BOMBA AM GROSSEN KATARAKT
BOMBA 3
ROY ROCKWOOD BOMBA AM GROSSEN KATARAKT
AWA-VERLAG MÜNCHEN 8
Der Originaltitel l...
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BOMBA AM GROSSEN KATARAKT
BOMBA 3
ROY ROCKWOOD BOMBA AM GROSSEN KATARAKT
AWA-VERLAG MÜNCHEN 8
Der Originaltitel lautet: BOMBA AT THE GIANT CATARACT Aus dem Amerikanischen übertragen von Dr. Hansheinz Werner Bearbeitung: Werner Gronwald, Wessling
Umschlaggestaltung: Herm. M. Schneider, München Gesamtherstellung: AWA-Druck Krüger & Co. München Non Profit Scan by: Wesir der Nacht & Brrazo 11/2005 Printed in Germany Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten AWA-VERLAG MÜNCHEN
1 Der plötzliche Angriff Es war noch nicht lange her, daß sich Bomba von seinen Urwaldfreunden verabschiedet hatte. Leichtfüßig eilte er durch den Dschungel, um bald zu seinem alten Gefährten Casson zurückzukommen. Lange Zeit war er unterwegs gewesen, und Besorgnis und Sehnsucht beschleunigten seinen Schritt. Trotzdem war seine Aufmerksamkeit wach. Überall konnten Gefahren lauern. Im grünen Gewirr der Äste über seinem Haupt mochte eine Anakonda liegen, dicht an einen Zweig gepreßt, um sich auf den Vorübergehenden hinabzuwerfen und ihn in ihrer tödlichen Umklammerung zu erdrücken. Oder ein Jaguar konnte plötzlich auf dem Pfad vor ihm auftauchen. Dann siegte der, der um einen Sekundenbruchteil schneller zu handeln verstand. Wenn das Raubtier sich zum Sprung duckte, mußte der Pfeil schon von der Sehne schwirren. Die Hand durfte nicht zittern – das Auge mußte sicher sein. Wer den etwa vierzehnjährigen Jungen durch den Dschungel gleiten sah, erkannte bald, daß Kraft, Gewandtheit und Schnelligkeit seine besten Waffen waren. Er war nicht anders als ein Eingeborener gekleidet – mit einem Lendentuch, der Mendijeh, und einem er5
beuteten Pumafell – und es sah auf den ersten Blick so aus, als ob Bomba zu einem der im Amazonasgebiet lebenden Indianerstämme gehörte. Diesem ersten Eindruck widersprach allerdings der Anblick des Gesichtes – die gerade, kurze Nase, die hellbraunen, freundlichen Augen und das gewellte, kastanienbraune Haar. Wenn auch das Antlitz bronzefarbig getönt war und wenn Bomba auch handgeflochtene Sandalen an den Füßen trug und mit Pfeil und Bogen und Machete umzugehen verstand wie ein Indianer – er war doch ein Kind weißer Eltern. Gerade kehrte Bomba von einer Reise zum ,Laufenden Berg’ zurück. Dort hatte er von Jojasta, dem bösartigen Medizinmann, etwas über das Geheimnis seiner Herkunft erfahren wollen. Aber der tyrannische Priester der Götzen hatte ihn vor seinem Tode nur an Sobrinini verwiesen, eine Frau, die beim ,Großen Wasserfall’ lebte. Trotz aller Bemühungen hatte Bomba immer noch nicht erfahren können, wer sein Vater und seine Mutter waren. Plötzlich hielt der Junge an. Sein Ohr hatte ein Geräusch vernommen. Unwillkürlich griff die Hand zum Buschmesser. Es raschelte in den Zweigen, und Bomba trat einen Schritt zurück. Dann jedoch schallte sein helles, gutmütiges Lachen durch den Wald. „Doto!“ rief er und trat an den Baum heran, aus dessen Gezweig das Affengesicht zu ihm herunterschaute. „Was ist mit dir los? Wir haben uns doch vorhin verab6
schiedet! Mußt du mir nachspionieren und mich erschrecken?“ Der Affe ließ sich auf den Boden gleiten und blieb dicht vor Bomba stehen. Seine langen Arme machten aufgeregte Bewegungen. Unablässig kam ein leises, eifriges Schnattern aus seinem Maul, und in den braunen Affenaugen glimmte Angst. Es war sicher, daß er Bomba vor einer Gefahr warnen wollte. Der Junge spähte umher und lauschte, aber er vermochte nichts Verdächtiges zu entdecken. Vom dichten Laubdach gedämpft, fiel das Tageslicht spärlich in den Dschungel, und die Luft war heiß und feucht. Von einem nahen Wasserloch stiegen Schwaden verdunstenden Wassers auf. Das hohe Summen der Insekten lag wie ein gleichbleibender singender Ton in der Luft, und hin und wieder drang ein helles Papageienkreischen durch die Stille. Nun erinnerte sich Bomba daran, daß er am Morgen auf die Spuren von Kopfjägern gestoßen war. In dieser Gegend wohnten friedliche Indianerstämme, aber gelegentlich machten die Kopfjäger vom ,Großen Wasserfall’ einen Raub- und Jagdzug in dieses Gebiet. Bomba hatte schon einige Erfahrungen mit diesen bösartigen und mordgierigen Wilden, und im Augenblick hatte er kein Verlangen danach, mit ihnen in Berührung zu kommen. „Was willst du mir sagen?“ fragte er seinen Urwaldfreund. „Hast du etwas gesehen? Meinst du die bösen 7
Männer mit den schrecklichen, gelben Zeichen auf der Brust?“ Mit Gesten unterstrich und verdeutlichte Bomba seine Fragen. Der Affe hüpfte erregt vor Bomba auf und nieder, als wollte er seine Zustimmung bekunden. Der Junge sah sich unschlüssig um und ging ein paar Schritte in seiner Wegrichtung weiter. Jetzt aber klammerte sich Doto an seinen Arm und schnatterte beschwörend auf ihn ein. „Wo ist die Gefahr?“ fragte Bomba. „Wohin darf ich nicht gehen?“ Er wies geradeaus. Doto zog ihn noch kräftiger am Arm, als wollte er ihn darauf aufmerksam machen, daß er in diese Richtung auf keinen Fall gehen dürfte. Ungewiß schaute Bomba seinen Affenfreund an. Hatte er sich vielleicht geirrt? Oder verstand er nicht, was der Affe meinte? Der Umweg, zu dem Doto ihn zwingen wollte, würde bedeuten, daß er noch später zu Casson heimkehren konnte. Trotzdem beschloß er, Dotos Warnung nicht zu mißachten. Er änderte also seinen Kurs, verließ den Urwaldpfad und bahnte sich seinen Weg quer durch das Unterholz. Doto begleitete den Jungen. Mitunter schwang er sich in die Äste empor und glitt über das zähe Unterholz dahin. Es war ein schönes Bild zu beobachten, wie es Bomba ihm gleichtat. Auch der Junge schwang sich mit panthergleicher Geschmeidigkeit auf den Baum 8
und ließ sich von Ast zu Ast schnellen. Unter seiner braunen Haut spielten die Muskeln. Hin und wieder traf ein Sonnenstrahl sein Gesicht und überhauchte die Züge des Jungen mit bräunlich goldenem Schimmer. Als der Dschungelwald ein wenig lichter wurde, eilten die beiden ungleichen Gefährten auf dem Boden weiter Bomba beschleunigte seinen Schritt noch, um die verlorene Zeit einzuholen. Im Laufen redete er leise mit Doto. Er erzählte ihm von seinen Abenteuern am ,Laufenden Berg’ und mit den Kopfjägern. Wahrscheinlich verstand der Affe kaum ein Wort. Aber für Bomba bedeutete es Trost und Freude, über seine Erlebnisse und Enttäuschungen berichten zu können. „Ich werde also zu Sobrinini vom Stamme der Pilati wandern müssen, sobald ich Casson besucht habe“, erzählte Bomba unter anderem. „Du siehst, Doto, ich habe nicht das erreicht, was ich erreichen wollte. Ich bin traurig. Aber ich werde nicht rasten, ehe ich nicht weiß, wer meine Mutter und mein Vater waren.“ Mit leisen Klagelauten gab Doto sein Mitgefühl zu verstehen. Aus dem Tonfall der Worte hatte er wohl herausgehört, daß der Junge ihm von seinem Kummer berichtete. Plötzlich blieb Doto stehen und packte Bomba mit kräftigem Griff am Arm. Im nächsten Augenblick riß er den Jungen mit sich zu Boden. Keinen Augenblick zu früh! Ein Pfeil zischte knapp über Bombas Kopf hinweg. Kaum eine Sekunde später 9
sauste ein zweiter Pfeil über die beiden schräg in einen Baumstamm. Der Schaft zitterte, und sein Ende wies nach oben. Der Feind saß über ihnen!
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2 In Todesnot Sobald sich Bomba erhoben hätte, wäre er eine Zielscheibe für die heimtückischen Baumschützen gewesen. Wie eine Schlange wand er sich daher lautlos durch das hohe Gras. Kein Geräusch verriet seine Bewegungen. Doto, der Affe, hatte die Geste des Jungen richtig verstanden. Er sprang lautlos zu einem Ast hinauf und verschwand im Gewirr der Blätter. Dort war er sicher. Nicht weit von Bomba entfernt war ein riesiger Urwaldbaum umgestürzt. Er lag quer zu seinem Weg, und ein undurchsichtiges Gewirr von Ästen und Laub bildete ein gewaltiges Hindernis. Dorthin kroch der Junge. Er mußte die geringe Zeitspanne ausnutzen, in der die Wilden noch vorsichtig in ihrem Baumversteck blieben. Wären sie sofort herabgekommen, hätten sie ihn leicht überwältigen können. Doch die Kopfjäger hatten bei Zusammenstößen mit Bomba schon empfindliche Verluste gehabt, und sie waren daher vorsichtiger geworden. Jetzt war Bomba bei dem gestürzten Baum angekommen. Er tauchte in das Gewirr von Ästen und Blättern ein und bahnte sich unhörbar seinen Weg. Bald fand er ein natürliches Versteck, das für ihn sehr gün11
stig war. Der Baum war über eine Erdhöhle hinweggefallen, und der Stamm bedeckte dieses Loch fast ganz. Dort verbarg sich Bomba. Eng zusammengekauert hockte er in der Höhlung. Selbst wenn der Schutzvorhang von Zweigen zur Seite gezogen wurde, war sein Körper kaum zu entdecken. Während Bomba im Versteck kauerte, hörte er, wie die Kopfjäger auf die Lichtung stürmten. Laute des Zornes und der Enttäuschung tönten zu ihm herüber. Ihr Opfer war verschwunden, und die Wilden begannen die nähere Umgebung sorgfältig abzusuchen. Es war sicher, daß sie über kurz oder lang auch bis zu dem umgestürzten Urwaldriesen kommen würden. Mit Kummer und Wehmut dachte Bomba an seinen alten Freund und Beschützer, an Casson, mit dem er jahrelang in einer Hütte im Urwald gewohnt hatte. Der Alte war sein Lehrer und einziger Freund gewesen. Als Bomba noch klein war, hatte er von dem alten Naturforscher vieles über die Pflanzen und Tiere des Urwaldes gelernt. Dann hatte allerdings eine Gewehrexplosion den Naturforscher am Kopf verletzt. Seither litt er an Gedächtnisstörungen. Alle Fragen Bombas, die seine Eltern betrafen, beantwortete der Alte mit einem mürrischen Schweigen oder mit hilflosen Versuchen, sich an etwas zu erinnern, was die Vergangenheit betraf. Doch die Bemühungen waren bisher vergeblich gewesen. Nur daran hatte sich Casson noch erinnert: 12
daß Jojasta, der Medizinmann vom ,Laufenden Berg’, etwas von Bombas Herkunft wußte. Im Augenblick hatte Bomba keine Zeit, sich an seine vergebliche Reise zu diesem geheimnisvollen Priester zu erinnern. Er dachte nur daran, daß Casson hilflos bei der alten Eingeborenen Pipina zurückbleiben würde, wenn er im Kampf mit den Kopfjägern unterläge. Dieser Gedanke verdoppelte seine Willenskraft. Er durfte nicht unterliegen! Casson brauchte ihn, und er selbst fühlte sich auch noch zu jung und viel zu lebenslustig, um als Trophäe der Kopfjäger ein vorzeitiges Ende zu finden. Die Suchenden waren noch ziemlich weit von seinem Versteck entfernt. Sie verständigten sich mit wütenden, kehligen Zurufen, und es klang so, als ob sie sich augenblicklich sogar noch weiter von dem umgestürzten Baum entfernten. Doch ein anderes Geräusch fesselte die Aufmerksamkeit des Jungen, und er wurde unruhig. Da war ein Laut, der ihm sehr mißfiel. Es raschelte, als bewege sich ein langer, geschmeidiger Körper durch das Gras. In kurzen Abständen erklang ein rasselndes Zischen, und dieser Laut war es, der Bomba atemlos und starr vor Schreck aufhorchen ließ. Ein Zweifel war nicht möglich: dort kam eine Schlange direkt auf ihn zu, und zwar eine Jaracara – die todbringende südamerikanische Klapperschlange. Auch nur die leichteste Verletzung durch ihre giftspei13
enden Fangzähne konnte den Tod bedeuten. Gab es einen Fluchtweg? Unmöglich! Bombas Hand tastete zum Griff des Revolvers. Diese Waffe war sein stärkster Schutz. Er hatte sie von weißen Gummisuchern vor einiger Zeit geschenkt bekommen, als er den Männern bei einem nächtlichen Angriff von Jaguaren das Leben gerettet hatte. Aber wenn er jetzt das Reptil erschoß, würde er sofort die Aufmerksamkeit seiner Verfolger auf das Versteck lenken. So durfte er von der Waffe keinen Gebrauch machen. Auch die Machete, das Buschmesser, war kein geeignetes Mittel zur Verteidigung. Die Giftzähne der Schlange würden sich in seinen Arm graben, bevor die Messerschneide den Kopf vom Rumpf des Reptils getrennt hätte. Nah und deutlich ertönte jetzt das Rasseln der Jaracara. Der schmale Kopf schob sich langsam durch die Zweige. Die starren Augen blickten Bomba bösartig an, und der schillernde Körper des Reptils zog sich sofort in Ringen zusammen. Aus dieser Lage erfolgte dann immer der Angriff, wenn der Oberkörper und der Kopf sich vorschnellten, um das Opfer zu treffen. Bomba ergriff einen dünnen Ast und riß ihn vom Stamm. In einem Augenblick hatte er sich seinen Angriffsplan zurechtgelegt. Als die Jaracara zustieß, hielt ihr der Junge den Stock blitzschnell entgegen. Sofort änderte die Schlange ihre Angriffsrichtung und biß wütend auf den Stock ein. 14
Bomba ließ dem Reptil keine Zeit, seinen Irrtum zu erkennen. Er warf seinen Oberkörper vor und packte mit beiden Händen fest den Schlangenhals. Unter seinen Fingern drehte und wand sich mit mächtiger Muskelkraft der Schlangenleib. Der Schwanz peitschte den Boden. Das Schlimmste an diesem Kampf war, daß er von Bomba in vollkommenem Schweigen geführt werden mußte. Ein zähes, erbittertes Ringen in der Enge der Grube begann. Kein Laut davon drang nach außen, wo die menschlichen Feinde nach Bomba suchten. Jetzt versuchte die Jaracara ihr Schwanzende um das Bein des Jungen zu winden. Sie konnte ihn damit zu Fall bringen und vielleicht den Griff der Finger am Hals lockern. Dabei drehte und wand sich der ekelhafte Kopf. Der Rachen war weit geöffnet, und die Fangzähne suchten nach einer Gelegenheit, sich in die Haut des Menschen zu graben. Doch die Finger des Jungen lockerten nicht den eisernen Griff. Wenn sich auch die glatte Schuppenhaut ihm zu entwinden versuchte – immer tiefer gruben sich die Finger in den Schlangenhals. Bombas Atem ging keuchend. Wie lange würde der Kampf noch dauern? Er fühlte seine Kräfte schwinden, und immer noch bäumte sich die Schlange mit wilder Gewalt. Vielleicht dauerte der Kampf nur Sekunden – vielleicht waren Minuten vergangen! Die Zeit schien stillzustehen in diesen Augenblicken höchster Gefahr. 15
Endlich fühlte Bomba, wie die Kraft des Schlangenleibes erlahmte. Die Bewegungen wurden matter. Giftspeichel und Geifer flossen aus den Kiefern der Bestie. Noch einmal peitschte der Schwanz wild umher – dann erschlaffte der Körper. Noch zwei volle Minuten lang verharrte Bomba mit zusammengepreßten Fingern, ehe er den Griff lockerte und sofort mit einem sicheren Hieb den Kopf vom Rumpf der Jaracara trennte. Dann erst ließ er sich erschöpft zu Boden sinken und lehnte sich in sitzender Stellung mit dem Rücken gegen die Wand des Erdloches. Noch war er zu matt, um sich über seinen Sieg zu freuen. Er wußte auch, daß über ihm andere Feinde lauerten und daß dem Sieg vielleicht eine tödliche Niederlage folgen würde. Doch für einen Augenblick durchzog ihn ein Gefühl von Stolz und Genugtuung. Er hatte eine der bösartigsten und angriffslustigsten Bestien des Dschungels zur Strecke gebracht, und das nur mit der Kraft und Geschicklichkeit seiner Hände. Als sich Bomba ein wenig erholt hatte, säuberte er seine Machete und schob sie in den Gürtel zurück. Dann richtete er sich vorsichtig auf und lauschte. Noch immer suchten die Kopfjäger in größerer Entfernung. Aber sie gaben die Menschenjagd nicht auf. Weit konnte sich ihr Opfer noch nicht entfernt haben. Mit lauten Rufen gaben sie einander Anweisungen, und dann wurde auch das Knistern der Schritte allmäh16
lich deutlicher. Ein Trupp der Suchenden näherte sich dem Baum. Sie unterhielten sich, und ihre Stimmen waren deutlich voneinander zu unterscheiden. Mit schußbereitem Revolver kauerte sich Bomba nieder. Jetzt waren die Kopfjäger am Baum. Sie schoben Äste zur Seite und brachen sie ab. Das Gezweig unmittelbar über der Höhle bewegte sich. Die Blätter glitten zur Seite, und ein Lichtstrahl fiel in die Grube.
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3 Um Sekundenbruchteile Flüchtig erkannte Bomba die Umrisse von etwa einem halben Dutzend brauner Gestalten. Er ließ sich noch tiefer in den Schatten zurücksinken und wartete. Sie waren in großer Überzahl, das hatte er jetzt festgestellt. Nur ein Teil der Suchenden war in unmittelbarer Nähe. Wenn es zum Kampf kam, konnte er sich vielleicht zutrauen, zwei oder drei der Wilden zu überwältigen. Die übrigen würden sich auf ihn stürzen und ihn fesseln. Sein Ende würde Qual und Tod sein. Doch Bombas tapferes Herz kannte kein Aufgeben vor dem Kampf. Sollten ihn die Kopfjäger angreifen! Sollten sie versuchen, gegen seine kleine Festung vorzugehen. Vorerst hatte er den Vorteil der günstigen Lage für sich. Bomba hörte, wie die Wilden sich vorwärtsarbeiteten. Sie waren noch einige Meter von seinem Versteck entfernt. Ihre Stimmen klangen verdrossen. Das lange Suchen hatte sie ermüdet. Sie erkannten nicht die geringe Bodenunebenheit, die den Anfang der Grube verriet. Für ihre Augen lag der Stamm flach auf der Erde, und sie machten sich nicht die Mühe, sich niederzukauern, um den schmalen Eingangsspalt zu entdecken. „Er ist verschwunden wie ein Geist!“ hörte Bomba 18
die wütende Stimme eines der Wilden sagen. „Kein Wunder!“ rief ein anderer. „Es war dieser Teufelsjunge, der mit dem weißen, alten Zauberer in der Hütte zusammengelebt hat. Meine Augen sind gut. Ich habe ihn deutlich gesehen! Er ist mit bösen Geistern im Bunde. Vielleicht haben sie ihn schon längst durch die Lüfte fortgeführt, und wir suchen hier noch am Boden herum.“ „Er ist nicht hier“, grollte ein dritter. „Das ist sicher! Gehen wir!“ Bomba lauschte mit angehaltenem Atem. Freude wollte sich in sein Herz schleichen, aber im nächsten Augenblick wurde er enttäuscht. Eine gebieterische Stimme rief: „Geht weiter hinein! Sucht genau!“ Murrend gehorchten die Krieger. Ihre Schritte näherten sich noch weiter dem Versteck. Ihr keuchender Atem verriet, wenn sie ein Hindernis von Zweigen zur Seite schoben und sich hindurchzwängten. Bombas Hand spannte sich um den Revolverkolben. Mit einem Male erscholl dicht bei seinem Versteck ein entsetztes Geschrei. Einer der Kopfjäger stieß einen schrillen Warnruf aus, und die Zweige krachten und knackten bei der eiligen Flucht. „Schlangen!“ wiederholte sich der Entsetzensruf wie ein Echo. „Schlangen! Schlangen!“ In kopfloser Flucht verließen die Wilden das Gebiet des umgestürzten Baumes. Sie eilten über die Lichtung 19
davon, und das Geräusch ihrer Füße wurde leiser. Bomba lächelte matt. Er wußte mit einem Male, wovor die Kopfjäger geflüchtet waren: vor dem Leib der toten Jaracara. Zuvor hatte er den Körper über den Rand der Grube geworfen, und nun mußte wohl einer der Suchenden auf den Schlangenleib getreten sein. In der Angst hatte er nicht näher hingeschaut, und seine Panik hatte alle mitgerissen. So war also die Giftschlange, die ihn mit dem Tode bedroht hatte, zu seiner Retterin geworden! Noch glaubte der Junge nicht an sein Glück. Er lag ganz still in der Grube und lauschte. Doch die Schritte näherten sich nicht wieder. Lange verharrte Bomba noch in seinem Versteck. Sehr vorsichtig kroch er dann hervor und lugte durch das Gezweig. In nachmittäglicher Ruhe und Verlassenheit träumte der Dschungel. Wie fröhliche, bunte Farbtupfer gaukelten Schmetterlinge durch die zitternde Luft, und die nähere Umgebung bot ein Bild der Schönheit und des Friedens. Da glühten farbenprächtige Orchideenblüten im Dikkicht. Aus dem Gras ragten seltsame, schimmernde Lilienarten hoch empor, und die schlanken, spitzen Palmblätter neigten sich in sanften Bogenlinien dem Boden zu. Als Bomba sich aufrichtete, sah er seinen Freund Doto von einem Baum herabhangeln. Von einem Wipfel aus hatte der Affe das Geschehen verfolgt. Jetzt 20
konnte er sich nicht genug damit tun, seine Freude auszudrücken. Er rieb sich an Bomba, betastete ihn immer wieder mit seinen Händen und schnatterte fröhlich und zärtlich zu dem Jungen hinauf. „Sind sie fort, Doto?“ fragte Bomba mit einer deutenden Geste. „Die bösen Männer – fort? Ja, Doto?“ Der Affe verstand ihn sofort. Mit beiden Armen machte er rudernde Bewegungen in der Richtung, in der die Kopfjäger verschwunden waren. Bomba nickte zufrieden. Die Wilden waren jetzt hinter ihm. Jeder Schritt entfernte ihn mehr und mehr aus ihrer gefahrbringenden Nähe. „Doto ist mein guter Freund“, sagte Bomba und streichelte über den Kopf des Affen. „Wenn Doto mich nicht niedergerissen hätte, wäre ich jetzt tot. Der Pfeil des Kopfjägers hätte mich in den Rücken getroffen.“ Doto schlang beide Arme um den Jungen, als verstände er jedes Wort und als wollte er zum Ausdruck bringen, daß er jederzeit von neuem für Bomba sein Leben einsetzen würde. Mit einem sehr menschlichen, rührenden Ausdruck von Zuneigung schaute er zu Bomba auf, und seine Lippen murmelten Laute, die wie sanfte, zutrauliche Kosenamen klangen. „Ich weiß es –“ flüsterte Bomba liebevoll. „Ich weiß, daß Doto mein bester Freund ist. Aber jetzt muß ich zu Casson. Ich darf mich nicht aufhalten. Der Nachmittag ist schon da. Verstehst du, Doto: ich muß gehen. Du wirst im Baumwipfel wachen, und wenn 21
sich eine Gefahr nähert, dann warnst du mich!“ Als der Junge sich jetzt entfernen wollte, war Doto durchaus nicht einverstanden. Es bedurfte großer Überredungskunst, um ihn davon zu überzeugen, daß er nicht mitkommen konnte. Immer wieder deutete Bomba in die Zweige hinauf und wies dann in die Richtung, in der die Kopfjäger verschwunden waren. Doto hatte ihn verstanden. Er nickte ernsthaft und klatschte in die Hände. Jetzt hatte er wenigstens eine Aufgabe; er mußte darüber wachen, daß die Kopfjäger seinen Freund Bomba nicht überlisteten. Noch einmal umarmte er den Jungen. Dann schwang er sich auf einen Baum und verschwand in der Höhe. Bomba hatte wertvolle Zeit verloren. Die Sonne senkte sich bereits dem westlichen Horizont entgegen, und er war noch ziemlich weit von seinem Ziel entfernt. Auf einem Pfad kam der Junge jetzt schnell voran. Er lief mit leichtem, unhörbarem Raubtierschritt und übersprang Hindernisse, ohne sich lange aufzuhalten. Nach einer weiteren Stunde hatte er das vertraute Gelände in der Nähe seiner früheren Wohnstätte erreicht. Da waren die bekannten Dschungelpfade – das Wasserloch mit dem Baumstamm darüber – und dort drüben die Anhöhe, auf deren Gipfel ein morscher, ausgehöhlter Baumstamm stand. Das war Bombas Spielplatz als kleiner Junge gewesen. Mit einem Gefühl der Rührung und Trauer trat der 22
Junge auf die Lichtung hinaus und eilte dorthin, wo von der Hütte nur noch verkohlte Balkenreste übrig waren. Hier hatte er mit Casson viele Jahre verlebt. Er war herangewachsen zu einem großen, kräftigen Jungen, der den alten Gefährten jetzt besser beschützen konnte als jeder andere. Während Bomba bei den Überresten der Hütte stand, dachte er an die Angriffe der Kopfjäger. Einmal hatten die Wilden in der Nacht mit Brandpfeilen das Blockhaus anzünden wollen. Bombas Urwaldfreunde waren als Retter erschienen, und ein Tropenregen hatte den Brand gelöscht. Aber der Rachedurst der zurückgeschlagenen Kopfjäger hatte sie immer wieder in diese Gegend geführt. Schließlich mußte Bomba seinen alten Gefährten an einen sicheren Platz bringen. Dann hatte sich seine Vorsicht als sehr richtig erwiesen, denn beim nächsten Besuch auf der Lichtung war die Hütte vollkommen zerstört und verbrannt gewesen. Die Kopfjäger hatten an dem Bauwerk ihre ohnmächtige Wut gestillt. Aber sie hatten Casson und Bomba nicht überlistet! Während Bomba dastand und der Vergangenheit nachtrauerte, gelobte er sich im stillen, die Hütte wieder aufzubauen, sobald die Gegend von den Kopfjägern nicht mehr unsicher gemacht wurde. Zu viele Erinnerungen verbanden ihn mit dem Platz, als daß er ihn für immer aufgegeben hätte. Das Murmeln des Flusses drang leise an sein Ohr 23
und erinnerte ihn an die Gegenwart. Er mußte weiter! Es war nicht die rechte Zeit, um wehmütigen Gedanken nachzuhängen. Rasch eilte er zum Ufer hinunter. Lange brauchte er nicht zu suchen. Das Kanu war noch in dem Versteck, wo er es vor seiner Wanderung zum ,Laufenden Berg’ zurückgelassen hatte. Das war eine große Erleichterung für ihn, weil er sich sonst erst ein primitives Floß hätte zusammenzimmern müssen. Bomba löste das Kanu von der Vertäuung, stieß sich vom Ufer ab und trieb das Boot in die Mitte des schmalen Flusses. Die Strömung nahm das schlanke Fahrzeug auf und trug es schnell flußabwärts. Mit kräftigen Paddelschlägen beschleunigte Bomba die Fahrt. Die Ufer mit dem hohen Schilf und den überhängenden Zweigen glitten rasch vorüber. Hin und wieder stieg ein exotischer Wasservogel aus dem Ufergras auf und flatterte über den silbern blinkenden Wasserspiegel dahin. An einer seichten Uferbank trank ein Tapir; beim Anblick des Bootes verschwand er schnell im Gebüsch. Zum ersten Male hatte Bomba Muße, über seine zurückliegende Reise nachzudenken. Gefahren waren auf dem Wasser schnell zu erkennen, und während er dahinglitt, schweiften seine Gedanken in andere Gefilde. Der sterbende Jojasta hatte ihn an die geheimnisvolle Sobrinini verwiesen. Sie wußte angeblich mehr von Bartow und Laura – den beiden Namen, die Casson immer nannte, wenn seine Erinnerung etwas deutlicher 24
wurde und Bilder der Vergangenheit verschwommen in sein Gedächtnis traten. Bomba fragte sich auch, ob der Name Sobrinini vielleicht in Casson eine versunkene Erinnerung wachrufen würde. Vielleicht gelang es dem alten Manne dann, selbst das Geheimnis von Bombas Herkunft zu lüften? Das schlanke Boot glitt schnell über den Wasserspiegel. Der Oberkörper des Jungen schimmerte schweißnaß im sterbenden Sonnenlicht. In gleichmäßigem Takt hoben und senkten sich seine Schultern. Die Muskeln am Oberarm spielten – der Rumpf beugte sich bei jedem Paddelzug etwas vor – und von der Anstrengung war der Mund leicht geöffnet; er legte zwei Reihen schimmernd weißer Zähne frei. Viel schneller als erwartet, erreichte Bomba das neue Asyl seines Gefährten Casson. Die Hütte lag etwas abseits vom Ufer auf einem sanft ansteigenden Hügel. Der Junge bremste mit dem Paddel, als er dicht bei der Landestelle am Ufer war, und spähte durch das Gezweig. Immer war Vorsicht geboten. Ehe er sich der Hütte näherte, ließ er das Kanu etwas zur Seite gleiten, bis er von einer Stelle aus durch die Büsche die Hütte erblickte. Seine lautlose Annäherung war nicht bemerkt worden. Aber Bomba sah etwas, was ihn zu äußerster Eile antrieb. Mit einigen kräftigen, aber leisen Paddelschlägen hatte er das Kanu zum Ufer gelenkt. Er sprang aufs 25
Land und eilte vorwärts. Der riesige Puma, der auf die Hütte zuschlich, war jetzt schon dicht vor der Tür. Gleich würde er zum verderblichen Sprung ansetzen. Drinnen schien niemand etwas von der lauernden Gefahr zu ahnen. Bomba rannte angstgetrieben vorwärts.
