Atlan - Die Abenteuer der SOL Nr. 665 Die namenlose Zone
Borallus Augen von Horst Hoffmann
Solaner und Vulnu...
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Atlan - Die Abenteuer der SOL Nr. 665 Die namenlose Zone
Borallus Augen von Horst Hoffmann
Solaner und Vulnurer gegen die Unheimlichen
Es geschah im April 3808. Die entscheidende Auseinandersetzung zwischen Atlan und seinen Helfern auf der einen und Anti‐ES mit seinen zwangsrekrutierten Streitkräften auf der anderen Seite ging überraschend aus. Die von den Kosmokraten veranlaßte Verbannung von Anti‐ES wurde gegenstandslos, denn aus Wöbbeking und Anti‐ES entstand ein neues Superwesen, das hinfort auf der Seite des Positiven agiert. Die neue Sachlage ist äußerst tröstlich, zumal die Chance besteht, daß auch in der künstlichen Doppelgalaxis Bars‐2‐Bars nun endgültig der Friede einkehrt. Für Atlan jedoch ist die Situation alles andere als rosig. Der Besitz der Koordinaten von Varnhagher‐Ghynnst, ohne die er nicht den Auftrag der Kosmokraten erfüllen kann, wird ihm nun ausgerechnet durch Chybrain vorenthalten. Ob er es will oder nicht, der Arkonide wird verpflichtet, die Namenlose Zone aufzusuchen. Dann, mit knapper Mühe dem »Kerker der Ewigkeit« entronnen, kehrt Atlan mit seinen Kreuzern im Juli 3808 wieder in das Normaluniversum zurück, bevor der Junk‐Nabel endgültig vergeht. Die Rückkehrer kommen gerade zurecht, um die Solaner vor dem Untergang zu retten, denn sie sind auf dem Planeten Zerberus gefangen – im Bann von BORALLUS AUGEN …
Die Hauptpersonen des Romans: Borallu ‐ Der Alternativ‐Tote kommt auf die SOL. Breckcrown Hayes ‐ Seine Solaner sollen einander umbringen. Bjo Breiskoll, Sternfeuer und Federspiel ‐ Die Telepathen belauschen den Gegner. Atlan ‐ Der Arkonide fühlt sich hilflos. Blödel ‐ Ein Roboter wird zur Rakete.
1. Das Zeltlager auf der Hochebene am Hang des Tales, in dem die mächtige Hantel der SOL energielos lag, war menschenleer. Die von der anderen Seite des Berges zurückgekehrten Telepathen und ihre zehn Begleiter hatten es verlassen vorgefunden, ohne eine Spur von Hayes und seinen Leuten. Alles Leben schien sich in die Talmulde verlagert zu haben, wo die wenigen Lichter von einfachen Feuern brannten und der entsetzliche Kampf von Menschen gegen Menschen tobte – jeder gegen jeden, wie Borallu es wollte. Um so überraschender erfolgte der Angriff. Bjo Breiskoll war gerade auf seinem Minka aufgesessen, einem der pferdeähnlichen Tiere des Planeten Zerberus, und bis zum Rand der Ebene vorgeritten. Als er das Geräusch im Gras hinter sich hörte, schenkte er ihm keine Bedeutung. Er glaubte, daß die anderen zu ihm aufschlossen – Sternfeuer, Federspiel, Lyta Kunduran, Walter von Bruchstein und sein »Knappe« Kuno. Mit den beiden anderen Mutanten stand er in ständigem Kontakt. Immer noch bemühten sie sich, etwas von der Absicht Borallus und seiner Helfer auszuforschen. Und Bjo hatte kaum Augen für etwas anderes als das grausame Treiben dort unten im Tal, aus dem die letzten Schatten der Morgendämmerung wichen. Er esperte die Angreifer erst, als es bereits zu spät war. Eine Gestalt kam hinter einem Busch hervor und sprang ihn an. Er fühlte, wie sein linker Arm gepackt wurde, und fast im gleichen Moment
stieß ihn jemand von der anderen Seite vom Rücken des Minkas. Bjo landete hart auf dem moosbewachsenen Untergrund, rollte sich instinktiv auf den Rücken und sah im roten Schein der hochwandernden Sonne das Blitzen von Stahl. Das Messer drückte an seine Kehle. Es war in der Hand einer Frau, deren Begleiter hinter ihr auftauchte. »Ihr bleibt, wo ihr seid!« schrie er von Bruchstein und Federspiel an, die Bjo zu Hilfe kommen wollten. »Noch einen Schritt näher, und ihr seid auch dran!« Es war keine leere Drohung. Hinter den wenigen hier vereinzelt stehenden Bäumen schoben sich Solaner hervor und zielten mit Steinschleudern auf die Gefährten. Von Bruchstein mußte von Federspiel festgehalten werden. Für Augenblicke sah es so aus, als müßte er die Nerven verlieren. Erst als Sternfeuer neben ihm war und ihm eine Hand auf den Arm legte, blieb er fluchend stehen. »So ist es besser«, sagte der Wortführer gedehnt. Er bemühte sich, ruhig und entschlossen zu wirken. Was Bjo von ihm esperte, bewies das Gegenteil. Er hatte Angst. Sie hatten alle Angst davor, die nächsten Stunden nicht zu überleben. Die Hand der Frau mit dem Messer zitterte. Bjo erkannte sie jetzt. Sie und der Mann hatten sich unangenehm hervorgetan, als ein Teil der Solaner den Aufstand gegen Atlan probten. Sie hieß Karen Wall, er Pyker Mayland. Beide hatten in einem der hydroponischen Gärten gearbeitet. Macht keinen Fehler! sendete Breiskoll an die Telepathen. Sie meinen es verdammt ernst! Aber anscheinend wollen sie uns nicht umbringen! Hört euch an, was sie vorhaben! Sternfeuer nickte. »Schön, Pyker, ihr habt uns in die Falle laufen lassen. Und weiter?« Der Mann drehte sich kurz zu Bjo und Karen um. Sein Gesicht war eingefallen. Die verschmutzte Bordkombination hing ihm viel zu weit vom Körper. Aus den Augenwinkeln heraus sah Bjo, wie die anderen langsam näherrückten. Sie waren alle von den zwölf Tagen
ohne ausreichende Nahrung gezeichnet, von zwölf Tagen in der Zerberus‐Wildnis, in der das Leben ohne funktionierende Technik zu einem Alptraum geworden war. Borallus Erscheinen war dann der Funke gewesen, der die leise tickende Zeitbombe gezündet hatte. »Es hängt von euch ab«, sagte Mayland. »Ihr könnt leben oder sterben. Leben werdet ihr, wenn ihr euch mit uns zusammentut – und auf der Stelle sterben, wenn ihr versucht, mit Hayes und seiner Clique gemeinsame Sache gegen uns zu machen.« Sternfeuer kniff die Augen zusammen. »Ihr glaubt, Hayes ist gegen euch?« Mayland lachte rauh. »Wir wissen es. Er und sein Anhang versuchen, die eigene Haut zu retten. Sie haben die Kämpfe im Tal inszeniert, um angeblich Borallu zu täuschen. Aber uns macht er nichts vor. Um Mitternacht dürfen nur noch hundert Solaner leben. Wer außer ihnen dann noch übrig ist, wird von den Robotern eliminiert, sie haben die Waffen dazu.« Und nicht nur das. Die so überraschend aufgetauchten Fremden sahen zwar aus wie Roboter, doch sie sandten starke und fremdartige Mentalimpulse aus. Also lebte etwas in ihnen. Der Anführer, der sich Borallu nannte und als »Herr der sechs Augen« bezeichnete, hatte sich vor Bjo und Hayes in eine Riesenzecke von zwei Metern Länge verwandelt und damit vorübergehend das Aussehen eines Zyrtoniers angenommen. Er und seine sechs Begleiter waren die einzigen Wesen, die im Neutralisierungsfeld über starke Energien verfügten. Das Feld umgab mindestens den ganzen Planeten Zerberus. Wie weit seine Ausdehnung wirklich reichte, wußte noch keiner der gestrandeten Solaner. Klar war hingegen, daß es von sechs gigantischen, kugelförmigen Stationen im weiten Orbit um Zerberus erzeugt wurde, und daß diese sechs Stationen identisch mit den »Augen« sein mußten.
Wie die Fremden, die zweifellos aus den Augen gekommen waren, im Neutralisationsfeld ihre Energien produzieren konnten, blieb ein Rätsel. Doch das mußte weit hinter dem zurücktreten, was der Unheimliche den Solanern verkündet hatte. Borallu wollte, daß nach einem einzigen Tag von den zehntausenden Solanern nur noch ganze hundert lebten. Mayland hatte seine Drohung für den Fall, daß die Menschen sich nicht durch den Kampf jeder gegen jeden bis auf diese Zahl dezimierten, eben wiedergegeben. Aus den vage empfangenen Gedankenbildern des Fremden hatte Bjo allerdings erfahren, daß die Drohung nicht wirklich gemeint war. Zweifellos wollte Borallu, daß die Solaner aufeinander losgingen. Nur der Grund dafür war noch verborgen. Deswegen hatte Bjo ja gehofft, mit Sternfeuer und Federspiel in einem Psi‐Block tiefer in Borallus Gedanken eindringen zu können. Es hatte eben noch so ausgesehen, als sollte das teuflische Ziel bereits erreicht sein. Was nun aber von Mayland anklang, konnte neue Hoffnung bringen. Hayes hatte, bevor Breiskoll mit Federspiel aufbrach, um Sternfeuer zu suchen, verkündet, daß er eine Truppe aus verläßlichen Leuten zusammenstellen wollte. Mit ihnen wollte er den Mord und Totschlag im Tal zu verhindern versuchen. Angesichts der Schwierigkeiten, fast hunderttausend verzweifelte Menschen ohne technische Kommunikationssysteme zu erreichen, war der Erfolg mehr als zweifelhaft erschienen. Aber bedeuteten Maylands Worte nicht, daß Hayes das Unmögliche geschafft hatte? Bedeuteten sie nicht darüber hinaus, daß er die Solaner dazu hatte bringen können, den Fremden quasi einen Schaukampf zu liefern? Bjo wollte aufspringen und den Mann ausfragen. Karen drückte das Messer fester an seine Kehle. Die scharfe Klinge ritzte Bjos Haut. Er ließ sich zurückfallen. Halte aus! sendete Sternfeuer ihm. Warte auf den richtigen Moment! Sie nickte bedächtig. »Du meinst also, Pyker, daß unser High Sideryt die Solaner in Sicherheit wiegen will, um dann mit seinen Anhängern über sie
herzufallen?« »Genau das. Aber wir werden ihm einen Strich durch die Rechnung machen. Wir haben auf euch Telepathen gewartet. Mit euch zusammen sind wir stärker als er. Wir wissen immer im voraus, was er plant, weil ihr seine Gedanken kennt. Entscheidet euch für uns, und wir werden zu denen gehören, die leben dürfen.« Das reicht! dachte Sternfeuer an Bjo. Bist du bereit? Der rotbraungefleckte Katzer befreite sich mit der Geschmeidigkeit, die er den mutierten Genen seiner Eltern verdankte. Bevor Karen überhaupt begriff, was geschah, hatte er seinen Hals unter dem Messer weggezogen und ihre Hand gepackt. So schnell, daß die Bewegung kaum wahrnehmbar war, wechselte die Klinge den Besitzer. Gleichzeitig warfen sich die Gefährten auf Sternfeuers Kommando zu Boden. Die von den primitiven Schleudern abgefeuerten Steine schwirrten über sie hinweg, und bevor die Besessenen neue Geschosse einlegen konnten, waren sie überwältigt. Walter von Bruchstein hielt Mayland von hinten umschlungen und verzichtete in einem seltenen Anflug von Großmut darauf, ihm einige schlagkräftige Belehrungen darüber zukommen zu lassen, wie man im glorreichen Mittelalter mit Verrätern umgegangen war. Er preßte ihm fast die Luft aus den Lungen. Maylands und Karens Mitstreiter warfen sich zu Boden und warteten offenbar darauf, daß ihnen der Garaus gemacht wurde. Karen stand zitternd vor Bjo und starrte auf das Messer. Bjo steckte die Waffe in den Gürtel aus Plastikseil, an dem eine Feldflasche und verschiedene kleine Gegenstände hingen. Er nahm Karens Hand und führte sie zu ihren Freunden. »Wir tun uns mit euch zusammen«, sagte er heftig, »aber nach unseren Regeln. Steht endlich auf. Wir sind keine Mörder, und Hayes ist es auch nicht. Wir lassen uns auch nicht von einem Borallu dazu machen. Wir haben nur einen Feind, und der sitzt jetzt in der SOL und wartet darauf, daß Narren wie ihr seine lächerliche
Aufforderung befolgen.« »Ihr … ihr bringt uns nicht um?« stammelte Mayland. »Ihr hättet es verdient, aber nur wegen eurer Dummheit«, antwortete Sternfeuer wütend. »Hundert Überlebende! Das heißt, jeder dieser hundert Sieger hätte fast tausend Opfer auf dem Gewissen – seine Freunde, Brüder und Lebensgefährten.« Mayland senkte den Kopf. Dann begann er wie ein Kind zu weinen. Erst jetzt ging ihm auf, was es bedeutete, einer von hundert Mördern zu sein, die vielleicht eine zweifelhafte Freiheit gewannen, sich aber ihres Lebens nie mehr würden erfreuen können. Kuno Krawynkel, von seinem Herrn und Meister nur der »Klotz« genannt, und die anderen Solaner, die mit den Telepathen vom Berg zurückgekommen waren, scharten sich jetzt um die Verzweifelten – Henry Bolten, Yoster Obryn, Jeremy Wilde, natürlich Lyta Kunduran und als letzte Miami McDougall, die korpulente Sechsundsechzigjährige, mit der nicht gut Kirschen essen war. Die drei Solaner, die Bjo den Hang hinauf begleitet hatten, hielten sich noch im Hintergrund bei den verlassenen Zelten. Die übrigen Mitglieder der Expedition über den Kamm, Wildes Bruder Kym, die Fremdvölkerpsychologin Denise Tyllong und der Extra und Raketenbauer Ole waren bei den Insektoiden geblieben, die mit ihrem Raumschiff jenseits des Berges bruchgelandet waren. Lyta ergriff das Wort, nachdem sie aus naheliegenden Gründen bisher den Telepathen das Reden überlassen hatte. Sie wandte sich an Mayland und blickte ihn scharf an. »Und jetzt sagt ihr uns, was Hayes während unserer Abwesenheit inszeniert hat.« * Borallu hatte wieder die Gestalt eines Unterpagen angenommen, wie die Bezeichnung für seine zwölf Helfer lautete. Früher, vor rund
vierzigtausend Jahren, waren sie die Mitglieder seines wissenschaftlichen Teams gewesen und hatten mit ihm zusammen die sechs Augen gebaut. Heute lebten nur noch die Gehirne in robotischen Körpern. Mit Borallu zusammen waren sie auf einem einsamen Planeten irgendwo in Bars zu neuer Existenz erwacht, als der Erweckungsimpuls der Zyrtonier die Tiefschlafanlagen erreichte. Ein Raumschiff hatte sie dann dorthin gebracht, wohin sich bereits vorher die sechs Gigantstationen in Bewegung gesetzt hatten. In jedem Auge hielt sich noch ein Unterpage auf. Die anderen sechs waren mit ihrem Meister zur SOL abgestrahlt worden. Eine Besonderheit der Methode des »indirekten Personen‐ und Materietransports« lag darin, daß die beförderten Wesen für eine gewisse Zeit noch mit Transportenergie aufgeladen blieben und sich während dieser Zeit allein kraft ihres Willens von einem Ort zum anderen versetzen konnten. So erschrak Borallu nicht, als Fragyrt wie aus dem Nichts neben ihm entstand. In der SOL war auf diese Art der Bewegung kaum zu verzichten. Das Hantelschiff lag zu einem Fünftel seiner Höhe im Boden der Talmulde eingegraben. Hier hatte es gerade noch eine Notlandung bauen können, als es von den Kräften der Augen eingefangen und auf den Planeten zukatapultiert worden war. Als dann die Energieneutralisation einsetzte, waren nicht nur die Steuerungs‐ Ortungs‐, Antriebs‐ und Kommunikationssysteme zusammengebrochen, sondern alles, was zu seinem Funktionieren auf Energie angewiesen war. Im Schiff rührte sich nichts mehr. Inzwischen hatten sich alle seine Bewohner ins Freie geflüchtet. Es gab kein Licht, außer in den Hangars und sonstigen Räumen der Peripherie. Am schlimmsten wirkte sich daneben die fehlende künstliche Schwerkraft aus. Alles war um neunzig Grad »gekippt«. Die Wände waren zum Boden geworden, die Böden und Decken zu Wänden. Unter diesen Umständen mußten die Unterpagen von der Möglichkeit Gebrauch machen, sich selbst hier und dorthin zu
strahlen. Kürzere Wege konnten schwebend zurückgelegt werden, deshalb stand Borallu nun auch in der Robotergestalt im offenen Hangar. Er, den man aufgrund seiner Gabe früher den Mann mit den drei Gesichtern genannt hatte, vermochte sich nicht nur von der Riesenzecke in das Metallmonstrum von gut zwei Metern Höhe zu verwandeln, mit zweifach eingekerbtem Hauptkörper, zwei Armen, zwei Beinen und einem ovalen Riesenkopf – er erreichte mit der Umwandlung auch eine Umgruppierung seiner Moleküle. Aus Fleisch und Körperpanzer wurde Metall, und selbst die Schwebeaggregate waren vorhanden. Borallu musterte Fragyrt kurz und stellte fest, daß ihm sein eigentlicher Körper zehnmal lieber war als dieser plumpe, der nach seiner zweiten Verwandlungsform geschaffen worden war. Es gab noch eine dritte, und wie oft hatte der Herr der Augen sich schon versucht gefühlt, sie anzunehmen! Doch sie, wußte er, würde die endgültige sein, aus der es keine Zurückverwandlung mehr gab. Er wußte allerdings nicht, wie sie aussehen würde. Er drehte sich wieder dem offenen Schott zu, unter dem die Feuer der Solaner brannten und der Scheinkampf tobte. »Du solltest mit der Transportenergie sparsamer umgehen, Fragyrt«, sagte er düster. »Noch einige Sprünge zuviel, und sie hat sich verbraucht.« Der Unterpage schwebte ein Stück vor und ließ sich auf die stumpfen Füße sinken. »Ich begreife nicht, wie du dich jetzt darum sorgen kannst«, sagte Fragyrt. »Siehst du nicht, daß die Solaner uns etwas vormachen?« »Ich weiß es.« Fragyrt drehte sich so, daß seine Augensensoren auf Borallu gerichtet waren. »Und du läßt es zu? Wir können ihnen noch eine Demonstration unserer Macht geben. Mit einem Feuerstrahl unserer Stabwaffen vernichten wir tausend von ihnen. Dann werden sie sich wirklich
umbringen – und nicht nur so tun.« Er sah wieder hinaus. »Oder hast du vergessen, wie unser Auftrag lautet?« Natürlich hatte Borallu das nicht. Er und die Unterpagen waren, wie auch die sechs Augen, vor vierzigtausend Jahren von seinem Volk als Eingreifreserve zurückgelassen worden. Als die Zyrtonier sich in die Namenlose Zone begaben, wollten sie einen Machtfaktor im Normaluniversum wissen, der im Fall einer Gefahr aktiviert werden konnte und alle nur denkbaren Bedrohungen dort eliminierte. Die Augen hatten bereits die drei Schiffe der Vulnurer neutralisiert, die beim Junk‐Nabel zur SOL hatten stoßen sollen, um von dort aus in die Namenlose Zone vorzudringen. Zu diesem Zeitpunkt hatte es noch den Weg über den Junk‐Nabel in die Namenlose Zone gegeben. Borallu war inzwischen vom Steuergehirn des Hauptauges mitgeteilt worden, daß der Nabel nicht mehr existierte. Es gab somit keinen Weg mehr in die Zone, der für andere gangbar war. Mit Hilfe der Augen, war Borallu überzeugt, konnte er jederzeit in das andere Kontinuum überwechseln. Doch die Voraussetzung dafür war, daß er seinen Auftrag ausführte. Er mußte dafür sorgen, daß die Solaner nie wieder zu einer Gefahr für die Zyrtonier und den Rat der Pagen wurden. Gleichzeitig aber sollte er das Negative in ihnen aussondern und dafür vorbereiten, in die Namenlose Zone geschafft zu werden. Erst dann konnte er sich sein brennendes Verlangen erfüllen, zu sehen, was im Lauf der Jahrzehntausende aus seinem Volk geworden war. Deshalb hatte er das Ultimatum gestellt. Der erste Zorn darüber, daß die Solaner ihn zu betrügen versuchten, war verflogen und hatte sich fast ins Gegenteil verkehrt. Borallus Entzücken darüber, wieviel negatives Potential dort unten frei werden mußte, hatte ihn auch fast vergessen lassen, daß einer
der Unterpagen, Tronungu, nicht mehr lebte. Als er versuchte, die Zyrvulner unschädlich zu machen, jene Wesen, die das Hauptauge bewohnt hatten, war er von den zu ihnen gestoßenen Solanern vernichtet worden. Auch das nahm er als Beweis ihrer Negativität. »Es ist mehr Negatives in den Solanern, als wir es uns je träumen ließen, Fragyrt«, sagte er zu seinem Unterpagen. Es gab eine zweite Bezeichnung für die Unterpagen und Borallu. »Alternativ‐Tote« hießen sie, weil sie im ehemaligen Lebensbereich der Zyrtonier als Tiefschläfer zurückgelassen worden waren – Tote auf Abruf. »Wenn so viele Wesen gemeinsam ein solches Schauspiel veranstalten können, muß ihre negative Kraft bedeutend sein. Zu lügen und zu betrügen, heißt negativ sein. Ich wollte nie, daß nur hundert von ihnen überleben, denn der Rat der Pagen braucht viel mehr an negativen Geschöpfen. Mit ihren bescheidenen Mitteln führen die Solaner einen erbitterten Kampf gegen uns. Besäßen sie Waffen, würde von uns kaum einer noch leben.« »Du willst sie also gewähren lassen?« fragte Fragyrt befremdet. »Dieses Treiben kann noch Tage anhalten.« Borallu schwebte ganz nahe an den Rand der Hangaröffnung und blickte in die Tiefe. Die primitiven Zelte und Behausungen waren niedergerissen worden. Eine unübersehbare Anzahl von zweibeinigen, schlanken Geschöpfen ohne Körperpanzer und Stacheln täuschte vor, daß sie sich gegenseitig umbrächten. Schon Tausende lagen wie tot in der Talmulde und auf den Hängen der sanft ansteigenden Hügel. Die »Kampfschreie« hallten weit über das Land. »Nur eine ganz und gar negative Geisteshaltung vermag ein Volk derart zusammenzuschweißen«, sagte der Alternativ‐Tote. »Aber es geht uns darum, aus dem Negativen das Negativste herauszufiltern. Deshalb sollen die Solaner einen Gegner bekommen, der sie bis zum letzten fordern wird.« »Die Vulnurer«, erriet Fragyrt. »Die Vulnurer«, bestätigte Borallu. »Ich habe die Unterpagen in
den Augen bereits per Symbolfunk verständigt. Sie haben sich bis auf Krejulla schon in die Vulnurerschiffe begeben und begonnen, die Besatzungen gegen die Solaner aufzuhetzen. Die Vulnurer werden glauben, daß sie nur eine Chance haben, wenn sie zuerst zuschlagen. Alles weitere wird sich von selbst entwickeln – das totale Massaker. Am Ende werden nur die skrupellosesten und bösesten Wesen von beiden Seiten überleben – und mit diesen fliegen wir in die Namenlose Zone.« Krejulla, dachte Borallu dabei, wird im Hauptauge inzwischen hoffentlich herausgefunden haben, weshalb der Radius des Neutralisierungsfelds bis auf die Bahn des fünften Planeten geschrumpft ist, und warum es nicht das ganze Sonnensystem umfaßt. »Sobald die Vulnurer bereit sind«, sagte er, »unterstützt ihr die Unterpagen aus den Augen dabei, sie hierher auf den Planeten zu schaffen. Bringt sie an eine Stelle, wo sie von den Solanern unbemerkt sind, bis sie sich alle gesammelt haben und angreifen. Für die Solaner muß es wie ein Blitz aus heiterem Himmel kommen. Du koordinierst das, Fragyrt. Du bist mir für den Erfolg des Massakers verantwortlich.« Bei seiner Freude über soviel verwertbare negative Substanz hatte Borallu fast die beiden fremden Raumschiffe vergessen, die auf der Bahn des sechsten Planeten lauerten. Nur die Meldungen aus dem Hauptauge erinnerten ihn in regelmäßigen Abständen daran. Doch solange sie sich nicht zu entfernen versuchten, konnte er sie vernachlässigen. * Obwohl Pyker Mayland und seine Freunde an alles andere dachten als einen neuen Überrumpelungsversuch, traute von Bruchstein dem Frieden nicht. Als die drei Telepathen ihren Block bildeten,
