mußte er zu Fuß über offenes Gelände zurücklegen. Daher hoffte er, daß Tom Fuller durch den Alkohol nicht imstande war, am Fenster zu stehen und die Umgebung zu beobachten. Als Rick endlich das Haus erreichte und sich flach gegen die Mauer preßte, hatte sich drinnen nichts gerührt. Jetzt schob er sich lauschend an ein halbgeöffnetes Fenster heran. Drinnen lallte Tom Fuller, Flaschen und Gläser klirrten. Möglicherweise handelte es sich nur um ein Ablenkungsmanöver, mit dem Fuller den Privatdetektiv ins Haus locken wollte. Jederzeit zur Gegenwehr bereit, zog sich Rick in das Innere des Zimmers, durchsuchte es und huschte dann hinaus auf den Korridor. Während Fuller unten im Wohnzimmer grölte und stöhnte, Flaschen und Gläser zerschlug, durchwühlte der Privatdetektiv das Haus vom Dachboden bis zum Keller. Rick suchte das Wolfskostüm, fand es nicht und war zuletzt ziemlich sicher, in Tom Fuller nicht den Mörder vor sich zu haben. »Hallo!« rief Fuller unsinnig grinsend, als Rick den Wohnraum betrat. »Komm, Freund, trink einen Schluck mit mir! Ich friere etwas, aber ich habe vergessen, was das ist!« 98 �
Er hielt Rick ein halbgefülltes Glas hin, das dieser entgegennahm. Rick tat allerdings nur so, als würde er trinken, weil er einen klaren Kopf brauchte. »Mr. Fuller«, begann er eindringlich, »denken Sie scharf nach! Wem haben Sie dieses alte Buch gezeigt? Sie wissen schon, das Buch, das Sie oben auf dem Dachboden fanden und in dem alles über den Werwolf steht, der einmal in diesem Haus wohnte! Fuller, es ist wichtig!« Fünf Minuten brauchte Rick, bis er den Mann so weit hatte, daß er überhaupt verstand, wovon der Privatdetektiv sprach. Und dann brauchte er weitere fünf Minuten, bis er endlich antwortete. »Farman… ja, der war mal hier… Farman…« Rick konnte nicht verhindern, daß Fuller einschlief. Alle Versuche, ihn zu wecken, scheiterten. Wütend versetzte Rick einer leeren Whiskyflasche einen Fußtritt. Wer war Farman? Er blieb stehen, als er im Flur das Telefon sah. Rasch nahm er das Telefonbuch, suchte Peareswood heraus und glitt mit dem Finger die Spalten entlang. »Fabian, Fammings, Farman…!« las er halblaut, bis er den richtigen Namen gefunden hatte. Es gab nur einen Farman, Ernest Farman. Rick zögerte, dann wählte er die angegebene Nummer. Als er die Männerstimme am anderen Ende der Leitung hörte, zuckte er zusammen. Der Wirt! Rasch legte Rick wieder auf. Allein die Tatsache, daß der Wirt von dem alten Buch Kenntnis hatte, stempelte ihn noch nicht als Mörder ab, bezog ihn jedoch in den engeren Kreis der Verdächtigen ein. Fuller schlief so fest, daß Rick keine Sorgen um ihn zu haben 99 �
brauchte. Die nächsten vierundzwanzig Stunden würde er wahrscheinlich nicht erwachen, und bis dahin konnte sich jemand aus dem Dorf um ihn kümmern. Er beeilte sich, zu seinem Morgan zurückzukommen. Die Sonne stand schon sehr tief. In etwa einer Stunde mußte die Dämmerung hereinbrechen, in ungefähr zwei Stunden ging der Mond auf. Rick ließ seinen Wagen auf dem Hauptplatz von Peareswood stehen und näherte sich dem Gasthof zu Fuß. Er wollte den Wirt durch sein plötzliches Auftauchen überraschen, doch wurde daraus nichts. Als er nämlich das Haus durch den Hintereingang betrat, weil das Pub noch geschlossen war, fand er niemanden im Schankraum. Auch die Küche war leer. Überall standen volle Töpfe herum, nicht gerade sauber, wie Rick angewidert feststellte. Im Schankraum schaute sich der Privatdetktiv näher um und entdeckte hinter der Theke im Boden eine rechteckige Öffnung, durch die er eine in den Keller führende Treppe erblickte. Unten brannte Licht. Vermutlich holte