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4 Ein entsetzlicher Kampf Nach einigen Schritten blieb Bomba stehen und schrie aus Leibeskräften. Sofort wandte sich der Puma um. Er gewahrte den neuen Feind und fletschte die Zähne. Ein dumpfes, unheilkündendes Fauchen kam aus der Tiefe seiner Kehle; der Schweif peitschte den Boden, und die hellen Augen glühten in einem wilden, haßerfüllten Feuer. Bomba legte einen Pfeil auf den Bogen – zielte und schoß. In der Eile hatte er nicht sorgfältig genug gezielt, und der Schuß streifte nur den Kopf des Pumas. Sofort legte er einen neuen Pfeil auf. Der Puma setzte zum Sprung an. In der Luft erreichte ihn der tödliche Pfeil. Mitten ins Herz traf das Geschoß. Mit einem heiseren Brüllen fiel die Bestie schlaff zu Boden. Seine Flanken arbeiteten, und die Krallen rissen die Erde auf. Dann wurde der Leib still. Ohne auf den Kadaver zu achten, eilte Bomba weiter. Er rannte zur Hüttentür und wollte eintreten. Im letzten Augenblick sprang er zurück. Die Hütte bestand aus zwei Räumen, die durch eine einfache, leichte Tür miteinander verbunden waren. Der einzige Verschluß für diese Tür war eine Strickschlinge, die an einen Holzpflock gehakt wurde. 27
Vor dieser Tür stand ein zweiter Puma. Als Bomba eintreten wollte, hatte das Tier gerade sein Körpergewicht gegen die dünnen Bretter geworfen. Es zwängte jetzt seine Pranke in den Türspalt und versuchte ihn zu erweitern. Sicherlich wäre der Puma schon längst in den zweiten Raum eingedrungen, wenn man von innen nicht Hindernisse gegen die gebrechliche Tür gehäuft hätte. Pipina hatte vermutlich die Annäherung der beiden Pumas doch bemerkt und sich mit Casson in den Hinterraum zurückgezogen. Dort hatte sie wohl in aller Eile die wenigen schweren Gegenstände des Hausrats als Barrikade vor die Tür geschichtet. Natürlich war diese Festung zu schwach, um lange zu halten. Die Indianerfrau ahnte ihr Schicksal. Hin und wieder drangen ihre Verzweiflungsschreie zu Bomba hinaus. In lautloser Eile legte Bomba einen neuen Pfeil auf die Sehne. Er zog ab und traf den Puma in die Schulter. Das Wutgeheul des Raubtiers ließ erraten, daß es eine ernsthafte Verwundung empfangen hatte. Sofort wandte sich der Puma dem neuen Feind zu. Mit einem einzigen Sprung war er bei der Hüttentür. Es ging alles so schnell, daß Bomba keinen weiteren Pfeil auf den Bogen legen konnte. Blitzschnell wandte er sich um und jagte dem Flußufer zu. Hinter sich hörte er das Schnauben des Pumas. Er erkannte sehr bald, daß er das Kanu nicht vor der 28
Raubkatze erreichen würde. So blieb ihm nur der offene Kampf mit der Machete. Aber jetzt, wo der Puma dicht hinter ihm war, würde er Bomba überrennen, sobald er stehenblieb und sich zum Kampfe stellen wollte. Es war etwas anderes, ob Bomba einen Puma selbst von der Seite angriff oder ob er von ihm angesprungen wurde. Die Siegeschancen waren für Bomba mehr als gering. Im Laufen riß er das Messer heraus. Wenn es sein mußte, dann wollte er kämpfend sterben! Er hörte das Fauchen der Raubkatze. Aus den Augenwinkeln warf er einen Blick zurück. Vor Schreck wäre er beinahe gestolpert. Ein dritter Puma näherte sich von der Seite mit gewaltigen Sprüngen. Jetzt glaubte Bomba, daß sein Schicksal auf alle Fälle besiegelt war. Bis zum Wasser waren es noch etwa dreißig Schritt. Nie konnte er diese Strecke mehr zurücklegen, ohne daß ihn die Raubtiere einholten. Trotzdem jagte er weiter. Er sah das Wasser näher und näher. Jetzt konnte er es schon beinahe mit einem Sprung erreichen. Was war geschehen? Hinter ihm erscholl das Brüllen und Fauchen doppelt laut. Aber es war nicht mehr in unmittelbarer Nähe. Bomba wandte sich um und sah zu seinem Erstaunen, wie die beiden Pumas mit unheimlicher Wildheit gegeneinander kämpften. Schweratmend blieb der Junge stehen. Er selbst war wie durch ein Wunder mit einem Male zum unbeteilig29
ten Zuschauer bei einem Kampf der Pumas geworden. Eben noch gejagt und vom Tode nicht weiter als einen Raubtiersprung entfernt – und jetzt plötzlich gerettet! Die beiden Pumas hatten sich ineinander verkrallt. Sie wälzten sich auf dem Boden herum. Ihre Gebisse leuchteten gefährlich aus dem Kampfgewühl der Körper hervor. Wenn sie einen Augenblick voneinander abließen, umschlichen sie sich, um in der nächsten Sekunde schon wieder ein unentwirrbares Knäuel schlagender und stampfender Gliedmaßen zu sein. Da erkannte Bomba in einer Kampfpause plötzlich den Puma, der zuletzt erschienen war. „Polu!“ rief der Junge unwillkürlich laut. Er eilte näher zu den Kämpfenden hin, um womöglich mit einem geschickten Stoß seiner Machete eingreifen zu können. „Polu! – Braver, tapferer Polu!“ rief er, während er die beiden Raubtiere umkreiste. Sein Herz war voller Dankbarkeit. Der Puma war als Retter in der höchsten Not erschienen. Er gehörte zu seinen langjährigen Urwaldfreunden. Einmal hatte Bomba den Puma in einer hilflosen Lage im Urwald gefunden. Das Tier war von einem gestürzten Baum eingeklemmt worden und hatte sich ein Bein gebrochen. Bomba hatte das Raubtier aus der Falle befreit und gepflegt, bis es wieder laufen konnte. Das hatte Polu, der Puma, nie vergessen. Wahrscheinlich hatte er die neue Wohnung Cassons schon seit längerer Zeit 30
aufgespürt, da ja auf der Lichtung niemand mehr zu entdecken war. Der Puma hatte wohl oft in der Nähe von Pipinas Hütte gewartet, ob sein Freund Bomba nicht zurückkehren würde. Nun war er gerade im rechten Augenblick erschienen, um ihn zu retten. Bomba brauchte nicht mehr in den Kampf eingreifen. Der mächtige Polu hatte jetzt den Gegner zur Seite geschleudert. Mit einem Sprung war er an der Kehle des Pumas. Noch einmal bäumte sich der Körper auf. Der Rachen öffnete sich in einem ohnmächtigen Versuch des Zupackens. Dann kam ein Röcheln aus dem Schlund, und Polu ließ seinen Gegner los. Doch Bombas Urwaldfreund war selbst so ermattet von dem Kampf, daß er sich nur einige Schritte weiterschleppte und dann zu Boden sank. Bomba eilte zu ihm hin und liebkoste seinen zottigen Kopf. „Polu ist der beste und stärkste Puma des Waldes!“ lobte er das erschöpfte Tier mit sanfter Stimme. „Polu hat mich gerettet, so wie ich Polu einmal gerettet habe! Ich danke dir, guter, großer, starker Polu!“ Mit sichtbarem Behagen ließ sich der Puma die Liebkosungen gefallen. Er schloß die Augen, rieb seinen Kopf an Bombas Hüfte und begann zu schnurren. Wenn der Junge nicht mehr sprach, öffnete der Puma die Augen, als wollte er seinen Freund zum Weiterreden auffordern. Die Stimme war wie eine Liebkosung für ihn. Lange hatte er die freundlichen Laute nicht mehr gehört, und er war glücklich und zufrieden. 31
Dann begannen wohl die Wunden zu schmerzen, und Polu richtete sich auf und beleckte sie. Bomba erhob sich jetzt, um nach den Bewohnern der Hütte zu schauen. Sie wußten nichts von der Wendung der Geschehnisse und warteten sicherlich noch angstvoll in der Hinterkammer auf ihr Ende. „Pipina!“ rief der Junge und trat in die Hütte. „Casson! Pipina! Hier ist Bomba! Die Pumas sind tot! Ihr könnt die Tür öffnen!“ Ein lauter Ruf des Entzückens drang durch die Tür. Während Pipina die Gegenstände zur Seite räumte, weinte und lachte sie, und sie plapperte unaufhörlich zu dem Jungen hin, den sie noch nicht sehen konnte. Dann stürzte die alte Squaw heraus und umarmte Bomba. Hinter ihr trat mit unsicherem Schritt der alte Casson durch die Tür. Sein dünnes, weißes Haar und die pergamentene Durchsichtigkeit seiner Haut gaben ihm ein Aussehen von Gebrechlichkeit, das Bomba erschreckte. Doch in seinen blauen Augen leuchtete die Freude auf. Er erkannte den Jungen. Sein Geist war nicht so umnachtet, wie Bomba gefürchtet hatte. Tränen standen in Bombas Augen, als er den alten Mann in seine Arme schloß. „Ich bin wieder bei dir, Casson“, murmelte er immer wieder. „Ich freue mich, daß ich zur rechten Zeit gekommen bin! Ich bin so froh!“ Plötzlich kreischte Pipina durchdringend und stürzte 32
auf die beiden zu. Mit aufgeregten Gebärden wollte sie Casson und Bomba zur Tür des Hinterzimmers drängen. „Noch ein Puma!“ schrie sie. „Dieser Tag ist verhext! Nichts wie Pumas – wohin man blickt!“ Während er sich von den Armen der Alten zur Tür geschoben fühlte, redete Bomba beruhigend auf sie ein. Sie verstand nicht gleich, was er meinte. Erst als die Tür hinter ihnen geschlossen war, konnte ihr der Junge in Ruhe die Zusammenhänge erklären. „Der Puma dort draußen ist mein Freund“, belehrte Bomba die Alte. „Ich kenne ihn schon lange und habe ihm auch einmal Hilfe geleistet. Seitdem ist Polu so brav und anhänglich wie kein Tier sonst im Urwald. Er hat den anderen Puma besiegt, der mich beinahe getötet hätte. Soll ich ihn dir bringen? Er tut niemand etwas zuleide, der in meiner Gesellschaft ist!“ Mit allen ihr zur Verfügung stehenden Ausdrucksmitteln des Widerwillens und der Abneigung wies Pipina den Vorschlag des Jungen zurück. Nein, sie wollte keinem Puma vorgestellt werden. Lieber sollte sie als unhöfliche, alte Frau gelten, aber in ihrem Leben hatte sie noch keinem Puma die Hand gegeben, und dabei wollte sie auch bleiben! Das stieß sie aufgeregt und beschwörend hervor, und Bomba besänftigte sie, indem er seinen Vorschlag zurücknahm. Er selbst ging hinaus und brachte Polu ein Stück Fleisch. Neben seinem vierbeinigen Freund saß er am 33
Boden und plauderte leise mit ihm, während das Tier das Fleisch verzehrte. Aus den Worten hatte Polu wohl herausgehört, daß Bomba jetzt keine Zeit mehr für ihn hatte. Zum Abschied leckte der Puma noch Bombas Hände, dann trollte er sich in den Urwald davon. Mit mißtrauischen und mißbilligenden Blicken hatte die alte Pipina hin und wieder aus der Tür zu dem seltsamen Freundespaar hingelugt. Als der Puma davontrabte, vermochte sie ihre Genugtuung nicht zu verbergen. Sie wartete aber vorsichtshalber, bis nichts mehr von dem bräunlichen Fellkleid Polus zu sehen war. Dann trat sie aus der Hütte und runzelte die Stirn. „Pipina sieht es nicht sehr gern, daß der gute, liebe Bomba mit so einer Bestie wie ein Freund am Tische sitzt“, sagte sie mit einer theatralischen Gebärde der Warnung. „Was tut Bomba, wenn dieser Bösewicht mit einem Male Appetit auf Menschenfleisch verspürt? Ich habe die Zähne gesehen, als er das Fleisch vertilgte! Puhü!“ Das ganze, sonst schon runzlige Gesicht der alten Pipina zog sich zu einer zerdrückten, faltigen Maske zusammen, und sie schüttelte mit einer Geste des Abscheus energisch den Kopf. „Ich sage dir, Bomba, diese Zähne wollen mir nicht gefallen! Die Zähne nicht und die Krallen nicht! Heute sind sie sanft – und morgen?“ Bomba lachte. „Polu wird mir nie etwas tun! Er hat mir schon mehr 34
als einmal das Leben gerettet! Ich glaube, er ist treuer als mancher Mensch.“ „Halte ihn dir wenigstens immer etwas vom Leibe“, riet die Alte mit mütterlicher Besorgnis. „Besser ist besser! Wenn er so appetitliches Menschenfleisch riecht, könnte ihn doch einmal die Naschsucht pakken.“ Bomba sprang auf und umarmte die Alte lachend. „Gute, alte Pipina“, rief er und tanzte mit ihr im Kreise herum. „Hast du Angst um mich?“ „Natürlich“, sagte die Alte und machte sich atemlos von ihm frei. „Und jetzt reden wir nicht mehr von solchen häßlichen Bestien. Heute wird gefeiert! Bomba ist wieder da! Die alte Pipina wird ein Festmahl kochen!“ Sie führte ihr Vorhaben auch getreulich durch. Für eine Eingeborenenfrau hatte sie sehr gute Kochkenntnisse, und Bomba, der sehr hungrig war, mußte immer wieder ihre Kochkunst loben. Als das Mahl vorbei war und Pipina sich mit ihrer Hausarbeit beschäftigte, setzten sich Casson und Bomba zusammen, und der Junge begann von seiner Reise zum ,Laufenden Berg’ zu berichten. Er erzählte alles in schneller Folge, aber dabei mußte er feststellen, daß der alte Casson nicht viel begriff. Sein Gesundheitszustand hatte sich gebessert, aber seine Geistesverfassung war noch die gleiche wie früher. Es genügte dem alten Casson, daß er Bombas Hand halten und seiner Stimme lauschen konnte. Hin und 35
wieder schaute er mit seinem etwas glanzlosen Blick in die Augen des Jungen, als wollte er sich vergewissern, daß ihn kein Traum narrte. Sobald jedoch Bomba eine Frage an ihn richtete, starrte er ihn betroffen und verwirrt an. „Jojasta? Jojasta? Warum habe ich dich zu Jojasta geschickt?“ Bombas Hoffnung sank. „Du weißt es doch“, sagte er. „Du hast mich hingeschickt, weil er der einzige war, der mir etwas von meinem Vater und meiner Mutter berichten konnte.“ Der Alte schüttelte den Kopf und murmelte unverständliche Worte. Vergeblich versuchte er, Klarheit in seine Gedanken zu bringen. „Als Jojasta mich sah, glaubte er, daß ich Bartow wäre“, berichtete Bomba. Der Name löste eine verschüttete Erinnerung in dem Alten. Die Vergangenheit schien deutlicher zu werden, und sein Blick leuchtete auf. „Bartow! Das weiß ich! Den Namen kenne ich!“ „Und Laura?“ fragte Bomba. „Ich habe den Medizinmann auch nach Laura gefragt.“ Dabei beobachtete der Junge scharf das Gesicht des alten Gefährten. Die Züge wurden sanft, und Tränen schimmerten jetzt in den verwaschen-blauen Augen des Alten. „Laura, liebe, süße Laura“, flüsterte er. „Wo bist du? Oh, Laura!“ Bomba beugte sich vor. Er glaubte, daß die Erschüt36
terung das Gedächtnis des Alten belebt hätte. „Ist Bartow mein Vater? Sage es mir, Casson. Ist er mein Vater?“ Casson schaute ihn verwirrt an und senkte den Kopf. „Ich weiß es nicht“, murmelte er fast unhörbar. „Und Laura?“ forschte Bomba weiter. „Wer ist sie?“ „Wer? Wer?“ Der Alte schüttelte mit einer kläglichen Gebärde den Kopf. „Ich weiß es nicht – ich weiß es nicht! Jojasta hat alles gewußt! Es war richtig, daß ich dich zu ihm geschickt habe! Ja, ich erinnere mich jetzt! Von Jojasta hättest du alles erfahren können, was ich nicht mehr weiß! Aber du sagst, er ist tot?“ Bomba nickte traurig. „Ja, er ist tot! Doch ehe er starb, sagte er mir, daß Sobrinini –“ Der Name übte eine überraschende Wirkung auf Casson aus. Er unterbrach Bomba mit einem freudigen Ausruf und sprang auf.
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5 Furchtbare Kiefer Wie von einem plötzlichen Veitstanz befallen, hüpfte Casson im Raum hin und her. Mit seiner brüchigen Stimme sang er dazu eine merkwürdige, einschläfernde Melodie, die wie ein Wiegenlied der Eingeborenen klang. Dann brach er erschöpft ab und sank in seinen Stuhl zurück. Bomba hatte diesen seltsamen Tanz mit Verblüffung und Erschrecken beobachtet. Was hatte dieses Gehaben zu bedeuten? Er fragte nicht gleich, sondern wartete, bis der Alte sich etwas beruhigt hatte. Dann legte er eine Hand auf Cassons Arm und fragte sanft: „Erinnerst du dich? Ich habe von Sobrinini gesprochen!“ Wieder fuhr der Alte auf, als hätte er ein bekanntes Signal gehört. Bomba fuhr fort: „Jojasta sagte mir, ich müßte zu Sobrinini vom Stamme der Pilati gehen, wenn ich mehr von meinem Vater und meiner Mutter erfahren wollte!“ „So ist es! So ist es!“ Casson wurde wieder eifriger. „Geh zu Nini! Sie muß es wissen! Jojasta hat recht! Nini muß es wissen!“ „Wer ist Sobrinini? Und warum muß sie es wissen?“ forschte der Junge weiter. 38
Casson warf ihm einen seiner halbverschleierten, ungewissen Blicke zu. Es war zu sehen, daß die Gedanken hinter seiner Stirn arbeiteten. Doch dann sank der Alte in sein brütendes Schweigen zurück. Die Erregung schien ihn geschwächt zu haben. Er schwankte im Sitzen hin und her, und Bomba beeilte sich, ihn in seine Hängematte zu betten. Die alte Pipina hatte ihr Lager im Nebenraum schon längst aufgesucht, und Bomba legte sich jetzt ebenfalls in seine Hängematte. Er schlief lange nicht ein. In seinem Gehirn war ein Aufruhr von Gedanken, und verschiedenartige Empfindungen zogen durch sein Inneres. Immer wieder stellte sich der Junge die gleichen Fragen. Warum hatte Casson sich bei der Nennung von Sobrininis Namen so seltsam benommen? Was hatte es zu bedeuten, daß der Alte sie ,Nini’ nannte? Das war ein Kosename, wie er nur für jemand angewandt wurde, mit dem man auf sehr vertrautem Fuße stand. Auf alle Fälle wußte Bomba jetzt, daß er eine Hoffnung begraben mußte. Nie würde er von Casson etwas Genaueres über seine eigene Herkunft erfahren. Es würde ihm nichts anderes übrigbleiben, als die weite Reise zu Sobrinini anzutreten. Die Erfolglosigkeit seiner mühseligen Wanderung zu Jojasta schreckte ihn bei dem neuen Vorhaben nicht ab. Stärker als alles andere war Bombas Sehnsucht nach einem Vater und einer Mutter. Er mußte etwas von seinen Eltern erfahren. 39
Lebten sie noch? Hatte er noch eine Mutter? Einen Vater? Besaß er solche liebenswerte Eltern wie Frank, der Junge, den er am ,Laufenden Berg’ aus einer Feuerhöhle befreit und mit dem er Freundschaft geschlossen hatte? Endlich schlief Bomba übermüdet ein. Er träumte von einer wunderschönen Frau, die ihm von fernher auf einem Urwaldpfad zuwinkte. Ihr Gesicht war undeutlich. Einmal glaubte er, es wäre Mrs. Parkhurst, Franks Mutter – aber dann wieder erkannte er, daß sie anders aussah. Er lief auf sie zu, doch sie wich zurück. Dann waren sie plötzlich an einem Fluß, und die Frau winkte ihm vom anderen Ufer aus zu. Er wollte zu ihr hinüberschwimmen. Sie wies entsetzt in das Wasser und hob warnend die Hand. Da sah Bomba, daß das Wasser von Krokodilen wimmelte. Ehe er sich jedoch nach einem Boot umschauen konnte, war die Gestalt verschwunden – und er erwachte. Bomba war traurig, aber er verbarg die Gefühle in seinem Innern. Die Arbeit, die ihn erwartete, lenkte ihn ab. Da war die Tür zu ersetzen, die die Pumas bei ihrem Angriff auf die Hütte beinahe zertrümmert hatten. Bomba suchte sich dünne, kräftige Stämmchen, die er dicht miteinander verband. Viele Querstreben gaben der neuen Tür soviel Festigkeit, daß selbst eine ganze Horde von Pumas das Holzgeviert nicht zu zerbrechen vermochte. Dann verfertigte Bomba noch einen kräftigen Riegel, und er hatte nun das Gefühl, für Cassons 40
und Pipinas Sicherheit gut gesorgt zu haben. Vor der Reise zum ,Laufenden Berg’ hatte Bomba die beiden Alten in der Hütte reichlich mit Nahrungsmitteln versorgt. Doch die Vorräte waren inzwischen zusammengeschrumpft. Bomba mußte neues Fleisch herbeischaffen, das Pipina dann durch Räuchern dauerhaft machen konnte. An einem der nächsten Tage brach Bomba daher am frühen Morgen zur Jagd auf. Als er ein Stück gewandert war, stellte er zu seiner Genugtuung fest, daß keine Spur auf die Anwesenheit von Kopfjägern hindeutete. Anscheinend hatten die Wilden das Gebiet verlassen. Bomba hoffte, daß sie sich überhaupt nicht mehr hier blicken lassen würden. Zwei Stunden wanderte Bomba dahin, ohne daß ihm etwas anderes in seinen Schußbereich kam als kleine Tiere. Bomba suchte großes Wild. Am liebsten hätte er einen Tapir erlegt, ein langrüsseliges Waldtier, das schwer wie ein Kalb war und saftiges, nahrhaftes Fleisch hatte. Ein einziger Tapir lieferte Fleisch für einen ganzen Monat. Quer durch den Dschungel schlug Bomba daher den Weg zu einem größeren Fluß ein. Dort waren an seichten Uferstellen häufig Tapire anzutreffen. Er erreichte den Fluß, hatte aber lange Zeit kein Glück. Die Sonne stand schon hoch über ihm. Erst als sie sich bereits westlich zum Horizont neigte, entdeckte Bomba, was er suchte. 41
Durch das Buschwerk sah er einen Tapir, der am Ufer lag und döste. Das Tier bot ein leichtes Ziel. Vorsichtig trat der Junge noch einige Schritte näher und legte einen Pfeil auf den Bogen. In diesem Augenblick erhob sich ein leichter Wind. Die Witterung des Menschen wurde dem Tier zugetragen. Es schnüffelte und schaute sofort in Bombas Richtung, sah ihn und war im Fluß verschwunden, ehe Bomba den Pfeil abschießen konnte. Das war Pech! Bomba schimpfte im stillen mit sich selbst. Er hätte sofort die Richtung wechseln müssen und den Tapir von der anderen Seite angehen sollen, dann wäre er ihm nicht entwischt. Als er nach dem wieder auftauchenden Tapir ausschauen wollte, entdeckte er – halb auf den Strand gezogen – ein Eingeborenenboot. Wahrscheinlich war sein Besitzer zur Jagd in den Urwald gegangen oder er hatte das Boot aus einem anderen Grunde herrenlos zurückgelassen. Jedenfalls hatte der glückliche Zufall Bomba eine Möglichkeit in die Hand gespielt, seine Jagdbeute weiter zu verfolgen. Schnell eilte der Junge zum Boot, stieß es vom Ufer ab und schwang sich hinein. Er wußte, daß Tapire lange Zeit unter Wasser schwimmen konnten. Nun rechnete er sich aus, wo das Tier wieder an die Oberfläche tauchen würde und paddelte schnell auf die Stelle zu. Er hatte sich sehr verrechnet. Ein weites Stück von seinem Boot entfernt, kam der Tapir an die Oberfläche 42
und schöpfte Luft mit seinem Rüssel. Ehe Bomba die Stelle erreicht hatte, war das Tier schon wieder untergetaucht. Doch diesmal hatte Bomba besser geschätzt. Er paddelte schnell mit dem Fluß und sah plötzlich den Tapir in Schußweite, kaum drei Meter von ihm entfernt, aus dem grünlich schimmernden Wasser auftauchen. Der Junge ließ das Paddel fallen, griff zu Pfeil und Bogen und legte einen Pfeil auf die Sehne. Es war ein Meisterschuß! Der Pfeil drang dem Tapir ins Herz. Der tote Körper trieb weiter, und Bomba mußte aus dem Bootstau eine Schlinge fertigen, um sie dem Tier um den Kopf zu legen, ehe es versank. Er fischte seine Jagdbeute auf, umschnürte sie und ließ sie hinter dem Boot im Wasser dahintreiben. Sehr zufrieden mit sich und seinem Erfolg lenkte er das Boot wieder dem Ufer zu. Das war allerdings jetzt keine leichte Arbeit, denn er mußte mehr als hundert Pfund gegen den Strom hinter sich herschleppen. So kam er mit dem Boot nur langsam voran. Plötzlich gab es einen unerwarteten Aufenthalt. Ein scharfer Ruck warf Bomba auf den Boden des Bootes. Zuerst glaubte er, der Körper des Tapirs hätte sich an einem Hindernis verfangen. Dann sah er jedoch etwas, was seinen Herzschlag beschleunigte. Das Wasser hinter dem Boot wurde unruhig von einem großen Körper bewegt. Dann tauchte sekundenlang der Schuppenrücken eines mächtigen Alligators 43
auf. Ein neuer Ruck am Boot zeigte Bomba, daß die Bestie den Tapir als willkommene Beute betrachtete und Stücke aus dem Körper des toten Tieres riß. Zuerst empfand Bomba nur Wut und Enttäuschung, daß ihm auf diese Weise seine schöne Jagdbeute entrissen wurde. Er sah jedoch, daß sich das Wasser auch an anderen Stellen bewegte. Die Alligatoren hatten das Blut des Tapirs gewittert und kamen in Scharen herbeigeschwommen. Es ging jetzt nicht mehr um die Rettung der Jagdbeute, sondern um sein eigenes Leben. Das wußte Bomba, und er sprang zum Heck des Bootes, um mit der Machete so schnell wie möglich das Seil zu kappen. Weit kam er nicht mit seiner Rettungsarbeit. Ein Ruck nahm ihm das Gleichgewicht. Das Kanu schlug um, und Bomba stürzte ins Wasser.
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6 Von einem Alligator verfolgt Der Sturz ins Wasser hätte Bomba nicht weiter gestört. Er schwamm wie ein Fisch und war so sicher im Wasser wie auf dem Lande. Doch er war nicht weit von einer Gruppe der gefräßigen und beutehungrigen Alligatoren, und das machte den Aufenthalt im Fluß zu keinem Vergnügen. Während das Wasser noch um seine Ohren gurgelte, machte sich Bomba klar, daß er – ebenso wie der Tapir – möglichst lange untergetaucht schwimmen mußte, um von den Alligatoren nicht entdeckt zu werden. Solange seine Lungenkraft es ihm erlaubte, schwamm er mit kräftigen Stößen unter der Oberfläche dahin. Als Bomba auftauchen mußte, schüttelte er sich das Wasser aus den Augen und blickte zurück. Fünf oder sechs Alligatoren umschwammen den Tapir und zerrissen seinen Körper. Andere Wasserungeheuer lauerten in der Nähe, und versuchten einen Anteil an der Beute zu erwischen. Bisher galt die ungeteilte Aufmerksamkeit der Bestien dem leckeren Tapirfleisch. Darin lag Bombas Chance. Doch seine Jagd hatte ihn weit vom Ufer fortgetrieben, und der grüne Landstreifen schien ihm sehr fern zu liegen. 45
In schnellen Kraulzügen schwamm Bomba dem Land zu. Wenn er einen Blick zurückwarf, schienen die Echsen noch immer um ihren Beuteanteil zu kämpfen. Das Ufer rückte näher. Wieder einmal schaute Bomba zurück. Da sah er eine gefährliche Kiellinie, an deren Spitze der Kopf eines Alligators schwamm. Der Rachen war in seine Richtung gewandt. Bomba konnte sich ausrechnen, wann der Kaiman ihn erreichen würde. Er warf einen verzweifelten Blick vorwärts. Das Ufer war nicht mehr weit. Wenn er sehr schnell schwamm, konnte er es noch vor dem Untier erreichen. Er verdoppelte seine Armschläge. Wie Windmühlenflügel sausten die muskulösen Arme durch die Luft – tauchten ins Wasser ein und waren schon wieder an der Oberfläche: unermüdlich – scheinbar unermüdlich. Bomba spürte jedoch bald, wie seine Kräfte nachließen. Nun war das Ufer schon sehr nahe, und der Alligator hatte noch eine ansehnliche Strecke zu schwimmen, ehe er ihn erreichte. Dann erkannte Bomba jedoch, daß die nächstgelegene Uferstelle steil anstieg. Es würde ihn wertvolle Sekunden kosten, ehe er einen festen Halt finden und sich auf das rettende Land schwingen konnte. Inzwischen wäre der Alligator bestimmt schon herangejagt, und seine Kiefer würden ihn vielleicht in jenem Augenblick packen, da er sich hochschwingen wollte. Noch wenige Schwimmstöße trennten Bomba vom 46
Ufer. Seine Augen hielten Ausschau nach einem rettenden Halt. Als er zurückblickte, gewahrte er den Alligator dicht hinter sich. Bomba sah einen Baum, der sich weit über das Ufer neigte. Die Zweige hingen tief herab. Würde er einen ergreifen können? Mit letzter Kraft schwamm er auf den Baum zu. Er schnellte sich empor und bekam einen Ast zu fassen. Nun konnte er mit der anderen Hand nachgreifen. In einem geschmeidigen Aufschwung zog sich Bomba hoch. Unter ihm rauschte das Wasser auf. Die Kiefer des Kaimans klappten mit einem schreckenerregenden Geräusch zusammen. Von seinem eigenen Schwung getrieben, glitt der Körper des Reptils noch über sein Ziel hinaus und kam dann in großem Bogen zu der Stelle zurückgeschwommen, wo Bomba jetzt auf dem Ast kauerte. Ein heiseres Grollen der Wut und Enttäuschung kam aus dem Rachen der Bestie. Sie peitschte das Wasser mit dem kräftigen Schwanz und schwamm abwartend enge Kreise. Einmal schnellte sich das Reptil aus dem Wasser bis an den Zweig, auf dem Bomba gesessen hatte. Dort hätte ihn der Kaiman noch erreicht, doch inzwischen hatte sich Bomba höher den Baum hinauf auf einen dicken Ast zurückgezogen. Hier war er für die scharfen Zähne des Krokodilrachens unerreichbar. Auf dem Ast ausgestreckt, ruhte sich Bomba von seiner Anstrengung aus. Er fühlte, wie sein Puls ruhiger 47
wurde – wie die Adern an den Schläfen nicht mehr hart und deutlich pochten, und wie seine Muskeln ihre Kraft und Geschmeidigkeit zurückerlangten. Wenn er auf das dahingleitende, grünlich-klare Wasser des Flusses schaute, konnte er sehen, daß der Alligator seine Wache noch nicht aufgegeben hatte. Er wunderte sich zuerst darüber, aber dann durchschaute er die Absicht des schlauen Riesen. Der Kaiman mochte ahnen, daß seine Beute irgendwann den Baum verlassen mußte, und er blieb am Fuß des Stammes auf der Lauer. Auf diese Weise gab es kein Entkommen für Bomba. Zum Glück hatte Bomba beim Schwimmen den Bogen nicht von der Schulter abgestreift, obwohl er ihm hinderlich gewesen war. Die Pfeile steckten noch in seinem Köcher, und so konnte er einen Schuß wagen. Mit äußerster Vorsicht veränderte Bomba seine Lage auf dem Ast. Zum Schießen mußte er beide Hände frei haben. Also mußte er sich mit den Füßen festhalten, um nicht ins Wasser zu fallen. Im Reitsitz hockte er sich auf den Ast. Seine Füße hatten Halt auf einem anderen Zweig. Er legte einen Pfeil auf die Sehne und wartete. Der einzige mit einem Pfeil verwundbare Punkt war das Auge des Kaimans. An den harten Platten des Schädels würde das Geschoß wirkungslos abprallen. Zweimal glitt die Bestie unter Bombas Baum hinweg, ohne daß die tückischen, hervortretenden Augen ein 48
Ziel boten. Dann schwamm der Alligator wieder heran. Er blieb einen Moment lang still im Wasser liegen und starrte zu der entgangenen Beute hinauf. In diesem Augenblick zog Bomba die Sehne straff und ließ den Pfeil schwirren. Tief drang die Spitze in das linke Auge des Alligators. Ein fürchterliches, heiseres Grollen begleitete den wilden Todeskampf des Ungetüms. Das Wasser unter dem Baum färbte sich rötlich, und der Schaum des aufgewühlten Wassers spritzte bis zum Sitz des Schützen. Der ganze riesige Körper des Alligators schnellte sich in einer letzten gewaltigen Zuckung aus dem Wasser. Dann sank der tote Leib unter. Der Weg für Bomba war frei! Schnell ließ sich der Junge zum Stamm hingleiten und sprang hinab. Es war ein befreiendes Gefühl, wieder feste Erde unter den Füßen zu spüren. Zwar hatten ihm die Bestien des Flusses seine Beute abgejagt – aber ihn selbst hatten sie nicht erjagen können. Das erfüllte sein Herz mit Dankbarkeit. Für heute mußte Bomba seine Jagd aufgeben. Die Sonne war schon am anderen Flußufer jenseits der Baumwipfel verschwunden. Violette Schatten kündigten die Dämmerung an, die sehr schnell in die tropische Nacht überging. Noch tanzten goldene Lichter als Sonnenreflexe über dem Wasserspiegel. Das Schilf neigte sich – von einer sanften Brise gefächelt. Wie ein schwarzer Scherenschnitt zeichnete sich die Silhouette 49
eines langsam fliegenden Reihers vor dem matten Hintergrund des östlichen Horizontes ab. Bald begann die Zeit, in der die nächtlichen Würger des Urwaldes ihre Beutezüge eröffneten: die Jaguare und die Pumas. Ihnen durfte Bomba jetzt das Jagdrevier überlassen, und er mußte für seine eigene Sicherheit sorgen. Normalerweise hätte er in der Nacht ein Lagerfeuer angezündet. Doch er fürchtete, seine Anwesenheit dadurch zu verraten. Er rastete in der Dämmerung und verzehrte zwei Schildkröteneier. Satt und zufrieden erhob er sich und suchte einen sicheren Schlafplatz für die Nacht. Er fand eine geeignete Stelle inmitten eines fast undurchdringlichen Dornengestrüpps. Ihn selbst kostete es eine viertelstundenlange Anstrengung, in diese natürliche Festung einzudringen. Keine Raubkatze hätte ihm dahin zu folgen vermocht. Auch Schlangen würden dieses Dickicht mit seinen schmerzhaften Stacheln meiden und ihn unbehelligt lassen. Trotz der Anstrengungen der vergangenen Stunden konnte Bomba nicht sofort einschlafen. Bittere Gedanken zogen durch seinen Sinn. Hier lag er – einsam und vielen Gefahren ausgeliefert, und niemand kümmerte sich um ihn! Warum mußte er dieses Leben führen? Warum konnte er nicht ein Junge sein wie Frank, der jetzt zur Küste zurückkehrte und dort mit seinen Freunden zusammentraf? Jeden Tag konnte Frank mit sei50
nesgleichen sprechen und scherzen! Wie er ihn darum beneidete! Um vielerlei beneidete er Frank. Auch um sein Wissen! Um seine Kenntnisse von jenen geheimnisvollen Dingen, die das Leben in der Zivilisation glatt und angenehm machten. Auch für ihn war dieses Leben bestimmt. Das Erbe von Generationen zivilisierter Menschengeschlechter kam in ihm zum Durchbruch, wenn er sich unbewußt dorthin sehnte, wo auch Frank und seine Eltern lebten. In dieser melancholischen Stimmung schlief Bomba schließlich ein. Gott sei Dank war er zu jung und lebenslustig, um am nächsten Morgen noch etwas von seinen kummervollen Gedanken zu spüren. Gestärkt und froh erhob er sich von seinem Lager und bahnte sich einen Weg zurück auf die Urwaldlichtung. In morgendlicher Klarheit und schimmernder Bläue wölbte sich der Himmel über ihm. Noch lag Tau auf Farnen und Gräsern. Ein süßer Duft stieg von den Blüten rosafarbener Büsche auf. Die Natur um ihn her war ein Zusammenklang von Farbenpracht und Morgenfrische. Die Jagd an den nächsten beiden Tagen war gut. Bomba hatte eine glückliche Hand. Hier überraschte er ein Reh – dort fiel ihm ein Tapir in die Hände – und eine Waldschildkröte kreuzte träge seinen Weg, als er nichtsahnend dahinschlenderte. Von seinen Beutestücken schnitt er nur die besten 51
Fleischteile heraus, wickelte sie in Blätter und trug sie über der Schulter. Nach drei Tagen machte er sich auf den Heimweg. Nie vergaß er seine Vorsicht. Doch wie sorgfältig er auch den Boden und den Busch an seiner Seite nach Spuren absuchte – es war kein Hinweis auf die Anwesenheit von Kopfjägern zu finden. Allerdings vermißte er auch die harmlosen und freundlichen Eingeborenen dieser Gegend. Es wäre ihm lieber gewesen, einem von diesen friedlichen Urwaldbewohnern zu begegnen. Er hätte dann wenigstens ein paar Worte an ein menschliches Wesen richten können. Vor allen Dingen beunruhigte ihn die Abwesenheit der friedfertigen Indianer. Das galt ihm als ein verdächtiges Zeichen dafür, daß etwas im Urwald nicht in Ordnung war. Je näher Bomba der Hütte am Flußufer kam, um so mehr wurde er eine Beute von bösen Vorahnungen. Er vermochte die Gedanken nicht abzuschütteln. So viele Vernunftsgründe er auch dagegen vorbrachte, immer wieder mußte er sich vorstellen, daß ihn eine schlimme Überraschung erwartete. Als er die Flußbiegung erreichte, von der aus die Hütte zu sehen war, atmete Bomba erleichtert auf. Also waren seine Vorahnungen doch nur eine Täuschung gewesen! Die Hütte stand noch. Nichts deutete auf eine Gewalttat hin. „Ich bin ein Quatschkopf gewesen!“ sagte Bomba laut. Das Wort paßte zwar nicht ganz für diese Situation, aber er hatte es von seinem Freund Frank aufge52
schnappt und gebrauchte es daher gern. Nahe bei der Hütte rief er ein lautes „Hallo“, wie er es gewöhnlich tat, wenn er von der Jagd heimkehrte. Doch niemand trat vor die Hütte wie sonst. Nichts regte sich. Ein zweitesmal rief er im Näherkommen. Wieder kam keine Antwort! Seine Sicherheit war sofort verflogen. Er streifte seine Jagdbeute von der Schulter und rannte die letzten Meter bis zur Hüttentür. Sie stand offen. Ein flüchtiger Blick ins Innere zeigte ihm, daß der vordere Raum leer war. Noch klammerte sich Bomba an die Hoffnung, daß die beiden vielleicht in dem kleinen Hinterzimmer waren. Doch auch dieser Raum war leer. Wie betäubt wankte Bomba hinaus. „Casson!“ rief er mit bebender Stimme in den Urwald hinein. „Pipina! Casson! Wo seid ihr?“ Nur das Echo seiner Stimme antwortete ihm leise und höhnisch aus mehreren Richtungen. Sonst blieb der Urwald still und ohne Antwort!
