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Klaus Störtebeker Band 5 Bootsmann und Komtess von Gloria von Felseneck Störtebeker machte wertvolle Beute. Vor dem gefürchteten Piraten war wirklich niemand sicher. Es kam zu einer folgenschweren Begegnung...
Die Burg von Kalmar, an der südöstlichen Küste gelegen, nannte man schon von jeher den ›Schlüssel zu Schweden‹. Der damalige Herrscher hatte sie erbauen lassen, um Angriffe heidnischer Piraten gut abwehren zu können. In den Jahren 1275 bis 1290 wurde sie umgebaut und auch von den späteren Besitzern immer wieder verändert, so dass sie inzwischen einem Schloss ähnelte. Der jetzige Schlossherr, Herzog Folke von Thurkland, hatte für die Architektur nicht viel übrig, für die Politik ebenfalls nicht, sein ganzes Sinnen und Trachten galt den Wissenschaften, ganz besonders der Astrologie. Darüber konnte er Zeit und Stunde vergessen, seine Gemahlin und seine beiden Söhne selbstverständlich auch. Ohne groß nachzudenken, hatte er es seinerzeit seiner Ehefrau überlassen, sich zusammen mit anderen Adligen an der Entmachtung von Magnus II. Erikson zu beteiligen. Er hatte nichts dagegen gehabt, dass Albrecht von Mecklenburg zum König gewählt wurde, auch wenn dieser sich bald bei Volk und Adel unbeliebt machte, weil er meist im Interesse der deutschen Hansestädte handelte und damit seinen Thron immer mehr in Gefahr brachte. Den Herzog kümmerte es also nicht, dass der König allmählich seine Macht einbüßte und Margarete von Dänemark an Einfluss gewann, er widmete sich lieber seinen Passionen und war meist nur in seinem Kabinett zu finden. Seine Söhne ähnelten im Aussehen und im Wesen eher der resoluten Mutter und befanden sich nur selten hier im Schloss. Sigismund, der jüngere Prinz, hielt sich zur Zeit in Stockholm auf, wo er militärische Aufgaben wahrnahm. Erbprinz Carl Magnus, der kürzlich einen ausgedehnten Landbesitz in Livingholm geerbt hatte, liebte mehr das bäuerliche Leben und hatte zudem einen ausgeprägten Hang zur Seefahrt. Nicht selten war er wochenlang auf dem Meer unterwegs. Gestern war er nach längerer Zeit auf ›Schloss Kalmarhus‹ eingetroffen, weil seine Mutter Angelegenheiten von größter Wichtigkeit mit ihm zu besprechen hatte. Missmutig hatte er ihrem Befehl gehorcht, obwohl ihn die ›Angelegenheiten von größter Wichtigkeit‹ nicht sonderlich interessierten, betrafen diese doch nur seine schon lange 4
geplante Vermählung mit der flandrischen Komtesse Mechthild Margarita von Wisby. Die Verhandlungen zu dieser Verbindung waren bereits vor mehr als fünfzehn Jahren durchgeführt worden, als seine Eltern und er in Brügge Station gemacht hatten. Er war damals vierzehn gewesen und hatte keinen Blick für das kleine, pummelige Mädchen gehabt, das einmal seine Ehefrau werden sollte. Seine Eltern und besonders seine Mutter hatten seitdem den brieflichen Kontakt mit dem Grafen aufrechterhalten und bestürmten ihn, ihren Sohn, nun schon seit seinem vierundzwanzigsten Geburtstag, seine Braut nun endlich zu heiraten. Bis jetzt hatte er dieses Schicksal geschickt von sich abwenden können. Doch seit der gestrigen Unterredung mit seiner Mutter wusste er, dass die Tage seiner Freiheit gezählt waren. Er würde heiraten müssen, er war der Erbprinz und hatte für Nachwuchs zu sorgen. Fest entschlossen, der Ehe die beste Seite abzugewinnen, war er zu seinen Gemächern gegangen, wo ihm vor wenigen Minuten sein Miniaturbildnis und das seiner Braut überreicht worden waren. Missmutig und verärgert betrachtete er sein eigenes Abbild, das der Hofmaler seines Vaters angefertigt hatte. Er fand das Bildnis nicht sehr ähnlich, es war viel zu geschmeichelt, denn so gut sah er einfach nicht aus. Das Schönste an ihm, seine dichten und lockigen Haare, kamen allerdings gar nicht zur Geltung. Der Hut mit der breiten Krempe und den Federn verdeckte diese Pracht völlig. Gundolf Bringström hatte wohl gemeint, die rabenschwarzen Locken und die bräunliche Gesichtsfarbe würden so ganz und gar nicht zu einem schwedischen Prinzen passen. Wahrscheinlich hatte er auch deshalb die Augenbrauen und die Gesichtsfarbe wesentlich heller gemalt. Dem Prinzen gefiel sein Konterfei überhaupt nicht, er sah auf ihm aus wie ein Milchbart. Aber für eine Brautwerbung würde es natürlich ausreichen. Die Komtesse Mechthild Margarita von Wisby, die die Miniatur erhalten sollte, würde ihn wahrscheinlich recht hübsch finden, aber sie würde ihn auch nehmen, wenn er eine schiefe Nase und schlechte Zähne hätte, das heißt, sie würde ihn nehmen müssen. Immerhin war er der beste Fang auf dem Heiratsmarkt. Das wusste ihr 5
Vater sehr genau und hielt daher an dem uralten Heiratsversprechen fest. Der junge Mann legte das kleine Bild jetzt zur Seite und betrachtete nun die Miniatur seiner angehenden Gemahlin. Das Bildnis war schon vor mehr als zwei Wochen geschickt worden und hatte seine Mutter zu schnellem Handeln veranlasst. Er habe sich endlich mit den Gedanken an seine Vermählung vertraut zu machen, hatte sie ihm erst heute morgen unmissverständlich erklärt und erneut auf die Absprache mit dem flandrischen Grafen verwiesen. Und sie erinnerte ihn schließlich daran, dass die liebliche Komtesse inzwischen alles gelernt hätte, was eine zukünftige Prinzessin und spätere Herzogin wissen musste. Sie und ihre Zofe könnten sogar schwedisch sprechen. Außerdem wäre seine Braut jetzt schon einundzwanzig Jahre und aus diesem Grund beinahe eine alte Jungfer. Demzufolge hätte er sie umgehend zu heiraten. Der Prinz wollte aber nicht, noch nicht. Die Miniatur sah er sich aber trotzdem ganz genau an. Sie zeigte eine schöne, auserlesen gekleidete Frau mit rötlichen und fein gekräuselten Haaren, dunkelblauen Augen und einem herzförmigen Mund. Na ja, er würde sie nicht gerade von der Bettkante schubsen, dass er sich aber innerlich nach ihr verzehrte, das konnte er nun beim besten Willen nicht behaupten. Gelangweilt legte er das Bildnis zu seinem eigenen. Nein, er würde noch nicht heiraten - erst in ein paar Monaten. Der Sommer hatte noch gar nicht richtig begonnen und das Wetter würde sicher viel zu schön sein, um zu Hause zu sitzen - bei einer Frau, die er nicht kannte. * Die er nicht kannte? Ganz so war es nicht. Der Prinz verzog seinen Mund zu einem ironischen Lächeln und dachte an jenen Abend, als er in Flandern geweilt hatte, beim Freiherrn von Ringstein zu Gast gewesen war und dort an einer Scharade teilgenommen hatte. Das war nun schon über fünf Jahre her, doch er erinnerte sich noch gut daran. Erzählt hatte er von diesem Abend allerdings niemandem, auch seinen 6
Eltern und seinem Bruder nicht. Offiziell hatte er bei einem entfernten Verwandten, der in der Nähe von Brügge ein Gut besaß, Land- und Forstwirtschaft studieren sollen. Nun ja, das hatte er auch getan, hatte aber immer wieder die Gesellschaft von jungen Leuten gesucht und war für jeden Spaß zu haben gewesen. Er war mit ihnen durch die Wälder gezogen und hatte edles Wild gejagt, hatte in Turnieren mit Schwert und Lanze gekämpft und war auch den schönen, jungen Damen nicht aus dem Weg gegangen. Und dann hatte der Zufall es gewollt, dass er seiner zukünftigen Gemahlin begegnete, ohne dass sie von seiner Anwesenheit wusste. »Die Komtesse Mechthild Margarita von Wisby ist heute Abend auch bei uns zu Gast«, hatte ihm Justus von Ringstein heimlich zugeflüstert. »Ist sie nicht diejenige, die einmal dein Weib werden soll?« »Ja, sie wurde mir schon versprochen, da spielte sie noch mit Puppen«, hatte er uninteressiert geantwortet und sich einem blonden Edelfräulein zugewandt, das ihm besonders gut gefiel. Doch der Gedanke an seine spätere Ehefrau hatte ihn nicht mehr losgelassen. Er hatte sich maskiert, so wie alle anderen auch und hatte sie dann ganz aus der Nähe gesehen. Sie trug zwar auch eine Maske, aber ihr leuchtendes Haar verriet sie, so dass Justus von Ringstein leise zu ihm sagen konnte: »Das ist sie, deine Zukünftige. Sie ist zwar erst sechzehn, aber schon so schön, dass sie allen Männern die Köpfe verdreht.« Ja, das fand er auch, sie war zauberhaft schön, aber auch kokett und eitel, denn sie achtete sehr darauf, dass sie sich ihr kostbares Kleid nicht beschmutzte und putzte einen Jüngling gehörig herunter, der ihr aus Versehen auf die Schleppe getreten war. Ein anderer Verehrer hatte mehr Glück. Von diesem ließ sie sich in den Garten führen und dort würde sie sich vermutlich von ihm küssen lassen. Am liebsten wäre er den beiden nachgeschlichen, aber das wagte er dann doch nicht, das ließ sein Stolz nicht zu. Als sie nach einer Weile wieder in den Festsaal kam, ohne ihren Begleiter, hatte er sich vor ihr verneigt, sie mit verstellter Stimme angesprochen und um einen Tanz gebeten. Sie hatte ihn von oben bis unten gemustert, dann gnädig genickt und ihn später höhnisch ausgelacht, weil er die komplizierten Schritte 7
dieses Tanzes nicht beherrschte. Ja, mehr noch, sie hatte ihn einen Tollpatsch genannt und dann mitten auf der Tanzfläche stehen lassen. Das war zuviel gewesen - viel zuviel. Er hatte das Fest verlassen und sich vorgenommen, diese eingebildete, mit anderen Männern tändelnde Göre nie und nimmer zu heiraten. Später hatte er es sich anders überlegt. Mechthild Margarita war wenigstens hübsch und gesund, was man nun weiß Gott nicht von allen Frauenzimmern sagen konnte. Außerdem war es ihm so ziemlich egal, wen er heiratete. Es ging ja doch nur um die Dynastie. Amüsieren konnte er sich auch bei einer anderen. Das hatte er inzwischen ausgiebig getan und würde nun in den sauren Apfel beißen müssen. Es blieb ihm ja nichts weiter übrig. Er würde die Komtesse also im Herbst heiraten. Und vorher würde er sich ein letztes Mal ordentlich austoben. Das versprach er sich selbst, was ihm sofort seine gute Laune wiedergab. Und er wusste auch schon, wie er sich selbst verwöhnen konnte. »Ich hoffe, mein Sohn, dass dir deine Braut nun nicht mehr zu jung ist und damit endlich gefällt.« Seine Mutter hatte, wie es ihre Art war, leise den Raum betreten und nahm auf einer mit feinstem Brokat bezogenen Ottomane Platz. Carl Magnus ahnte, dass er nun eine weitere Strafpredigt ertragen musste. Doch da er sich mit diesen Ermahnungen schon lange abgefunden hatte, blieb er seelenruhig auf seinem Stuhl sitzen und erwiderte gleichmütig: »Ja, sie hat sich ganz ordentlich herausgemacht. Ihr könnt dann zum Herbst die Hochzeit ausrichten lassen, verehrte Frau Mutter.« »Zum Herbst?«, fragte Herzogin Amalia verständnislos. »Ich finde, der Sommer eignet sich viel besser für eine Vermählung.« »Im Sommer habe ich schon etwas... anderes... vor.« »So? Du willst wohl wieder mit lockeren Frauen umherziehen? Hast du denn immer noch nicht genug davon?« »Es geht dieses Mal nicht um eine Frau«, stellte er richtig, »sondern um eine Seereise. Ich werde schon morgen nach Livingholm zurückkehren. Dort will ich mich mit einem mir gut bekannten Kapitän treffen. Dieser will mich nach Brest mitnehmen und nur beibringen, 8
wie man ein Schiff steuert. Ihr wisst selbst, dass es sehr nützlich ist, wenn man in meiner Position auch etwas von der Seefahrt versteht. Ich werde also nur unter Männern sein. Das mag Euch beruhigen.« Die Herzogin musterte ihren Lieblingssohn nachsichtig, sagte jedoch energisch: »Nun gut, bilde dich auch in dieser Hinsicht weiter. Es kann nicht verkehrt sein, wenn du selbst ein Schiff führen kannst. Aber wenn du wiederkommst, wird sofort geheiratet. Denke daran, was dein Vater mit dem Grafen Johann Borwin abgesprochen hat. Soll er etwa wortbrüchig werden?« »Liebste Mutter, Ihr seid ja so verständnisvoll.« Der Prinz bedachte die Herzogin mit einem Lächeln, das sein etwas herbes Gesicht sichtlich verschönte. »Und du willst mich schon wieder um den kleinen Finger wickeln, damit ich dir noch eine weitere Gnadenfrist gebe«, erwiderte sie spöttisch. »Doch dieses Mal hast du dich getäuscht, mein Sohn. Du gehst mit Riesenschritten auf die Dreißig zu, bist also längst im heiratsfähigen Alter und deshalb...« »Und deshalb?«, fragte der Prinz belustigt, als seine Mutter sich unterbrach und offenbar nachdachte. »Deshalb werde ich dem Eilboten, der morgen nach Brügge aufbricht, nicht nur dein Bildnis mitgeben. Er wird auch ein Schreiben mit sich führen, in dem dein Vater und ich um den Besuch deiner Braut bitten. Schließlich muss sie ihre neue Heimat und ihre künftigen Aufgaben kennen lernen. Wenn du von deiner Seereise zurückkommst, könnt ihr sofort heiraten. Nun, wie findest du das?«
Grässlich, hätte er beinahe gesagt, aber er verschluckte dieses Wort angesichts der zuckersüßen, aber entschlossenen Miene seiner Frau Mama und erwiderte ruhig: »Ich werde zu meinem Versprechen stehen. Lasst die Komtesse nur herkommen.« »Dieses Versprechen freut deinen Vater und mich«, erwiderte die Herzogin und erhob sich. In der ihr eigenen Würde ging sie hinaus und betrat kurz darauf das Kabinett, in dem ihr Mann am Schreibtisch saß und irgendwelche Berechnungen machte. 9
»Carl Magnus ist mit der Hochzeit einverstanden«, begann sie und riss den Herzog damit von seinem Steckenpferd los. Er schrak zusammen und murmelte zerstreut: »Was sagtet Ihr eben, meine Liebe?« »Dass unser Ältester nun endlich heiraten wird. Und damit er seine Vermählung nicht schon wieder verschieben kann, wird die Komtesse in diesem Sommer unser Gast sein, egal, ob Carl Magnus anwesend ist oder nicht. Es ist Euch doch recht so?« »Selbstverständlich, auch die Sterne haben gesagt...« Nun bekam Amalia von Thurkland wieder einen Vortrag über die Gestirne und deren Bedeutung zu hören. Sie ertrug ihn mit Fassung und überlegte dabei, wie sie ihren ehescheuen Ältesten aus seiner Reserve locken konnte. Vielleicht war es ganz zweckmäßig, wenn er seiner Braut entgegen segelte und sie selbst in die neue Heimat brachte. * »Es ist nun endlich soweit, meine Tochter«, hatte Johann Borwin von Wisby salbungsvoll und überaus zufrieden gesagt, nachdem er die Botschaft des Herzogs von Thurkland gelesen hatte. »Du wirst schon in allernächster Zeit nach Schweden reisen und wirst den Sommer über auf Schloss ›Kalmarhus‹ bei deinen angehenden Schwiegereltern bleiben. Im Herbst wird dann Hochzeit gefeiert und dann werden deine Mutter und ich selbstverständlich auch anwesend sein.« Mechthild Margarita hatte den Grafen überrascht angesehen und gefragt: »Ihr begleitet mich nicht, Vater? Das enttäuscht mich. Soll ich etwa so eine lange und vielleicht auch gefährliche Reise allein antreten?« »Ich habe anderes zu tun, als monatelang in Schweden die Zeit totzuschlagen. Es reicht, wenn ich zu deiner Vermählung da bin. Andererseits hast du recht, du kannst nicht allein fahren. Und darum werden dich zehn meiner tapfersten Männer begleiten sowie dein Onkel Oswald als...« »Onkel Oswald?« Die Komtesse hatte schallend gelacht. »Meint Ihr, dass dieser mir eine Hilfe sein könnte?« 10
»Er wird sich um dein Seelenheil kümmern, wie es sich für einen Geistlichen und nahen Verwandten gehört. Außerdem wird Frau von Ellberg mit dir reisen. Sie wird dir Gesellschaft leisten, ebenso wie deine Zofe. Allerdings muss über diese Reise strengstes Stillschweigen bewahrt werden. Und darum werdet ihr eines unserer Handelsschiffe benutzen und du, die Ellberg und die Zofe, ihr werdet Gewänder von Männern tragen.« Mechthild hatte einen Augenblick gestutzt und verblüfft wiederholt: »Männerkleidung?« »Ja, du hast richtig gehört. Ich will nicht, dass deine Fahrt nach Schweden in der ganzen West- und Ostsee bekannt wird. Und deshalb bist du vorübergehend Gottfried von Thomow. Für Frau von Ellberg und deine Zofe werden wir auch noch Namen finden. Niemand darf außer dem Kapitän und meinen Soldaten wissen, dass Frauen an Bord sind. Hast du das verstanden, Tochter?« »Ja, Herr Vater«, hatte sie amüsiert erwidert. »Ich verstehe Euch vollkommen und weiß Eure Fürsorge zu schätzen.« Diese Anordnungen hatte sie vor einer guten Woche bekommen, kurz danach waren ihre zahlreichen Reisekisten in aller Heimlichkeit zum Schiff gebracht worden und gestern, in aller Herrgottsfrühe hatte sie, gekleidet wie ein junger Mann aus gutem Hause, zusammen mit ihrer Zofe und der wie ein Walross schnaufenden Frau von Ellberg die Planken einer eher unscheinbaren Kogge betreten. Der Kapitän der ›Seenixe‹ hatte eigentlich nur den Auftrag, die Komtesse wohlbehalten in ihre neue Heimat zu bringen. Um dieses kostbare Gut jedoch so unauffällig wie möglich zu machen, hatte man noch Stoffe aus Seide und Leinen sowie Kupfer und Bauholz geladen. Mechthild Margarita und ihre Zofe waren offiziell die ›Söhne‹ des dicken ›Herrn von Thomow‹. Sie schliefen in einer Kajüte, während Onkel Oswald und ihr ›Papa‹ ein Quartier für sich allein hatten. Von letzterem sahen sie in den ersten beiden Tagen nicht viel, die Seekrankheit hatte ihn (oder sie) erwischt und zwang ihn, das Essen und die Gesellschaft anderer Menschen zu meiden. Den Mädchen machte der mehr oder weniger starke Seegang nichts aus. Da sie nichts weiter zu tun hatten, standen sie oft an der 11
Reling und schauten auf das Meer hinaus, das nur wenig bewegt war und zu jeder Tageszeit eine etwas andere Färbung annahm. Mal war es silberblau, dann grünlich oder grau wie der Nebel. »Eigentlich ist es ziemlich langweilig hier, meinst du nicht auch, Lucie?« Mechthild von Wisby schnitt eine Grimasse und blickte ihre Kammerjungfer missmutig an. »Lieber langweilig als von Piraten überfallen oder vom Sturm an die Klippen getrieben«, erwiderte diese ängstlich. »Ich werde gern auf beides verzichten und froh sein, wenn wir in Schweden angekommen sind.« »Na ja, ich auch«, gab die Komtesse zu, während sie nachdenklich vor sich hin schaute. »Man weiß ja nie, was auf dem Meer passieren kann.« »Ob Euer zukünftiger Gemahl uns entgegenkommt?« »Ja, vielleicht. Aber in der Botschaft, die mein Vater erhalten hat, war davon nicht die Rede. Mir ist es sowieso egal, ob er nun kommt oder nicht. Ich muss ja noch mein ganzes Leben mit ihm verbringen.« »Wie sieht er eigentlich aus?«, erkundigte sich Lucie neugierig und dachte an die Miniatur, die ihre Herrin noch vor der Abreise erhalten hatte. »Er ist blond, blass und bartlos, so wie die Schweden alle aussehen.« Mechthilds Stimme klang gleichgültig. »Aber er ist reich und wird einmal der Herzog sein. Außerdem ist er noch jung. Ich kann mich also nicht beschweren.« Die Zofe konnte sie jedoch nicht so recht überzeugen. »Und wenn er nun einen ganz schlechten Charakter hat?« »Mit dem muss ich mich dann abfinden. Aber das glaube ich nicht. Mein Vater würde mich nie einem schlechten oder sogar gewalttätigen Mann geben. Ich denke eher, dass der Prinz ein ganz nüchterner Geselle ist, der sich nur seinen Regierungsgeschäften und allenfalls noch der Jagd auf Elche, Bären und Wölfe widmet.« »Bären und... Wölfe?« Lucie schaute die Komtesse entsetzt an. »Gibt es die in Schweden etwa... überall?« »Ich glaube schon, aber natürlich nur in den Wäldern. Du brauchst also gar keine Angst zu haben.« 12