hielten er, Lyta und Miami die Solaner in Schach. Lyta Kunduran sah immer wieder zu den Mutanten hinüber, deren Gesichter die innere Anspannung verrieten. Sie saßen am Rand der Hochebene und hielten sich bei den Händen. Ihre Augen waren geschlossen. Gemeinsam sollten sie nun zuerst versuchen, Breckcrown Hayes und die übrigen Stabsspezialisten aus dem Gewimmel der Zehntausende und ihrem gedanklichen Chaos herauszufinden. Mayland und Karen hatten ausgesagt, daß Hayes mit Solania von Terra und den Männern und Frauen aus dem Zeltlager ins Tal hinabgestiegen war und sich des einzigen Mittels bedient hatte, das ihm noch zur Verfügung stand, um so viele Solaner wie möglich zu erreichen. Nach dem Fächerprinzip hatte er unter ihnen die Botschaft verbreitet, daß Borallu seine Drohung nicht wahrmachen würde. Einer sagte es zwei oder drei anderen weiter, von diesen jeder wiederum an einige andere in seiner Nähe, und so weiter. Schließlich war erreicht worden, daß jeder Solaner zumindest erfuhr, daß der High Sideryt jetzt bei ihnen war und den Scheinkampf inszenierte. Bei der psychischen Verfassung der Menschen war der Erfolg wie ein Wunder gewesen. Dem Wahnsinn nahe und schon bereit, entweder sich aufzugeben oder ums eigene Überleben zu kämpfen, war niemand in seiner Reaktion auszurechnen gewesen. Vielleicht war es wirklich nur Hayes zu verdanken, von dem die meisten Solaner unten beim Schiff sich bereits im Stich gelassen gefühlt hatten, daß der Ruck durch ihre Reihen ging und sie sich darauf besannen, daß sie nur gemeinsam stark waren – und gemeinsam schon viele ausweglos erscheinende Situationen gemeistert hatten. »Wieso dauert das denn so lange?« brummte von Bruchstein. »Ich dachte, wenn die drei sich zusammenschalten, müßten sie einen Gedanken vom anderen Ende des Universums empfangen können.« »Du dachtest«, sagte Miami wegwerfend. »Das Denken solltest du den Pferden überlassen – in unserem Fall den Minkas.«
Es war unter von Bruchsteins Würde, darauf zu antworten. »Kuno«, teilte er seinem »Knappen« und ehemaligen Kabinennachbar mit, »in Zukunft werde ich mich dieser Dame über dich mitteilen.« Lyta Kunduran winkte verärgert ab. »Hört auf mit den Kindereien. Ihr wißt, daß die Telepathen sehr geschwächt sind. Die Neutralisierungsstrahlung wirkt sich auch auf ihre Begabungen aus. Wir können von Glück sagen, wenn sie zusammen so stark sind wie normalerweise ein einziger von ihnen.« Das Warten wurde für die Stabsspezialisten zur Qual. Minute um Minute verging. Dann und wann sog einer der Mutanten heftig die Luft ein oder verriet durch ein Blinzeln seine innere Anspannung. Das Morgenrot war inzwischen einem strahlenden blauen Himmel gewichen. Die gelbe Sonne wanderte am Firmament höher. Ein frischer Wind blies von Westen und vertrieb die zunehmende Schwüle. Insektenschwärme umschwirrten die Menschen, und der Anblick eines kleinen Nagers am Ende der Zeltreihen erinnerte Lyta einmal mehr daran, daß sie seit anderthalb Tagen nichts Vernünftiges mehr gegessen hatten. Die Ex‐Magnidin versuchte, am Himmel die Punkte der Vulnurerschiffe oder der Gigantstationen zu entdecken. Ins Tal hinabzusehen, vermied sie nach Möglichkeit. Es war ihr unerträglich, die Solaner dort unten verzweifelt zu wissen und nicht bei ihnen sein können. Immer mehr lagen wie tot unter der SOL oder auf den Hängen. Sie brauchten sich kaum großartig zu verstellen. Einer nach dem anderen brach vor Erschöpfung einfach zusammen. Als Lyta soweit war, daß sie Bjo aus dem Telepathieblock herauslösen und nach einem Ergebnis fragen wollte, ging ein Ruck durch die Mutanten. Sternfeuer öffnete kurz die Augen, drehte den Kopf und bewegte die Lippen. Ihr Blick verriet ungläubiges Erstaunen. »Was hat sie erfahren?« flüsterte Miami. »Warum sagt sie es
nicht?« Sternfeuer gab ich wieder ganz dem Espern hin. Wieder saßen die drei wie versteinert vor der Kulisse der riesigen Hantel. Und dann sprangen sie gleichzeitig auf, leichenblaß, als ob sie etwas unvorstellbar Grausames erlebt hätten. Ihre Fassungslosigkeit aber schien auch noch einen anderen Grund zu haben. »Wir wissen, wo Breck ist«, begann Bjo. Seine Stimme überschlug sich. Er schüttelte heftig den Kopf, wie um einen Alptraum zu verscheuchen. »Und jetzt haben wir keine Zeit zu verlieren. Breck und unsere Leute müssen wissen, was Borallu mit ihnen vorhat. Er hat sie durchschaut und will die Vulnurer gegen uns kämpfen lassen!« »Aber das kann er doch nicht!« entfuhr es Lyta. »Sie und wir sind Freunde, und …« »Sie sind mindestens so verzweifelt wie wir«, unterbrach Sternfeuer sie. Die Telepathin war schweißgebadet und völlig verausgabt. Federspiel, kaum besser dran, stützte sie. »Lyta, Borallu will ihnen einsuggerieren, daß wir an ihrem Los schuld sind. Und wenn sich auch nur einige Vulnurer in aggressiver Weise nähern, ist es aus mit der Disziplin der Solaner. Darauf setzt Borallu. Er sieht in dem Scheinkampf ein Zeichen dafür, daß wir so negativ sind, daß wir uns zwar nicht gegenseitig umbringen, beim Auftauchen eines Gegners aber alle aufgestauten Haßgefühle gegen diesen freisetzen. Ich verstehe nicht alles von dem, was Bjo, Federspiel und ich von ihm auffangen konnten, aber es geht ihm darum, soviel negatives Potential aus uns herauszufischen wie möglich. Nur die skrupellosesten sollen überleben – und von ihm in die Namenlose Zone geschafft werden.« Abwechselnd berichteten die Mutanten davon, wie sie zuerst Hayes und dann Borallu »gefunden« hatten, und was sie aus den Gedanken des Unheimlichen hatten lesen können. »Dann erreicht er sein Ziel doch noch«, sagte Lyta nach einer Weile leise. »Auch wenn wir uns zu Breck durchschlagen können,
muß es zu spät sein. Wir brauchen für den Abstieg eine Stunde. Wenn die Vulnurer dann schon da sind …« »Wir müssen es versuchen!« sagte Bjo heftig. »Und wir sind vielleicht nicht mehr ganz allein. Lyta, wir hatten ganz kurzen Kontakt mit Tyari! Atlan lebt! Er konnte aus der Namenlosen Zone entkommen und hat uns gefunden! Mit der MJAILAM und der EMRADDIN wartet er auf der Bahn des sechsten Planeten!« »Atlan ist da!« rief von Bruchstein begeistert. »Dann werden wir diesem Borallu einen Denkzettel verpassen, den er nie mehr vergißt!« Er winkte. »Worauf wartet ihr? Auf zur SOL!« Lyta schüttelte traurig den Kopf. »Walter, bei aller Freude vergißt du, daß Atlan uns so fern ist wie in einem anderen Universum. Sobald er versucht, uns zu Hilfe zu kommen, sitzt er energielos in der gleichen Falle wie wir. Wir sind und bleiben auf uns allein angewiesen. Wir nehmen die Minkas. Mit ihnen sind wir schneller unten.« »Wir helfen euch«, sage Pyker Mayland. »Das von vorhin tut uns leid.« »Er meint es ehrlich«, stellte Bjo fest. Sie liefen zu den Minkas. Die Tiere mußten je zwei Menschen tragen. Der Zufall wollte es, daß sich von Bruchstein und Miami in der Eile das gleiche aussuchten. Es brach unter ihrem Gewicht fast zusammen und folgte den anderen mit verzweifelten Bocksprüngen. Es war schwer, angesichts Bjos Eröffnung der Realität ins Auge zu sehen. Lyta konnte nur hoffen, daß Atlan sich nicht zu einer Unvorsichtigkeit hinreißen ließ. Es muß furchtbar für ihn sein, von unserer Lage zu wissen und nicht eingreifen zu können, dachte sie, als sie mit flatternden Haaren auf ihrem Minka den Hang hinabsprengte. 2.
Für den Arkoniden war es ein Alptraum gewesen, der in Etappen immer schlimmer wurde. Zuerst haben die MJAILAM und die EMRADDIN die Explosion der Junk‐Planeten und das Ende des Nabels mit ansehen müssen. Sie konnten nichts tun. Gerade noch rechtzeitig waren sie aus der Namenlosen Zone zurückgekehrt, doch von der SOL, die man vorzufinden gehofft hatte, war keine Spur zu finden gewesen. Dann hatten die Ratlosen das stark hyperenergetisch strahlende Objekt zwischen den Sternen von Bars geortet und waren ihm gefolgt, weil es das einzige war, von dem sie sich einen Hinweis auf das Schicksal der SOL versprachen. Das fremde Raumschiff hatte sie in dieses Sonnensystem geführt, das Uster Brick später »Wespennest« taufte. Der Vergleich drängte sich beim Anblick der sechs riesigen Kugelstationen im weiten Orbit um den vierten Planeten auf. Jede der Kugeln besaß einen Durchmesser von 6400 Metern und am Pol einen riesigen Parabolspiegel. Welche Funktion er erfüllte, wurde klar, als das fremde Schiff sich zu Staub auflöste und die EMRADDIN einen Vorstoß versuchte. Knapp hinter der Bahn des fünften Planeten versagten plötzlich ihre Energien. Nur mit einem tollkühnen Manöver hatte Atlan sie mit der MJAILAM per Traktorstrahl aus der Falle ziehen können. Die sechs Stationen produzierten ein Neutralisierungsfeld, dessen Mittelpunkt der vierte Planet war und dessen Grenzen durch Wajsto Kölschs Flug erkennbar geworden waren. Tyari hatte etwa gleichzeitig mit der Selbstvernichtung des Schiffes dreizehn Mentalimpulse wahrgenommen. Es waren also dreizehn Fremde in dem Raumer gewesen die sich dann auf die Kugeln verteilt hatten. Kurz darauf entdeckte die Telepathin, daß in den inzwischen auch entdeckten Vulnurerschiffen GESTERN, HEUTE und MORGEN noch Leben war, obwohl sie energielos um den vierten Planeten trieben. Mehr noch, Tyari hatte auch auf dem Planeten Leben
festgestellt, und nach ihren Angaben fanden die Infrarotfernoptiken der MJAILAM die SOL in der Energiefalle. Wie um jede Logik auf den Kopf zu stellen, wurde von den Stationen starke Energieentfaltung geortet, obwohl sie selbst im Neutralisierungsfeld standen. Am Abend des 24. Juli schließlich, einen guten Tag nach Atlans Ankunft im Wespennest‐System, erfolgten auch Energieortungen von dem Planeten. Was das nur bedeuten konnte, war allen an Bord der beiden Kreuzer klar: jene Unbekannten, die das Kommando über die Kugeln übernommen hatten, hatten sich auf noch unerklärliche Art und Weise zur SOL begeben – und ihre Absichten konnten keine guten sein. Das war die Situation für die Rückkehrer aus der Namenlosen Zone, bis Ticker sein Schweigen endlich brach. Atlan war schon seit Stunden davon überzeugt gewesen, daß der Adlerähnliche etwas wußte und offenbar nur nichts verriet, um die Verzweiflung der Solaner nicht noch größer werden zu lassen. Jetzt, am Vormittag des 25. Juli, erklärte er überraschend, daß er mit seinem überragenden Instinkt spürte, was auf dem Planeten vorging. Er lenkte Tyaris Aufmerksamkeit auf die Versuche der drei Mutanten Breiskoll, Sternfeuer und Federspiel, in einem Psi‐Block ihre geschwächten Fähigkeiten zu potenzieren. Tyari machte ohne viel Hoffnung einen weiteren Versuch, Kontakt zu bekommen – und hatte Erfolg. Nicht nur Atlan wünschte sich, er hätte das, was sie danach mitteilen mußte, nicht zu hören brauchen. »Sie wissen jetzt also, daß wir hier sind«, sagte Hage Nockemann düster und zwirbelte an seinem Schnurrbart. »Sie wissen aber auch, daß uns die Hände gebunden sind.« Borallu, dachte Atlan grimmig, als jeder ihn ansah und darauf wartete, daß er etwas von sich gab. Er ballte die Fäuste. Borallu, der Herr der sechs Augen! Und er soll die Form eines Zyrtoniers annehmen können, die Hayes und seinen Leuten ja durch Zelenzo bekannt ist! Endlich kam etwas Sinn in das. Verwirrspiel.
»Die Zyrtonier besaßen also noch eine Möglichkeit, im Normaluniversum aktiv zu werden«, sagte der Arkonide. »Sie haben sich diese Falle für die Vulnurer ausgedacht, die nicht in die Namenlose Zone gelangen durften. Und die SOL folgte dem aufgefangenen Hilferuf und ging in die gleiche Falle.« Welche Absichten Borallu verfolgte, war durch den Telepathiekontakt jetzt ebenfalls bekannt. Atlan drosch mit der Faust auf ein Pult. »Aber das zu wissen, nützt uns auch nichts! Auf Zerberus droht ein Abschlachten, und wir können es nicht verhindern! Das ist die Realität!« »Zwischen den Stationen werden wieder Symbolfunksprüche gewechselt!« rief Joscan Hellmut. »Entschlüsselung!« Diesmal teilte die MJAILAM‐Positronik ohne Verzögerung den aufgefangenen Wortlaut mit, nachdem es sie mehr als einen Tag gekostet hatte, die Symbolsprache der Fremden zu verstehen. Borallu ließ den »Unterpagen«, wie er seine Untergebenen nannte, mitteilen, daß die Vorbereitungen zum Transport der Vulnurer auf den Planeten abgeschlossen seien. Er befahl den Unterpagen, sich bis auf einen in die GESTERN zu begeben und dort mit dem anzufangen, was er als »indirekten Personentransport« bezeichnete. In den Augen sollten die Unterpagen sich mit Transportenergie aufladen und keine Zeit mehr verlieren. »Das könnte erklären«, meinte Nockemann nach einer Pause, »daß Tyari in den Gedankenbildern der anderen Telepathen so etwas wie eine Teleportation gesehen hat.« Er nickte langsam. »Die Technologie der Fremden muß ungeheuer weit fortgeschritten sein. Schon als ihr Raumschiff sich auflöste, vermuteten wir eine Art Transmittersystem, mit dem sie sich in die Augen abstrahlen ließen. Aber es gibt auf Zerberus und bei den Vulnurern keine Gegenstationen. Ich denke an das Prinzip des Fiktivtransmitters. Um in die Stationen zurückzukehren oder sich auf dem Planeten von einem Punkt zum anderen zu bewegen, müssen die Unterpagen und Borallu sich aber selbst entmaterialisieren. Transportenergie …«
Er zog das Wort in die Länge, als könnte er dadurch seine Bedeutung besser verstehen lernen. »Sie laden sich auf und …« »Verdammt, Hage!« platzte es aus Atlan heraus. »Mich interessiert jetzt nicht, wie sie sich bewegen! Sie bringen die Vulnurer schon auf den Planeten, und wenn diese genauso gereizt und verzweifelt sind wie unsere Leute, dann wette ich keinen Solar mehr auf ihre Freundschaft!« Er ließ sich in einen Kontursessel fallen und fuhr sich über die Schläfen. »Tut mir leid, Hage. Aber wenn man sieht, daß etwas Grausames bevorsteht und nichts dagegen unternehmen kann, dann …« Er kniff die Augen zusammen und starrte auf einen der Bildschirme, die die Stationen zeigten. »Wir müßten an sie herankommen. Wenn wir sie ausschalten könnten, hätte die SOL wieder Energie, und wir wären in fünf Minuten bei ihr.« »Einfach schießen«, schlug Brick vor. »Wir haben es noch nicht versucht, oder?« »Weil es sinnlos wäre. Wer solche Giganten baut, versteht sie auch zu schützen. Wenn wir als eine Gefahr eingestuft würden, gäbe es uns nicht mehr, Uster. Es sei denn, die Augen verfügen über keine wirksame Offensivbewaffnung.« »Ich sage, es kommt auf den Versuch an«, stellte der Pilot sich stur. Blödel, der sich bisher ungewohnt schweigsam verhalten hatte, machte zwei Schritte an Nockemann vorbei. Er räusperte sich und fuhr sich mit den Greifwerkzeugen eines der biegsamen Arme in einer Imitation von Nockemanns Geste durch den Schnauzbart aus grünen Plastikhaaren. »Ich hätte da einen Vorschlag zu machen«, verkündete er. *
»Das kommt überhaupt nicht in Frage!« protestierte Nockemann heftig. »Wenn du Selbstmord begehen willst, dann steige in den nächsten Konverter. Damit erreichst du genausoviel wie mit deiner verrückten Idee – nämlich gar nichts!« Atlan hatte den Sessel herumgeschwenkt. Er hob eine Hand. »Nicht so voreilig, Hage. Natürlich hört es sich verrückt an, aber es wäre doch nicht unmöglich, oder?« »Ich …!« wollte der Galaktogenetiker auffahren. Blödel übertönte ihn. »Ich verstehe die Überreaktion dieses Menschen, Atlan, denn was wäre er ohne mich schon noch wert? Reiner Egoismus spricht aus ihm. Ich bin aber der einzige, der mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit zu einem der Augen gelangen kann. Ich kann mich in meinem Innern auf mechanische oder primitive chemische Reaktionen reduzieren und dabei immer noch Treibstoff herstellen, um einen Zusatzantrieb zu versorgen. Erreiche ich ein Auge, wird dort mit großer Wahrscheinlichkeit mein normaler Zustand wiederhergestellt werden. Was in den Stationen den Energiefluß möglich macht, muß auch mich reaktivieren. Ich suche einen Einstieg und versuche, das Auge außer Gefecht zu setzen.« Nockemann schlug die Hände über dem Kopf zusammen. »So einfach ist das alles, ein reiner Spaziergang für Blödel!« Atlan winkte ab. »Hör endlich auf zu jammern, Hage. Wenn ich Blödels Chinesisch in eine Sprache übertrage, die auch Normalsterbliche verstehen, meint er, daß er sich selbst in eine einfache Flüssigstoffrakete verwandeln kann, die natürlich auf keine Energien angewiesen ist, die von den Augen neutralisiert werden könnte.« Der Roboterkopf mit dem einzigen großen Auge in der Mitte kippte nickend nach vorne. Die biegsamen Arme wurden weiter ausgefahren und drohten sich ineinander zu verknoten, als Blödel seine Worte durch Gesten zu verdeutlichen suchte. »Was ich sage!« bestätigte er eifrig. »Energetisch werde ich tot
sein, eben bis auf die chemischen und mechanischen Reaktionen in meinem Innern. Ich bekomme einen Zusatzantrieb mit Düsenöffnungen, in den ich das Explosivgemisch leiten kann. Das alles geschieht automatisch, wenn es einmal in Gang gesetzt ist. Ich bin sozusagen in desaktiviertem Zustand, bis ich ein Auge erreicht habe.« »Das ist der beste Gedanke, den der Blechmann je gehabt hat!« rief Brick aus. »Ich bin dafür, daß erʹs versucht.« Nockemann schloß die Augen und schüttelte leidvoll den Kopf. »Habt ihr denn alle den Verstand verloren?« fragte er. »Blödel könnte eine Station erreichen, zugegeben. Groß genug sind sie ja als Ziel. Aber was dann? Gesetzt den Fall, die Unterpagen schießen ihn vorher nicht einfach ab, wie will er wieder seine Energien zurückerhalten? Man müßte dazu voraussetzen, daß die Neutralisation nicht nur in den Augen selbst aufgehoben ist, sondern auch in einem begrenzten Umkreis von ihnen. Und das können wir nicht.« »Das können wir nicht«, gab Atlan zu, längst von Blödels Plan eingenommen. »Aber einiges spricht doch für eine solche Annahme.« »Genau!« Brick schien seine Gedanken erraten zu haben. Es hielt ihn nicht mehr an seinem Platz. Er sprang auf und begann, in der Zentrale schnell auf und ab zu gehen. »Was ist denn, wenn einmal Reparaturen oder Wartungsarbeiten außen an den Augen nötig sind, während sie das Neutralisationsfeld aufrechterhalten müssen? Dann müssen Roboter oder Unterpagen hinaus und diese Arbeiten verrichten – aber mit Energie! Bestimmt gibt es ein Feld, das die Augen vor der eigenen Neutralisationsstrahlung schützt. Und wenn es nur zwei oder drei Meter weit um sie liegt, für Blödel reichte das allemal.« Nockemann warf ihm einen Blick zu, aus dem man Mordgedanken hätte herauslesen können. Brick ignorierte ihn, setzte sich wieder und fuhr fort.
»Und Bomben! Bomben muß er mitnehmen, mit der er das ganze Riesending in die Luft jagt.« Er verstummt, sah Nockemann zusammenzucken und die Blicke, die ihm nun auch von den anderen zugeworfen wurden. Er schluckte. Leiser sagte er: »Na ja, er könnte sie so einstellen, daß sie erst hochgehen, wenn er wieder aus dem Auge heraus ist.« Es müßte funktionieren, dachte Atlan. Natürlich konnte Blödel keine Bomben mitnehmen, die ausreichen würden, um das Auge zu vernichten. Aber ein Kleintransmitter wäre nicht zuviel Ballast und konnte die Bomben von der MJAILAM empfangen. Der springende Punkt war ein anderer. »Welchen Effekt würde die Zerstörung eines Auges haben?« fragte er in die Zentrale. »Bilden alle sechs Stationen eine Einheit, die nur geschlossen funktioniert? Oder übernehmen die anderen fünf die Aufgabe des vernichteten mit, indem sie sich nur umgruppieren?« »Dann hätten ihre Konstrukteure keine sechs gebaut, sondern nur fünf«, sagte Tyari. »Eine einfache Kostenfrage, oder?« »Ihr bringt mich mit der MJAILAM bis dicht an den Rand des Neutralisierungsfeldes«, sagte Blödel schnell, bevor Nockemann sich wieder einmischen konnte, »und wenn ich ausgestiegen bin, beschleunigt ihr mich per entgegengesetzt wirkenden Traktorstrahl so weit, wie ihr könnt. Alles andere erledigt mein Eigenantrieb. Für die Positronik ist es ein Kinderspiel, mich in die Richtung zu schicken, wo das ausgesuchte Auge bei meinem Eintreffen stehen wird. Die Bewegung der Stationen um den Planeten ist ja stetig.« Er riß eine Greifhand an die Kopfoberkante und salutierte. »Spezialist Blödel meldet sich freiwillig zum Himmelfahrtskommando!« Tyari starrte ihn an. Trotz der Nervenanspannung und der deprimierenden Lage mußte sie lachen. »Wo hat er denn das her?« Brick grinste schief. »Wahrscheinlich von Walter.« »Von Bruchstein? Der Verrückte?«
»Ich habe die beiden auf der SOL jedenfalls zusammen gesehen.« Brick wurde ernst. Er sah Atlan an. »Und?« »Wir machen es«, entschied der Arkonide. Er stand auf und legte Nockemann eine Hand auf die Schulter. »Die Chancen, daß du Blödel wiedersiehst, stehen vielleicht zehn zu neunzig, Hage. Aber es geht um das Leben von fast hunderttausend Solanern, von den Vulnurern einmal ganz abgesehen.« »Ja«, sagte Nockemann zähneknirschend. »Was bedeutet da schon, daß es vielleicht nie wieder in der Geschichte der Menschheit ein so einmaliges Scientologenteam gibt wie diesen durchgedrehten Roboter und mich.« Man hätte es Galgenhumor nennen können. Atlan gab Nockemann einen Klaps in den Rücken und drehte sich wieder zu Blödel um. »Wie lange dürftest du brauchen, um das Auge zu erreichen?« »Laßt es euch von der Positronik auf die Sekunde genau ausrechnen, wenn ich fertig ausgestattet bin und sie alle Daten über die Art und Verbrennungsdauer meines Treibstoffs besitzt. Ich schätze, daß ich von der Bahn des fünften Planeten bis zu dem Zielauge etwa einen Tag unterwegs sein werde.« Ein ganzer Tag! dachte Atlan. Natürlich war kaum mehr zu erwarten gewesen. Mit dem vergleichsweise primitiven Verfahren konnte Blödel nicht so schnell zu einem der Augen gelangen wie ein Raumschiff, das die Strecke innerhalb von Minuten zurücklegte. Doch ein voller Tag, und die Vulnurer wurden in diesen Augenblicken nach Zerberus transportiert! Mußte da nicht jede Hilfe zu spät kommen? »Sage uns, was du brauchst, Blödel«, knurrte der Arkonide grimmig. »Uster, warum sind wir noch nicht unterwegs? Tyari, du sagst es uns sofort, wenn du noch einmal Kontakt mit den Telepathen bekommst.« Wajsto Kölsch in der EMRADDIN wurde informiert. Minuten
später nahm die MJAILAM Fahrt auf und verließ die Warteposition auf der Bahn des sechsten Planeten. Eine knappe halbe Stunde später wurde Blödel, mit Zusatzantrieb und Kleintransmitter versehen, von den gegenpolig wirkenden Traktorstrahlprojektoren des Kreuzers beschleunigt und in das Neutralisierungsfeld katapultiert. Noch vor Überschreiten der unsichtbaren Grenze zündete sein Antrieb. Als flammendes Etwas wurde er auf den Bildschirmen zu einem winzigen Punkt, der in der Schwärze des Weltalls verschwand. Die MJAILAM‐Positronik hatte exakt 23,118 Stunden bis zum Erreichen jener Station errechnet, von der aus Borallus Befehl an die Unterpagen ergangen war. Als die MJAILAM sich auf ihre Warteposition zurückgezogen hatte, klammerte Tyari sich an Atlans Arm. Nockemann ließ sich nicht mehr in der Zentrale blicken, nachdem er Blödel bis in die offene Schleuse begleitet hatte. »Wird er es schaffen, Atlan?« fragte die ehemalige Gesandte Tyars. Der Arkonide zog sie fest an sich. »Wir werden es wissen«, flüsterte er vor dem Bildschirm, der die Augen wie eine einmalige Demonstration der Macht riesig und schweigend im Orbit um Zerberus zeigte. »Hast du dir überlegt«, fragte sie, »daß die Fremden bisher nur nicht das Feuer auf uns eröffneten, weil sie uns für unbedeutend hielten, aber nun Blödels Annäherung als einen Akt der Aggression deuten könnten?« Er hatte es. Das Warten in der Ungewißheit begann von neuem. Brachte Blödels Mission im Fall des Gelingens ein positives Resultat? Oder etwas ganz anderes? Als Tyari sich in Atlans Arm versteifte, wußte er, daß sie wieder Kontakt mit Zerberus hatte.