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7 In die Gefangenschaft geschleppt In sinnloser Hast suchte Bomba zuerst die Büsche in der Nähe der Hütte ab, als könnte er dort irgendwo die beiden finden. Seine Gedanken schossen wirr durcheinander. Was war geschehen? Wo waren die beiden? Nichts verriet ihm etwas von den Geschehnissen. Keine Fußspuren – keine niedergetrampelten Büsche! Nichts! Es sah so aus, als hätte niemand den einsamen Ort betreten. Aber Casson und Pipina waren fort: die grausame Wirklichkeit ließ sich nicht leugnen. Nur Indianer konnten so unsichtbar und verstohlen ihr Werk ausgeführt haben. Nur Indianer konnten Pipina und Casson fortgeführt haben. Allmählich fand Bomba seine Besonnenheit wieder. Er beschloß, die Hütte sehr sorgfältig nach Spuren abzusuchen. Vielleicht fand er einen Hinweis – und wenn er noch so geringfügig war. Es war unmöglich, daß sich die Räuber und die Entführten in Luft aufgelöst hatten. Irgendwo mußten sich Spuren finden. Zoll um Zoll untersuchte Bomba die Hüttenwände. Er kroch über den Fußboden und ließ keinen Winkel unbeachtet. In jedem Spalt des dürftigen Mobilars schaute er nach. Die Suche nahm viel Zeit in Anspruch und erschien vollkommen aussichtslos. Aber der Ge54
danke ließ ihn nicht los, daß Casson seine Gewissenhaftigkeit beim Spurensuchen kannte. Wenn es dem alten Gefährten irgend möglich gewesen war, hatte er eine Botschaft hinterlassen. Schon wollte er die Suche aufgeben, als er in der dunkelsten Ecke der Hüttenwand ein undeutliches Gekritzel auf dem Holz entdeckte. Es sah so aus, als hätte jemand im Sitzen in aller Eile und heimlich diese fast unleserlichen Worte mit einem spitzen Gegenstand hingeschrieben. Als Bomba endlich die Worte entzifferte, glitt ein Ausruf der Entrüstung über seine Lippen. Er las: „Nascanora schleppt Casson, Pinina, Hondura zum Lager am Großen Wasserfall. Hilf!“ Am liebsten wäre Bomba sofort blindlings in den Urwald hineingerannt. Seine Augen sprühten vor Zorn. Wie konnten es diese Bestien wagen, seinen geliebten, alten Casson zu verschleppen! Glaubten sie also, sie hätten ihr Ziel erreicht? Aber sie sollten sich irren! Die Kopfjäger hielten in ihrem Aberglauben den alten Casson für einen ,Mann des Bösen’. Sie meinten, daß er Krankheit und Unglück über den Stamm brächte. Ausgerechnet von Casson glaubten sie das, von einem Manne, der nur Gutes tun wollte! Bomba stellte sich vor, wie sie den Alten quälen und martern würden, so wie es Tocarora seinen Kriegern einmal in einem von Bomba belauschten Gespräch be55
schrieben hatte. Damals war ihr Plan nicht geglückt. Sie hatten Casson nicht überwältigen können, weil Bomba rechtzeitig erschienen war. Und diesmal? Bomba schüttelte die Faust gegen den unsichtbaren Gegner. Er mußte einfach so etwas tun, um seine Wut zu äußern. Wehe dem Kopfjäger, der in diesem Augenblick in seine Nähe gekommen wäre! Noch einmal las Bomba das Gekritzel. Da war auch von Hondura die Rede. Dieser Häuptling gehörte dem freundlichen Stamme der Araos an. Er war der Vater der hübschen kleinen Pirah, die sich einmal so für Bomba eingesetzt hatte, als er gefangen worden war. Warum hatte Nascanora, der Häuptling der Kopfjäger, auch Hondura überwältigt? Versprach er sich ein Lösegeld? Oder fürchtete er, daß der Stamm der Araos zu mächtig werde? Wollte er Verwirrung in die Reihen von Honduras Krieger bringen, indem er ihnen den Führer nahm? Allmählich wurden Bombas Überlegungen wieder ruhiger. Er trat vor die Hüttentür und dachte nach. Die Gefangenen sollten zum ,Großen Wasserfall’ geführt werden. So hieß es in der Mitteilung. Nun hatte Bomba jedoch keine genaue Kenntnis davon, wo der ‚Große Wasserfall’ lag. Er hatte nur davon gehört und wußte, daß ein mühseliger und beschwerlicher Weg dorthin führte, und daß es eine lange Reise war. Vielleicht konnte er aber die Kopfjäger unterwegs schon einholen. Wahrscheinlich hatten sie mehrere Ta56
ge Vorsprung. Das jedoch nur, wenn die Gefangennahme gleich nach Bombas Aufbruch erfolgt war. In der Hütte fand sich kein Hinweis auf den Zeitpunkt des Überfalls. Sollten sie aber auch einen größeren Vorsprung haben: eine Gruppe kam nie so schnell voran wie ein einzelner. Sie hatten Gefangene bei sich und waren womöglich mit Beute beladen. Die Strecke, die sie in drei Tagen zurücklegten, konnte Bomba vielleicht in einem Tag durcheilen. Jetzt war auch nicht der Zeitpunkt, um Pläne zu schmieden, sondern um zu handeln. Er nahm etwas von Pipinas Räucherfleisch, spannte eine neue Sehne auf den Bogen und ergänzte seinen Vorrat von Pfeilen. Revolver und Machete steckten im Gürtel, und er konnte aufbrechen. Er verrammelte den Eingang der Hütte in aller Eile und wandte sich dem Dschungel zu. Wie ein Jagdhund beschrieb er einen weiten Kreis um die Hütte. Irgendwo mußte er so auf die Spur stoßen. Trotz seiner Begierde, voranzukommen, ging er sehr sorgfältig ans Werk. Die Kopfjäger hatten es anscheinend sehr geschickt verstanden, ihre Spuren zu verwischen. Bomba fand lange Zeit nicht den geringsten Anhaltspunkt. Dann kam er an einem Dornengestrüpp vorüber. Es war übersät mit kleinen, rötlichen Blüten. Ein anderer wäre achtlos vorübergegangen, doch Bomba fiel ein etwas anders gefärbter roter Fleck am Busch auf. Als er näher hinschaute, leuchteten seine Augen auf. Er hatte einen kleinen Tuchfetzen ent57
deckt – vermutlich ein Stück von Pipinas Rock. Nun mußte Bomba möglichst noch einen zweiten Hinweis finden. Dadurch erst war die Wegrichtung festgelegt. Wieder beschrieb Bomba von der Fundstelle aus einen größeren Halbkreis. Diesmal entdeckte er einen Tuchfetzen an einem abgebrochenen Ast in Höhe seiner Hüften. Jetzt konnte er die Verfolgung aufnehmen. Allerdings hatten ihm die beiden Spuren noch etwas anderes verraten. Die Gefangenen wurden anscheinend in großer Eile durch den Urwald getrieben. Nur so war es zu erklären, daß sich Pipina zweimal das Kleid an Ästen und Dornen aufgerissen hatte. Kummer und Wut spornten Bomba zur höchsten Eile an. Er stellte sich vor, wie die barbarischen Kopfjäger den hilflosen alten Casson durch den Dschungel jagten. Wie lange konnte der Alte das überhaupt ertragen? Vielleicht war er jetzt schon den Strapazen dieser Gefangennahme erlegen! Bomba hatte kaum einige Kilometer zurückgelegt, als ihn sein Instinkt vor einer nahen Gefahr warnte. Kein normales Ohr hätte das Rascheln wahrgenommen, das Bombas Schritt begleitete. Hin und wieder glaubte der Junge auch schattenhafte Bewegungen im Unterholz zu erkennen. Einmal blieb Bomba stehen und tat so, als müßte er etwas an seiner Sandale in Ordnung bringen. Da hörte auch das Rascheln auf. Aber sobald er weiterlief, vernahm er diesen leisen 58
Laut, der Gefahr ankündigte. In diesem Falle war es das beste, weiterzueilen, als wäre nichts geschehen. Wenn er sein Wissen verriet, hätte er einen sofortigen Angriff herausgefordert. Im Weiterlaufen schaute sich Bomba nach einem geeigneten Versteck um, oder nach einer Möglichkeit, den unsichtbaren Verfolger abzulenken und ihm zu entwischen. Als Bomba einen Seitenweg nach links einschlug und dann zwischen den Farnen verschwand, wußte er mit einem Male, daß er bereits von allen Seiten umkreist war. Das schwache Geräusch ertönte jetzt auch von vorn und von den Seiten. Die Feinde – wer immer sie auch sein mochten – rückten näher. Noch verrieten ihm seine Augen nichts Genaues. Alles blieb unbeweglich. Kein Blatt regte sich. Kein Zweig zitterte. Nur das Rascheln war da – von links, von hinten, von rechts. Plötzlich erkannte Bomba doch eine Bewegung hinter einem Busch. Er riß den Bogen von der Schulter, legte einen Pfeil auf und zog die Sehne. Da zerriß jedoch ein Schrei die Stille. Mit einem Male war der Dschungel voller Leben und Bewegung. Überall tauchten die dunklen Gesichter von Indianern auf. Die Männer stürmten auf ihn zu, schwangen die Messer über den Köpfen und stießen ein grauenerregendes Geschrei aus. Ehe Bomba einen Pfeil absenden konnte, fühlte er sich von hinten ergriffen und zu Boden geschleudert. 59
Mehr als ein Dutzend Eingeborener beugten sich über ihn. Ihre Gesichter drohten. Viele Messerklingen blitzten über ihm. Eine Flucht oder eine Verteidigung war aussichtslos. „Unsere Rache ist schnell!“ rief einer der Indianer. „Wo ist Hondura? Du wirst ihn nicht entführen! Wir sind schneller als du!“ Sofort hatte Bomba die Situation erfaßt. Das waren Krieger vom Stamme der Araos. Sie suchten ihren Anführer. Unglücklicherweise gaben sie Bomba die Schuld an seinem Verschwinden – ausgerechnet ihm, der gerade auf dem Wege war, um auch Hondura zu befreien. „Laßt mich los!“ rief Bomba. „Ich werde euch alles erklären.“ Die Krieger der Araos zögerten. Die Abwesenheit ihres Häuptlings machte sie unschlüssig und mißtrauisch. Keiner getraute sich, die Führung zu übernehmen. Sie tauschten beredte Blicke und redeten leise miteinander. Einer der Krieger, ein junger, kräftiger Mann namens Lodo, machte sich schließlich zum Wortführer der Gruppe. „Steh auf“, befahl Lodo. Gleichzeitig winkte er den Kriegern mit den Augen zu. Sie bildeten einen undurchdringlichen Ring von Körpern um Bomba. Lodo trat auf den Jungen zu. „Wo ist Hondura?“ fragte er mit gerunzelter Stirn. „Die Araos sind sehr böse auf Bomba! Er hat eine dop60
pelte Zunge. Er schwört den Araos Freundschaft, und dann versteckt er ihren Häuptling!“ Bomba mußte trotz dem Ernst der Lage lächeln bei dem Gedanken, daß er den guten Hondura eingefangen und versteckt haben sollte. „Nicht ich habe Hondura gefangen!“ sagte er feierlich. „Hondura ist mein Freund – so wie ihr es seid! Der hinterlistige Nascanora hat Hondura gefangengenommen!“ Furchtlos hielten seine braunen Augen Umschau im Kreis der finster blickenden Krieger. „Nascanora hat auch meinen Freund Casson und die Squaw Pipina gefangen. Wenn ihr kommt, werde ich euch die Zeichen an der Wand zeigen, die mir Casson als Nachricht zurückgelassen hat, bevor alle weggeschleppt wurden.“ Offensichtlich waren die Indianer von den Worten des Jungen beeindruckt. Aber das Mißtrauen siegte vorerst noch. Nach einem längeren Palaver erwiderte Lodo: „Wir bringen dich zur Hütte! Doch wehe dir, wenn deine Zunge falsch war! Lodo schneidet dir das Herz heraus!“ Ein düsteres Gemurmel der Krieger folgte den Worten. Dann setzte sich die Gruppe in Bewegung.
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8 Der Mann mit der gespaltenen Nase Mit unbewegtem Gesicht ging Bomba vor den Indianern her, wieder in Richtung auf Pipinas Hütte. In seinem Innern tobte ein Aufruhr von Kummer und Empörung. Kaum hatte er sich auf den Weg gemacht, um Casson und der Squaw zu Hilfe zu eilen, mußte ihm dieses Mißgeschick widerfahren! Er war auch nicht so sicher, daß er den Araos die Inschrift auf der Hüttenwand würde überzeugend erklären können. Sie verstanden kein Wort seiner Sprache und kannten auch die Schriftzeichen nicht. Wie sollte er ihnen verständlich machen, daß die Worte tatsächlich von Casson in äußerster Not hingekritzelt worden waren? Der Weg war Bomba vertraut, und die Gruppe kam daher schnell voran. Nach kurzer Zeit hatten sie die verlassene Hütte erreicht, und Bomba sperrte die Tür auf. Er führte die Indianer ins Innere und deutete auf das undeutliche Gekritzel an der Wand. Es war so, wie er es sich vorgestellt hatte. Lodo konnte mit der Inschrift nichts anfangen. Er stand davor, beugte sich nieder und runzelte die Stirn. Dann richtete er sich auf, ergriff sein Messer und drückte die Spitze gegen Bombas Rücken. „Lies du!“ befahl er. „Versuche nicht, Lodo zu täu62
schen!“ Die Spitze des Messers bohrte sich in die Haut. Blutstropfen quollen hervor. Bomba ließ sich keinen Schmerz anmerken. Mit fester Stimme las er zweimal Cassons Botschaft vor. Doch die Indianer ließen sich nicht überzeugen. Sie drängten sich näher heran und brummten unwirsch. „Du lügst!“ rief Lodo. Der Druck der Messerspitze an Bombas Rücken verstärkte sich noch. Der Junge fühlte jetzt das warme Blut, das aus der kleinen Wunde rann. „Ich spreche die Wahrheit“, sagte er. „Du lügst!“ wiederholte Lodo. Er fühlte sich hilflos, da er jetzt eine Entscheidung treffen mußte und nicht wußte, was das richtige war. Etwas im Wesen des Jungen wirkte überzeugend auf ihn. Anderseits konnte er sich vor seinen Leuten nicht die Blöße geben, Bomba frei zu lassen, wenn er nicht sicher wußte, daß dessen Worte richtig waren. „Die Krieger der Araos haben Hondura zuletzt in der Nähe dieser Hütte gesehen!“ rief Lodo böse. „Von hier ist Hondura verschwunden! Wir glauben, daß Bomba ihn versteckt hält! Er hat uns nicht überzeugen können! Wir glauben Bomba nicht!“ Auf einen Wink von Lodo hin griffen viele Hände nach dem Jungen. Messerspitzen richteten sich gegen seine Brust. Was konnte er noch tun, um die Araos von der Wahrheit seiner Worte zu überzeugen? In diesem Augenblick mischte sich ein riesiger In63
dianer ein, der sich bis jetzt im Hintergrund gehalten hatte. Wahrscheinlich hatte er diesen Augenblick für seinen eindrucksvollen Auftritt abgewartet. „Halt!“ rief der Mann und trat vor. Er wurde Grico genannt. Sein Gesicht war unvergeßlich. Ein Auge fehlte ihm, und die Nase war gespalten. Er war ein Mann von unheimlicher Körperkraft. Als Junge hatte er eine Weile an der Küste gelebt. Er hatte kurze Zeit die Missionsschule besucht und dort die Anfänge dessen genossen, was man in zivilisierten Ländern Erziehung nennt. Das Dschungelblut war jedoch stärker gewesen. Eines Tages war der Halbwüchsige seinen Erziehern davongelaufen, und er hatte sich dem Stamme der Araos angeschlossen. Weit und breit war er späterhin als Jäger und Läufer bekannt geworden. In einem Kampf mit Jaguaren hatte er sagenhafte Stärke und hohen Mut bewiesen. Dabei hatte er das Auge verloren, und ein Prankenhieb hatte ihm die Nase gespalten. Bei seinem Stamme war er im Laufe der Zeit zu einer geachteten Persönlichkeit geworden. Man beugte sich vor seinem überragenden Wissen. Für seine einfältigen Stammesgenossen war jedenfalls seine recht dürftige Erziehung, so etwas wie ein Universitätsstudium. Natürlich war Grico schlau genug, seine Kenntnisse bei jeder Gelegenheit hervorzukehren. Jetzt hatte er sich wieder einen günstigen Augenblick ausgesucht, 64
um mit seinem Wissen zu glänzen. Gravitätisch schritt er durch den Kreis der Krieger. Bomba, der Gricos Geschichte kannte, schöpfte neue Hoffnung und starrte dem Riesen mit klopfendem Herzen entgegen. Mit seinem einzigen dunklen Auge starrte Grico lange auf die Wand. Auch ihm bereiteten die flüchtig hingeworfenen Schriftzeichen Schwierigkeiten. Schließlich las er jedoch ohne zu stocken: „Nascanora schleppt Casson, Pipina, Hondura zum Lager am Großen Wasserfall! Hilf!“ Grico wandte sich um und blickte mit seinem Basiliskenblick von einem zum anderen. „Bomba hat die Wahrheit gesprochen. Er hat euch noch nie belogen! Ihr solltet es wissen!“ Diese Worte fügte der einäugige Riese noch verächtlich hinzu, dann trat er bescheiden in den Hintergrund zurück. Mit einem verlegenen Grinsen machte Lodo eine Geste der Freundschaft. Er selbst riß sich ein Stück Tuch aus seiner Mendijeh und wischte das Blut von Bombas Rücken. „Lodo ist sehr erzürnt und sehr kummervoll“, begann er seine eigene Verteidigungsrede. „Häuptling Hondura ist gefangen, und wir alle zittern um ihn. Bomba wird vergessen, daß Lodo ihn beleidigt und verletzt hat. Lodo ist bereit, eine Buße auf sich zu nehmen, wenn Bomba das verlangt.“ Freimütig reichte Bomba dem Indianer die Hand. „Ich verstehe Lodos Kummer“, sagte er. „Doch es 65
ist so, wie Grico gesagt hat. Bomba spricht nie mit falscher Zunge. Es ist besser, wenn die Araos sich das merken!“ Ein beifälliges Gemurmel erklang. Die Männer, die eben noch finster und angriffslustig gewesen waren, beeilten sich, Bomba einen Liebesdienst zu erweisen. Der eine wusch seine Wunde. Ein anderer beschmierte sie mit einer mitgeführten Wundsalbe, und ein dritter verband ihn kunstgerecht. Dann setzten sich alle zusammen vor der Hütte zu einem Palaver nieder. Obwohl Bomba darauf brannte, die Verfolgung der Kopfjäger aufzunehmen, durfte er sich nicht unhöflich davontrollen. Wohl oder übel mußte er sich in den Kreis der Krieger setzen und den Worten lauschen. „Wir wissen also“, begann Lodo, „daß der meuchlerische Nascanora unseren Häuptling weggeschleppt hat. Alle seine Freundschaftsbeteuerungen waren mit doppelter Zunge gesprochen. Aber unsere Rache wird ihn erreichen! Wir werden Hondura befreien. Wir werden Nascanora fangen und an einen Baum binden. Bis zu den Knien werden wir Holz um ihn häufen und Feuer machen. Die roten Flammen sollen sein böses Herz versengen. Die Flammen sollen sein Fleisch fressen und seine Knochen zu Staub verbrennen! Ayah! Ayah!“ Der Racheschrei aus Lodos Mund fand ein vielfältiges Echo. Ein dumpfes, unheilkündendes Geheul 66
durchdrang die Urwaldstille. Als die Ruhe zurückgekehrt war, wandten sich Lodo und Grico an Bomba. Der Junge berichtete, was er selbst neuerdings für Erfahrungen mit den Kopfjägern gemacht hatte. Er erzählte von den verschiedenen Angriffen auf die alte Hütte, von der Gefangennahme des Medizinmannes Ruspak, und dann von seinem Abenteuer mit den Kopfjägern während seiner Reise zum ,Laufenden Berg’. „Ich glaube, daß es zwei Gruppen von Kopfjägern sind“, erklärte er abschließend. „Die Hauptgruppe wird von Nascanora geführt. Tocarora, sein Halbbruder, führt die kleinere Gruppe. Irgendwo im Dschungel werden sie sich vereinigen. Dann wird es für die Araos schwierig sein, sie zu bekämpfen.“ Grico schüttelte die Fäuste und sein eines Auge funkelte angriffslustig. „Sie wissen nicht, daß Grico schnell wie ein Reh ist“, stieß er hervor. „Grico wird viele Krieger holen, die mit den Araos kämpfen werden. Hondura ist gut zu Grico gewesen. Jetzt wird Grico seine Dankbarkeit beweisen!“ An der Ehrlichkeit von Gricos Worten war nicht zu zweifeln. Da der einäugige Riese überall großes Ansehen genoß, war es durchaus möglich, daß er Krieger anderer Stämme unter seiner Führung vereinigen konnte. Sollte ihm das gelingen, dann wären die Araos mit ihren Hilfstruppen auch für die Kopfjäger gefährliche Gegner. 67
Nur würde dieses Sammeln von Kriegern viel Zeit und endlose Palaver kosten. Bomba hatte keine Lust, diese Entwicklung abzuwarten. Casson befand sich in Lebensgefahr, und er war den Strapazen der Urwaldreise nicht gewachsen. So schnell wie möglich mußte er ihm zu Hilfe eilen. Wohl wäre Bomba bei den Araos sicherer gewesen, aber er fürchtete sich nicht davor, die Verfolgung der Kopfjäger auch allein aufzunehmen. Sobald sich eine Gelegenheit bot, trug er den Kriegern seine Pläne vor. „Ich werde zuerst gehen, und die Fährte der Kopfjäger aufspüren“, schlug Bomba vor. „Inzwischen versammeln Lodo und Grico genug Krieger um sich. Wenn die Leute Nascanoras noch nicht weit sind, kehre ich hierher zurück und gebe euch Bescheid. Finde ich sie nicht so bald, so hinterlasse ich eine deutliche Fährte. Dann könnt ihr mir schnell folgen. Ist das ein guter Vorschlag?“ Lodo und Grico berieten. „Bomba spricht gut –“, begann Lodo seine Zustimmung zu bekunden. In diesem Augenblick wurde im Dschungel eine Bewegung hörbar. Gleich darauf brach eine seltsame Menschengruppe durch das Unterholz und eilte über die Lichtung. Bomba erkannte sofort, daß es Squaws vom Stamme der Araos waren. Die sonst so unerschütterlich ruhigen Frauen kamen mit allen Anzeichen von Furcht und Entsetzen auf die 68
Männer zugestürmt. Sie mußten in eiliger Flucht von weither gekommen sein. Ihre Haut war von Dornen zerrissen, und sie atmeten keuchend. Eine von ihnen war Lodos Squaw. Sie schien die Anführerin der Frauen zu sein. Als sie ihren Mann gewahrte, eilte sie auf ihn zu. „Warum folgt ihr uns?“ fragte Lodo verblüfft und unruhig. „Sprich! Was ist geschehen?“ „Die Maloca –“ Die Frau rang nach Atem. „Fremde Krieger sind gekommen! Hütten niedergebrannt! Frauen fortgeschleppt! Kinder! Alles fort!“
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9 Die wilden Plünderer Zuerst saßen die Krieger wie gelähmt da. Sie starrten die Frauen an und glaubten, einem bösen Traum zum Opfer gefallen zu sein. Dann verwandelte sich die Erstarrung in helle Wut und Empörung. Ausrufe des Zornes und des Kummers wurden laut, und Fragen schwirrten hin und her. „Auch Pirah ist fort“, erklärte Lodos Squaw. Bomba sprang auf. „Pirah!“ Seine eigene Stimme kam ihm fremd und rauh vor. Er drängte sich durch die Indianer bis zu der Frau hin. „Was sagst du da?“ fragte er, obwohl er die Gewißheit ja vor Augen hatte. Pirah war nicht bei den Geflüchteten, also mußte sie entführt sein. „Wer waren die Krieger, die sie gefangen haben?“ Die Frau zuckte hilflos die Schultern. „Oh, ich weiß nichts mehr! Es kamen viele!“ Sie streckte beide Hände aus, schloß die Finger mehrere Male zur Faust und spreizte sie wieder auseinander, um eine große Zahl anzudeuten. „Frauen geraubt – Kinder geraubt! Wir sind gelaufen und haben uns im Busch versteckt. Dann sind wir hierhergekommen!“ 70
Noch mehr als die Gefangennahme Honduras erschütterte die Indianer der Überfall auf ihre Maloca, ihr Dorf. Man hatte ihre Frauen und ihre Kinder weggeschleppt. Für dieses Verbrechen gab es nur eine Strafe: Folter und Tod. Das Palaver wurde sofort abgebrochen. Die Krieger ergriffen ihre Waffen, und alles eilte in Richtung der Maloca davon. Bomba verschloß die Hütte wieder und folgte ihnen. Eine Weile begleitete er die Krieger und ihre aufgeregten Frauen. Beim Abschied wiederholten Lodo und Bomba ihre gegenseitigen Hilfsbotschaften. Der Junge versprach, sofort die Fährte der Kopfjäger aufzunehmen und – wenn möglich – Hondura und die Squaws ebenso zu befreien wie seinen Freund Casson und Pipina. Dann verließ Bomba die Krieger, die niedergeschlagen und zornig ihrer verwüsteten Maloca zustrebten. Bomba eilte den Pfad weiter, auf dem ihn die Krieger Honduras überwältigt hatten. Auch er war trauriger als zuvor. Hatte er sich erst nur Sorge um Casson und Pipina machen müssen, so kam jetzt das Mitleid mit dem Schicksal der kleinen Pirah hinzu. Honduras Tochter war ein liebliches Indianermädchen. Aus irgendeinem Grunde hatte sie Bomba ins Herz geschlossen. Sie hatte sich immer gefreut, wenn der Junge auf einem Jagdzug bei den Araos erschien. Einmal hatten die Araos geglaubt, daß die Nähe Cassons Unheil für ihren Stamm bedeuten könnte, und sie 71
hatten Bomba gefangengenommen. Bei dieser Gelegenheit hatte sich die kleine Häuptlingstochter ganz auf die Seite Bombas gestellt. Allerdings hatte der Medizinmann entschieden, daß die Weißen gutartig seien, und so hatte sich das freundschaftliche Band zwischen den weißen Urwaldbewohnern und den Araos enger geknüpft. Für Bomba bestand kein Zweifel, daß Pirah in die Hände der gleichen heimtückischen Wilden gefallen war wie Casson und Pipina. Es war selbst für die Kopfjäger im höchsten Grade gefährlich, einen offenen Überfall auf das Hauptdorf der Araos zu wagen, und sie mußten sich sehr stark und sicher fühlen. Vermutlich hatten sie den Angriff mit großer Übermacht unternommen. Tocaroras Gruppe war wohl zur selben Zeit in die Maloca der Araos eingedrungen, als Nascanora und seine Leute die Hütte Pipinas angriffen. Es war anzunehmen, daß sich die beiden Gruppen wieder vereinigt hatten und gemeinsam zum ,Großen Wasserfall’ zogen. Trotzdem ließ sich Bomba von seinem Vorhaben nicht abbringen. Ein Trost bei seinem schnellen Vormarsch war ihm immer der Gedanke an die Prahlsucht und Eitelkeit der Wilden. Keinesfalls würden sie einen ihrer Gefangenen töten, bevor sie das heimische Dorf erreicht hätten. Sie würden auf jeden Fall ihre Beute erst den Squaws zeigen und mit ihren Erfolgen protzen wollen – das war sicher. 72
Nach mehreren Stunden hielt Bomba seine erste Rast im Schatten eines großen Doladobaumes. Als er in die Tasche griff, um ein Stück Rauchfleisch herauszuholen, machte er eine unangenehme Entdeckung. Sein Revolver und seine Harmonika fehlten. Aufgeregt wühlte Bomba die Tasche durch. Er lief sogar sm Stück des Weges zurück. Ohne Erfolg! Das war ein schwerer Verlust für den Jungen. So wenig Habseligkeiten besaß er, daß er die Geschenke der weißen Männer fast heilig hielt. Die Harmonika hatte ihm schon viele einsame Stunden vertrieben, und er dachte mit Wehmut daran, wie Kiki und Woowoo, seine zahmen Papageien, herbeigeflattert kamen, sobald er die Zaubermusik ertönen ließ. Noch wichtiger für Bomba war jedoch der Revolver. Dieses kostbare Geschenk der weißen Gummisucher konnte ihm im äußersten Notfalle vielleicht das Leben retten. Nun war er auf seine Machete und auf Pfeil und Bogen angewiesen. Während er traurig am Fuße des mächtigen Baumes saß, überlegte sich Bomba, wo er seine Kostbarkeiten verloren haben mochte. Ein plötzlicher Verdacht schoß durch sein Gehirn. Er erinnerte sich daran, daß ihm Grico auf der Wanderung durch den Dschungel oft sehr nahe gekommen war. Er hatte ihn sogar angestoßen. Sollte ihm der Indianer seine Schätze gestohlen haben? Bomba war ihm zu Dank verpflichtet – das stimmte! Aber trotzdem war er nicht gewillt, als Preis dafür sei73
ne schönsten Besitztümer herzugeben. Er dachte noch bekümmert über seinen Verlust nach, als ihn ein leises Rascheln aufmerksam machte. Mit einer gedankenschnellen Bewegung hatte der Junge einen Pfeil auf die Sehne gelegt und war aufgesprungen. Undeutlich sah er ein Fell im Farn dahinhuschen. Es konnte ein Jaguar sein, deshalb schoß Bomba, ohne lange zu überlegen. Es folgte ein schmerzhaftes Grunzen, ein Schlagen in den Büschen – dann trat Stille ein! Schußbereit schlich sich Bomba an. Erst als er ein Pekkari, das Wildschwein des Dschungels, vor sich sah, trat er näher – nicht ohne die Umgebung sorgfältig zu beobachten. Pekkaris traten gewöhnlich in Rudeln auf, und Bomba suchte keine Begegnung mit diesen Wildschweinen. Mit ihren scharfen Hauern konnten sie einen Mann zerfetzen. Sie trampelten ihn nieder, ehe er sich verteidigen konnte. Diesmal geschah jedoch nichts. Vermutlich hatte sich das junge Wildschwein von seinem Rudel getrennt. Da Wildschweinbraten ein köstliches Mahl ist, ließ Bomba die unerwartete Jagdbeute nicht achtlos liegen. Vom saftigsten Teil, an der Lende, schnitt er sich ein Steak herunter, briet es über einem Feuer aus dürren Zweigen und wartete ungeduldig, bis der Braten fertig war. Was für eine Freude wäre es, wenn er den Braten mit seinen weißen Freunden teilen könnte, dachte 74
Bomba. Es könnte ein Festmahl für eine große Gesellschaft sein. Statt dessen mußte er einsam, wie immer, seine Mahlzeit einnehmen. Bombas schönste Erinnerung in seinem jungen Leben war bisher das Zusammensein mit Frank Parkhurst. Wenn er an die lustigen Gespräche dachte, die sie miteinander geführt hatten – an ihre Abenteuer, die nicht ungefährlich gewesen waren –, an die geruhsamen Tage, während sie zu Franks Eltern zurückwanderten –, wenn er an all das dachte, schlich sich die Wehmut in sein Herz. Nicht einmal so gut wie die Tiere des Dschungels habe ich es, haderte Bomba mit seinem Geschick. Sie leben miteinander und haben immer Gesellschaft. Die Affen sitzen in Horden beieinander, und sie schwatzen den ganzen Tag. Selbst die Wildkatzen, die Jaguare, haben Gefährten. Nur ich muß einsam den Urwald durchstreifen und allein meine Jagdbeute suchen und verzehren. Mein Platz wäre dort, wo auch Frank ist. Ich dürfte in einer dieser wunderbaren Städte sein, von denen er mir erzählt hat. Ich könnte jeden Tag Jungen von meiner Art sehen, mit ihnen lachen und ihnen auf die Schultern klopfen. Gewaltsam riß sich Bomba von diesen trübseligen Gedanken los. Er erhob sich von seiner Raststätte und machte sich zur Weiterreise bereit. Der Himmel hatte sich mit einem durchsichtigen Dunstschleier bezogen. Die Luft schien unbeweglich wie ein Vorhang aus Hitze und Wasserdampf im Dschungel zu hängen. Viel75
leicht waren es diese Vorzeichen des Tropengewitters, die auch Bombas Sinne bedrückten und seinen Gedanken eine so düstere Richtung gegeben hatten. Das leise Grollen des Donners rollte aus der Ferne wie ein unheimlicher, gedämpfter Trommelwirbel herüber. Ein Raunen und Rauschen zog durch die Baumwipfel als Vorbote des Unwetters. Eilig setzte Bomba seine Wanderung fort. Bevor das Gewitter ihn in einen Unterschlupf trieb, wollte er noch eine Wegstrecke hinter sich bringen. Vom nahen Fluß wandte er sich in den höhergelegenen Teil des Dschungels. Er dachte an sein Erlebnis mit Mrs. Parkhurst, Franks Mutter. Als er die Frau von den Indianern befreit und sie zu dem Lager zurückbegleitet hatte, waren sie unterwegs auch von einem Tropengewitter überrascht worden. Eine der gefürchteten, hohen Flutwellen hatte sie nahe beim Fluß überspült. Mit knapper Not hatte Bomba sie beide aus den reißenden Wassermassen befreien können, die der fünf Meter hohen Flutwelle gefolgt waren. Dieses Erlebnis war ihm in unangenehmer Erinnerung geblieben, und er wollte es ungern wiederholen. Als er weit genug vom Fluß entfernt war, eilte Bomba geradeaus weiter. Er übersprang viele Hindernisse, schwang sich auf niedere Äste um Wasserlöcher zu umgehen, und hielt dabei nach einer Höhle oder einem anderen natürlichen Unterschlupf Ausschau. Meist begleitete ein Sturm das Tropengewitter. Dann 76
war es sehr gefährlich, sich im Freien aufzuhalten. Die Castanha-Nüsse fielen zu solchen Zeiten wie übergroße Hagelgeschosse nieder. Bäume stürzten und morsche Äste schlugen zu Boden. Jetzt kam bereits wie eine wilde Jagd die Hauptmacht des Sturmes herangebraust. Ein Pfeifen und Zischen und Stöhnen rundum ließ an die Anwesenheit böser Geister denken. Von unsichtbaren Fäusten niedergedrückt, beugten sich die Kronen mächtiger Urwaldriesen – schnellten hoch und wurden von derselben unheimlichen Kraft wieder zu Boden gedrückt. Laub und dürres Astwerk wirbelte durch die Luft. Mit dumpfem Getöse polterten die ersten Castanha-Nüsse auf die Erde. Mittlerweile hatte sich der Himmel mit einem schwefligen Graugelb überzogen. Ein Kugelblitz rollte durch die fahle Dämmerung. Der Donner brach wie eine Explosion in das Heulen und Sausen des Windes ein. Blindlings kämpfte sich Bomba vorwärts. Noch hatte er keinen Unterschlupf entdeckt. Am Fuße eines Baumes fühlte er sich nicht sicher. Gebeugt arbeitete er sich gegen den Sturm vorwärts. Eine wilde Bö raubte ihm den Atem. Er wollte sich aufrechthalten, aber er wurde plötzlich wie ein Spielzeug rückwärts geschleudert. Gleichzeitig hörte er ein fürchterliches, donnerartiges Krachen. Mit äußerster Anstrengung kam Bomba 77
wieder auf die Beine. Er taumelte vorwärts. Die Helligkeit eines Blitzes blendete ihn. Unwillkürlich legte er die Hand vor die Augen. Wieder ergriff ihn die Sturmbö, als wäre er nichts als ein Blatt. Zugleich traf ihn etwas und schleuderte ihn weiter. Der Aufruhr der Hölle schien seine Ohren zu zerreißen. Dann meinte er – leicht wie eine Feder – durch die Luft zu fliegen. Das letzte, was er empfand, war ein harter Aufprall. Dann verlor er das Bewußtsein.