»Ich habe aber doch welche«, beharrte die Zofe, »genauso wie Frau von Ellberg. Wir fürchten uns vor den Menschen, vor den Tieren und vor den langen und eisigen Wintern.« Mechthild antwortete nicht, aber ganz tief in ihrem Innern wusste sie, dass auch sie Angst hatte, Angst vor dem, was auf sie in der nächsten Zeit zukommen würde. * Der ›Rote Teufel‹ hatte wieder einmal die Jagd aufgenommen. Schnell wie ein Adler steuerte er auf die dänische Küste zu und würde das Handelsschiff, das vor ihm segelte, bald erreicht haben. Davon war die gesamte Mannschaft überzeugt, der Kapitän stand schließlich selbst am Ruder. Nach Tagen der Ruhe gab es nun endlich wieder einen ordentlichen Kampf und hoffentlich recht einträgliche Beute. In gewohnter Emsigkeit und beinahe lautlos wurden die Vorbereitungen zum Entern getroffen. Die beiden Kanonen standen bereit und die Männer bewaffneten sich mit langstieligen Handbeilen, Armbrüsten sowie kurzen, breiten Schwertern. Unterdessen hatte Störtebeker die recht behäbige Kogge eingeholt. Aber auch auf dieser hatte man sich zum Kampf gerüstet, denn in diesem Augenblick hallten drei dumpfe Kanonenschläge über das Wasser. Sie trafen zum Glück nicht, was den Kapitän vom ›Roten Teufel‹ siegessicher lachen ließ. Doch der Gegner wehrte sich auch weiterhin. Er sandte ihnen einen Hagel von Armbrustgeschossen entgegen, die Ragnar und Olaf zu Boden streckten, noch bevor sie die Wanten hinauf klettern konnten. Die übrigen Männer konnte er allerdings nicht aufhalten, sie stürmten in geübter Weise voran. Die Enterhaken drangen ins Holz, Kommandorufe, Flüche und freudige Schreie waren zu hören. Und dann sprangen die ersten von Störtebekers rauen Gesellen auf die Planken des anderen Schiffes. Nun folgte ein wildes, unbarmherziges Handgemenge, einige Männer wurde von Beilen und Schwertern getroffen, andere stürzten ins Meer. Doch der Kampf war nur kurz. 13
Klaus hatte sich des Kapitäns bemächtigt und befahl ihm mit lauter Stimme: »Ruft Eure Leute zurück, damit nicht noch mehr Blut fließt!« »Wir werden uns nicht ergeben... niemals«, ächzte der Führer des Handelsschiffes. »Wir werden kämpfen... bis zum letzten Mann.« »Dann seid Ihr ausgesprochen töricht. Eure Waren sind zu ersetzen, Euer Leben nicht.« Der Kapitän schüttelte den Kopf, doch seine Mannschaft wich vor der Übermacht der Piraten zurück und hatte bereits damit begonnen, die Toten beiseite zu schaffen und sich um die Verletzten zu bemühen. »Schaut nur«, sagte Klaus jetzt in leisem Ton zu dem Kapitän. »Eure Leute sind klüger als Ihr. Sie wissen, dass Euer Handelsherr den Verlust seiner Güter verschmerzen wird, sie wissen auch, dass wir verschwinden, wenn wir Euch ein wenig.... erleichtert haben.« Nun nickte der ältere Mann, gab mit rauer Stimme entsprechende Befehle und schaute dann mit grimmiger Miene zu, wie die Freibeuter zum angenehmen Teil ihres Tagewerkes übergingen. Dabei sangen sie ein altes Piratenlied, das vor allem Leuten wie dem Stralsunder Bürgermeister Bertram Wulflam galt. »Heraus soll man sie klauben aus ihren fuchsnen Schrauben. Mit Brennen und mit Rauben, die schlimme wölfische Brut, das stillt ihren Übermut...« Klaus und einige andere Freibeuter bewachten unterdessen den Schiffshauptmann und seine Hauptleute und zwar so lange bis auch der letzte Sack Mehl, der letzte Ballen Seide und vor allem eine Kassette mit den Golddukaten zum ›Roten Teufel‹ gebracht worden war. Und dann verließ Störtebeker als letzter das fremde Schiff, kletterte auf sein eigenes und ging dann zuerst zu den beiden verletzten Seeleuten. Olaf und Ragnar lagen auf ihren Pritschen und wurden bereits vom Schiffsarzt und einem bärtigen jungen Mann betreut. »Wie steht es?«, fragte er kurz. »Sie werden es überleben«, antwortete der Heilkundige lakonisch, während er bei Ragnar einen Brustverband anlegte. »Gute Pflege und ein ordentlicher Schluck Branntwein werden sie bald wieder auf die Beine bringen, auch wenn sie jetzt noch greinen wie kleine Kinder.« 14
Olaf war von zwei Pfeilen getroffen worden, allerdings nur an der Schulter. Ihm ging es etwas besser als seinem Kameraden und er war schon in der Lage, seinen Becher selbst zum Munde zu führen. Störtebeker atmete erleichtert auf, denn es fiel ihm immer schwer, einen seiner Leute dem Meer übergeben zu müssen. Er sagte ein paar aufmunternde Worte zu den beiden Verletzten und fügte zum Schluss hinzu: »Wir segeln wieder gen Norden. In Gotland und Bergen werden wir unsere Waren verkaufen und dabei nicht vergessen, dass wir Gottes Freunde sind. Dazu habe ich noch einiges mit Euch zu besprechen, Gustav Schanning.« Der letzte Satz galt dem jungen Mann, der neben dem Arzt stand und wie dieser auf weitere Anordnungen des Kapitäns wartete. Zumindest sah es so aus, aber der Arzt und alle anderen Mannschaftsmitglieder sahen in dem großen und athletischen Gustav nicht ihresgleichen, sondern nur den Freund des Kapitäns, der sich seiner Sonderstellung durchaus bewusst war - und den Klaus Störtebeker nicht duzte. Deshalb musste es eine ganz besondere Bewandtnis mit ihm haben. Und als die beiden Männer jetzt den Schlafraum der Schiffsleute verließen, hätten die Zurückbleibenden gar zu gern gewusst, was Klaus Störtebeker mit diesem mitunter recht seltsamen Seemann zu besprechen hatte. * Mechthild von Wisby langweilte sich. Sie hatte es sich viel aufregender vorgestellt, in Männerkleidung über das Deck zu spazieren, ganz allein - ohne ihren ›kleinen Bruder‹ und ihren stets nörgelnden ›Vater‹. Sie hätte sich gern alles angeschaut, was eine Frau sonst nie zu sehen bekam, das Schiff in allen Einzelheiten und die Unterkünfte der Mannschaft. Doch ihre Eskorte hinderte sie stets und ständig daran. Und so saß sie meist nur in ihrer Kajüte herum und wartete auf den Tag, an dem sie Schweden erreichen würden. Aber ein bisschen Spaß hatte sie trotzdem. Zum Entsetzen von Ehrendame, Zofe und männlichem Geleitschutz stand sie doch ab und zu an der Reling und schaute auf das 15
Meer, besonders dann, wenn eine leichte Brise die Wellen kräuselte und sich Mond und Sterne im Wasser spiegelten. In diesen viel zu seltenen Minuten war sie allein und konnte träumen von einem Glück, das es wohl niemals geben würde - und von einem temperamentvollen Ehemann, der sie heiß und innig liebte. Diesen Träumen gab sie sich auch an diesem Abend hin, genau wissend, dass man sie bald suchen würde. »Gottfried... Gottfried, wo bist du?« Die Komtesse sah Frau von Ellberg auf sich zukommen. Die Gute war wieder völlig außer Atem, was natürlich auch an dem beengenden Männergewand lag. Japsend und schnaufend kam sie bei Mechthild an und zeterte: »So geht das nicht... Komtesse... mein... Sohn! Du hast längst in deiner Kajüte zu sein. Aber das bist du wieder einmal nicht, sondern hältst uns alle zum Narren, lässt uns... nach dir suchen. Wir hatten schon Angst, dass du ins Meer gefallen bist.« »Ach, Unsinn.« Die Grafentochter winkte unbekümmert ab. Und da inzwischen auch ihre übrige ›Bewachung‹ vollzählig vertreten war, lachte sie allen treuherzig zu und bequemte sich dann endlich, ihre Kajüte aufzusuchen. Dort überhörte sie sehr gekonnt die weiteren Ermahnungen der immer noch sehr entrüsteten Frau von Ellberg. Und als die Litanei kein Ende nehmen wollte, gähnte sie laut und ungeniert und behauptete: »Ich bin sehr müde, mein lieber... Herr Vater. Lasst uns zu Bett gehen.« »Ja, das wird das Beste sein.« Die Ehrendame trottete zu ihrer Kajüte, ließ sich dort von Lucie aus Rock, Hosen und Wams helfen und stöhnte behaglich, als sie in ein langes und weites Nachtgewand gehüllt wurde. Seufzend sank sie auf ihr Lager und schlief nach wenigen Minuten ein. Mechthild und ihre Zofe befreiten sich nun ebenfalls von ihren Gewändern und schlüpften bald darauf unter die Decken. Binnen kurzem waren auch sie eingeschlafen, so wie die meisten Männer der Besatzung. Gemächlich schaukelte die ›Seenixe‹ auf dem Wasser, während der Mann am Ruder vor sich hin döste. Es war inzwischen spät am Abend und alles war wie immer. Und so senkte sich die Nacht 16
über das Schiff. Es herrschte tiefer Frieden, den niemand stören würde. Wer sollte es schon auf ein so unscheinbares Schiff abgesehen haben? Niemand von der Mannschaft und den wackeren Söldnern bemerkte daher die acht Männer, die in einer Schaluppe ganz dicht an die ›Seenixe‹ herangekommen waren. Man hörte und sah nicht, dass Enterhaken, an denen Seile hingen, sich in die Schiffsplanken bohrten, wie Männer an diesen Seilen empor kletterten und anschließend fast geräuschlos die Mannschaft in ihre Gewalt brachten. Einer der Piraten übernahm das Ruder, die anderen blieben im Inneren des Schiffes und machten sich auf die Suche nach der Beute. * »Macht auf, macht um Gottes Willen auf!« Die laute Stimme Oswald von Paskows weckte die Komtesse und ihre Zofe mitten in der Nacht. Mechthild war als erste vollkommen wach. Sie warf sich einen Schlafrock über und schlich zur Tür. Sie öffnete sie einen Spalt und sah ihren Onkel davor stehen, neben ihm Frau von Ellberg, die sich in aller Eile angekleidet haben musste. Beide waren nicht nur erregt, sondern sogar schockiert, so dass Mechthild beklommen flüsterte: »Was habt Ihr denn, Onkel Oswald? Geht es Frau von Ellberg nicht gut?« Der Geistliche antwortete nicht, er stürzte in die Kajüte, Frau von Ellberg folgte ihm und sank auf das Lager der vor Schreck laut schreienden Zofe. »Seid still, alle drei!«, ermahnte sie der Geistliche schroff. Die Frauen nickten verängstigt und fragten sich, was eigentlich geschehen war. Paskow hatte jetzt die Tür von innen verriegelt und befahl nun den Mädchen: »Zieht Euch so schnell wie möglich an. Wir sind soeben von Piraten überfallen worden. Sie waren auf einmal da... Wir wissen nicht... wie. Sie haben sich des Schiffes bemächtigt und dann den Kapitän, den Steuermann und unsere... Garde... sowie alle anderen im Zwischendeck eingeschlossen. Ich konnte gerade noch entwischen.« 17
»Pi...ra...ten?« Der Ehrendame versagte beinahe die Stimme, eine Hand auf ihren Busen gedrückt, saß sie da und schaute fassungslos von einem zum anderen, so als würde von dort Hilfe kommen. Lucie hockte neben ihr wie erstarrt und bewegte sich erst, als ihre Herrin sie heftig anfuhr: »Zieh dich an und Ihr ordnet Eure Kleidung auch, Frau von Ellberg, knöpft Euer Hemd zu und setzt den Hut richtig auf. Die Piraten müssen ja nicht unbedingt wissen, dass Frauen an Bord sind.« Oswald von Paskow, der nun der alleinige Hüter seiner Nichte war, nickte zustimmend und drehte sich dann um, damit die Mädchen sich ankleiden konnten. Mechthild war als erste fertig. Sie hatte ihre langen rotblonden Haare fast vollständig unter einer eng anliegenden Kappe verborgen und sah in dem dunkelbraunen Gewand aus Samt auf den ersten Blick wie ein junger Mann aus, ihre Zofe, klein und zierlich, wirkte wie ein Junge von zwölf bis fünfzehn Jahren. Frau von Ellberg war jedoch nicht in der Lage, sich vollständig zu kostümieren, sie ließ sich von Lucie helfen, jammerte dabei leise vor sich hin und fragte schließlich: »Was wird nun bloß aus uns werden? Man wird uns auf dem Sklavenmarkt verkaufen oder aufhängen oder...« In diesem Augenblick hörten sie, wie jemand an der Türklinke rüttelte, dann ein lautes unmissverständliches Klopfen. Entsetzt klammerte sich die Ehrendame an den Geistlichen, während Lucie sich zitternd auf ihr Bett setzte. Nur die Komtesse blieb aufrecht stehen. Sie rührte sich auch nicht, als die Tür gewaltsam geöffnet wurde und vier Männer die Kajüte betraten. »Da ist er ja, der Pfaffe, der uns entkommen ist«, rief einer von ihnen in einer nordischen Sprache, die die Komtesse recht gut verstehen konnte. Triumphierend lachend näherte er sich dem vor Angst bebenden Geistlichen, der obendrein noch die Ehrendame beruhigen musste. »Und er ist nicht allein«, fügte ein anderer Pirat hinzu. »Es gibt also doch noch andere Beute.« »Habt Erbarmen!«, flehte Oswald von Paskow. »Verschont uns, wir sind nur arme Leute und haben Euch nichts getan.« 18
»Arme Leute?«, rief einer der Freibeuter höhnisch und wies auf die Ehrendame. »Du machst wohl Witze, Schwarzrock! Der hier ist vermutlich ein wohlhabender Kaufmann, ein Pfeffersack. Er ist gut genährt und in bestes Tuch gekleidet und der da...«, er zeigte auf die Komtesse und betrachtete sie sehr eingehend von allen Seiten, »der nagt auch nicht am Hungertuch, trägt Stiefel aus edlem Leder und Samt aus Genua. Und der Kleine, der auf dem Bett hockt, gehört sicher auch zu dieser feinen Sippschaft.« »Ja, so ist es«, erwiderte die Komtesse festen Tones und sah dem Piraten genau in die Augen. »Der Geistliche ist mein Onkel und sein Name ist Oskar Stahl. Ich bin Gottfried von Thomow und reise mit meinem Herrn Vater und meinem jüngeren Bruder Lu...dwig nach Kopenhagen. Hier ist unser ganzes Geld, nehmt es und lasst uns dann in Frieden.« Sie holte eine Börse aus ihrem Gepäck und reichte sie dem Piraten. Die Freibeuter lachten schallend. Diese magere Beute anzunehmen, schien unter ihrer Würde zu sein. Ein großer Blonder nahm aber dennoch die Geldtasche und schaute hinein. Der Inhalt schien ihm nicht besonders zu gefallen, denn er gab sie an einen Schwarzhaarigen weiter. »Viel zu wenig«, meinte dieser verächtlich, nachdem er die Münzen flüchtig gezählt hatte. »Wir sollten den Pfeffersack und seinen Anhang mitnehmen, Kapitän. Ich bin mir sicher, dass deren Familie ein saftiges Lösegeld springen lässt.« Der Blonde schaute den anderen kurz an und sagte ruhig: »Wenn das so ist, mein Freund, dann nehmen wir diese Kerle mit. Sie können bei uns arbeiten, bis das Lösegeld eintrifft. Einen Pfaffen kann unsereiner gelegentlich auch brauchen, der Alte kann in der Kombüse helfen und die jungen Herren...«, Klaus Störtebeker grinste vergnügt, »... die werden auch genug zu tun haben. Doch vorher werden sie uns sagen, an wen wir unsere Botschaft schicken sollen. Und lügt uns ja nicht an, sonst baumelt Ihr sehr schnell am nächsten Mast.« Frau von Ellberg war dem psychischen Druck nicht mehr gewachsen. Sie wurde sehr blass, schnappte hörbar nach Luft und such19
te erneut nach einem Halt. Oswald von Paskow und Lucie konnten sie gerade noch zum Lager bugsieren. »Unser Vater hat ein schwaches Herz«, erklärte Mechthild Margarita eindringlich. »Er wird Euch nicht von Nutzen sein, ebenso wenig wie der Onkel, mein Bruder und ich. Nehmt Euch die Schiffsladung und unsere Dukaten und verschwindet. Mehr ist bei uns nicht zu holen.« »Was wir uns nehmen, ist ganz allein unsere Sache«, meinte der Schwarzhaarige spöttisch. »Und dieses Mal verzichten wir auf die Ladung. Ihr und Euer steinreicher Papa seid viel kostbarer. Rafft also Euren Kram zusammen und kommt mit!« »Mir ist so übel«, jammerte Frau von Ellberg. »Ich werde sterben...« »Gut, lassen wir den Alten hier und den Pfaffen auch«, ordnete Störtebeker resolut an. »Mit den beiden werden wir tatsächlich nur Verdruss haben. Die Burschen genügen auch für das Lösegeld. Habt Ihr das verstanden?« »Nein«, fauchte die Komtesse. »Unser Vater braucht uns. Ihr bekommt das Lösegeld sowieso. Lasst uns erst in Kopenhagen sein, dort hat Papa eine Niederlassung, dann wird er...« »... dann könnt Ihr Euch gar nicht mehr erinnern, was Ihr uns versprochen habt«, vollendete der Schwarzhaarige ironisch. »Nichts da. Ihr und Euer kleiner Bruder, Ihr kommt mit. Ihr habt fünf Minuten Zeit, um das Notwendigste einzupacken. Eilt Euch also!« Mechthild von Wisby schaute zu ihrem Onkel, doch der erwiderte ihren Blick nicht. Vielleicht wollte er ihn auch nicht erwidern. Zumindest war er vollkommen ratlos und hatte andererseits genug damit zu tun, Frau von Ellberg zu beruhigen, was den Freibeutern sichtlich auf die Nerven ging. Sie wollten umgehend zu ihrem Schiff zurück. »Führt die jungen Herren hinaus«, bestimmte der Schwarzhaarige nun und nickte Klaus Störtebeker und den beiden anderen Seeleuten augenzwinkernd zu. »Wenn sie ihre Sachen nicht mitnehmen wollen, dann bekommen sie von uns Hosen, Hemd und Wams. Schafft sie zur Schaluppe und wartet bis ich den Pfaffen verhört habe.« Störtebeker und die beiden Matrosen grinsten zustimmend. Sie stießen die Komtesse und ihre vor Angst zitternde Zofe aus der Kajüte 20
und beförderten sie trotz ihrer heftigen Gegenwehr unverzüglich zum Boot. Gustav Schanning, so nannte sich der Schwarzhaarige, hatte seinen Begleitern einen Augenblick nachgesehen. Als sie die Tür hinter sich geschlossen hatten, wandte er sich an den Geistlichen und sagte freundlich, aber bestimmt: »Überlasst die Frau ruhig Ihrer Unpässlichkeit, sie wird sich sicher bald erholen. Wir haben nämlich nicht vor, Euch und der Komtesse sowie ihrer Zofe ein Haar zu krümmen. Wir wollen auch kein Lösegeld, das könnt Ihr Eurem Schwager, dem Grafen von Wisby, ausrichten. Ich bin Prinz Carl Magnus von Thurkland und möchte nur meine Braut vor der Hochzeit genau kennen lernen.« Nach diesen inhaltsschweren Worten drückte er dem verdatterten Oswald die Geldbörse in die Hand. Die Ehrendame hatte sich unterdessen stöhnend aufgerappelt und stotterte: »Ihr seid... der Pprinz...?« »O ja, liebe Dame, der bin ich«, entgegnete er lächelnd. »Ich habe erfahren, dass meine Braut auf diesem Schiff weilt und will auf meine Art und Weise um sie werben. Macht Euch also keine Sorgen und segelt wie geplant nach Kalmar. Dort werden Euch mein Vater, der Herzog und meine Frau Mutter erwarten. Und irgendwann werden die Komtesse und ich nachkommen. Das verspreche ich Euch. Und damit Ihr mir auch glaubt, habe ich dieses Schriftstück vorbereitet. Es trägt meine Unterschrift und mein Siegel.« Er zog eine kleine Schriftrolle aus seinem Hemd und drückte diese Oswald von Paskow in die Hand. Der nahm sie zwar, saß jedoch wie versteinert da und war immer noch sprachlos. Frau von Ellberg war auch nicht fähig, ein Wort zu sagen, sie starrte den Prinzen nur an und schüttelte mehrmals den Kopf. Sie begriff vorerst gar nichts und war von dieser Situation völlig überfordert. »Ich sehe Euch an, dass Ihr Euch jetzt sehr wundert und gebe zu, dass meine Methoden ungewöhnlich sind. Andererseits müsst Ihr mich auch verstehen. Ich bin mit der Komtesse zwar schon sehr lange verlobt, aber ich habe sie noch nie gesehen und sie mich auch nicht. Wir wissen nichts voneinander. Das gefällt mir nicht. Und deshalb möchte ich sie fern von allen Zwängen und jeglicher Etikette kennen lernen, 21
möchte wissen, wie sie wirklich ist. Und das kann ich nur, wenn ich ein paar Wochen mit ihr allein bin.« »Ein paar... Wochen?«, murmelte die Ehrendame entsetzt und fand damit ihre Sprache wieder. »Das ist ja furchtbar... Der gute Ruf von Mechthild Margarita wird unwiederbringlich dahin sein. O Gott, o Gott...« »So wird es nicht sein«, beteuerte Carl Magnus. »Bedenkt doch, dass sie meine Braut ist. Daran wird sich nichts ändern.« Oswald von Paskow hatte unterdessen das Dokument gelesen, lächelte nun wohlwollend und erwiderte gemessen: »Dann verlassen wir uns auf Euer Wort, Prinz und hoffen auf eine baldige Vermählung.« »Ich merke, wir verstehen uns.« Gustav Schanning oder Carl Magnus von Thurkland bedachte den Geistlichen und Frau von Ellberg mit einem charismatischen Lächeln und verließ dann die Kajüte. Die beiden Zurückbleibenden sahen sich sekundenlang schweigend an, als müssten sie das eben Geschehene noch einmal an ihrem geistigen Auge vorüberziehen lassen. Der Priester hatte sich bald beruhigt, doch die Ehrendame schluchzte erneut hysterisch. »Warum weint Ihr? Mechthild ist bei dem Prinzen sicher in guter Hut.« »Dieser Mann ist doch nicht der Prinz«, berichtigte sie ihn fast kreischend. »Ich habe sein Bildnis gesehen und erinnere mich genau, dass er blond ist und eine helle Gesichtsfarbe hat. Und wie sieht dieser Mann aus? Wie ein Spanier oder Italiener.« Dem guten Oswald verging augenblicklich seine Seelenruhe, er stammelte entgeistert: »A—aber dieses Schrift—stück sagt doch aus, dass er der Prinz ist und Mechthild... hheiraten wird. Und das Siegel ist bestimmt echt. Außerdem haben Piraten keine Bildung, können nicht lesen und... schreiben.« »Manche können das durchaus. Denkt doch an die vielen Söhne aus besseren Kreisen, die zu Hause kaum eine Zukunft haben und darum oft ihr Glück auf dem Meer suchen, die genauso wie Piraten plündern und morden.« 22