Mr. Farman, der Wirt, neue Flaschen für das Abendgeschäft herauf. Rick stieg hinunter, wobei er möglichst leise auftrat, um Farman nicht vorzeitig auf sein Kommen aufmerksam zu machen. Er rechnete sich jetzt nur noch Chancen aus, wenn er alle Leute bluffte. Gleich darauf erkannte er, daß er gar nicht zu bluffen brauchte. Er sah nämlich Mr. Farman – und das Wolfskostüm. Der Wirt hockte auf einer Kiste, den Kopf in beide Fäuste gestützt. Unverwandt betrachtete er einen vor ihm liegenden Wolfskopf und vier künstliche Wolfspfoten, an denen Riemen befestigt waren, mit deren Hilfe sie umgeschnallt werden konnten. Daneben hob sich ein dunkler Umhang vom schmutzigen Kellerboden ab. 100 �
»Das wäre es ja dann wohl«, sagte Rick erleichtert, die Hand unter der Jacke am Griff der Pistole. Farman stieß einen lauten Schrei aus und wirbelte herum. Rick erwartete, angegriffen zu werden, doch zu seiner Überraschung atmete der Wirt erleichtert auf. »Mein Gott, haben Sie mich erschreckt, Mr. Masters!« rief Farman aus. »Ich dachte schon, es wäre der Mörder, der sich die Sachen wiederholt.« Menschenkenntnis war in einem Beruf wie dem Ricks unerläßlich. Der Privatdetektiv war unter anderem so erfolgreich, weil er eine gehörige Portion Menschenkenntnis besaß, die ihm in diesem Augenblick sagte, daß er nur einen kleinen Schritt vorwärts gemacht hatte. Er hatte das Kostüm des Mörders gefunden, nicht aber den Mörder selbst. Denn Farman konnte nicht der Täter sein, das bewies sein ganzes Verhalten. Außer er wußte nichts davon, daß er in Vollmondnächten mordete, fiel Rick ein. Das war nicht ausgeschlossen, weshalb er vorsichtshalber auf Distanz blieb und die Hand nicht von der Pistole nahm. »Wollen Sie mir einreden, daß Sie nicht wissen, wie diese Sachen hierherkommen?« fragte er scharf. »Natürlich weiß ich es«, nickte Farman beinahe vorwurfsvoll. »Schließlich sah ich ihn, als er mit einem großen Paket in den Gasthof schlich. Deshalb ging ich auch in den Keller und schaute nach, was in dem Paket war.« »Wer schlich hier herein?« Rick ließ den Wirt keine Sekunde aus den Augen, ein gefährlicher Fehler. »Der Mörder natürlich«, sagte Farman. Gleich darauf zuckte Erschrecken über sein Gesicht, sein Blick ging an Rick vorbei zur Treppe. »Ich war es, Mr. Masters«, sagte eine unangenehme Stimme in Ricks Rücken. 101 �
Der Privatdetektiv handelte gedankenschnell. Seine Hand kam mit der bereits entsicherten Pistole unter der Jacke hervor. Im nächsten Moment bereits blickte Frank Jeffries, Bürgermeister von Peareswood, in die Mündung der Waffe. »Sie?« Rick war ehrlich verblüfft. »Ich mochte Sie zwar von Anfang an nicht, aber für einen Mörder hielt ich Sie trotzdem nicht.« »Wie man sich täuschen kann«, grinste Bürgermeister Jeffries mit unverhohlenem Spott. Es warnte Rick, daß Jeffries so unbekümmert blieb, obwohl er sich soeben als Täter zu erkennen gegeben hatte. Jeffries mußte sich sehr sicher fühlen. »Ein Schritt weiter, und ich schieße!« warnte Rick. »Ich habe nicht die Absicht«, erklärte Jeffries und setzte sich auf eine Kiste. »Meine Zeit ist noch nicht gekommen.« Auch das machte Rick vorsichtig. Der Bürgermeister würde irgendwann versuchen, ihn zu töten, das stand fest. Vielleicht mußte er warten, bis der Mond aufging, um seine geheimnisvollen Kräfte wiederzugewinnen. »Ja, ich bin Tom Fuller wirklich dankbar, daß er mir vor zwei Jahren das Buch zeigte, das Buch über den Werwolf«, begann Jeffries übergangslos zu sprechen. Rick Masters horchte auf. Er sollte jetzt alles erfahren, was ihm in diesem Fall noch unklar war. Das fesselte seine Aufmerksamkeit so sehr, daß er gar nicht erkannte, was Jeffries wirklich wollte. Zeit gewinnen! »Hat Fuller Ihnen nichts davon gesagt, daß ich das Buch las?« Frank Jeffries grinste. »Sein Gedächtnis läßt nach. Ich merkte mir die Beschreibung des Werwolfsgrabes und konnte der Versuchung nicht widerstehen. Ich öffnete es eines Tages, fand das Skelett und war von diesem Moment an fasziniert. Ich fühlte, daß dieses einstmals so machtvolle Wesen zu mir in Kontakt treten wollte. Zwar schloß ich das Grab wieder, damit niemand 102 �
mißtrauisch wurde, aber ich kam jede Nacht und wartete vergeblich mehrere Stunden. Bis es wieder Vollmond gab.« Rick Masters glaubte, mit seiner entsicherten Pistole vor diesem Mann sicher zu sein! »In der ersten Vollmondnacht spürte ich plötzlich einen Kontakt zu einem unsichtbaren Wesen. Der Werwolf – sein Geist – sprach nicht hörbar zu mir, und doch fühlte ich, daß er mir ein Angebot machte. Er war für immer an sein Grab gefesselt, doch er wollte mir die Macht verleihen, die er einstmals hatte, die Macht, Menschenleben auszulöschen nach Belieben. Ich müßte mir nur ein Stück von seinem Skelett nehmen und ständig bei mir tragen.« Frank Jeffries lachte leise auf, als der Wirt schreckensbleich an die äußerste Wand des Kellers zurückwich. »Damals erschreckte mich dieser Gedanke auch noch«, gab er zu. »Doch er ließ mich nicht mehr los, immer wieder stellte ich es mir vor! Und dann war es soweit. Ich öffnete das Grab und holte mir einen Knochen des Skeletts!« Er hob ein schimmerndes weißes Ding hoch, das an einer Kette um seinen Hals hing. Rick hatte es bisher für einen Talisman gehalten. Das war es ja auch, wenn auch ein sehr makabrer Talisman! »Und beim nächsten Vollmond wußte ich plötzlich von selbst, was ich tun mußte. Ich besorgte mir das Wolfskostüm, ging nachts hinaus auf die Wiese und mordete! Eine unsichtbare Macht half mir!« Frank Jeffries funkelte Rick tückisch an. »Genauso, wie sie mir jetzt hilft!« Der Bürgermeister stand auf. »Der Mond ist aufgegangen, der Geist des Werwolfs ist bei mir! Sagen Sie mir nur noch eines! Wie kamen Sie darauf, daß ein Mensch die Morde begeht und kein Werwolf?« Rick Masters erkannte mit Entsetzen, daß er zu lange gewartet 103 �
hatte. Er wollte seine Unsicherheit überspielen und holte das Haarbüschel aus seiner Tasche. »Der historische Werwolf schied aus, nachdem ich sein Skelett gesehen hatte«, tat er, als würde er nicht eisige Todesfurcht empfinden. »Und ein echter, jetzt lebender Werwolf fiel aus, sobald ich diese aus dem Fell stammenden Haare näher untersuchte. Sie sind aus Kunststoff! Ihre Verkleidung ist nicht einmal aus echtem Fell!« »Wozu auch?« Jeffries kam einen Schritt näher, böse grinsend. Rick hob die Pistole. Der Moment der Entscheidung war gekommen. * »Bleiben Sie stehen!« befahl Rick mit eisiger Stimme. »Ich schieße sofort!« »Keiner von euch beiden wird mich hindern, mein Werk fortzusetzen«, flüsterte Frank Jeffries mit fiebrigglänzenden Augen. »Die Macht seines Geistes wirkt noch immer, auch wenn der Mond schon abnimmt. Viele Nächte bleiben mir nicht mehr, aber sie reichen aus, um meinen Blutdurst zu stillen!« Ricks Hand bebte. Er wußte, daß er schießen mußte, wenn der Mann noch einen Schritt auf ihn zumachte, da er sich auf keinen Kampf einlassen durfte. Auf Seiten des Bürgermeisters stand eine kaum überwindliche Macht. »Ich fürchte deine Pistole nicht, Rick Masters«, hauchte der völlig der Welt entrückte Mann. »Hier!« Er öffnete sein Hemd und zeigte Rick einen fast verheilten Streifschuß. »Er schützt mich! Du kannst mich nicht überwinden!« Ricks Zeigefinger zuckte leicht. Würde er wirklich schießen müssen? Ehe es, dazu kam, stieß der Privatdetektiv einen lauten Schrei 104 �
aus, schleuderte die Pistole von sich und schlenkerte seine Hand wild durch die Luft. Schmerzlich biß er die Zähne zusammen. Das Metall der Pistole hatte sich plötzlich angefühlt, als wäre es glühend geworden. Rick wußte, wer dahintersteckte! Der Geist des Werwolfs hatte verhindert, daß der mit ihm verbündete Mensch in einem Kampf unterlag. Rick sah durch einen Tränenschleier, der sich vor seine Augen legte, die massige Gestalt Frank Jeffries näher kommen. Der Bürgermeister bewegte sich rasend schnell. »Fuller muß sterben!« hörte Rick noch. »Er kann mich verraten!« Dann traf ihn ein fürchterlicher Schlag an der Schulter, schleuderte ihn durch die Luft und ließ ihn gegen die Wand prallen. Stöhnend richtete er sich auf die Knie auf. Zwischen roten Nebeln hindurch erkannte er, wie der Wirt unter den Schlägen Jeffries zusammenbrach. Dann kam der Bürgermeister wieder zu ihm. Rick riß die Fäuste hoch. Stechender Schmerz zuckte durch seine Schulter. Ein Hieb Jeffries fegte ihn von den Füßen. Er schlug mit dem Kopf gegen die Mauer. Das ist das Ende, dachte Rick noch, ehe ihn eine Ohnmacht umfing. Der Mann ist durch den Geist des Werwolfs unüberwindlich geworden! Dann wurde es schwarz vor seinen Augen. * Sein Kopf fühlte sich an, als wäre er mit komprimierter Luft gefüllt. Rick glaubte, jeden Moment zu platzen. Das Pochen und Hämmern in seinen Schläfen ließ ihn laut stöhnen. Als er ganz aus seiner Ohnmacht erwachte, fand er sich bereits auf Händen und Knien. Noch halb benommen hatte er bereits 105 �
versucht, aufzustehen und den Keller zu verlassen. Das Licht brannte noch, und der Anblick der reglosen Gestalt Mr. Farmans vertrieb sofort die Schmerzen, ließ Rick seinen elenden Zustand vergessen. Erschrocken beugte er sich über den Wirt, wurde schwindlig, verlor das Gleichgewicht und brach in die Knie. Keuchend stemmte er sich wieder hoch und untersuchte Farman. Zu seiner grenzenlosen Erleichterung stellte er fest, daß der Wirt lebte, wahrscheinlich nicht einmal schwer verletzt sondern nur ohnmächtig war. An seinem Hinterkopf wuchs eine beträchtliche Beule. Rick zerbrach sich nicht weiter den Kopf, warum Jeffries sie beide nicht auf der Stelle ermordet hatte. Wahrscheinlich drängte es ihn, Fuller zu töten, damit dieser ihn nicht verraten konnte. Fuller! Tom Fuller! Rick mußte ihn warnen, mußte ihn anrufen. Doch dann fiel ihm ein, daß Fuller sinnlos betrunken in seinem Haus war und eine leichte Beute für den vom Werwolf besessenen Jeffries werden würde. Rick mußte so schnell es nur ging aus dem Keller heraus und den Mörder aufhalten. Farman atmete flach aber gleichmäßig, als Rick die Kellertreppe auf allen vieren hinaufkroch. Oben im Schankraum holte er tief Luft, steckte seinen Kopf einmal unter den kalten Wasserstrahl und fühlte sich danach besser. Auf dem Weg zu seinem Wagen begegnete er einigen Leuten. »Kümmert euch um Farman!« schrie er ihnen zu. »Er liegt bewußtlos in seinem Keller!« Neben seinem Morgan standen auf dem Hauptplatz ungefähr zehn Männer, einige aus Peareswood, einige waren Jäger aus der Umgebung. Rick hielt sich an seinem Auto fest und winkte ihnen zu. 106 �
»Ich habe den Mörder entlarvt!« eröffnete er den Männern. »Es ist Frank Jeffries. Er trägt jetzt ein Wolfskostüm und einen weiten Umhang und ist zu Fuller unterwegs! Folgt mir!« Zu seiner Erleichterung kamen sie seiner Aufforderung nach. Sie glaubten ihm, daß sie es mit einem Menschen und nicht mit einem Werwolf zu tun hatten, wie viele von ihnen wahrscheinlich annahmen. Sie liefen zu ihren Autos, starteten und hängten sich an Ricks Morgan, der mit Höchstgeschwindigkeit die Dorfstraße entlangraste. Um Fußgänger zu warnen und eventuell auch Jeffries von einem weiteren Mord abzuhalten, schaltete Rick entschlossen die Alarmklingel ein. Der Morgan lag wie ein Brett auf der Straße, als Rick durch die Kurven fegte. Die Dämmerung war bereits hereingebrochen, die Scheibe des Mondes stieg hinter dem Wald empor. Bald schon würde die Kraft des Werwolfs am größten sein. Dann konnte er seinem Verbündeten, Frank Jeffries, auch am besten helfen. Bis dahin mußte Rick den Mann unschädlich gemacht haben, sonst waren seine Chancen verspielt. Rick zitterte vor Aufregung und auch vor Schwäche. Der schwere Sturz im Keller des Wirts war doch nicht ohne ernstere Folgen abgegangen. Wenn es ganz schlimm ausging, hatte er sich sogar eine Gehirnerschütterung zugezogen. Als Rick vor dem Haus bremste, hatte er noch immer nicht den als Werwolf maskierten Besessenen entdeckt. Wo steckte Frank Jeffries? Die Antwort erhielt er, als er aus seinem Wagen stieg und in das Haus laufen wollte. Die Büsche teilten sich, und mit einem erschreckenden Heulen und Knurren stürzte sich der Mann auf ihn, dem der Geist des Werwolfs ähnliche Eigenschaften verlieh, wie jenes Ungeheuer vor Jahrhunderten selbst besessen hatte. Rick hatte keine Zeit mehr, seine Pistole zu ziehen. Er mußte sich mit bloßen Fäusten seinem Gegner stellen. 107 �
Der Privatdetektiv kannte jetzt die schwache – und die einzige schwache – Stelle des Werwolfs. Er duckte sich bis zum Boden ab, schnellte unmittelbar vor dem Mann hoch. Mit einer gedankenschnellen Handbewegung riß er an dem kleinen, auf der Brust hängenden Knochenstück, das von dem Gerippe des echten Werwolfs stammte. Die Kette zersprang. Rick warf sich zurück, entging dem zweiten Angriff Frank Jeffries, der schon wesentlich langsamer war. Sein Talisman fehlte, der die Verbindung zu dem Geist des Werwolfs aufrecht erhielt. Die Jäger waren heran. Sie packten Jeffries, der sich nur noch mit seinen gewöhnlichen menschlichen Kräften wehren konnte und auch nicht mehr mit dem künstlichen Wolfsmaul zubeißen konnte. »Haltet ihn fest!« schrie Rick. »Unternehmt sonst nichts!« Solange dieses Knochenstück des Werwolfs existierte, bestand immer noch die Gefahr, daß Frank Jeffries oder ein anderer von dem Geist des Werwolfs erfaßt wurde. Daher rannte Rick zu seinem Wagen, schloß mit fliegenden Fingern den Kofferraum auf und holte den Reservekanister heraus. Er warf das Knochenstück auf die Wiese, übergoß es reichlich mit Benzin und schleuderte ein brennendes Streichholz hinterher. Kaum war die Stichflamme brüllend in den nächtlichen Himmel geschossen, als Frank Jeffries völlig entkräftet zusammenbrach. Die Jäger schleppten ihn zu einem der Wagen, um ihn zurück nach Peareswood zu bringen. Rick Masters sah unter ihnen auch Sergeant Brennon, der den Mörder seines Bruders mit einem kalten Blick maß. Hinter Rick öffnete sich die Haustür. Schwankend stand Tom Fuller vor ihm. Erst jetzt konnte der Privatdetektiv aufatmen. Wenigstens dies108 �
mal war er rechtzeitig gekommen. * Rick Masters stellte sein Whiskyglas auf die Theke und begann zu grinsen. Dieses Grinsen galt nicht dem Wirt, der mit verbundenem Kopf hinter der Theke stand, sondern einem Mann, der vor dem Gasthof aus einer schwarzen Limousine stieg. Rick stieß sich von der Theke ab und ging nach draußen. Leise trat er von hinten an den bulligen Mann heran und tippte ihm auf die Schulter. Chefinspektor Kenneth Hempshaw fuhr herum und verzog sein Gesicht, als er den Privatdetektiv erkannte. »Erschrecken Sie mich nicht so, Rick!