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10 In höchster Gefahr Er erwachte, ohne zuerst einen Begriff von Raum und Zeit zu haben. Das erste, was er spürte, war der Regen. Irgendwo lag er auf dem Rücken. Ein Gewirr von Zweigen war über ihm, und der Regen fiel pausenlos mit einem schweren, rauschenden Geräusch. Die Nässe in seinem Gesicht und an seinem Körper brachten den Jungen allmählich wieder voll zum Bewußtsein. Er erkannte jetzt, daß ihn ein stürzender Baum in eine Bodenvertiefung gefegt hatte. Als er sich aufrichten wollte, meinte er, alle seine Glieder hätten ihre Bewegungsfähigkeit verloren. Der rechte Arm schien abgestorben zu sein. Er lag verklemmt unter seinem Rücken, und Bomba fürchtete, daß er gebrochen war. Wieder versuchte der Junge sich zu erheben. Die Last von Zweigen über ihm gab nicht nach. Die Muskeln waren schlaff und gefühllos. Unablässig tropfte die Nässe durch das Blätterdach auf sein Gesicht. Von weither vernahm Bomba das Rauschen des angeschwollenen Flusses. Jetzt war die Zeit, da sich die versumpften Wasserlöcher bis zum Rande füllten. Überall entstanden im Dschungel kleine Weiher, die dann in der Hitze schnell wieder austrockneten. 79
Noch erkannte er nicht die Gefahr, die ihn bedrohte. Vorerst ängstigte ihn nur die Gefühllosigkeit seiner Glieder. Auch auf seiner Brust lag ein Druck. Jeder Atemzug bereitete ihm Schmerzen. Mühselig brachte Bomba es fertig, den rechten Arm zu bewegen. Zentimeter um Zentimeter zog er ihn hervor. Er brauchte einige Minuten, ehe er den Arm frei hatte. Die Finger fühlten sich wie tot an. Erst allmählich kehrte das Blut in Arm und Hand zurück. Langsam bewegte Bomba die Finger, und er verspürte ein schmerzhaftes Prickeln. Jetzt mußte er daran denken, sich aus seinem Astgefängnis zu befreien. Die Machete war schwer zu erreichen. Wieder mußte er in langsamer, schwieriger Arbeit die Finger bis zum Griff des Buschmessers bringen. Ein scharfer Schreck durchfuhr ihn, als die Hand plötzlich an seiner Hüfte in Wasser griff. Unwillkürlich wollte Bomba aufspringen. Die starken Zweige belehrten ihn aber, daß er ihr Gefangener war. Mit einem Schmerzlaut sank er zurück. Während sich Bomba nur um seinen Körper gekümmert hatte, war das Wasser überall im Dschungel gestiegen. Trockene Gräben belebten sich wie Bäche, und auch das Loch, in welchem er lag, begann sich mit schlammigem Regenwasser zu füllen. Bomba fühlte jetzt, daß sein Rücken bereits im Wasser lag. Wenn er den Kopf zurücklegte, spürte er die Feuchtigkeit im 80
Nacken. Das war eine scheußliche Situation! Endlich gelang es ihm, seine Machete zu erreichen. Nun mußte er versuchen, sich zu befreien. Wenn ihm das nicht in kurzer Zeit glückte, würde er in diesem Loch ertrinken wie eine Ratte. Während er einen Ast abzuhacken begann, stellte sich Bomba vor, wie das Wasser stieg und stieg und allmählich seinen Mund und seine Nase erreichte. Es war etwas anderes, stehend zu kämpfen und vielleicht zu sterben, als in einem Sumpfloch zu ersaufen. Die ganze Zeit über mußte er den Kopf in ermüdender Anstrengung aufrechthalten. Die Muskeln im Nakken schmerzten schon. Wenn er jedoch ermattet den Kopf zurücksinken ließ, gurgelte ihm schon das Wasser um die Ohren. Schaudernd richtete Bomba sich wieder auf und arbeitete weiter mit der freien Hand. Lange dauerte es, ehe er den ersten Ast losgehackt hatte. Seine Bewegungen waren gehemmt und schwächlich durch seine unbequeme Lage. Endlich platschte der Zweig ins Wasser, und dieses Geräusch brachte Bomba seine furchtbare Lage erneut zum Bewußtsein. Seine Beine und sein Rücken lagen jetzt vollkommen im Wasser. Noch immer fiel der Regen mit gleichbleibender Stärke. Wohin er auch lauschte – überall war das Geräusch von fallenden Tropfen zu hören. Überall Wasser – sickerndes, steigendes, plätscherndes, glucksendes Regenwasser. Wie ein gefangenes Tier machte der Junge hin und 81
wieder einen verzweifelten Versuch, sich aus dem Gefängnis der Äste zu befreien. Vergeblich! Nur noch matter sank er zurück, und das Wasser gluckste in seinen Ohren. Die Schultern waren überspült. Wenn er den Blick zur Seite wandte, sah er den schlammigen Wasserspiegel fast in Augenhöhe. In wütendem Eifer hieb Bomba auf die Äste ein. Der Druck auf der Brust war nicht mehr so schwer. Er vermochte freier zu atmen. Das Wasser jedoch arbeitete in stiller Emsigkeit, um seinen Körper ganz mit einem schlammigen, gleitenden Überzug zu umhüllen. Es war jetzt so weit, daß Bomba den Kopf nicht mehr zurücklegen durfte. Keine Sekunde der Ruhe gab es für ihn! Die Umschließung des Wassers kühlte seinen Körper aus. Er zitterte. Dabei machte sein rechter Arm mechanisch die schlagenden, hackenden Bewegungen. Hin und wieder fiel ein Ast ins Wasser. Aber die Bewegungsfreiheit reichte noch nicht dazu aus, den Oberkörper aufzurichten. Sollte er schreien? Wen sollte sein Hilferuf erreichen? Er war allein. Er war nur auf seine eigene Kraft angewiesen! Noch niemals hatte Bomba seine Einsamkeit so deutlich empfunden wie in dieser entsetzlichen Lage. Kein Mensch würde ihm bei seinem Todeskampf hilfreich beispringen können. In wenigen Minuten würde es so weit sein. Dann drang das Wasser gurgelnd in 82
Nase und Mund. Noch eine Minute konnte er vielleicht den Atem anhalten. Die Adern an der Stirn schwollen an – die Lungen wollten frische Luft! Und dann … Wild schlug der freie Arm noch einmal um sich. Stille! Nein! Nein! Er wollte leben! Er wollte nicht auf diese sinnlose Weise sterben. Von einem unbesiegbaren Willen angepeitscht, machte der Arm seine Bewegungen. Das Holz splitterte. Die Späne flogen. Bomba hatte das Gefühl, daß die Brust jetzt frei war. Vielleicht gelang es ihm, sich aufzurichten. Er nahm alle Kraft zusammen. Das Blut rauschte in seinen Schläfen. Alle Muskeln waren zum Zerreißen angespannt. Die Anstrengung war zu stark gewesen. Keuchend sank Bomba zurück. Das war der Sieg des Wassers. Mit einem gierig saugenden Geräusch schloß es sich über seinem Gesicht. Nur dünne Blasen auf der dunklen Oberfläche verrieten die Stelle, wo Bombas Mund war.
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11 Wütende Feinde Ruckartig tauchte Bombas Gesicht wie eine geisterhafte Maske wieder über den Wasserspiegel empor. Noch hatte ihn der Tod nicht in den Klauen! Nicht viel mehr als Mund, Nase, Augen und ein Teil der Stirn ragte jetzt noch aus dem Wasser. Die Hand des Jungen griff nach einem dicken Ast, der über ihm hing. Es sollte der letzte Versuch sein, dem Tod sein Leben abzujagen! Die Muskeln spannten sich. Breit dehnte sich der Brustkorb, als wollte er die Rippen sprengen. Ein Keuchen – ein Knacken im Gezweig – frei! Mit einem Laut, der wie ein enttäuschtes Zischen klang, gurgelte das Wasser zurück, als der Oberkörper des Jungen sich aus der Umschließung des Sumpfwassers hob. Noch waren die Schultern eingeklemmt, und auf seine Stirn drückte ein Zweig. Doch jetzt konnte er beide Arme gebrauchen, und der Wasserspiegel reichte nur bis zur Brust. Nur? Jetzt war Bomba dankbar für den Aufschub, den er erhalten hatte. Zu anderen Zeiten wäre ihm auch die augenblickliche Lage alles andere als rosig erschienen. Noch stieg das Wasser, und er mußte weiterkämpfen, um sich ganz zu befreien. 84
Neue Sorgen verdrängten die alten. Kaum war die unmittelbare Todesgefahr vorüber, als sich Bomba unruhig fragte, ob seine Beine ernstlich verletzt waren. Er betastete den Körper, soweit es ihm möglich war. Von den Oberschenkeln an hatte er kein Gefühl in den Beinen. Sie konnten zerquetscht oder gebrochen sein. Noch wußte er es nicht. Einige Minuten gönnte er sich Rast. Dabei konnte er beobachten, wie das Wasser – unerbittlich wie das Schicksal – seinen Weg nahm. Jetzt hatte es den Hals schon wieder erreicht. Noch fiel der Regen. Das Grollen des Donners klang allerdings nur noch schwach aus der Ferne herüber. Mit neuer Kraft arbeitete Bomba weiter. Zweig um Zweig fiel der Machete zum Opfer. Die rechte Seite war jetzt frei. Zum Glück hatte ihn nur der Wipfel des fallenden Baumes gestreift. Die Äste hatten nicht die Kraft gehabt, ihm ernsthafte Verletzungen zuzufügen. Jedenfalls fühlten sich die Beine, als er sie vorsichtig abtastete, unversehrt an. Die untere Körperpartie war allerdings vollkommen abgestorben. Als Bomba so weit war, daß er sich ungehindert hätte erheben können, versagten die Beine den Dienst. Mit den Händen zog er sich aus der Grube empor. Dann stützte er sich auf die Knie, und so kroch er hilflos wie ein Käfer von dem Loch fort, in dem er beinahe den Tod gefunden hätte. Im Sitzen massierte er seine abgestorbenen Beine. 85
Er fühlte, wie das Blut in die Adern zurückkehrte, bis es in den Zehenspitzen vorn zu kribbeln begann. Das war ein Zeichen dafür, daß die Beine wieder durchblutet waren. Der Sturm war vorüber. So schnell, wie er den Dschungel überfallen hatte, war er auch weitergezogen. Sonnenstrahlen trafen auf funkelnde Tropfen. Die Luft war frisch und von balsamischen Düften erfüllt. Wenn ein Vogel aus dem Geäst hochflog, sprühten Tropfen auf und fielen nieder mit einem leisen, melodischen Geräusch. In das Gefühl der Dankbarkeit mischten sich Unruhe und Ungeduld. Zwar war Bomba nun dem Tod entronnen, aber er hatte wertvolle Zeit verloren. Vorerst waren seine Beine noch so schwach, daß er nicht allzu schnell vorankam. Überall waren Schrammen und Risse auf der Haut. Wenn er begonnen hätte, die Verletzungen zu verbinden, wäre er heute kaum noch weitergekommen. Eine neue, schmerzliche Entdeckung stand ihm bevor. Der Bogen und die Pfeile waren fort! Er ging zum Wasserloch zurück und stocherte mit einem Zweig darin herum, ohne etwas zu entdecken. So weit er auch im Kreise umhersuchte – es war nichts zu finden. Der Sturm mußte die leichten Geräte weit fortgetragen haben. Vielleicht hing der Bogen irgendwo auf einem Baum. Oder er war zerbrochen und unbrauchbar geworden. 86
Ein Unglück kommt selten allein. Nicht nur sein Revolver, auch sein Bogen war verloren. Nun besaß er zur Verteidigung und zur Jagd nur noch die Machete. Wie lange würde ihm diese einzige Waffe noch bleiben? Aber alles Schimpfen und Jammern half jetzt nichts! Er mußte das Beste aus der Lage machen. Vielleicht traf er unterwegs auf freundliche Indianer, die ihm für Wildschweinfleisch einen Bogen und einige Pfeile eintauschten. Sollte ihm das nicht glücken, mußte er nach geeignetem Material suchen, um einen neuen Bogen anzufertigen und Pfeile zu schnitzen. Bevor Bomba weiterwanderte, stärkte er sich mit einem Stück durchnäßten Rauchfleisch. Er fühlte sich kräftiger und nahm die Verfolgung der Kopfjäger wieder auf. Nach einer Stunde etwa mußte er von neuem rasten. Die Wunden und Schrammen an den Beinen schmerzten sehr. Er konnte das Tempo nicht durchhalten. Trübe Gedanken wollten ihm den Sinn verdüstern. Immer wieder mußte er an den Verlust seiner Waffen denken. Wenn auch für den Nahkampf die Machete unersetzlich war, so gab es doch genug Gelegenheiten, bei denen ihm der Revolver oder der Bogen bessere Dienste geleistet hätten. Es schien Bomba so, als wäre er seit dem Aufbruch von Pipinas Hütte vom Unglück verfolgt. Die abergläubischen Wilden hätten dies der Ungnade der Götter 87
zugeschrieben. Sie hätten gemeint, daß die Götter ihrem Unternehmen nicht wohlgesinnt wären und hätten sich sofort zur Umkehr entschlossen. Nicht so Bomba! Für ihn waren Hindernisse dazu da, überwunden zu werden. Er setzte seinen Weg fort und verbiß sich die Schmerzen. Kam er auch nicht allzu schnell voran, so hatte er doch den Trost, daß auch die Kopfjäger irgendwo von dem Unwetter überrascht worden waren und rasten mußten. Als Bomba eine Lichtung erreichte, freute er sich, daß er jetzt schneller vorankam. Er trat ins Freie und prallte im nächsten Augenblick erschrocken zurück. Ein großes Rudel Pekkaris, der angriffslustigen Wildschweine, graste vor ihm im hellen Licht der Tropensonne. Bei dem Anblick der dunkelhaarigen Tiere mußte Bomba an die Leichen zweier Eingeborener denken, die er einmal – von Wildschweinen niedergetrampelt und getötet – im Busch entdeckt hatte. Diese Lehre hatte ihm genügt. Normalerweise hätten ihn seine Beine sehr schnell aus der Gefahrenzone getragen. Ehe die Tiere noch seine Witterung aufgenommen hätten, wäre er weit fort gewesen. Diesmal konnte er sich nicht auf seine Beine verlassen. Es war auch schon zu spät. Beim Rückwärtsschleichen machte Bomba ein leichtes Geräusch mit einem zerknickenden, dürren Zweig, und das Pekkari, das ihm am nächsten stand, hob den häßlichen, 88
stumpfnasigen Kopf. Sobald das Wildschwein den Menschen sah, wandte es sich mit drohend gesenkten Hauern in seine Richtung und stürmte mit einem wütenden Grunzen vorwärts. Das Rudel folgte sofort. Es blieb nur noch die Flucht nach oben. Bomba sprang zurück, ergriff den nächstbesten Ast und schwang sich hoch. Er kletterte vorsichtshalber noch höher. Dabei spürte er, wie der Baum vom Ansturm der Pekkaris erschüttert wurde. In ihrem wütenden Eifer, ihn zu jagen, waren die Wildschweine blindlings gegen den Baum geprallt. Sie gaben auch jetzt die Jagd noch nicht auf. Im Kreis rannten sie um den Baum herum. Ihre Hauer durchwühlten den Boden, als wollten sie den Baum entwurzeln. Sie stolperten übereinander vor Eifer und Gier. Es war ein Glück, daß die Pekkaris nicht zu klettern verstanden wie Jaguare oder Affen. Jetzt wirkte ihre Wut nur komisch. Den starken Stamm konnten sie unmöglich entwurzeln. Aber die Wildschweine raubten ihm kostbare Zeit. Eine Stunde verging und eine zweite. Noch immer trieben sie sich in der Nähe seines Zufluchtsortes herum. Bomba dachte mit Schrecken daran, daß diese Belagerung tagelang dauern konnte. Was geschah inzwischen mit den Gefangenen Nascanoras? Der Gedanke verstärkte seine Ungeduld. Er blickte hinab und verhielt sich ganz ruhig. Die Taktik erwies sich auch als richtig. Die Wut der Pekkaris ließ allmäh89
lich nach. Bald wußten sie nicht mehr, weshalb sie sich so erregt hatten. Die Nahrungssuche fesselte ihre Aufmerksamkeit. Eines nach dem anderen entfernte sich in den Dschungel. Nur noch das Grunzen im Unterholz verriet ihre Nähe. Endlich war es still, und Bomba glitt geräuschlos vom Baum herab. Als er den untersten Ast erreichte, hielt er reglos an. Er sah nichts, aber er wußte es. Augen beobachteten ihn.
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12 Die Jaguare greifen an Bomba preßte sich dicht gegen den Ast. Er wagte keine Bewegung, um den Feind nicht aus seinem Versteck zu locken. Nicht umsonst hatte Bomba sein Leben im Dschungel verbracht. Sein Geruchssinn war so gut entwickelt, daß er nur einige Male prüfend die Luft durch die Nase einzuatmen brauchte, um seine Gegner zu erkennen. Es waren Jaguare! Die gefürchteten Raubkatzen des Dschungels belauerten ihn. Sie liebten es, paarweise zu jagen. Er selbst war nahezu hilflos. Nur mit einer Machete ausgerüstet, hatte er keine Chance, den geschickten und klettersüchtigen Raubtieren zu entgehen. Aus dem Gebüsch schräg unter ihm ertönte ein leises Rascheln. Was tun? Wohin sollte er sich wenden? Wenn er jetzt die schlanke Rundung eines Bogens oder den Schaft seines Revolvers zwischen den Fingern fühlen würde – wie stark und unangreifbar wäre er gewesen! Das Geräusch wurde deutlicher. Gelbbraunes Fell schimmerte aus dem Grün der Gräser. Die Jaguare schienen seine Hilflosigkeit zu ahnen. Bomba sah jetzt zwei Köpfe, die sich aufrichteten und zu ihm hinüberstarrten. Die Raubtierlichter waren unbeirrbar und mit 91
bösem Lauern auf ihn gerichtet. Da ein Versteckspielen jetzt keinen Sinn mehr hatte, richtete sich Bomba auf und kletterte in aller Eile höher in den Baum. Es gab nur die Möglichkeit, daß er weit auf einen schlanken Ast hinauskletterte. Dann wagten es vielleicht die vierfüßigen Räuber nicht, ihm zu folgen. Doch das war nur eine geringe Hoffnung. In der Verfolgung ihrer Jagdbeute waren die Jaguare im allgemeinen erbarmungslos. Trotzdem mußte Bomba den Versuch wagen. Höher und höher schwang er sich die Äste hinauf. Er suchte nach einem geeigneten Zweig, der sein eigenes Gewicht noch tragen würde, aber zu dünn wäre, um den Jaguaren die Verfolgung zu erlauben. Seine Bewegungen hatten die beiden Raubkatzen aus ihrem Versteck hervorgelockt. Sie brachen aus der Deckung, sprangen am Stamm empor und erklommen die Äste tiefer unter ihm. Mit dem Messer zwischen den Zähnen kletterte Bomba flink und leicht wie ein Affe empor. Unter seinen Füßen hörte er das Rascheln im Laub. Einer der Jaguare war ihm schon gefährlich nahe gekommen. Ziemlich hoch im Wipfel des Baumes entdeckte Bomba einen Ast, der ihm für seine Zwecke geeignet erschien. Vorsichtig kroch der Junge hinaus. Unter seiner Körperlast senkte sich der Zweig bedrohlich abwärts. Ein Grollen in nächster Nähe ließ ihn erschreckt umschauen. 92
Beinahe hätte er das Gleichgewicht verloren. Hinter ihm war nichts zu sehen. Er versuchte das Laubgewirr unter sich mit den Augen zu durchdringen. Nur eine schwache Bewegung verriet die Nähe des Jaguars. Er kauerte auf dem Ast unter ihm, und seine Augen glühten. Dann verschwand der Raubtierkopf. Dafür hörte Bomba den zweiten Jaguar, der im Jagdeifer jede Vorsicht vergaß und hastig und geräuschvoll durch das Geäst nach oben brach. Plötzlich beugte sich der Ast, auf dem Bomba lag, noch tiefer hinab, und es knackte bedrohlich. Bomba blickte zurück und sah, wie der erste Jaguar behutsam prüfend eine Pranke auf den Ast setzte. Bombas Herz hämmerte wild gegen die Rippen. Würde der Jaguar es wagen, den Zweig zu betreten? Im Kampf mußte Bomba unterliegen. Sollte es ihm auch gelingen, einen der Jaguare zu erlegen: der zweite würde den Gefährten rächen und ihn mit doppelter Wildheit angreifen. Vorerst gab der Jaguar den direkten Angriff auf. Der Ast erschien ihm zu gebrechlich, und er kletterte zurück. Der Angriff von unten war leichter für die Katze. Sie kroch auf einen dicken Ast hinaus, der sich genau unterhalb von Bomba befand. Von hier aus war der Junge in der Reichweite der Raubtierpranken. Da war auch schon der zähnefletschende Rachen! Der Schweif peitschte das Laubwerk. Was für ein 93
schönes Ziel wäre der Jaguar für eine gute Waffe gewesen! Noch einmal dachte Bomba grimmig und verzweifelt an seinen Bogen und an den Revolver. Dann suchte er mit den Füßen festen Halt auf dem Zweig und nahm die Machete in die Rechte. Noch weiter kroch der Jaguar auf den Ast hinaus. Die Ohren hatte er flach an den Kopf gepreßt. Das gab dem Raubtierkopf einen furchterregenden Ausdruck von Wildheit und Angriffslust. Mit einem Schrei hoffte der Junge das Raubtier zu erschrecken. Aber nur ein verächtliches Fauchen war die Antwort. Der Jaguar hob die Pranke zu einem verderblichen Hieb. Die Machete kam dem Schlag auf halbem Wege in blitzschneller Bewegung entgegen. Vor Wut und Schmerz heulte der Jaguar auf. Er achtete nicht auf die Wunde an der Pfote. Mit dunklem Grollen duckte er sich zum Sprung zusammen. Kein Zweifel, daß er Bomba erreichen würde! Doch dann geschah etwas, das wirklich nur als ein Wunder bezeichnet werden konnte. Der Körper der Bestie schnellte plötzlich in die Luft! Aber nicht die eigene Muskelkraft hatte dem Leib diesen Antrieb gegeben. Wild schlug der Jaguar mit den Pranken um sich und suchte nach einem Halt. Doch der schwere Körper brach durch das Gezweig und schlug dumpf auf den Boden. Der Jubelruf, der in dem gleichen Augenblick ertönte, verriet Bomba, daß ein Pfeilschuß den Jaguar vom 94
Baum gerissen hatte. „Hilfe in höchster Not!“ murmelte der Junge. Er beugte sich weit auf dem Ast vor und hätte beinahe seine Machete fallen lassen. Noch konnte er seine Retter nicht erkennen. Er sah nur, wie zwei dunkelhäutige Männer sich über den toten Jaguar beugten. Zugleich vernahm Bomba das leise Grollen des zweiten Jaguars. Der Gefährte der getöteten Bestie wandte sich den neuen Feinden zu. Bomba sah den Leib auf einem Ast nicht sehr hoch über den beiden Männern. Die Katze kauerte sich zum Sprung zusammen. „Zurück!“ schrie Bomba in der Eingeborenensprache. „Weg vom Baum!“ Die Männer reagierten sofort – und nicht eine Sekunde zu früh! Keine drei Meter von Bombas Rettern entfernt landete die Raubkatze mit federndem Aufprall. Sofort duckte sie sich zu einem neuen Sprung. Ehe sie sich jedoch abschnellen konnte, schwirrten zwei Pfeile durch die Luft. Einer verfehlte sein Ziel, doch der andere drang dem Jaguar mitten in das Auge und durchbohrte das Gehirn. Jäh schnellte sich der Körper in die Luft. Dann fiel er schlaff zu Boden. Die Pranken machten greifende Bewegungen und streckten sich. Ein Räuber des Dschungels hatte sein Ende gefunden. Noch wurde Bomba seiner plötzlichen Rettung nicht ganz froh. Wer waren seine Befreier? Nicht ausge95
schlossen, daß es sich um Kopfjäger handelte. Dann war er vom Regen in die Traufe geraten. Da hörte er die Stimmen der Männer deutlicher, und er erkannte sie! Es waren Ashati und Neram, die ehemaligen Sklaven Jojastas, des schrecklichen Medizinmannes vom ,Laufenden Berg’.
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13 Der wahnsinnige Affe Ashati und Neram fielen vor Bomba auf die Knie, als dieser vom Baum herabgestiegen war. Sie umklammerten seine Beine und beugten ihre dunkelhaarigen Köpfe. Neram ergriff einen Fuß des Jungen und setzte ihn sich auf den Nacken – als Zeichen seiner vollkommenen Unterwerfung unter den Willen Bombas. Bomba beugte sich nieder und richtete die beiden auf. Er war voller Dankbarkeit und Freude. Die Beweise der Zuneigung und Unterwürfigkeit rührten ihn. Soeben hatten die Indianer sein Leben gerettet. Aber sie zeigten sich nicht stolz, sondern nur dienstbereit und voller Freude, ihren Herrn gefunden zu haben. „Ihr habt mein Leben gerettet“, sagte Bomba bewegt. „Jetzt wäre ich schon eine Beute der Jaguare, wenn ihr nicht gekommen wäret! Diese Tat werde ich euch nie vergessen!“ Ashati, der intelligentere der beiden, machte sich zum Sprecher. Er beugte sich tief hinab und sagte dann sanft: „Ashati und Neram wären nur noch Skelette – im Herzen des ,Laufenden Berges’ begraben, und ihre Geister würden hilflos und unerlöst dahinirren! Du hast uns vom Tode errettet und vom grausamen Joch Joja97
stas befreit! Dir gehört unser Leben! Keinen Herrn außer Bomba erkennen Ashati und Neram an! Sie wollen dir überallhin folgen und dir gehören!“ Bomba nickte. „Es ist gut! Ihr geht mit mir, wenn das euer Wille ist! Doch nur als meine Freunde, nicht als Sklaven! Was ich euch bieten kann, ist meine Freundschaft! Nichts als das!“ Nach Bombas Worten zeigten die beiden Indianer ihre überschwengliche Freude. Sie konnten sich nicht genugtun in Dankesbezeigungen. Erst als Bomba ihre Worte mit einer schlichten Handbewegung abwehrte, wurden sie ruhiger. Sie besannen sich auf ihre Pflichten und begannen, einen der toten Jaguare abzuhäuten. Bei der Arbeit berichteten die Eingeborenen die wichtigsten Neuigkeiten von ihrer Wanderung. Neram schleppte Feuerholz herbei, und Ashati schnitt das beste Fleischstück des Jaguars zum Braten heraus. Dabei erzählte er. Auch sie hatten die beiden Banden Nascanoras und seines Halbbruders Tocarora gesichtet. Sie bestätigten Cassons Botschaft auf der Hüttenwand. Die Kopfjäger bewegten sich in der Richtung des ,Großen Wasserfalles’ vorwärts. Zwei Tage waren seit der Begegnung erst vergangen. Ashati und Neram hatten aus ihrem Versteck heraus beobachtet, daß die Wilden eine Anzahl Gefangener mit sich führten. Bomba beugte sich begierig vor, während Ashati dies erwähnte. 98
„War ein weißer Mann bei den Gefangenen?“ fragte der Junge. Ohne sich zu besinnen, nickte Ashati. „Ein alter Mann wurde mitgeführt. Er war sehr mager und hatte Haare wie Silber.“ Wenn das auch keine Freudenbotschaft war, so schlug doch Bombas Herz schneller vor freudiger Erregung. Sein alter Gefährte Casson lebte. Das war im Augenblick die Hauptsache. Seine Jagd auf die Kopfjäger hatte noch einen Sinn. Er war sehr froh darüber. „Wirst du die Stelle wiederfinden, wo ihr den Kopfjägern begegnet seid?“ fragte der Junge. „Kannst du uns dorthin zurückführen und uns in der Richtung weiterleiten, in der die Kopfjäger gezogen sind?“ Ashati bejahte. „Sie werden schon weit gegangen sein“, gab er dann zu bedenken. „Ihr Schritt war schnell. Sie schienen sich vor einer Verfolgung zu fürchten. Die Nachhut war ständig auf der Lauer.“ Bombas Ungeduld wuchs bei dieser Mitteilung. Über einem mächtigen Feuer brieten sie rasch das Fleisch und teilten es in gleiche Teile. Was ihnen die Zukunft auch bringen würde – Hunger brauchten sie jedenfalls nicht zu leiden. Dann brachen sie auf. Unterwegs berichtete Bomba von seinen eigenen Erlebnissen seit dem Verlassen von Pipinas Hütte. Dabei erzählte er auch, auf welche Weise ihm Pfeile und Bogen verlorengegangen waren. As99
hati blickte ihn erschrocken an. Bis jetzt hatte er nicht bemerkt, daß Bomba diese wichtige Waffe fehlte. Er löste seinen eigenen Bogen von der Schulter und bestand darauf, daß Bomba ihn nahm. Dabei beteuerte er, daß er sehr gut mit seinem Jagdmesser als Waffe zurechtkäme. Außerdem versprach er, sich bei der nächsten größeren Rast einen neuen Bogen herzustellen. Bomba zögerte. Wer sich im Urwald seiner Waffe beraubte, gab sich schon halb dem Tode preis. Es war ein Freundschaftsbeweis, der gefährliche Folgen haben konnte und der deshalb um so höher zu bewerten war. Der Junge sah am Gesichtsausdruck Ashatis, daß er das Geschenk nicht zurückweisen konnte, ohne den Indianer zu kränken. Also nahm er mit vielen Dankesworten die Waffe entgegen. „Es war ein Pfeil aus diesem Bogen, der den Jaguar mitten ins Herz traf“, sagte Ashati stolz. „Mit dieser Waffe wird Bomba viel Glück haben!“ Der Junge lächelte und schüttelte den Kopf. „Ich muß noch an das Wunder denken, daß ihr zur rechten Zeit gekommen seid! Ihr habt mir noch nicht berichtet, welcher Zufall euch hierher geführt hat.“ Ashati machte eine feierliche Geste. „Kein Zufall!“ sagte er. „Die Götter haben unsere Schritte gelenkt. Tag und Nacht haben wir Bomba gesucht. Wir waren sehr traurig, als Bomba uns damals am ,Laufenden Berg’ fortschickte, und wir beschlossen, ihm zu folgen. Du hast unser Leben gerettet, 100
Bomba, und dir gehört es! Im Dschungel fanden wir dann Bombas Fährte. Bomba hat eine besondere Art, Fleisch über dem Feuer zu braten. Wir fanden die geschnitzten Stäbchen und wußten, daß sie nur von Bomba stammen konnten. Und es war nicht schwer, der Fährte weiter zu folgen.“ Von neuem machte Ashati eine feierliche Geste. „Ist es nicht die Hand der Götter gewesen, die uns geführt hat? Wir kamen und sahen, wie der Jaguar die Pranke erhoben hatte! Wir sahen, wie er zum Sprung ansetzte! Ashati rief die Götter an, daß der Pfeil seine gerade Bahn nicht verlassen möge! Sein Ruf wurde gehört!“ Die Dämmerung überfiel die Wandernden schnell. In seiner Ungeduld wollte Bomba den Tagesmarsch noch nicht abbrechen. Er war körperlich erschöpft, aber er wäre am liebsten noch stundenlang gelaufen. An einer günstigen Stelle lagerten die drei. Feuerholz für die Nacht wurde herbeigeschleppt und die Abendmahlzeit verzehrt. Die Nacht hindurch unterhielten die Dschungelwanderer ein großes Feuer, um die Raubtiere abzuschrecken. Nichts störte sie in ihrer Nachtruhe. Wenn einer der drei erwachte, warf er neue Zweige auf das Feuer, und so kam der Morgen ohne Zwischenfälle. Beim ersten Grau der Dämmerung weckte Bomba seine Gefährten. Sie waren noch nicht ausgeschlafen, aber sie folgten willig. Die Jahre der Sklaverei und der 101
Gefangenschaft bei Jojasta hatten ihre Körper ausgemergelt. Nicht so schnell wie der gesunde, kräftige Bomba vermochten sie die Müdigkeit aus den Gliedern zu schütteln. Doch Bomba war zu ungeduldig, um darauf Rücksicht zu nehmen. Er legte den beiden nahe, ihm langsam zu folgen, denn er wollte sie natürlich mit seinem schnellen Marschtempo nicht quälen. Dieses Ansinnen wiesen sie jedoch zurück. Sie wurden eifriger, sobald die erste Müdigkeit überwunden war, und bald brach die kleine Karawane auf. Sogar die Aussicht, mit Nascanora und seinen Kopfjägern zusammenzustoßen, nahm den beiden Eingeborenen nichts von ihrer Bereitwilligkeit. Sie schrieben Bomba anscheinend magische Fähigkeiten zu. Ihre Ehrfurcht äußerte sich in vielen kleinen Zeichen. Das war für den einsamen Bomba ein ständiger Anlaß zur Freude. In seinem Leben hatten ihm bisher Treue und Dienstbereitschaft in dieser Art gefehlt. Von Anfang an legte Bomba ein schnelles Tempo vor, und sie kamen gut voran. Als jedoch die Sonne höher stieg, wurde es Ashati und Neram schwer, dem voraneilenden Schrittmacher zu folgen. Ohne zu murren, versuchten sie sich dem federndschwingenden Schritt des Jungen anzupassen. Da sie nun einmal am Ziel ihrer Wünsche waren und Bomba dienen durften, wollten sie lieber jede Strapaze ertragen, als seine Spur wieder verlieren. 102
Am Nachmittag hielten sie kurze Rast – die erste an diesem Tage. Ein paar gesammelte Schildkröteneier wurden gebraten und dazu schnell einige Bissen Fleisch hinuntergeschlungen. Lästige Zwischenfälle hatte es an diesem Tage nicht gegeben, und Bomba war froh darüber. Nur eine kurze Wegstrecke trennte sie nach Ashatis Meinung noch von der Stelle, an der sich die Pfade der Kopfjäger und der beiden Gefährten Bombas gekreuzt hatten. Sie erreichten den Platz, als die Dämmerung in den Dschungel brach. Nach kurzer Zeit hatte Bomba die Fährte der Kopfjäger gefunden, obwohl sie inzwischen nahezu verwischt worden war. Bomba drängte ungeduldig darauf, daß sie das matte Abendlicht ausnützten, um noch einige Meilen zurückzulegen, und es ging weiter. Der schnelle Tagesmarsch hatte alle drei sehr angestrengt, und sie stolperten müde vorwärts. Die Gegend war Bomba fremd. Hier gab es viele Wassertümpel, die vom letzten Gewitterregen noch angefüllt waren. Manchmal bildeten Baumstämme unsichere und glitschige Brücken über diese sumpfigen Weiher. Einmal stolperte Ashati bei solch einem Übergang, und Bomba riß ihn im letzten Augenblick auf den Stamm zurück. Jetzt wurde es so dunkel, daß auch Bomba die Fährte der Kopfjäger kaum noch zu erkennen vermochte. Als er sich zu Boden beugte, ließ ihn ein plötzlicher 103
dumpfer Aufprall hochfahren. Vor sich, in der Dämmerung, gewahrte er ein behaartes Spukwesen von solcher Häßlichkeit, daß er unwillkürlich einige Schritte rückwärts stolperte. „Ein wahnsinniger Affe“, schrie Neram. Die beiden Eingeborenen ließen sich furchtsam zu Boden fallen. Mit wüstem Geschnatter und mit schäumendem Maul sprang der riesige Affe auf Bomba und die beiden Eingeborenen zu. Das abergläubische Entsetzen der beiden Gefährten lähmte auch die Entschlußkraft des Jungen einen Augenblick. Nur wenige Sekunden dauerte die Starre. Dann sprang Bomba zurück und legte einen Pfeil auf die Bogensehne.