»Ja, das ist wahr«, gab der Geistliche bedrückt zu. »Ich habe nicht ordentlich nachgedacht. Ihr meint also, dieses Dokument ist eine Fälschung?« »Davon bin ich überzeugt. Wer weiß, was dieser Schurke ausheckt. Vielleicht hat er auch den echten Prinzen in seiner Gewalt, hat so von der Komtesse erfahren und will sie nun zu seiner Dirne machen. Und damit ihn niemand verfolgt, behauptet er, der Prinz von Thurkland zu sein. Deshalb sollen wir weiter nach Schweden segeln und dort abwarten.« Oswald von Paskow raffte seine nicht sehr umfangreiche Energie zusammen und erwiderte: »Wir werden nicht nach Kalmar segeln. Wir kehren um. Mechthilds Vater und meine arme Schwester müssen umgehend informiert werden. Sie werden auch wissen, was nun zu tun ist.« »Das ist eine sehr weise Entscheidung, der ich mich voll und ganz anschließe«, versetzte die Ehrendame. »Doch ich frage mich, ob die Piraten noch da sind... und wenn nicht, wer führt dann unser Schiff?« »O Gott«, flüsterte der Priester jetzt auch und rannte hinaus. Er hatte überhaupt nicht daran gedacht, die eingeschlossenen Seeleute und die Soldaten des Grafen zu befreien. Ängstlich, aber fest entschlossen, schlich er über das Deck bis vom zur Brücke. Dort stand zu seinem großen Erstaunen der Kapitän am Ruder, ruhig und selbstsicher wie immer. »Ihr wart doch eingesperrt? Habt Ihr Euch allein retten können?«, flüsterte Oswald von Paskow verwirrt. »Die Spitzbuben haben uns selbst herausgelassen, bevor sie verschwunden sind. Und sie waren so schnell, dass ihnen unsere Pfeile nichts mehr anhaben konnten. Ich frage mich nur, was sie eigentlich hier wollten. Mitgenommen haben sie nichts.« »Doch, Kapitän, Komtesse Mechthild und ihre Zofe.« »Um Gottes Willen«, keuchte der Schiffsführer. »Die armen Mädchen. Doch wir können vorerst nichts für sie tun, wir sind viel zu wenige, um den Kampf mit den Freibeutern aufnehmen zu können.« 23
»Sehr richtig«, bekräftigte Oswald. »Segelt umgehend zurück, damit wir mit dem Grafen beraten können, wie seine Tochter zu retten ist.« Der Kapitän nickte beklommen. Er gestand sich ein, dass er und seine Leute auf der ganzen Linie versagt hatten. Sie waren überrumpelt worden und wussten nicht einmal von wem. * Dicht aneinander gedrängt wie zwei verschüchterte Hühner hatten Mechthild Margarita und ihre Zofe in der Schaluppe gesessen und hatten sich verzweifelt ausgemalt, in Kürze die wehrlose Beute einer Horde von Piraten zu sein, denn schon bald würde man erkennen, dass sie Frauen waren, spätestens dann, wenn man ihnen befahl, die erlesenen Gewänder gegen die einfache Kleidung eines Matrosen zu vertauschen. Doch nichts dergleichen war geschehen – bis jetzt noch nicht. Man hatte sie nur zu dem anderen Schiff befördert, hatte sie unter strengster Bewachung zu einem kleinen Raum gebracht und dort eingeschlossen. Seitdem waren mehr als zwei Stunden vergangen, zwei Stunden, in denen sie sich immer wieder fragten, warum gerade ihnen so etwas passieren musste. »Was... wird man jetzt mit uns... machen?«, stammelte Lucie schluchzend, während sie wie ein Häufchen Unglück auf der schmalen Lagerstatt kauerte und ihre Herrin verstört ansah, die auf einem Schemel saß. »Ich weiß es nicht«, versetzte Mechthild ausdruckslos. »Es kann sicher sehr schlimm für uns werden. Wir sind schließlich auf einem Piratenschiff und dort geht es ganz bestimmt nicht gesittet zu. Ich denke jedoch, dass mein Vater jede Summe für uns zahlen wird. Und so lange wird man uns vielleicht in Ruhe lassen.« »Ja... vielleicht«, murmelte die Zofe wenig überzeugt. »Aber diese abscheulichen Männer werden bestimmt bald herausbekommen, dass... dass wir Mädchen sind und dann...« »Sie dürfen es eben nicht merken, auf gar keinen Fall«, erwiderte die Komtesse nachdrücklich. »Du solltest dich krank stellen, Lucie. In 24
diesem Fall wird man vielleicht einsehen, dass ich meinen kleinen Bruder pflegen möchte.« »Das... das glaubt man uns doch nicht.« Die Zofe schluchzte noch lauter, verstummte jedoch erschrocken, als sie heftig angefahren wurde: »Hör endlich auf zu heulen! Damit machst du nichts besser. Wir warten erst einmal ab, was man mit uns vorhat. Irgendwann muss sich hier ja jemand von der Diebesbande sehen lassen.« »Jja... Komtesse.« »Gewöhne dich daran, mich Gottfried zu nennen... Gottfried von Thomow. Und du bist Ludwig und gerade vierzehn Jahre alt, ich bin schon älter, sagen wir neunzehn. Sollten weitere Fragen kommen, dann werden wir diese nicht beantworten. Wir haben vor Schreck und Angst alles vergessen.« Lucie hatte sich die Tränen mit dem Handrücken abgewischt und schniefte nun zustimmend. »Gut, denke also immer daran, was ich gesagt habe. Und rede so wenig wie möglich. Dann kannst du auch nichts verraten. Doch nun sollten wir versuchen, ein wenig zu schlafen.« Die Komtesse legte sich auf ihr Bett - so wie sie war - angekleidet und mit einer Kappe auf dem Kopf. Schlafen konnte sie jedoch noch lange nicht, ganz im Gegensatz zu Lucie, deren tiefe und gleichmäßige Atemzüge bald zu hören waren. Die Kleine war ermattet eingeschlafen. * Am anderen Morgen wurden sie sehr unsanft geweckt. Der Blonde und der Schwarzhaarige waren mit schweren Schritten in ihre Kajüte gekommen, standen vor den Lagerstätten und schienen sich zu amüsieren. »Schlaft Ihr immer in Euren Gewändern?«, erkundigte sich der Dunkelhaarige spöttisch. »Unsere Nachthemden befinden sich auf einem anderen Schiff, wie Ihr genau wisst«, entgegnete die Komtesse spitz und stand auf. »Und um nackt zu schlafen, ist es hier doch ein wenig zu kühl. Außer25
dem ist mein Bruder krank geworden. Er hat Fieber und Schüttelfrost und braucht viel Wärme.« »Ach ja?« Störtebeker musterte Lucies rosige Wangen, sagte aber nichts weiter dazu, sondern nur: »Der Ludwig ist also krank. Nun ja, da kann man ihn vorerst nicht zur Arbeit einteilen. Daher wirst du ihn pflegen, Gottfried. Doch diese Aufgabe lastet dich natürlich nicht aus. Daher wirst du fortan der persönliche Bursche meines Steuermannes sein. Das ist er übrigens und heißt Gustav Schanning.« Klaus wies auf seinen Begleiter, der nach Mechthilds Ansicht viel zu breit lächelte, ja, geradezu süffisant grinste. Sie hätte ihm vor Wut ins Gesicht schlagen mögen. Leider war er viel stärker als sie, war groß und breitschultrig und sah im übrigen nicht so aus, als wenn er sich so etwas gefallen ließe. Diesen Kerl konnte man höchstens überlisten. »Gustav Schanning ist also dein unmittelbarer Herr«, führte Klaus weiter aus, wobei er sich bemühte, ernst zu bleiben. »Du hast ihm zu dienen, seine Befehle auszuführen, ihm zu gehorchen und nur zu reden, wenn du angesprochen wirst. Und von jetzt ab bist du nicht mehr der junge Herr von Thomow, sondern nur noch Gottfried, zu dem wir ›du‹ sagen werden, wie du schon bemerkt haben wirst. Verstanden?« »Ja doch. Ihr redet ja laut genug«, gab die Komtesse schnippisch zurück, was ihr jedoch nicht gut bekam. Ihr Herr versetzte ihr einen Stoß gegen den Oberarm, so dass sie gegen die Wand taumelte und zischte ihr anschließend zu: »Deine Überheblichkeit werde ich dir noch austreiben, Jüngelchen. Darauf kannst du dich verlassen. Also gehorche lieber.« Mechthild antwortete nicht, sie rieb sich den schmerzenden Arm und traktierte ihren Widersacher mit wütenden Blicken, während Lucie das Geschehen mit vor Angst geweiteten Augen verfolgte. Die Zofe bekam von den Erklärungen der Hauptleute dieses Schiffes kaum etwas mit, war viel zu verstört und doch in den nächsten Tagen jedoch mehr als froh, dass ihre Herrin genügend Mut bewies und sich auf der Kogge bald gut zurechtfand. Sie wusste, wo man sich waschen und seine Notdurft verrichten konnte und trug die derbe Kleidung, die man ihnen zur Verfügung gestellt hatte, als wäre diese ein herrliches Gewand aus Samt und Spitzen. Sie hatte auch den Einfall 26
gehabt, ihre Haare unter einem nach Piratenart geknüpften Tuch zu verbergen. Und so kam sicher niemand auf den Gedanken, dass sie beide keine Männer waren. Die übrige Mannschaft kümmerte sich übrigens kaum um den Zuwachs, die Schiffsleute gingen ihrer Arbeit nach und warfen keinen Blick auf Gottfried von Thomow, wenn dieser mit seinem immer noch kränkelnden Bruder an der Reling stand, um frische Luft zu schnappen. * Gustav Schanning hatte genau wie der Kapitän eine Kabine für sich allein, was von den anderen Männern als unverständliche Bevorzugung angesehen worden wäre, wenn man nicht ganz genau gewusst hätte, dass der Steuermann adliger Herkunft war. So hatte es ihnen jedenfalls der Kapitän erklärt. Das akzeptierten sie, genauso wie sie jetzt dessen persönlichen Burschen akzeptierten. Ein Adliger, der auf dem ›Roten Teufel‹ nur das Schiffshandwerk erlernen wollte, konnte sich eben so etwas leisten. So schwiegen sie und grinsten nur, wenn Gustav den ›kleinen Gottfried‹ wieder einmal ziemlich hart heran nahm. Man hatte inzwischen die Meerenge vor Britannien passiert und befand sich nun in der Westsee mit Kurs auf die schwedische Küste. Es würde jedoch noch einige Tage dauern, bis man dort vor Anker gehen konnte. Und es würde vor allem sehr langweilig werden, denn der Kapitän, der ja sonst immer der mutigste und verwegenste von allen Männern war, hatte angekündigt, dass man erst wieder auf Beutezug gehen würde, wenn Gustav Schanning seine Lehrzeit beendet hätte. Gottfried von Thomow oder Komtesse Mechthild hatte von diesem Abkommen natürlich keine Ahnung. Sie zitterte daher innerlich vor dem nächsten Überfall, denn schließlich taten Piraten ja nichts anderes, als zu morden, zu plündern und anständige Menschen um ihr Hab und Gut zu bringen. Andererseits war sie jedoch froh, dass diese niederträchtigen Kerle sie und Lucie weitgehend in Ruhe ließen. Der Kapitän war sogar sehr nett und hilfsbereit. Der Einzige, mit dem sie sich gar nicht anfreunden konnte und dem sie am liebsten ins Gesicht ge27
spuckt hätte, war ihr Herr und Meister, dieses Raubein, dieser Flegel, der sie stets und ständig wie einen Sklaven zur Arbeit antrieb. »Gottfried!«, rief er gerade und hielt einen seiner Stiefel in die Höhe. »Nennst du das hier etwa eine saubere Arbeit? Damit kann ich mich vor unserem Hauptmann nicht sehen lassen. Los, putze die Stiefel noch einmal und dann ordentlich. Sie sollen glänzen, dass man sich in ihnen spiegeln kann.« »Ja, Herr.« Sie hob die Stiefel auf, die er ihr eben vor die Füße geworfen hatte, setzte sich auf einen Schemel und begann die guten Stücke mit einer undefinierbaren Paste einzureiben, die Schanning ihr vor ein paar Tagen gegeben hatte. Dabei dachte sie an Lucie, die es viel besser als sie getroffen hatte. Nachdem sie ihre ›Krankheit‹ überwunden hatte, war sie dem Koch zugeteilt worden, einem behäbigen und gutmütigen Mann um die Vierzig, der viel lieber allein arbeitete und ›Ludwig‹ nur selten an die Töpfe und Pfannen ließ. Meist saß Lucie nur herum, naschte ein wenig und durfte früh zu Bett gehen. Sie war ja angeblich noch ein Kind. »Hast du nun endlich meine Stiefel richtig geputzt, du Milchgesicht?« Schannings Anranzer riss sie aus ihren trüben Gedanken. »Ja«, fauchte sie. »Besser geht es nicht. Ihr solltet Euch bei Eurem nächsten Landgang neue Stiefel kaufen. Aber wahrscheinlich wisst Ihr gar nicht, was kaufen bedeutet. Ihr könnt ja nur stehlen.« Sie stellte die Stiefel vor ihn hin und wollte hinausgehen. Doch dazu kam sie nicht. Der Steuermann hielt sie am Arm fest und blaffte: »Wage es nicht noch einmal, so mit mir zu reden. Dann wirst du mich kennen lernen.« »Ich kenne Euch doch... schon... mehr als genug«, gab sie wütend zurück, während sie sich energisch (und erfolglos) gegen ihn wehrte. »Ihr seid der Schlimmste von der ganzen Mannschaft, Euch ist nichts heilig, Ihr seid ein Leuteschinder und...« »Und du bist ein überheblicher und eingebildeter Bursche und überdies ein notorischer Faulpelz«, warf Schanning gleichmütig ein. »Und frech bist du auch. Doch diese Frechheit werde ich dir austreiben. Darauf kannst du dich verlassen. Klein und demütig wirst du werden und mich irgendwann bitten, immer mein Diener sein zu dürfen.« 28
»Darauf könnt Ihr lange warten. Mein Vater wird das Lösegeld zahlen - schon bald. Und dann kann ich dieses Schiff verlassen und muss nicht mehr in Eure widerwärtige Fratze schauen.« Er blieb ruhig, auch wenn ihn ihre Worte sichtlich verärgerten. Er hielt die Komtesse nach wie vor fest und antwortete mit klirrender Stimme: »Ich glaube, du hast dich noch nicht so recht an mich gewöhnt. Doch das lässt sich schnell ändern. Ab sofort wirst du in meiner Kajüte schlafen und nur jeden Wunsch von den Augen ablesen.« Mechthild war so entsetzt, dass sie vergaß, sich zu wehren. »Was soll... ich?« »Bei mir schlafen. Ich sagte es doch schon.« »Das... das... geht... nicht. Mein kleiner... Bruder ängstigt sich ohne... mich.« Schanning lachte spöttisch und erwiderte dann: »Dein kleiner Bruder hat sich längst mit dem Koch und mit Gerd Windmaker angefreundet. Er ist bei den beiden gut aufgehoben und vermisst dich nicht. Erkläre mir jetzt nicht, dass du das nicht weißt.« »Natürlich, aber des nachts ist er bisher immer bei mir gewesen und wird sich allein fürchten.« Der Steuermann ließ Mechthild jetzt zwar los, blieb aber vor der Tür stehen, so dass sie die Kajüte nicht verlassen konnte. Er lachte nicht mehr, sondern blickte sie zornig an und erwiderte sarkastisch: »Das sind ja ganz seltsame Töne vom Sohn eines Pfeffersackes, aber die Sorge betrifft ja nur ein Mitglied der Familie, nicht die Gesellen und Lehrjungen deines Vaters, die in kalten und fensterlosen Kammern hausen müssen und oft genug mit dem Ochsenziemer geschlagen werden.« »Mein Vater schlägt seine Leute nicht.« »Weißt du das so genau?« Als sie nicht antwortete, sondern hochmütig schwieg, entgegnete er: »Ich kenne deinen Vater nicht, aber da er dich zu einem eingebildeten Laffen erzogen hat, muss ich annehmen, dass er genauso ist wie du. Er hat kein Herz für die Armen und lindert ihre Not nicht.« »Wenn Euer Kapitän das Lösegeld für Ludwig und für mich bekommt, dann kann er die Dukaten ja unter dem Volk aufteilen. Aber 29
ich glaube nicht, dass er das macht. Er wird das Geld selbst behalten und verprassen.« »Da kennst du Klaus Störtebeker aber schlecht. Doch lassen wir das. Du gehst jetzt zu deiner Kammer, holst deine Sachen und bist in zehn Minuten wieder hier. Das ist ein Befehl!« Sie warf ihm einen wütenden Blick zu, den er mit einem Lächeln quittierte. Dann rannte sie hinaus, als wäre der Teufel hinter ihr her. * Er hatte ihre Tränen nicht sehen sollen. Und der Kapitän sollte sie ebenfalls nicht bemerken, auch wenn Klaus Störtebeker wesentlich verständnisvoller und freundlicher war, als sein Steuermann. Aber ein junger Mann weinte eben nicht, der wehrte sich anders gegen ein Unrecht, der beruhigte sich auch bald wieder und saß nicht wie sie herum und versuchte sich zu beherrschen. Es war besser, etwas zu unternehmen. »Wo ist der Schiffshauptmann?«, fragte sie kurz darauf einen der Seemänner, die auf Deck ihrer Arbeit nachgingen. »In seiner Kajüte, soll ich dich zu ihm führen?« »Ja, bitte«, antwortete sie beklommen und folgte dann dem Matrosen. Dieser ging mit ihr zu einem Teil des Schiffes, den sie noch nicht kannte und klopfte schließlich an eine Tür. Der Kapitän öffnete, schaute verwundert auf den vermeintlichen Gottfried von Thomow und fragte dann unwirsch: »Willst du zu mir, Bursche?« »Ja, ich... muss mit Euch... reden. Es ist wichtig.« Mechthilds Stimme klang flehend, viel mehr, als ihr bewusst war. Klaus lächelte versteckt und schickte den Matrosen fort. Er ahnte, dass die Komtesse lieber mit ihm allein sprechen wollte. »Nun, was hast du auf dem Herzen?«, erkundigte er sich, nachdem er das aufgebrachte Mädchen in seine Kajüte gebeten und die Tür geschlossen hatte. »Euer Steuermann verlangt von mir, dass ich fortan in seiner Kammer schlafen soll.« 30
»Wenn er das so möchte, habe ich nichts dagegen.« »Ihr nicht, aber ich«, rief sie bestürzt aus. »Gustav Schanning ist ein gemeiner Kerl. Es reicht mir schon, wenn ich ihm dienen muss, aber schlafen werde ich nicht bei ihm. Könnt Ihr nicht mit ihm reden und ihm sagen, dass er es sich anders überlegen soll?« »Warum sollte ich das tun?« »Weil ich bei meinem Bruder bleiben will und weil es sich nicht gehört, dass... dass der Sohn eines Handelsherrn mit einem Piraten in einer Kammer haust. Bedenkt doch, ich bin dergleichen nicht gewöhnt.« »Dann wirst du dich eben jetzt daran gewöhnen«, antwortete Störtebeker mit gespielter Strenge. »Ich werde jedenfalls die Entscheidung meines... äh... Steuermannes nicht rückgängig machen. Finde dich damit ab, je eher, desto besser.« »Ich will aber nicht«, rief sie trotzig und hatte nun wirklich Angst. Wenn Schanning herausbekam, dass sie eine Frau war - und er würde es noch an diesem Abend herausbekommen - dann würde er sie auf sein Lager zerren und ihr Gewalt antun. Dann war ihr Leben zu Ende, dann konnte sie auch gleich über Bord springen. Doch was wurde dann aus Lucie? »Ich will auch so manches nicht.« Mit diesen Worten unterbrach Klaus ihre verzweifelten Gedanken, ihre Panik und Empörung. »Man muss sich im Leben mit vielem abfinden, aber ich kann dir versichern, junger Mann, dass Gustav Schanning dir ganz bestimmt nichts Böses antun wird. Ich kenne ihn schon lange und weiß, dass er für sein Tun immer Gründe hat. Sei nicht so hochmütig und tu deine Pflicht, dann wirst du sicher bald viel besser mit ihm auskommen.« Den letzten Satz hörte sie kaum noch, denn sie stürzte zur Tür, weil ihr wieder Tränen in die Augen traten. Wie blind lief sie davon, sah weder ihre Zofe, die mit dem Waffenmeister schäkerte, noch Gustav Schanning. Sie rannte zu ihrer Kammer und ließ sich dort auf das Lager fallen. Was sollte sie jetzt nur tun? Konnte sie den Worten des Kapitäns vertrauen? Nein, dieser mochte ja in dem Steuermann seinen Freund sehen, aber auch er wusste sicher nicht, wie Gustav Schanning mit Frauen umging. 31
In diesem Moment wurde die Tür aufgerissen und derjenige, an den sie unablässig dachte, trat ein und fragte verhältnismäßig ruhig: »Bist du immer noch nicht fertig? Es kann doch nicht so schwierig sein, deine Siebensachen zu packen.« »Nein«, hauchte sie resigniert, stand auf und ordnete die wenigen Kleidungsstücke zu einem Bündel, das sie dann in die Hand nahm. »Mehr habe ich nicht«, sagte sie noch und ging stolz, aber mit stark klopfendem Herzen, hinaus. Er folgte ihr schweigend, bis sie seine Kajüte erreicht hatten. Dort zeigte er ihr ihre Schlafstelle, die inzwischen hergerichtet worden war und meinte beiläufig: »Dein Bruder weiß schon Bescheid. Er wird sich übrigens nicht fürchten.« Sie nickte nur und fragte zögernd nach weiteren Aufträgen. »Du kannst hier putzen und aufräumen. Und wenn du das getan hast, holst du vom Koch das Abendessen für uns beide.« Schanning bedachte sie mit einem wie ihr schien teuflischen Grinsen und verließ anschließend die Kajüte. Mechthild atmete erleichtert auf. Vorerst hatte sie Ruhe vor ihm, denn bis zum Abend waren es noch mehrere Stunden. * Zwei Stunden später kam Lucie zu ihr. Sie zitterte und war sichtlich erschrocken. »Der Steuermann hat gesagt, dass Ihr, dass... du jetzt hier schlafen musst«, jammerte sie. »Ob er etwas gemerkt hat? Aber ich kann nichts dafür. Ich habe auch Gerd und dem Koch nichts erzählt, hab' alles so gemacht, wie gnädige Komtesse befohlen haben und habe nur geredet, wenn mich jemand angesprochen hat.« »Du hast geschnattert wie eine Ente und warst viel zu schnell wieder gesund. Das lag vermutlich an den hübschen Augen von Gerd Windmaker.« Lucie errötete und flüsterte beschämt: »Er ist so nett und lustig. Aber er denkt, dass ich ein Junge bin.« 32