3. Hayes sah die Männer und Frauen im Tal nacheinander zusammenbrechen, weil sie einfach nicht mehr konnten. Wie am Tag vorher, hatten sich am Himmel dunkle Wolken zusammengezogen, und ein leichter Regen nieselte auf die Menschen und den ohnehin vom Vortag noch aufgeweichten Boden herab. Dazu kamen Windböen, die allein schon genügten, um manchen von den Beinen zu werfen. Der High Sideryt stand auf einer kleinen Erhebung am Rand der Talmulde und schüttelte zornig den Kopf. Solania von Terra, Curie van Herling und Jessica Urlot waren bei ihm, daneben eine Handvoll Solaner. Sie kämpften nicht mehr. Sie waren des sinnlosen Schauspiels ebenso müde wie ihr Chef. Überall unter, vor, hinter und neben der SOL ließen sich die Erschöpften einfach in den Schlamm sinken. Keiner wollte mehr zu den hundert Siegern gehören. Gallatan Herts, Samgo Artz, Gavro Yaal und einige Dutzend weitere Vertraute des High Sideryt beschworen ihre Gruppen, die sich in Untergruppen und wieder unzählige Unter‐Untergruppen teilten, noch durchzuhalten. Doch der Kampf, wo er noch im Gang war, war längst zur Parodie geworden. »Borallu hat längst gemerkt, was wir spielen!« knurrte Hayes. »Anfangs mag er geglaubt haben, daß unsere Leute tot umfallen. Aber dann stehen sie wieder auf und schleppen sich zum nächstbesten Mann, um so zu tun, als wollten sie ihm an den Kragen.« Über und über mit Schlamm verschmierte Gestalten, mehr tot als lebendig, in deren Augen der Funke des Widerstands erloschen war. Seit Borallus Erscheinen hatten sie nichts mehr gegessen. Der Preis für das Verhindern des Massakers schien nun die totale Selbstaufgabe zu sein. Es war ein Gedanke, der Breckcrown zutiefst widerstrebte, aber nicht zum erstenmal wünschte er sich, das Ende
wäre plötzlich und schnell über die SOL gekommen, bei einem Raumgefecht etwa – und nicht dies. »Warum«, fragte Brooklyn unsicher, »greift er dann nicht ein?« Curie lachte humorlos. »Sein Ultimatum läuft erst gegen Mitternacht ab. Dann wird er sich schon bemerkbar machen.« »Es ist etwas anderes«, sagte Hayes. »Er brütet eine Teufelei aus. Wenn nur endlich die Telepathen zurückkämen!« Der Regen wurde heftiger. Tausende von Menschen mußten sich aus dem Tal retten, in das sich die Wassermassen von Gebirgsbächen ergossen. Männer und Frauen hoben ihre zusammengebrochenen Gefährten auf und schleppten sie mit die Hänge hinauf. Ein deutlicheres Zeichen, daß seine Aufforderung nicht befolgt wurde, brauchte Borallu wahrhaftig nicht mehr. »Wenn jetzt ein Gegner auftauchte«, sagte Curie, »ich meine Wesen aus Fleisch und Blut, er hätte leichtes Spiel mit uns. Wer würde noch die Kraft haben, sich zu wehren?« Hayes starrte sie an. Manchmal kommt es vor, daß ein Mensch das hat, was man gemeinhin einen Geistesblitz oder eine Ahnung nennt. Manchmal ist es, als würden sich verborgene Türen des Bewußtseins öffnen, hinter denen längst verschüttete Instinkte oder jene Begabungen verborgen liegen, die man gemeinhin nur den Mutanten zuschreibt. Nicht wenige bedeutende Wissenschaftler haben die Überzeugung geäußert, daß es vom Normalmenschen zum Para‐Begabten kein Entwicklungssprung in dem Sinn ist, daß zwischen ihnen ein Abgrund klafft, sondern ein partiell erfolgender Schritt, der ebensogut ein Schritt zurück wie ein Schritt nach vorne sein kann. Er setzt infolge einer genetischen »Blitzschaltung« das frei, was seit Tagen der frühesten Menschen latent schon immer vorhanden war. In Extremsituationen, so diese Meinung, öffnet sich diese Pforte in die dunklen Kammern des Unterbewußtseins einen ganz kleinen Spalt. Und dies mochte bei Curie van Herling und Breckcrown
Hayes geschehen sein, als sie sich ansahen und wußten, was der andere dachte. Hayes schüttelte heftig den Kopf. »Nein, Curie, nicht das. Die Vulnurer sind …« Ein Schrei schnitt ihm das Wort ab. Mitten unter den hangaufwärts fliehenden Menschenmassen tauchte ein Mann auf und bahnte sich mit den Ellbogen einen Weg. Hayes und Solania mußten ihn auffangen, als er die Erhebung erreicht hatte. Seine Lippen waren zerbissen. Der Mann bebte am ganzen Leib, und seine Stirn war heiß. »Vulnurer!« brachte er mühsam hervor. Er richtete sich mit letzter Kraft auf. Als er sich drehte und mit ausgestrecktem Arm in die Richtung deutete, wo das Tal sich zum flachen Land hin öffnete, knickten ihm die Knie ein. Hayes stützte ihn abermals. »Vulnurer!« wiederholte der zu Tode Erschöpfte. »Tausende von ihnen, und sie strömen ins Tal! Sie … sie haben eine Gruppe von uns überfallen. Dutzende von uns sind schon tot!« Er umklammerte die Hände des High Sideryt. »Ich konnte entkommen. Ich …« Seine Finger hatten keine Kraft mehr. Hayes legte ihn nieder und schloß die Lider der leblosen Augen. Der High Sideryt richtete sich ganz langsam auf. Er brauchte nichts mehr zu sagen. Curie und die anderen versuchten vergeblich, etwas von dem zu erkennen, was jetzt am Talausgang vor sich gehen sollte. Der Regen behinderte die Sicht. Nach einhundert Metern schien die Welt zu Ende zu sein. »Aber wir haben sie gerettet!« schrie Brooklyn in das Stöhnen und Klagen der Fliehenden, die sich um die Stabsspezialisten herum den Hang hinauf schleppten; in das düstere Heulen des Windes, der an den Haaren und nassen Kleidern zerrte; in das Klatschen des Regens. »Wir haben sie herausgehauen, als sie auf Torkler den Göttern der Darmonen geopfert werden sollten und genauso schlimm dran waren wie wir jetzt! Sie können doch nicht ihre Freunde angreifen!«
»Sie können es nicht nur«, sagte Breckcrown Hayes finster, »sie tun
es bereits, Brooklyn.« Seine ganze Wut und Verzweiflung brachen auf einmal aus ihm heraus. »Und jetzt sagt mir, verdammt, wie wir uns gegen sie wehren sollen!« * Das Einsetzen des Regens hatte es für die Minkas unmöglich gemacht, ihre menschlichen Lasten weiter den Hang hinunterzutragen. Bjo, Sternfeuer, Federspiel und die Gefährten hatten absitzen und den Weg zu Fuß fortsetzen müssen, über nachgebende Vorsprünge, durch knietiefen Schlamm, wenn die Grasnarbe fortgespült war, und um sich bildende Tümpel herum. Aus einer Stunde waren drei geworden, bis sie endlich das Tallager erreicht hatten und sich gegen die letzten Solaner zur Wehr setzen mußten, die noch wie ferngesteuerte Marionetten auf sie zutorkelten und kaum mehr die Fäuste heben konnten, geschweige denn eine Schlagwaffe. Aber das hielt sie zusätzlich auf. Wann immer es ging, bildeten die Telepathen ihren Psi‐Block, um mit Tyari Kontakt aufzunehmen. Und als sie mit den hangaufwärts flüchtenden Menschenmassen endlich den High Sideryt erreichten, wußten sie, daß sie bereits zu spät gekommen waren. Denn vom Talausgang esperten sie das Entsetzen der Menschen und die Aggression der Vulnurer. In aller Schnelle berichteten Bjo und Sternfeuer von ihrem Erfolg und was Borallu sich ausgedacht hatte. Sie ließen Hayes wissen, daß der Unheimliche darauf aus war, durch Überlebenskämpfe die Negativsten nur nicht mehr nur unter den Solanern, sondern auch unter den Vulnurern herauszufinden – und daß Atlan und Kölsch mit ihren beiden Schiffen jenseits des Neutralisierungsfelds darauf warteten, daß Blödel ihnen die Chance zum Eingreifen eröffnete. »Aber das bringt uns keinen Schritt weiter!« sagte der High Sideryt heftig. »Es macht unsere Toten nicht wieder lebendig!«
»Nein«, gab Bjo zu, der Hayes Selbstvorwürfe spürte. Der Kommandant glaubte, nicht genug getan zu haben, um das Unheil aufzuhalten. Auch wenn jedem klar sein mußte, daß es ohne funktionierende Technik und angesichts des übermächtigen Gegners überhaupt nichts zu tun gab, war er ein Mann, der sich damit nie zufriedengab. Bjo legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Breck, was Borallu tun wird, darauf haben wir keinen Einfluß mehr. Aber wir können versuchen, den Vulnurern entgegenzugehen. Sie sind in der gleichen Lage wie wir – ohne technische Hilfsmittel, wahrscheinlich ausgehungert und demoralisiert.« »Demoralisiert setzt eine einmal vorhandene Moral voraus«, sagte Curie wegwerfend. »Ich bezweifle jetzt, daß die Vulnurer sie je hatten.« Bjo sah sie wütend an. »Du bist das beste Beispiel für das Gegenteil!« schnappte er. »Auch du meinst nicht, was du sagst, weil deine Nerven dich im Stich lassen.« Er atmete tief ein. »Entschuldige, aber es geht uns allen so. Und das betrifft nicht nur uns Solaner. Sternfeuer, Federspiel und ich haben die Aggression der Vulnurer gespürt. Sie ist blind, Curie, und nicht gegen uns allein gerichtet. Sie fühlen sich von allem im Stich gelassen.« »Genau wie wir«, nickte Hayes. »Eben. Borallus Unterpagen haben versucht, sie gegen uns aufzubringen. Es ist ihnen nicht gelungen, Breck! Die Vulnurer sind wie ein Heer von Riesenameisen, das sich alles zerstörend über eine Landschaft ergießt. Was genau in ihnen vorgeht, können wir nur von ihnen selbst erfahren. Borallu will, daß sie und wir uns gegenseitig aufreiben. Wir müssen noch einmal so tun, als täten wir ihm den Gefallen.« Hayes ballte die Fäuste, sah in den Regen und wischte sich mit dem Ärmel über das Kinn. »Wie, Bjo? Mit Männern und Frauen, die nicht mehr stehen können?«
»Deshalb müssen wir zu den Vulnurern, bevor sie hier sind«, sagte Sternfeuer schnell. »Wir müssen uns ihnen doch verständlich machen können?« Brooklyn alias Solania von Terra nickte zögernd. Selbst jetzt, die grauen Haare im Gesicht klebend, konnte sie sich noch weitgehend ihre fast aristokratische Ruhe bewahren – um so mehr zählten ihre Gefühlsausbrüche wie vorhin. Sie zeigten, daß sie erschütterter über den Angriff der Insektoiden war als alle anderen. Was sie auf Torkler mit ihnen erlebt hatte, wog schwer. »Im Prinzip schon, Sternfeuer«, sagte sie überlegend. »Es fragt sich, ob sie uns die Zeit dazu lassen.« »Zeit ist genau das, was wir um jeden Preis gewinnen müssen. Blödel wird in jetzt ungefähr zwanzig Stunden SOL‐Zeit eines der Augen erreichen. Wenn wir so lange durchhalten, haben wir wieder eine Chance!« »Wir machen es«, entschied Hayes. »Ich muß bei unseren Leuten bleiben und versuchen, diejenigen zu sammeln, die noch am kräftigsten sind. Borallu wird dann glauben, wir machten uns für die Schlacht gegen die Vulnurer bereit.« Er sah die Kugel der SZ‐1 und einen Teil des SOL‐Mittelteils wieder klarer, nachdem der Regen aufgehört hatte und nur der vom Boden aufsteigende Dunst die Sicht noch behinderte. Er suchte die Hülle mit den wenigen offenen Schleusen ab, als hoffte er, dort irgendwo Borallu zu entdecken. »Versucht euer Möglichstes. Federspiel bleibt bei mir, um mich auf dem Laufenden zu halten. Ob ihr beide, Sternfeuer und Bjo, allein in der Lage seid, Tyari zu erreichen, ist jetzt unwichtig. Falls Blödel Erfolg hat, werden wir es merken.« »Wer von euch anderen noch laufen kann«, rief Breiskoll, »kommt mit uns!« *
Die Gebirgsausläufer, die die SOL hufeisenförmig umschlossen, wurden zum flachen Land hin in Form von mehreren hintereinanderliegenden und immer niedrigeren Hügeln bedeutungsloser. Als Bjo an der Spitze seiner kleinen Gruppe durch lichte Nadelholzwälder und Buschgruppen von einer Kuppe zur anderen rannte, sah er wieder, wie riesig das Hantelschiff mit seinen sechseinhalb Kilometern Länge tatsächlich war. Wer fast immer nur in ihm lebte, vergaß dies zu schnell. Und auf der gesamten Länge der SOL lagen Menschen an den Hängen der Hügel oder irrten ziellos umher. »Helft uns doch!« schien es wie ein einziger Ruf aus dem Tal zu kommen, wo die Wassermassen allmählich versickerten und die Strahlen der Sonne in den Dunst stachen. Bjo mußte sich dazu zwingen, die Not der Solaner zu ignorieren. Er spürte selbst, wie er allmählich die Kraft verlor. Einige Male kam Sternfeuer an seine Seite, und im Laufen nahmen sie sich bei der Hand und esperten. Es war, als ob das ganze Land jenseits der Hügel von Vulnurern überschwemmt wäre. Die Telepathen wußten aus Borallus Gedanken, daß es noch weitere sechs Unterpagen gab, die sich am Transport der Insektoiden von den drei Schiffen zum Planeten beteiligten. Dennoch blieb es unvorstellbar, wie sie es schaffen konnten, so viele Wesen mit ihrer unerhörten Beförderungsart zu versetzen. Aber das war zweitrangig. Bjo sah sich um. Sternfeuer und Solania waren hinter ihm. Dann folgten von Bruchstein und Miami McDougall, Kuno Krawynkel und Pyker Mayland, der sich Karen Wall über die Schulter geworfen hatte. Was gab diesem ausgedörrten Menschen die Kraft dazu? Er schien davon besessen zu sein, seinen Fehler wiedergutmachen zu wollen. Menschen, die man zu kennen geglaubt hatte, bewiesen in der äußeren Not ganz unvermutete Qualitäten. Alle anderen aber, die mit ihnen aufgebrochen waren, hatten inzwischen aufgeben müssen. Sie lagen irgendwo in den
Hügelsenken und warteten auf ein gnädiges Ende. Auf die Telepathen strömten alle diese Gefühle ein, und so war es für Bjo fast eine Erlösung, als er die Kuppe des letzten kleinen Hügels erreicht hatte und sich gegen einen Baumstamm fallen ließ. Es war der letzte hier. Voraus und nach den Seiten hin gab es nur noch sanft abfallendes Gelände mit niedrigen Büschen und nassem Gras, und dahinter zog sich das Flachland bis zum Horizont. Der Teil der Ebene aber, den Bjo übersehen konnte, reichte ihm. Die Vulnurer waren wie ein Teppich, der sich im Sonnenlicht schimmernd langsam in die Talmulde vorschob. Es war tatsächlich wie eine regelrechte Truppenansammlung, die sich auch nach den Seiten hin ausbreitete. Sternfeuer ließ sich in seinen Arm fallen. Solania blieb kurz hinter ihm stehen und gab einen Laut des Entsetzens von sich. Mit Sternfeuer sofort wieder im Psi‐Block, spürte Bjo deutlicher als jemals zuvor, daß die Aggression der Vulnurer nicht gegen die Solaner an sich gerichtet war, sondern auf alles, was vor ihnen lag – was auf diesem Planeten existierte. Sie waren so verunsichert, daß es verwundern mußte, daß sie nicht schon selbst übereinander hergefallen waren. »Sie wollen leben«, flüsterte der Telepath, »leben wie wir.« »Könnt ihr ihre Anführerin Jacta aus ihnen herausfinden, Bjo?« fragte Solania. »Das ist unmöglich, trotz ihrer starken Persönlichkeit. Wir müssen hinunter zu ihnen und die erstbesten stellen – wenn sie uns nicht vor lauter Panik überrennen. In ihrer Erregung werden sie dich und mich kaum auf Anhieb erkennen, wie auch wir sie kaum voneinander unterscheiden können. Aber wenn wir Glück haben, finden wir einen, der uns versteht. In dieser Hinsicht sind sie ja Genies.« Das war es, was Sternfeuer vorhin mit der Verständigung gemeint hatte. Die Vulnurer besaßen eine besondere Begabung dafür, eine andere Sprache innerhalb von Minuten verstehen und selbst
sprechen zu können. Das Problem war einfach, in der gebotenen Eile einen Vulnurer zu treffen, der den Menschen schon einmal begegnet war. Bjo sah sich noch einmal unter den Begleitern um. Sternfeuer stand kurz vor dem Zusammenbruch, ihre Gedanken verrieten ihm mehr als ihr Gesicht. Solania war robuster, sie verstand sich als Mittlerin zwischen den Vulnurern und den Solanern. Von Bruchstein biß die Zähne zusammen und sah mit seinem roten Vollbart und den heruntergezogenen Brauen wie ein Wikinger aus. Miami stand einen Schritt hinter ihm und hatte die Fäuste in die Seiten gestemmt. Sie schielte den Rittersmann von eigenen Gnaden an, als wollte sie sagen: »Los, Dickwanst, bewege dich endlich!« Aber was sie dabei dachte, hätte Bjo auch unter normalen Umständen tunlichst für sich behalten – dann allerdings mit einem Schmunzeln. Pyker Mayland hatte Karen abgesetzt. Sie hielt sich an ihm fest und starrte Bjo fragend und ängstlich an. Das Heer unten im Tal war wie ein Bild aus einem Alptraum. Aufrecht gehende, im Durchschnitt ein Meter achtzig große und stark ameisenähnliche Wesen mit der Intelligenz eines Menschen. Nur ihre Hinterbeine waren überstark ausgebildet. Insektoide, dachte Bjo plötzlich, sind eine im Universum ebenso stark verbreitete Form des Lebens wie Humanoide oder Reptilienabkömmlinge – oder auch Vogelähnliche. Aber konnte es noch ein Zufall sein, daß diese Form den Solanern in den letzten Wochen so massiv begegnet war? Zuerst Zelenzo, als er sich in seiner wahren Gestalt gezeigt hatte, der »Halbemulator« der Zyrtonier; dann nun auf Zerberus die Zyrvulner und schließlich die Unterpagen – beides Insektenartige! »Ich kann keinen von euch zwingen, mitzugehen«, sagte er. »Ach was Bjo«, knurrte von Bruchstein. »Auf in die Schlacht! Wir sind das letzte Aufgebot der SOL! Kuno wird den Herold machen, nicht wahr, Klotz?«
Kuno dachte: Du kannst mich mal! Miami dachte: Du armer Irrer! Bjo dachte, daß der Extra Ole jetzt eine große Hilfe sein könnte, nachdem er bei den Zyrvulnern bereits sein Sprachtalent unter Beweis gestellt hatte. Doch Ole war jenseits des Gebirgskamms und versuchte, aus den Wrackresten des Zyrvulnerschiffs eine Rakete herzustellen, die sich entweder als Signalsender für Atlan oder als Waffe gegen Borallu und seine Helfer verwenden ließ. Bjo verließ sich nicht darauf, daß von dort Hilfe kam. Er hatte sich und den anderen zehn Minuten Atempause gegönnt. Das reichte zwar nicht, aber jede Sekunde zählte. Er stieß sich vom Baumstamm ab und lief den sanften Hügel hinunter – mitten in den Insektenaufmarsch hinein. * Zaztyn marschierte mit. Er wollte es nicht, aber er konnte gar nicht anders. Und so wie ihm erging es den meisten im mittlerweile fast schon unüberschaubaren Heerwurms aus Vulnurerkörpern, der sich in das Tal ergoß. Zaztyn war Techniker und gehörte damit in streng hierarchischen Kastensystem der Vulnurer zur ersten Wertigkeit unterhalb des Monos oder der Priesterinnen, die es in dieser getrennten Form nicht mehr gab, seit Jacta vor knapp vier Jahren die alleinige Führung ihres Volkes übernommen hatte. Damals war vieles anders gewesen. Zaztyn hatte zu denen gehört, die sich mit dem neuen Ziel, der Umwälzung alter und scheinbar ewiger Werte am schwersten getan hatten. Vor der ersten Begegnung mit den Solanern, als diese noch mit den tückischen Anschlägen eines Hidden‐X zu kämpfen gehabt hatten, waren die Vulnurer allein von dem Gedanken besessen gewesen, das Universum zu bekehren. In ihren drei Schiffen
GESTERN, HEUTE und MORGEN, von ihnen als Heimatschiffe verstanden, waren sie durch die Weiten des Alls gezogen und hatten versucht, alles planetengebundene Leben davon zu überzeugen, wie schändlich und unbefriedigend die Existenz auf der Kruste eines Weltenkörpers wäre. Die Solaner hatten ihnen ein neues Weltbild eröffnet und vor Augen geführt, daß die Lichtquelle, deren Auffinden das einzige echte Lebensziel aller Vulnurer war, etwas anderes sein mußte als das, was sie bisher darunter verstanden. Sie hatten ihnen neben der Suche nach der Lichtquelle ein neues Ziel gegeben – das Schaffen von Zellen des Friedens im grenzenlosen Meer der Sterne, zwischen denen allzuoft sinnlose und die Schöpfung negierende Kämpfe tobten. So hatte Jacta in diesem Sinn auf die Vulnurer eingewirkt, auch als die SOL schon längst wieder verschwunden war. Zur Wiederbegegnung mit den Solanern war es dann erst gekommen, als die GESTERN, HEUTE und MORGEN in die heimtückische Falle der Darmonen gerieten und ihre Bewohner zu spät erkannten, wie sehr ihr Vertrauen mißbraucht worden war – zumal sie sich schon am Ziel ihrer Sehnsüchte geglaubt hatten, der Lichtquelle. Nur den Solanern verdankten sie ihre Befreiung. Und gegen diese Solaner, so wollten es nun die Fremden in der Gestalt von Artverwandten, sollten sie nun einen Krieg führen. Jacta hatte nichts unternommen, als die Metallischen in der HEUTE auftauchten und verkündeten, daß die Solaner nicht mehr mit jenen zu vergleichen seien, die die Vulnurer gekannt hatten. Schon die Rettung vor den Darmonen sei nur eine böswillige Täuschung gewesen, um das Insektenvolk ganz in Sicherheit zu wiegen. Die wahre Absicht der Solaner habe nicht darin bestanden, die Vulnurer zum Junk‐Nabel zu holen, sondern sie genau hier, am Rand der Bars‐Galaxis, in die Falle zu locken. Zwölf Tage! dachte Zaztyn. Zwölf Tage, die zur Hölle geworden waren. Ohne Licht, ohne künstliche Schwerkraft und schließlich
ohne Nahrung hatten er und sein Volk sich schon am Ende ihres langen Weges gesehen. Nur die strenge Hierarchie hatte das totale Chaos an Bord der drei Heimatschiffe verhindern können. Zaztyn zog ein Hinterbein aus dem nachgebenden Boden. Er marschierte schneller als die anderen. Wenn er Kraft hatte, rannte er zwischen ihnen hindurch, um endlich näher an die Spitze des Heerwurms zu kommen. Manchmal flossen die Vulnurer regelrecht auseinander, Gruppen brachen nach den Seiten aus und fraßen innerhalb von Sekunden einen Abhang kahl. Wo sie marschiert waren, wuchs nichts mehr. Auch Zaztyn hatte als erstes seinen grausamen Hunger gestillt, nachdem der Roboterhafte ihn und hundert andere in einem grellen blauen Leuchten aus der HEUTE auf den Planeten versetzt hatte. Andere Gruppen waren da schon verschwunden gewesen, zuerst von der GESTERN. Endlich sah Zaztyn die ersten reglosen Körper von Solanern im Schlamm. Aus dem Dunst schälte sich der gewaltige Leib der SOL wie ein Koloß aus Stahl, der drohend den Himmel verdeckte. Zaztyn lief über die Menschen hinweg und dankte der Lichtquelle dafür, daß er sich sattgefressen hatte. Er wurde immer unruhiger. Er hörte, wie vor ihm Kampfschreie ertönten. Der Zorn und die Verzweiflung lähmten fast jeden vernünftigen Gedanken. Es wurde knapp! Vulnurer kamen zurück und berichteten von ihren Kämpfen gegen die Solaner. Es waren fast alles Angehörige der vierten, der untersten Wertigkeit, die Zaztyn mit dem Respekt den Weg freimachten, der auch jetzt nicht gestört war. Was sich in Jahrtausenden entwickelt hatte, bewies jetzt seine Festigkeit. Zaztyn hatte noch etwas Hoffnung. Dann, als er einige Ranggleiche an der Spitze des Zuges erblickte, und nachdem er über viele Opfer hinweggestiegen war, geschah das, was er gleichmaßen gefürchtet und erhofft hatte. Ein Solaner kam den Hang heruntergelaufen und winkte mit beiden Händen. Drei, vier andere folgten ihm, fielen hin, rollten