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14 Vom Feind belagert Bomba zog die Sehne weit zurück, aber er zauderte noch. Die Affen waren seine Freunde. Oft hatten sie ihm geholfen. Sie hatten ihm Beistand geleistet gegen zweibeinige Feinde, die doch weit mehr Ähnlichkeit mit ihm besaßen als die fellbehaarten Baumbewohner. Bomba mußte daran denken, wie die Affen damals auf seinen Hilferuf hin herbeigeeilt waren, als Nascanora und seine Krieger die Hütte angegriffen hatten. Ihnen hatte er es zu verdanken, daß er damals nicht bei lebendigem Leibe in dem Blockhaus zusammen mit Casson verbrannt war. Während er mit gespannter Sehne dastand, versuchte der Junge das Tier in der Affensprache anzureden. Er sagte, daß er kein Feind wäre und unterstrich die Worte mit Gesten der Freundlichkeit. Doch in den Augen des Affen glühte das Feuer des Wahnsinns. Das Tier mißverstand die Gesten. Es trommelte gegen seine Brust, stieß einen schrillen Schrei aus und sprang vorwärts, um den Jungen zu packen. Ashati und Neram ließen ängstliche Warnrufe hören. Als sie sahen, daß ihr junger Anführer in Gefahr war, bezwangen sie ihre Furcht und sprangen auf, um zu helfen. 105
Der Pfeil schwirrte. Doch der Affe hatte eine so schnelle Bewegung gemacht, daß ihn der Pfeil nur an der Hüfte traf. Mit einem Schmerzgeheul riß das Untier den Pfeil aus der Wunde. Er drehte das Geschoß herum und schwang die blutige Spitze drohend als Waffe gegen Bomba. Rascher als sein wahnsinniger Gegner sprang Bomba zur Seite. Die Hand glitt zur Machete. Ein Hieb traf den Arm des Affen. Das Blut spritzte bis in sein wutverzerrtes Gesicht hinauf, und der Pfeil fiel zu Boden. Unvermittelt überfiel den wahnsinnigen Affen panische Angst. Mit dem unverletzten Arm ergriff er den nächstbesten Ast und schwang sich in die Bäume hinauf. Sein unheimliches Geheul wurde leiser und erstarb schließlich ganz. Ashati und Neram standen unbeweglich da und starrten in das Zwielicht zwischen den Bäumen. Die Angst zeichnete sich deutlich in ihren Zügen ab. Sie sagten nichts und blickten einander wortlos an. Als Bomba schließlich die ersten Worte sprach, kam ihm seine eigene Stimme hohl und unheimlich vor. „Ein wahnsinniger Affe! Ihr hattet recht. Wir wollen hoffen, daß er allein war.“ Ashati machte eine aufgeregte Geste. „Herr! Wir müssen fliehen, sonst sind wir verloren“, stammelte er. „Ein wahnsinniger Affe braucht nur einen anderen zu beißen, und der wird auch wahnsinnig. Die bösen Geister befallen leicht eine ganze Herde. 106
Wir müssen fliehen, Herr! Der Urwald ist voll von bösen Dämonen!“ „Und wir werden selbst von den bösen Dämonen gepackt werden“, fügte Neram furchtsam hinzu. „Ein Biß genügt, und die bösen Geister sitzen uns auch im Leibe!“ In den abergläubischen Worten lag ein Kern von Wahrheit, das wußte Bomba. Von Zeit zu Zeit übertrug ein von Schlangen gebissener Affe eine Art Tollwut auf seine Artgenossen. Es war auch möglich, daß Menschen von dieser schrecklichen Seuche befallen wurden, wenn sie mit den kranken Tieren in Berührung kamen. In Zeiten, in denen die Tollwut unter den Affen hauste, waren sie die gefürchtetsten Urwaldbewohner. „Fort von hier also!“ befahl Bomba. „Wir müssen ein Obdach finden oder die verlassene Hütte eines Cabocio! Im Freien können wir die Nacht nicht verbringen!“ „Fort! Ja, fort!“ stimmten Ashati und Neram eifrig und voller Angst zu. „Wenn wir bleiben, wird der verletzte Affe zurückkehren, um Rache zu nehmen!“ „In der Dunkelheit werden sie uns nicht so schnell entdecken“, flüsterte Neram. „Weiter!“ zischte Bomba. „Kein Geräusch!“ Er eilte voran, und die beiden folgten ihm. Schon nach einer kurzen Wegstrecke vernahmen sie lebhaftes Geschnatter in den Zweigen zu ihren Häuptern. Undeutlich waren zwei große Affen zu erkennen. Sie schnatterten und grinsten mit schrecklichen Fratzen auf 107
die Dschungelwanderer hinab. Wirklich – sie glichen mehr schielenden Dämonen als friedlichen Urwaldbewohnern. Rasch eilten die drei weiter. Eine Castanha-Nuß traf Ashati nach wenigen Schritten so hart an der Schulter, daß er zu Boden stürzte. Bomba richtete den Gestürzten auf und zerrte ihn weiter. Gerade im richtigen Augenblick! Ein Hagel von Nüssen trommelte auf den Boden hinter ihnen. Schrill tremolierende Laute waren zu hören, die durch Mark und Bein gingen. Ein heiseres, wahnsinniges Lachen ertönte und wimmerndes Stöhnen. Als Bomba den getroffenen Ashati weiterzerrte, fühlte er, wie dessen Hand zitterte. Neram atmete schwer. Offensichtlich waren die beiden selbst dem Wahnsinn nahe, und sogar Bomba wurde von der Unheimlichkeit der Situation überwältigt. Von allen Seiten waren sie von unberechenbaren Feinden umgeben. Der Wahnsinn umlauerte sie. Waren schon die vernünftigen Raubgeschöpfe des Urwaldes gefährlich genug, um wieviel mehr noch die von der Tollwut befallenen Affen, die auf keine Gefahr mehr achteten. Die drei flüchteten schreckerfüllt und richtungslos weiter. Wenn sie durch Dornenbüsche stürzten, spürten sie den Schmerz kaum. Sie fielen in Schlammpfützen und dachten nicht an die Giftschlangen, die dort lauern konnten. 108
Nur ein Ziel hatten sie vor Augen: diesen unheimlichen Teil des Urwaldes zu verlassen. Sie wollten eine weite Strecke zwischen sich und das Gebiet bringen, in dem der Wähnsinn regierte, und schielende, häßlich lachende Affen wie dämonische Geister auf den Bäumen hockten. Ein haariger Körper fiel auf Ashatis Nacken, während die drei durch den Urwald stürmten. Mit einem angstvollen Aufschrei ließ sich der Indianer zu Boden fallen. Das Tier rollte vor Bombas Füße. Ein einziger Stoß der Machete drang tief in die Brust des Affen. Der sterbende Irre kreischte jammervoll. Dann war er von seinem Leiden erlöst, das für ihn auf alle Fälle nur Schmerz und Qual und am Ende den Tod bedeutet hätte. Neram näherte sich furchtsam. „Der Affe ist tot?“ fragte er leise. Als er die Stimme des Gefährten hörte, erhob sich Ashati und kroch auf Händen und Füßen zu dem toten Tier hin. „Tot!“ keuchte er fassungslos. „Wirklich kein Leben mehr! Der Dämon hat seinen Leib verlassen!“ Die beiden Eingeborenen blickten Bomba mit Ehrfurcht und abergläubischer Scheu an. Im Urwald herrschte der Glaube, daß der böse Geist im Körper der wahnsinnigen Tiere sie gegen den Tod gefeit machte. Nun hatten die beiden gesehen, daß Bomba den bösen Geist aus dem Körper des Tieres doch zu vertreiben vermochte. Wenn ihm dies einmal gelang, so bestand 109
Hoffnung, daß er auch andere tollwütige Affen töten könnte. Ihre Waffen waren also nicht so unwirksam, wie sie gefürchtet hatten. Sie hatten die Stelle noch nicht verlassen, da ging ein Toben durch die Bäume, als erhöbe sich ein Sturmwind. Überall war dieses Rauschen und Sausen. Doch der Himmel war klar, und kein Luftzug fächelte die Wangen der Dschungelwanderer. „Die wahnsinnigen Affen kommen“, flüsterte Bomba erregt. „Sie haben sich verständigt, daß wir hier sind, und sie wissen, daß sie in der Überzahl sind. Schnell! Fort von hier!“ War. ihre Flucht zuvor schon planlos und wild gewesen, so eilten sie jetzt in wahnwitziger Eile voran. Unmöglich war es für sie, gegen eine Armee von Affen zu kämpfen. Und nach dem Geräusch in den Bäumen zu urteilen, mußten es ganze Herden sein, die ihre Verfolgung aufgenommen hatten. Bomba fürchtete sich vor dem Angriff der verrückten Affen, aber er empfand merkwürdigerweise keinen Haß gegen diese Feinde. Sie waren bemitleidenswerte Geschöpfe. Eine Krankheit hatte sie befallen, und nichts vermochte sie von ihrer Qual zu befreien als der Tod. Trotzdem würde Bomba um sein Leben kämpfen, falls er angegriffen wurde. Lieber wäre es ihm allerdings gewesen, sie hätten einen Unterschlupf gefunden, in den die Affen sie nicht verfolgen konnten. Wenn sie 110
sich dort verbarrikadierten, würden die wahnsinnigen Tiere vielleicht die Verfolgung aufgeben und sich zurückziehen. Bomba hörte die murmelnden Stimmen Ashatis und Nerams. Sie flehten ihre Dschungelgötter an und stolperten an seiner Seite mühsam weiter. Näher und näher ertönte das Rascheln und Knacken in den Zweigen. Die Affen erkannten ihre Opfer und begannen zu heulen und zu plappern. Die Verfolgten waren umgeben von einem Tohuwabohu häßlicher, wirrer und verrückter Stimmen. Der Urwald war ein nächtliches Tollhaus! Neram kreischte auf. Von irgendwoher hatte sich ein haariger Arm um seinen Hals gelegt. Verzweifelt hieb er mit dem Messer auf die grausige Klammer ein. Endlich löste sich der Arm. Der Affe kreischte wild auf, und Neram war frei. Keuchend und langsam kamen die drei voran. Ihre Lungen waren ausgepumpt. Wenn sie aufblickten, sahen sie nichts als die ungreifbare Dunkelheit vor sich. Hin und wieder erkannten sie gegen den matt leuchtenden Nachthimmel einen huschenden Schatten oder einen pendelnden Affenarm – das war alles! Aber der Hexensabbat von Geräuschen ließ ahnen, was auf den Bäumen vor sich ging. Dort kauerten und hüpften, dort sprangen und lauerten die wahnsinnigen Affen. Ihr Gekreisch war mit einem höhnenden, haßerfüllten Schauergesang zu vergleichen. Sie freuten sich, Opfer für ihr wahnsinniges Tun gefunden zu haben, 111
und gaben dieser Freude in einem heulenden, wimmernden Chor Ausdruck. Dazwischen ertönte hin und wieder ein Lachen. Es war das aberwitzigste, durchdringendste und schrillste Lachen, das Bomba je in seinem Leben gehört hatte. Nichts Menschliches und auch nichts Tierisches war mehr an diesem Laut. Es schien, als machte sich die grausige Freude eines unirdischen Wesens auf diese Weise bemerkbar. Bomba, der blindlings weiterstolperte, fühlte seine Beine plötzlich unter dem Körper fortgleiten. Als er die Hände vorstreckte, spürte er, daß er den Eingang einer Erdhöhle erreicht hatte. „Schnell!“ rief er. „In die Höhle!“
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15 Im Hinterhalt Die beiden Gefährten schienen Bombas Worte nicht zu hören. Bomba sah ihre kauernden Gestalten. Sie hatten jeden Gedanken an Flucht aufgegeben und warteten stumpf und ergeben auf ihr Ende. Mit Gewalt mußte Bomba die entsetzten Indianer in die Höhle bringen. Zuerst packte er Neram am Arm und stieß ihn vorwärts. Als er sich wieder umwandte, gewahrte er einen großen Affen, der zu Boden gesprungen war. Das Tier führte einen phantastischen Springtanz auf. Seine Bewegungen waren nicht deutlich zu sehen; um so deutlicher drang sein markerschütterndes Schreien in die Ohren der Verfolgten. Bomba zerrte Ashati am Arm hoch. Der Eingeborene war wie in einem Starrkrampf befangen und lehnte sich mit seinem ganzen Körpergewicht auf den Jungen. „Schnell in die Höhle“, rief Bomba verzweifelt. „Hörst du mich, Ashati? Du mußt in die Höhle! Ich folge dir!“ Neram war etwas zur Besinnung gekommen und streckte seine Hände nach dem Gefährten aus. Er zog ihn in die Höhle, und Bomba drängte nach. Der Angriff der Affen hatte begonnen. Als Anführer hüpfte der große Affe voran, der zuvor seinen verrück113
ten Veitstanz aufgeführt hatte. Als Bomba rückwärts in die Höhle sprang, berührte ihn der Arm des Affen. Ashati und Neram zerrten den Jungen ins Innere. Währenddessen prallten die Affen gegen die steinige Seitenwand der Höhle. Ihre Enttäuschung äußerte sich in wilder, ohnmächtiger Wut. Bomba tastete umher. Bald fand er, was er suchte. Seine Füße stießen gegen einen Felsbrocken, den er allein nicht bewegen konnte. „Helft mir!“ rief er keuchend. „Schnell – ehe die Affen den Eingang erkennen!“ Da sie nun sahen, daß Aussicht auf Rettung bestand, packten die beiden Indianer mit neuem Mut an. Zu dritt rollten sie den Stein vor den Höhleneingang. Er schloß die Öffnung zwar nicht vollständig, aber von außen war er nicht fortzubewegen. Einige Male versuchten die Affen, an der klobigen Barrikade zur rütteln. Doch es war vergeblich. Die Belagerten ließen sich innen erschöpft zu Boden sinken. Vor der Höhle tobten und heulten die tollwütigen Affen. Selbst jetzt, als sie in Sicherheit saßen, glitten Schauer des Unbehagens über die Haut des Jungen. Noch wußte er nicht, ob es nicht einen zweiten Eingang gab durch den ihre wütenden Verfolger doch noch in die Höhle dringen würden. Als Bomba sich ein wenig ausgeruht hatte, erhob er sich und tastete umher. Jeden Augenblick fürchtete er, das Fell eines anderen Höhlenbewohners zu berühren. 114
Aber der Unterschlupf war leer, und auch eine zweite Eingangsspalte fand sich nicht. Das Vorhandensein des Felsblockes deutete außerdem darauf hin, daß menschliche Bewohner den Stein als natürliches Sicherheitsschloß benutzt hatten. Vielleicht hatte ein von seinem Stamme ausgestoßener Indianer die Höhle bisher als Unterschlupf benutzt. Draußen war es inzwischen leiser geworden. Die tollwütigen Affen waren ebenso schnell davongezogen, wie sie sich zuvor zur Verfolgung der Dschungelwanderer entschlossen hatten. Nur noch von weither ertönte ihr wüstes Kreischen. Die wahnsinnige Horde verschwand und machte einen anderen Teil des Urwaldes unsicher. Dicht beieinander kauerten die drei Gefährten in der Höhle. Die furchtbaren Erlebnisse waren noch so nahe und deutlich in ihr Gedächtnis eingegraben, daß sie davon reden mußten, um sich von den AlbtraumVisionen zu befreien. Schließlich sprach Ashati eine Prophezeiung aus, die Bomba nur zu gern hörte. „Der Geist des Dschungels meint es gut“, murmelte er. „Ich sehe, daß er Bomba wohlgesonnen ist. Zweimal hat er ihm das Leben gerettet. Die Gefangenen der Kopfjäger werden ebenfalls am Leben bleiben, wenn sie unter Bombas Schutz stehen!“ Bomba seufzte zufrieden. „Mögest du recht haben, Ashati! Ich habe schwere Aufgaben vor mir. Wenn ich meine Freunde aus den 115
Klauen der Kopfjäger befreit habe, muß ich weiter. Ich muß Sobrinini aufsuchen. Ihr kennt die Worte Jojastas. Ich sprach damals davon! Nur von Sobrinini kann ich das Geheimnis meiner Herkunft erfahren.“ Da antwortete Ashati in feierlichem Tone: „Bomba, unser Herr, wird auch Sobrinini finden! Er wird das Geheimnis erfahren, das ihm so wichtig ist! Der Geist des Dschungels hat sein junges Leben beschützt, damit er das Geheimnis seiner Herkunft lüften kann!“ „So soll es sein!“ stimmte Neram demütig bei. Gegen den Felsen gelehnt, legten sich die drei zur Ruhe nieder. Niemand konnte sie überraschen. Der leiseste Druck gegen den Steinblock würde sie aufwekken. Doch niemand störte ihre Nachtruhe. In der Morgendämmerung erwachten sie erfrischt. Jeder verzehrte ein großes Stück Fleisch, das sie am Tage zuvor bereits gebraten hatten. Während der hastigen Mahlzeit lauschten sie in den Dschungel hinaus. Es schien, als wäre draußen alles friedlich. Nur Vogelrufe und hin und wieder das Geräusch eines vorüberlaufenden Kleintieres waren zu hören. Neram und Ashati waren jedoch noch ängstlich. Sie beschworen Bomba, noch einen Tag und eine Nacht in der Höhle zu bleiben, bis jede Gefahr vorüber wäre. Bomba war gegen diese Einflüsterungen taub. „Bleibt in der Höhle“, schlug er vor. „Ich muß wei116
ter. Ashati hat in der Nacht selbst gesagt, daß der Geist des Dschungels mir zweimal das Leben gerettet hat. Würde es nicht wie Mangel an Vertrauen aussehen, wenn ich jetzt Furcht zeigte? Vielleicht zieht der gute Geist dann seinen schützenden Arm zurück und behütet Bomba nicht mehr vor den wilden Affen oder den scharfen Pranken des Jaguars?!“ Die Worte verfehlten ihren Eindruck auf die beiden Indianer nicht. Sie waren davon überzeugt, daß Bomba unter dem Schutz des mächtigsten Dschungelgeistes stand. Wenn sie bei Bomba blieben, genossen auch sie diesen Schutz. „Wir gehen, wohin du gehst“, sagte Ashati sanft. „Du willst nicht, daß wir deine Sklaven sind. Aber wir wollen dir folgen! Wenn du es sagst, verlassen wir die Höhle mit dir gemeinsam!“ Sie rollten den schweren Stein vom Eingang fort, und das freundliche Sonnenlicht drang in das düstere Felsverlies. Einen Augenblick lauschte Bomba hinaus. Dann sprang er ins Freie und die beiden folgten ihm. Nichts geschah. Ungehindert eilten sie davon. Bald hatten sie eine große Wegstrecke zurückgelegt. Weit hinter ihnen lag der Ort, an dem ihnen das phantastische Abenteuer mit den tollwütigen Affen widerfahren war. Gegen Mittag hielten die Wanderer zum ersten Male Rast. Der Rest des Fleisches wurde verzehrt, und als 117
Nachspeise gab es wohlschmeckende Beeren und Nüsse. Ein Bach floß in der Nähe und sorgte für einen kühlen Trunk. Die Rast war kurz. Die Unruhe trieb Bomba an. Sie wanderten in der glühenden Mittagshitze weiter. Das Sonnenlicht flimmerte wie in der Luft schwebendes Feuer über den Grasspitzen der Lichtungen. Alle Tiere hatten sich in die Schatten verkrochen. Nur die Schlangen dösten faul und zufrieden am Rande der Schlammlöcher. Nach einer Stunde etwa drang das Geräusch von tosendem Wasser an die Ohren der Wanderer, und Bomba beschleunigte das Tempo. Sie erreichten bald das Ufer eines Flusses. Wild und ungebändigt stürmte die Flut in ihrem engen Bett dahin. Das Wasser hatte einen schwarzen Schimmer. Dort, wo es sich gegen die Felsen warf, schäumte weißer Gischt auf. Die Schaumflocken sprühten bis zu den drei Gefährten hin, die am Ufer unter den Bäumen standen. „Der Fluß des Todes“, murmelte Ashati. „Gut ist der Name für das böse Wasser“, fügte Neram hinzu. Mit den Fingern zeichnete er geheimnisvolle Zeichen in die Luft, als wollte er schreckliche Geister abwehren. „Wo liegt der Große Wasserfall?“ fragte Bomba ungeduldig. „Man sagt, daß er nicht weit vom ,Fluß des Todes’ entfernt ist.“ Ashati nickte und wies in die Richtung der fließen118
den Wassermassen. „Hinter dem ,Fluß des Todes’ liegt der Große Wasserfall“, bestätigte er. „Er ist noch so weit entfernt, daß wir ihn von hier aus nicht sehen können!“ „Dann können Nascanora und seine Krieger nicht weit sein!“ rief Bomba. „Wir haben keine Zeit zu verlieren!“ Sie brachen wieder auf und folgten dem Lauf des Stromes. Allerdings hielten sie sich etwas abseits vom Ufer, damit ihnen bei dem Lärm des brausenden Wassers nicht ein verdächtiges Geräusch entginge. Bald sollte sich zeigen, daß die Vorsicht begründet war. Neram blieb plötzlich stehen und wandte lauschend den Kopf zur Seite. „Es kommt jemand“, flüsterte er. Im gleichen Augenblick ließ sich Bomba zu Boden fallen und preßte das Ohr gegen die Erde. Er sprang gleich wieder auf und zerrte Ashati und Neram in ein Baumversteck mit niedrig hängenden Zweigen. Hohes Riedgras wuchs an dieser Stelle. Die drei ließen sich in dieser ausgezeichneten Deckung nieder und warteten bewegungslos. Kein Atemzug verriet ihr Versteck – keine hastige Geste. Lange Zeit regte sich nichts. Die drei glaubten bereits, einer Täuschung erlegen zu sein. Von ihrem Versteck aus hatten sie die Niederung vor Augen, die bis an das Flußbett heranreichte. Kein Wesen konnte ihnen entgehen, das hier entlangkäme. 119
Endlich wurde ihr Warten belohnt. Es näherten sich leise Schritte, und dann erschien ein einzelner Mann. Es war ein Indianer. Bomba wußte nicht, zu welchem Stamme er gehörte. Sein Schritt war schnell und hastig, und im Laufen schaute er sich von Zeit zu Zeit um, als fühlte er sich verfolgt. Mit einer knappen Geste wies Bomba die beiden Indianer an, sich still zu verhalten. Er selbst glitt durch das hohe Gras so geschmeidig dahin, daß sich kaum ein Halm bewegte und kein Laut bis an das Ohr des einsamen Läufers drang. Bomba schnitt dem Indianer den Weg ab. Plötzlich tauchte er vor ihm auf, als wäre er geradewegs aus dem Erdboden gewachsen. Mit einem erstickten Schreckensschrei sprang der Mann zurück, doch Bomba packte ihn und preßte ihm eine Hand auf den Mund, damit der Überraschte keinen unnötigen Lärm machte. Dann warf er ihn zu Boden und kniete sich auf seine Brust. Es war ein schneller und leichter Kampf, da der Indianer vor Entsetzen und Verblüffung jede Verteidigung vergaß. Bomba rief mit gedämpfter Stimme Ashati und Neram herbei. Auch sie tauchten so lautlos und unerwartet neben Bomba auf, daß der überwältigte Indianer sie anstarrte, als wären sie Geister. Jetzt regte der Überwältigte kein Glied mehr. Er hatte rötliche, wässrig schimmernde Augen, die fassungslos und um Gnade flehend von einem zum anderen blickten. 120
„Kein Leid wird dir geschehen!“ sagte Bomba leise. Er löste die Hand vom Mund des Gefangenen und bedeutete seinen beiden Gefährten mit einer Handbewegung, die Arme des Mannes zu ergreifen, damit er keinen Fluchtversuch unternehmen konnte. „Wenn du uns sagst, was du weißt, lassen wir dich frei“, fuhr Bomba fort. „Wir wollen die ganze Wahrheit wissen! Belügst du uns, dann –“ Die Geste, die Bomba mit dem Buschmesser machte, war deutlich genug und trieb dem Gefangenen den Angstschweiß auf die Stirn.