»Hoffentlich. Und du solltest daran denken, dass eine Liebschaft mit einem Piraten keine Zukunft hat. So einer kann dich nur ins Unglück stürzen. Doch nun geh wieder in die Küche, bevor dich hier jemand sieht. Wir reden später miteinander.« Die Zofe eilte hinaus, bestürzt und aufgeregt, während Mechthild leise seufzte. Sie sah sich im Raum um und hoffte, alles zur Zufriedenheit von Gustav Schanning erledigt zu haben. Es fehlte nur noch das Abendessen. Es war nicht das erste Mal, dass er sie in die Küche schickte, um ihm eine Mahlzeit zu holen, es war allerdings noch nie in diesen zehn Tagen, die sie bisher auf diesem Piratenschiff verbracht hatte, vorgekommen, dass sie das Essen für ihn und für sie zu bringen hatte. Was bezweckte er damit? Eine gute Stunde später wusste sie es. Sie sollte ihn bedienen, Wein einschenken, einen Apfel schälen und durfte auch selbst essen. Doch das konnte sie nicht. Ihr war so, als würde ihr jeder Bissen im Halse stecken bleiben. Und so trank sie nur ein wenig Most und ließ Zwieback und Fisch unberührt. »Du sollst essen, bist sowieso viel zu mager«, herrschte er sie an, nachdem er ihr eine Weile zugeschaut und seine Mahlzeit beinahe verschlungen hatte. »Ich habe keinen Hunger, wirklich nicht.« Er musterte sie forschend. »Du siehst krank aus. Das ist kein Wunder, bist ja viel zu warm angezogen. Zieh das Wams aus und binde das Tuch ab. Du hast sicher schon Läuse auf dem Kopf.« »Habe ich nicht«, gab sie entrüstet zurück und sprang auf, als er ihr das Tuch wegnehmen wollte. Dabei blickte sie ihn so ängstlich an, dass er gutmütig sagte: »Na gut, dann schwitze weiter. Du kannst auch weiter hungern, wenn dir das lieber ist.« Sie sah an ihm vorbei und fragte spröde: »Darf ich jetzt den Tisch abräumen?« »Von mir aus«, knurrte er und erhob sich. »Ich habe mit dem Kapitän noch einiges zu besprechen. Das wird dauern. Wenn ich wiederkomme, hoffe ich, dass du in diesem Bett dort liegst.« Er wies auf die 33
schmale Lagerstatt dicht neben der seinen. »Und solltest du dort nicht sein, dann gnade dir Gott. Dann werde ich dich finden und bestrafen.« Sie nickte nur, denn sprechen konnte sie nicht. Rein mechanisch räumte sie, nachdem er gegangen war, die Kajüte auf und brachte den Rest des Essens in die Küche zurück. Danach wusch sie sich und anschließend ihre Unterwäsche. Letztere hing sie zum Trocknen über extra ein dafür gespanntes Seil. Inzwischen war die Sonne untergegangen und es war merklich kühler geworden, windiger auch. Vielleicht würde es sogar einen Sturm geben, einen Sturm, der das Schiff wie eine Nussschale auf den Wellen tanzen ließ und dem sie alle hilflos ausgeliefert waren. Es sah so aus, als würden ihre Befürchtungen wahr werden, denn nur kurze Zeit später nahm der Wind an Stärke zu, worauf sie ihr unterdessen getrocknetes Unterzeug hereinholte und sich dann wieder auf das Bett kauerte. Angstvoll lauschte sie auf das Heulen des Windes, das ihr von Minute zu Minute bedrohlicher vorkam. Aus diesen Minuten schienen Stunden zu werden und es gab niemanden, der ihr beistand. Oder doch? Plötzlich hörte sie Schritte und rief unwillkürlich: »Wer ist da?« »Ich bin es, Gustav.« Der Steuermann war im Halbdunkel nicht gut zu erkennen und so konnte sie nicht sehen, dass ein weiches Lächeln um seinen Mund lag. Aber sie vernahm seine Stimme, die beruhigend klang und spürte seine Nähe, als er sich zu ihr auf das Lager setzte. »Du brauchst keine Angst zu haben. Es ist nur ein ganz kleiner Sturm. Der tut uns nichts... und ich tue dir nichts. Ich vergreife mich nicht an kleinen Jungen - an kleinen Mädchen auch nicht - Komtesse Mechthild Margarita von Wisby.« Sie vergaß den Sturm augenblicklich. »Ihr wisst, wer ich bin?« Er lachte leise. »Natürlich. Unser Schiffshauptmann weiß immer, welche Ladung an Bord eines Schiffes ist. Und er weiß auch, an wen er seine Forderungen richten muss. Meinst du, wir verlassen uns darauf, dass dein vertrottelter Onkel und die weinerliche Frau von Ellberg in unserem Sinne handeln?« 34
»Und warum muss ich dann wie eine Magd arbeiten?«, rief sie entrüstet. »Weil das der hochwohlgeborenen Grafentochter sehr gut bekommt und weil jeder hier auf dem Schiff arbeitet. Faulenzer dulden wir nicht.« »Ich bin nicht faul«, widersprach sie. »Aber ich werde später natürlich ganz andere Aufgaben haben. Ich bin die Braut des Prinzen Carl Magnus von Thurkland und werde einmal eine Herzogin sein.« »Na und? Deshalb brauchst du hier nicht tatenlos herumzusitzen. Vielleicht ist dieser feine Herr mir sogar dankbar, dass ich ihm eine so tüchtige Gemahlin präsentiere.« »Er wird Euch ganz gewiss nicht dankbar sein«, fauchte Mechthild. »Er wird Euch verfolgen und Euch für die Schmach, die Ihr mir angetan habt, zur Rechenschaft ziehen. Er wird Euch zum Zweikampf fordern... und er wird siegen.« »Meinst du?« »Ihr sollt mich nicht duzen, ich bin...« Ein Schrei beendete ihren Satz, denn sie wäre durch das Schlingern des Schiffes beinahe vom Bett gefallen. Schanning hatte jedoch geistesgegenwärtig zugegriffen, hielt sie fest und murmelte: »Ich schlage vor, wir zanken uns weiter, wenn der Sturm nachgelassen hat. Leg dich hin und schlafe. Es geschieht dir nichts... und nimm endlich das Tuch ab. Ich weiß, dass du rotes Haar hast.« »Woher?«, wisperte sie verblüfft. »Ich habe dir manchmal beim Waschen zugeschaut. Du bist sehr schön, kleine Mechthild.« Am liebsten hätte sie ihn nun geschlagen. Doch es gab viel zu viele Gründe, die gegen eine solche Maßnahme sprachen. Einer davon war, dass sie sich in seinen Armen sehr gut fühlte. Sie überging daher seine frechen Andeutungen und sagte nur: »Lasst mich los. Ich möchte schlafen.« »Aber bitte sehr. Er hauchte ihr einen Kuss auf die Wange und entfernte sich. Wenige Sekunden später hörte sie das Rascheln seiner Kleidung und vernahm, wie er sich auf sein Lager fallen ließ. Erst da35
nach wagte sie es, sich selbst auszuziehen, nahm das Tuch vom Kopf und kuschelte sich unter die Decke. Der Sturm ließ nun allmählich nach, Gustav Schanning schlief, doch sie selbst fand keine Ruhe. Immer noch spürte sie das Kratzen seines Bartes und seine Lippen auf ihrer Wange. * Johann Borwin von Wisby und seine Gemahlin Franziska waren außer sich vor Empörung und Sorge, nachdem sie erfahren hatten, was mit ihrer Tochter geschehen war. Auch sie glaubten nicht an die Echtheit des Dokumentes und an die des Prinzen. Ein so liederlich und südländisch aussehender Mann, Frau von Ellberg hatte ihn jedenfalls so beschrieben, konnte niemals der edle Carl Magnus von Thurkland sein. Und so war allen klar, dass die Komtesse und ihre Zofe in die Hände von Piraten gefallen waren. »Wir müssen sie finden, so bald als möglich«, legte der Graf fest. »Ich werde einen anderen Kapitän beauftragen, die Verfolgung aufzunehmen, nicht diesen Schwachkopf von der ›Seenixe‹. Die Garde wird verstärkt und ich werde selbst an Bord das Kommando führen.« »Aber Ihr wisst doch gar nicht, um welche Piraten es sich handelt«, wandte seine Frau bedrückt ein. »Wollt Ihr so die gesamte Ostund Westsee absuchen.« »Diese Schurken haben ihre Schlupfwinkel, in den Höhlen auf der Insel Rügen zum Beispiel oder auf Gotland. Und man kennt mittlerweile auch einige ihrer Schiffe und deren Flaggen. Wir müssen eben so lange nach Mechthild suchen - auf dem Meer und in den Häfen, bis wir sie gefunden haben... Tot oder lebendig.« Die Gräfin schluchzte bei den letzten drei Worten laut auf. Dann erhob sie sich schwankend und verließ langsam den Raum. Frau von Ellberg begleitete und stützte sie. »Meine arme, arme Schwester«, murmelte Oswald von Paskow, der seinem Schwager später in dessen Kontor gegenüber saß. »Ein Kind zu verlieren ist die höchste Strafe Gottes.« 36
»Rede nicht so töricht daher!« Graf Wisby sprang zornig auf, lief unruhig ein paar Schritte hin und her und verkündete dann: »Diese Spitzbuben werden mir nicht entkommen, denn hinter mir steht die gesamte Hanse. Es ist allen daran gelegen, dieses verbrecherische Gesindel zu erwischen und auszurotten. Meine Tochter wird gerächt werden. Das schwöre ich bei allem, was mir heilig ist. Ich werde auch meine Söhne mitnehmen...« »Das halte ich nicht für klug«, warf der Geistliche ein. »Willst du Franziska ohne männlichen Schutz hier zurücklassen, ganz abgesehen davon, dass sich dann niemand um deine Geschäfte kümmern kann?« Der Graf starrte seinen Schwager einen Moment fassungslos an, dann besann er sich und brummte: »Es kommt ja nicht oft vor, aber ausnahmsweise hast du mal recht. Franziska ist jetzt schon einem Nervenzusammenbruch nahe und wird es noch viel mehr sein, wenn Benedict und Gaston mich begleiten. Aber ganz allein reise ich nicht. Ich werde mich Armand Leblanc und Ignaz von Wolkersen anschließen. Die wollen ohnehin in Richtung Norden segeln.« »Sehr vernünftig«, lobte der Priester und griff nach dem Becher mit Wein, der vor ihm auf einem Tisch stand. Genussvoll trank er, dann verschluckte er sich, denn sein Schwager legte nun unmissverständlich fest: »Und du kommst auch mit, Oswald!« »Ich...?«, krächzte dieser, nachdem er eine Weile jämmerlich gehustet hatte. »Wozu brauchst du mich denn?« »Wozu wohl? Du hast diese Strauchdiebe doch gesehen, vor allem denjenigen, der vorgibt, der Prinz von Thurkland zu sein.« Oswald von Paskow gab es nun auf, den Grafen anderen Sinnes zu machen. Und wahrscheinlich hatte es Gott auch so gewollt, dass er sich noch einmal in Gefahr begab. Noch am gleichen Tage begann der Graf, seine Reise vorzubereiten, wobei ihn seine Söhne und einige Handelsherren unterstützten. Das beste und schnellste Schiff des Grafen war gerade gut genug für diese Mission. Weitere Söldner wurden angeworben, um die Garde des Grafen zu verstärken und die besten Waffen an Bord geschafft. Und man war sich einig, dass man die Freibeuter, welche das auch immer sein mochten, überwältigen und zum Reden zwingen würde. Unter der 37
Folter sprach schließlich jeder. So manch einer von diesen Galgenvögeln würde schon wissen, was mit der Komtesse Mechthild von Wisby geschehen war. Vielleicht hatte man in den Häfen oder Wirtshäusern auch etwas bemerkt. Man musste eben jeder Spur, auch der kleinsten, nachgehen. * »Solange wir hier auf diesem Schiff sind, ist es besser, wenn du weiterhin der Gottfried von Thomow bist und deine Zofe dein kleiner Bruder.« Der Prinz, der an diesem Morgen besonders unordentlich aussah (er hatte sich nicht gekämmt und rasiert und trug verschlissene Kleidung), blickte seinen ›persönlichen Diener‹ streng an. »Ich werde mich nach Euren Anordnungen richten«, antwortete sie frostig. »Ihr habt mir zwar nichts zu befehlen, denn Lucie und ich gehören nicht zu Euren Spießgesellen. Aber was soll es? Wenn wir Euch bei Laune halten wollen, müssen wir nachgeben und uns fügen.« »Das ist ein sehr weiser Vorsatz. Ich hoffe, dass du ihn auch immer beherzigst.« Er lächelte ihr verschmitzt zu und berührte flüchtig ihre Wange. »Ihr sollt mich nicht anfassen!«, fauchte sie und versuchte so die Empfindungen zu unterdrücken, die sie stets befielen, wenn er sie zufällig berührte. »Anfassen nennst du das?« Er näherte sich ihr, legte plötzlich einen Arm um ihre Taille und zog sie fest an sich. »Das nenne ich anfassen«, raunte er ihr zu. »Und das nenne ich - küssen.« Ehe sie ihn von sich stoßen oder ihren Kopf zur Seite drehen konnte, hatte er seine Lippen auf die ihren gepresst, lange und zärtlich. Und als er spürte, dass ihr Widerstand nachließ, ließ er seine Hände über ihren Rücken gleiten, entfernte dann das Kopftuch und streichelte schließlich ihr Haar. »Du gefällst mir so sehr, Mechthild Margarita«, flüsterte er, als er sie endlich ein wenig freigab. »Ich glaube, von so einem Mädchen habe ich schon immer geträumt.« 38
Sie war verwirrt und erstaunt zugleich. »Aber... Ihr mögt mich doch nicht und behandelt mich wie eine Magd.« »Doch, ich mag dich. Wer könnte der schönen Komtesse mit den flammendroten Haaren widerstehen? Ich wollte es, aber ich kann es nicht.« »Und nun soll ich Eure Geliebte werden?« »Nein«, er schüttelte den Kopf. »Dazu bist du viel zu schade. Ich würde dich gern zur Frau nehmen.« »Seid Ihr von Sinnen?«, zischte sie und machte sich nun doch von ihm los. »Soll ich Eure Räuberfrau werden und meine Kinder auf einem Piratenschiff bekommen?« »Ich würde die Seefahrt dann aufgeben und mit dir ein ehrbares Leben führen«, kam es prompt zurück. »Der Freibeuter und die Grafentochter?« Sie lachte schallend und fügte dann spöttisch hinzu: »Schlagt Euch so einen Unsinn nur aus dem Kopf. Niemals wird mein Vater seine Einwilligung geben. Und außerdem bin ich schon lange verlobt, wie Ihr genau wisst.« »Ja, mit deinem schwedischen Prinzen, der bestimmt sehr langweilig ist.« »Es ist unwichtig, ob er langweilig ist oder nicht«, beharrte sie. »Ich bin ihm versprochen worden und werde mein Wort halten. Außerdem ist er reich. Meint Ihr, ich will mit Euch in Armut leben?« »Ganz so arm bin ich nun auch nicht. Ich habe mir erst kürzlich einen Bauernhof gekauft und dort wirst du eine sehr reizende Bäuerin sein. Ich sehe dich jetzt schon vor mir - mit allem möglichen Federvieh, mit Kühen, Schweinen und Schafen.« Trotz ihres Protestes nahm er sie erneut in die Arme und murmelte: »Ich sehne mich so nach dir. Bitte, werde meine Frau.« »Niemals.« Sie stieß ihn energisch von sich, griff nach ihrem Tuch und band es sich um den Kopf. »Sagt mir lieber, wo mein Vater Euch das Lösegeld übergeben soll.« »Das ist Sache des Kapitäns und geht mich nichts an«, versetzte er kühl. »Aber es wird sicher noch dauern. Es kann aber auch sein, dass du deinem Vater und deinem schwedischen Prinzen nicht einen einzigen Dukaten wert bist. Vielleicht sind sie sogar froh, dass sie dich 39
los sind. Bei aller Schönheit und Sinnlichkeit bist du manchmal doch eine fürchterliche Beißzange.« Sie starrte ihn so verständnislos an, dass er ein Schmunzeln unterdrücken musste. Und als sie ihm jetzt noch einen Stiefel nachwarf, lachte er nur belustigt auf und machte schnell die Tür von draußen zu. * Die Fahrt ging weiter und schien endlos zu sein. Klaus Störtebeker steuerte zwar mehrere kleine Häfen an, um im Schütze der Nacht Güter von Bord bringen zu lassen, Frischfleisch, Gemüse und Getränke zu erwerben und die Wasservorräte aufzufüllen, doch von einem Treffen mit Abgesandten ihres Vaters zwecks Zahlung von Lösegeld war niemals die Rede. Sollte Gustav Schanning etwa doch recht haben? Hatte ihr Vater gar nicht vor, sie freizukaufen? Mechthild wurde mit jedem Tag ängstlicher und verstand ihre Zofe nicht, die an Bord offenbar recht zufrieden war. Nun, wahrscheinlich hatte Lucie nicht genug Verstand, um sich auszumalen, was mit ihnen geschehen würde, wenn der Graf von Wisby das Lösegeld nicht zahlte. In diesem Fall würde man vermutlich das Geheimnis um ›Gottfried von Thomow und seinen kleinen Bruder‹ lüften und beide der Mannschaft als Spielzeug anbieten. Bei diesen Überlegungen seufzte sie leise, während sie wie jeden Tag ihren Pflichten nachging. Sie war gerade dabei, die Betten zu richten, als Gustav Schanning hereinkam. Er hatte einen kleinen Korb mit Beeren und anderem Obst in der Hand, den er nun auf den Tisch stellte und zu Mechthild sagte: »Du solltest davon essen. Vielleicht regen die Früchte deinen Appetit an und du bekommst dann wieder etwas Farbe.« Sie nickte nur und wusste doch, dass sie in seiner Gegenwart kaum einen Bissen herunter bekommen würde. »Das ist ja erfreulich«, antwortete er, während er Blaubeeren und Pflaumen auf einen Holzteller häufte und ihr diesen Teller dann hinhielt. »Iß jetzt«, blaffte er sie an. »Du siehst elend genug aus.« 40
»Ich kann nicht«, murmelte sie und rannte, ehe er sie aufhalten konnte, hinaus, eilte an Deck, sog tief die frische Luft ein und hoffte, so die Schwäche und das Herzklopfen zu überwinden. »Was ist mit dir?« Klaus Störtebeker stand plötzlich dicht neben ihr und betrachtete sie forschend. »Nichts... gar nichts«, erwiderte sie hastig, besann sich dann jedoch und fragte: »Hat mein Vater immer noch kein Lösegeld geschickt?« »Nein, bis jetzt noch nicht.« Sie wurde noch blasser. »Was geschieht mit uns, wenn er... wenn er... nicht auf Eure Forderungen eingeht? Werdet Ihr uns dann Euren Männern überlassen?« »Aber nein.« Klaus legte ihr für einen Moment die Hand auf die Schulter. »Wir sind Kaperfahrer, keine Mädchenschänder. Sei unbesorgt. Niemand von meinen Leuten wird dir und deiner Magd zu nahe treten, auch wenn die Wahrheit über euch eines Tages ans Licht kommen sollte. Alle auf diesem Schiff müssen mir gehorchen, denn ich bin der Kapitän und der Herr hier. Sie wissen, dass sie meine Befehle befolgen müssen, wenn sie nicht ihr Leben riskieren wollen.« »Aber Ihr könnt uns doch nicht immer hier behalten.« »Nein, das nicht. Aber glaub mir, es wird sich eine gute Lösung finden. Wir werden bald in Schweden sein. Und sollte dein Vater bis dahin nicht gezahlt haben, dann werden wir für dich und Lucie sorgen. Ach, da ist ja auch Gustav.« Störtebeker wandte sich seinem Steuermann zu und ordnete barsch an: »Ihr solltet Euch mehr um Euren Burschen kümmern. Ihm scheint irgend etwas nicht zu bekommen.« »Ich weiß«, gab Schanning gepresst zurück. »Er isst und schläft viel zu wenig und macht sich unnötig Sorgen.« »Unnötig?«, rief Mechthild dazwischen. »Ihr scherzt wohl.« »Durchaus nicht. Doch nun geh in die Kajüte und warte bis ich weitere Aufträge für dich habe.« Die Komtesse gehorchte. Sie fühlte sich viel zu schlapp, um mit dem Kapitän und seinem Steuermann noch lange zu streiten. »Können wir morgen in aller Frühe an Land gehen?«, fragte der Prinz, als Mechthild nicht mehr zu sehen war. 41
»Selbstverständlich, wir werden dann Livingholm erreicht haben. Ich nehme an. Ihr habt alles Weitere gut vorbereiten lassen.« »Ja, es läuft alles wie vorgesehen«, antwortete Carl Magnus. Er ahnte nicht, dass der Graf von Wisby inzwischen mit seiner schnellsten Kogge unterwegs war und die Verfolgung aufgenommen hatte. Zwei weitere Schiffe begleiteten ihn, um ihm notfalls zur Hilfe eilen zu können. * »Da für dich und deine Magd offenbar kein Lösegeld bezahlt wird, hat der Kapitän beschlossen, euch beide morgen bei Sonnenaufgang an Land bringen zu lassen«, erklärte der Prinz kurze Zeit später. »Er kann es sich nicht mehr leisten, auf zwei Weiber Rücksicht zu nehmen. Die Mannschaft murrt bereits und will Beute machen.« »An... Land?«, hauchte Mechthild zuerst fassungslos, nahm sich dann aber zusammen und erwiderte beherrscht: »Wir werden uns bereithalten. Ist in der Nähe eine Ortschaft?« »Ja, ein Dorf. Dort werdet ihr Arbeit und eine Unterkunft finden.« Sie hatte plötzlich einen Kloß im Hals, weil ihr bewusst wurde, dass die Trennung von Gustav Schanning unmittelbar bevorstand. Das hatte sie immer gewollt und doch fiel es ihr jetzt schwer, ihn zu verlassen. Sie würde ihn vermissen, diesen Mann, der rau und herzlich zugleich sein konnte - und der sie geküsst hatte. Niemals würde sie diesen Kuss vergessen, ebenso wenig wie seine meist nur flüchtigen Umarmungen. Mehr war nicht zwischen ihnen gewesen und doch hatte sie sich mehr gewünscht. »Na, was ist? Willst du hier anwachsen? Geh lieber zu deiner Magd und sage ihr Bescheid, dass sie ihr Bündel schnüren soll.« »Ja, sofort.« Sie eilte hinaus, fand Lucie in der Küche und sagte leise zu ihr: »Wir werden morgen früh an Land gebracht, weil mein Vater das Lösegeld nicht zahlt. Packe deine Sachen und warte, bis man dich ruft.« Die Zofe ließ vor Schreck die Holzkelle fallen, mit der sie die Suppe umrühren wollte und stammelte: »Wir müssen... fort? Jetzt schon?« 42