talwärts und richteten sich wieder auf. Hinter Zaztyn erklangen Schreie. Er blieb abrupt stehen, als er den Solaner erkannte. Die anderen sahen für ihn, bis auf die erkennbaren Geschlechtsunterschiede, alle gleich aus. Dieser aber entsprach nicht ihrem allgemeinen Muster. Einige körperliche Merkmale waren anders und Zaztyn reichten sie zur Unterscheidung. Er war dabei gewesen, als Bjo Breiskoll auf Torkler gegen die Darmonen gekämpft hatte. Onsmyz, Tacco, Zirc und einige von den anderen Erstwertigen, die vor Zaztyn auf den Planeten gebracht worden waren und den Angriff geführt hatten, erschienen bei ihm und riefen den Nachrückenden Befehle zu. Zaztyn zitterte. Jetzt, in dieser Minute, mußte sich zeigen, ob er Jactas Vertrauen verdient hatte. * Bjo wußte, daß sein Leben keinen Pfifferling mehr wert war, als er mitten in den Vulnurerauflauf hineinlief. Er winkte und rief »Freunde!«. Vom Hang aus hatte der Heerwurm schon schrecklich genug ausgesehen, aber jetzt, als Bjo zwischen den etwa gleichhohen Wesen zum Stehen kam, glaubte er für einen Moment, die Wogen eines Ozeans müßten über ihm zusammenschlagen – eines Ozeans aus Körpern, die zum Kämpfen geschaffen schienen, aus Köpfen mit messerscharfen Beißwerkzeugen, zitternden Fühlern, scheinbar seelenlos starrenden Facettenaugen. Ein einziger schriller Aufschrei ging durch die Vulnurer. Diejenigen, die schon weiter ins Tal vorgedrungen waren, machten kehrt und schoben sich drohend heran. Der Ozean wurde zu einem Wirbel, der sich binnen von Sekunden um Breiskoll und Sternfeuer schloß, die sich ihm in die Arme warf. Solania, von Bruchstein und Pyker Mayland wurden von ihnen getrennt, und von Miami, Kuno und Karen war schon gar nichts mehr zu sehen. Pyker schrie gellend
und versank zwischen den zusammenströmenden Körpern. »Halt!« brüllte Bjo mit letzten Kräften. »Aufhören! Wir wollen nicht kämpfen!« Sechs, sieben Vulnurer gaben offenbar Befehle an ihre Artgenossen und bildeten einen Ring um Bjo und Sternfeuer. Bjo konnte keine klaren Gedanken von ihnen erfassen, dazu waren sie und er viel zu aufgeregt. Er rief nur immer wieder, daß er als Freund kam und mit ihnen reden wollte. Plötzlich begriff er, daß sie ihn bereits verstanden hatten. »Sie hören dich an, Bjo!« Sternfeuer wurde von Weinkrämpfen geschüttelt. »Sie hören dich an! Rede um unser Leben!« Er drückte sie mit dem linken Arm an sich und hob den rechten in die Luft. Diejenigen, die sich vor ihre Artgenossen gestellt hatten, mußten Höherrangige sein, sonst wären sie selbst von den anderen schon umgerannt worden. »Ich bin Bjo Breiskoll! Wer von euch ist hier der Anführer – falls es überhaupt einen gibt?« Noch mehr Leiber drängten heran. Einige Vulnurer stiegen auf andere, so daß sich zweimannshohe Mauern aus schillernden Körpern um die Solaner auftürmten. Von allen Seiten erklangen die aufgeregten, aggressive Laute, und Bjo kam sich vor wie auf einer Bombe, die bei der geringsten Erschütterung explodieren mußte. Wieder erklangen Befehle aus den fremdartigen Sprechwerkzeugen der Höherrangigen. Dann löste sich einer von ihnen aus ihrer Kette und trat auf Bjo zu. Der Ring schloß sich sofort wieder. Sie standen sich gegenüber wie in einer Arena. »Ich verstehe dich«, sagte der Vulnurer mit seiner insektoiden Stimme, die aber die Laute der menschlichen Sprache überraschend perfekt nachbilden konnte. »Ich bin Zaztyn und spreche für Jacta.« Er drehte sich im Kreis und rief etwas, das in einem Raunen an die weiter hinten vorandrängenden Insektoiden weitergegeben wurde. Es mußte das vulnurischen Pendant für »Jacta« sein, denn jetzt kam wenigstens etwas Ruhe in ihre Reihen. »Weiter, Bjo«, flüsterte Sternfeuer. »Der erste Schritt ist getan!«
Breiskoll sah sich schnell um. Solania und von Bruchstein reckten ihre Köpfe in die Höhe. Das war alles, was sie tun konnten. Sie waren regelrecht eingeklemmt, und ein Dutzend Beißzangen waren an ihren Hälsen. »Gebt die Solaner frei, die mit mir gekommen sind, Zaztyn!« forderte Bjo. »Sie sollen zu mir kommen!« »Sprich zuerst für dein Volk, Bjo Breiskoll«, kam es von Zaztyn. »Von dem, was du sagen wirst, hängt unser aller Zukunft ab.« »Mach schon!« drängte Sternfeuer. »Wir hatten recht! Sie sind völlig unsicher! Schnell!« Und Bjo zwang sich dazu, nicht an die Begleiter zu denken, und berichtete so knapp wie möglich, was er und die beiden anderen Telepathen von Borallus Absichten erfahren hatten. Er beschwor Zaztyn, daß die Vulnurer sich mit den Solanern zusammentun sollten und wenn schon kämpfen, dann zum Schein gegeneinander und in Wirklichkeit gegen ihren gemeinsamen Gegner. Er sagte, daß Atlan darauf wartete, das Energieneutralisierungsfeld ausschalten zu können, und daß erst dann Vulnurer und Solaner wieder freikommen könnten. Immer wenn er eine Pause machte, um Atem zu holen, übersetzte Zaztyn seine Worte für seine Artgenossen, und in einem Raunen, das bis zum Ende der Welt zu gehen schien, pflanzten sie sich fort. »Dann hatte Jacta also recht«, erwiderte Zaztyn schließlich. »Sie wollte nicht daran glauben, daß ihr von den Mächten des Bösen bezwungen und in ihre Dienste gestellt worden seid.« »Wer behauptet so etwas?« fragte Bjo entgeistert – und wußte die Antwort im gleichen Augenblick. Das also hatte Borallu unter den Vulnurern verbreiten lassen. Zaztyn berichtete vom Auftauchen der Unterpagen und deren Anschuldigungen gegen die Solaner. Er sagte, daß Jacta keine Stellung dazu bezogen hatte, bis die Unterpagen begannen, Hundertergruppen nach Zerberus zu schaffen. Dann erst hatte Jacta die Vulnurer der ersten Wertigkeit um sich versammelt und ihnen
ihre Anweisungen gegeben. Bjos Achtung vor ihr wuchs. Sie hatte weniger von dem Zusammenhängen gewußt und sich außer, dem die Lügen der Unterpagen anhören müssen – aber fast die gleiche Strategie entwickelt wie Hayes und seine Vertrauten. Was die Vulnurer hier veranstalteten, war bereits der Schaukampf für die Alternativ‐Toten. »Aber ihr habt Solaner umgebracht!« entfuhr es Breiskoll. Er deutete in die Richtung, in der er Kuno, Pyker, Miami und Karen nur noch vermuten konnte. »Und wo sind meine Begleiter? Wenn ich dir glauben soll, Zaztyn, laß sie jetzt endlich herbringen!« Der Kopf mit den riesigen Facettenaugen drehte sich in der Imitation eines menschlichen Kopfschütteln von einer Seite auf die andere. »Leider ist das nicht mehr möglich, Bjo Breiskoll. Sie sind bis auf zwei gelähmt worden.« Er gab einen klagenden Laut von sich. »Ich konnte es nicht verhindern. Mein Volk hat zu sehr gelitten. Auch Jacta und uns konnte es nicht gelingen, die aufgestauten Aggressionen in eine ganz andere Richtung zu lenken als gegen euch. Was wir tun konnten, war, die Vulnurer wenigstens vom Töten abzuhalten, solange sie keinen anderen erfaßbaren Gegner fanden.« Seine Stimme wurde leiser. »Und ich danke nochmals der Lichtquelle, daß sie uns Gras und Sträucher finden ließ, an denen wir unseren Hunger stillen konnten. Sonst …« Er brauchte es nicht auszusprechen. Sonst hätten einige hundert abgenagte menschliche Skelette im Tal gelegen. »Wir haben euch nur gelähmt, Bjo Breiskoll«, fügte Zaztyn hinzu. »Das konnten wir erreichen, auch dabei entluden sich die Aggressionen. Wir sind nicht zu Mördern an unseren Freunden geworden. Das Gift aus unseren Drüsen wirkt etwa einen Tag lang. Dann erwachen die Vulnurer zu neuem Leben und …« Zaztyn und Bjo dachten in dieser Sekunde das gleiche. »Vulnurer!« sagte der Mutant entsetzt. »Zaztyn, du weißt es nur von Vulnurern, die gelähmt wurden! Du weißt nichts darüber, wie
der Metabolismus eines Solaners reagiert!« »Hör auf, Bjo«, flüsterte Sternfeuer. »Wir können nichts mehr ändern. Wenigstens Solania und Walter sind noch auf den Beinen. Laß Solania jetzt reden. Wir versuchen Federspiel zu berichten.« Auf einen Befehl Zaztyns bildeten die Vulnurer eine Gasse für die Stabsspezialistin und von Bruchstein. Von Bruchstein trug Miami McDougalls schlaffen Körper auf den Armen und verzog keine Miene. Solania hatte die Unterhaltung mitgehört und sagte Zaztyn ohne lange Umschweife, was Hayes und sie sich von den Vulnurern erwarteten. Sie klärten noch einmal, worauf Borallu Wert legte, und regte einen Schaukampf auch unter den Vulnurern an, denn es gab ja kaum noch Solaner, die diesem Aufgebot trotzen konnten. Dabei wußte sie ganz genau, daß Borallu dieses Treiben der Insektoiden ebenso schnell durchschauen mußte wie die Vorstellung der Solaner. Sie sprach vom Zeitgewinn und von Blödels Mission. Doch Blödel konnte erst nach dem Ablauf des Ultimatums ein Auge erreichen. Niemand vermochte vorherzusagen, wie Borallu um Mitternacht reagieren würde – wenn nicht schon vorher. Im Grunde hatte sich nichts geändert. »Kämpft scheinbar heimtückisch«, appellierte sie an die Vulnurer, die sich etwas zurückzogen und erkennen ließen, daß sie wieder klarer denken konnten. »Tut so, als brächtet ihr euch gegenseitig brutal wie möglich um. Das kann Borallus Gier nach Negativem vielleicht für noch einige Stunden befriedigen.« Sternfeuer und Bjo fanden Kontakt zu Federspiel, der das Ergebnis der Verhandlungen an Hayes weitergab. Hayes hatte inzwischen einige hundert Solaner um sich gesammelt, mit denen er noch in die »Schlacht« ziehen konnte. »Ich komme mir vor wie eine Betrügerin«, sagte Solania zu Bjo und Sternfeuer, als sich der Teppich der Vulnurer wieder ins Tal in Bewegung setzte. »Wir können einige Stunden gewinnen, aber dann schlägt Borallu zu. Er will skrupellose, negative Sieger sehen. Was
würdet ihr an seiner Stelle tun, um uns wirklich um Kämpfen zu bringen?« Bjo erinnerte sich an die Energiewaffen der Alternativ‐Toten. Beeile dich, Blödel! dachte er. »Bjo!« Sternfeuer war zu Boden gesunken und hatte wie bewußtlos dagelegen. Jetzt kam ihre Hand in die Höhe und berührte die des Katzers. Ihre Wahrnehmung von Borallu war schwach gewesen. Im Psi‐ Block erreichten die Gedanken des Unheimlichen die Telepathen in grausamer Heftigkeit. Borallu teilte seinen Unterpagen mit, daß er im Falle weiterer Scheinkämpfe schon bei Anbruch der Dunkelheit je etwa tausend Solaner und Vulnurer erschießen lassen würde, um das durchschaute Spiel endgültig zu blutigem Ernst werden lassen. Nach Ablauf jeder weiteren Stunde sollten abermals tausend Wesen jeder Seite »hingerichtet« werden. Und sein Ultimatum änderte er. Er ließ es wie sein erstes über die Körperlautsprecher seiner Unterpagen im Tal verkünden. Der Zeitpunkt blieb der gleiche: Mitternacht. Falls dann nicht erkennbar war, daß jeder Solaner und jeder Vulnurer nur noch um sein eigenes Leben kämpfte, würde er mit den Mitteln aus den Augen gleichzeitig eines der drei Vulnurerschiffe und den Mittelteil der SOL sprengen lassen. Jeder, der es hörte, der wußte, daß dies keine leere Drohung war. 4. Blödel war kybernetisch »tot«, als er auf das Zielauge zuflog. Kein positronischer Funke erzeugte einen Gedanken. Blödel war nichts weiter als eine Konstruktion aus Metall, Plastik und Glas mit einem unglaublich komplizierten Innenleben, das jedoch nicht mehr seine
robotische »Seele« war. Was einzig in ihm ablief – die Treibstoffverdichtung und der Ausstoß aus den Düsen – geschah automatisch und ohne irgend jemandes Zutun. An seiner Geschwindigkeit änderte sich nichts, bis die Uhrenanzeigen an Bord der MJAILAM und EMRADDIN um 5 Stunden, 33 Minuten weitergewandert waren – gemessen von dem Moment, an dem der Roboter die MJAILAM verlassen hatte. Dann aber begann er plötzlich schneller zu werden. Er änderte seinen Kurs nicht, doch seine Geschwindigkeit verdoppelte sich bereits innerhalb der ersten beiden Minuten. »Das kann nur eines bedeuten«, sagte Joscan Hellmut bestürzt. »Er ist entdeckt worden und wird jetzt eingeholt. Ich habe ein leichtes Ansteigen der Energieemissionen der Kugelstation geortet.« Atlan warf einen schnellen Blick auf eine Reihe von Bildschirmen mit Digitalanzeigen. Blödels Beschleunigung wirkte weiter. Kein Traktorstrahl der solanischen Kreuzer hätte das zu bewirken vermocht. Doch es war Realität und bewies nur wieder, wie überlegen die Technik der Alternativ‐Toten sein mußte. Diese Bezeichnung der Fremden unter Borallu hatte sich nach den weiteren Kontakten Tyaris mit den Telepathen auf Zerberus inzwischen auch auf der MJAILAM eingebürgert. »Aber er wird doch nicht beschossen, oder?« fragte Brick provozierend. »Wenn der oder die Unterpagen an Bord des Auges nur neugierig sind und ihn sich aus der Nähe ansehen wollen, tun sie uns ja sogar einen Gefallen. Wir können viel früher als erwartet mit dem Feuerwerk beginnen.« Atlan sah sich unwillkürlich nach Nockemann um, doch von ihm war auch jetzt in der Zentrale noch nichts zu sehen. Der Arkonide nickte düster. »Falls es so wäre, Uster«, sagte er, »können wir ihm vielleicht die Bomben schicken. Allerdings müßten sie dann schon so eingestellt sein, um in der nächsten Sekunde zu detonieren. Für Blödel bedeutete dies das Ende.«
»Dann muß Hage sich eben einen neuen Partner bauen! Unsere Leute auf Zerberus und die Vulnurer sind wichtiger!« »Symbolfunksprüche!« rief Hellmut. Die Positronik übersetzte sie umgehend. Atlan hielt den Atem an, als sie verkündete, daß der Unterpage im Zielauge den Befehl erhalten hatte, das sich nähernde Objekt zu vernichten. Der Unterpage verlor keine Zeit. Wie aus dem Nichts heraus entstand ein blaues Leuchten um den Roboter herum und hüllte ihn ein. Als es erlosch, gab es keinen Blödel mehr auf den Tasterschirmen. Atlan ließ sich in seinen Sitz sinken. Niemand fand Worte, um seiner Bestürzung Ausdruck zu verleihen. Sie alle starrten nur auf die Schirme und dachten den gleichen Gedanken: Das warʹs! »Soll ich Bjo, Sternfeuer und Federspiel das mitteilen?« fragte Tyari endlich in das Schweigen hinein. »Soll ich ihnen sagen, daß ihnen jetzt keiner mehr hilft?« Atlan ballte die Fäuste. »Ich glaube einfach nicht daran!« brach es aus ihm heraus. »Verdammt, ich nehme mir die Freiheit, einmal unlogisch zu sein! Ich glaube nicht, daß Blödel eliminiert ist. Das Leuchten kann auch etwas anderes bedeutet haben!« »Atlan«, knurrte Brick, »was versprichst du dir davon? Du machst dir etwas vor.« »Das mag sein, Uster. Aber wir nehmen Breck und seinen Leuten nicht ihre allerletzte Hoffnung – noch nicht. Tyari hat von den Telepathen erfahren, was Borallu nach Ablauf des Ultimatums tun will. Bis dahin sind es noch fast sechs Stunden. Auf Zerberus hat gerade die Abenddämmerung eingesetzt. Haben wir in vier Stunden kein Lebenszeichen von Blödel, dann soll Breck sich mit den Solanern und Vulnurern soweit wie möglich von der SOL zurückziehen. Wer nicht mehr gehen kann, muß von anderen getragen werden. Unmittelbar vor Ablauf des Ultimatums schießen
wir auf die SOL.« Brick riß den Mund auf. Seine Augen drohten aus den Höhlen zu fallen. »Was … was willst du tun?« »Die SOL vernichten?« fragte Hellmut entgeistert. »Bei allen Planeten, das ist Wahnsinn!« »Es ist besser als gar nichts«, sagte der Arkonide hart und haßte sich dafür. Es kostete ihn unendliche Überwindung, jetzt kühl zu bleiben. Nur Tyari wußte, wie es wirklich in ihm aussah. »Borallu würde es ohnehin tun – und ein Vulnurerschiff zerstören. Wenn Breck gewarnt ist, kann er vorher wenigstens so viele Menschen wie möglich in Sicherheit zu bringen versuchen, die später von den Vulnurern aufgenommen werden.« Wie viele von den Zehntausenden? Die Hälfte? Ein Viertel? Ein Zehntel? »Es ist eine der schrecklichsten Entscheidungen, die ich in meinem Leben zu treffen hatte, glaubt mir das«, sagte Atlan. »Und ich nehme sie auf der Stelle zurück, wenn jemand eine bessere Idee hat.« Auf diese Weise, meldete sich der Extrasinn, schaltest du mit der SOL Borallu und die Unterpagen aus, die sich in ihr befinden. Aber damit beseitigst du nicht das Neutralisierungsfeld. Er wußte es. Er wußte, daß alle die heftigen Vorwürfe, die jetzt von allen Seiten an ihn herangetragen wurden, richtig waren. Bietet mir eine Alternative! schrie es in ihm. Ich will es ja nicht! Irgendwo im Hintergrund seines Bewußtseins sah er den Auftrag der Kosmokraten, mit der SOL nach Varnhagher‐Ghynnst zu fliegen. Das ist es, was du wirklich willst! sagte der Extrasinn. Du wirst den Befehl nie geben, die SOL zu zerstören. Du erwartest ein Wunder. Du forderst die Kosmokraten heraus, Narr! Du redest dir ein, daß sie dich beobachten und nun einfach eingreifen müssen! Glaubst du denn wirklich, daß sie sich von dir zwingen lassen?
Wenn ihnen etwas an der Erfüllung des Auftrags liegt, dachte der Arkonide, dann ja. Denn wir sind am Ende unserer Möglichkeiten angelangt. * Krejulla stand in einer riesigen, sechseckigen Zentrale des Hauptauges und ließ sich vom Steuergehirn der Station immer wieder die Eliminierung des fremden, vergleichsweise winzigen Objekts vorführen. Die Aufzeichnung entstand als Hologramm mitten im Raum. Der Unterpage mußte glauben, selbst im Weltraum zu schweben und nur wenige Dutzend Meter von dem blauen Leuchten entfernt zu sein, das den energielosen, anorganischen Körper aus dem Universum schleuderte. Er war zufrieden. Wenigstens die einzige Offensivwaffe des Auges funktionierte noch. Der Erfolg konnte ihn für einige Minuten von seinem wirkliche Problem ablenken, das noch immer keine Lösung gefunden hatte. Schade, dachte das Zyrtoniergehirn in der metallenen Hülle, daß die Waffe nur innerhalb des Neutralisationsfeldes wirkt. Sonst wäre es ein leichtes gewesen, auch die beiden fremden Schiffe ins Nichts zwischen den Dimensionen zu schleudern. Denn das Objekt war ja zweifellos von ihnen gekommen. »Es ist gut«, sagte der Unterpage. »Du kannst das Hologramm auflösen. Funke zum Meister hinab, daß die potentielle Bedrohung nicht mehr besteht.« Eine Bedrohung, dachte er, war diese Roboterrakete niemals gewesen. Doch Borallus Befehl war nun einmal ergangen und hatte befolgt werden müssen. Angesichts seines anhaltenden Mißerfolgs bei der anderen Sache konnte Krejulla sich keine Diskussionen mit dem Führer der Alternativ‐Toten leisten. »Ich halte es nicht für klug, das Hologramm ganz zu löschen,
Herr«, sagte das Steuergehirn. Krejulla drehte sich überrascht und befremdet einmal um die Achse. Seine Augensensoren zeigten ihm die sechs Wände, die eine wie die andere aussahen – über und über mit farbigen Kontrollen gespickt, die ein seltsames, kaltes Licht spendeten. »Was soll das heißen?« »Ich habe Zweifel daran, daß das Objekt vernichtet wurde, Herr.« »Aber du hast es mir vorgeführt! Du selbst hast das Ziel erfaßt und die Waffenprojektoren genau justiert!« »Die Energien umhüllten es, Herr«, sagte die monotone Stimme aus den Wänden und der Decke. »Sie versetzten es auch, doch ein Energieaustausch mit einem jenseitigen Universum konnte nicht festgestellt werden.« Krejulla wußte, was das bedeutete – vielmehr bedeuten konnte. Einige unkontrollierte Bewegungen seiner robotischen Gliedmaßen verrieten es. Er hatte die Waffe – im Grunde mehr eine Defensiv‐ als eine Offensivvorrichtung – mit Borallu und dem Team entwickelt und tausendmal getestet, bevor sie für die Augen übernommen wurde. Ein Objekt, gleich welcher Größe, konnte nicht aus dem Universum befördert werden, ohne eine »Lücke« zu hinterlassen, die sich im gleichen Moment durch einströmende Energie aus einer anderen Dimension wieder schloß. Normalerweise formte sich diese Energie sofort in Materie um – winzig kleine Partikel, die jedoch von den hochempfindlichen Systemen der Augen zu orten waren. »Du willst sagen, das Objekt befindet sich noch in diesem Kontinuum?« fragte der Unterpage in die Zentrale. »Mit hoher Wahrscheinlichkeit befindet es sich im Auge, Herr.« Krejulla schwieg betroffen. Er hatte sich diese Antwort schon selbst gegeben, wenn auch widerstrebend. Denn was bedeutete sie anderes, als daß sich damit sein böser Verdacht von vorhin bestätigte. Borallu hatte ihn im Hauptauge mit der Aufgabe zurückgelassen,
nach den Ursachen für die räumlich stark eingeschränkte Wirkung des Neutralisationsfelds zu suchen. Unter normalen Umständen hätte das Feld sich über das ganze Sonnensystem ausdehnen müssen. So endete es knapp hinter der Bahn des fünften Planeten. Die Unterpagen und Borallu glaubten nicht, daß die Schwächung auf die vierzigtausend Jahre zurückzuführen war, die seit dem Bau der Stationen vergangen waren. Die Zyrvulner, die das Steuergehirn vor der Ankunft der Alternativ‐Toten dazu gebracht hatte, das Auge bis auf das letzte Wesen zu verlassen, mußten ebenfalls als Verursacher ausscheiden. Sie waren im Lauf der Jahrzehntausende degeneriert und hatten ihr ehemaliges Wissen um die Technik der Augen verloren. Wer war dann verantwortlich? Wer sabotiert das Auge – und mit ihm die energetisch eng verbundenen anderen fünf? »Wir haben das Auge mehrmals durchsucht«, sagte der Unterpage. »Du hast immer wieder versichert, daß du nichts finden kannst, was nicht hereingehört. Als das fremde Objekt plötzlich auf uns zu beschleunigt wurde, konntest du keine Aktivitäten aus dieser Station registrieren. Du versagst, Steuergehirn! Wenn das Objekt sich an Bord befindet, hat jemand es geholt, denn Fremde sind nicht dazu in der Lage, unsere Transportenergie zu manipulieren!« »Ich wiederhole es, Herr«, antwortete das Steuergehirn. »Ich entdecke weder außergewöhnliche energetische, noch andere außergewöhnliche Aktivitäten.« Es war schlichtweg undenkbar, daß das Gehirn log. Mithin mußte es so etwas wie einen »blinden Fleck« haben. Etwas ging im Hauptauge vor, das es mit seinen Sensoren nicht zu erfassen vermochte, die die ganze Anlage wie ein sehr feines und ungeheuer stark verästeltes Nervensystem durchzogen. Früher, dachte Krejulla, hätte die Möglichkeit bestanden, das Steuergehirn zu täuschen. Diese Möglichkeit hatten die Erbauer sich für den Fall offengehalten, daß jemand sich des Gehirns bemächtigte und es gegen seine Herren einsetzte.