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16 Die Insel der Schlangen Der Blick des Gefangenen irrte voller Entsetzen hin und her. Ashati und Neram beugten sich mit drohendem Ausdruck über den Mann, und Bomba verstärkte den Druck seines Knies auf der Brust des Überwältigten. „Tötet mich nicht! Laßt mir mein Leben!“ jammerte der Mann. „Ich werde antworten!“ „Hör zu!“ befahl Bomba, und in seiner Stimme war ein Tonfall von Ungeduld und ernster Mahnung. „Höre gut zu! Nascanora, der Mann mit dem bösen Herzen, der Häuptling der Kopfjäger vom Großen Wasserfall – er ist es, den ich suche! Gib mir Nachricht über ihn, und du bist frei!“ Der Gefangene schöpfte neue Hoffnung. Sein irrer, angstvoller Blick beruhigte sich etwas, und die schreckverzerrten Züge glätteten sich. „Ich werde alles sagen, was ich weiß“, sprudelte er hervor. „Doch versprecht mir, Nascanora nichts davon zu verraten. Er läßt mir sonst das Herz aus dem Leibe schneiden, und mein Kopf wird abgeschlagen und gedörrt als Trophäe für seinen Wigwam!“ Bomba machte eine abweisende und beruhigende Geste. 122
„Wir sind nicht Nascanoras Freunde. Wir verraten keine Männer, die uns von ihm berichten.“ Der Junge lockerte den Druck auf der Brust des Gefangenen. Sein Blick jedoch ruhte mit unnachsichtiger Härte und Drohung auf dem Gesicht des Mannes. „Dein Platz wird bald bei den Toten sein, wenn ich erfahre, daß du mit falscher Zunge sprichst.“ „Kein falsches Wort wird über meine Lippen kommen“, beteuerte der Indianer unterwürfig. „Wo ist Nascanora?“ fragte Bomba scharf. „Sprich! Rasch!“ „Nascanora wird in zwei Tagen am anderen Flußufer ankommen – diesem Ort gegenüber!“ stieß der Mann zitternd hervor. „Du lügst!“ fuhr ihn Bomba scharf an. „Wir wissen, daß er diesen Teil des Flußes bereits hinter sich hat!“ „Ja, Herr“, stimmte der Indianer eilfertig zu. „Er kam vorüber, aber er kehrte wieder um! Ein Dorf liegt flußaufwärts, das er noch ausplündern wollte. Seine Kundschafter hatten ihm von der günstigen Gelegenheit berichtet. Er ist zurückgewandert, um in der Nähe der Schlangeninsel seinen Raubzug zu vollenden. Jenseits dieser schrecklichen Insel, auf der Sobrinini wohnt –“ Ein Wort der Überraschung aus Bombas Mund unterbrach die hastig hervorgesprudelten Worte des Mannes. „Was sagst du da?“ rief er aus und beugte sich näher 123
zu dem Manne hinab. „Du kennst Sobrinini?“ Eilfertig nickte der Mann. „Ich kenne Sobrinini! Jeder kennt sie, der in der Nähe des Großen Wasserfalles lebt. Aber jeder meidet auch ihre Nähe! Ihre Insel ist eine Brutstätte vieler giftiger und wilder Schlangen. Sobrinini ist mit den bösen Geistern im Bunde! Ihr kalter Blick bedeutet den sicheren Tod!“ Bombas Augen leuchteten vor Eifer und Ungeduld. Nichts vernahm er von den geschilderten Schrecknissen. Allein der Name Sobrinini hatte ihn mit geheimnisvoller Begierde und Hoffnung erfüllt. „Wo liegt die Insel, von der du sprachst?“ fragte er ungeduldig, aber nicht mehr zornig. „Die Schlangeninsel?“ Der Gefangene riß entsetzt die Augen auf. „Warum sprichst du davon, Herr? Dorthin zu gehen, bedeutet den Tod!“ Ein Seitenblick auf Ashati und Neram überzeugte Bomba davon, daß die beiden von der abergläubischen Furcht des Gefangenen angesteckt waren. Mit gesenkten Lidern und verschlossenen Mienen lauschten sie den Worten, aber ihre Angst verriet sich doch in den verstohlenen Blicken, die sie einander zuwarfen. Bomba erhob sich und winkte Ashati und Neram zu. Der Gefangene konnte sich jetzt ungehindert erheben. „Zwei Dinge mußt du mir noch sagen“, erklärte der Junge. Der Indianer machte eine Geste der Demut. 124
„Frage, und ich werde antworten, Herr!“ „War ein weißer Mann bei Nascanoras Gefangenen?“ Der Indianer runzelte die Stirn und überlegte. Es war zu sehen, daß er nichts zu verbergen wünschte, und daß er seinem Bezwinger jede Auskunft geben wollte. Schließlich schüttelte er den Kopf. „Ich sah die Gefangenen nicht, Herr! Es waren viele Kopfjäger! Nascanora wird zurückkehren, wie ich es dir gesagt habe. Das ist alles, was mir der Dschungel erzählt hat, und es ist die volle Wahrheit!“ „Wie kommt man zu der Insel, auf der Sobrinini mit ihren Schlangen lebt?“ fragte Bomba weiter. Wieder trat jener Ausdruck panischer Furcht in die Augen des Mannes. „Du darfst nicht dorthin gehen, Herr! Ebenso kannst du dich gleich in die Gewalt einer riesigen Anakonda begeben! So sicher wie dich die Ringe der Anakonda zerdrücken, so sicher wirst du sterben, wenn du dich auf die Insel begibst! Der Fluch der Götter ruht auf dem verdammten Land im Fluß! Gehe nicht, Herr! Dich erwartet dort nur der Tod!“ Die Worte hatten Bomba nicht unbeeindruckt gelassen. Doch er verbarg seine Gefühle und machte eine wegwerfende Geste. „Es ist meine Sache, ob ich dorthin gehe oder nicht!“ sagte er abweisend. „Ich fürchte keine Zauberin und keine Schlangeninsel. Von weit her komme ich, 125
um diese Frau zu sehen, und ich werde sie sehen! Sage mir, was ich wissen will! Wo liegt die Schlangeninsel?“ Jetzt beeilte sich der Gefangene, Bomba genaue Auskunft zu geben. Er erklärte ihm, welche Teile des Flusses er meiden mußte, und an welcher Stelle er am besten in einem Boot den Fluß des Todes überqueren konnte, ohne in den Stromschnellen zu kentern. Als Bomba alles erfahren hatte, entließ er den Gefangenen mit einer freundlichen Gebärde. Zum Schluß sagte er: „Ich halte mein Versprechen! Du bist frei! Wenn ich Nascanora wäre, würde ich mein Wort brechen! Denn es ist immer besser, eine Zunge stumm zu machen, die noch reden und Wichtiges verraten kann!“ Eine warnende Geste begleitete die letzten Worte: „Verrätst du jedoch etwas von diesem Gespräch und von den Männern, die du hier getroffen hast, dann ist dein Ende nahe! Mein Messer ist scharf und meine Rache schnell! Vergiß diesen Platz! Vergiß alles, was sich hier zugetragen hat und geh!“ Nachdem der Mann am Flußufer verschwunden war, vergeudete Bomba keine Zeit damit, den Gefährten seine Pläne zu enthüllen. Es war nötig, erst zu handeln und dann zu reden. Bomba brannte darauf, endlich Sobrinini, der geheimnisvollen Herrscherin auf der Schlangeninsel, gegenüberzutreten. Ihr wollte er das Geheimnis seiner Herkunft entlocken. Er war sicher, 126
daß er sein Ziel erreichen würde. Die beiden Gefährten stellten keine Fragen, als Bomba sie bat, einen Baum zu fällen und ein Kanu auszuhöhlen. Sie machten sich sofort an die Arbeit, und Bomba dankte dem glücklichen Geschick, das ihm diese tüchtigen Helfer zugeführt hatte. Die beiden beeilten sich, ihr Werk zu vollbringen, aber trotz ihrer Gewandtheit machte die Arbeit nur langsame Fortschritte. Am Abend war das Kanu erst zur Hälfte fertig. Die Dämmerung senkte sich über den Fluß. Das Wasser sah noch schwärzer und unheimlicher aus als am Morgen. Dunkel und schäumend wälzten sich die Fluten vorüber. Ein drohender Ton hing ständig in der Luft. Das Wasser schien mit tiefer, düsterer Stimme ein Klagelied zu singen. In der Nacht lagerten die drei am Flußufer in der Nähe eines großen Feuers. Sie wußten, daß Nascanora im Augenblick weit entfernt von ihnen war, und deshalb konnten sie sich diese Bequemlichkeit erlauben. Als der Morgen kam, war Bomba als erster auf den Beinen, um am Kanu weiterzuarbeiten. Neram wurde in den Wald geschickt, um Schildkröteneier zu suchen. Bald kehrte er zurück und zeigte triumphierend und stolz seine Beute. Es waren sechs große Eier. „Mehr noch hätte Neram bringen können“, sagte er eitel, „aber Neram hat nur zwei Hände – leider!“ Er machte sich daran, Feuer zu entfachen, und erzählte weiter: „Auch einen Tapir hat Neram gesehen! Doch 127
ohne Pfeil und Bogen ist kein Tapir zu erlegen!“ Ashati warf einen belustigten Blick auf Bomba und seufzte entsagend. „Neram hat lange Beine und einen kurzen Sinn! Etwas vergißt er immer! Warum nahm er keinen Bogen mit? Sollte er ihm nachlaufen?“ Der prahlsüchtige Neram schwieg beschämt und machte sich an seinem Feuer zu scharfen. „Ashati wird das nächste Mal besser jagen“, besänftigte er seinen Gefährten. Bald stürzten sich alle heißhungrig auf das Frühstück. Dann wurde weitergearbeitet. Gegen Mittag war das Kanu startbereit. Es fehlte nur noch ein Paddel. Ashati formte es sehr geschickt aus einem kleineren Stamm, dessen zähes biegsames Holz auch der wilden Gewalt der Strömung standhalten konnte. Nach der Erklärung des überwältigten Indianers gab es stromaufwärts eine Flußstelle, an der das Wasser nicht so reißend war. Dorthin mußten sie das Kanu tragen, wenn Bomba ungefährdet vom Ufer freikommen wollte. Der Indianer hatte weiterhin erklärt, daß Bomba auf seiner Flußfahrt sehr bald eine fingerförmig langgestreckte Insel entdecken würde. Die östliche Fahrtrinne war die ungefährlichere, und wenn Bomba sie wählte, käme er in Ufernähe schnell voran. Hinter einer Landzunge sollte dann nach nicht allzu langer Fahrtzeit die Schlangeninsel auftauchen. 128
Als die drei die Flußstelle erreicht hatten, von der ihr Gefangener gesprochen hatte, hielten sich Ashati und Neram verlegen abseits. Bomba ahnte den Grund für ihre Unruhe und Ängstlichkeit. „Es ist nicht nötig, daß ihr mich begleitet“, sagte er, obwohl er lieber gesehen hätte, wenn die beiden mit ihm gefahren wären. Ashati und Neram ließen die Köpfe hängen. Sie hörten das verborgene Bedauern aus seinen Worten heraus und schämten sich. „Herr, diese Sobrinini ist eine Hexe“, stammelte Ashati. „Ihre Insel wimmelt von Schlangen. Sie kann ihnen den Befehl geben, jeden Eindringling sofort zu töten.“ Obwohl Bomba nicht die abergläubische Meinung der beiden teilte, vermochte er sich in ihre Lage zu versetzen. Für sie mußte es als vollkommen unsinniges Unterfangen gelten, auf eine Insel zu fahren, wo nur Tod und Verderben einen Eindringling erwarteten. „Ihr habt keine Veranlassung, Sobrinini aufzusuchen“, sagte Bomba einlenkend. „Vielleicht habt ihr recht, und ich bin blind gegen die Gefahren, die ihr sehen könnt. Ich werde allein gehen, und ihr wartet hier, bis ich zurückkomme.“ In diesem Augenblick schien den beiden erst klarzuwerden, daß sie sich von ihrem geliebten Herrn trennen sollten. „Nein!“ rief Ashati, und man sah ihm an, daß ihm 129
der Entschluß nicht leicht fiel. „Wir werden dich begleiten, Herr! Wir wollen nicht, daß du allein fährst!“ „Neram will dich auch begleiten“, rief der andere ganz gegen seine innere Überzeugung. Bomba lächelte gerührt. Er legte die Hände auf die Schultern der beiden Männer und schüttelte entsagend den Kopf. „Warum soll ich euer Leben gefährden“, sagte er leise. „Vielleicht könnt ihr mir bessere Dienste leisten, wenn ihr hier wartet. Es bleibt dabei: ich fahre allein!“ Nun widersprachen die beiden nicht mehr. Das Kanu wurde vorsichtig auf das Wasser gesetzt. Kaum war Bomba hineingestiegen, als die Strömung das leichte Fahrzeug erfaßte und mit sich riß. Wie eine Feder wurde es hin und her gewirbelt. Bomba mußte seine ganze Geschicklichkeit einsetzen, um aus den Stromschnellen herauszukommen und geraden Kurs zu halten. Endlich fand er Zeit, sich umzuwenden. Im Licht der Abendsonne leuchteten die Körper seiner beiden Gefährten wie bronzene Statuen. Unbeweglich standen sie da und schauten dem kleiner werdenden Fahrzeug nach. Nur einmal hob Ashati die Hand. Er winkte nicht – er machte nur diese eine feierliche Geste. Bomba fühlte sich seltsam angerührt von diesem Gruß. Auf ihn wirkte es so, als sandten ihm die beiden eine Abschiedsbotschaft für immer nach. Sie rechneten wohl nicht damit, daß Bomba jemals von der Schlangeninsel zurückkehren würde. 130
Die Steuerung des gebrechlichen Bootes nahm Bombas ganze Aufmerksamkeit in Anspruch. Hinter einer Landzunge verschwanden die Gestalten der Indianer, und vor dem Jungen lag der reißende, schäumende Strom. Klippen ragten aus dem Wasser. Nur kleine Strudel und verdächtige Schaumköpfe verrieten die Felsenspitzen, an denen das kleine Boot rettungslos zerschellen konnte. Dicht am Ufer geriet Bomba plötzlich in eine Gegenströmung, die ihn auf die Felsen zutrieb. Mit aller Kraft paddelte der Junge nach links. Das Heck streifte eine der Felsplatten, aber dann erreichte das Boot ruhigeres Wasser und glitt sanft weiter stromabwärts. Der gefährlichste Teil der Flußfahrt lag jetzt hinter Bomba. Unheilvoll waren die vom Wasser überschwemmten Uferbäume, deren dicht unter der Oberfläche ruhenden Äste das Boot zum Kentern bringen konnten. Daß seine Schwimmkunst ihn hier nicht retten würde, erkannte Bomba beim Anblick der flachen Alligatorenköpfe, die nur wenig über die Wasserfläche ragten. Im Vorbeifahren fing er die schrägen, tückischen Blicke der riesigen Wasserechsen auf. Hin und wieder klappte ein Kieferpaar mit häßlichem Geräusch auf und zu. Bomba sah die Reihen spitzer Zähne und schauderte. An die zurückliegenden Wasserabenteuer mit Alligatoren mochte er nicht gern denken. Die fingerförmige Insel tauchte vor ihm auf, und er 131
umschiffte sie, wie der Gefangene angegeben hatte, in östlicher Richtung. Jetzt konnte es nicht mehr weit bis zum Ziel sein. Jeder Paddelschlag brachte ihn näher zu Sobrinini. In seine hoffnungsvolle Unruhe mischte sich allerdings eine leise mahnende Stimme der Vernunft. Gefahren erwarteten ihn – große Gefahren. Was nützte ihm sein Wissen um die eigene Herkunft, wenn ihn der Tod ereilte, sobald er am Ziel seiner Wünsche war? Die Zeit verstrich. Noch immer tauchte keine Insel hinter einer Landzunge auf, wie es der Indianer erklärt hatte. War Bomba vielleicht doch einer Täuschung zum Opfer gefallen? Hatte ihn der Gefangene belogen, und belustigte er sich jetzt vielleicht über die Dummheit und Gutgläubigkeit des Weißen, der ihn so vertrauensselig wieder freigelassen hatte, ohne die Wahrheit seiner Angaben zu überprüfen? Bomba wies diesen Gedanken des Mißtrauens ab. Er erinnerte sich an Cassons Belehrungen. Der alte Naturforscher hatte ihm erklärt, daß die Indianer einen sehr ungenauen Zeitsinn hätten. Das kam daher, daß für sie die Zeit keine Rolle spielte. Was bedeuteten Stunden – was für einen Wert besaßen Tage? Der Indianer hatte gesagt, die Insel werde ,bald’ nach Passieren der Fingerinsel auftauchen. Bald – das mochte zwei Meilen bedeuten oder zwanzig! Die Abendschatten wurden länger. Die Ufer glitten vorüber – schlanke Palmensilhouetten und die bizarren 132
Muster verwachsener Weidenstämme zeichneten sich gegen den verblassenden Himmel ab. Eine leichte Brise fächelte über das Wasser, und das Schilf neigte sich und rauschte sanft. Unruhig beobachtete Bomba die Zeichen der kommenden Nacht. Selbst wenn die Anweisungen des Indianers stimmten, war es keine leichte Sache, sich im Dunkeln oder auch nur in der Dämmerung der gefährlichen Schlangeninsel zu nähern. Bomba beschleunigte seine Paddelschläge. Eine neue Flußbiegung verbarg die dahinterliegende Wasserstrecke, und der Junge schöpfte wieder Hoffnung. Oft schon war er in den letzten Stunden enttäuscht worden. Vielleicht tauchte diesmal die sagenhafte Insel wirklich auf? Die Landzunge kam näher. Bomba unterschied Einzelheiten der Landschaft. Im Vordergrund schnitt eine Bucht sanft in das Land ein. Das Wasser war hier still und glatt wie in einem Weiher. Flamingos flogen auf, als der Paddelschlag zu hören war. Über seinem Kopf schwirrten die Vögel dahin, aber sie kehrten in die paradiesische Bucht zurück, als sie sahen, daß ihnen keine Gefahr drohte. Als Bomba um die Landzunge fuhr, stieß er einen leisen Freudenruf aus. Dort lag sie – die Schlangeninsel! Ein Irrtum war ausgeschlossen. Lage und Form der Insel entsprachen genau der Beschreibung des Indianers. Sie lag halb in einer Bucht und sah vom Fluß wie 133
ein Stück des Landes aus. Schnell näherte sich der Junge dem Ziel seiner Reise. Noch war er mehr als einen halben Kilometer von der Insel entfernt, als eine undeutliche Musik an sein Ohr drang. Im Näherkommen erkannte Bomba, daß es eine menschliche Stimme war, die sang. Doch noch nie hatte Bomba eine Menschenstimme so unheimlich und geisterhaft singen hören. Die Stimme war dünn und schrill wie der Ton einer Glasharmonika. Deutlich schwebten die Töne durch die Abendstille über den Fluß dahin. Das Kanu berührte den Boden der Insel. Bomba beugte sich vor und bog das Gebüsch vor seinen Augen vorsichtig auseinander.
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17 Inmitten von Schlangen Ein gespenstischer Anblick bannte den Jungen. Er hätte es für einen Traum gehalten, wenn er nicht wach und nüchtern gewesen wäre. Auf einer morastigen Lichtung tanzte eine alte, grauhaarige Frau. In ihren Bewegungen mischte sich natürliche Anmut grotesk mit verkrampften Gebärden. Ihre Füße klatschten in den Schlamm. Das schien sie nicht zu bemerken. Grauenerregend an diesem Anblick aber waren die Schlangen, die sich um die Arme und Beine und um den Leib der Alten wanden. Eine der Schlangen hatte sich um den Hals der grauhaarigen, furchteinflößenden Frau geringelt. Der flache Kopf glitt wie liebkosend am Gesicht der Hexe auf und nieder. Sobrinini tanzte und sang dazu. Schneller und schneller wurden ihre Bewegungen. Die Schlangenleiber wirbelten um ihre Gestalt herum wie Schnüre eines Narrenkostüms, und der Schlamm spritzte auf. Bomba wußte nicht, ob er fliehen oder bleiben sollte. Er war nahe daran, in kopfloser Flucht den unheimlichen Ort zu verlassen. Seine Haare sträubten sich beim Anblick der furchtbaren Alten, die noch immer im Tanz herumhüpfte und ihre Schlangen mit sich schleppte. 135
Etwas vom Aberglauben der Eingeborenen lebte auch in Bombas Herzen. Er war noch zu jung, und sein Verstand war nicht so geschult, daß er nicht an die Möglichkeit einer Verzauberung geglaubt hätte. Ein Weib, das so mit Schlangen umgehen konnte wie die Alte dort, war vielleicht auch imstande, ihn selbst in eine Schlange zu verwandeln. Ihm grauste bei dem Gedanken. Doch da war eine klare, kühle Stimme in seinem Innern, die diesen dumpfen Aberglauben bekämpfte. Er war hier am Ziel, und er wollte nicht umkehren. Vorsichtig paddelte er an eine seichte Stelle und machte das Kanu am Ufer fest. Er trat ins Wässer und eilte auf das Land zu. Aus Furcht vor den Piranhas machte er eine unvorsichtig schnelle Bewegung – und klatschend fiel er ins Wässer. Sofort hielt Sobrinini in ihrem Tanz und Gesang inne. Sie trat einige Schritte vor und starrte zum Ufer hin. Es war schon dunkel, aber der Vollmond erhob sich über den Bäumen am jenseitigen Ufer, und in seinem bleichen Licht war die Gestalt zu erkennen, die sich aus dem Wässer erhob und dem Ufer zustapfte. Ein schriller Schrei kam über die Lippen der Alten. Dunkle Gestalten tauchten, wie herbeigezaubert, plötzlich aus allen Richtungen auf. Eine dieser Gestalten richtete sich unvermittelt auch vor Bomba auf, als er das Ufer betrat. Der Junge wollte sich dem zupackenden Arm entziehen und trat einige Schritte zur Seite. Er 136
sah die Grube nicht, in der sich Schlangen wanden. Seine Füße glitten ab, und der Körper schlug in das Loch. Für kurze Zeit war Bomba beim Anfühlen der glitschigen Schlangenleiber von Entsetzen so gelähmt, daß er keine Bewegung machte, sondern nur starr und aufrecht in der Schlangengrube verharrte. Das sollte seine Rettung sein. Keiner der Schlangenköpfe stieß zum tödlichen Biß vor. Einige hatten sich zum Angriff schon zusammengeringelt, als Sobrinini am Rande der Grube erschien. Sie begann eine rhythmische, einlullende Melodie zu singen. Sofort bewegten sich die Nattern rund um Bomba. Sie redeten die Leiber und bewegten die Köpfe in schwankendem Takt hin und her. Eine nach der anderen verließ die Grube. Die Schlangenleiber verschwanden in der Dunkelheit. Bomba kletterte aus der Grube. Seine Füße und seine Hände waren mit grauem Schlamm verklebt. Unsicher machte er einige Schritte auf festem Boden. Die Nähe des Todes war noch deutlich in seinen Zügen zu erkennen. Nichts in seiner Umgebung war dazu angetan, ihn hoffnungsvoll zu stimmen. Ein dichter Kreis von Eingeborenen umschloß ihn. Einige der Männer trugen Fackeln. Das flackernde Licht erhellte Sobrininis Gesicht. Noch nie hatte Bomba ein Antlitz von so hexenhafter Häßlichkeit gesehen. Die Züge waren alt und verfallen. Graue Haarsträhnen hingen über die Stirn. 137
Nur die Augen hatten ein merkwürdig jugendliches Feuer. Sie waren es auch, die dem Gesicht einen faszinierenden Ausdruck gaben. Sobrinini war jetzt hexenhaft häßlich, aber es war zu sehen, daß sie einmal eine schöne Frau gewesen sein mußte. „Warum erschreckst du meine Schlangen?“ fuhr die Alte den Eindringling an. „Wer hat dich geheißen, die Schlangeninsel zu betreten? Weißt du nicht, was dich hier erwartet?“ Sie ließ ein gefährliches, irre klingendes Lachen hören. „Gut, mein Junge! Gut! Du sollst es erfahren! Wir werden deinen Leib rösten und dich dann den Alligatoren zum Fraß vorwerfen! Meinst du, ich habe dich um deinetwillen gerettet, du Narr? Die Alligatoren wollen einen Braten – einen Braten!“ Wieder lachte die Alte schauerlich und schrill. In diesem Augenblick wäre Bomba zur Flucht bereit gewesen. Doch es gab kein Entkommen aus dem Ring von Leibern, der ihn umgab. Die Alte war einen Schritt näher getreten. Dicht vor ihm glühte das dunkle Feuer ihrer Augen. Sie hatte die Arme erhoben, als wollte sie ihn schlagen. Dann hielt sie jedoch plötzlich inne, und ihre Augen weiteten sich. „Fackeln!“ befahl sie. „Leuchtet mir!“ Ein Indianer trat vor. Seine Fackel sengte beinahe das Haar des Jungen. Er spürte die Hitze an der Wange, aber nichts bewegte sich in seinem Gesicht. Die Alte schwieg, und in ihrem Gesicht erschien eine seltsame Erregung. Mit einem Male murmelte sie 138
unverständliche Worte. Sie ergriff den Arm des Jungen. „Wer hat dich hergebracht?“ fragte sie leise. „Du bist Bartow – oder du bist es nicht! Nein, du bist sein Abbild – sein junges Abbild! Bartow war viel älter!“ Bombas Herzschlag beschleunigte sich. Wieder war der Name gefallen. Er war jetzt ziemlich sicher, daß Bartow sein Vater sein mußte. Auch Jojasta hatte sofort die Ähnlichkeit bemerkt. Der alte Zauberpriester hatte sogar geglaubt, den Geist Bartows vor sich zu haben. „Dann ist Bartow mein Vater“, stieß der Junge hervor. „Sage es mir, Sobrinini! Du weißt es!“ Doch die Alte lächelte undurchsichtig und verschlagen. Ihre Stimme klang jetzt nicht mehr schrill, sondern fast lieblich. „Hübscher Junge – schöner Junge!“ Sie ergriff Bombas Hand. „Komm mit mir! Komm mit Sobrinini, wenn du mehr erfahren willst!“ Willenlos ließ sich Bomba fortführen. Das Gras auf dem sumpfigen Untergrund wuchs mannshoch, und sie durchschritten diesen Wald von Gräsern. Mehr als einmal spürte Bomba unter den Füßen den glatten Leib einer Schlange. Unwillkürlich sprang er zur Seite. „Du fürchtest dich vor den Schlangen?“ fragte die Alte spöttisch. „Sie werden dir kein Leid antun, solange ich in deiner Nähe bin. Die Schlangen sind meine Lieblinge – die besten Geschöpfe, die ich kenne! Treu 139
und anhänglich!“ Sie kicherte leise. „Treu und anhänglich!“ Nach kurzer Zeit erreichten sie eine große Hütte. Hinter den Fensterlöchern flackerte Licht. Der Widerschein huschte über den Boden vor dem Hause. Widerstrebend betrat der Junge das Holzhaus. Wie die Tiere des Dschungels fühlte er sich im Freien sicherer. Aber die Hand der Alten ließ seine Finger nicht los. „Komm, mein Junge! Komm! Du siehst jetzt etwas – etwas Schönes! Eine Vorstellung – ganz für dich allein!“ Ebenso unverständlich wie die Worte war für Bomba die Einrichtung des merkwürdigen Bauwerks. Er hatte noch nie einen Theatersaal gesehen, und er wußte nicht, daß er hier die groteske und primitive Nachahmung eines solchen Hauses vor sich hatte. An den Wänden steckten Fackeln in einfachen Haltern. Das war der Ersatz für die elektrischen Wandleuchter, die über das Parkett eines richtigen Theaters ihr weiches, angenehmes Licht ausstreuen. Die Bestuhlung bestand aus groben Stühlen. Es gab sogar so etwas wie eine Loge. In halber Höhe ragte ein zierlicher Holzbalkon in den Raum. Zwei Abteile an beiden Seiten vermittelten ganz den Eindruck einer Balkonloge. Die Bühne war eine erhöhte Plattform aus rohen Brettern. Natürlich wußte Bomba nicht, was dieser erhöhte Platz im Vordergrund zu bedeuten hatte. Sobri140
nini hatte ihn verlassen und sprang jetzt mit komisch wirkenden, zierlichen Schritten auf die Plattform. Sie verneigte sich wie eine Primaballerina vor einem großen Publikum. „Komm, mein Junge! Komm näher, du Ebenbild Bartows!“ Ihre Stimme klang jetzt wieder sanft und gurrend. „Du sollst den besten Platz haben. Hier vorn – in der Mitte. Dort hörst und siehst du besser als in der Loge!“ Als Sobrinini sah, daß der Junge unentschlossen stehenblieb, stampfte sie zornig mit dem Fuß auf. Ihre Stimme wurde schrill und drohend. „Komm näher, sage ich!“ rief sie durch den kleinen Saal. „Willst du mich beleidigen? Willst du eine Künstlerin beleidigen, die dir eine Galavorstellung gibt?“ Die zornigen Worte brachten Bomba dazu, daß er gehorsam nach vorn kam. Die Alte sprang behende von der Bühne herab und kam auf ihn zu. „So ist es recht! Setz dich hierher!“ Die Liebenswürdigkeit der Alten war fast noch erschreckender als ihr Zorn. Bomba fühlte einen inneren Widerwillen bei dem verrückt-jugendlichen Benehmen der hexenhaften Alten. Alles war vollkommen unerklärlich für ihn. Die Art der Beleuchtung war fremdartig – die seltsamen Sitzgelegenheiten – der Holzbalkon und die Plattform. Aus dem Munde der Alten waren viele unbekannte Worte gekommen. Was war eine 141
,Künstlerin’? Was bedeutete eine ,Galavorstellung’? Der Junge hatte den phantastischen Einfall, daß es sich um eine besondere Art von Götzendienst handelte, den ihm die Alte hier vorführte. Sollte er das Opfer sein? Zögernd ließ er sich auf einen der Holzstühle nieder und wartete. Aufgeregt und mit komischer Eile sprang Sobrinini auf die Bühne zurück. „Ich singe jetzt für dich, mein hübscher Junge! Du hast noch keine größere Künstlerin in deinem Leben gehört! Schweige und lausche! Für dich allein singe ich die schönsten Arien der Welt!“ Dann begann die unheimlichste Theatervorstellung, die Bomba je in seinem Leben zu sehen bekommen sollte. In einer unbekannten Sprache sang Sobrinini. Selbst die ruinierte, zerbrochene Stimme der Alten bekam mit einem Mal wieder Glanz und Wärme. Bomba kannte das Schicksal der alten Sobrinini nicht. Er wußte nicht, daß sie vor langer Zeit eine gefeierte Sängerin gewesen war. Ihre Naturstimme hatte die ganze Welt begeistert. Sie war in den glanzvollsten Opernhäusern aufgetreten. Die Bühne war nach ihrem Auftritt ein Blumengarten gewesen. Davon wußte Bomba nichts. Aber Sobrinini schien sich zu erinnern. In ihrer Stimme schwang etwas von dem wunderbaren Klang mit, der einst die ganze Welt bezaubert hatte. Sie sang für den einzigen weißen Zuhörer, den sie seit langer Zeit gehabt hatte. Sie sang 142
eine zarte Melodie, die Bombas Herz berührte. Das waren vertraute Töne. Wo hatte er sie schon gehört? Wie weit lag diese Erinnerung zurück – wie weit? Schmerz und Freude bebten in Bombas Herzen beim Klang der wundersamen Melodie. Er mußte aufstehen. Er mußte – gebannt von der Stimme Sobrininis – Schritt für Schritt auf das Podium zugehen. „Die Töne“, stammelte er, als die Alte geendet hatte. „Was für ein Lied? Ist es das Lied meiner Mutter?“
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18 Das Geheimnis wird undurchdringlicher Der Blick der Alten ruhte für kurze Zeit sanft, ja fast zärtlich auf Bomba. Die dürren Finger fuhren leicht über das Haar des Jungen. Doch dann trat wieder der irre, mißtrauische Ausdruck in ihren Blick, den Bomba auch an Casson kennengelernt hatte. Sollte er zeitlebens von Verrückten umgeben sein? fragte er sich verzweifelt. Sollte er nie einen vernünftigen Menschen treffen, der ihm das Geheimnis seiner Herkunft verraten konnte? „Sage mir, Sobrinini“, wiederholte er seine Frage, „war es das Lied meiner Mutter, das du gesungen hast?“ „Du willst deinen Scherz mit mir treiben, kleiner Bartow“, kicherte die Alte und hob neckisch drohend die Hand. „Es war nicht das Lied deiner Mutter – es war das Lied deiner Frau.“ Bomba runzelte die Stirn. „Was willst du damit sagen?“ fragte er heftig. Die Alte kicherte. „Er stellt sich dumm, der kleine Schlaukopf. Er weiß nichts!“ Die alte Frau beugte sich vor und tätschelte mit der knochigen Hand seinen Arm. „Du kannst es nicht vergessen, nicht wahr? Du kennst noch das Lied, 144
das deine Frau sang, nachdem Bonny geboren wurde.“ Eine neue Frage lag auf Bombas Lippen. Die Alte machte jedoch eine herrische Geste und begann wieder zu singen. Es war die fröhliche Melodie, die auch Casson zu singen versucht hatte, als Bomba damals den Namen der Alten von der Schlangeninsel erwähnte. Dazu sprang die Frau in einem wirbelnden Tanz auf der Bühne herum. Ihre grauen Haare flatterten gespenstisch um ihren Kopf. Die Bretter zitterten unter dem schnellen Schritt. Für eine alte Frau bewegte sich Sobrinini mit verblüffender Gelenkigkeit. Es war zu sehen, daß sie früher einmal eine sehr begabte Tänzerin gewesen sein mußte. Wirr zuckten verschiedene Gedanken und Empfindungen durch Bombas Sinn. Was würde geschehen, fragte er sich, wenn die Alte aus ihrer Umdüsterung erwachte? Was würde sie tun, wenn sie merkte, daß er nicht Bartow war, wie sie es sich in ihrem umnachteten Geist vorstellte? Inzwischen hatte die Alte ihren Tanz beendet. Den Abschluß bildete eine rasend-schnelle Pirouette. Dann blieb die Frau auf den Zehenspitzen stehen und hob die Hände. Sie tat einige trippelnde Spitzentanzschritte zum Rand des Podiums hin und machte einen zierlichen Hofknicks vor einem gedachten Publikum. Wer weiß – vielleicht rauschte jetzt an den Ohren der ehemals gefeierten Künstlerin das Echo des Bei145
falls vorüber, den sie früher so oft gehört hatte. Vielleicht sah sie die vielen Gesichter in Gedanken vor sich – vielleicht sah sie die weißen Brüste der Frackhemden – die Dekolletés – die schimmernden Frauenschultern – den Glanz und den Lichterschimmer eines großen Opernhauses – vielleicht sah sie das alles? Jetzt kehrte sie jedenfalls in die Wirklichkeit zurück. Zahnlos grinste sie Bomba an. „Nun, mein kleiner Freund“, fragte sie mit ihrer schmeichlerisch-affektierten Stimme. „Gefiel dir Sobrininis Tanz? Weißt du auch, daß sie damit ganz Paris entzückt hat? Du erinnerst dich vielleicht nicht mehr – aber es ist die reine Wahrheit!“ Sie versuchte ein kokettes Lächeln und berührte den Jungen leicht an der Schulter. „Sobrinini tanzt noch so wie ehedem – oder nicht, kleiner Bartow?“ Noch hatte Bomba keine Erfahrungen mit der zivilisierten Gesellschaft. Aber sein Instinkt sagte ihm, daß mitunter eine Schmeichelei besser sein konnte als die reine Wahrheit. Es hatte keinen Sinn, die Alte zu erzürnen. Wenn er mehr von ihr erfahren wollte, mußte er sie bei guter Laune erhalten. „Dein Tanz war schön“, sagte Bomba. „Ich glaube, mir wäre der Atem ausgegangen, wenn ich mich hätte so schnell drehen müssen.“ Sobrinini lächelte beifällig. „So ist es – so ist es! Keiner kann die Pirouette wir146
beln wie ich!“ „Noch besser hat mir das Lied gefallen.“ Bomba versuchte gleichgültig zu sprechen, damit seine Stimme die Erregung nicht verriete. „Was erzähltest du vorhin?“ fragte er. „Bartows Frau sang das Lied, als –“ Die Alte ging bereitwillig in die Falle. „Du meinst, als Bonny geboren wurde?“ Sie summte wieder die Melodie, die Bomba so zu Herzen ging. Was war das nur für eine Empfindung, die ihn bei dieser Melodie überfiel? Bomba vergaß seine Vorsicht und Diplomatie. In einer spontanen Regung streckte er die Hände aus und ergriff die mageren Arme der Alten. „Erzähle mir von Bartow“, bat er. „Erzähle mir von seiner Frau und von dem Kind, das du Bonny nennst! Ich bin sicher, daß du mehr weißt! Erzähle mir etwas von ihnen!“ Sofort erwachte der Argwohn und das Mißtrauen in der Alten. „Du weißt alles, kleiner Bartow!“ murmelte sie zurückweichend. „Frage nicht so viel! Immer treibst du deinen Scherz mit der alten Sobrinini! Aber sie ist nicht dumm, sie durchschaut dich! Warte nur bis morgen! Wenn du mit mir scherzt, werde ich morgen dasselbe mir dir tun! Du bekommst ein Zimmer – ein schönes Zimmerchen für die Nacht! Komm, mein Kleiner – komm!“ Von dem Miniaturtheater im Dschungel führte die 147
Alte Bomba durch einen langen, dunklen Gang. Sie blieben irgendwo stehen, und Sobrinini klatschte in die Hände. Sofort tauchte eine Gestalt in der Dunkelheit vor ihnen auf. „Eine Fackel!“ befahl Sobrinini mit ihrer schrillen Stimme. „Bringe Licht, damit die Schatten um uns her vertrieben werden!“ Die Gestalt verschwand. Wenige Sekunden später sah Bomba die Gestalt eines Eingeborenen, der eine Fackel trug. Im unruhig flackernden Licht erschienen die Züge des Sklaven in dämonischer Verzerrung. „Her die Fackel!“ rief die Frau ungeduldig und riß dem Manne das brennende Holzstück aus der Hand. „Und fort mit dir, Sklave!“ Die Gestalt verschwand in der Dunkelheit, und Bomba hatte das Gefühl, daß mit ihr zusammen eine Schar von Schatten verschwand, die lautlos und gespenstisch ringsum lauerten. Sobrinini schritt mit der Fackel weiter. Sie stieß die Tür zu einem kleineren Raum auf. Bis in den letzten Winkel erhellte das Fackellicht dieses Zimmer. Zögernd folgte Bomba der Alten. Eine unerklärliche Beklemmung befiel ihn beim Anblick des Raumes. Es war ein seltsames Gefühl. Bomba meinte, ein Zimmer zu betreten, das ihm bereits bekannt war. Er hatte diesen Raum schon gesehen – aber wann und wo? Unmöglich war es für ihn, vor sich selbst diese ele148
mentare Vorstellung zu erklären. Etwas in ihm wußte hier Bescheid! Es war ein Wissen aus dem Unterbewußtsein – eine unheimliche Klarsicht, die von der Vernunft nicht zu begreifen war. Die Vernunft sagte ihm, daß er sich irrte – daß er unmöglich diesen Raum schon betreten haben konnte. Wie sollte er je hierhergekommen sein? In seinem ganzen Dschungelleben hatte er noch nicht einen Gegenstand gesehen wie den, der in der Ecke des Raumes stand. Es war ein Holzgestell auf Pfosten, das mit Tüchern bedeckt war. Casson hatte seinem jungen Schützling nie erklärt, wie ein Bett aussah. Bomba wußte daher nicht, daß er in dieser denkwürdigen Minute zum ersten Male Bekanntschaft mit einer der freundlichsten Errungenschaften der Zivilisation machte. Während der Junge sich noch neugierig im Raum umschaute, steckte Sobrinini die Fackel in einen Halter an der Wand. Sie trat zu Bomba und strich ihm mit einer behutsamen Geste über die Stirn. Wieder war das sanfte Leuchten in ihren Augen. Es war das gleiche freundliche Licht, das ihren Blick erhellte, als sie das Wiegenlied gesungen hatte. „Hier wirst du schlafen, meine Junge“, murmelte sie. „Solange du Sobrininis Gast bist, wirst du in diesem Zimmer wohnen. Gute Nacht, mein kleiner Bartow! Ich wünsche dir freundliche Träume!“ Die Frau glitt geräuschlos aus dem Raum. Zum er149
sten Male seit dem Betreten der Insel war Bomba allein. Zum ersten Male vermochte er sich Rechenschaft über seine Gefühle abzulegen und seine Gedanken zu ordnen. Was war es für eine Empfindung, die sein Herz zu sprengen drohte? Welche ungreifbare Erinnerung überfiel ihn in diesem Raum? Bomba fühlte sich wie ein Blinder, der wunderbare Stimmen und Gesänge hört, ohne die Gestalten erblicken zu können. So war es: er hörte etwas – hörte es und konnte nichts sehen! Ein holzgerahmtes helles Viereck an der Wand fesselte Bombas Aufmerksamkeit. Langsam, fast furchtsam trat er näher heran. Noch nie hatte Bomba etwas Schöneres gesehen als das Bildnis, das aus dem Rahmen aus schwarzem Ebenholz auf ihn herabblickte. Das Gesicht einer mädchenhaft lieblichen Frau sah den Jungen an. Sehr helles, goldblondes Haar fiel in sanften Wellen über die Schläfen herab und um die Wangen. Samtbraune Augen lächelten zärtlich und ein wenig melancholisch. Um die schön geschwungenen Lippen spielte das gleiche traurig-liebliche Lächeln. Tränen traten in Bombas Augen und verschleierten seinen Blick. Mit einem hilflosen Aufschluchzen sank er vor dem Bild zu Boden. Seine Vernunft wußte es nicht, aber sein Instinkt ahnte es: er hatte das Bildnis seiner Mutter vor Augen. „Mutter – Mutter –“ Immer wieder flüsterte er das Wort mit tränenerstickter Stimme. 150
Und wenn diese schöne Frau auch nicht seine Mutter sein sollte – so wollte er sie in Erinnerung behalten. Mit dem Ausdruck von Zärtlichkeit und Sehnsucht im Blick – mit dieser unbeschreiblichen Anmut und Lieblichkeit des Lächelns. Die Melodie des Wiegenliedes summte durch Bombas Sinn. Allmählich versiegte der Tränenstrom, als tröstete ihn allein das Echo dieser Melodie. Der Kopf sank auf den Holzboden, und die Glieder lösten sich. Wie von einer lieblichen Geistesstimme gesungen, tönte das Wiegenlied in Bombas Ohr und senkte ihn in den Schlaf. Oder war es eine andere Stimme, die in seiner Phantasie sang? War es vielleicht die Stimme seiner Mutter?