« fauchte Hempshaw. »Ich werde meine Nerven noch brauchen, wenn ich einen Massenmörder entlarven muß!« »Typisch für Sie, Kenneth«, nickte Rick mit gespieltem Vorwurf. »Sie kommen immer erst dann, wenn bereits alles vorbei ist.« Der Chefinspektor runzelte die buschigen Augenbrauen. »Was soll denn das schon wieder heißen?« knurrte er fast so wütend wie der falsche Werwolf. »Kommen Sie erst einmal herein und trinken Sie einen Schluck mit mir«, schlug Rick vor. »Dabei redet es sich leichter.« »Ich bin im Dienst«, erklärte Hempshaw steif. »Nicht mehr«, gab der Privatdetektiv zurück. »Der Mörder sitzt dank meiner genialen Begabung hinter Schloß und Riegel. Drüben in der Polizeistation. Sergeant Brennon bewacht ihn.« Der Chefinspektor sah aus, als wurde er jeden Moment in die Luft gehen. Er stemmte die Fäuste in die Seiten und maß den Privatdetektiv mit einem vernichtenden Blick. »Wollen Sie behaupten, ich hätte den weiten Weg von London nach Wales 109 �
umsonst unternommen?« grollte er. »Genau das«, nickte Rick. »Kann ich etwas dafür, daß Sie so langsam sind?« Wortlos drehte sich Hempshaw um und stampfte hinüber zur Polizeistation. Rick begleitete ihn und berichtete ihm in allen Einzelheiten, was sich in Peareswood ereignet hatte. Allerdings schwieg er sich über die geistige Verbindung Frank Jeffries zu dem Werwolf aus. Hempshaw erledigte die nötigen Formalitäten, um am nächsten Morgen Frank Jeffries in die nächste Nervenheilanstalt zu bringen. Denn der Geist dieses Mannes hatte sich innerhalb weniger Stunden vollständig verwirrt… Der Werwolf von Peareswood hatte noch ein letztes Opfer gefunden. Als Rick die Polizeistation verließ, warf er einen verbitterten Blick hinauf zu der blutigroten Scheibe des Mondes, die über Wales am Himmel stand. * Zurück in London, gönnte sich Rick Masters am nächsten Abend ein Essen in einem hervorragenden Feinschmeckerlokal. Die rothaarige Frau, die am Nebentisch mit einem grauhaarigen Mann saß und ein tolles Abendkleid trug, kam, ihm sehr bekannt vor. Immer wieder warf er einen Blick hinüber. Sie beachtete ihn nicht, hatte nur Augen für ihren Begleiter. Doch als einmal ihr Blick auf Rick fiel, sprang sie überrascht auf und kam an seinen Tisch. »Rick!« rief sie so laut, daß die übrigen Gäste sich umdrehten. »Nein, so eine Überraschung!« »Sally!« Rick war entgeistert. »Das gibt es doch nicht! Wie hast du dich verändert.« 110 �
Sie setzte sich ungeniert zu ihm an den Tisch und ließ ihren Begleiter allein. »Eine neue Frisur, neuer Schmuck, ein neues Abendkleid! Ach, Rick, ich bin so glücklich! Ich bin verlobt, wir heiraten bald. Du kennst meinen Verlobten, wenigstens dem Namen nach.« Rick Masters nickte dem Mann am Nebentisch höflich zu. »Wieso kenne ich ihn?« fragte er Sally leise. »Es ist Mr. Fender, John Fender«, eröffnete sie ihm. »Der Mann, den ich beschatten sollte. Dessen Schwägerin dir den Auftrag erteilte, weil sie meinte, er würde zuviel Geld in Spielcasinos ausgeben! Wir haben uns verlobt und werden bald heiraten! Ich werde dafür sorgen, daß er kein Geld mehr ausgibt, sondern nur noch ich die Schecks ausschreibe, und er ist himmlisch reich!« Damit entschwebte Sally Walsh wieder zu ihrem Verlobten. Rick seufzte in sich hinein. Freundinnen hielten sich bei ihm offenbar ebenso kurz wie das Geld, das er für seine Aufträge erhielt. Während er sich dem nächsten Gang widmete, brach das Paar am Nebentisch auf. Rick schaute hinter ihnen her, dann kehrten seine Gedanken für einige Minuten zu den Ereignissen in Wales zurück. Aber auch diese Erinnerung schob er von sich. Er war bereit für neue Aufträge. ENDE
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