Wer dies wollte, konnte es von jedem Ort aus tun. Es gab also keine konkrete Spur. Doch! durchfuhr es Krejulla. »Funke Borallu«, befahl er, »daß das Objekt eliminiert worden sei. Ich werde mich in die Sektionen begeben, in der sich die Nebenzentralen für den Einsatz der Zugstrahlen und des Waffensystems befinden.« »Ich soll Borallu anlügen, Herr?« kam es aus den Wänden. »Ich verantworte das!« dröhnte Krejullas Lautsprecher. »Kümmere dich nicht um die Kompetenzen von denjenigen, denen du zu gehorchen hast!« »Ja, Herr.« Krejulla verließ wütend die Zentrale und betrat eine Abstrahlfläche. Er wußte genau, welches Risiko er jetzt einging. Irrte er sich, so konnte es bedeuten, daß er nie in die Namenlose Zone gelangen würde. Deckte er das Unglaubliche aber auf, so würde er von seinen Nachfahren als gleichrangig mit Borallu empfangen werden. Das bedeutete Macht. Er nannte die Koordinaten des Zielsektors. Die Abstrahlfläche erhellte sich. Transportenergie flutete durch den Roboterkörper und versetzte ihn ohne Zeitverlust. * Für Blödel war es ganz einfach so, als wäre er nach einer Pause wieder aktiviert worden. Das kannte er und machte sich keine Gedanken über das Wie und Warum. Er sah die fremde Umgebung und wußte, daß er sein Ziel erreicht hatte – und zwar viel früher, als irgend jemand hatte hoffen können. Da er im energielosen Zustand nichts wahrgenommen und auch nichts gespeichert hatte, kannte er die Umstände nicht, die ihn hierhergebracht hatten. Seine Zeitmeßeinrichtung zeigte ihm, daß er
rund achtzehn Stunden gewonnen hatte. Das war in seinem und Atlans Sinn. Nicht in seinen Plan paßte, daß die erste Lageanalyse eine hohe Wahrscheinlichkeit dafür lieferte, daß die Herren des Auges ihn geholt hatten – denn aus eigener Kraft war er nicht an Bord gelangt. Dennoch war er unversehrt, er hatte seine Energie wieder und auch noch den Kleintransmitter bei sich. Er stand in einem sechseckigen Raum mit fahlem blauen Licht, das aus den kahlen Wänden und der Decke kam. Zwei sich gegenüberliegende Schotte führten hinaus, waren jedoch geschlossen. Ich werde nicht angegriffen, dachte der Robot, also beobachtet man mich? Um mehr über die MJAILAM und die EMRADDIN herauszufinden? War es so, dann verschaffte es ihm eine Frist – und vielleicht auch den Bewegungsspielraum, den er benötigte. Es mußte nur alles viel schneller geschehen. Für Blödel ergaben sich also folgende Prioritäten: Erstens mußte er zusehen, so lange wie möglich aktionsfähig zu bleiben. Zweitens mußte er einen Weg finden, Atlan über Hyperfunk zu erreichen, ohne dadurch den oder die Unterpagen an Bord vorzeitig zu warnen. Drittens mußte er die Bomben empfangen, zündfertig machen und, wenn es noch möglich war, einen Weg aus dem Auge finden. Er suchte nach verborgenen Kontakten – umsonst. Es gab keine Sensoren in den Wänden, die für ihn erkennbar gewesen wären. Der Boden war eine glatte Platte ohne Besonderheiten. Plötzlich öffnete sich mit leisem Zischen eines der Schotte. Sauerstoff entwich in eine Schleusenkammer. Entweder bedeutete das, daß Blödel sich hart an der Peripherie des Auges befand, oder daß jemand geglaubt hatte, er müßte atmen. Ein Raumfahrer in einem Raumanzug, der in seinem Aussehen einem Roboter glich? Blödel hatte gar keine andere Wahl, als der Einladung zu folgen.
Er stelzte in die Schleuse, und prompt öffneten sich weitere Schotte. Ein Gang tat sich auf, sechseckig im Querschnitt. Sechseckig schien alles in dieser Station zu sein. Eine sechseckigen Verteilerhalle folgte, von der sechs sechseckige Gänge abzweigten. Blödel folgte der Richtung, in die er bisher marschiert war. Was not tat, war einen Kontakt zu finden, über den er sich in die Schaltkreise des Zentralgehirns einschleichen konnte, das diese Gigantstationen zweifellos besitzen mußte. Er mußte Informationen über seinen Standort finden, über Transportsysteme und die Fallen, in die er möglicherweise laufen konnte. Noch immer verhielt sich der Unterpage ruhig – oder befand sich etwa kein Alternativ‐Toter mehr im Auge? Waren sie alle nach Zerberus gegangen, um dort die Vollstreckung der Strafen nach Ablauf des Ultimatums vorzubereiten? Blödel gab sich keinen Hoffnungen hin. Er sah wieder ein geschlossenes Schott vor sich, und diesmal mußte er eine Minute warten, bis es sich ihm öffnete. Er stand vor dem Eingang eines kleinen Kontrollraums. Entweder wollte man sehen, welches, Ziel er verfolgte, um ihn dann im entscheidenden Moment zu stellen, oder er hatte wirklich mehr Glück als Verstand. Es fiel ihm nicht schwer, die Kontaktstellen zum Zentralhirn zu finden. Mit einer Hand nahm er den magnetisch verankerten Kleintransmitter vom Rücken, ein vor kurzem erst entwickeltes, neues Modell in U‐Form, bestehend aus einer Bodenfläche und zwei fünfzig Zentimeter hohen Säulen zum Aufbau des Empfangsfelds, und stellte ihn neben sich. Dann schob er beide Arme in die Vertiefungen einer Konsole wie einen altmodischen Stromstecker in die Steckdose. Die Arme dienten wie jeder andere Teil seines Körpers als Impulsleiter. Doch bevor er einen Kontakt herstellen konnte, hörte er ein Geräusch hinter sich. Er drehte den Kopf und sah die beiden insektoiden Gestalten im
Eingang des Schaltraums stehen. Sie waren nicht, wie er erwartet hatte, roboterhafte Unterpagen, doch sie hielten die gleichen Stabwaffen auf ihn gerichtet, von denen die Telepathen auf Zerberus berichtet hatten. * Wir sind nicht alle tot! dachte Uyulschu und schüttelte seine Waffe in plötzlich wiederaufbrausendem Zorn gegen eine der vielen Optiken in der Halle, eines der vielen Augen des Steuergehirns, die nichts mehr sahen bis auf das, was sie zu sehen bekommen sollten. Du hast die Falschen von Bord geschickt, und wahrscheinlich in ihr Verderben! Und dafür wirst du bezahlen! Um Uyulschu herum standen die weiteren vier Erwachten, von denen jeder nur eine grundsätzliche Ähnlichkeit mit ihm aufwiesen. Alle fünf waren sie Insektoide mit eingekerbtem Körper, einem nach vorne spitz zulaufenden Kopf und Facettenaugen, Fühlern und verkümmerten Beißwerkzeugen. Meychorc jedoch besaß anstatt der normalen sechs Beine sieben, Chaquor neun und Gdacc gar elf. Treytcs Panzer war völlig farblos, anstelle von Laufgliedmaßen hatten sich bei ihm drei Flügelpaare ausgebildet, die immer in Bewegung waren und nur dann wie an lange Drahtkabel geklebte Filigranhäute wirkten, wenn er sich zu Boden ließ und schlief. Uyulschus Chitinpanzer schimmerte blauviolett im fahlblauen Licht aus den Wänden. Sein Kopf war zweimal so groß wie die der anderen, seine beiden vorderen Gliedmaßenpaare endeten in dicken, fleischigen Scheren. Sein ganzer Vorderkörper hätte einen Menschen an einen Riesenhummer denken lassen. Zwischen den Scherenblättern befanden sich mehrere tentakelartige Auswüchse, die ihn in die Lage versetzten, die schwächsten Vibrationen zu erspüren, und außerdem die besten Greifwerkzeuge waren. Sie umklammerten die Stabwaffe.
Die Halle mit dem sechseckigen Grundriß war hundert Meter lang, die Seitenwände maßen jeweils siebzig Meter. Überall in ihnen waren riesige Bildschirme, die früher einmal der akustisch‐ optischen Kommunikation mit den vielen anderen Arbeitergruppen gedient hatten. Heute brauchten sie diesen Zweck nicht mehr zu erfüllen. Die Arbeit war getan – seit vierzigtausend Jahren. Auf einem der wiederaktivierten Schirme war der Roboter zu sehen, wie er sich durch die geöffneten Korridore bewegte. »Vielleicht«, zirpte Chaquor, »verbünden wir uns mit dem falschen Freund, Uyulschu.« Uyulschu machte eine herrische Geste der Verneinung. »Jeder, der sich dem Auge in feindlicher Absicht zu nähern versucht, ist unser Verbündeter!« schrillte er zurück. Und nur in feindseliger Absicht konnte der Roboter gekommen sein, denn die Schiffe jenseits des Neutralisierungsfeldes hatten ihn entsandt. Aus dem Symbolfunkverkehr der Unterpagen mit Borallu, noch mehr aus den belauschten Gesprächen der Alternativ‐Toten untereinander hatten die Jäherwachten sich ein klares Bild der Verhältnisse im Auge und außerhalb des Auges zusammensetzen können. »Vor vierzigtausend Jahren war es, daß Borallus Team die Augen fertigstellte«, schrillte Uyulschu. »Aber nicht er baute sie, sondern wir! Er entwarf nur die Pläne. Wir setzten sie um, und indem wir sie realisierten, lieferten wir uns auch den Energien aus, die freizusetzen waren. Wir mutierten. Wir wurden zu Monstern, aber nur äußerlich. In Wirklichkeit machte die Strahlung uns unsterblich und unsere Gehirne auffassungsstärker. Wir wissen mehr über die innere Beschaffenheit der Augen als Borallu, ihr Schöpfer!« Meychorc, Chaquor, Gdacc und Treytc wußten das wie er. Sie wußten, daß sie als einzige die Säuberungsaktionen der damaligen Zyrtonier lebend überstanden hatten. Das betraf allerdings in diesem Sinne nur die primär Strahlungsgeschädigten. Es hatte auch andere gegeben, die entweder nicht lange genug in den
Rohkonstruktionen gewesen waren oder über eine scheinbare natürliche Immunität verfügten. Auch sie hatten die Zyrtonier aus den Augen zu vertreiben gesucht, und nur ihr plötzlicher Aufbruch schien die Arbeiter gerettet zu haben. Wenigstens zum Teil, machte Uyulschu sich noch einmal deutlich. Nur hier im Hauptauge, Borallus Befehlsstand, hatten sich sowohl die fünf Mutierten, als auch die noch normal gebliebenen Arbeiter verstecken können, bis die Augen die einzige Welt der grünen Sonne umkreisten – jenen Planeten, auf dem Borallu und seine zwölf Unterpagen in Tiefschlaf versetzt worden waren. Mutiert waren dann auch die anderen Arbeiter, allerdings in einem kollektiven Entwicklungsschritt. Aus ihrer normalen Erscheinungsform – der der Zyrtonier – hatten sie sich in die Wesen verwandelt, die bis vor Tagen in ihren Tiefschlafbehältern vor sich hingedämmert hatten. Sie besaßen keine unbegrenzte Lebensdauer, sondern mußten sich von Generation zu Generation fortpflanzen – und immer waren die Nachkommen zwar einheitlich, aber entfernter von der Ursprungsform gewesen. So waren die Zyrvulner entstanden. Trotz aller Unterschiede waren Uyulschu und seine vier Miterwachten mit ihnen verwandt. Die einen hatten die Jahrzehntausende im Generationenwechsel überdauert, die anderen so wie sie von Anfang an gewesen waren, die originalen Wesen, die letzten Überlebenden der Erbauer. Sie waren ebenfalls Tiefschläfer gewesen und in ihren geheimen Kammern zugleich erwacht, als die Augen den einsamen Planeten der grünen Sonne verließen und sich in dieses System begaben. Sie hatten aus Furcht vor Entdeckung und nachträglicher Eliminierung einen versteckten Kontakt zum Steuergehirn gefunden und seine Absicht erkannt, die Zyrvulner über eine psionische Beeinflussung loszuwerden. Nur die Macht, diesen Schritt zu verhindern, die hatten sie nicht gehabt. Und so hatten sie sich weiter versteckt und ihren kleinen
Lebensbereich vor dem Steuergehirn geheimgehalten. Sie konnten das aufgrund ihrer fundamentalen Kenntnisse um die Beschaffenheit der Augen. Sie hatten sich ihren eigenen Mikrokosmos in der Station geschaffen, indem sie Impulsleiter blockierten und dem Steuergehirn anstatt der wirklichen Bilder falsche vorspiegelten. Und sie waren es dann auch gewesen, die dafür sorgten, daß der Wirkungskreis des Neutralisierungsfelds eingeengt wurde. »Der fremde Roboter hat den Schaltraum erreicht«, stellte Gdacc fest. »Wir haben ihn also an Bord geholt, indem wir ihn zuerst mit Zugstrahlen beschleunigten und dann, als eine Eliminierung befohlen wurde, von hier aus die Transportenergie der Waffe für unsere Zweck polten. Der Unterpage Krejulla muß glauben, daß der Roboter nicht mehr existiert. Worauf warten wir also noch? Wir hatten beschlossen, Borallus Auge zu vernichten, zur Strafe für den Verrat an den Zyrvulnern. Aus eigener Kraft schaffen wir es nicht. Die Fremden müssen uns Waffen liefern. Gehen wir zu ihrem Roboter.« »Und zwar schnell«, zirpte Chaquor aufgeregt. »Krejulla hat seine Zentrale verlassen und sich ganz in unsere Nähe versetzen lassen. Er hat den Trick mit der Transportenergie durchschaut und weiß spätestens jetzt, daß er nicht allein an Bord ist.« Auf den Bildschirmen war der Unterpage nirgends zu sehen, doch Chaquors Wort galt mehr als das Bild einer Optik. Seine körperliche Mißbildung war nur die eine Seite seiner Mutation. Die andere bestand darin, daß er fast jeden Energiefluß in tausend Metern Umkreis wahrnehmen und interpretieren konnte. Uyulschu winkte den anderen mit der Waffe. Gdacc hatte ebenfalls einen Stab. Alle fünf setzten sich in Bewegung. Aufnahmeoptiken, an denen sie vorbeikamen, zeigten dem Steuergehirn nur leere Gänge und Räume. Mikrofone übertrugen nicht den geringsten Laut außer dem monotonen, leisen Summen der Gigantstation.
Dann standen sie vor dem Roboter. Chaquor, Treytc und Meychorc blieben im Korridor und waren bereit, den Unterpagen abzufangen, falls er zu früh hier auftauchte. * Blödel bewegte sich nicht. Er registrierte das ungleiche Aussehen der beiden Fremden, und ihm entging nicht, daß noch einige hinter ihnen im Gang waren. Die Waffen waren noch auf ihn gerichtet, doch das erschien ihm eher wie eine Vorsichtsmaßnahme denn als Drohung. Es konnten keine vier, fünf oder sechs Unterpagen an Bord dieses Auges sein – auch wenn sie vielleicht, wie Borallu, ihre Gestalt hätten wechseln können. Also Verbündete? Unerwartete Helfer? Blödel ließ die Arme in den Kontaktvertiefungen. Als einer der Insektoiden zirpend zu sprechen begann, lief sein eingebauter Translator. Gleichzeitig nahm sein positronisches Gehirn alles an Informationen über das Auge auf, was aus den Speichern des Zentralhirns auf es überfloß. Wie erhofft, hatte es Blödel kaum Schwierigkeiten bereitet, sich in dessen Schaltkreise einzufädeln. Er wußte schon jetzt mehr, als er je hatte erwarten dürfen. Er, der Zwerg, hatte es in der Hand, den Giganten abzuschalten. Ein Gebilde wie diese Station war zwar ein ungeheurer Machtfaktor nach außen – im Innern jedoch war es durch seine zentrale Steuereinheit und deren Vielzahl von untereinander vernetzten Subsystemen verletzlicher als ein vergleichsweise winziges Raumschiff. »… du uns verstehen?« übersetzte der Translator nach vollzogener Sprachanalyse der Fremden. »Dann gib uns ein Zeichen.« Blödel zog die Arme aus den Vertiefungen, legte sie vorsichtig eng an den Zylinderkörper und antwortete per Translator in der Sprache
der Wesen: »Ich verstehe euch. Seid ihr Helfer der Unterpagen?« »Weder ihre Helfer noch ihre Freunde«, antwortete jener, der sich gleich darauf Uyulschu nannte. Seinen Begleiter stellte er als Gdacc vor. »Wir hassen Borallu und seine Vollstrecker.« Die Bemerkung war eine Frage. »Dann sind wir Verbündete«, erklärte Blödel. Er hatte nichts zu verlieren, als er in aller gebotenen Eile von seiner Mission berichtete. Die Stabwaffen der beiden Insektoiden sanken langsam herab. Als Blödel geendet hatte, berichtete Uyulschu seinerseits von sich und seinen vier Artgenossen, ihrem Schicksal und ihren Zielen. Damit war das Bündnis besiegelt. Als Uyulschu dann noch sagte, daß der einzige Unterpage an Bord in diesen Bereich des Auges eingedrungen war und jeden Augenblick auf der Bildfläche erscheinen konnte, hatte Blödel sein Vorgehen schon so gut wie festgelegt. Sein neues Wissen zeigte ihm ganz neue Perspektiven auf – nur, wie konnte er die MJAILAM davon in Kenntnis setzen, ohne daß er die anderen Alternativ‐Toten auf den Plan rief? Wenn er den Ultimaten Abschaltbefehl für die ganze Station schon jetzt gab, versperrte er sich damit den Weg aus dem Auge heraus. Diese Sektion lag tatsächlich sehr nahe an der Peripherie. Etwa zweihundert Meter trennten Blödel von der Hülle und dem Weltraum. Außerdem hatte er sich nun auch um die Mutierten zu kümmern. Er konnte die Bomben nicht empfangen und die fünf ihrem Schicksal im explodierenden Auge überlassen. »Du mußt es sogar tun«, sagte Uyulschu, dessen Begleiter im Gang immer unruhiger wurden. Anscheinend war der Unterpage schon sehr nahe. »Gib den Abschaltbefehl, damit alle Empfangsstationen des Transportsystems blockiert sind. Kein Unterpage wird dann noch an Bord kommen können – auch Borallu nicht. Wir wissen einen Weg aus dem Auge, auch wenn die Schotte manuell geöffnet werden müssen. In einem kleinen Hangar befindet sich ein Beiboot,
das nach dem Prinzip der Internschiffe fliegt – im normalen Weltraum mit Normalbetrieb, innerhalb eines Neutralisierungsfelds mit Verbrennungsantrieb. In ihm kannst du dich retten. Um uns mache dir keine Sorgen. Wir gehören hierher und würden nie mehr ein anderes Leben führen können. Wir werden zusammen mit dem Auge sterben.« »Aber wenn ich die Möglichkeit habe, es per Ultimatem Abschaltbefehl energetisch lahmzulegen, muß es gar nicht mehr vernichtet werden.« »Weißt du es denn nicht besser?« fragte Uyulschu. »Es würde immer noch als Reflektor für die Strahlung dienen, die von den fünf anderen Stationen ausgeht.« Blödel wußte es. Sein Einwand hatte der Selbstmordabsicht der Mutierten gegolten, und Uyulschu hatte auf seine Weise geantwortet. Blödel gab die Hoffnung noch nicht auf, sie doch retten zu können und zur MJAILAM zu bringen. Mit ihrem Wissen über die Zeit vor vierzigtausend Jahren konnten sie Atlan eine wertvolle Hilfe sein – abgesehen davon, daß er Mitleid mit ihnen hatte. Doch das wollten sie nicht. Einer der anderen drei kam und zirpte erregt: »Krejulla hat unsere Verstecke gefunden! Er wird gleich hier sein!« »Gib den Abschaltbefehl!« verlangte Uyulschu von Blödel. Blödel dachte an die Solaner auf Zerberus und in den beiden Kreuzern. Er steckte die Arme wieder in die Vertiefungen und sendete den Impuls. Augenblicklich lag das Auge still. Blödel erschrak fast vor seinem eigenen Werk. Bis zu dieser Sekunde hatte er nicht ganz an den Erfolg glauben können. Es kam ihm viel zu einfach vor. Aber Krejulla ließ ihm keine Zeit, sich Gedanken zu machen. Ein aufgeregtes Zirpen ging durch die Mutierten. Blödel sah den Unterpagen auf dem Gang, bewaffnet mit einem Energiestab. Uyulschu und Gdacc fuhren herum und eröffneten ohne Zögern das
Feuer. Der Gang wurde in ein Chaos von tödlichen Energien getaucht. Hitze und Licht schlugen in den Schaltraum. Blödel hatte das Auge besiegt, aber ein Schuß aus der Waffe des Unterpagen konnte ihm um alle Früchte dieses Erfolges bringen. Er brachte sich aus der Schußlinie und sendete. Die steigende Hitze brachte die Wandverkleidungen zum Schmelzen und verbrannten den Plastikschnauzbart des Roboters. Schwarzer Rauch quoll in den Schaltraum. Blödel mußte viel zu lange auf eine Antwort Atlans warten. Hatte er die MJAILAM gar nicht erreicht? Aus dem Korridor kamen die Todesschreie von Mutierten, aber immer noch Schüsse. Also existierte der Unterpage noch. Antwortet, MJAILAM! funkte Blödel mit höchster Intensität. Oder besser noch, schickt mir gleich die Bomben! Er aktivierte den Kleintransmitter. Auch nach der Abschaltung aller Betriebssysteme war das Auge noch im Neutralisierungsfeld eine Welt für sich, in der energetische Prozesse normal abliefen. Also mußte der Hyperfunk doch angekommen sein! Blödel wartete immer noch auf Antwort oder darauf, daß etwas in dem flimmernden Lichtbogen materialisierte, der sich über den Transmittersäulen gebildet hatte, als Krejullas metallische Schritte zu hören waren. Blödel suchte vergeblich nach einer Deckung. Die Schreie der Insektoiden waren verstummt. Der Unterpage trat aus dem schwarzen Rauch und richtete seine Stabwaffe auf den solanischen Roboter. 5. Eine völlig menschliche Reaktion war der Grund dafür, daß Blödel sich im Hauptauge im Stich gelassen fühlte. Atlan, Brick, Hellmut und die vielen anderen, die sich inzwischen in der Zentrale zusammendrängten, mußten ganz einfach verarbeiten, was an neuen Eindrücken fast gleichzeitig auf sie einströmte.