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19 Eine überraschende Unterbrechung Bomba schlief tief und fest bis in den Morgen hinein. Das nebelhafte Grau der Morgendämmerung schimmerte durch das Fenster des kleinen Raumes, als der Junge erwachte. Noch immer lag er am Boden. Den Zweck des Bettes hatte ihm Sobrinini nicht erklärt, und wenn sie es getan hätte, würde er es wahrscheinlich nicht benutzt haben. Er war es gewöhnt, auf dem federnden Dschungelboden zu liegen oder in der Hängematte zu schlafen. Verwirrt richtete sich Bomba auf und rieb seine Augen. Er gähnte herzhaft und reckte die Arme. Wo war er? Was war das für ein seltsamer Raum? Sein Blick fiel auf das Bild, vor dem er am Boden kauerte, und er sprang sofort auf. Jetzt kehrte die Erinnerung an das Geschehen des gestrigen Tages zurück. Die merkwürdige Melodie ging ihm durch den Sinn – die zauberhaft schöne Melodie, die ihn in den Schlaf begleitet hatte. Wieder fragte er sich verwundert, warum diese Töne solche Macht über ihn besaßen. Seines Wissens hatte er sie nie zuvor gehört, und doch kam es ihm vor, als kenne er das Lied seit je. Vielleicht war er im Banne der geheimnisvollen Sobrinini? Vielleicht hatte sie ihn so verzaubert, daß er 152
die Melodie nicht vergessen konnte. Wenn es so war, dann ertrug er diese Verzauberung gern. Er hatte Tränen vergossen, aber es waren bittersüße Tränen der Freude gewesen. Wieder stand Bomba vor dem Bild der schönen Frau und betrachtete es eindringlich. Die Augen, die auf ihn gerichtet waren, schienen einen geheimnisvollen Strom von Liebe und Zärtlichkeit in sein Inneres zu leiten. Am liebsten hätte Bomba das Bild von der Wand genommen und es an seinem Körper verborgen. Da ihm dies jedoch nicht als richtige Antwort auf Sobrininis Gastfreundschaft erschien, beschloß er, die Alte um das Bild zu bitten. Vielleicht ließ sie sich erweichen und übergab ihm das kostbare Geschenk. Jetzt prägte er sich jede Einzelheit der schönen Züge ein, damit er sie nie mehr vergäße. Bald war es so, daß er mit geschlossenen Augen das Antlitz vor sich hinzaubern konnte. Schließlich wandte sich Bomba ab und dachte an die Aufgaben, die ihm noch bevorstanden. Die Zeit drängte. Sobald er von Sobrinini alles erfahren hatte, wollte er Weiterreisen und Nascanoras Spuren verfolgen. Rechtzeitig wollte er zur Stelle sein, wenn die Kopfjäger jenen Platz am Ufer des Todesflusses passierten, an dem auch Ashati und Neram auf ihn warteten. Bomba trat auf den Gang hinaus und fand den Rückweg zu dem Raum mit den Stühlen und der Plattform. In der Morgendämmerung wirkte der Saal nicht so ge153
heimnisvoll wie gestern nacht beim flackernden Schein der Fackeln. Sobrinini war nirgends zu entdecken. Überhaupt schien kein menschliches Wesen in der Nähe zu sein. Bomba lauschte. Aus der Ferne kam leiser Gesang. Das war die Stimme der Alten – die gleiche, unheimliche, gläserndünne und schrille Stimme, die er bei seiner Ankunft auf der Insel gehört hatte. Ein Chor fiel ein. Schauerlich hallten die Gesänge über die Insel. Widerstrebend und doch von einer seltsamen Kraft gezogen, trat Bomba aus dem Bungalow und näherte sich den Stimmen. Nebel wallten über der Insel. Es waren die Frühnebel des Flusses, die gespenstisch um Büsche und Bäume schwebten und den Jungen einhüllten, wie in weiche, graue Tücher. Nur die Töne leiteten ihn. Durch die Nebelschwaden schritt er dahin. Einmal kam es ihm so vor, als entfernten sich die Stimmen – als wäre es nur ein Geisterchor, der ihn narrte. Dann erkannte Bomba auf einer Lichtung undeutliche Gestalten. Sie tauchten schattenhaft im Nebel auf und nieder. Arme reckten sich in verzückten, tänzerischen Gebärden. Allmählich teilten sich die Nebelvorhänge, und der Tanz der Eingeborenen war deutlicher zu sehen. Es war ein wildes, groteskes Hüpfen. Die Stimmen wurden lauter und schwollen an zu einem dröhnenden Furioso. Dann erstarben sie und wurden weich und verwehend wie Windseufzer. 154
Nicht nur die kühle Morgenluft auf der Insel ließ Bomba erschauern. Er sehnte sich nach Helligkeit und der Wärme der Dschungelsonne. Hier war es wie in einer verzauberten, nebelhaften Geisterwelt. Der Tanz der Eingeborenen nahm kein Ende. Unermüdlich sprangen sie umher – streckten die Arme und schüttelten sie rhythmisch in unverständlichen Gesten. Die Nebelschleier zerrissen. Auf den zuckenden dunklen Körpern der Tänzer glänzten die Schweißtropfen. Mitten unter ihnen wirbelte Sobrinini dahin. Die grauen Haare flatterten um den Kopf. In den erhobenen Händen hielt sie zwei Schlangenköpfe. Die Leiber der beiden widerwärtigen Tiere ringelten sich um ihre Arme. Ekel und Abscheu ergriffen Bomba bei dem Anblick. Er begriff dieses Wesen nicht, das einmal freundlich und vernünftig mit ihm sprechen konnte und sich dann wie eine Irrsinnige gebärdete. Die Alte entdeckte Bomba und rief ihn. Sie hielt mitten im Tanze inne. Die Schlangen glitten zu Boden und verschwanden, als wüßten sie, daß ihre Rolle ausgespielt war. Im hohen Gras tauchten die glatten Leiber unter. Da Bomba sich nicht rührte, sprang Sobrinini auf ihn zu. Ehe er eine abwehrende Geste machen konnte, hatte sie ihre Arme um ihn geschlungen. „Mein Bartow ist gekommen“, rief sie, „mein kleiner Bartow! Wollen wir ein Tänzchen miteinander machen?“ 155
Bomba versuchte die Arme der Alten abzustreifen. Die Berührung war ihm widerlich. Er mußte sich vorstellen, daß die gleichen Hände zuvor Schlangenköpfe geliebkost hatten. „Tanz mit mir, mein Schätzchen – tanz mit mir“, schmeichelte die Alte mit komischer Miene. Sie ergriff Bombas Hand und streichelte sie. „Soll ich meine Schlangen rufen? Soll ich dir meine Lieblinge vorstellen? Du wirst sehen, daß du sie streicheln kannst, ohne daß sie deine Adern mit Gift füllen. Wenn ich in deiner Nähe bin, geschieht dir nichts.“ Sie sah das Erschrekken des Jungen und kicherte. „Du zuckst zurück? Du fürchtest dich? Warum bist du so ängstlich, kleiner Bartow?“ Bomba verlor die Geduld. „Ich bin nicht Bartow“, rief er verzweifelt. „Du weißt es, Sobrinini. Als ich auf der Insel ankam, hast du gleich erkannt, daß ich jünger bin als Bartow. Warum nennst du mich so? Ich bin nicht Bartow – ich bin Bomba, der Junge aus dem Dschungel!“ Die Alte kicherte, als hätte Bomba einen netten Scherz gemacht. Dann sah sie aber, daß sein Gesicht ernst und gespannt war, und wurde ebenfalls ernst. „Nicht Bartow?“ murmelte sie. „Laß mich nachdenken, mein Junge! Wer bist du dann, wenn du nicht Bartow bist? He? Kannst du mir das erklären? Kannst du die alte Sobrinini klüger machen als sie ist? Was ist mit dir, mein Schätzchen? Was bist du für eine seltene 156
Pflanze? Sage es mir doch? Bist du ein Geist?“ Sobrinini klatschte in die Hände und lachte kreischend und irr. „Ich weiß es! Ich weiß es! Du bist ein Wassergeist! Gestern bist du dem Wasser entstiegen! So ist es! Du bist ein Wassergeist, mein Freund! Ein Wassergeist!“ Bomba ahnte, daß diese irrsinnige Vermutung der Alten für ihn üble Folgen haben könnte. Er mußte beweisen, daß er ein Mensch war. Schnell zog er seine Machete und ritzte mit der Spitze seinen Unterarm. Leuchtendrotes Blut quoll aus der Wunde. „Bin ich ein Geist?“ fragte er erregt. „Geister haben kein Blut! Sie haben keine Knochen und keine Haut. Durch Geister kann man hindurchgehen, als wären sie Luft. Schicke einen deiner Männer her, Sobrinini. Er soll versuchen, durch mich hindurchzugehen.“ Die Eingeborenen hatten ihre wilden Tänze abgebrochen. Sie umstanden im Halbkreis Sobrinini und den Jungen. Auf Bombas Aufforderung hin regte sich keiner. Der Junge mit dem Messer in der Hand und der kleinen Wunde am Arm sah allerdings wenig wie ein Geist aus. Sobrinini wußte mit der Wirklichkeit nichts anzufangen. Ihr umdüsterter Geist wollte die Tatsachen nicht sehen, sondern irgendwelche Hirngespinste – je verrückter, um so besser! „Nicht Bartow – und auch kein Geist?“ Sie schüttelte den Kopf. „Was dann? He, mein Schätzchen? Was 157
dann? Bist du der Ballettmeister der Großen Oper? Bist du der Dirigent? Der Dirigent?“ Ihre Arme machten Bewegungen, als dirigierte sie ein riesiges Orchester. „Bist du das? Bist du der Konzertmeister? Oder der Mann mit dem vielen Geld?“ Sie kicherte albern. „Bist du der, der Sobrinini ein Diamantkollier schenken wollte?“ Verwirrt und verzweifelt runzelte Bomba die Stirn. Was sollte er mit dem irren Geschwätz anfangen? Er hatte keine Ahnung, was die Alte meinen könnte. Er wußte nicht, daß Erinnerungen an ihre frühere Glanzzeit immer noch durch das Gehirn der armen, kranken Frau spukten. Er wußte nicht, daß ihr ganzes jetziges Leben ein aberwitziger Versuch war, die Vergangenheit zurückzurufen – die unwiederbringlich tote, zerstörte, verlorene Vergangenheit. Bomba dachte an sein Verlangen, die Wahrheit über sich selbst zu erfahren. Einen letzten Versuch wollte er noch machen, der Alten das Geheimnis zu entreißen, das sie so hartnäckig hütete, oder – wie Casson – vergessen hatte. „Du fragst immer, wer ich bin“, begann Bomba mit drängender, beschwörender Stimme. „Ich wäre nicht hier, Sobrinini, wenn ich die Antwort wüßte! Ich weiß nur, daß ich Bomba bin, und daß ich bisher mein Leben mit Cody Casson im Dschungel am Rande des Ygapo-Sumpfes verbracht habe. Casson kann sich an 158
nichts mehr erinnern. Er schickte mich zu Jojasta, und der Zauberer vom Laufenden Berg sandte mich zu dir, Sobrinini! Nun bin ich hier, und ich frage dich –“ Ein wilder Schrei unterbrach den Jungen. Keuchend und schweißbedeckt rannte ein Eingeborener auf Sobrinini zu und warf sich ihr zu Füßen. „Der große Geist des Dschungels möge uns retten!“ rief der Mann. „Die Kopfjäger sind auf der Insel gelandet! Nascanora, ihr Häuptling, ist hier!“
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20 In den Händen der Kopfjäger Ein Chor der Furcht und der Erregung brauste auf. Die Eingeborenen schnatterten aufgeregt und wild durcheinander. Dann stoben alle davon. Im Nu waren Sobrinini und Bomba allein auf der Lichtung. Die Alte blickte verstört um sich. Dann ergriff sie die Hand des Jungen und wollte ihn mit sich zerren. „Komm! Rasch!“ murmelte sie. „Ich verstecke dich!“ Doch es war bereits zu spät für eine Flucht. Kaum hatte sie die Worte gesprochen, als das Stampfen vieler Füße zu hören war. Ein Triumphschrei der Kopfjäger hallte über die Insel. Eine Horde Indianer mit der gelben Kriegsbemalung auf der Brust brach auf die Lichtung. Allen voran stürmte Nascanora, der Häuptling. Bomba hatte die Machete gezogen. Er wollte sein Leben so teuer wie möglich verkaufen. Die Wilden schwangen die Speere und stürmten auf ihn zu. Seine Lage war verzweifelt. Zu gleicher Zeit hätten ihn viele Speere durchbohrt, wenn nicht Nascanora seinen Kriegern mit lauter Stimme Einhalt geboten hätte. „Nicht töten!“ befahl er. „Er hat ein schwereres Ende verdient – der kleine, weiße Teufel! Langsam soll er 160
sterben. Schwer und langsam! Am Ende wird sein Kopf auf meiner Wigwamstange stecken, als Warnung für alle jene, die Nascanoras Kriegerehre mißachten!“ Sobrinini trat auf den Häuptling zu. Sie sah jetzt entschlossen und tatkräftig aus. Alle Verrücktheit und Geistesverwirrung schien von ihr gewichen zu sein. „Achte auf deine Taten, Nascanora“, rief sie mit schneidender Stimme. „Laß diesen Jungen in Frieden! Diese Insel ist mein Herrschaftsgebiet. Wenn du es verletzt, lege ich meinen Bann auf dich. Du weißt, daß es nicht gut ist, Sobrinini zornig zu machen!“ Ein unruhiges Murmeln ging durch die Reihen der Krieger. Die Männer schielten ängstlich zu ihrem Häuptling und betrachteten argwöhnisch den Boden. Überall konnten im Augenblick Schlangen auftauchen. Der Häuptling selbst hatte etwas von seiner Selbstsicherheit verloren. Er wich den Blicken der Alten aus und stieß mehrere Male mit dem Speerschaft auf den Boden, als könnte ihm diese Geste mehr Mut und Selbstvertrauen verschaffen. Da er jedoch mutiger als seine Krieger war, faßte er sich auch am schnellsten. Schließlich hatte er nicht die weite Reise gemacht, um unverrichteterdinge zurückzukehren! „Die Krieger Nascanoras wollen keinen Streit mit Sobrinini“, sagte der Häuptling beschwichtigend. „Sie und ihr Volk sollen unbehelligt bleiben. Doch dieser weiße Teufel hat Nascanora und seinem Volke viel Böses zugefügt. Er ist mein Gefangener. Willst du ihn mir 161
nicht freiwillig ausliefern, Sobrinini, dann werden meine Krieger alle Menschen auf der Insel töten. Wir nehmen ihre Köpfe mit zu den Frauen unseres Stammes. Nascanora hat gesprochen!“ Bomba befreite die Alte aus dem Gewissenskonflikt, indem er selbst in das Geschehen eingriff. Er wußte, daß ein Kampf gegen Nascanoras Krieger für die Männer auf der Insel mit einer Niederlage enden mußte. Zu groß war die Übermacht. Wenn er sich jedoch gefangennehmen ließ, konnte er sich vielleicht mit Mut und List später wieder befreien. Darauf hoffte er. „Tu, wie Nascanora es will“, sagte Bomba zu der Alten. „Ich möchte nicht, daß deine Leute sterben. Ich werde mit Nascanora gehen. Doch zuvor –“ Er wandte sich an den Häuptling. Sein Blick war fest und furchtlos auf den riesigen Mann gerichtet. „Zuvor möchte ich noch eine Frage an den Häuptling richten!“ „Sprich!“ befahl der Kopfjäger mit einer herrischen Geste. „Nascanora ist ein großer Häuptling“, begann Bomba mit einem ironischen Unterton in der Stimme. „Ist es nicht so?“ „Es ist so“, sagte Nascanora. „Wenn Nascanora ein so unerschrockener und mächtiger Häuptling ist, dann wird es ihm auch nichts ausmachen, gegen einen Jungen wie mich allein zu kämpfen. Will Nascanora das tun? Will er gegen mich mit einem Messer kämpfen?“ 162
Die Frage erzeugte ein bleiernes Schweigen. Niemand wagte sich zu rühren. Die Männer starrten ihren Häuptling an, und Nascanora blickte auf den Jungen, der etwa zehn Zentimeter kleiner war als er selbst. War dieser weiße Junge verrückt? Wollte er es wirklich wagen, den großen Häuptling Nascanora zum Zweikampf herauszufordern? „Sind das Worte aus dem Munde eines Narren?“ zischte der Häuptling den Jungen an. „Dein Tod wird doppelt schwer werden! Es ist nicht gut, Nascanora zu verspotten!“ „Ich spotte nicht“, entgegnete Bomba ruhig. „Meine Worte sind wahr! Ich will mit dem Messer gegen Nascanora kämpfen. Wir können die Machete werfen oder im Handgemenge einander gegenübertreten – wie Nascanora es wünscht! Nur einen Wunsch habe ich, wenn ich siegen sollte! Nascanora muß bei seinen Göttern schwören und seinen Kriegern befehlen, die Gefangenen freizulassen. Um ihre Freiheit kämpfe ich mit Nascanora!“ Bomba hob den Kopf mit einer überlegenen Bewegung. Es war etwas Hohn und Herausforderung in seinem Benehmen. Er wollte den Häuptling reizen. Auch seine Stimme klang herausfordernd, als er fragte: „Ist das nicht ein leichtes Spiel für Nascanora? Der große Häuptling hat doch keine Furcht?“ Widerstreitende Empfindungen verrieten sich in dem häßlichen, narbigen Gesicht des Häuptlings. Da war die Wut über die freche Herausforderung zu erkennen, 163
aber auch das Zucken der Furcht ließ sich nicht verheimlichen. Nascanora hatte schon Gelegenheit gehabt, den Mut und die Geschicklichkeit des Jungen kennenzulernen. Er selbst war größer als sein junger Gefangener. Aber er war durchaus nicht sicher, ob er auch geschickter, mutiger und beweglicher war als Bomba. Für Nascanora war dies ein böser Augenblick. Er wußte, daß seine Krieger auf ihn schauten. Er fühlte auch den festen, spöttischen Blick des Jungen auf sich gerichtet. Doch sein Leben war ihm mehr wert als seine Eitelkeit. „Ein großer Häuptling wie Nascanora kann nicht mit einem Knaben kämpfen“, murmelte er mit nicht ganz sicherer Stimme. „Alle Stämme im Dschungel würden lachen, wenn sie erführen, daß Nascanora mit einem weißen Jungen gekämpft hat.“ Er winkte seine Krieger herbei. „Dieser Knabe wird erfahren, was es heißt, vor Nascanora große Worte zu gebrauchen! Bindet ihm die Hände! Dann brechen wir auf!“ Zuletzt hatte Nascanora wieder mit seiner prahlerischen Stimme gesprochen. Den Schock von Bombas Herausforderung hatte er noch nicht überwunden, doch er ließ sich nichts anmerken und tat so, als hätte er soeben einen großen Sieg errungen. Noch einmal versuchte Sobrinini für den Jungen zu sprechen, aber Bomba winkte ab. Leise sagte er zu ihr: „Sobrinini ist gut, aber ihre Hilfe ist zwecklos. Ich gehe jetzt mit, aber ich kehre zurück.“ 164
„So ist es“, flüsterte sie erregt. „Du bist tapfer, du wirst zurückkommen. Nascanoras Herz ist zu Wasser geworden vor deinem Blick. Du wirst zurückkehren! Sobrinini wird nachdenken. Sie wird dir dann sagen können, was du wissen willst!“ Als Bomba die Alte noch einmal zu einer Aussage bewegen wollte, wurde er von den Kriegern Nascanoras weggestoßen. Er sah noch, wie Sobrinini ihre mageren Hände rang und Gebete zu ihren Göttern emporsandte. Sicherlich flehte sie für seine Befreiung. Trotz der Gefangenschaft fühlte sich Bomba in gehobener Stimmung, und er kostete den Triumph seines moralischen Sieges über Nascanora aus. Vor den Augen der Krieger hatte er den riesigen Mann beschämt. Es war nicht ausgeschlossen, daß Nascanoras Stellung innerhalb des Stammes dadurch erschüttert wurde. Vielleicht kam es zu Streitigkeiten bei den Kopfjägern. Dann würde es für Bomba leichter sein, seine Flucht vorzubereiten. Allerdings durfte Bomba nicht übersehen, daß er durch seine herausfordernde Haltung Nascanora zu seinem unerbittlichen Feind gemacht hatte. Der rachedurstige Wilde würde sich noch quälendere Foltern ausdenken, um seinen jungen Gefangenen zu martern. Die Gruppe erreichte bald den Teil der Insel, an dem Nascanora mit seinen Leuten gelandet war. Zwei große Kriegskanus von 30 Fuß Länge lagen am Ufer. Man stieß Bomba in eines der Boote. Dann sprangen die 165
Krieger hinein. Bald waren die leichten Fahrzeuge mitten im Fluß. Sie hielten Kurs auf das Festland. Besser als Bomba waren die Kopfjäger mit dem Fluß und seinen Tücken vertraut. Sie kannten jede Stromschnelle und jeden heimtückischen Wirbel. Geschickt umschifften sie alle Hindernisse. Das Ufer kam schnell näher; die Einzelheiten waren schon deutlich zu erkennen. In einer Bucht lagerten einige von Nascanoras Kriegern. Ihre gelbe Kriegsbemalung leuchtete über das Wasser. Einige liegende Gestalten bewegten sich kaum. Das waren wahrscheinlich die Gefangenen. Als die Kanus das Ufer berührten, zerrten zwei Krieger Bomba aus dem Boot und stießen ihn zu den anderen Gefangenen. Von Gesicht zu Gesicht glitt der Blick des Jungen. Dann entdeckte er das silbergraue Haar Cassons. Im gleichen Augenblick hatte der Alte ihn auch erkannt. Mühsam erhob er sich und taumelte auf Bomba zu. Erschüttert und wortlos schloß er seinen jungen Freund in die Arme. Bomba war ebenfalls zu sehr gerührt, um die richtigen Worte zu finden. Was sollte er auch sagen? Beide waren sie jetzt Gefangene Nascanoras. Aber sie hatten sich wiedergefunden, und die Lebenshoffnung des Jungen würde sich auch auf Casson übertragen. „Bomba, mein Junge!“ murmelte der Alte schließlich mit brüchiger Stimme. „Das ist unser Wiedersehen!“ 166
21 Der Große Wasserfall Aufschluchzend umarmte der Alte seinen jungen Gefährten. Bomba selbst konnte die Zärtlichkeiten nicht erwidern, denn seine Hände waren gefesselt. Doch mehr als alle Worte und Gesten sagten seine Augen, die das Gesicht des Alten suchten. Noch durchscheinender und hagerer waren die Züge Cassons geworden. Das Licht des Lebens glomm nur noch matt in den kranken, blauen Augen. Doch es war noch da – es leuchtete noch! Bomba schwor sich im stillen, seinen alten Freund nach der Befreiung sofort in eine ungefährliche Gegend zu bringen, damit er seine Tage in Frieden beenden konnte. Der Anblick der eigenen Fesseln dämpfte seinen Optimismus. Noch waren sie alle Gefangene des mordgierigen Nascanora. Und ob es ihnen jemals gelingen würde, sich zu befreien – wer wußte das? Nach der Wiedersehensszene mit Casson fand der Junge endlich Zeit, sich um die anderen Gefangenen zu kümmern. Die meisten Gesichter waren ihm fremd. Die Kopfjäger mußten aus allen möglichen Richtungen ihre unglückseligen Opfer zusammengeholt haben. Von ihrem Standpunkt aus war der Streifzug sicherlich ein großer Erfolg gewesen. Viele neue Sklaven brach167
ten sie mit und viele Gefangene, deren Leben in Marter und Qual enden sollte. Ein kleines Mädchen kam plötzlich auf Bomba zugelaufen und schlang die Arme um seine Hüften. Es war Pirah. Sie lachte und weinte zugleich. Als Bomba sich niederbeugte, schlang sie die Arme um seinen Hals, und an seiner Wange spürte er ihr heißes, tränenfeuchtes Gesicht. Die Kleine nahm seinen Arm und führte ihn zu ihrem Vater. Nur kurz leuchtete der Blick des gefangenen Häuptlings auf. Er verbarg es in seinem Innern, daß ihm die Nähe Bombas neue Hoffnung auf Befreiung gab. Pirah hatte nur Augen für ihren wiedergefundenen Freund. In kindlicher Sorglosigkeit vergaß sie die traurigen Umstände, unter denen das Wiedersehen stattfand. „Ich bin froh, daß ich dich wiedersehe“, plapperte sie. „Die Männer hier sind alle böse und mürrisch. Keiner will mit mir spielen. Keiner will mir so hübsche Boote schnitzen, wie du es getan hast.“ Trotz seines Kummers mußte Bomba lächeln. „Ich werde dir bald ein Boot schnitzen – schöner und größer als alle anderen“, sagte er. Der Blick des Mädchens leuchtete auf. Sie hatte onyxschwarze Augen von herrlichem Glanz. Wenn Bomba sie anblickte, empfand er mitunter eine merkwürdige Unruhe. Er konnte sich das nicht erklären. Da war ein Zauber in den schräggeschnittenen, geheimnis168
voll dunklen Augen der kleinen Indianerin – ein Zauber, von dessen Wirksamkeit Bomba nur eine schwache Ahnung hatte. „Ein Boot! Ein Boot!“ jubelte das Mädchen. „Du schnitzt mir ein großes Boot!“ Plötzlich verdüsterte sich ihr Blick. Sie ergriff Bombas gefesselte Hände und schüttelte sie. „Die bösen Männer! Sie haben auch dich gefesselt! Du kannst mir kein Boot schnitzen! Oh, Bomba, was geschieht mit uns! Warum führen sie uns fort von unserem Dorf? Warum sind die Männer so böse zu uns?“ So viele Fragen – und für jede hatte Bomba nur ein Schulterzucken als Antwort. Sollte er dem Kinde die ganze Gefährlichkeit der Lage schildern? Es wäre grausam gewesen. „Noch sind die Männer böse zu uns“, sagte Bomba, „aber sie werden uns wieder freilassen! Wir können dann zurückkehren und werden alle zusammen in eurem Dorf ein Freudenfest feiern!“ Der Kummer war vergessen. Das Mädchen klatschte in die Hände und jubelte. Sie wich nicht von Bombas Seite. Während der Junge zu Casson, Hondura und Pipina ging und mit ihnen seine Erfahrungen austauschte, saß sie mit ernstem Gesicht daneben und lauschte. Sie verstand zu ihrem Glück wenig von dem ernsten Gespräch – oder jedenfalls nicht genug, um zu wissen, in welcher furchtbaren Lage sie sich alle befanden. Bomba erfuhr, daß die Gefangenen nicht schlecht 169
behandelt wurden. Wie Schlachtvieh, das man gesund und kräftig zum Markt führen möchte, ließ man auch den Gefangenen äußerlich gute Pflege angedeihen. Sie bekamen ausreichend zu essen und wurden auch nicht zu allzu großer Eile angetrieben. Es war der Ehrgeiz der Kopfjäger, alle Gefangenen lebend in ihr heimisches Dorf zu bringen. Bombas eigener Bericht stärkte den Mut der Freunde. Wußten sie doch nun, daß die Araos in aller Eile Krieger der friedlichen Stämme zusammenriefen und ihrer Fährte folgten. Es war möglich, daß ihre Befreier jeden Augenblick auftauchten. Während Bomba noch mit seinen Leidensgenossen sprach, erschienen zwei Gefangene, die er noch nicht entdeckt hatte. Sie hielten die Köpfe gesenkt und traten unterwürfig und traurig vor den Jungen hin. Es waren – Ashati und Neram. Bomba ließ einen zornigen Zischlaut hören und runzelte die Stirn. „Diese verdammten Kopfjäger“, murmelte er verstört. „Nehmen sie den ganzen Dschungel gefangen?“ Die beiden beugten die Köpfe noch tiefer. „Es war nicht unsere Schuld, Herr“, flüsterte Ashati. „Ich glaube es“, seufzte Bomba. „Wer läßt sich gern von diesen Bestien fangen? Aber wie konnte es geschehen?“ Ashati machte eine entsagende Geste. „Die Götter haben uns ihren Schutz versagt. Wir warteten auf dich, Herr, am Flußufer. Wir waren sehr 170
aufmerksam, und als wir Schritte hörten, verbargen wir uns. Dann kamen die Kopfjäger, und der Mann führte sie, den du gefangengenommen hattest. Er zeigte ihnen, daß er uns hier getroffen hätte, und sie suchten die Büsche nach uns ab. So fanden sie uns!“ Bomba nickte mit einem grimmigen Lächeln. „Es war mein Fehler! Wahrscheinlich wird der Mann auch verraten haben, daß ich zur Schlangeninsel fuhr!“ „Wir hätten ihn töten sollen“, meinte Ashati. „Auf alle Fälle hätten wir ihn fesseln müssen und so lange in Gewahrsam halten sollen, bis ich zurück war“, sagte Bomba. „Aber er hatte bei seinen Göttern geschworen, nichts zu verraten.“ Ashati zuckte zweiflerisch mit den Schultern. „Vielleicht haben ihn die Kopfjäger selbst gefangen. Sie verstehen es, Männer zum Sprechen zu bringen.“ „Das Herz Nascanoras ist schwarz. Er kennt kein Mitleid“, fügte Neram hinzu. Bomba machte eine Geste der Ermutigung. „Unser Schicksal wird es nicht sein, an Nascanoras Marterpfählen zu schmoren. Ich glaube nicht daran! Die Flucht wird gelingen, und dann werden Ashati und Neram mich begleiten!“ Die Worte trugen dazu bei, die düsteren Mienen der Indianer aufzuhellen. Sie schrieben Bomba übernatürliche Kräfte zu, und die Sicherheit seiner Prophezeiung war für sie bereits eine ernste Tatsache. Getröstet kehr171
ten sie zu den anderen Gefangenen zurück. Die Kopfjäger sammelten sich zum Aufbruch. Die Gefangenen wurden wie Tiere in die Mitte der Marschkolonne getrieben. Die lange Rast während des Überfalles auf die Schlangeninsel hatte den zurückgebliebenen Gefangenen gut getan, und sie konnten das Schrittmaß ihrer Häscher ohne weiteres einhalten. Noch einmal kampierte die Marschkolonne im Urwald. Mächtige Lagerfeuer wurden angezündet, und die Gefangenen erhielten scharfe Bewachung. So nahe vor dem Ziel wollte sich Nascanora keines seiner Opfer entgehen lassen. Am nächsten Morgen trieben die Kopfjäger ihre Gefangenen zeitig zusammen. Sie waren in Eile. Es war offensichtlich, daß sie sich ihrem Ziel näherten. Nach wenigen Marschstunden begann ein fernes, dumpfes Brausen herüberzudröhnen. Der Ton wurde lauter und lauter. Bald gab es keinen Zweifel mehr: der ,Große Wasserfall’ war in der Nähe. Der Wald lichtete sich, und sie kamen an das Flußufer. Ein Anblick von gewaltiger Schönheit bot sich Bombas Augen. Sie hatten den .Großen Wasserfall’ erreicht.