»Willst du etwa für immer hier bleiben?« »Nein, ich... dachte nur...« Der Rest des Satzes war nur ein lautes Schluchzen. Lucie fühlte sich anscheinend genauso schlecht wie ihre Herrin. Sie nickte jedoch folgsam, blickte den Koch verzagt an und schlich anschließend zu ihrer Schlafkammer, während Mechthild zu ihrem Quartier zurück ging. Froh darüber, dass der Steuermann die Kajüte verlassen hatte, packte sie ihre armselige Habe zusammen. Es handelte sich durchweg um Männerkleidung, Kamm, Bürste und ein Stück Seife. Und das meiste davon gehörte noch nicht einmal ihr selbst, sondern war ihr vom Schiffshauptmann zur Verfügung gestellt worden. Geld und Wertgegenstände besaß sie überhaupt nicht, aber immerhin verstanden sie und Lucie jetzt ein wenig von der Hauswirtschaft. Auf dieser Grundlage würden sie vielleicht eine Anstellung finden und Geld verdienen, um so eines Tages die Rückreise nach Brügge bezahlen zu können. Das war ihr Ziel. Ihr war jedoch klar, dass dieses nur schwer zu erreichen sein würde. Sie war nicht mehr die vermögende Grafentochter, sondern nur noch eine arme Frau aus dem Volke. Doch vielleicht war es nicht klug, nach Hause zurückzukehren. Wenn ihr Vater schon kein Lösegeld zahlte, dann war sie für ihn vermutlich gestorben. Was sollten sie und Lucie nur tun, wenn man sie an Land gebracht hatte? Sie waren allein und schutzlos in einem fremden Land. Schwankend zwischen Trauer und Hoffnung saß sie da und sah kaum auf, als Gustav Schanning alias Prinz Carl Magnus von Thurkland die Kammer betrat. Er brachte auf einem Tablett das Abendessen mit und stellte es auf den im Boden verankerten Tisch. »Du musst jetzt unbedingt etwas essen«, sagte er nachdrücklich, als sie Brot und Käse nicht beachtete. »Morgen haben wir eine tüchtige Wegstrecke vor uns. Meinst du, ich will dich tragen, wenn du zusammenbrichst?« »Mich tragen... wieso? Kommt Ihr denn mit?« »Natürlich. Nimmst du etwa an, ich lasse dich allein mit deiner schreckhaften Zofe bis nach Livingholm wandern? Ich habe meinen Abschied von der Seefahrt genommen und werde mich künftig der 43
Landwirtschaft widmen. Wenn du willst, könnt ihr beide auf dem Hof wohnen und arbeiten, bis ihr eine Bleibe gefunden habt.« Nach dieser Erklärung ging es ihr sofort besser. Sie lächelte unwillkürlich, erhob sich und setzte sich an den Tisch. »Ihr habt recht, ich muss etwas essen«, wisperte sie und griff zögernd nach einem Stück Brot. Er tat das Gleiche und so verzehrten sie ihre Mahlzeit - schweigend und in Gedanken versunken. »Werdet Ihr Lucie und mir Lohn zahlen, wenn wir auf Eurem Hof arbeiten?«, fragte sie später zaghaft. »Das werde ich, so wie es sich gehört, vorausgesetzt, ihr seid fleißig und lasst euch nichts zuschulden kommen.« »Dann bin ich beruhigt.« Mechthild nahm das Kopftuch ab und wollte sich für die Nacht zurechtmachen. Er ließ es jedoch nicht soweit kommen, sondern sagte leise und ernst: »Es freut mich, dass du so gefasst bist und bei mir arbeiten willst. Sei gewiss, dass ich weder dich noch deine Magd schinden werde... und meine Stiefel musst du auch nicht mehr putzen.« Sie sah zu ihm auf. »Das war nicht so schlimm.« »Nein? Dann warst du demnach vollkommen zufrieden mit mir?« »Kann man mit einem Piraten zufrieden sein?«, fragte sie zurück. »Aber ich danke Euch, dass Ihr mich geschont habt und nicht gewalttätig geworden seid.« Er antwortete nicht sofort, er blickte sie nur an, zog sie dann sanft an sich und sagte nach ein paar Augenblicken: »Ich würde dich schon gern ganz und gar zu der meinen machen, aber ich werde es niemals gegen deinen Willen tun. Und nun sollten wir uns ausruhen. Wir haben morgen einen anstrengenden Tag vor uns.« »Ich weiß.« Sie löste sich widerstrebend von ihm und ging zu ihrem Lager, während er sehr zufrieden lächelte. * Lucie hatte noch immer Tränen in den Augen, obwohl sie, ihre Herrin und der ehemalige Steuermann nun seit geraumer Zeit das Schiff verlassen hatten und sich nun auf dem Weg zur Ortschaft Livingholm be44
fanden. Es begegneten ihnen nur wenige Leute, zwei Fischer, die zu ihrem Boot eilten, ein Bauer mit einer Kuh und etliche Landstreicher. Sie alle schauten ihnen nach und fragten sich wahrscheinlich, was diese drei so ungleichen Männer in dieser einsamen Gegend zu suchen hatten. Der Prinz kümmerte sich nicht um die Gaffer, er schritt zügig voran, achtete jedoch darauf, dass die Mädchen nicht zurückblieben. »Ich kann nicht mehr«, sagte Lucie jetzt weinerlich. »Meine Fußsohlen brennen und mein Bündel wird immer schwerer.« »Wir sind gleich da«, erwiderte er beschwichtigend. »Seht ihr das Haus dort auf der kleinen Anhöhe?« »Ja, wir sehen es«, antwortete Mechthild anstelle ihrer Zofe. »Gehört es zu Eurem Bauernhof?« »Es ist mein Wohnhaus«, erklärte der vermeintliche Gustav Schanning. »Dort können wir uns ausruhen. Kommt, die letzten Meter schaffen wir auch noch.« Eine knappe Viertelstunde danach hatten sie das Anwesen erreicht, wo schon emsig gewirtschaftet wurde. Eine Magd fütterte die Hühner, eine andere kam mit einem Eimer Milch aus dem Stall, während ein Mann mittleren Alters zwei Pferde vor einen Wagen spannte. »Hey, ihr drei«, rief der Prinz. »Ich bin wieder da und erwarte umgehend ein gutes Mahl für meine beiden Begleiter und für mich.« »Sofort, Herr!« Das Gesinde stob eilends davon, während Carl Magnus mit den Frauen das Haus betrat. Auf Mechthild wirkte das Gebäude sehr bescheiden, denn in den Fensteröffnungen befand sich kein Glas, sondern nur in Öl getränkte Tücher. Die Räume, es gab außer der Küche nur noch vier Kammern sowie einen langen Flur, waren nur spärlich mit Möbeln ausgestattet. Es gab keine Teppiche und keine weichen und behaglichen Ottomanen, wie im Schloss ihres Vaters. Aber es war alles sehr sauber und in der Küche roch es nach frisch gebrühtem Tee. »Setzt euch!«, befahl Carl Magnus. »Henriette, meine Großmagd, wird gleich kommen. Sie wird uns etwas zum Essen und Trinken bringen.« 45
Wie auf ein Stichwort betrat eine ältere Frau die Küche. Sie hatte schon fast weiße Haare, die unter einem dunklen Kopftuch hervorlugten, ihr Gesicht wies jedoch noch die frischen Farben der Jugend auf und ihre Stimme klang fröhlich, als sie jetzt sagte: »Guten Tag, Herr. Wie ich sehe, habt Ihr Besuch mitgebracht.« »Die beiden sind kein Besuch«, stellte der Prinz richtig. »Sie werden hier auf dem Hof arbeiten und dort helfen, wo sie gerade gebraucht werden. Sie können die Schafe hüten oder auch beim Aufstellen der Korngarben helfen. Aber vorerst besorgst du diesen... äh... Jünglingen angemessene Gewänder. Die Burschen sind nämlich - Mädchen und heißen Mechthild und Lucie.« »Ach, tatsächlich?« Die Alte beäugte die Komtesse und ihre Zofe eingehend, schien aber nicht überrascht zu sein. Sie äußerte sich auch nicht weiter, sondern brachte nun wirklich eine einfache, aber schmackhafte Mahlzeit auf den Tisch. Nach dem Essen verdrückte sich der ›Bauer‹, schließlich hatte er nach monatelanger Abwesenheit mit seinem Großknecht und dem übrigen Gesinde viel zu besprechen. Die beiden neuen Mägde wurden von Henriette in eine Kammer geführt, wo zu Mechthilds und Lucies Verwunderung schon blaue Leinenkleider, dunkle Schürzen, Hauben und helle Kopftücher sowie diverses Nachtzeug auf den Betten lagen. »Hier werdet ihr künftig schlafen und das da«, die Großmagd zeigte auf die Gewänder, »habe ich aus unserer Kleidertruhe hervorgesucht, das gehört von nun an euch beiden. Wenn die Kleider nicht passen sollten, müssen sie eben geändert werden. Könnt ihr mit Nadel und Faden umgehen?« »Ich kann es«, piepste Lucie, während Mechthild den Kopf schüttelte. Eine Komtesse musste nicht nähen können. Die stickte höchstens Decken oder malte Bilder. Die Frau nickte beifällig zu Lucies Worten und entgegnete gleichmütig: »Behelft euch, so gut es geht. Und wenn ihr Fragen habt, wendet ihr euch am besten an mich oder direkt an den Bauern. Heute habt ihr noch frei, aber morgen seid ihr um sechs Uhr früh auf den Beinen.« 46
Mechthild hätte noch viel wissen wollen, wagte jedoch nicht, den Mund aufzutun. Schmerzhaft wurde ihr bewusst, dass auch sie jetzt zur Dienerschaft gehörte und nichts zu sagen und zu fragen hatte. Und so nickte sie nur und bedankte sich für die Gewänder. Nachdem Henriette gegangen war, sank Lucie auf eine Bank. Sie presste die Hände vor die Augen und schluchzte krampfhaft. Mechthild wunderte sich nicht, tat aber nun das, was sie früher nie getan hätte. Sie setzte sich zu der Kleinen, legte einen Arm um ihre Schulter und drückte sie liebevoll an sich. »Dein Kummer wird irgendwann vergehen, Lucie«, sagte sie tröstend. »Ich gebe ja zu, dass der Waffenmeister ein hübscher Bursche ist und sehr zuvorkommend obendrein, aber er ist ein Seemann und ein Freibeuter. Mit ihm kannst du auf die Dauer nicht glücklich werden.« »Das habe ich mir ja auch schon alles gesagt... und nicht nur heute, aber... ich muss immer an ihn denken. Manchmal hatte ich den Eindruck, als wenn er gewusst hat, dass ich ein Mädchen bin.« »Vielleicht war es so«, versetzte die Komtesse ausdruckslos. »Es ist aber unwichtig. Wir müssen jetzt beide nach vom schauen, bescheiden leben und so lange sparen, bis wir genug Geld haben, um nach Hause fahren zu können.« »Wird Euer Herr Vater uns denn wieder aufnehmen?« »Ich weiß es nicht. Er hat zwar das Lösegeld nicht gezahlt, aber vielleicht gibt es triftige Gründe dafür. Sein Schiff kann in einen Sturm geraten und vielleicht sogar untergegangen sein. Vielleicht hat er auch einen Abgesandten geschickt und der hat sich mit dem Geld auf und davon gemacht. In Brügge werden wir jedoch wieder ein Zuhause haben. Daran glaube ich fest, woran ich aber nie und nimmermehr glaube, ist...« »Was glaubt Ihr nicht, Herrin?«, fragte Lucie, als Mechthild nicht weiter sprach. »Ich glaube nicht, dass Prinz Carl Magnus von Thurkland mich noch heiraten will. Eine Frau, die in der Gewalt von Piraten war, ist nicht mehr standesgemäß.« 47
Lucie sagte nichts, aber sie nickte zustimmend und wischte sich erneut über die Augen. * Die Tage vergingen, Tage, an denen Mechthild und Lucie vom ersten Hahnenschrei bis zum späten Abend arbeiten mussten. Und das nicht nur im Haus, sondern auch auf den Feldern, wo es noch heißer und staubiger war. Die Sonne brannte gnadenlos, so dass den Knechten und Mägden der Schweiß den Rücken herunter lief, in die Augen tropfte und die Hände rutschig machte. Alle sehnten sich nach erträglicheren Temperaturen und nach Regen. Der kam dann auch, aber so schnell, dass man kaum noch Zeit hatte, ein schützendes Dach zu erreichen. Ganz plötzlich verdüsterten dunkle Wolken den Himmel, kam Sturm auf, der Donner grollte immer lauter und gespenstisch anmutende Blitze schienen den Himmel zu zerreißen. Mechthild war genau wie die anderen davon gelaufen, hatte jedoch in ihrer Angst den falschen Weg eingeschlagen. Sie bemerkte es erst ziemlich spät und sah sich suchend um. War hier nicht wenigstens irgendwo eine Scheune? Sie sah keine, nur eine halb verfallene Kate. Gleichzeitig erblickte sie zwei Kinder, die laut weinend auf sie zuliefen. Die beiden Jungen waren noch recht klein, vielleicht drei oder vier Jahre alt. Sie klammerten sich an ihre Röcke, zitterten und waren vor Angst vollkommen hilflos. Die Komtesse fürchtete sich auch, denn sie war noch nie während eines Gewitters draußen gewesen, doch angesichts dieser Hänflinge riss sie sich zusammen. Sie nahm den kleineren Buben auf den Arm, den größeren an die Hand und lief mit ihnen zu der Kate. Als sie dort ankamen, waren sie alle durchnässt bis auf die Haut, aber doch nicht mehr den Naturgewalten ausgesetzt. Der Regen prasselte in unverminderter Stärke auf das windschiefe Dach, Blitz und Donner folgten fast unmittelbar aufeinander und der Sturm bewegte die Bäume, als wären sie nur Grashalme. 48
Die Hütte war anscheinend erst vor kurzem von ihren Bewohnern verlassen worden, denn es gab neben jeder Menge Schmutz, Unrat und zerbrochenem Geschirr noch eine Bank und ein altersschwaches Bett, auf dem durchlöcherte und ausgefranste Decken lagen. Gut sahen sie nicht aus, waren vielleicht auch mit Flöhen versehen, aber sie waren wenigstens trocken. Die kleinen Jungen, die sich immer noch an sie klammerten, bibberten indessen vor Nässe und Kälte und schluchzten jammervoll. Kurzerhand zog sie die beiden aus, hüllte sie in die Decken und verfrachtete sie auf das Lager. »Bleibt hier sitzen und wärmt euch aneinander«, sagte sie freundlich, aber bestimmt. »Und dann sagt mir, wie ihr heißt und wo ihr wohnt.« Der kleinere Junge sagte keinen Ton, der ältere flüsterte jedoch: »Ich bin... Franz... und das ist Otto. Wir wollten zu... unserer Großmama.« »Und wo wohnt ihr?«, fragte Mechthild erneut, während sie die Kleidung der Jungen auswrang und zum Trocknen auf die Bank legte. »Da hinten.« Franz zeigte in eine unbestimmte Richtung. Die Komtesse vermutete, dass er das Dorf meinte. Mehr war aus den beiden nicht herauszubekommen, zumal das Gewitter andauerte und die Kleinen nicht zur Ruhe kommen ließ. Wenn sich das Wetter besserte, das nahm sich Mechthild vor, würde sie die Kinder mit zum Hof nehmen. Dort würde man sie sicher kennen. Vielleicht würden ihre Eltern auch schon nach ihnen suchen. Sie setzte sich nun zu den beiden Angsthasen, legte die Arme um sie und sagte ihnen tröstende Worte. Dabei wurden Franz und Otto ruhiger und schliefen nach einer Weile trotz Blitz und Donner ein. Das Unwetter verzog sich genauso plötzlich, wie es gekommen war. Es hörte auf zu regnen, der Wind ließ nach und die Sonne bahnte sich ihren Weg durch die Wolken. »Wacht auf, Kinder!« Mechthild stieß die Kleinen sanft an. »Das Gewitter ist vorbei. Wir können nach Hause gehen.« Franz und Otto blinzelten träge, rissen dann die Augen weit auf und jubelten: »Jetzt können wir doch noch zur Großmama.« 49
»Aber nicht so nackt, wie ihr seid. Kommt her!« Die Jungen krabbelten aus den Decken und ließen sich von der jungen Frau, die immer noch klammen Sachen anziehen. Danach nahm sie Otto wieder auf den Arm, während Franz vertrauensvoll nach ihrer Hand griff. So kamen sie auf dem Hof an, wo man unterdessen festgestellt hatte, dass eine der neuen Mägde fehlte. Gesucht hatte man allerdings nicht. Wer tat das schon bei Sturm und Regen, zumal man annehmen musste, dass Mechthild irgendwo einen Unterschlupf gefunden haben musste? »Da ist sie ja«, rief einer der Knechte, als sie erschöpft und schwitzend das Tor erreichte und hier den kleinen Otto auf die Erde gleiten ließ. »Lauft beide ins Haus... zu Henriette«, flüsterte sie den Buben zu und lehnte sich ermattet an einen Zaunpfosten. »Sie wird euch Brot und Milch geben.« Die Jungen rannten zum Wohnhaus, so als würden sie sich hier gut auskennen. Mechthild fiel das nicht weiter auf. Sie war inzwischen von einigen Mägden und Knechten umringt, die wissen wollten, wo sie während des Unwetters gewesen war. »Es ist doch egal, wo sie gewesen ist.« Die raue Stimme von Gustav Schanning trieb das neugierige Gesinde auseinander. »Wichtig ist doch nur, dass sie wieder da ist.« Er hob die leicht Schwankende hoch und trug sie zum Haus. Ihre Proteste nicht beachtend, brachte er sie bis zu ihrer Kammer. Dort setzte er sie auf einer Bank ab und befahl: »Zieh dir sofort etwas anderes an. Du bist ja klatschnass.« »Ja... mache ich... gleich. Aber vorher muss ich noch nach... den beiden Jungen schauen. Ich habe sie unterwegs gefunden, auf der Wiese in der Nähe vom Wald.« »Nichts wirst du, außer dich umkleiden. Um die beiden Ausreißer musst du dich nicht sorgen. Deren Eltern sind hier und werden ihnen wohl gerade den Hintern versohlen.« »Wie können sie so etwas tun?« »Kinder haben nicht einfach fortzulaufen«, erwiderte er ungerührt. »Wenn sie jetzt bestraft werden, dann wissen sie auch warum. Siehst du das ein, meine liebe Komtesse?« 50
»Ja... schon, aber...« »Du hast die beiden Schlingel gerettet. Da hast du genug für sie getan. Jetzt kümmere dich um dich selbst.« Er lächelte eigentümlich, nahm sie dann in die Arme und drückte sie für einige Sekunden fest an sich. Danach ging er und Mechthild blickte ihm verwirrt nach. * Wenn man von Gustav Schannings Hof bis zum Dorf oder gar bis zum Schloss des meist abwesenden Prinzen von Thurkland gelangen wollte, musste man mehr als zwei Meilen zurücklegen und gut zu Fuß sein. Mit Pferd und Wagen ging es natürlich wesentlich schneller, doch soviel Luxus konnten sich die meisten der Bauern und Handwerker nicht leisten. Und so blieb man eben da, wo man wohnte und arbeitete. Mechthild und Lucie waren auch noch nie im Dorf gewesen, obwohl sie gern hingegangen wären. Es wäre eine erstrebenswerte Abwechslung gewesen nach den Plagen und Mühen des Tages, doch der Bauer bot seinem Gesinde eine solche nicht an. Und so sahen die neuen Mägde immer nur dieselben Leute, jede Menge Vieh und weites Land, so weit das Auge reichte. Aber sie sahen auch das Meer, das die Grafentochter ganz besonders liebte. Sie mochte es, wenn es sich träge wie eine Katze von der Sonne bescheinen ließ, aber auch, wenn gewaltige Wellen an den Strand rollten und der Sturm sein ewiges Lied sang. An diesem Abend war sie wieder den schmalen Pfad entlang gelaufen, der zum Wasser führte. Lucie hatte nicht mitkommen wollen, sie war immer noch tief traurig und in sich gekehrt. Und so saß die Komtesse nach einem erfrischenden Bad allein am Rande einer Düne und blickte sinnend aufs Meer hinaus. Sie dachte an ihre Eltern und Geschwister und fragte sich, ob sie diese wohl jemals wieder sehen würde. Sie dachte aber auch an denjenigen, der sie hierher gebracht hatte, an Gustav Schanning, der immer noch wie ein Pirat aussah, der sie angeblich begehrte und ihr trotzdem kaum einen Blick schenkte. Wahrscheinlich interessierte sie ihn jetzt nicht mehr, vielleicht hatte er 51
sich anderweitig getröstet. Er ritt oft ins Dorf und dort würde es ja nicht nur Männer, Kinder und alte Weiber geben, sondern auch junge Mädchen und Frauen. Es ist gut so, dachte sie trotzig. Mag er nur eine andere küssen
und lieben, ich will ihn nicht, er passt nicht zu mir und meinem Stand und ich habe wahrlich keine Lust, mein Leben als Bäuerin zu beschließen. Auch wenn ich nun keine Herzogin mehr werden kann, so werde ich in meinen Kreisen irgendwann doch noch einen passenden Ehemann finden. Und sollte mich keiner haben wollen, dann kann ich immer noch in ein Kloster gehen und es eines Tages sogar bis zur Äbtissin bringen.
Bei diesen Überlegungen runzelte Mechthild die Stirn. Es würde ihr schwer fallen, ein Leben hinter Klostermauern zu verbringen. Dort war sie zwar versorgt, aber sie sehnte sich doch nach Liebe und Zärtlichkeit. Und an dieser Sehnsucht war Gustav Schanning nicht schuldlos. Er war ein Bastard, ein ehemaliger Freibeuter und manchmal so herrisch, dass sie ihm einen Tritt vors Schienbein hätte verpassen mögen. Aber sie konnte seine Küsse trotzdem nicht vergessen. Und sie hätte die Gefühle, die sie für diesen Mann hegte, gern verdrängt. Es gelang ihr bloß nicht. Ein Plätschern ganz in ihrer Nähe schreckte sie auf und sie sah im Schein des Abendrotes Gustav Schanning auf sich zukommen. Er hatte ebenfalls gebadet und trug nur eine weiße Leinenhose, die ihm noch nicht einmal bis zu den Knien reichte. Sein Körper war muskulös, gebräunt und wies die Spuren von zwei alte Narben auf. Auf seiner Haut glänzten die Wassertropfen wie Perlen, sein Haar war nass und er sah irgendwie verändert aus. Mechthild wusste im ersten Moment nicht, woran das lag, bis ihr auffiel, dass er sich den Bart hatte abnehmen lassen. Jetzt hatte er sie ebenfalls erkannt, eilte mit langen Schritten auf sie zu und grinste auf seine unverschämte Art, als er bei ihr angekommen war. »Das Meer scheint es dir angetan zu haben«, meinte er und ließ sich neben ihr in den Sand fallen. »Aber es ist gefährlich, wenn eine Frau so allein hier sitzt. Räuber und Wegelagerer gibt es überall.« 52
»Ich weiß«, erwiderte sie spitzzüngig. »Einer ist eben gekommen.« Er lachte über diese Antwort, entgegnete aber: »Du bist ja immer noch so widerspenstig. Macht dir das Spaß? Oder möchtest du, dass ich dich ein wenig... überfalle?« Zu ihrem Ärger errötete sie und wurde tatsächlich so verlegen, dass sie keine Worte fand. Sie dachte nur: Jetzt wird er mich verspot-
ten, verhöhnen oder...