Zuerst fiel die Gigantstation im Verein der sechs Augen aus – nur so könnte zu deuten sein, daß es plötzlich keine Energieortung mehr von dort gab. Dann kam Blödels Hyperfunkspruch herein, was vor allem bei Nockemann, der auch den Weg zurück in die Zentrale gefunden hatte, großes Aufatmen auslöste. Fast im gleichen Moment wurde festgestellt, daß eine Schwächefront durch das Neutralisierungsfeld wanderte. Nockemann war während seiner Abwesenheit nicht untätig gewesen. Als andere glaubten, er gebe sich ganz seinem Gram hin, hatte er mit einigen anderen Wissenschaftlern in einer kleinen Nebenzentrale gearbeitet und einen Weg gefunden, das Neutralisierungsfeld in seiner Struktur zu erkennen und seine Energien genau zu vermessen. Die Strahlung, die in den Augen produziert und von den Parabolspiegeln an ihren Polen in breitester Streuung projiziert wurde, war nun bekannt. Ihre Intensität über das gesamte Feld hinweg zeichnete die Positronik in Form von ineinander laufenden Linien auf einen Bildschirm. Die Schwächefront war in diesem Muster wie ein Aufriß zu erkennen, der für einige Sekunden bestand und dann teilweise von sich zusammenschiebenden Linien wieder überdeckt wurde. Was das bedeutete, war offensichtlich: Die fünf nicht betroffenen Augen glichen den Ausfall des sechsten wenigstens zum Teil wieder aus, indem sie zwar ihre Positionen nicht wechselten, doch sich so neigten, daß ihre ausgesandte Strahlung von Blödels Auge zurückreflektiert wurde. Die Lücke konnte dadurch nicht ganz geschlossen werden. Wo sie mit der Drehung der Augen um Zerberus wanderte, war sie wie ein schmaler Korridor, in welchem vielleicht eine gewisse Energieentfaltung möglich sein mochte. Das alles galt es erst einmal zu begreifen – und die sich aufdrängenden Schlüsse daraus zu ziehen. Tyari unterrichtete die Telepathin auf Zerberus ohne besondere Aufforderung fortlaufend über diese Entwicklung.
»Antwortet, MJAILAM!« drang Blödels Ruf aus den Lautsprechern. »Oder besser noch, schickt mir gleich die Bomben!« Sie lagen abstrahlbereit vor einem der Bordtransmitter. Männer und Frauen warteten dort nur auf das Signal, sie in das Entmaterialisierungsfeld zu stoßen. Es handelte sich um drei Gravitationsbomben, die feste Materie aus dem energetischen Gefüge des Einsteinraumes herauslösten und in den Hyperraum schleuderten. Im Gegensatz zu früheren Waffen dieser Art war die Intensität des Entmaterialisierungsfeldes – und damit seine Ausdehnung – genau berechenbar. Jede andere Waffe verbot sich von selbst, wenn Atlan nicht das ganze Sonnensystem aus den Angeln heben wollte. Eine Gigantexplosion hätte auch für Zerberus katastrophale Folgen haben müssen. »Was soll ich ihm zurückfunken?« fragte Joscan Hellmut. »Er muß in Schwierigkeiten sein. Die anderen Augen wechseln jetzt wie verrückt Symbolsprüche. Sie funken auch Zerberus an, zweifellos Borallu.« »Was schon!« begehrte Brick auf. »Wir haben es doch durchgesprochen, oder? Schickt ihm die Bomben!« Er drehte sich nach dem Arkoniden um. »Oder worauf wartest du, Atlan? Eine Chance wie diese bekommen wir nicht wieder. Vielleicht kann die Station von den anderen Augen ebenfalls durch einen Impuls wieder in Betrieb gesetzt werden, durch einen Ultimaten Aktivierungsbefehl an das Steuergehirn!« »Warte noch!« sagte Atlan. Er deutete auf den Bildschirm, der das Muster des Feldes und die Schwächefront zeigte, die in geringerer Stärke nach wie vor durch das Feld glitt. Ihre Bewegung entsprach der Kreisbahn des Hauptauges um den vierten Planeten. »Seht ihr das? Die Front wird in kurzer Zeit die drei Vulnurerschiffe erreicht haben.« »Atlan, Blödel hat diese Zeit wahrscheinlich nicht!« »Und Breckcrown hat sie auch nicht«, flüsterte Tyari. »Es wird immer schlimmer auf Zerberus. Viele Solaner wollen einfach nicht
mehr so weiter dahinvegetieren. Tut endlich etwas!« Atlan nickte widerstrebend. »Gib das Signal, Joscan«, sagte er tonlos. »Ab mit den Bomben. Die Zeitzünder sollen noch nicht eingestellt werden. Das muß Blödel selber besorgen.« Hellmut atmete auf und ging zum Interkom. Er sprach leise hinein. »Ich kann dich nicht verstehen, Atlan«, sagte Brick kopfschüttelnd. »Ich habe dich noch nie zaudernd gesehen. Was ist mit dir los?« »Ich bin müde«, sagte der Arkonide. Auf eine andere Art als die Männer und Frauen, die auf Zerberus mehr tot als lebendig versuchten, immer noch einmal eine oder zwei Stunden durchzustehen und ein sinnloses Schauspiel zu veranstalten. Atlan wußte, daß es vorbeigehen würde. Er sah die Blicke der Gefährten. Tyari hätte Verständnis gehabt, doch sie war ganz im Kontakt mit Hayesʹ Mutanten gefangen. Darf ein Unsterblicher nicht auch einmal einfach die Flügel hängenlassen? dachte er bitter. Kann mir nicht einmal ein anderer die Verantwortung abnehmen? Kann ich nicht endlich auch einmal zur Ruhe kommen und sein wie ein ganz einfacher Mensch – ohne ständiger Kampf, der ihm durch seine eigene Vergangenheit immer und immer wieder neu aufgezwungen wird? Die Vergangenheit, das war es. Sie und die Zukunft, beides war voneinander nicht zu trennen. Der einmal eingeschlagene Weg führte immer weiter – aber letztlich wohin? Ich bin eine Leitfigur, sagte sich Atlan, als er auf den Bildschirm starrte, der die Schwächefront zeigte. Ich kann mich nicht aus der Verantwortung stehlen. Nicht jetzt. Nicht später. Der Zellaktivator schützte ihn vor körperlichen Gebrechen, aber er war keine Geheimwaffe gegen das, was man gemeinhin Depression nannte. »Ein müder Held?« fragte Brick in seiner unbekümmerten Art. »Weißt du denn nicht, daß Helden nie müde werden?«
In seinen Worten klang eine andere Wahrheit mit. Atlan lächelte endlich wieder. »Danke, Uster. Ich wollte warten, bis die Vulnurerschiffe von der Schwächefront gestreift werden. Wenn ein Wunder geschieht, könnten sie mit ihrer plötzlich wieder vorhandenen Energie gleichzeitig mit Blödel einen Schlag gegen die Stationen führen – und zwei ausgefallene Augen dürfte Borallu dann nicht mehr verkraften.« Das würde auch die Rettung der SOL bedeuten können. Atlan blickte auf die Uhr. Seit der scheinbaren Vernichtung Blödels waren erst 32 Minuten vergangen. Das lange Warten auf der Bahn des sechsten Planeten, und dann das Sichüberschlagen der Ereignisse – Atlan hatte die Befürchtung, daß er den Überblick längst verloren hatte. Es gab zu viele Widersprüche. Die Strahlung, die das Neutralisierungsfeld erzeugte, war inzwischen zwar bekannt, aber noch nichts über die Art der Energien, die es den Alternativ‐Toten und ihren Stationen erlaubte, in ihrem Feld aktiv zu bleiben. Die MJAILAM‐Positronik hatte Atlans Absicht bestätigt, daß ein Beschuß der Augen von der Warteposition aus kein positives Resultat bringen würde – gleichzeitig aber eingeräumt, daß mit den Bordwaffen der Vulnurer ein solches Resultat möglicherweise zu erzielen sei. Und falls die Vulnurer ein Auge zerstören konnten – es blieb die Gefahr für Zerberus und die SOL. Niemand konnte vorhersagen, welche Energien bei der Explosion eines Auges freiwerden würden. Deshalb die Gravitationsbomben. Deshalb und darum, darum und deshalb … »Funkt die Vulnurer an«, sagte Atlan. »Versucht es wenigstens, sobald ihre Schiffe von der Front gestreift werden. Sagt ihnen, daß sie …« Sagt ihnen irgend etwas! dachte er.
Sagt ihnen, daß sie ihre eigenen Köpfe anstrengen sollen! * Blödel sah den Unterpagen auf sich zukommen. Er war bis zu einer Wand des Kontrollraums zurückgewichen. Die Stabwaffe blieb auf seinen Köpf gerichtet, ihre leicht trichterförmige Mündung flimmerte rötlich. Zwischen den beiden Gegnern stand der aktivierte Transmitter. Es war unwahrscheinlich, daß Krejulla nicht wußte, was das Gerät darstellte – und wozu es hier war. Der Alternativ‐Tote kam zwei Schritte davor zum Stehen und schien für einen Moment nicht zu wissen, was er zuerst zerstrahlen sollte, den solanischen Roboter oder das Gerät. Blödel, noch immer auf Antwort wartend, erkannte die winzige Chance, die sich ihm bot. Er ging davon aus, daß der Unterpage die gleiche Sprache verstand wie die von ihm getöteten Insektoiden. »Zerstöre den Transmitter«, sagte er, »und du setzt Energien frei, die dich zerreißen. Töte mich, und du kannst nicht mehr verhindern, daß das Hyperverknallikum von meinen Freunden geschickt wird und die Verbummserenergien freiwerden, die dich und alle anderen Augen und Alternativ‐Toten in ein zwölffach in sich verschlungenes und negativpotenziertes Rundumsymphonikum in a‐Moll verwandeln.« Der Unterpage hob und senkte die Waffe. Seine Robotgliedmaßen zuckten unkontrolliert. Natürlich vermochte der Translator solche Phantasiebegriffe wie »Hyperverknallikum« und »Rundumsymphonikum« nicht übersetzen. Statt dessen lieferte er ein völlig unverständliches Lautgemisch – aber auf Krejulla schien es seine Wirkung nicht zu verfehlen. Zeit gewinnen! dachte Blödel. Und er funkte um Hilfe. Krejulla schien tatsächlich ratlos. Blödel wußte ja aus Tyaris
Übermittlung, daß Bjo Breiskoll die Unterpagen als Wesenheiten wahrgenommen hatte, und nicht als seelenlose Roboter. Folglich mußte auch ein Unterpage Angst vor dem Tod haben. »Was ist?« fragte er. »Hast du mich nicht verstanden?« Er hatte den Alternativ‐Toten unterschätzt. Krejulla ignorierte den Transmitter, ging um ihn herum und blieb vor dem Roboter stehen. Die Mündung der Stabwaffe zielte auf Blödels einziges Auge. Blödel beschloß in diesem Moment, falls er noch je dazu kam, Hage Nockemann dafür zur Rede zu stellen, daß er ihn nicht mit Offensivwaffen versehen hatte. Ein Metallglied des Unterpagen näherte sich einem Wandkontakt. »Wenn deine Herren genauso dumm sind wie ihre Roboter«, sagte Krejulla, »dann haben wir von ihnen wahrhaftig noch weniger zu befürchten, als wir bislang annahmen. Sobald ich diesen Kontakt berühre, ist das Mantelfeld um das Auge nicht mehr existent, das die Station von der Neutralisierungszone trennt. Dann liegt das Auge ungeschützt im Feld, und was ihr uns auch schickt, kann sich nicht mehr entfalten.« Und dann bin auch ich wieder ohne Energie! dachte Blödel. Dieser Unterpage zwar auch, aber was hilft uns das? Als die Waffenmündung sich wieder etwas zur Seite drehte, suchte Blödel sein Heil im blinden Angriff. Wenn Krejulla tatsächlich das Mantelfeld abschaltete, war er auf jeden Fall verloren. So aber besaß er wenigstens noch den winzigen Hauch einer Chance. Er traf den Metallischen mit der ganzen Wucht seines Körpers. Allzuviel war das nicht, denn Krejulla besaß doppelt soviel Masse wie er. Dennoch reichte es aus, um den Alternativ‐Toten zum Schwanken zu bringen. Ein Schuß aus der Stabwaffe löste sich und fuhr in die Wand. Metallplastik schmolz zischend und brodelnd unter der Glut. Blödel nutzte den kurzen Augenblick von Krejullas Verwirrung, um sich in den Korridor zu werfen, der immer noch von schwarzem Rauch erfüllt war. Er blieb flach auf dem Boden
liegen, zwischen den leblosen Körpern von zwei Insektoiden. »Das nützt dir auch nichts!« hörte er Krejullas Robotstimme. »Ich weiß jetzt, wie ich dich treffen kann, euch alle! Ich werde der Retter der Augen sein! Ich werde ein würdiger Nachfolger Borallus!« Blödel verstand genug von der Psyche lebender Wesen, um sagen zu können, daß dieses Gehirn, das in dem Metallkörper stecken mußte, größenwahnsinnig geworden war. Er sah durch die dunklen Rauchschleier, wie Krejullas Hand wieder nach dem Kontakt ausstreckte. Im gleichen Augenblick empfing er von der MJAILAM, daß die Bomben jetzt geschickt werden würden. Blödels ausgefahrene Augen glitten über den Boden und berührten etwas Hartes, das sich schieben ließ. Sekundenbruchteile später hatte er die Stabwaffe gepackt und feuerte sie auf den Unterpagen ab. Er mußte alles auf eine Karte setzen. Krejulla dachte schnell und entschlossen – Blödels positronisches Gehirn aber tausendmal rascher. Er konnte Krejulla mit der Waffe nicht ausschalten, nicht einmal in ernsthafte Gefahr bringen – sonst hätten die Mutierten schon über ihn gesiegt. Der Unterpage war für Augenblicke in wabernde Glut gehüllt, in der sein Körperschutzschirm grell leuchtete. Seine Hand verharrte Millimeter vor dem Kontakt. Blödel schoß zum zweitenmal, und diesmal zielte er auf den Wandkontakt. Er riskierte, daß sich das Mantelfeld dadurch automatisch abschaltete. Wieder spritzte flüssiges Material aus der Verkleidung und verdampfte in Krejullas Schutzschirm. Achtung, Blödel! sendete die MJAILAM. Die drei Gravitationsbomben kommen roh bei dir an! Stelle sie nach deinem Dafürhalten ein! Blödel empfing es noch. Der erwartete Effekt war ausgeblieben. Krejullas linke Hand zuckte von der glühenden Wand zurück. Jetzt gab es zwar keinen Abschaltkontakt mehr, aber für Blödel auch keinen Grund zur Erleichterung. Der Unterpage feuerte in den Korridor – zum Glück aber zu wahllos, um Blödel zu treffen. Krejulla hielt für einen Moment inne, als sich nichts mehr rührte.
Blödel konnte ihn durch Beschuß nicht vernichten, aber wie hatten Sternfeuer und ihre Begleiter den Unterpagen auf Zerberus ausgeschaltet? Mit einer Steinlawine! dachte der Roboter. Energien durchdringen diese Schutzschirme nicht, aber jede beliebige Materie! Als er sah, wie sich das Flimmern über den Transmittersäulen verstärkte, und wie Krejulla herumfuhr und die Waffe auf das Gerät richtete, benutzte er die Elastizität seiner Arme und schnellte sich wie von einem Katapult abgefeuert in den Sechseckraum zurück. Krejullas Arm schwenkte herum. Ein Energiestrahl fuhr über Blödel hinweg. Die zusätzliche Hitzeentwicklung ließ geschmolzenes Metallplastik wie weiches Wachs in dicken Zungen an den Wänden herablaufen. Krejulla schrie. Er begann zu toben und zuckte noch mehr. Ganz gleich, wie die Verbindungsleiter zwischen seinem organischen Gehirn und dem Robotkörper auch beschaffen sein mochten, jetzt schienen sie endgültig überfordert zu sein. Und dann materialisierte die erste Gravitationsbombe schon im Energiebogen. Blödel war nahe genug, um mit seinen Greifwerkzeugen die Einstellungen des Mini‐Transmitters zu erreichen. Damit empfangene Objekte nicht einfach zu Boden plumpsten, gab es eine Antigrav‐Vorrichtung, die ein Feld projizierte, das sie entweder sanft herabschweben ließ oder direkt dorthin transportierte, wo sie abgelagert werden sollten. Blödel stellte die Vektorierung so ein, daß die Antigravkräfte die Bombe dorthin beförderten, wo Krejulla stand. Er justierte die Transportschnelligkeit auf das Maximum. Die Bombe, ein ovaler, fünfzig Zentimeter langer Gegenstand, knapp dreißig Zentimeter dick, schoß auf den Unterpagen zu und traf ihn, bevor er ausweichen konnte. Sie zerdrückte den Robotkörper regelrecht an der Wand. Blitze schlugen zwischen den Metallsegmenten heraus. Die Energien des Schutzschirms verpufften. Der Robotkörper zerfloß, von winzigen
blauen Flämmchen umspielt, als Krejullas Gehirn längst abgestorben war. Blödel stellte den Transmitter neu ein und wartete, bis die beiden ankommenden Bomben neben der ersten am Boden lagen. Er berichtete an die MJAILAM. Diesmal brauchte er nicht lange auf Antwort zu warten. Versuche, die Bomben in 183 Sekunden zu zünden! empfing er. Dann liegen die Vulnurerschiffe mitten in der Schwächefront des Neutralisierungsfelds! Wenn sie es können, greifen sie genau zu diesem Zeitpunkt eines der anderen Augen an! Einhundertdreiundachtzig Sekunden! Seid ihr verrückt! sendete Blödel zurück, während er schon dabei war, die Zeitzünder einzustellen. So schnell entkomme ich nie! Tut mir leid, Blödel, aber ein Schrotthaufen wie du ist leichter zu ersetzen als Zehntausende Solaner! Uster – Ende. Brick! dachte Blödel. Natürlich, wer sonst! Er nahm sich einiges vor für den Fall, daß er jemals wieder vor dem Piloten stehen würde. Gleichzeitig machte er die drei Bomben scharf. Zeit, sie an exponierte Stellen des Auges zu bringen, hatte er nicht. Er stellte den Radius des Entmaterialisierungsfelds auf sieben Kilometer ein, was nach jeder Richtung reichen sollte. Dann warf er einen letzten Blick auf die Reste des Unterpagen und machte sich auf die Flucht. Die Mutierten wären ihm eine große Hilfe gewesen. Zwar kannte er aus den Speichern des stillgelegten Zentralgehirns den Weg zum Hangar mit dem Internboot und die Impulsschlüssel zur positronischen Entriegelung der dazwischenliegenden Schotte. Nur wie sie manuell zu öffnen waren – und das in knapp drei Minuten –, das hatte ihm niemand gesagt. Seine Logik diktierte ihm, daß er keine Chance mehr hatte. Und er dachte, daß es ziemlich unbefriedigend war, auf diese Weise das Ende zu finden. Was blieb ihm davon, daß er sich für die Menschen opferte? Alle
Robotergesetze hin und her, aber befriedigen – nein, das konnte ihn seine kühne Tat nicht. MJAILAM! funkte er, als er vor dem geschlossenen Schott stand. Falls bei euch jemand einmal einen Roman über dies hier schreibt, dann soll er ihn »Blödels Opfergang« nennen. Vielleicht schreibt Hage ein Vorwort dazu. Mach, das du aus dem Auge verschwindest, du …! Das nicht druckreife Ende des Spruches bewies Blödel, daß Nockemann noch nicht besonders wild auf das Verfassen eines Vorworts zu Blödels Nachruf war. In einhundertdreißig Sekunden zündeten die Bomben. * Hundert Sekunden bis null, zeigten die Digitalabläufe auf den Bildschirmen der MJAILAM‐Zentrale an. Nockemann, der sich nach seinem plötzlichen Aufraffen wieder in seinen Sessel fallen gelassen und die Augen geschlossen hatte, blinzelte nur kurz auf die Zahlen. Er seufzte und schüttelte in stiller Verzweiflung den Kopf. Tyari stand nicht mehr in Verbindung mit Breiskoll, Federspiel und Sternfeuer. Trotz aller Appelle Atlans hatte sie sich geweigert, den Informationsaustausch fortzusetzen, bevor er nicht wieder zu sich selbst gefunden habe. Er starrte die Schirme an und kam sich in der Zentrale seines Kreuzers wie ein Fremder vor. Tyaris Hand in seinem Nacken war nicht so warm wie gewohnt, sondern kalt wie die einer Toten. Neunzig Sekunden. »Antwort der Vulnurer!« rief Joscan Hellmut. Seine Stimme durchschnitt die beklemmende Stille wie ein Messer. »Der Empfang
ist jetzt viel besser. Die Front erreicht in neunzig Sekunden ihr Maximum, wie von unserer Positronik errechnet. Dann werden alle drei Schiffe auf einmal auf das Auge feuern, das ihnen am nächsten steht. Jacta bittet uns, über die Telepathen auf Zerberus noch einmal an ihre Vulnurer zu appellieren, daß sie durchzustehen und alle ernsthaften Angriffe auf die Solaner zu unterlassen haben.« »Ich habe es ihnen schon übermittelt«, sagte Tyari ablehnend. Atlan sah die sechs Augen und Zerberus. Die Stationen, die sich zur Zeit hinter dem Planeten befanden, wurden als Rasterbild in die Abbildung eingeblendet. Die Vulnurerschiffe waren näher zusammengerückt. Entgegen den optimistischen Erwartungen, hatten sie seit dem Hinwegstreifen der ersten Ausläufer der Schwächefront fast alle Energien wiedergewonnen. Doch sie warteten auf das Maximum. Die Lücke im Neutralisierungsfeld war wie ein gekrümmter Bogen, der den vierten Planeten fast streifte. Es kam Atlan wie eine zusätzliche Fügung eines ungnädigen Schicksals vor, daß sie ihn nicht miterfaßte. Denn dann hätte auch die SOL ihre Energien zurückgehabt. Aber die Front wäre längst über sie hinweggegangen, bevor auch nur ein Solaner die SOL wieder hätte erreichen können! machte ihm der Extrasinn klar. Und diese Belehrung war der Tropfen, der das Faß seiner Depressionen zum Überlaufen brachte. Aus Niedergeschlagenheit wurde entfesselter Trotz. Atlan hatte plötzlich nur noch das eine Verlangen, es allen Schicksalsmächten zu zeigen, die ihn in die Knie zu zwingen versuchten. Als er aufstand und eine Faust auf das Pult vor den Schirmen hämmerte, warf Brick sich aufatmend im Sessel zurück. »Endlich!« sagte er. »Arkonide, darauf habe ich fast zu lange gewartet.« Atlan gab keine Antwort. Fünfzig Sekunden. Er dachte eine Aufforderung an Tyari, und sie erwiderte nur mit einem erlösten
Blick. Als ihre Augen sich schlossen, wußte der Arkonide, daß sie wieder mit Bjo und den Zwillingen auf Zerberus in Kontakt stand. Was das Zucken ihrer Lider ihm sonst noch verriet, ignorierte er lieber – zumindest für die nächsten vierzig Sekunden. »Funkspruch von Blödel!« rief Hellmut. »Er hat den Hangar und das Boot erreicht! Aber er schafft es nie und nimmer, jetzt noch aus dem Auge herauszukommen!« »Ich habe das vorhin alles nicht so gemeint, Hage«, sagte Brick zu Nockemann. »Ich meine, über Blödel und so. Ich helfe dir, wenn du dir einen neuen Partner zusammenflickst.« »Es wird nie wieder einen Blödel geben!« klagte der Galaktogenetiker. »Dieser verdammte Idiot war einmalig!« »Seid still«, sagte Atlan. »Uster, sollten die beiden Stationen tatsächlich auf einmal ausgeschaltet werden können, und sollte das Feld dadurch bereits zusammenbrechen, verlieren wir keine Sekunde. Wir stoßen nach Zerberus vor und erobern die SOL zurück.« Noch dreißig Sekunden. »Und diese Waffe, die gegen Blödel eingesetzt wurde?« »Wir wissen noch nicht, ob es tatsächlich eine Waffe war oder ein Transportfeld. In der Wirkung dürfte es auf das gleiche herauslaufen. Die EMRADDIN muß sich darum kümmern. Sobald wir einen Symbolfunkspruch mit einem Angriffsbefehl auffangen, gibt Kölsch uns Feuerschutz.« »Schießt du jetzt nicht über das Ziel hinaus?« fragte Tyari leise. »Zwanzig Sekunden«, sagte Hellmut. »Von Zerberus wird bereits an die Augen gefunkt. Borallu will wissen, weshalb sich sein Hauptauge nicht mehr meldet. Wartet, da kommt noch etwas.« Die Positronik übersetzte zusätzlich zur Wiedergabe auf einigen Schirmen akustisch. Atlan nickte grimmig. »Die Unterpagen in den anderen Stationen sind ratlos. Offenbar ist durch den Ausfall des Hauptauges das ganze Transportsystem gestört. Sie können nicht mehr nach Belieben von einem Auge zum
anderen springen.« »Und das hieße auch, daß Borallu auf Zerberus festsitzt?« meinte Brick. Atlan zählte die letzten Sekunden bis zur Zündung der Bomben und dem Feuerschlag der Vulnurer, als das geschah, womit tatsächlich niemand mehr hatte rechnen können. »Energieortung!« rief Hellmut aus. »Das Hauptauge ist wieder aktiv! Jetzt öffnet sich eine Luke!« »Vergrößerung!« forderte Atlan die Positronik auf. Er ahnte etwas. Und dann sahen sie alle, wie etwas aus der offenen Luke herausschoß und mit phantastischer Beschleunigung Kurs auf die solanischen Kreuzer nahm. Nockemann sprang auf. Seine Augen weiteten sich. Er kam nicht dazu, seinen Gefühlen Luft zu machen, denn nun war der entscheidende Augenblick gekommen. Die drei Vulnurerschiffe eröffneten das Feuer auf »ihre« Gigantstation. Gleichzeitig schien um das Hauptauge herum der Weltraum aufzureißen. Violette Linien bildeten wie zuckende Schlangen ein strahlendes Netz um die riesige Kugel, verdichteten sich und verschwammen zu einer einzigen Hülle. Die Umrisse der Station wurden unscharf. Dann verblaßte das Ganze. Noch einmal schien das Auge an Stabilität wiederzugewinnen. Es wurde transparent – und verschwand von den Schirmen und aus der Ortung. Der ganze Vorgang dauerte weniger als eine Zehntelsekunde. Die Beobachter in der MJAILAM und EMRADDIN nahmen ihn wie im Zeitraffertempo wahr. Eine hyperenergetische Schockfront durchlief das Wespennest‐System und verlor sich im interstellaren Raum. Eine zweite, viel stärkere, begleitete die Vernichtung des anderen Auges. Die hochgefahrenen Schutzschirme der Kreuzer flammten in allen Farben auf. Ein Knistern und Ächzen erfüllte die MJAILAM‐ Zentrale, als würde das Schiff auseinanderbrechen. Die Bildschirme zeigten das, was über Zerberus geschah, nur noch verschwommen