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22 Ruspak triumphiert Über die Klippe eines mächtigen, mehr als hundert Meter hohen Felsens ergossen sich die Fluten des Stromes als ein blau-grün schillernder Vorhang von Schaum und Wasser. Schräg darüber leuchtete die Sonne. Alle Farben des Regenbogens schimmerten in dem Netz von sprühenden Tropfen, das ständig in der Luft hing. Dort, wo die Fluten in das Flußbett prallten, war ein riesiger Topf von kochendem, brodelndem Schaumbrei. Das Donnern ließ jedes andere Geräusch dünn und verloren erscheinen. Nichts hatte hier Bedeutung als die brausende, brüllende, dumpfe Stimme des ,Großen Wasserfalles’. Bomba war von dem Anblick überwältigt. Für kurze Zeit vergaß er alles andere. Er vergaß, daß er ein Gefangener Nascanoras war – er vergaß seine Umgebung. Vor Augen hatte er eines der machtvollsten Naturschauspiele der Welt. Seit tausenden und abertausenden von Jahren wälzte sich der Strom über diesen Abgrund. Seit unendlichen Zeiten beherrschte die brausende Stimme des Stromes dieses Gebiet. Immer schimmerte im Sonnenlicht ein zarter Vorhang von Regenbogenfarben in der Luft, gewoben von Millionen 173
Diamantsplittern. Oben am Rande der Klippen wuchsen Bäume. Sie wirkten aus der Entfernung klein und märchenhaft. Die rauhen Stimmen seiner Häscher weckten Bomba aus seiner Versunkenheit. Für die stumpfen Sinne der Wilden war der Katarakt kein Bild der Schönheit. Er war da und gehörte zu ihrem Leben – wie der Boden unter ihren Füßen und der Himmel über ihnen. Das Hauptdorf lag sehr nahe beim ,Großen Wasserfall’. Die Frauen und Kinder kamen der Marschkolonne entgegengelaufen, und die Gefangenen wurden weitergetrieben. Rund um sie her hüpften und sprangen die Squaws und Kinder der Kopfjäger. Sie verspotteten die Opfer und stießen Bewunderungsschreie aus, als sie die Vielzahl der Gefangenen sahen. Wenn die Frauen zu nahe traten und die Gefangenen mit spitzen Stöcken peinigen wollten, wurden sie von den Kriegern zurückgetrieben. Sie wollten ihre Opfer frisch und unverletzt erhalten für das große Schauspiel der Folterung und Tötung. Beim Marsch durch die Gassen des Dorfes warfen die Gefangenen scheue Blicke auf die Hütten. Überall grinsten ihnen die abgehackten, zwergenhaften, bräunlichen Köpfe entgegen. Mit höhnischen Blicken aus toten Glotzaugen und mit bleckenden Zähnen schienen sie den Zug der Gefangenen zu verfolgen. Es war ein grauenerregender Anblick, den auch Bomba nur schwer ertrug. 174
Inmitten des Dorfes war ein Pferch, in den die Gefangenen getrieben wurden. Einige Krieger blieben als Wachen zurück, und die übrigen gingen in ihre totenkopfgeschmückten Hütten. Jetzt erst kam den Gefangenen die Lage mit aller Deutlichkeit zum Bewußtsein. Hatten sie auf dem Marsch immer noch das Gefühl gehabt, zu jeder Stunde befreit werden zu können, so verschwand jetzt jede Hoffnung. Noch ein oder zwei Tage – dann erwartet sie der Tod. Nur Bomba behielt seine Ruhe und sein Selbstvertrauen. Er richtete für Casson und Pirah aus herumliegendem Heu ein Lager und verschaffte ihnen kleine Bequemlichkeiten. Plötzlich hörte er seinen Namen. Als er aufsah, stand Ruspak vor ihm und grinste ihn höhnisch an. Sofort traten längstvergangene Geschehnisse in Bombas Gedächtnis. Er hatte damals den Medizinmann der Kopfjäger dazu gezwungen, den kranken Casson zu behandeln und zu heilen. Er hatte ihn entführt und zu der Hütte geschafft, in der Casson fieberkrank sein Ende erwartete. Nach gelungener Heilung hatte Bomba Ruspak mit Geschenken entlassen. Aber der rachsüchtige Medizinmann hatte die Kränkung nicht vergessen. „Da ist also Bomba“, begann Ruspak mit lärmender Freude und grinsendem Hohn. „Da ist der große Bomba, der mächtige Bomba, der so vielen Zauber kennt! Was sehe ich? Er ist ein Gefangener Nascanoras? Wie konnte das geschehen? Hat ihn sein Zauber verlassen? 175
Ist der große Bomba zu einem kleinen Bomba geworden? Bald wird er herausfinden, was es bedeutet, einen Boten der Götter zu beleidigen.“ Bomba blickte den Medizinmann an, ohne eine Antwort zu geben. „Hat Bomba seine Zunge verloren“, fuhr Ruspak mit seinen Schmähungen fort. „Wir werden sie finden. Mit glühenden Zangen werden wir sie aus deinem Munde ziehen! Dann werden wir dich mit Wasser kühlen. Wir werden deinen Leib damit füllen, bis er platzt!“ Immer noch blieb Bomba stumm. „Du bist ein großer, kräftiger Junge! Das ist gut! Um so länger wirst du den Marterpfahl ertragen. Man wird dir die Augen eindrücken – und du wirst noch leben! Man. wird dich mit Fackeln an vielen Stellen rösten – und du wirst noch leben! Die Finger wird man dir einzeln abschneiden – auch das wirst du lebend überstehen! Der Tod wird dir sehr süß erscheinen! Bomba wird darum bitten, lange ehe er kommt!“ Die Aufzählung der Foltern, die für ihn bestimmt waren, entlockte Bomba keinen Laut. Auch in seinem Gesicht rührte sich nichts. Etwas enttäuscht wandte sich Ruspak ab. Er murmelte unzufrieden vor sich hin und verschwand aus dem Lager der Gefangenen. Als Bomba sich zu seinen Gefährten zurückwandte, bemerkte er Tränen in Cassons Augen. Der alte Naturforscher hatte alles mit angehört. 176
„Unwichtige Worte eines Großsprechers“, sagte Bomba mit heiterer Stimme. „Hältst du etwas davon für wahr? Nie wird es dazu kommen!“ Etwas abseits saß in stoischer Ruhe Hondura. Nicht einmal das Geplapper seiner Tochter vermochte ihn zu erheitern. Nicht Furcht lag in seinen Zügen, nicht Unruhe – sondern die Gelassenheit eines Mannes, der den Tod schon in vielerlei Gestalt vor sich gesehen hat. Bomba setzte sich zu dem Häuptling. Er vergewisserte sich, daß die Wächter sie nicht hören konnten. Dann flüsterte er Hondura zu: „Greife mit der Hand unter das Pumafell auf meiner Brust und sage, was du findest!“ Hondura tat so, und seine Hand zuckte zurück. „Ich habe die Spitze einer Machete berührt“, murmelte er. Bomba nickte unmerklich. „Sie hängt in einer Schlinge. Ich konnte sie unbemerkt –unter das Fell gleiten lassen, bevor die Kopfjäger mich banden. Sie hatten damit zu große Eile und sie durchsuchten mich nicht. Später kümmerten sie sich nicht mehr um mich, als sie keine Waffe in meinem Gürtel bemerkten.“ Honduras Augen leuchteten auf. Er senkte den Blick sofort und murmelte: „Möge die Machete Nascanoras Herz treffen!“ Bomba lächelte grimmig. „Zuerst müssen meine Hände frei sein, Hondura! 177
Wenn es dunkel ist, wirst du mein Messer nehmen und die Fesseln zerschneiden.“ Der Häuptling der Araos bewegte den Kopf unmerklich zum Zeichen seines Einverständnisses. Bomba erhob sich und ging davon. Niemand hatte den Vorfall bemerkt. Als die Tropennacht hereinbrach, mischte sich eine neue Stimme in das dumpfe Brausen des Wasserfalles. Ein Gewitter zog sich jenseits des Kataraktes zusammen. Kein Stern erhellte die Dunkelheit. Donnerschläge erstickten das Fauchen der fallenden Wassermassen, und es fielen die ersten Tropfen. Dann goß es in Strömen. Im Pferch befand sich ein kümmerlicher Schuppen, der als Vorratsraum für Viehfutter verwendet wurde. Dorthinein drängten sich die Gefangenen, und so waren sie einigermaßen geschützt. Stundenlang war nichts zu hören, als das eintönige Rauschen fallenden Regens. Gewaltige Wassermassen mußten aus den Wolken gestürzt sein, als der Regen endlich etwas nachließ. Bomba hatte Muße, seine Fluchtpläne zu erwägen. Er saß in einer Ecke und lauschte. Als der Regen nachließ erkannte er am anschwellenden Brausen des Wasserfalles, daß der Fluß gestiegen war. Der lange, wolkenbruchartige Regen hatte dem Strom große Wassermengen zugeführt. Plötzlich wurden Bombas Gedanken von erdbebenartigen Stößen unterbrochen. Er sprang mit einem 178
Ruck auf. Ein Rollen und Krachen folgte den Stößen. Im Dorf wurde es lebendig. Spitze Schreie tönten herüber, und Frauen kreischten grell. Die Wachen stürmten davon. Jemand rief: „Die Felsen des Wasserfalls stürzen ein! Der Große Wasserfall kommt über uns! Lauft! Lauft! Lauft!“
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23 Panik Nichts war zu sehen von der gewaltigen Katastrophe, die sich am ,Großen Katarakt’ abspielte. Der morsche Felsüberhang des Falles hatte sich durch den Druck der ungeheuren Wassermassen gelöst und war in die Schlucht gestürzt. Überschwemmungen von riesigem Umfange mußten die Folge sein. Dort, wo das Dorf lag, würde sich in kurzer Zeit das neue Flußbett befinden. Es war nicht die Zeit, an diese Dinge zu denken. Für die Gefangenen konnte diese Katastrophe die Rettung bedeuten. Bomba zerriß seine angeschnittenen Fesseln und rief Hondura und Pipina an seine Seite. „Die Wachen sind geflohen!“ schrie er. „Wir sind frei! Aber wir müssen ebenso rasch fliehen wie die Kopfjäger! Bald werden die Wassermassen das Dorf erreichen! Du kümmerst dich um Casson, Pipina. Für Pirah sorge ich! Folgt mir – ich gehe voran!“ Eilig aber stumm befolgten die Gefangenen seine Befehle. Honduras Stimme ertönte leise, aber deutlich, und seine Leute sammelten sich um ihn. Auf den Straßen des Dorfes herrschte Panik. Die Dunkelheit zeigte nur huschende Schatten, die dahinjagten, die gegeneinanderprallten und mit einem Aufschrei zu Boden fielen. 180
Niemand achtete auf die flüchtenden Gefangenen. Der Trieb zur Selbsterhaltung beherrschte alles. Jeder war bemüht, sich selbst zu retten. Brutal und gewaltig ertönte die Stimme des ,Großen Wasserfalles’. Es war jetzt ein neuer Ton darin – ein Klang von wilder Drohung. Im Gegensatz zu den flüchtenden Kopfjägern, die unwillkürlich in nördlicher Richtung fortstrebten, schlug Bomba den Weg ein, den sie zuvor gekommen waren. Auf diese Weise verdoppelte sich der Abstand mit jedem Schritt. Sie liefen den Araos entgegen, die zu ihrer Rettung unterwegs waren. Mit der kleinen Pirah an der Hand lief Bomba voran. Hondura und die übrigen Gefangenen folgten ihm dicht auf den Fersen. Am Ende des Dorfes tauchte aus dem Dunkel eine riesige Männergestalt vor Bomba auf. Das Gesicht war nicht zu erkennen. Der Junge ließ die Hand des Mädchens los und griff nach seiner Machete. Er hoffte, unerkannt vorbeizukommen, aber das Mißtrauen des Häuptlings war geweckt. Er rief: „Halt!“ Bomba hatte das Messer an der Klinge aus dem Pumafell gezogen – und so warf er in seiner Not die schwere Waffe. Der eiserne Griff traf Nascanora mitten zwischen die Augen. Der Häuptling stürzte, wie von einer Axt gefällt, zu Boden. Bomba beugte sich über ihn und erkannte, daß er sich nicht geirrt hatte: es war sein schlimmster Gegner, der hilflos vor ihm lag. 181
Bomba stieß den leblosen Körper zur Seite. „Vergewissere dich mit der Messerspitze“, mahnte Hondura. „Ich töte keinen Mann, der nicht kämpfen kann“, entgegnete Bomba. „Wenn er erwacht, wird es Morgen sein. Dann sind wir weit.“ Mit größerer Hoffnung setzten sie die Flucht fort. Ihres Häuptlings beraubt, waren die Kopfjäger hilflos und verwirrt. Sie würden sich kaum sammeln und die Verfolgung der Flüchtenden aufnehmen. Jeder hatte mit sich selbst zu tun, und die Angst vor der Katastrophe war zu groß. Bald machte sich jedoch das Wasser bemerkbar. Der Fluß überschwemmte das Dorf und ergoß sich jetzt in den Dschungel. Schneller eilten die Flüchtenden dahin. Die gierigen Wasserzungen spülten bereits um ihre Füße. Stetig stieg der Wasserspiegel, und bald reichte er bis zu den Knöcheln. Das Laufen war schwerer geworden, und das Wasser rauschte nach kurzer Zeit um die Beine der Flüchtenden. Bomba wollte bereits Anweisung geben, Bäume zu erklimmen, als er spürte, daß der Weg aufwärts führte. Das war die Rettung! „Wir ersteigen einen Hügel“, rief Bomba zurück. „Keine Furcht! Die Wassermassen werden uns nicht erreichen!“ Nach wenigen Minuten waren sie aus dem Gefahrenbereich des nassen Todes. Der Große Wasserfall 182
hatte nach ihnen gegriffen, aber sie waren dem Griff entgangen. Die Flüchtlinge machten nach Stunden beschwerlichen Marsches Rast, als sie einen weit vom Fluß entfernten Hügel erreicht hatten. Der Wandel in ihrer Lage erschien ihnen selbst märchenhaft. Vor wenigen Stunden waren sie noch Gefangene der Kopfjäger gewesen. Marter und Tod hatten sie erwartet. Jetzt waren die Kopfjäger selbst die Gejagten. Sie flohen vor einem mächtigeren Gegner, und niemand wußte, wie viele von ihnen bereits den Tod in den gierigen Fluten gefunden hatten. Nach kurzer Rast marschierten die Flüchtenden weiter. Zwischen ihnen und ihren Peinigern erstreckte sich jetzt ein See. Das machte ihre Flucht noch aussichtsreicher. Bis die Wassermassen wieder fielen, würde geraume Zeit vergehen. Die ganze Nacht hindurch wanderten die Fliehenden weiter. Erst als der Morgen dämmerte, rasteten sie am Fluß des Todes. Die Indianer suchten Schildkröteneier, Beeren und Nüsse für das Frühstück. Inzwischen erkletterte Bomba einen hohen Baum, um zurückzuschauen. Von seinem Wipfel aus hatte der Junge einen guten Blick. Nirgends war eine Spur von Verfolgern zu entdekken. Zufrieden und beruhigt wollte Bomba wieder hinabklettern, als er spürte, wie der Baum sich zu neigen begann. Ein Schrei kam vom Fuße des Baumes. „Schnell, Herr! Herunter! Der Baum stürzt!“ 183
24 Im Wirbel der Stromschnellen Es war zu spät! Mit unerbittlicher Stetigkeit senkte sich der Wipfel dem Fluß entgegen. Bomba sah den Wasserspiegel näher und näher kommen. Er mußte seinem Glück vertrauen und sich festhalten, damit er nicht fortgespült wurde. Das war alles, was er in diesen bangen Sekunden tun konnte. Mit einem Rauschen und Platschen sauste der Baum ins Wasser. Die Wucht des Falles drückte die Krone kurze Zeit unter Wasser, aber sie tauchte schnell wieder auf. Alle Wurzeln hatten sich gelöst, und der Baum trieb in den Strom hinaus. Wahrscheinlich war er von der steigenden Flut unterspült worden. Das Wasser gurgelte und rauschte um Bombas Ohren. Krampfhaft hielt er sich fest. Dann tauchte sein Kopf über die Oberfläche, und er schöpfte Atem. Als er Umschau hielt, erkannte er, daß er nicht allein war. Ashati und Neram schwammen im Wasser und erreichten in diesem Augenblick den Baum. Sie schwangen sich hinauf und kamen zu Bomba. Als der Baum fiel, hatten sie an seinem Fuße gestanden. Das aufreißende Erdreich und die hochschnellenden Wurzeln hatten sie wie ein Katapult ins Wasser geschleudert. Im ersten Augenblick dachte Bomba daran, schwim184
mend ans Ufer zurückzukehren. Er erkannte jedoch in geringer Entfernung einen verdächtigen, dunklen Punkt auf der Wasserfläche. Das dunkle Etwas hatte viel Ähnlichkeit mit einem Alligatorenkopf, und Bomba mußte sein Vorhaben aufgeben. Die Stromschnellen hatten den Baum erfaßt und wirbelten ihn herum. Allerdings verhinderten die ausladenden Zweige, daß der Stamm rollte. Trotzdem mußten sich Bomba und seine Gefährten krampfhaft festklammern, um nicht fortgeschwemmt zu werden. Die Reise ging unfreiwillig stromabwärts. Bomba war froh, daß Casson und Pipina bei Hondura gut aufgehoben waren, denn im Augenblick wußte er nicht, wann er zu ihnen zurückkehren würde. Der Baum hatte jetzt die Hauptströmung des Flusses erreicht und trieb schnell dahin. Die Gegend erschien Bomba bekannt. Jetzt erinnerte er sich, daß er vor drei Tagen mit dem Kanu die gleiche Strecke stromabwärts gepaddelt war. Die Gruppe der Flüchtenden hatte also in der Nacht eine große Entfernung zurückgelegt und befand sich schon oberhalb der Schlangeninsel. Wenn ihn nicht alles täuschte, mußten sie jetzt an Sobrinini vorübertreiben. Als Bomba scharf ausspähte, erkannte er sehr bald, daß er sich nicht geirrt hatte. Seitlich vor ihnen tauchte die Landzunge auf und dahinter das Buschwerk am Ufer der Insel. „Bald werden wir Land erreichen“, sagte Ashati mit einem Seufzer der Erleichterung. 185
„Land!“ erwiderte Bomba. „Du hast recht! Es ist das Ufer der Schlangeninsel!“ Von dieser Auskunft waren die beiden durchaus nicht begeistert. Sie machten Zeichen der Beschwörung und blickten verstört auf das näherkommende Land. Im gleichen Augenblick kam ein Laut der Überraschung von Nerams Lippen. Er deutete aufgeregt auf ein Kanu, das aus dem Schilf herausglitt. Rufe hallten über das Wasser. Die Gestalt im Boot paddelte in großer Eile, als würde sie verfolgt. Im Näherkommen erkannte Bomba, daß es Sobrinini war.
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25 Sobrininis Befreiung Bomba schwang sich auf einen Ast, auf dem man seine Gestalt gut sehen konnte. „Sobrinini!“ rief er über das Wasser. „Sobrinini!“ Die Frau verhielt das Paddel und blickte herüber. Als sie Bomba entdeckte, kreischte sie auf. „Willst du mein Ende miterleben, Bartow?“ schrie sie. „Meine Sklaven meutern! Sie verfolgen mich und werden mich töten! Willst du das mitansehen?“ „Ich will das nicht sehen, sondern deine Rettung“, rief Bomba zurück. „Komm rasch her!“ Im gleichen Augenblick stieß ein weiteres Boot von der Schlangeninsel ab. Sobrinini beeilte sich, den Baum zu erreichen. Leichtfüßig sprang Bomba in das Boot. Er hielt sich an einem Ast fest und wartete, bis Ashati und Neram seinem Beispiel gefolgt waren. Das verfolgende Kanu holte rasch auf. Sie hatten keine Zeit zu verlieren. Bomba nahm Sobrinini das Paddel aus der Hand, und die Alte ließ sich erschöpft auf den Boden des Bootes sinken. „Kehrt um, oder ihr sterbt!“ schrie Bomba, ehe er zu paddeln begann. Er hatte seine Machete gezogen und ließ die Klinge im Sonnenlicht funkeln. „Kennt ihr Bombas Waffe?“ rief er zu dem Boot hinüber. „Auch 187
der Häuptling der Kopfjäger fürchtete sie!“ Die Drohung hatte Erfolg. Die Verfolger hielten an und begannen miteinander zu palavern. Ohne sich um sie zu kümmern, ergriff Bomba das Paddel und brachte das Boot mit kräftigen Zügen schnell vom Baum und von der Insel fort. Als die Verfolger sahen, wie rasch sich das Kanu von ihnen fortbewegte, gaben sie die Jagd auf und wandten sich wieder der Schlangeninsel zu. „Sie verfolgen uns nicht mehr“, murmelte Ashati. „Wir sind in Sicherheit.“ Sobrinini blickte nur einmal flüchtig auf, dann sank ihr Kopf auf die Brust. Bomba ahnte, was in ihrem Innern vorging. Sie mußte ihre geliebten Schlangen aufgeben und ihr Herrschaftsgebiet verlassen. Eine Frage lag ihm auf der Zunge. Er hätte gern gewußt, ob sie das Bild der schönen Frau mitgebracht hatte, das in der kleinen Stube hing. Aber diese Frage war sicherlich sinnlos. Die flüchtende Sobrinini würde keine Zeit gehabt haben, sich um ein Bild zu kümmern. Bomba mußte längere Zeit angestrengt paddeln, ehe sie das Ufer erreichten. Sie waren jetzt etwas unterhalb der Stelle, wo sie die Flüchtlinge verlassen hatten. Bomba zog das Kanu auf das Ufer und half Sobrinini beim Aussteigen. Ashati und Neram waren sichtlich froh, aus der Enge des Bootes und damit aus der Nähe der gefürchteten Hexe zu entkommen. Sie wurden von Bomba in den Wald geschickt, um Nahrung zu suchen. 188
Bald kehrten sie zurück, und alle hielten eine kurze, karge Mahlzeit. Bomba brannte darauf, wieder zu den Flüchtenden zu stoßen. Zuvor wollte er sich noch vergewissern, ob ihnen im Dschungel keine Gefahr drohte. Er ließ die drei anderen warten und drang in den Urwald ein. Nach einer kurzen Wegstrecke witterte Bomba Rauch. Von der Spitze eines Baumes aus sah er die Rauchfahne hochsteigen. Dann drang er bedächtig weiter vor. Als er der Stelle nahekam, wollte er sich auf Hände und Knie fallen lassen, um anzuschleichen. Da hörte er Töne, die ihm vertraut waren, und die sein Herz vor Freude schneller schlagen ließen. Jemand spielte auf seiner Harmonika. Das konnte kein anderer als Grico sein! Bomba ließ dennoch in seiner Vorsicht nicht nach und pirschte sich an das Lager heran. Eine große Gruppe von Eingeborenen war mit den Vorbereitungen für das Mittagsmahl beschäftigt. Alle waren schwer bewaffnet. Es war offensichtlich, daß sie sich auf dem Kriegspfad befanden. Von seinem Versteck aus erkannte Bomba den Unterhäuptling Lodo. Und etwas abseits kauerte auch Grico, der Mann, der von Bomba den Revolver und die Harmonika ,entliehen’ hatte – allerdings ohne den Besitzer vorher zu fragen. Jetzt trat Bomba aus der Deckung. Zum Zeichen der Freundschaft hielt er die Hände mit den Handflächen 189
nach vorn über den Kopf erhoben. Im ersten Augenblick griffen die Krieger nach den Waffen. Sobald sie aber den Besucher erkannten, umdrängten sie ihn mit großer Freude, und jeder wollte zuerst eine Frage an Bomba richten. Als sie nun noch erfuhren, daß Hondura und ihre entführten Squaws und Kinder ganz in der Nähe waren, hallte der Urwald von ihren Kriegs- und Jubelrufen wider. Die Mahlzeit war vergessen. Blitzschnell ergriffen die Krieger ihre Waffen, um davonzustürmen. Sie wollten ihren Häuptling und die anderen Entführten unter dem Schutz der Waffen ins Lager holen. Im Augenblick war Bomba allein, und er wandte sich zum Lagerfeuer. Da stand Grico und starrte ihn an. In seiner schlaff herabhängenden Hand hielt er die blinkende Harmonika. Bomba trat zu dem Mann mit der gespaltenen Nase und nahm sein Eigentum aus der Hand des einäugigen Riesen. In die Felltasche Gricos brauchte Bomba nur hineinzugreifen, um seinen geliebten Revolver hervorzuziehen. In Gricos Gesicht prägten sich Verblüffung und das schlechte Gewissen aus. Dem Lachen sehr nahe, aber mit unbewegtem Gesicht meinte Bomba: „Ich bin froh, daß Grico meine Sachen aufbewahrt hat!“ Mit einem Ausdruck versteinerter Dummheit glotzte Grico aus seinem Auge. So unschuldig und treuherzig schaute Bomba ihn an, daß der Indianer nichts als ein 190
einfältiges Grinsen zustande brachte. „Grico hat alles aufbewahrt“, griff er diplomatisch die Ausrede auf, um sein Gesicht zu wahren. „Grico hat aufbewahrt, was er im Dschungel gefunden hat.“ Bomba seufzte mit ironischer Feierlichkeit. „Es ist gut, daß Grico die Dinge gefunden hat! Stelle dir vor, welches Unheil der Revolver in den Händen eines Affen hätte anrichten können. Und ich sage dir, Grico, die größten Affen sind die dümmsten!“ Grico konnte den unbehaglichen Eindruck nicht loswerden, daß das Beispiel mit den ,größten Affen’ sich irgendwie auf ihn bezog. Aber Bombas Gesicht war eitel Biederkeit und Sanftmut. Noch immer grinste Grico ziemlich töricht, und dann reichte er Bomba die Hand hin. Da er in eine Missionsschule gegangen war, kannte er die Bedeutung dieser Geste. So war auch dieser Vorfall der unfreiwilligen ,Entleihung’ auf friedliche Weise aus der Welt geschafft, und Bomba war sehr zufrieden. Die folgenden Stunden waren wie ein Rausch der Freude. Als sich alle Gruppen vereinigt hatten, gab es Wiedersehensszenen, die kein Ende nehmen wollten. Hondura hielt mit seinen Unterhäuptlingen Lodo und Grico ein Palaver ab. Es wurde beschlossen, in zwei Gruppen nach verschiedenen Richtungen zu marschieren. Die Krieger sollten unter Führung von Lodo und Grico 191
zum ,Großen Wasserfall’ weiterziehen. Sie sollten die Kopfjäger zum Kampf stellen und diese Bedrohung für die friedlichen Stämme des Gebietes beseitigen. Die andere Gruppe unter Führung Honduras würde die befreiten Frauen und Kinder zurück in die zerstörte Maloca geleiten, die wieder aufgebaut werden sollte. Für Bombas Gefährten ordnete der dankbare Häuptling acht seiner Männer ab. Sie fertigten zwei Bahren an. Auf ihnen sollten Casson und Sobrinini, die beide am Ende ihrer Kräfte waren, zu Pipinas Hütte zurückgetragen werden. Ohne Zwischenfall gelangten die Heimwanderer bis zu der Stelle, an der sich die Wege trennten. Wieder gab es Abschiedsszenen wie zuvor, als die Krieger zu ihrer schweren Aufgabe abrückten. Besonders Pirah wollte sich durchaus nicht von Bomba trennen. Der Häuptling Hondura stand im Hintergrund und schmunzelte. Er sah diese Freundschaft zwischen den beiden anscheinend nicht ungern. Bomba mußte seiner kleinen Spielgefährtin versprechen, sie bald zu besuchen. Sie war mißtrauisch, weil sie wußte, daß Bomba unruhig durch den Dschungel zu schweifen pflegte. Als sie sich trennten, stand sie noch lange und winkte dem Jungen nach. Wenn Bomba gehofft hatte, bei der Gegenüberstellung von Casson und Sobrinini einen dramatischen Auftritt des Wiedererkennens zu erleben, so wurde er ent192
täuscht. Keiner der beiden zeigte Interesse für den anderen. Bomba tröstete sich damit, daß er später in der Hütte die beiden auf ihre Bekanntschaft hinweisen wollte. Jetzt hatte er genug damit zu tun, die kleine Gruppe, der sich auch Ashati und Neram angeschlossen hatten, sicher zu Pipinas Hütte zurückzuleiten. Ohne Zwischenfall erreichten sie die Lichtung am Fluß. Nichts hatte sich verändert. Die Hütte stand unversehrt da, und sie hielten alle fröhlichen Einzug. Es folgten Tage der Ruhe und Entspannung. Lange wartete Bomba, ehe er es wagte, das Thema anzuschneiden, das ihm so sehr am Herzen lag. Als er eines Nachmittags mit Ashati und Neram von der Jagd heimkehrte, bemerkte er, daß sowohl Casson wie auch Sobrinini erholter und aufgeschlossener als zuvor wirkten. Er wollte jetzt den Versuch wagen. „Casson!“ rief er laut. „Sobrinini! Habt ihr diese Namen schon gehört? Sagen sie euch nichts?“ Er ergriff die alte Frau beim Arm und stellte sie vor Casson hin. „Das ist Sobrinini! Sie singt und tanzt! Sie kennt ein Lied, das auch du kennst!“ Etwas wie Erkennen dämmerte im wässrigen Blick des Alten auf. Auch die Frau wurde unruhig und starrte dem Manne ins Gesicht. „Sobrinini“, murmelte Casson ungläubig. „Sie kann es nicht sein. Sie war jung – sie war schön! Sie hatte schwarzes Haar und eine Stimme wie eine Nachtigall!“ 193
Die Alte lachte triumphierend. „Ich bin es! Ich bin es! Höre, wie ich singen kann. Schau, wie ich tanzen kann!“ Sie sang das Lied in jener Sprache, die Bomba nicht kannte. Dazu machte sie einige Tanzschritte. Mit irrer Begeisterung begann der alte Casson ebenfalls herumzuhüpfen. Beide waren bald erschöpft und sanken in ihre Stühle. „Ihr kennt euch also“, sagte Bomba sanft. „Ihr wißt von meinem Vater und meiner Mutter! Sagt mir endlich die Wahrheit!“ Der beschwörende Tonfall von Bombas Stimme brachte den alten Mann dazu, sein Gedächtnis anzustrengen. Schließlich schüttelte er aber nur den Kopf. „Frage Jojasta“, murmelte er. „Ich kann mich nicht erinnern. Frage Jojasta!“ „Jojasta ist tot“, sagte Bomba enttäuscht. Er wandte sich an die Frau. „Warum schweigst du? Als Nascanora auf die Schlangeninsel kam, wolltest du mir das Geheimnis verraten. Willst du dein Versprechen nicht einlösen?“ „Bartow! Du bist Bartow“, murmelte die Alte. „Wie soll es anders sein?“ „Ich bin nicht Bartow!“ rief der Junge verzweifelt. „Erinnere dich an deine Worte, als du mich zum ersten Male sahst. Ich bin viel jünger als Bartow! Erinnere dich, Sobrinini!“ Lange starrte die Alte ihn aus ihren dunklen Augen 194
an. „Wenn du nicht Bartow bist, dann müßtest du sein Sohn sein“, begann sie schließlich mit schleppender Stimme. „Andrew Bartow und Laura hatten einen Sohn. Sie nannten ihn Bonny, und dies war sein Wiegenlied –“ Sie summte die Melodie, die Bomba so sehr ans Herz gegriffen hatte. „Wo sind sie jetzt?“ drängte Bomba. „Wo sind Bartow und Laura? Und wo ist Bonny?“ „Bonny?“ Die Alte runzelte die Stirn. „Oh, ja! Bonny! Ich weiß es wieder! Er wurde geraubt! Japazy war sein Entführer! Japazy haßte Bartow! Er haßte Casson auch! Ein böser Mann – ein –“ Unvermittelt verlor sie den Faden der Erinnerung. Sie begann zu kichern und hüpfte umher. Dazu sang sie eine Melodie, die Bomba noch nicht gehört hatte. „Weiter“, drängte Bomba. „Sprich weiter, Sobrinini!“ Die Alte lachte irr und kreischend. „Nichts weiter, mein Schätzchen! Alles ist in Ordnung! Ich singe und tanze noch so gut wie früher! Nicht wahr, Casson, ich bin eine echte Künstlerin!“ „Du sprachst von Japazy“, versuchte Bomba sie abzulenken. „Was ist mit ihm?“ „Geh hin und frage ihn selbst“, kicherte die Alte. „Geh, mein Junge und frage ihn! Vielleicht weiß er mehr als ich –“ Jeder weitere Versuch war vergeblich. Bomba erfuhr nichts Wesentliches mehr. Er war betrübt und doch 195
halbwegs getröstet. Seine Reise zu Sobrinini war nicht ganz vergeblich gewesen. Er hatte einen neuen Hinweis erhalten. Ob er bei Japazy mehr erfahren würde? Wie immer, wenn sein Herz schwer war, eilte Bomba in den Dschungel. Er brauchte sich nur auf einen Baumstumpf zu setzen und auf seiner Harmonika zu spielen. Sehr bald flatterten als Vorhut seiner Freundesschar die bunten Papageien Kiki und Woowoo herbei. Nicht lange, dann raschelte es in den Zweigen, und Doto, der Affe, streckte grinsend seinen Kopf durch die Blätter. Als Bomba alle begrüßt hatte, verließen ihn seine Freunde plötzlich mit ängstlichem Geschnatter und Gekreisch. Polu, der majestätische Puma, trat aus dem Unterholz und kam schnurrend auf Bomba zu. Er rieb seinen mächtigen Kopf an der Brust des Jungen und legte sich dann wie ein getreuer Hund zu seinen Füßen nieder. Allmählich wagten sich die anderen Tiere wieder näher. Sie blieben allerdings in respektvoller Entfernung und manch eines schimpfte etwas über den großen, gefährlichen Kerl, der Bomba zu Füßen lag und dessen ganze Freundschaft für sich in Anspruch nahm. „Ein Wiedersehen und ein Abschied zu gleicher Zeit!“ rief Bomba. „Ich werde nicht lange im Dschungel bleiben. Ich habe Sehnsucht nach einer anderen Welt. Das werdet ihr nicht verstehen! Doch ihr braucht nicht zu denken, daß ich euch für immer verlasse! Ich 196
komme wieder! Ich komme wieder, wenn ich meine weißen Freunde besucht habe!“ Nicht viel hatte Bomba von Sobrinini erfahren. Seine einzige Hoffnung bestand in dem Hinweis, den er von der Herrscherin der Schlangeninsel erhalten hatte. Wie Bomba diesem Hinweis folgt und welche Abenteuer und verwirrenden Erlebnisse ihm widerfahren, davon berichtet der nächste Band: BOMBA auf der Jaguarinsel
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ROY ROCKWOOD BOMBA-BÜCHER BOMBA Der Dschungelboy BOMBA Im Berg der Feuerhöhlen BOMBA Am großen Katarakt BOMBA Auf der Jaguarinsel BOMBA In der versunkenen Stadt
AWA-VERLAG MÜNCHEN 198