Weiter kam sie nicht mit ihren Gedanken, denn er legte beide Hände wie eine Schale um ihr Gesicht, blickte sie forschend an und sagte ernst: »Du darfst dich nicht vor nur fürchten und du musst dich auch nicht schämen, wenn du mir nahe sein möchtest. Wir sind jung und es zieht uns zueinander. Es kann daher nicht falsch sein, wenn wir uns liebkosen und küssen.« Sie entzog sich ihm widerstrebend. »Ich... ich möchte nicht eine von vielen sein.« Er stutzte und sagte dann fest: »Du bist nicht eine von vielen, du bist meine einzige Liebe. Und ich möchte immer noch dein Mann sein, wenn du dich nur mit einem Bauern abfinden könntest, wenn du nur hier bei mir bleiben würdest.« »Ich weiß nicht, ob ich das kann«, entgegnete sie wahrheitsgemäß. »Zwischen uns liegt soviel und ich kenne Euch noch so wenig.« »Dann werden wir uns kennen lernen«, raunte er ihr verlangend zu, fasste sie bei den Schultern und drückte sie sanft nach hinten. Dann beugte er sich über sie, sah ihr tief in die Augen und bedeckte dann ihren Mund mit dem seinen. Er küsste sie zärtlich und gierig und streichelte ihre Brüste. Zu ihrem Erstaunen hörte er jedoch bald wieder mit seinen Zärtlichkeiten auf. Er presste sie nur an sich und murmelte: »Ich möchte soviel, aber ich werde Geduld haben, bis du meine Gemahlin bist.« Sie konnte dazu weder ja noch nein sagen, es war ihr einfach unmöglich, sich zu äußern, aber sie hatte nichts dagegen, dass er auf dem Heimweg ihre Hand in die seine nahm. 53
* Piraten zu jagen war mühselig, wenn man sie verfolgte und gefährlich, wenn man ihnen zu nahe kam. Diese Erfahrung hatten der Graf von Wisby und seine Begleiter bald machen müssen. Es war sogar zum Kampf gekommen, wobei das Schiff von Armand Leblanc mit Mann und Maus von Henning Manteufel und seinen Spießgesellen versenkt worden war. Die ändere Kogge war nur geplündert worden, wobei ein Teil der Mannschaft in leere Fässer gesteckt und dann unter dröhnendem Gejohle ins Meer geworfen wurde. Harte Sitten waren das! Der Graf wusste jedoch genau, dass die Herren der Hanse mit ihren Gefangenen auch nicht besser umgingen. Doch was nützten ihm sein Wissen und seine unablässige Verfolgung? Bisher gar nichts, denn von seiner Tochter und deren Zofe hatte er nichts gesehen und gehört. Mit der Zeit wurde er immer stiller und hatte nur noch den Wunsch, sein Kind zu finden. Dafür würde er sogar mit den Piraten verhandeln. Sein Schiff hatte unterdessen die schwedische Küste erreicht, wo es im Hafen von Livingholm vor Anker ging. Kapitän und Mannschaft blieben auf der Kogge und dankten Gott, dass sie bisher nicht in die Hände von Seeräubern gefallen waren. Johann Borwin von Wisby ließ sich jedoch zusammen mit seinem Schwager (der hatte den Mädchenentführer schließlich mit eigenen Augen gesehen und würde ihn mit Sicherheit wieder erkennen) und einigen Söldnern an Land rüdern. Er wollte hier, genauso wie in den anderen Häfen, nach seiner Tochter fragen - und in einem Wirtshaus mal etwas anderes essen als Schiffszwieback, gedörrten Fisch und gepökeltes Fleisch. Kurz darauf schaufelte er einen deftigen Schweinebraten mit Bohnengemüse in sich hinein, sein Schwager begnügte sich mit einer Fischsuppe, während die Soldaten die ersten Erkundigungen im Ort einziehen mussten - und erst später essen durften. Der Graf war gerade dabei, die letzten Reste des Bratens mit einem großen Schluck Wein herunter zu spülen, als ein magerer Mann 54
an seinen Tisch trat, sich linkisch vor ihm verbeugte und dann leise fragte: »Seid Ihr der Herr, der seine Tochter sucht?« »Der bin ich.« Der Graf war überrascht und einige Sekunden sprachlos. Dann stellte er seinen Becher abrupt auf den Tisch zurück und musterte den Mann von oben bis unten, fand ihn nicht sehr vertrauenserweckend, fragte aber dennoch: »Wer seid Ihr und was wisst Ihr?« »Ich bin Ole Rasmus und lebe vom Fischfang, stehe meist schon im Morgengrauen auf. Und an so einem Morgen habe ich ein Piratenschiff bei uns im Hafen gesehen, ein schönes Schiff. Ich weiß auch, wem es gehört.« »So, wem denn?« »Verzeiht Herr, aber ich müsste vorher wissen, ob Ihr Euch für meine Dienste auch... bedanken würdet.« Der Fischer bewegte Daumen und Zeigefinger aneinander, was den Grafen ungehalten sagen ließ: »Natürlich bekommt Ihr einen angemessenen Lohn, also sprecht weiter.« »Das Schiff heißt ›Roter Teufel‹ und gehört dem Freibeuter Klaus Störtebeker. Eigentlich traue ich diesem Burschen ja keinen Frauenraub zu, aber dann habe ich doch etwas gesehen, was mir zu denken gegeben hat. Es sind nämlich drei Mann von Bord gegangen, ein großer Schwarzhaariger mit einem Stoppelbart und zwei eher kleine Burschen, von denen der eine so schmächtig wie ein Kind war. Wenn mich nicht alles täuscht, waren die Burschen Mädchen, auch wenn sie Gewänder von Männern trugen. Und einige Tage später habe ich gehört, dass der Bauer vom Wiesenhof zwei neue Mägde hat und eine davon hat rotblondes Haar.« Johann Borwin konnte es kaum fassen, dass es endlich eine Spur geben sollte. Er blickte zuerst seinen verdatterten Schwager an, dann den Fischer und keuchte schließlich: »Das... das habt Ihr Euch nur... ausgedacht, um meine Börse zu erleichtern.« »Nein, Herr. Ich schwöre es bei unserem Herrgott und allen Heiligen. Mein Freund Leif hat die drei auch gesehen, aber der hat sich nicht her getraut, hat gemeint, man würde uns sowieso nicht glauben und ist daher...« 55
»Lasst Euer Geschwätz«, unterbrach der Graf das Gestammel des Fischers. »Zeigt uns lieber den Weg zu diesem Bauern. Hier ist eine kleine Anzahlung. Solltet Ihr recht gesehen haben, dann bekommt ihr soviel, dass Ihr vorläufig nicht mehr auf den Fischfang angewiesen seid.« Der Graf drückte dem Mann zwei Dukaten in die Hand und trommelte anschließend seine Begleitmannschaft zusammen. Diese verzichtete (sehr ungern) auf eine Mahlzeit, sondern besorgte genügend Pferde und ritt anschließend zusammen mit dem Grafen und seinem Schwager schwer bewaffnet zum Wiesenhof. Ole Rasmus, der noch nie auf einem Pferd gesessen hatte, führte den Trupp an und fragte sich besorgt, wann der Gaul ihn abwerfen würde. * Dort herrschte geschäftiges Treiben, denn man war dabei, das Korn einzubringen. Gustav Schanning führte die Aufsicht und fasste selbst mit zu. Unermüdlich schaffte er mit den Knechten die Garben in die Scheune, wo man sie im Herbst dreschen würde. Die Mägde versorgten unterdessen das Vieh und kümmerten sich um das Essen. Niemand schaute auf und deshalb sah man die Berittenen erst, als sie lärmend in den Hof preschten. »Das ist er«, rief Oswald von Paskow, der sein Pferd dicht an das seines Schwagers gedrängt hatte. »Das ist der Bösewicht, der frech behauptet hat, Prinz Carl Magnus zu sein. Und da... sieh doch nur, da ist sie, deine Tochter...« Das Gesinde hatte inzwischen die Arbeit unterbrochen. Reglos und wie erstarrt stand es da, allen voran die Komtesse, die nur noch flüstern konnte: »Papa...« Der Graf hatte erleichtert aufgeatmet, als er seine Tochter erkannte. Er sah, dass sie anscheinend bei guter Gesundheit war und warf dem Fischer, der in seiner Nähe stand eine prall gefüllte Geldbörse zu. Dann gab er seinen Söldnern den Befehl: »Packt den schwarzhaarigen Burschen und tötet ihn!« 56
Der Prinz, der nicht damit gerechnet hatte, von seinem künftigen Schwiegervater und dessen Schergen angegriffen zu werden, reagierte zu spät und hätte bereits in seinem eigenen Blut gelegen, wenn Mechthild nicht auf ihn zugestürzt wäre, sich mit ausgebreiteten Armen vor ihn gestellt und laut gerufen hätte: »Verschont ihn, Vater. Er hat mir nichts getan.« Natürlich hörte man nicht auf sie, man war nur überrascht, als sie einem der Söldner sein Schwert entriss und dieses auf sich selbst richtete. Dabei schrie sie: »Ich werde mich umbringen, Herr Vater, wenn Ihr diesen Mann nicht am Leben lasst.« »Mechthild, Liebes«, flüsterte Carl Magnus tief erschüttert, »sei unbesorgt, dein Vater wird mir nichts tun.« Und laut rief er: »Ruft Eure Söldner zurück, Graf Wisby! Lasst uns miteinander reden, denn ich bin doch Euer zukünftiger Schwiegersohn, ich bin Carl Magnus von Thurkland.« »Er lügt, der Halunke!«, rief Oswald von Paskow mit weit tragender Stimme. »Wenn Ihr tatsächlich der Prinz wärt, dann würdet ihr nicht auf diesem armseligen Hof hausen.« »Das werde ich Euch erklären, wenn Ihr mir nur Gelegenheit dazu gebt. Und wenn Ihr mir nicht glauben könnt, dann fragt im Schloss Livingholm nach... bei meinen Bediensteten oder bringt mich zu meinen Eltern nach Kalmar. Sie werden Euch bestätigen, dass ich wirklich der Prinz bin.« Johann Borwin von Wisby hatte mit einer Handbewegung seine Garde angewiesen, vorerst nichts gegen den Entführer seiner Tochter zu unternehmen. Zum einen befürchtete er, dass seine Tochter ihre Drohung wahr machen könnte und zum anderen würde er vielleicht sogar einen Krieg heraufbeschwören, wenn er diesen Mann töten ließ. Vielleicht war er ja doch der Prinz. Dessen Ermordung konnte schreckliche Folgen für den Grafen und ganz Flandern haben. Er schaute einige Augenblicke zu seiner Tochter, die immer noch vor dem Schwarzhaarigen stand und die ein Schwert auf sich richtete. Und er blickte auf diesen Mann, sah den entschlossenen Zug um den Mund, die edlen Gesichtszüge und fand, dass er wirklich nicht wie ein Bauer aussah. 57
»Wer immer Ihr auch seid«, begann er und richtete damit das Wort an Carl Magnus, »ich will Euch Euer Leben lassen, will mir anhören, weshalb Ihr meine Tochter so demütigend behandelt habt. Glaubt aber nicht, dass Ihr jetzt ein freier Mann seid. Ihr werdet verhaftet und zum Herzog gebracht. Vor ihm und mir könnt Ihr Euch dann rechtfertigen. Und solltet Ihr uns jetzt belügen und Böses im Schilde führen, dann werdet Ihr Eurer gerechten Strafe nicht entgehen.« Carl Magnus nickte nur, Mechthild schrie jedoch: »Gebt Ihr ihm darauf auch Euer Ehrenwort, Vater?« »Ja, Tochter. Im Beisein deines Onkels, meiner Soldaten und der Leute hier auf dem Hof schwöre ich, dass dieser Mann sich nicht nur vor mir zu verantworten hat, sondern vor allem vor dem Herzog. Er wird lebend bei ihm ankommen. Was danach geschieht, liegt in Gottes Hand.« Mechthild glaubte ihrem Vater, sie wusste, dass er jede Lüge verabscheute und zu seinen Worten stand. Sie wusste allerdings nicht, was sie von Gustav Schanning halten sollte. Er kämpfte um sein Leben, so wie es jeder andere auch getan hätte. Aber musste er sich deshalb als Prinz von Thurkland ausgeben? »Geh jetzt zu deinem Vater, Mechthild Margarita«, flüsterte er ihr jetzt zu. »Und sorge dich nicht. Es wird alles gut. Der Graf ist ein gerechter Mann, genauso wie der Herzog. Mir wird nichts Schlimmes geschehen.« Sie ließ zögernd das Schwert fallen, während er rief: »Ihr Leute auf dem Hof, sagt wie ich in Wirklichkeit heiße.« »Carl Magnus von Thurkland«, scholl es vielstimmig zurück und Henriette wagte es, noch ein paar Worte hinzuzufügen. Sie ging zum Grafen und erklärte festen Tones: »Diesen Hof und das Land dazu hat mein Sohn vom Prinzen von Thurkland gepachtet. Und er hat seinem Herrn für ein paar Wochen dieses Anwesen überlassen, damit dieser hier seine Braut - Eure Tochter - näher kennen lernen kann.« »Es mag so sein, wie Ihr alle es behauptet«, erwiderte Graf Wisby eisig. »Es überzeugt uns jedoch nicht. Deshalb nehmt diesen Mann fest.« 58
Der letzte Satz galt den Söldnern, die diesen Befehl unverzüglich in die Tat umsetzten. Sie banden dem Prinzen die Hände auf dem Rücken zusammen und stießen ihn grob vorwärts. Unterdessen hatten einige Männer der Garde einen Wagen aus dem Stall geholt, vor den sie jetzt die beiden einzigen Pferde des Bauern spannten. Der Graf achtete kaum darauf, er lief auf seine Tochter zu, umarmte sie und schämte sich seiner Tränen nicht, die ihm über die Wangen liefen. »Mein Mädchen, wie bin ich froh, dass ich dich wiederhabe«, murmelte er, während er ihr immer wieder über das Haar strich. »Ich werde sofort Boten nach Hause schicken, damit sie die freudige Nachricht deiner Mutter und deinen Brüdern bringen.« »Ja, Papa«, entgegnete sie zitternd, aber sie schaute nicht zu ihrem Vater, sondern zu demjenigen, der behauptete, der Prinz von Thurkland zu sein. Die Berittenen hatten ihn inzwischen auf den Wagen befördert, wo er in Ketten liegend sich kaum rühren konnte. Er erwiderte ihren Blick - und er lächelte, als könnte ihm überhaupt nichts passieren. Der Komtesse gab dieses Lächeln sehr zu denken und sie fragte sich, ob sie vielleicht die Hauptrolle in einem üblen Stück gespielt hatte. Nur wenige Minuten später lag der Hof verlassen da, das Gesinde zerstreute sich - besorgt und aufgeregt schwatzend. Mechthild und Lucie gehörten jedoch nicht mehr zu ihnen. Zwei Söldner, die ohnehin den Gefangenen bewachen mussten, hatten ihnen ihre Pferde überlassen, damit auch sie auf dem schnellsten Weg zum Schloss des Herzogs von Thurkland gelangen konnten. * »Ich habe für ihn alles getan, was ich konnte«, sagte Christoph Jörgens und zuckte ratlos die Schultern. »Habe ihn sogar trotz der Wunde kalt gebadet. Genützt hat es nichts. Jetzt können wir nur noch beten.« Klaus Störtebeker wusste, dass der Arzt recht hatte und schwieg tief betroffen. Er stand wie so oft in den letzten Tagen vor dem Bett, 59
in dem Gerd Windmaker lag und mit dem Tode rang. Anfangs hatte seine Verletzung - ein Pfeil war in seinem Oberschenkel stecken geblieben - recht harmlos ausgesehen. Christoph, der Heilkundige, hatte das Geschoß vorsichtig herausgezogen, die Wunde gesäubert und verbunden und hatte angenommen, dass bereits am nächsten Tag der Heilungsprozess beginnen würde. Er hatte sich geirrt, denn der Waffenmeister vom ›Roten Teufel‹ bekam hohes Fieber, das trotz intensiver Bemühungen nicht weichen wollte. Er nahm keine Nahrung mehr zu sich und wurde von Minute zu Minute schwächer. »Wenn er wenigstens trinken würde«, meinte Jörgens jetzt bedrückt, während er auf die Stirn des Kranken ein feuchtes und kaltes Tuch legte. »Er ist schon vollkommen ausgedörrt und wird von innen verbrennen.« »Vielleicht schmeckt ihm das Wasser nicht, lasst Rotwein bringen«, ordnete Klaus an. »Der wird ihn vielleicht doch beleben.« »Ich weiß nicht recht...« »Wir müssen alles versuchen. Los, Hajo, hol einen Becher Wein!« Der Schiffsjunge, ein schmächtiges Kerlchen, der bis jetzt schweigend am Fußende des Lagers gestanden hatte, eilte davon, so schnell ihn seine Füße trugen. Kurz darauf war er mit einem Krug und einem Becher wieder da. »Hier, Käpten.« Der Kleine reichte seinem hoch gewachsenen Schiffshauptmann den Wein und sah dann mit weit aufgerissenen Augen zu, wie der Arzt den Verletzten anhob und stützte und wie Klaus Störtebeker dessen Mund mit Wein befeuchtete. »Trink ein wenig, Gerd. Reiß dich zusammen! Du bist doch ein kräftiger Kerl, den auf die Dauer nichts umwerfen kann. Gehorche endlich! Und wenn du es nicht tust, dann mache ich Fischfutter aus dir.« Die scharfen Worte schreckten den Kranken nun doch auf, er bewegte den Kopf unruhig hin und her und flüsterte kaum verständlich: »Lud...wig...« »Der kommt gleich, aber nur, wenn du etwas trinkst.« Klaus hielt ihm den Becher an die Lippen und atmete ein wenig auf, als der Waffenmeister tatsächlich trank. Ein Teil des Weines rann zwar seine 60
Mundwinkel herab und benetzte Hemd, Laken und einen kleinen bunten Stein mit einem Loch, der an der Kette hing, die Gerd um den Hals trug. Vom Rebensaft etwas belebt, öffnete der Kranke nun die Augen, blickte verwirrt um sich, schien aber nur Klaus zu erkennen. »Es tut mir so... leid«, krächzte er. »Mit mir geht es... zu Ende, ich weiß es. Der verdammte... Pfeil... Grüß... den kleinen Ludwig, wenn du ihn noch einmal sehen solltest. Und gib ihm sein... Amulett wieder.« Gerd Windmakers Hand berührte die Kette mit dem Stein und wollte sie sich vom Hals reißen. Doch soviel Kraft hatte er nicht mehr, er wurde ohnmächtig. Klaus ließ ihn daraufhin behutsam auf das Lager zurück sinken. Christoph Jörgens griff nach dem Handgelenk des Verletzten, um den Herzschlag zu überprüfen und legte ihm im Anschluss seine Hand auf die Stirn. »Schon besser«, murmelte er und legte Gerd erneut ein kühles Tuch auf die Stirn. »Vielleicht haben wir Glück. Beten hilft eben manchmal doch.« »Ein ordentlicher Schluck Wein anscheinend auch.« Störtebeker grinste gerührt und verließ dann recht nachdenklich den Raum. Der Schiffsjunge folgte ihm. * Es war beinahe Abend geworden, als Schloss ›Kalmarhus‹ endlich in Sicht kam. Noch vor wenigen Wochen hatte es sich die Komtesse ganz anders vorgestellt, hier an Land zu gehen. Sie hatte prächtig gekleidet, begleitet von ihrem Onkel, Frau von Ellberg, der Zofe sowie der Ehrengarde auf einem edlen Pferd zum Schloss reiten wollen, in der Gewissheit, dass ihnen auf halbem Wege der Herzog und sein Gefolge entgegen kommen würden. Nichts stimmte von allem, selbst das Pferd war eine alte Mähre und sie selbst wirkte an der Seite ihres stolzen Vaters mit ihrem einfachen Gewand wie eine Bettlerin. Hinter ihnen ritten die Söldner und rumpelte der Wagen mit dem Gefangenen. 61
Mechthild hegte zwiespältige Gefühle für diesen Mann. Sie wollte seinen Tod nicht, aber sie war ihm auch böse, dass er an ihrem Raub beteiligt gewesen war und nichts Besseres gewusst hatte, als sie auf einem Bauernhof arbeiten lassen zu lassen. Das konnte sie ihm nur verzeihen, wenn er Gustav Schanning war. Dann hatte er ja keine anderen Möglichkeiten gehabt, ihr ein Zuhause zu geben. Mittlerweile hatten sie die Schlossmauer erreicht, wo sie von Wachhabenden angehalten wurden. »Ich bin Johann Borwin von Wisby«, rief der Graf in einigermaßen verständlichem Schwedisch. »In meiner Begleitung befindet sich meine Tochter Mechthild Margarita, die Braut des Prinzen Carl Magnus. Wir bitten Seine und Ihre Hoheit um eine kurzfristige Audienz.« Der Name des Grafen, seine imposante Gestalt und seine laute, markige Stimme veranlassten die Hüter des burgähnlichen Schlosses keineswegs dazu, die Zugbrücke herunterzulassen. Feinde gab es in diesen schweren Zeiten schließlich überall. Und wer da mit einer zwanzig Mann starken Garde, weiterem Gefolge und einem Planwagen Einlass begehrte, der konnte durchaus einen Überfall auf den Herzog im Sinn haben. »Euer Kommen wurde uns nicht angekündigt, Graf Wisby«, rief nach längerem Palaver einer der Wachhabenden. »Da müssen wir uns zuerst bei unserem Hauptmann erkundigen.« Johann Borwin fluchte daraufhin gotteslästerlich, was allerdings nichts nützte. Er musste ebenso wie alle anderen warten, bis die wackeren Burschen von der Gegenseite ihren Hauptmann aufgetrieben hatten. Dieser wusste auch nichts von der bevorstehenden Ankunft des flandrischen Grafen, ließ jedoch sein reichhaltiges Abendessen im Stich und wagte es, bis zur Herzogin selbst vorzudringen. Er bekam die Erlaubnis, in den Ankömmlingen gute Freunde zu sehen und seine Wachmannschaft entsprechend zu informieren. Diese ließen dann die Zugbrücke herunter und gaben anschließend den Weg frei, der zuerst durch ein großes Tor führte, dann einen mit Kies bestreuten Pfad entlang, vorbei an zwei runden Ecktürmen bis hin zum eigentlichen Palast. 62
Dort wurden sie freundlich, aber reserviert empfangen. Man merkte es, die höhere und niedere Dienerschaft war auf den Besuch des Grafen von Wisby nicht vorbereitet. Wahrscheinlich mussten Johann Borwin und seine Tochter deshalb so lange auf das Erscheinen der hohen Herrschaften warten. Es verging mehr als eine Viertelstunde, ehe der Haushofmeister die Herzogin meldete. Amalia von Thurkland sah geradezu majestätisch aus, als sie in dem burgunderfarbenen Kleid mit der langen Schleppe und der kostbaren Haube die Eingangshalle betrat. Sie übersah die Komtesse und ihren Onkel und ging statt dessen auf den Grafen zu und sagte: »Mein lieber Graf, es freut mich, Euch so gesund wieder zu sehen. Wo ist denn Eure Tochter, um die wir uns schon Sorgen gemacht haben, weil sie doch schon längst bei uns...« Die Stimme der Landesherrin versagte, als sie die junge Frau neben dem Grafen nun doch näher betrachtete. Sie bemerkte das rötliche Haar, den rosigen Teint, blickte verständnislos auf das armselige Gewand und hauchte: »Ist sie etwa... das hier?« »Ja«, antwortete der Graf kurz angebunden. »Meine Tochter, die schon längst hatte bei Euch sein sollen, wurde von Piraten geraubt und verschleppt. Einen von diesen Teufelsbraten habe ich gefangen genommen und mitgebracht. Er behauptet allerdings frech und dreist, Euer Sohn zu sein.« »Carl Magnus?« Die Herzogin wurde blass, denn sie kannte den Übermut des Erbprinzen. »Ja, er behauptet es«, wiederholte der Graf. »Und da ich Euren Sohn schon sehr lange nicht gesehen habe, bitte ich Euch und Euren Gemahl, sich diesen Burschen anzuschauen und ihm in jedem Fall eine gerechte Strafe aufzuerlegen.« »Wo ist er?«, würgte Amalie von Thurkland hervor. »Vor dem Schloss. Er wird von meinen Leuten bewacht.« »Dann soll er umgehend hierher gebracht werden und man möge den Herzog informieren«, entgegnete sie hastig und bot dann den weit gereisten Gästen Platz an. Der allgegenwärtige und stets umsichtige Haushofmeister eilte davon, während der Graf trotz seines Zorns die kirchenartige Halle mit 63