oder gar nicht mehr. Als aus den Wellenlinien endlich wieder klare Abbildungen wurden, gab es nur noch vier Gigantstationen um den Planeten. Tyari schrie auf und preßte sich die Hände gegen die Schläfen: »Es ist furchtbar!« rief sie. »In der Atmosphäre von Zerberus tobt ein Chaos! Die Solaner sind in unbeschreiblicher Panik!« »Aber sie haben es überlebt, oder?« Brick streckte eine Faust in die Luft. »Borallus Augen sind nicht unbesiegbar! Was die Vulnurer mit ihren Bordwaffen schafften, müssen wir doch auch zuwege bringen!« »Sie melden sich noch nicht wieder«, dämpfte Hellmut den Überschwang des Piloten. »Ihre Schutzschirme sind immer noch auf das Äußerste belastet. Das Auge ist zwar zur Atomsonne geworden, aber die dabei freigesetzte Strahlung kann die Schiffe noch nachträglich vernichten.« »Die Schwächefront, Hage«, sagte Atlan schnell. »Wann ist sie über die Vulnurer hinweg? Und gibt es sie überhaupt noch in der vorherigen Form?« Nockemann stand wie in Trance vor den Schirmen. Erst jetzt fand er zu sich zurück. Er nahm einige Schaltungen vor und bekam ein neues Rastermuster. »Die Front hat sich nicht verändert«, sagte er. »Aber eine zweite, viel größere Lücke ist im Neutralisierungsfeld entstanden. Es ist alles in Bewegung, aber das Feld steht noch.« Atlan hielt den Atem an. Jeder Gedanke an einen Vorstoß war illusorisch geworden, solange die Vulnurerschiffe unter den tobenden Energien zu bersten drohten. Ihre Schirme blähten sich auf. »Die Front ist jetzt an ihnen vorbei!« rief Nockemann. »Sie sind wieder im Neutralisierungsfeld!« Ihre Energieechos verschwanden von einem Moment auf den anderen von den Orterschirmen. Gleichzeitig erlosch das Energieinferno um sie herum. Die Schiffe wirkten unversehrt, doch
das große Aufatmen kam den Solanern erst, als Tyari wieder die Mentalimpulse der Vulnurer empfing. Sie waren zwar wie gewohnt schwach, aber nach dem erneuten Energie‐ und damit Funkausfall der Beweis dafür, daß die Verbündeten ihren Verzweiflungsakt offenbar heil überstanden hatten. »Wie es aussieht«, sagte Atlan, »haben ausgerechnet die vier restlichen Augen mit ihrem Neutralisierungsfeld die Vulnurer gerettet.« Brick nickte. »Aber was hat die Ausschaltung der beiden Stationen uns gebracht?« fragte er enttäuscht. »Eine zweite Lücke!« »Sie vergrößert sich weiter«, sagte Nockemann. »Anscheinend konnten die vier Augen den Ausfall der anderen nur kurzfristig kompensieren. Jetzt zeigt sich die Auswirkung erst. Das Feld bekommt überall Risse und ist in seiner Intensität insgesamt schwächer geworden. Theoretisch könnte auch die SOL in gewissen Grenzen wieder Energie bekommen.« Die Lücke war ein mehrere zehntausend Kilometer breiter Korridor, der wie ein Pfeil in das Neutralisierungsfeld stach und mit ihm um Zerberus wanderte. »Wir riskieren es«, entschied Atlan. »Wir versuchen, in diesem Korridor bis nach Zerberus zu kommen. Wir fliegen hintereinander, die MJAILAM zuerst. Sollte bei uns die Energie ausfallen, ist die EMRADDIN gewarnt. Und Positronik hin, Positronik her, Wajsto wird aus allen Rohren auf die Augen feuern. Wenn noch eines ausfällt, muß sich die Schwächung des Feldes potenzieren.« »Und wenn nicht?« fragte Hellmut. Atlan winkte ab. Dann liegen wir fest und müssen warten, bis der Korridor uns wieder erreicht, dachte er. Dann machen wir kleine Schritte – aber wir werden weiterkommen, Stück für Stück. Er bat Tyari, Hayes über die Telepathen zu informieren. Ihre Antwort nach einer Minute beendete alle Diskussionen über die
Gefahren des Vorstoßes. »Breck hat nur darauf gewartet, daß wir aktiv werden können«, flüsterte die Telepathin. »Die Atmosphäre des Planeten ist zur Ruhe gekommen. Noch toben Stürme, die aber nach allem, was die Solaner durchgemacht haben, zu ertragen sind. Breck und die Mutanten haben eine Gruppe von Männern und Frauen um sich geschart, die jetzt zu allem bereit sind. Es sind die letzten, die noch auf den Beinen stehen können. Sie wollen versuchen, die SOL zu stürmen.« »Aber Borallu und seine Unterpagen werden schießen!« entfuhr es Hellmut. »Joscan«, sagte Tyari eindringlich, »unsere Leute dort unten sind soweit, daß sie lieber im Kampf gegen die Alternativ‐Toten sterben, als dahinsiechen und darauf warten zu müssen, was Borallu jetzt unternimmt. An das Ultimatum denkt niemand mehr. Borallu ist jetzt alles zuzutrauen. Das Transportsystem ist ausgefallen. Er sitzt in seiner eigenen Falle und hat erleben müssen, wie zwei seiner Augen zerstört wurden.« Atlan besprach sich kurz mit Wajsto Kölsch. Der Kommandant der EMRADDIN war längst mit dem Plan einverstanden. »In Ordnung, Uster«, sagte der Arkonide. »Es kann losgehen, aber vorher nehmen wir den da an Bord.« Er deutete auf das Objekt, das im allgemeinen Durcheinander kaum noch beachtet worden war und nun in wenigen Minuten den Korridor erreicht haben mußte. »Auch wenn dieser Blechhaufen einem gewissen Wissenschaftler keine schlaflosen Nächte bereiten würde, könntest du Gift darauf nehmen, daß ich ihn notfalls im Raumanzug aus dem Rettungsboot holte – oder worin er da kommt.« Brick lachte rauh, als er die Finger über seine Tastaturen huschen ließ. »Wie er das Kunststück fertiggebracht hat, fünf Sekunden vor null noch aus dem Auge zu kommen, das muß er mir höchstpersönlich erzählen.« Die MJAILAM nahm Fahrt auf. Die EMRADDIN folgte ihr in
zehntausend Kilometern Abstand. 6. Breckcrown Hayes, die Telepathen, Brooklyn, Curie van Herling und der Rest der SOL‐Führung hockten in einer fünfzig Meter großen, runden Mulde am Hang des Hügels, der – vom Talausgang aus gesehen – rechts von der SZ‐1 in die Höhe wuchs. Das »Generalstabslager« war so provisorisch wie den Umständen angemessen. Ein einziges Feuer flackerte in der Mitte der Mulde. Nach dem Regen hatte den ganzen weiteren Tag über die Sonne vom Himmel gebrannt, das Gras und die Büsche getrocknet, aber auch vielen Erschöpften den Rest gegeben. Niemand tat noch so, als wollte er um sein Überleben kämpfen, so wie Borallu es forderte. Im Gegenteil waren sowohl Solaner als auch Vulnurer dazu übergegangen, sich zusammenzutun und die Bewußtlosen beider Seiten den Hügel hinaufzuschleppen. Dort lagen sie nun zu Zehntausenden. Vulnurer durchkämmten das Tal nach den letzten Verstreuten, und als die Sonne als düsterroter Ball über den Bergen versank, glich der Hang einem einzigen Flickenteppich aus menschlichen und insektoiden Leibern. Zum erstenmal seit der Bruchlandung, dachte Hayes, sind wir wenigstens alle wieder auf einem Haufen zusammen. Dann und wann kamen Kuriere und machten Meldungen über Tote. Die Zahl derjenigen, die durch Auszehrung, Kreislaufzusammenbrüche oder Vergiftungen gestorben war, hatte in den letzten Stunden dramatisch zugenommen. Es waren über hundertfünfzig, aber wer konnte schon sagen, ob die vielen Bewußtlosen noch einmal die Augen aufschlugen? Fast alle hätten gerettet werden können, dachte Hayes, wenn wir ein funktionierendes Medo‐Center besäßen. Wer vor Hunger schrie, hörte irgendwann auf sich zu fragen, ob diese oder jene Pflanze
genießbar war. Sie rissen alles aus, was dick und fleischig aussah, und würgten es herunter. Es war ein kleines Wunder, daß sich die Solaner nicht auch an unbekannten Krankheitserregern infiziert hatten. Dennoch blieb es eines von Hayesʹ Hauptzielen, in der energielosen SOL nach Medikamenten suchen zu lassen. Die meisten Vorräte waren, wie auch alles an Nahrungskonzentraten, in den ersten Tagen auf Zerberus aus dem Schiff geholt worden. Aber etwas mußte sich einfach noch finden lassen – und wenn es nur zehn oder zwanzig Menschen das Leben rettete. Was jetzt getan werden konnte, besorgte vor allem Walter von Bruchstein, der sich wieder als »Chefkoch« betätigte und in einem Riesentopf über dem Feuer Suppe aus den wenigen Wurzeln und Früchten kochte, von denen man wußte, daß sie bekömmlich waren. Daneben bereitete er die braune Brühe, die er Kaffee nannte. Sie schmeckte eher nach dem Saft fauler Zitronen, aber die ausgekochten Inhaltsstoffe der Pflanzen wirkten wie Koffein. Sie mobilisierten noch einmal die allerletzten Kräfte jener, die Hayes und den Telepathen in die SOL folgen wollten. Die Solaner standen Schlange vor den Kesseln. In allem, was sich als Becher oder Teller eignete, gab von Bruchstein sein Gebräu aus. Neben den etwa zweihundert Menschen standen rund tausend Vulnurer zum »Sturm auf die SOL« bereit. Das Verzweiflungsunternehmen hatte natürlich kein anderer als Walter so genannt. Es konnte ein Lauf in den Tod werden, das wußten alle, die sich jetzt dazu anschickten. Sie akzeptierten das Risiko. Mehr als die »Kraftbrühe« beflügelte die Botschaft von der MJAILAM die Männer und Frauen. Hayes wußte genau, daß es in der SOL ohne Licht kein Vorankommen gab. Nur in der Peripherie konnte man sich einigermaßen zielsicher bewegen. Und irgendwo dort lauerten Borallu und seine Unterpagen. Bjo, Sternfeuer und Federspiel sagten übereinstimmend, daß ihre Fähigkeiten plötzlich wieder stärker zu werden begannen. Sie werteten es als Zeichen dafür, daß das
Neutralisierungsfeld tatsächlich schwächer geworden war. Hayes klammerte sich an diese Hoffnung. Alles, was er sich vorerst vom »Sturm auf die SOL« erwartete, war, an den Alternativ‐Toten vorbei in die unmittelbare Nähe von Nebenzentralen bei der Peripherie der SZ‐1, zu kommen. Sollte das Schiff dann wahrhaftig wieder erwachen, mußte der Schlag gegen Borallu augenblicklich erfolgen. Er sagte das noch einmal deutlich. Niemand sollte versuchen, sich als Held hervorzutun und einen der Unterpagen angreifen. Nach Bjos Auskunft gab es noch vier von ihnen in der SOL. Alle anderen, die noch lebten, befanden sich in den restlichen vier Augen und konnten sie nicht mehr verlassen. Zwar alle im Mittelteil, aber jederzeit in der Lage, die Verbindungen zu den Kugelzellen manuell zu öffnen und plötzlich dort aufzutauchen. »Borallu«, erklärte Breiskoll, nachdem er mit Sternfeuer und Federspiel noch einmal den Psi‐Block gebildet hatte, »ist in seiner jetzigen Verfassung mit einem verletzten Raubtier zu vergleichen, unberechenbar und zu allem bereit. Er kann noch in Funkkontakt mit den Augen treten, aber diese nicht mehr erreichen. Er ist zwar noch mit dieser ominösen Transportenergie aufgeladen, doch infolge der energetischen Verwandtschaft mit der Neutralisierungsstrahlung nützt ihm das nun nichts mehr. Er kann sich nicht einmal hier von einem Ort zum anderen versetzen, ohne Gefahr zu laufen, in ein anderes Kontinuum geschleudert zu werden.« »Was hat er konkret vor, Bjo?« fragte Hayes drängend. »Er denkt fast ununterbrochen daran, wie er seinen Auftrag doch noch erfüllen kann. Wir sind momentan unwichtig für ihn, weil er sich immer noch grenzenlos überlegen glaubt – was er ja auch ist. Vielmehr will er alles daransetzen, die MJAILAM und die EMRADDIN vernichten zu lassen. Dazu aber muß das Neutralisierungsfeld wieder die alte Intensität erreichen. Zu diesem Zweck sollen die vier restlichen Augen blitzschnell neue Positionen einnehmen, sobald die Kreuzer in unmittelbare Nähe des Planeten
gelangt sind.« »Die einzigen Waffen der Augen funktionieren anscheinend nur innerhalb des Feldes und haben dann den Effekt, den Tyari bei Blödel beobachtete«, sagte Sternfeuer, die soviel »Kaffee« getrunken hatte, daß sie zitterte. Warnungen, daß sie ihre Gesundheit damit ruinierte, tat sie mit einer wegwerfenden Geste ab. »Wir haben Atlan über Tyari gewarnt. Er weiß Bescheid.« »Warum«, fragte Lyta Kunduran, »greifen die Stationen nicht auch die Schiffe der Vulnurer an?« Niemand wußte darauf eine Antwort. Doch es schien ein Geheimnis um die Rücksichtnahme zu geben, das auch aus Borallus Gedanken nicht ausforschbar war. Alles, was mit den Vulnurern zusammenhing, war in seinen Überlegungen hinter einem dunklen Vorhang verborgen. Der letzte Schein des Abendrots verschwand hinter den Bergen. Hayes drehte sich zu den bereitstehenden Solanern um und nickte düster. Walter von Bruchstein schöpfte die letzte Brühe aus den Kesseln, warf die Kelle fort und setzte sich einen tiefen Teller wie einen Helm auf den Kopf. »Leider muß ich auf Kuno verzichten«, sagte er grimmig. »Aber er hat mich sowieso immer nur behindert.« Es war ein weiterer Wermutstropfen: Noch kein einziger der Solaner, die von den Vulnurern gebissen worden waren, hatte das Bewußtsein zurückerlangt. Niemand war an dem Lähmgift bisher gestorben, aber niemand zeigte Anzeichen einer Besserung. »Gehen wir!« sagte Hayes. Die vom Feuer beschienenen Gesichter der Männer und Frauen, die ihm folgten, waren ausdruckslos. Es war, als setzte sich eine Armee von Robotern mühsam in Bewegung. Hayes mußte aufpassen, daß er nicht auf erschöpft Daliegende trat, die sich aufrichteten und ihn nur ansahen. In ihren Blicken war keine Hoffnung mehr. Andere beteten leise. Eine Hand griff nach dem Bein des High Sideryt. Er blieb stehen
und sah in die fieberglänzenden Augen eines Mannes. »Meine Frau«, flüsterte der Unglückliche, »meine drei Kinder. Sie sind alle tot! Ich weiß, daß sie tot sind! Die Mächte des Universums haben uns gestraft!« Was sollte Hayes darauf erwidern? Er sah zur mächtigen Hantel der SOL auf, die sich wie ein stählernes Firmament über die Hügel wölbte, ein toter Gigant, in dem das Böse hauste. Und noch während er hinschaute, leuchtete es an einigen Stellen der Hülle schwach auf. »Das … das sind nicht die Lichter der Unterpagen!« rief Solania laut aus. »Das ist Energie! Wir bekommen unsere Energie zurück!« Sie schrie es. Noch während die Worte von der Schiffshülle und den Hängen zurückgeworfen wurden, erloschen die Lichter wieder. Aber es war wie ein Zeichen. Hayes begann zu rennen, die anderen hinter ihm her. Überall richteten Menschen sich auf und warteten auf ein weiteres Wunder. »Die SOL ist wieder erwacht«, hörte Hayes es von allen Seiten raunen. Und etwas zu früh, dachte er. Die Alternativ‐Toten sind jetzt gewarnt. Wir hätten schon drinnen sein müssen! »Schneller!« rief er den Gefährten zu. Links von den Solanern türmten die Vulnurer sich schon zu einer regelrechten Rampe auf, über die die ersten Insektoiden in eine der offenen Luken strömten. Die Solaner nahmen eine der von ihnen aus Erdreich und Holz gebildeten Rampen. Im dahinterliegenden Hangar fühlte Hayes, wie der Boden leicht vibrierte. Es war tatsächlich so, als erwachte ein schlafender Riese nach langer Zeit wieder. Bjo und Sternfeuer kamen hinter ihm herein. »Wo sind die Unterpagen jetzt?« fragte der High Sideryt schnell. »Und Borallu?« »Alle noch im Mittelteil«, antwortete Bjo. »Dann wißt ihr, was wir zu tun haben. Wir müssen mit allen
Mitteln verhindern, daß sie hier in die SZ‐1 einsickern. Gleichzeitig versuche ich, die SZ‐1 abzukoppeln, sobald die Energie reicht.« Das Hauptproblem war, in kurzer Zeit eine Nebenzentrale zu erreichen. Wie schwer es werden konnte, merkten die Solaner, als plötzlich die künstliche Schwerkraft für drei, vier Sekunden wieder einsetzte und sie von den Beinen und gegen die Wände riß, die in Wirklichkeit die Böden der Räume und Korridore waren. * Die Zentralebesatzung der MJAILAM hatte über die Telepathiebrücke die Warnung von Borallus Absicht erfahren. Außerdem waren neue Symbolfunksprüche aufgefangen und entschlüsselt worden, die im Zusammenhang mit dieser Warnung einen Sinn ergaben. Es handelte sich fast ausschließlich um Befehle an die Steuergehirne der restlichen vier Augen, auf ein Signal von Zerberus hin sofort bestimmte neue Positionen einzunehmen und das Neutralisierungsfeld bei einem geringeren Radius wieder zu stabilisieren. »Er ist wirklich am Ende seines Lateins«, knurrte Brick. »Er müßte doch wissen, daß wir seinen Funkverkehr inzwischen längst verstehen können.« »Je tiefer der Fall, desto lauter der Knall.« Atlan lächelte schwach. »Oder so ähnlich, ein altes Sprichwort der Terraner. Es soll heißen, eine Niederlage trifft denjenigen am härtesten, der sich haushoch überlegen und unverwundbar geglaubt hat. Wir fliegen weiter, gleiche Geschwindigkeit, gleicher Kurs.« Der Vorstoß der Kreuzer glich einem lange nicht mehr für möglich gehaltenen Siegeszug, obwohl der Sieg erst noch zu erringen war. Hellmut hatte von der zeitweisen Energieortung von der SOL berichtet, und Nockemann verfolgte mit zwei anderen Wissenschaftlern, wie sich die Aufrißlücke im Feld weiter
verbreiterte. »Sie reicht jetzt bis nach Zerberus«, erklärte er. »Wenn wir das Feld nur aus einer Richtung betrachteten, quasi als Scheibe, wäre die freie Zone wie ein Uhrzeiger, der vom Mittelpunkt des Planeten aus um ihn herumwandert. Ich kann fast sicher sagen, daß die SOL in etwa zehn Minuten für kurze Zeit in die Lücke gerät.« Tyari übermittelte es an die Telepathen. Hayes kam nur langsam voran, doch diese Nachricht ließ ihn alle Bedenken über Bord werfen und allen Hindernissen zum Trotz, tiefer als beabsichtigt in die SZ‐1 eindringen. »Wenn er es schafft, die Zelle abzukoppeln und zu starten, kommt er uns zu Hilfe«, sagte Tyari. »Die würden wir brauchen können«, meinte Nockemann. »Die Vulnurer werden erst in einer guten halben Stunde wieder energetisch frei. Mit ihrer Unterstützung können wir vorerst also nicht rechnen.« Atlan ballte die Fäuste. Die Bahn des fünften Planeten war überquert. Die Kreuzer befanden sich längst bereits innerhalb jener Zone, die der EMRADDIN um ein Haar zum Verhängnis geworden wäre. Sie war immer noch in Bewegung. Ein plötzliches, vorher nicht berechenbares Umschlagen der Verhältnisse hier konnte die Lücke sich schließen und an anderer Stelle neu entstehen lassen. Für die Kreuzer würde dies das Ende bedeuten, denn dann konnten die Steuergehirne und Unterpagen in den Augen ihre Waffen einsetzen. Fünf Minuten verstrichen, ohne daß sich die Befürchtungen erfüllten. Hayes hatte auf Zerberus offenbar fast eine Nebenzentrale erreicht. Die Telepathen beschränkten sich ansonsten darauf, das an Tyari weiterzuleiten, was sie von Borallu espern konnten. Und dann war es soweit. Die MJAILAM hatte sich dem vierten Planeten bis auf eine halbe Million Kilometer genähert. Eines der Augen war nur noch knapp dreihunderttausend Kilometer entfernt. »Das Signal!« rief Hellmut. »Ein einfacher binärer Kode an alle vier Stationen!«
Tyari bestätigte es fast gleichzeitig. Atlan nickte Brick zu, dann Kölsch, dessen Gesicht auf einem Bildschirm zu sehen war. Es bedurfte jetzt keiner Worte mehr. Alles war für diesen Augenblick ausführlich abgesprochen worden. Die EMRADDIN machte einen Sprung an die MJAILAM heran. Im nächsten Moment, kaum daß sich die vier Augen zu bewegen begannen, eröffneten beide Kreuzer das Punktfeuer auf das am nächsten stehende. Die Energiebahnen zuckten durch die Schwärze des Weltalls und fanden ihr Ziel. Es dauerte keine zehn Sekunden, bis Atlan wußte, daß der Beschuß die Schutzschirme nicht zu durchschlagen vermochte, die sich jetzt in allen Farben schillernd um die Gigantkugel zeigten. »Das ist einfach nicht möglich!« knurrte Brick. »Die Vulnurer haben keine stärkeren Waffen als wir, und sie hatten doch auf Anhieb Erfolg!« »Wir machen weiter.« Atlan dachte an die Voraussage der Positronik. Worauf gründete sie sich? Jetzt hatte er keine Zeit, danach zu fragen, und ein vager Verdacht kam ihm ohnehin schon. »Ihre Waffen sind nicht stärker, Uster, aber anders. Vielleicht besteht eine Art Verwandtschaft zwischen ihren Energien und Wirkungsprinzipien – und denen der Augen.« »Sie sollen eine ähnliche Taktik entwickelt haben?« »Auf jeden Fall kann das Auge Borallus Befehl nicht nachkommen.« Atlan wich einer direkten Antwort aus. »Es bleibt an der alten Position. Vermutlich muß sein Steuergehirn alle verfügbaren Energien in die Schutzschirme leiten. Wajsto?« »Ich höre!« antwortete Kölsch von der EMRADDIN. »Wir schießen auf den Parabolspiegel. Wenn wir die Schirme schon nicht durchschlagen können, verhindern wir vielleicht, daß die drei anderen Augen ihre Neutralisierungsstrahlung über den Spiegel auf uns lenken.« Es war ein Spiel mit vielen unbekannten Faktoren und vor allem mit der Zeit. Atlan las die Uhr ab. Gleich mußte die SOL sich
innerhalb der Feldlücke befinden. Die drei anderen Augen schoben sich über Zerberus noch näher zusammen und bildeten ein gleichseitiges Dreieck. Symbolsprüche wurden in immer schnellerer Folge gewechselt. Mit der Feuerkraft der SZ‐1 müßten wir den entscheidenden Vorteil erringen! dachte der Arkonide. »Strahlung!« meldete Nockemann. »Strahlungsschauer über dem ganzen Planeten! Die Lücke wird enger!« Und alles, was die Solaner tun konnten, war weiterzufeuern. Ein Zurück gab es nicht mehr. Jetzt mußten Minuten über ihr Schicksal entscheiden. Atlan konnte nur hoffen, daß Hayes noch die Nerven besaß, das Richtige zu tun. Und daß es überhaupt dazu kam. * Hayes war bereit, als die SZ‐1 endgültig wieder erwachte. Die so sehr vermißten Energien durchfluteten schlagartig die gesamte SOL. Hayes und ein gutes Dutzend seiner Leute hatten die Nebenzentrale eben noch rechtzeitig erreicht. Die abwechselnd einsetzende und wieder versiegende künstliche Schwerkraft hatte ihre Opfer gefordert. Es gab Knochenbrüche und Verstauchungen. Drei Solaner lagen ohne Bewußtsein in Korridoren, doch das mußte jetzt zurückgestellt werden. Hayes koppelte die SZ‐1 von der Rest SOL ab. Bjo berichtete, daß Borallu im Mittelteil zu toben begonnen hatte. Er und seine vier Unterpagen schossen auf alles, was ihnen nur vor die Waffenmündungen kam. Auch das mußte ignoriert werden, zumal die MJAILAM und EMRADDIN nach Auskunft der Telepathen arg in die Klemme geraten waren. Die Kunstschwerkraft blieb auf dem konstanten, normalen Wert und machte Böden wieder zu Böden, Wände zu Wänden und
Decken zu Decken. Überall funktionierten die Beleuchtung und die Kommunikationssysteme wieder. Lyta Kunduran nahm im Einvernehmen mit dem High Sideryt Kontakt zu SENECA auf und wies die Hyperinpotronik an, alle zur Verfügung stehenden Roboter gegen die Alternativ‐Toten einzusetzen. Außerdem sollte versucht werden, solange die Energie noch vorhanden war, Borallu und seine Helfer in Energiekäfigen gefangenzusetzen. Solania von Terra, Jessica Urlot und noch einige andere verließen die SZ‐1 auf schnellstem Wege wieder, um bereitzustehen, wenn die SZ‐2 und das SOL‐Mittelteil wieder eingenommen werden konnten. Samgo Artz, der junge Pilot mit den Mikropositroniken in den Armprothesen, startete die Kugelzelle. Langsam hob sich die SZ‐1 aus dem Tal, in dessen Boden sie zu einem Fünftel eingegraben gewesen war. Für die Erschöpften auf dem Hügelabhang bestand keine Gefahr. Hayes richtete über alle Außenlautsprecher den Appell an sie, sich jetzt noch einmal aufzuraffen und sich bereitzuhalten. Doch allein der Anblick der sich in den Himmel erhebenden Kugel wirkte auf sie wie Medizin für Körper und Geist. Dann stand der Hyperfunkkontakt mit der MJAILAM. Atlan war das Aufatmen nur anzusehen. Weder er noch Hayes hielten sich mit überflüssigen Floskeln auf. Atlans teilte mit, wie die SZ‐1 durch den enger werdenden Energiekorridor schnellstmöglich zu den Kreuzern stoßen konnte, und hielt die Solaner über die Bewegungen des Korridors auf dem laufenden. Die Flüche aus dem Hintergrund der MJAILAM‐Zentrale sagten mehr über die Lage der Kreuzer, als der Arkonide zugeben wollte. Die SZ‐1 wurde schneller und schneller und stieß schon in die oberen Schichten der Atmosphäre vor. Die Telepathen, vor allem Sternfeuer, ließen sich in Sessel fallen und schlossen die Augen. Erst jetzt, als sie nicht mehr unbedingt gebraucht wurden, forderten die fast übermenschlichen Anstrengungen der letzten Tage ihren Tribut.