ihren Kunstschätzen und Kostbarkeiten taxierte. Hier, in diesem Schloss, würde seine Tochter einmal die Herzogin sein und dieses Schloss war auch der passende Rahmen für ihre Schönheit. Wenn sie auch zur Zeit von Männern nichts wissen wollte - das konnte er durchaus verstehen - an der geplanten Vermählung änderte das nichts. * Carl Magnus wurde es allmählich mehr als ungemütlich auf dem Planwagen. Menschliche Bedürfnisse plagten ihn, der Rücken tat ihm weh und seine gefesselten Hände und Beine schienen taub geworden zu sein. Wie lange wollte man ihn hier noch schmachten lassen - in diesem Wagen, der vor dem Schloss seines Vaters stand? Um sein Leben sorgte er sich nicht. Seine Mutter würde ihm zwar eine gehörige Standpauke wegen seines Übermutes halten, sein Vater würde grantig werden, weil man ihn wegen dieses Wirrkopfes von Sohn von seinen astrologischen Studien trennte und Graf Wisby würde diese seltsame Werbung um Mechthild als groben Unfug bezeichnen. Was seine Braut von dieser Angelegenheit halten und was sie nun unternehmen würde, das wagte er nicht, sich auszumalen. Aber er war nicht ohne Hoffnung. Sie hatte ihm immerhin das Leben gerettet. Das war sehr knapp gewesen, zum Teufel noch mal! Aber wie hatte er denn ahnen können, dass sein angehender Schwiegervater und dessen Schwager seinen schriftlichen Beteuerungen nicht glauben und in ihm einen Piraten sehen würden. In diesem Augenblick schlug einer der Söldner die Plane zurück, riss ihn hoch und zerrte ihn aus dem Wagen. Die Ketten an den Füßen wurden ihm abgenommen, die Hände blieben jedoch gefesselt. Auch sonst sah er furchterregend aus. Seine Schuhe waren ihm abhanden gekommen, Hose und Hemd waren schmutzig und teilweise zerfetzt. Er hatte sich nicht rasieren, waschen und kämmen können und fühlte sich wie ein Aussätziger. In dieser Verfassung wurde er, flankiert von zwei bis an die Zähne bewaffneten Söldnern, in die Schlosshalle geführt und vor die Füße der eigenen Eltern gestoßen. 64
»Um Gottes Willen, Carl Magnus!«, schrie der Herzog entsetzt und sprang auf. »Wie siehst du aus? Was hast du nur angestellt, dass man dich uns wie einen Verbrecher vorführt?« Er vergaß augenblicklich sämtliche Sterne und befreite seinen Ältesten selbst von den Fesseln. Die beiden Soldaten sahen sich daraufhin verblüfft an und entfernten sich schleunigst. »Danke, Papa«, murmelte der Prinz, während er sich aufrichtete und ein wenig amüsiert in die Runde schaute. Bei seiner Braut verweilte sein Blick etwas länger. Doch seine um Verständnis bittenden Augen rührten Mechthild Margarita nicht. Sie sah hochmütig über ihn hinweg. Sie sagte auch nichts, was nicht weiter auffiel, denn die Herzogin erklärte jetzt streng: »Wie wir inzwischen wissen, mein Sohn, hast du dir während deiner Schiffsreise nicht nur seemännische Kenntnisse angeeignet, sondern hast vor allem deine eigene Braut geraubt. So war unsere Botschaft an dich nicht gemeint. Du hast deiner zukünftigen Gemahlin nur Geleitschutz geben sollen.« »Das habe ich doch auch getan... auf meine Weise«, versicherte der junge Mann treuherzig. »Ich bin die ganze Zeit über bei meiner Braut gewesen, habe sie behütet und beschützt und innig um sie geworben.« »Was habt Ihr?« Die Komtesse konnte ihre Wut nicht mehr bezwingen. Sie stürzte auf den Prinzen zu und schrie: »Nennt Ihr es behüten, beschützen und um mich werben, wenn Ihr mich in Angst und Schrecken versetzt und mich tagaus und tagein wie eine niedere Magd rackern lasst, mich die Tochter eines Grafen?« »Das bisschen Arbeit hat dir nicht geschadet«, erwiderte er gleichmütig. »Du hast viel gelernt und bist längst nicht mehr so kokett und eingebildet wie am Anfang.« Nun flammte der Zorn des Grafen auf. Sein Gesicht wurde rot vor Wut, als er eiskalt antwortete: »Meine Tochter hat recht, Prinz Carl Magnus. Ihr habt sie nicht ihrem Stand entsprechend behandelt und Ihr habt nicht nur sie, sondern auch meine Gemahlin und mich und unsere gesamte Familie sowie unsere Freunde mit Eurem gewissenlosen Vorgehen in Unruhe und grenzenlose Angst versetzt. Wir haben 65
bereits befürchtet, dass Mechthild nicht mehr unter den Lebenden weilt.« »Das... das... wollte ich nicht«, stotterte Carl Magnus kleinlaut. »Ich habe doch... einen Brief geschrieben, den ich Eurem Schwager und Frau von Ellberg übergeben habe, habe darin erklärt, dass ich der Prinz bin und meine Braut nur näher betrachten wollte, allein... und nicht im Beisein meiner Eltern und des gesamten Hofstaates.« »Wir... Frau von Ellberg und ich... haben diesen Brief für eine Fälschung gehalten«, mischte sich Oswald von Paskow zerknirscht ein. »Und außerdem seht Ihr dem Bild, was wir von Euch bekommen haben, so gut wie gar nicht ähnlich. Und letzten Endes ist es auch nicht üblich, die eigene Braut zu rauben.« »Genauso ist es«, rief der Graf und holte tief Luft, um seinen Zorn in Worte zu kleiden. Er wurde jedoch von der Herzogin daran gehindert. Sie erhob sich, gebot allen mit einer gebieterischen Handbewegung Schweigen und verkündete würdevoll: »Vorwürfe von der einen sowie von der anderen Seite bringen uns nicht weiter. Wir sind alle erregt und erschöpft. Lasst uns morgen weiter beraten. Du, mein Sohn, wirst dich in deine Gemächer begeben und Ihr Graf, werdet mit Eurer Tochter und Eurem Gefolge standesgemäß untergebracht und betreut. Folgt unserem Haushofmeister! Er wird für alles sorgen, was Ihr braucht.« Der Herzog nickte beifällig. Es gefiel ihm, wenn seine Gemahlin wieder einmal das letzte Wort hatte. * Lucie, die man mit den anderen Dienern und Mägden des Grafen zu den Gesindestuben geschickt hatte, war nun wieder die Zofe einer Komtesse und augenblicklich gerade dabei, das Haar ihrer Herrin zu bürsten. Sie tat es mit gewohnter Übung, wobei ihr Mund nicht einen Augenblick still stand. »Was mag man nun mit Gustav Schanning getan haben?«, fragte sie leise. »Ob man ihn in ein Verlies gesperrt hat?« 66
Die Komtesse lachte spöttisch. »Ich denke, er liegt jetzt in einem Waschzuber und lässt sich von seinem Diener oder einer Magd den Rücken schrubben.« Die Zofe ließ beinahe die Bürste fallen, so entgeistert war sie. »Er lässt sich... bedienen wie ein...« »Wie ein Prinz«, vollendete Mechthild. »Er ist ja auch einer, er ist tatsächlich Carl Magnus von Thurkland und damit mein Verlobter.« »Aber er ist doch gar nicht blond, so wie die Schweden es alle sind.« Nur mit Mühe konnte sich Lucie wieder ihrer Arbeit zuwenden. »Er gleicht seiner Mutter und die war einmal eine spanische Prinzessin. Doch das habe ich bis jetzt auch nicht gewusst, wie so vieles andere auch nicht.« Lucie nickte mitfühlend und fragte: »Was wird nun geschehen?« »Was schon«, erwiderte die Komtesse verdrossen. »Ich werde diesen Kerl heiraten müssen. Etwas anderes bleibt mir ja nicht übrig. Aber diesem Hofmaler sollte man die Ohren lang ziehen, oder besser noch, davon jagen. Wenn er nach der Wirklichkeit gemalt hätte, dann hätten wir alle den Prinzen erkannt und es wäre nicht zu diesen dramatischen Verwicklungen gekommen.« »Das ist wahr«, stimmte Lucie ihr zu. »Kleine Ursache und große Wirkung.« Mechthild nickte gedankenverloren und ging wenig später zu Bett. Die Herzogin hatte ihr Gewänder aller Art schicken lassen, so dass es ihr an nichts mangelte. Und doch konnte sie die seit langem entbehrte Bequemlichkeit nicht genießen. Immer wieder musste sie an die vergangenen Wochen denken, vor allem an ihn, der in ihr trotz allem Gefühle auslöste, die sie nicht haben wollte. Warum nur hatte er sich ihr nicht in herkömmlicher Weise nähern können? Warum musste er unbedingt eine Scharade in Szene setzen? Wahrscheinlich wollte er sich nur über die kleine flandrische Braut lustig machen. Und es freute es ihn vermutlich, wenn sie und ihre Angehörigen vor Angst zitterten. Wenn sie sich vorstellte, dass ihre Mutter immer noch um sie weinte, dann verging ihr stets der Appetit. Und doch, sie gestand es sich selbst ein, glich Carl Magnus dem Mann, von dem sie seit langem träumte. 67
Und er war derjenige, in den sie sich ganz gegen ihren Willen verliebt hatte. * Gerd Windmaker hatte stark abgenommen, war sehr blass und sah aus wie Spucke mit Ei, wie der Schiffsjunge grinsend zu sagen pflegte. Aber er war ohne Zweifel auf dem Wege der Besserung. An diesem Nachmittag, als das Schiff die schwedischen Küstengewässer verlassen hatte, lag der Waffenmeister verdrießlich auf seiner Pritsche, während alle anderen Schiffsleute an Deck ihrer Arbeit nachgingen oder untätig herumlungerten. Vor wenigen Tagen erst waren sie in Reval vor Anker gegangen, hatten gekaperte Waren verkauft und einen Teil des Erlöses armen Familien zukommen lassen. Ihre eigenen Anteile waren nur schmal gewesen, was einige Männer mächtig verdrossen hatte. Klaus Störtebeker hatte die Nörgler jedoch barsch darauf hingewiesen, dass er immer noch Gottes Freund und aller Welt Feind sei und der Retter der Armen. Und wer sich nicht nach diesem Wahlspruch richten mochte, der könnte im nächsten Hafen den ›Roten Teufel‹ verlassen. Natürlich waren alle geblieben, denn einen besseren und gerechteren Schiffshauptmann fand man nirgendwo. Gerd bedauerte es, dass er noch zu krank war, um seinen Posten vollständig auszufüllen, andererseits hatte er jetzt viel Muße zum Nachdenken. Erfreulich waren seine Gedanken allerdings nicht, eher ärgerlich und sehnsüchtig. Langsam erhob er sich, denn sein Bein schmerzte immer noch ein wenig. Er verließ die Kajüte, die er sich mit drei anderen Männern teilte und stieg die schmale Treppe hinauf, die zum Deck führte. Dort traf er seinen Kapitän, der ihn sofort anschnauzte: »Mach, dass du in deine Koje kommst. Soll dich der Wind umpusten?« »So schlimm wird es schon nicht kommen«, versetzte Gerd und wollte langsam weitergehen. Doch Klaus befahl: »Komm mit zu mir! Ich muss mit dir reden.« 68
»Worüber denn? Willst du dir etwa einen anderen Waffenmeister suchen? Bin ich dir zu kränklich und darum nicht mehr zu gebrauchen?« »Nichts von alledem. Aber du bist tatsächlich noch krank und solltest dich an Land endgültig auskurieren, zum Beispiel bei meinem Bruder Heinrich in Livingholm. Martha, das ist seine Frau, wird dich hegen und pflegen wie ein Kleinkind. Im Frühjahr hole ich dich dann wieder ab.« »Klingt nicht schlecht«, erwiderte Gerd und setzte sich wie Störtebeker auf einen Stuhl, denn sie waren unterdessen in der Kajüte des Kapitäns angekommen. Dort fragte er übergangslos: »Was meinst du, ob... die beiden Jungen, der Gottfried und der Ludwig immer noch bei Gustav Schanning sind?« Ach, daher wehte der Wind. Klaus unterdrückte ein Lächeln und erwiderte: »Schon möglich.« Und als Gerd nicht antwortete, fügte er listig hinzu: »Du hast übrigens während des Fiebers oft von Ludwig gesprochen, wolltest sogar, dass ich ihm das Amulett zurückgebe, das er dir zum Abschied geschenkt hat. Das kannst du ja nun allein tun.« Der Waffenmeister wurde sehr verlegen und blickte beschämt zu Boden, bevor er bedrückt hervorstieß: »Du denkst sicher, ich bin nicht mehr ganz richtig im Kopf, weil ich den Kleinen so gern habe... Ich verstehe es ja selbst nicht, aber er fehlt mir.« »Du fehlst - ihr - sicher auch.« »Ihr??« Klaus lachte und meinte dann: »Jetzt kann ich es ja sagen, jetzt brauche ich nicht mehr zu schweigen. Unsere beiden jungen Herren sind junge Frauen, die ich auf Anweisung des Prinzen von Thurkland zu rauben hatte. Die Ältere der beiden, also Gottfried, heißt Mechthild Margarita von Wisby und ist seine Braut. Die jüngere heißt Lucie und ist ihre Zofe. Na, was sagst du nun?« »Ich bin platt wie eine Flunder. Und wie bist du zu dem Prinzen von Thurkland gekommen?« »Nun, der ist eher zu mir gekommen, er wollte das Schiffshandwerk erlernen und nannte sich zu dieser Zeit ganz schlicht Gustav Schanning.« 69
»Gustav Schanning«, wiederholte Gerd beinahe triumphierend. »Ich hab' doch geahnt, dass der nicht so recht zu uns passt, ist viel zu vornehm.« »Er ist aber doch ein ganzer Kerl, verwegen und nicht zimperlich«, ergänzte Klaus. »Er wird seine Braut inzwischen wohl schon geheiratet haben. Danach zieht er mit ihr auf sein Schloss in Livingholm. Und wenn du dort eines nicht allzu fernen Tages herzliche Grüße von mir bestellst und bei dieser Gelegenheit Lucie begegnest, dann sei nicht dumm, sondern nimm sie in deine Arme und küsse sie.« Windmaker schwieg nachdenklich und erwiderte erst nach einer Weile: »Ich weiß nicht, ob das gut ist. Auch wenn Lucie mich mag, so eignet sie sich vielleicht doch nicht zur Gemahlin eines Freibeuters.« »Das weiß ich natürlich nicht, aber fragen kannst du sie doch.« Gerds Augen bekamen einen ganz eigenen Glanz, als er erwiderte: »Du hast recht, ich werde sie fragen. Und du meinst, dein Bruder und seine Frau werden mich über Herbst und Winter bei sich aufnehmen?« »Das werden sie ganz bestimmt, sie sind nette Leute und miteinander sehr glücklich.« »Warum hast du eigentlich keine Frau?«, fragte Gerd unvermittelt. »Ich habe kein Glück mit ihnen«, entgegnete Klaus verbittert. »Meine erste Liebste wurde verheiratet, noch ehe ich sie zu mir holen konnte. Und die zweite wäre beinahe zu Tode gefoltert worden, weil die Obrigkeit sich von ihr Informationen zu unseren Beutezügen versprach. Sie hat geschwiegen, hat dann aber den Mann geheiratet, der sie vor Bertram Wulflam und seinen Bütteln gerettet hat. Ich weiß nicht, ob es jemals eine andere Frau für mich geben wird. Vorerst sicher nicht.« Gerd sagte nichts dazu, er wusste, jedes Wort war überflüssig. Und so konzentrierte er sich auf das Nächstliegende - auf seine Genesung und auf Lucie. Schon eine Woche später ging er in Livingholm von Bord und dann in Begleitung seines Freundes Klaus zu dem Haus, in dem Martha und Heinrich von Althum wohnten. * 70
Carl Magnus bereute seine Maskerade nicht. Warum sollte er auch? Auf diese Weise hatte er seine Braut so sehen dürfen, wie sie wirklich war. Leider war sein romantischer Plan zum Schluss misslungen. Es war nicht soweit gekommen, dass die Grafentochter den Bauern heiraten und mit ihm auf seinem Hof leben wollte. Sein Schwiegervater hatte dafür gesorgt, dass er Mechthild schon vor der Zeit die Wahrheit hatte gestehen müssen. Hatte er nun den Kampf um ihre Liebe verloren? Nein, sicher nicht. Sie hatte ihm immerhin das Leben gerettet, hatte sich vor ihn gestellt und ihren Vater um Gnade gebeten. Dafür hatte er sich bei ihr noch nicht bedanken können, denn sie war ständig von allen möglichen Leuten umgeben - von ihrem Vater, ihrem Onkel, seinen Eltern und einer Vielzahl von Bediensteten. Schneiderinnen und Putzmacherinnen umkreisten sie wie ein Schwarm Fliegen und ließen kaum jemand an sie heran, vor allem ihn nicht. Es schickte sich eben nicht, schon vor der Hochzeit mit der Auserwählten auch nur eine Stunde allein zu sein. Mit diesen nur wenig verständlichen Sitten konnte er sich ja noch abfinden, aber nicht damit, dass ihm seine Braut bewusst aus dem Wege ging. Gewiss, er hatte sie angelogen und mitunter auch verspottet und derb behandelt. Aber dafür hatte er doch triftige Gründe gehabt, über die er jetzt gern mit ihr sprechen würde, wenn sie es nur dazu kommen ließe. Und es hatte doch auch Küsse, zärtliche Worte und leidenschaftliche Umarmungen gegeben. Und immer wieder hatte er beteuert, dass er sie heiraten wollte - sie - und keine andere. Hatte sie das alles vergessen? Oder war sie zu stolz, um ihm zu verzeihen? Inzwischen war das Schiff des Grafen wieder unterwegs. Es sollte die Gräfin, die Brüder seiner Braut, andere Verwandte und die unvermeidliche Frau von Ellberg nach Kalmar bringen. Und dann würde man Hochzeit feiern - und er würde danach endlich mit seiner Frau allein sein. Aber musste er wirklich so lange warten? * 71
Am nächsten Abend, als er zu seinen Gemächern ging, huschte Lucie an ihm vorbei. Geistesgegenwärtig hielt er sie am Arm fest und fragte leise: »Ist deine Herrin allein?« Die Zofe nickte eifrig und schüttelte den Kopf, als er anschließend von ihr wissen wollte: »Schläft sie schon?« »Dann bleib hier in der Nähe und lasse niemanden in die Kemenate. Ich habe eine dringende Unterredung mit meiner Braut und möchte dabei nicht gestört werden.« Die Magd konnte auch dieses Ansinnen nicht erschüttern, sie kicherte, stellte sich dann an eines der Fenster und tat so, als würde sie hinaus schauen. Carl Magnus hatte unterdessen fast geräuschlos die Tür geöffnet und blickte nun auf die Komtesse, die vor einem Spiegel saß und offenbar auf ihre Zofe wartete. Sie sah bezaubernd schön aus, denn ihre sonst geflochtenen und aufgesteckten Haare waren offen und fielen ihr bis auf den Rücken. Der Prinz hätte kein Mann sein müssen, wenn er sie jetzt nicht bewundernd und verlangend angestarrt hätte. Er wollte reden, scherzen oder einfach nur lachen, aber er bekam keinen Ton heraus, stand nur da und musste sich anhören, wie sie fragte: »Was wollt Ihr?« »Mit dir reden... Mich bei dir bedanken... für mein Leben.« »Zwischen uns gibt es nichts zu bereden. Das haben Eure Mutter und mein Vater schon zur Genüge getan. Es ist alles bis ins Kleinste ausgehandelt worden - von der Mitgift bis zum Witwensitz. Und bedanken müsst Ihr Euch nicht. Mein Vater hatte keinerlei Grund, Euch von seinen Söldnern töten zu lassen. Wenn jeder für seinen Übermut und sein schlechtes Benehmen hingerichtet würde, dann gäbe es wohl nur noch wenige Menschen im Land.« »So siehst du das also«, antwortete er beherrscht. »Ich hatte allerdings etwas anderes erwartet, hatte gehofft, dass du mich vertraulich ansprichst und dir wenigstens anhörst, weshalb ich so gehandelt habe.« »Warum sollte ich das tun? Ihr habt Euren Spaß gehabt. Lasst es dabei bewenden und drängt mir Eure Gegenwart nicht unnötig auf.« 72
Ihre Worte waren wie Eis und kränkten ihn so sehr, dass er wütend erwiderte: »Dann haben wir uns bis zur Hochzeit ja wohl nichts mehr zu sagen.« »So ist es. Nutzt nur die Tage, da Ihr noch ohne Ehefesseln seid. Geht auf die Jagd oder zu Euren Freunden, den Piraten.« »Das werde ich auch tun«, gab er zurück und seine Augen funkelten zornig zu seiner zukünftigen Gemahlin hin. »Du verleidest mir ja den Aufenthalt hier, so uneinsichtig und nachtragend wie du nun einmal bist. Du hast kein gutes Wort für mich und bist so förmlich, dass ich dich künftig auch auf diese Art ansprechen werde. Wir sehen uns dann bei der Hochzeit, teure Mechthild. Bis dahin wünsche ich Euch alles Gute. Und pflegt Euch, ich will nämlich keine unpässliche Frau im Ehebett haben.« Er ging und ließ die Tür mit einem Knall ins Schloss fallen, was Lucie, die immer noch am Fenster stand, erschrocken zusammenzucken ließ. Der Prinz achtete auf sie jedoch nicht, er eilte zu seinen Gemächern, ohne nach links und rechts zu schauen. »Sie haben sich wohl schon wieder gestritten«, murmelte die Zofe, während sie zu ihrer Herrin ging, die ihr in den vergangenen Wochen eine Freundin geworden war. Sie wusste, sie wurde jetzt gebraucht. Und genauso war es auch. Die Komtesse war zornig, aber sie weinte und schimpfte noch lange über den Prinzen, dem nichts heilig war, der sie verspottete, statt ihr den Hof zu machen. Lucie hörte geduldig zu, holte irgendwann einen Beruhigungstee aus der Küche und war froh, als ihre Herrin sich endlich müde geweint hatte. * Die Feierlichkeiten zur Hochzeit begannen am Vorabend der Trauung mit einem Turnier, bei dem die Reiter von den Reisigen lautstark angefeuert wurden. Und während die Ritter um den Sieg kämpften, wurden im Schlosshof mehrere Wildschweine am Spieß gebraten. Gaukler und 73