Medo‐Roboter erschienen und gaben ihnen Injektionen. Die Kugelzelle erreichte den freien Weltraum. Ein plötzliches Hochgefühl ergriff Hayes und ließ ihn fast vergessen, daß das Verhängnis in Form eines geschlossenen Neutralisationsfeldes schon in der nächsten Minute wieder über das Schiff kommen konnte. »Der Korridor verengt sich schneller!« rief Lyta. »Breck, die Lücke wird gleich nicht mehr existieren!« Er sah die Strahlbahnen, die von den Kreuzern zum Auge hinüberschlugen, und nickte grimmig. »In Ordnung. Wir warten nicht, bis wir näher heran sind. Wir feuern mit allem, was wir dem Auge an zusätzlichen Energien in den Schutzschirm jagen können!« »Der Rest unserer SOL liegt jetzt wieder ohne Energie«, flüsterte Breiskoll, als die Geschütze in Aktion traten. »Die Lücke hat sich über Zerberus geschlossen. Borallu weiß, daß er verloren hat. Er konnte von SENECA nur für Minuten gefangen werden. Jetzt sind die Energiebarrieren natürlich wieder zusammengebrochen. Er sieht sein Heil nur noch in sinnloser Zerstörung, und falls es ihm gelingt, bis zum wehrlosen SENECA vorzudringen …« Bjo brauchte nicht zu sagen, was das bedeutete. »Die Lücke schließt sich gleich auch über uns!« rief Atlan von der MJAILAM. »Breck, wenn wir es zu dritt jetzt nicht schaffen, dann nie mehr!« Samgo Artz holte alles aus den Triebwerken heraus, das sie hergaben. Wie ein Phantom schoß die SZ‐1 an die Kreuzer und das Auge heran. Die schillernden Schutzschirme des Giganten färbten sich orange‐, und blutrot. »Es bilden sich Risse!« schrie Lyta. »Zurück, Samgo!« Es war fast zu spät. So sehr die Schutzschirme des Auges dem Beschuß der Solaner bisher widerstanden hatten, so schnell brachen sie jetzt auch zusammen. Die Strahlbahnen der Impuls‐, Thermo‐ und Desintegratorgeschütze schlugen überall in der Nähe seines
Pols in die Hülle des Auges. Die beiden Kreuzer und die SZ‐1 mußten mit Höchstwerten vor dem erwarteten Inferno fliehen – und dabei riskieren, wieder ins Neutralisierungsfeld einzutauchen. Als die Riesenstation explodierte, waren es die Schutzschirme der Solaner, die bis zum Äußersten belastet wurden. Der Glutball der neuen Atomsonne breitete sich bis in die Atmosphäre von Zerberus aus, zog sich wieder zusammen und verblaßte. »Das Feld existiert nicht mehr!« rief Lyta, als sich das Knistern und Kreischen in der Nebenzentrale gelegt hatte und die Bildschirme wieder klare Abbildungen lieferten. »Wir haben es tatsächlich geschafft!« Hayes ließ sich in den nächstbesten freien Sessel fallen und legte eine Hand vor die Augen. »Wenn ich ganz ehrlich sein soll«, sagte er leise, »dann habe ich nicht mehr daran geglaubt.« Dann erst wurde ihm klar, was es bedeutete. »Die SOL ist frei! Lyta, du mußt SENECA anfunken. Die Alternativ‐Toten dürfen keine Gelegenheit bekommen, sich des Mittelteils zu bemächtigen!« »Schon dabei. Aber was tun die Vulnurer jetzt?« Niemand vermochte es zu verhindern. Auch Atlans Appelle an die Insektoiden, mit ihren Schiffen nicht alle drei noch existierenden Augen zu vernichten, verhallten wie ungehört. Jetzt, wo die Augen offenbar keine akute Gefahr mehr darstellten, weil sie zu schwach waren, allein noch einmal ein Neutralisierungsfeld aufzubauen, wünschte er sich, wenigstens eines untersuchen zu können. Ihre phantastische Technik konnte nicht nur eine eventuelle Verwendung in der SOL finden, sondern auch wertvolle Hinweise auf ihre Erbauer geben. Die Vulnurerschiffe, wieder im Vollbesitz ihrer Energien, zerstrahlten sie eines nach dem anderen. Jetzt in größerem Sicherheitsabstand, brachten sie sich nicht mehr an den Rand der Selbstvernichtung. Nach zehn Minuten war alles vorbei. Hayes
verfolgte den einseitigen Kampf ungläubig und mußte unwillkürlich an drei wütende Hornissen denken, die sich auf einen wehrlosen Riesen stürzten. »Was hat sie so rasend gemacht?« fragte er. »Doch nicht allein, daß sie zwei Wochen lang zu einem qualvollen Dasein ohne Licht, Nahrung und Schwerkraft verurteilt waren?« Niemand wußte darauf eine Antwort, und auch als zwei Solaner einen der an Bord geströmten Vulnurer herbeischafften, konnte dieser nur sagen: »Vielleicht weiß Jacta es. Ich hätte auch gekämpft.« »Warum? Zum Teufel, ihr müßt doch einen Grund haben! Ihr seid keine Krieger!« Der Vulnurer schwieg. »Vergeßt das jetzt«, sagte Samgo Artz. »Ich warte auf Anweisungen.« Hayes nickte langsam. Er starrte gedankenversunken auf die Schirme, die dort, wo die sechs Augen gestanden hatten, nur noch den leeren Weltraum zeigten. Die GESTERN und MORGEN kehrten an ihren alten Platz im Orbit zurück, während die HEUTE, Jactas Schiff, sich langsam auf Zerberus herabsenkte. »Sie holen ihre Leute zurück«, sagte Hayes. »Du hast recht, Samgo. Laß uns landen. Es ist nur …« Er schlug die Fäuste gegeneinander und lehnte sich weit zurück. »Es ist ganz einfach zuviel auf einmal. Zuerst tut sich zwei Wochen lang gar nichts, und dann ist es innerhalb von Minuten vorbei.« Lyta Kunduran schüttelte den Kopf. »Es ist noch lange nicht vorüber, Breck. Zehntausende warten auf medizinische Versorgung und Nahrung. Was allerdings die Alternativ‐Toten betrifft, die hat SENECA in sicherem Gewahrsam.« »Und Borallu befiehlt seinen vier Unterpagen in diesem Augenblick über Funk, sich selbst zu zerstören!« rief Bjo aus. »Sie besitzen eine Selbstvernichtungsanlage! Sie … haben sich schon gezündet!«
»Und Borallu?« »SENECA«, sagte Lyta Kunduran, »hat ihn paralysieren lassen können. Er hat seine Gestalt gewechselt und sieht jetzt wieder wie ein Zyrtonier aus.« Zuviel! dachte Hayes. Aber wir sind noch einmal davongekommen. Er hielt sich den Kopf und lachte wie ein kleines Kind. 7. Sechs Tage später brachen die SOL und die drei Schiffe der Vulnurer aus dem Wespennest‐System auf – ihr gemeinsames Ziel: die mittlerweile planetenlose Sonne Junk. Die MJAILAM und EMRADDIN standen in ihren Hangars. Atlan und seine Leute hatten sich wieder in SOL‐City einquartiert, und alle Solaner, die das unfreiwillige Zerberus‐Abenteuer überstanden hatten, waren aus den Krankenstationen in ihre Kabinen oder zu ihren Betätigungsfeldern zurückgekehrt. Ob akute Unterernährung, ob Kreislaufkollaps, Nervenzusammenbruch oder Vergiftung, sie alle waren in den Medo‐Centern oder in Behelfslazaretten vollkommen wiederhergestellt worden. Auch diejenigen, die von den Vulnurern gelähmt gewesen waren, hatten keine Schäden davongetragen. Nockemann und Blödel war es innerhalb weniger Stunden gelungen, das Lähmgift zu analysieren und ein wirksames Gegenmittel herzustellen. Es herrschte Ruhe an Bord. Die Menschen waren etwas nachdenklicher geworden, was ihr blindes Vertrauen in ihre Supertechnik anging. Zwar hatten sie sich keine Vorwürfe zu machen, denn ein Leben ohne diese Technik hatten sie nie gekannt. Im Grunde war es als ein Triumph anzusehen, daß sie nur 248 Kameraden auf Zerberus hatten zurücklassen müssen – von denen die wenigsten die Opfer des Energieentzugs geworden waren.
Die weitaus meisten gingen auf Borallus Konto. Er hatte sie nicht selbst zu töten brauchen. Sein Ultimatum hatte genügt, um ihnen den Glauben an eine Zukunft zu nehmen – und damit ihren Lebenswillen. Nur drei Solaner waren lebend und freiwillig auf dem Planeten geblieben. Das Wespennest‐System lag längst schon weit hinter der SOL, als die Männer und Frauen in der Hauptzentrale mit ihren Gedanken noch immer bei den beklemmenden Ereignissen der hektischen letzten Tage waren. »Ole«, sagte Lyta Kunduran mit Hochachtung in der Stimme. »Der Extra ist nicht dazu gekommen, seine Rakete zu bauen – jedenfalls nicht die, die er sich vorstellte. Er hat viel mehr getan. Er hat zusammen mit Denise Tyllong und Kym Wilde das Wrack des Internschiffs hinter den Bergen bis auf die innere Zelle auseinandergenommen. Er hat aus ihr ein neues, kleineres Fluggerät gemacht, das aufgrund der höheren Treibstoffverdichtung und dem viel geringeren Gewicht mit den vorhandenen Treibstoffresten als Gleiter fliegen konnte.« Bjo nickte beeindruckt. »Ole litt, solange er auf der SOL war, unter dem Gedanken, sein eigenes Volk im Stich gelassen zu haben, kurz bevor es sich in einem Atomkrieg selbst auslöschte. Er wartete immer auf eine Chance, sich zu rehabilitieren. Jetzt kann er hoffen, einem anderen Volk eine neue Zukunft gegeben zu haben.« Wovon die Rede war – Ole, seine Freunde und eine Handvoll der gestrandeten Zyrvulner hatten ein zweites Wrack finden können, viele Kilometer entfernt mitten im unwegsamen Gebirge. Sie hatten dort weitere Überlebende aufgespürt, und was am wichtigsten war, eine der ursprünglich acht Königinnen des mutierten Insektenvolks. Ohne diese eine und, wie sie selbst sagte, einzige noch lebende Königin wären die Zyrvulner zum Aussterben verurteilt gewesen. Sie hatten inzwischen eine Reihe von natürlichen Hohlräumen im
Felsengebirge mit Wrackteilen und Körpersekret zu Wohnstätten gemacht und wußten auch, wie und wovon sie sich auf diesem Planeten zu ernähren hatten. Ole und seine Freunde hatten es möglich gemacht, daß ein uralter Traum der Zyrvulner in Erfüllung ging: das unerfüllte, meist schlafend geführte Dasein in Borallus Augen gegen ein Leben einzutauschen, wie es vielleicht ihre Vorfahren einmal geführt hatten. »Ole, Kym und Denise bleiben bei ihnen«, sagte Lyta. »Die Zyrvulner werden von ihnen lernen, und umgekehrt sie von den Zyrvulnern.« Sie lächelte. »Und vielleicht würden wir, kehrten wir nach hundert Jahren einmal zurück, eine kleine Menschensiedlung auf Zerberus vorfinden.« »Hmm«, machte Hayes nach einer Weile. Er sah Atlan an, dann Tyari, schließlich Nockemann und Blödel. Der Rest des Atlan‐Teams hielt sich in SOL‐City auf, und die Stabsspezialisten und andere Besatzungsmitglieder in der Zentrale saßen vor ihren Instrumenten und lauschten den Geräuschen des Schiffes, als hörten sie eine Sinfonie. »Hmm. Was ich nun langsam wirklich wissen möchte, ist, wer diese Zyrvulner überhaupt sind – oder waren. Der einzige, der es wahrscheinlich weiß, schweigt eisern.« Borallu befand sich in der Nähe der Zentrale in einer Kabine, die mit Energieschirmen mehrfach abgesichert war. Er hatte nach seiner Gefangennahme weder etwas zu sich genommen, noch ein einziges Wort gesprochen. Alle Bemühungen der Telepathen, mehr als das schon Bekannte aus ihm herauszubringen, endeten vor einer Barriere im Bewußtsein des Alternativ‐Toten. Man wußte, daß er und die Unterpagen vor rund vierzigtausend Jahren die Augen gebaut hatten, und kannte seinen Auftrag, den er aus der Namenlosen Zone erhalten hatte. Man wußte, wie er erwacht war und was er danach getan hatte, daß er sich als eine Art Ur‐Zyrtonier verstand und bis zuletzt alles darangesetzt hatte, in die Namenlose Zone zu gelangen. Jetzt, ohne seine Augen, war ihm das nicht mehr
möglich. Atlan fragte sich, ob der Mutant und Wissenschaftler nicht doch noch einen anderen Weg in die Namenlose Zone kannte – vielleicht hinter der Erinnerungsblockade verborgen. »Zyrvulner«, sagte Tyari gedehnt. »Niemand hat bisher darüber gesprochen, aber diese Namensähnlichkeit ist euch doch allen aufgefallen, oder? Die erste Silbe ist identisch mit der Anfangssilbe des Wortes Zyrtonier, die zweite Anfangssilbe von ›Vulnurer‹. Ist das Zufall? Oder steckt tatsächlich etwas dahinter?« Es war ein Rätsel von vielen, die auch das Verhalten der Vulnurer den Solanern aufgab. Nach der Landung der HEUTE und der SZ‐1 auf Zerberus waren lange Gespräche zwischen Jacta und Hayes und Atlan geführt worden. Man hatte sich gegenseitig für die Hilfeleistung bedankt, die der eine dem anderen gegeben hatte – aber um diese Fragen herumgeredet. Atlan hoffte im Stillen immer noch, daß Jacta nur auf einen geeigneten Zeitpunkt wartete, um ihr Schweigen zu brechen – falls sie überhaupt etwas wußte. Hayes seufzte. »Also begeistern wir uns weiter an unserer wunderschönen SOL und warten darauf, daß wir Junk erreichen. Jetzt interessiert mich nur noch eines. Wie ist Blödel aus dem Hauptauge entkommen, bevor es aus dem Universum geschleudert wurde? Uster wurde ja von seiner Antwort fast umgehauen, aber ich scheine wieder einmal der letzte zu sein, der von so etwas erfährt.« Blödel machte einen Schritt vor. Seine Arme bogen sich in die Höhe. »Aber das ist ganz einfach, Breckcrown«, plärrte er. »Als Borallu auf Zerberus merkte, was mit seinem Auge los war, aktivierte er es per Fernbefehl. Er machte also rückgängig, was ich vorher mit dem Ultimaten Abschaltbefehl tat. Ich hoffte darauf, daß er das konnte, als ich im Internboot im Hangar saß, aber natürlich das Schott nicht aufbekam.«
»Du hofftest darauf?« »Natürlich, nachdem ich ihn angefunkt und ihm gesagt hatte, daß ich Krejulla wäre, sein Unterpage, und daß ich Energie brauchte, um mich zu retten.« Hayesʹ Kiefer klappte nach unten. »Nein, mein Freund«, sagte er dann. »Du legst mich nicht rein. So etwas machst nicht einmal du.« »Aber doch, Breckcrown. Ich kannte den Schlüssel der Symbolfunkgespräche und machte einmal das Umgekehrte. Ich verwandelte meine Worte in Symbolsprüche, und da diese bekanntlich keine Stimme haben, mußte Borallu glauben, daß Krejulla ihn rief. Er glaubte es ganz bestimmt, denn er aktivierte das Auge ja wieder und gab mir die Möglichkeit, in letzter Sekunde das Schott zu öffnen und das Boot zu starten.« Hayes starrte ihn an wie einen Geist, schüttelte den Kopf und wiederholte: »Du legst mich nicht rein, Blödel. Das kann dir glauben, wer will, ich nicht.« Atlan lächelte schwach. Auch er mochte keine Wette darauf abschließen, ob Blödel nun Märchen erfand oder nicht. Doch es ließ ihn für Minuten die Fragen und Gedanken vergessen, die sich ihm wieder aufdrängten. Er hatte sich mit dem abgefunden, was an neuen Realitäten entstanden war, und über seine Niedergeschlagenheit zu neuem Willen gefunden, weiter nach Wegen in die Namenlose Zone zu suchen. Die Solaner standen nicht mehr so gegen ihn, wie noch vor Wochen. Die gemeinsame Not auf Zerberus hatte sie alle wieder zusammengeschweißt. Nicht wenige feierten Atlan als ihren Retter. Er nahm Tyaris Arm, entschlossen, die Stunden bis zum Erreichen des Junk‐Trümmersystems mit ihr allein zu verbringen. »Geht nur«, sagte Hayes. »Ihr seid nicht das einzige Liebespaar auf der SOL.« »So?« fragte Tyari. »Wer denn noch?«
»Oh, einige hundert. Vielleicht einige tausend, aber es gibt eines, von dem das ganze Schiff spricht. Besser gesagt, über das es lacht.« »Kennen wir die beiden?« Hayes grinste zum erstenmal seit langem wieder. »Entfernt vielleicht. Er heißt Waltman Bryck, und sie Miami McDougall …« »Du willst doch nicht sagen, unser Rittersmann und diese Drahtbürste? Die sich nur immer beschimpft haben?« »Genau die. Und ich …« Hayes wurde vom Summen des Interkoms unterbrochen. Sternfeuers Gesicht erschien auf dem Schirm. Jeder in der Zentrale wußte, daß sie zur Zeit an der Reihe war, Borallu zu überwachen. Atlan vergaß die trauten Stunden. Hayes wurde schlagartig ernst. »Borallu ist bereit zu reden«, sagte Sternfeuer. »Kommt ihr her, oder …?« Hayes sprang auf. »Wir sind schon unterwegs!« * Borallu stand in der Gestalt des Zyrtoniers vor dem High Sideryt, Atlan, Nockemann, Blödel und den vier Telepathen. Die Energieschirme waren abgeschaltet, würden aber bei der geringsten Gefahr wieder stehen. Für alle Fälle hielt Hayes einen Paralysator auf den Unheimlichen gerichtet. »Ich habe verloren«, sagte Borallu. »Ich habe versagt, und ich weiß jetzt, daß ich einer stärkeren Kraft unterlegen bin.« »Stärkere Kraft?« fragte Atlan. Borallu ging nicht auf die Frage ein. »Vor vierzigtausend Jahren entwarfen mein Team und ich die Pläne für die sechs Augen. Wir glaubten, daß sie ultimate Waffen sein würden. Mein ganzes Volk beteiligte sich direkt oder indirekt
an ihrem Bau. Die letzten, die durch Strahlungen mutierten, wurden getötet. Wenige konnten sich an Bord eines Auges verstecken. Ihre weitermutierten Nachkommen habt ihr in den Zyrvulnern gesehen.« »Es gab noch andere«, warf Blödel ein. »Wilde Mutationen. Sie haben sich im Kampf gegen Krejulla geopfert.« Borallu drehte sich zu ihm um. »Sie zählten nie«, sagte er dumpf. »Ich rede von den anderen, die genetisch stark genug waren, um sich zwar zu verändern, aber untereinander gleich und sogar fortpflanzungsfähig blieben. Sie wurden zu einem neuen Volk. Ich sehe jetzt ein, daß es ein noch größerer Fehler des Steuergehirns war, sie ins Verderben zu schicken, als ich bisher glaubte.« »Die Geschichte ist uns bekannt«, sagte Hayes ungeduldig. »Außerdem werden sie sich wieder vermehren und besser und glücklicher leben als in einer Station wie deinem Auge.« Er winkte mit dem Paralysator. »Wir wollen wissen, wer sie wirklich waren, und wer du wirklich bist, Borallu.« Borallu drehte sich zu ihm zurück. »Das eine hat mit dem anderen zu tun«, sagte er langsam. »Einige von euch können die Gedanken anderer Wesen erfassen. Sie wissen also auch, daß ich eine dritte Form annehmen kann. Wenn ich das tue, gibt es keine Rückverwandlung in eine meiner beiden anderen Gestalten mehr.« Und? dachte Atlan. Er ahnte, daß etwas Entscheidendes auf ihn zukam. Borallu hatte resigniert. »Ich kenne die dritte Gestalt selbst noch nicht. Ich weiß nur, daß sie genetisch an mein Originalbild, also das eines Zyrtoniers, gebunden ist. Vielleicht ist es die gleiche genetische Bindung wie bei den Zyrvulnern, wo sie Schritt für Schritt wirksam wird.« Er schob sich bis an die Wand zurück. »Paßt auf!« sagte Tyari. »Er wird sich verwandeln!« Borallus Umrisse verschwammen. Er wurde zu einem Vulnurer.
ENDE Im nächsten Atlan‐Band blenden wir wieder um in die Namenlose Zone. Haupthandlungsträger ist Chybrain, der »Sohn« von Atlans Extrasinn. Chybrains Kämpfe auf dem Weg zu den Zyrtoniern werden von Peter Griese geschildert. Der Autor nennt seinen Roman DUELL DER UNERBITTLICHEN.