Musikanten sorgten für Unterhaltung und Spaß, während die Bediensteten Fässer mit Wein und Bier in den Hof rollten. O ja, der Herzog von Thurkland und der Graf von Wisby ließen es sich einen ordentlichen Batzen Geld kosten, ihre Kinder miteinander zu vermählen. Die Brautleute selbst teilten die Begeisterung der Gäste und Zuschauer nicht, sie standen jedoch auf der Tribüne nebeneinander und winkten den Leuten zu, beide hübsch anzuschauen in ihren festlichen Gewändern. Dann und wann mischten sie sich auch unter das Volk, was dem populären Prinzen leicht fiel und die Komtesse noch lernen musste. Sie lachten und scherzten - und hatten doch kein wärmeres Wort füreinander übrig. Die Gäste bemerkten das nicht, nicht einmal die Eltern und Geschwister des Hochzeitspaares. Es war ja schließlich üblich, dass sich die künftigen Eheleute erst nach der Vermählung richtig kennen lernten. Außerdem hatte man damit zu tun, ausgiebig zu speisen und zu trinken, denn der morgige Hochzeitstag würde kräftezehrend genug sein. Mechthild Margarita fand das auch. Sie ging an diesem Abend rechtzeitig zu Bett, schlief wider Erwarten gut und war so ausgeruht, dass sie die lange Prozedur des Ankleidens gelassen ertrug. Und als sie dann endlich in einen Spiegel schauen durfte, war sie mehr als zufrieden. Das goldfarbene Gewand, das am Rocksaum und am Ausschnitt mit Edelsteinen besetzt war, stand ihr ausgezeichnet. Dazu trug sie einen langen weißen Schleier und ein goldenes Diadem. Carl Magnus gefiel sie offensichtlich, denn er war tief bewegt und warf ihr einen bewundernden Blick zu, als sie von ihrem Vater zum Altar geführt wurde. Dieser Blick tat ihr gut, sie lächelte unwillkürlich und griff spontan nach seiner Hand. Danach begann die Trauungszeremonie, die der Erzbischof von Kalmar durchführte. Er sprach lange und salbungsvoll und erklärte sie nach einer Reihe von sakralen Gesängen und Ritualen zu Mann und Frau. Die Zeremonie war damit zu Ende. Mechthild seufzte erleichtert und spürte in diesem Augenblick den festen Händedruck ihres Gatten. 74
»Es ist gleich vorbei. Liebste«, raunte er ihr verstohlen zu. »Später geht es nicht mehr so steif zu. Dann könnt Ihr Euch ausruhen.« Er hatte Liebste zu ihr gesagt, in einem Tonfall, der weich und herzlich war, nicht mehr so kalt wie in den vergangenen Wochen. Mochte er sie vielleicht doch, oder bereitete er sich jetzt schon auf die Hochzeitsnacht vor? Sie schaute zu ihm hin und fand, dass er ausgesprochen gut aussah in dem tannengrünen Hochzeitsgewand. Endlich ähnelte er dem vornehmen Prinzen, der er ja auch war und hatte doch nichts von der verwegenen Aura eingebüßt, die ihn während seiner ›Piratenzeit‹ umgeben hatte. Er gab ihren Blick zurück, ernst und tief bewegt. Und dann verließen sie unter den feierlichen Klängen des ›Te Deum laudamus‹ die Kirche. Vor dem Gotteshaus wartete eine Kutsche auf sie, doch bis zu dieser schien der Weg noch weit zu sein. Sie wurden immer wieder aufgehalten, von jungen Mädchen, die Herbstastern in den Haaren trugen und einen Tanz aufführten, von Gästen, die gratulierten und Geschenke brachten und Kindern, die Lieder sangen und dem frisch vermählten Paar Blumen auf den Weg streuten. Aber schließlich war es dann doch soweit, dass Carl Magnus seine Braut in die Kutsche heben konnte. Und dort küsste er sie unter dem Jubel der Menschenmassen. Die Fanfarenbläser, die bereits die Ankunft der Braut verkündet hatten, begleiteten nun den Hochzeitszug durch die Stadt bis hin zum Schloss ›Kalmarhus‹. Dort fand dann die eigentliche Feier statt, wurden weitere Geschenke überreicht und dort eröffnete nach einem Festessen das Hochzeitspaar den Tanz. Lucie hatte an diesem Tag wenig zu tun, denn heute oblag es entsprechend einer langjährigen Tradition mehreren Hofdamen Prinzessin Mechthild Margarita in jeder Weise zu unterstützen. Sie würden sie auch für die Hochzeitsnacht ankleiden und zu ihrem Ehebett führen. Doch recht amüsieren konnte sich die Zofe trotz ihrer Freizeit nicht, obwohl es ihr nicht an Tänzern und kecken Burschen mangelte. So manch einem musste sie sogar zu verstehen geben, dass ihr an einem 75
Stelldichein - wo auch immer - nicht gelegen war. Erleichtert schaute sie gerade einem jungen Ritter nach, der sozusagen mit hängenden Ohren den Festplatz verließ. »Weist Ihr mich auch ab, kleine Lucie?« Eine durchaus bekannte Stimme ertönte hinter ihr, worauf sie sich umdrehte und entgeistert fragte: »Klaus Störtebeker, wie kommt Ihr denn hierher?« »Bei der Hochzeit des Prinzen Carl Magnus und der holden Mechthild darf ich doch nicht fehlen. Ich war immerhin am Raub der Komtesse maßgeblich beteiligt und habe aus diesem Grund natürlich eine Einladung erhalten.« Klaus lachte, fasste Lucie um die Taille und ging mit ihr zur Tanzfläche, wo er sie zünftig herumschwenkte. Lucie meisterte dabei ihre Verwirrung und fragte schließlich zaghaft: »Ihr habt mich offenbar gleich wieder erkannt.« »Ja«, erwiderte der Kapitän vom ›Roten Teufel‹ verschmitzt. »Ihr habt zwar sehr reizend als Ludwig von Thornow ausgesehen, seid als junge Dame aber noch viel anmutiger und lieblicher. Gerd Windmaker findet das auch. Schaut nur, dort hinten steht er.« Lucie blieb abrupt stehen. »Gerd ist hier? Warum kommt er denn nicht her und holt mich zum Tanz?« »Tanzen kann er nach einer Verletzung am Bein noch nicht, aber sein Herz und alle seine Sinne sind in bester Ordnung. Ihr braucht nur zu ihm zu laufen, dann...« Klaus sparte sich den Rest des Satzes, denn Lucie war bereits zu der Stelle gelaufen, wo Gerd unter dem ausladenden Geäst einer uralten Eiche stand. Er war blass und wirkte angespannt, aber er lächelte glücklich, als Lucie ihm um den Hals fiel. Und er nahm sie in die Arme und hielt so fest, wie er es sich seit dem Tag erträumt hatte, als er erfuhr, dass Ludwig ein Mädchen war. Worte waren vorerst zwischen ihnen nicht notwendig, die Küsse, die sie sich gaben, sagten genug und waren Versprechen für die Zukunft. Klaus hatte sich inzwischen zu seinem Bruder und seiner Schwägerin gesellt, die an einem der reich gedeckten Tische saßen und es sich schmecken ließen. Martha und Heinrich gehörten als Pächter des Prinzen ebenfalls zu den zahlreichen Gästen und würden sich nach Beendigung der Feier76
lichkeiten dem Gefolge von Carl Magnus anschließen, das ihn und seine junge Frau nach Livingholm begleitete. »Na, euch scheint es ja hier zu gefallen«, meinte Klaus gerade, als die beiden nach einem Tanz wieder an den Tisch zurückkehrten. Martha, die eine blühende Frau geworden war, entgegnete lachend: »Na und ob! Wir genießen das Fest ganz besonders, denn wir haben auch einen Anlass zum Feiern.« Sie lächelte viel sagend, während Heinrich stolz hinzufügte: »Wir bekommen ein Kind. In fünf Monaten wird es soweit sein.« Klaus gratulierte herzlich und freute sich auch, aber er fühlte sich plötzlich sehr allein. Martha und Heinrich waren glücklich, Carl Magnus und seine Frau sicher auch und Lucie und Gerd würden es inzwischen ebenfalls sein. Nur er selbst hatte außer seiner Mannschaft niemanden, er war ein einsamer Adler der Meere geworden. Doch als sein Blick auf den zahlreichen Frauen verweilte, lächelte er schon wieder. Er war doch ein ganzer Kerl, da würde es ihm doch nicht schwer fallen, für diesen Abend und für die nächsten Tage eine hübsche Gespielin zu finden. * »Und du hast wirklich nicht gewusst, dass ich ein Mädchen bin?«, fragte Lucie nun schon zum zweiten Mal, denn Gerd hatte ihr noch keine ausgiebige Antwort gegeben. »Nein«, bekannte er grinsend, während er den milden Herbstabend genoss - und dabei Lucies Hinterteil tätschelte. »Ich muss wohl blind gewesen sein. Ich dachte, du wärest ein Junge. Aber ich hatte mich trotzdem in dich verliebt. Gepasst hat mir dieser Zustand allerdings nicht.« »Du hast bestimmt schon geglaubt, du hättest etwas für - Männer - übrig?«, neckte sie ihn, worauf er ihr ›mündlich‹ bewies, dass er etwas für Frauen übrig hatte, ganz besonders für sie. Und irgendwann sagte er: »Hier draußen ist es ja ganz angenehm, aber ich wäre viel lieber mit dir ganz allein.« 77
»Ich auch«, bekannte sie leise, nahm dann seine Hand und schlich so mit ihm zu ihrer Kammer. Keinem von der Herrschaft oder den Dienern würde heute auffallen, dass sie dort nicht allein schlafen wollte. Als sie nach wenigen Minuten angekommen waren, nahm Gerd sie in die Arme und sagte ernst: »Ich werde die nächsten Jahre noch zur See fahren, du würdest viel allein sein, wenn du mein Weib wärst. Aber vielleicht heiratest du mich trotzdem.« Das war eher eine bange Frage, als eine Feststellung, Lucie spürte das und strich Gerd behutsam über die immer noch eingefallenen Wangen. Dabei erwiderte sie schlicht: »Viele Frauen sind zeitweise allein. Damit werde ich mich abfinden. Wichtig ist doch nur, dass wir uns lieb haben und du immer wieder zu mir zurück kommst.« »Das werde ich, solange Leben in mir ist«, versprach Gerd. Er zog sie ganz dicht an sich heran und sagte dann noch: »Ich bleibe bis zum nächsten Frühjahr bei dir, muss mich ja noch auskurieren. Heute Nacht bleibe ich auch, wenn du mich bei dir haben willst. Und morgen suchen wir uns einen Pfarrer, der uns ganz schnell traut.« Lucie nickte nur selig. Sie fand diese Aussichten wunderbar. * Die Prinzessin schaute sich beklommen in dem großen und mit edlen Möbeln ausgestatteten Schlafgemach um. Kostbare Teppiche lagen auf dem Fußboden, die Fenster hatten in Blei gefasste Scheiben, die das Licht des Mondes erkennen ließen und auf dem Tisch standen eine Schale mit Früchten sowie ein Krug Wein mit passenden Bechern. Vor ein paar Minuten waren die Hofdamen gegangen, nachdem sie ihr aus dem Hochzeitskleid geholfen, das Nachtgewand aus feinstem Leinen übergestreift und die Haare gebürstet hatten. Sie hatten sogar die Kissen und Decken aufgeschüttelt, wobei sie versteckt gelächelt und sich viel sagende Blicke zugeworfen hatten. Mechthild hätte ihnen gar zu gern die Zunge herausgestreckt. Doch so etwas tat eine zukünftige Herzogin natürlich nicht. Die wartete, bis ihr Gemahl kam. Das war ihre Pflicht. 78
Über diese und andere Pflichten nachgrübelnd, setzte sie sich in den Lehnstuhl vor dem Kamin und genoss die Wärme, die das Feuer ausstrahlte. Ihr innerliches Zittern und die Angst vor den kommenden Stunden blieben jedoch und sie fragte sich, warum ihre Mutter ihr nie gesagt hatte, worauf es bei dem so genannten Beilager eigentlich ankam. Sie war so in ihre Gedanken vertieft, dass sie ihren Gemahl erst bemerkte, als er dicht neben ihr stand. Erschrocken sprang sie auf, versuchte aber dennoch, gleichmütig und gefasst zu wirken, obwohl es ihr unangenehm war, sich ihrem Mann im Nachthemd zu zeigen. Aber gleich würde er noch viel mehr sehen... Carl Magnus, der ahnte wie seiner Braut zumute sein musste, trug noch sein Hochzeitsgewand, was zu dieser Stunde nicht üblich war. Er deutete ihren erstaunten Blick richtig und sagte lächelnd: »Ihr wundert Euch, nicht wahr? Aber es widerstrebt mir nun einmal, in Nachthemd und Schlafrock zu Euch zu gehen, noch dazu in Begleitung von meinem und Eurem Vater.« Sie lächelte mühsam. »Ich nehme an, Ihr habt Euch heimlich davongemacht.« »So ungefähr«, gab er spitzbübisch zu. »Ich habe meiner Mutter gesagt, dass ich auf verstäubte Traditionen verzichte und ganz allein zu Euch gehen werde - oder gar nicht. Und da meine Frau Mutter mich kennt, hat sie nachgegeben und uns beiden damit gewisse Peinlichkeiten erspart. Und nun bin ich hier und hoffe, dass Ihr mir einen Platz an diesem herrlichen Kaminfeuer gewähren werdet.« Sie nickte nur und wies auf einen anderen Lehnstuhl. »Ihr habt kaum etwas gegessen und getrunken«, begann er, nachdem er sich gesetzt hatte und sie einen Moment forschend betrachtet hatte. »Fühlt Ihr Euch schlecht?« »Nein.« Sie schüttelte den Kopf, sprang auf und griff nach einem Umhang, in den sie sich hastig hüllte. Carl Magnus äußerte sich nicht zu dieser Maßnahme, er schien tief in Gedanken zu sein und sagte nach einer Weile: »Natürlich fühlt Ihr Euch nicht besonders. Mir ist es ähnlich ergangen, als ich das erste Mal bei einer Frau gelegen habe. Ehrlich, Liebste, ich wusste nicht, was ich tun sollte.« 79
»Ihr wart sicher noch sehr jung.« »Hm, nicht viel älter als siebzehn. Aber die Lehrstunden waren hervorragend und sind mir gut bekommen. Ich habe gelernt, mit den Frauen richtig umzugehen, so dass in späteren Jahren sich keine über mangelnde Erfahrung beschweren musste. Ich denke, Ihr werdet auch zufrieden sein.« Sie antwortete nicht, sondern blickte an ihm vorbei - ängstlich und ein wenig störrisch, was ihn jedoch nicht kränkte. »Nehmt Ihr es mir noch immer übel, dass ich Euch geraubt habe?«, fragte er statt dessen und schob seinen Stuhl dichter an den ihren heran. »Ja... nein, ich weiß es nicht. Ich verstehe Euch nicht. Es gab doch gar keinen Grund, so zu handeln.« »Doch den gab es«, korrigierte er sie sanft. »Ich wollte wissen, wie meine Braut wirklich ist... Ob sie immer noch so kokett und eitel ist - und sich über Männer lustig macht, wenn sie nicht richtig tanzen können.« »So etwas habe ich doch nie getan«, rief sie empört und warf ihm einen wütenden Blick zu. »O doch«, erwiderte er ruhig. »Ihr habt genau - das - getan, habt den armen Burschen verhöhnt und dann mitten im Saal stehen lassen, habt ihn dem Gespött der anderen preisgegeben und Euch darüber köstlich amüsiert. Dieser arme Bursche war ich und damals zu Gast beim Freiherrn von Ringstein. Erinnert Ihr Euch jetzt?« Sie errötete, aber nicht vor Beschämung, sondern vor Zorn. »Ja, ich erinnere mich, aber damals war ich erst sechzehn, damals fühlte ich mich schon sehr erwachsen... und war es doch nicht. Habt Ihr in dem Alter nicht auch grobe Scherze gemacht?« Sie hatte ihm den Wind aus den Segeln genommen, denn ihm fiel blitzartig ein, dass er einigen Tanten und dem schrulligen Onkel Roderich oft genug Streiche gespielt hatte - damals, als er sechzehn gewesen war. Zugeben würde er das jetzt nicht, aber er lachte verlegen und gestand ihr: »Ihr habt mich damals nicht erkannt und habt ganz sicher den tapsigen jungen Mann sofort wieder vergessen. Ich musste aber oft an Euch denken und habe nicht gewusst, wie ich mich verhal80
ten sollte. Einerseits wollte ich Euch, denn Ihr seid so schön, andererseits war mir jedoch eine eitle und hartherzige Frau zuwider.« »Und was denkt Ihr nun von mir?«, fragte sie zögernd. »Dass Ihr eine wunderbare Frau seid, energisch und liebevoll, hilfsbereit und zu allem bereit, wenn es sein muss. Ihr habt Kinder gern und seid ganz gewiss nicht egoistisch.« »Ich denke, ich bin eine fürchterliche Beißzange.« »Ja, manchmal seid Ihr das, mein liebes Herz, aber dann habe ich Euren Zorn auch verdient. Und glaubt mir, ich wollte nie, dass sich Eure Familie um Euch sorgt. Doch das Bildnis, das man Euch gesandt hat und...« Er sprach nicht weiter, denn er wollte nicht abfällig über Frau von Ellberg und Oswald von Paskow reden. Mechthild half ihm humorvoll aus. »Ihr meint, Onkel Oswald und Frau von Ellberg haben mit ihrer Hysterie diesen Schaden angerichtet?« »Ja, ein wenig. Aber unser Hofmaler ist ebenfalls schuld und letzten Endes meine Eltern und ich selbst auch. Wir hätten die Miniatur nicht wegschicken sollen. Sie hat zu unvorhersehbaren Komplikationen gerührt.« »Und zu sehr gefährlichen«, versetzte sie ernst. »Beinahe hatte mein Vater Euch vor meinen Augen hinrichten lassen.« »Das habt Ihr ja verhindert, meine Liebste.« Carl Magnus erhob sich und ging zu seiner Frau. Behutsam zog er sie zu sich hoch, legte beide Arme um sie und bat: »Könnt Ihr mir nicht doch verzeihen?« »Das habe ich doch schon.« Sie legte ihren Kopf an seine Brust und wisperte beschämt: »Ich habe auch nicht alles richtig gemacht und war manchmal ziemlich hochmütig. Ihr hattet recht, es hat mir nicht geschadet, dass ich auf dem Schiff und auf dem Hof gearbeitet habe.« »Dann ist es ja gut«, murmelte er, wobei er ihr tief in die Augen blickte. »Dann ist es jetzt alles gut und ich kann dir sagen, meine Holde, dass ich dich von dem Augenblick an geliebt habe, als ich dich auf der ›Seenixe‹ wieder gesehen habe. Ich war von dir bezaubert und habe alles daran gesetzt, dich in meine Nähe zu bekommen.« 81
»Carl«, flüsterte sie, »du warst ein Grobian, ein Ekel und doch so wie ich mir meinen Ehemann immer gewünscht hatte. Es hat mir arg zugesetzt, dass du ein Pirat warst.« »Aber dass ich später ein Bauer war, hat dich nicht gestört?« »Nur am Anfang, später hätte ich dir gern so vieles gesagt, wollte für immer bei dir bleiben - doch dann kam Papa.« »Und damit musste ich dir alle meine Lügen gestehen«, ergänzte er und drückte sie fester an sich. »Aber in der Liebe habe ich nicht gelogen. Die war immer wahr und echt. Darf ich sie dir auch jetzt beweisen?« Sie sah zu ihm auf und sagte zaghaft: »Ich liebe dich, Carl. Aber ich habe trotzdem Angst vor dem, was du jetzt von mir verlangen wirst.« »Du musst dich nicht fürchten... Wirklich nicht...« Er küsste sie auf den Mund, zuerst behutsam und innig, bis sie seine Liebkosungen erwiderte. Doch dann überwältigte ihn die Leidenschaft und die Sehnsucht nach seiner Frau. Er nahm sie auf die Arme und trug sie zu dem sorgsam hergerichteten Bett, wo er sie mit dem Geschick einer Kammerzofe entkleidete. Dabei war er so zärtlich und geduldig, dass Mechthild ihre Angst vergaß, ihre Arme um seinen Nacken legte und ihm zuflüsterte: »Du solltest dich auch ausziehen...« * »Ich danke Euch vielmals, Prinz Carl Magnus, dass Ihr der Heirat von Lucie und Gerd zugestimmt habt und für die beiden eine Wohnung hier in Eurem Schloss zur Verfügung stellen wollt«, sagte Klaus Störtebeker eine Woche später. »Ihr habt dazu beigetragen, dass zwei Menschen miteinander glücklich sein können.« »Das habe ich gern getan«, wehrte der junge Ehemann ungehalten ab. »Gerd Windmaker ist ein guter Mann, den ich gern in meine Dienste nehmen würde. Aber er will nicht.« »Noch nicht«, entgegnete Klaus. »Noch ruft ihn das Meer, genauso wie mich. Aber irgendwann wird er doch sesshaft werden wollen. 82
Dann wird er für immer zu seiner Gemahlin und damit zu Euch zurückkehren.« »Und Ihr, mein Freund, wann werdet Ihr nicht mehr der Schrecken der Meere und der gefürchtete Freibeuter sein?« Klaus lachte, wurde dann jedoch ernst und erwiderte: »Der Schrecken der Meere bin ich nur für diejenigen, die nur an sich selbst denken, die das Geld in großen Kisten horten und das Elend der Bevölkerung vergessen. Ihnen werde ich so lange von ihrem Reichtum nehmen, bis ich zu alt zum Kämpfen geworden bin.« »Dann wünsche ich Euch viel Glück«, versetzte der Prinz und reichte Klaus die Hand. »Und wenn Ihr einmal einen Freund braucht, dann denkt daran, dass in Livingholm ein Mann wohnt, der Euch viel zu verdanken hat.« »Ich werde daran denken«, versicherte ihm Klaus und drückte fest die Hand des Prinzen. Dann drehte er sich um und verließ mit schnellen Schritten das Schloss. Im Frühjahr würde er wiederkommen, um Gerd abzuholen. Carl Magnus schaute ihm durch eines der hohen Fenster nach. Er hatte einen Arm um seine Frau gelegt und gestand ihr treuherzig: »Manchmal hatte ich Angst, dass du dich in Klaus Störtebeker verlieben würdest.« »Vielleicht wäre das auch geschehen, wenn er mich umworben hätte«, neckte sie ihn. »Was hättest du dann gemacht?« »Ich hätte um dich gekämpft... mit allen Mitteln, aber ich hätte Klaus nie etwas Böses angetan. Letzten Endes hättest du die Wahl gehabt, aber ich wäre sehr traurig gewesen, wenn du dich für ihn entschieden hättest.« Sie legte die Arme um seinen Hals, küsste ihn und sagte dann leise und innig: »Mein Herz hat nur dich gewollt. Ich konnte gar nichts dagegen tun.« »Ach, du«, murmelte er, küsste sie stürmisch und zog sie dann lachend mit sich fort bis zu ihrem Schlafgemach. Ende 83