Der Buddhismus ist nicht etwas, woran man »glauben« muß, sondern eine praktische Anleitung zu einem achtsameren und mit...
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Der Buddhismus ist nicht etwas, woran man »glauben« muß, sondern eine praktische Anleitung zu einem achtsameren und mitfühlenderen Denken und Handeln, welches uns erlaubt, authentischer im Hier und Jetzt zu leben. Dazu ist kein Bezug auf »überweltliche Wahrheiten« nötig, kein Glaube an einen Gott oder ein Jenseits, ja nicht einmal der Glaube an Wiedergeburt und andere Kategorien der fernöstlichen Religionen, die nicht zum Kern des Buddhismus, sondern zu seinem kulturellen Überbau gehören. Für den modernen Buddhisten unserer Zeit genügt es, wenn er – der Forderung des Buddha selbst entsprechend – nur das zur Leitlinie seiner Lebenspraxis macht, was er durch eigene Erfahrung als wahr erkennen und bestätigen kann. In kurzen Kapiteln zu zentralen Themen des Buddhismus (Erwachen, Leiden, Tod, Wiedergeburt, Integrität, Freundschaft usw.) entwickelt der Autor eine westliche Neuinterpretation buddhistischer Praxis, welche die Lehre des Buddha, des »Erwachten«, von kulturellem und religiösem Ballast befreit, der ihr im Laufe ihrer 2500jährigen Entwicklung in Asien aufgebürdet wurde. Er stützt seine Erläuterungen ab mit grund-legenden Meditationsübungen, die die buddhistischen Lehren erfahrbar machen. Stephen Batchelor, geboren in Schottland, erhielt eine gründliche buddhistische Schulung in Klöstern in Indien (Theravada), der Schweiz (tibetischer Buddhismus) und Korea (Zen). Er lebt heute mit seiner Frau in einer keiner »religiösen« Tradition des Buddhismus verpflichteten buddhistischen Gemeinschaft in England. Er verfaßte mehrere Bücher über den Buddhismus und übersetzte grundlegende buddhistische Texte aus dem Sanskrit und dem Tibetischen. Auf deutsch erschienen von ihm bisher: >Der große Tibet-Führer< und >Mit anderen allein<.
Stephen Batchelor
Buddhismus für Ungläubige Aus dem Amerikanischen von Jochen Eggert
PDF-Version: Diotallevi
Spirit Herausgegeben von Stephan Schuhmacher
9. Auflage: Januar 2003 Deutsche Erstausgabe Veröffentlicht im Fischer Taschenbuch Verlag , ein Unternehmen der S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main, September 1998
Die amerikanische Originalausgabe erschien 1997 unter dem Titel "Buddhism Without Beliefs" im Verlag Riverhead Books, New York Copyright © by Stephen Batchelor and the Buddhist Ray, Inc. 1997 Published by arrangement with Riverhead Books of the Putnam Berkley Group, Inc. Für die deutsche Ausgabe © Fischer Taschenbuch Verlag GmbH, Frankfurt am Main 1998 Satz: Fotosatz Otto Gutfreund GmbH, Darmstadt Druck und Bindung: Clausen & Bosse, Leck Printed in Germany ISBN 3-596-14026-9
Im Gedenken an Osbert Moore (Nānamoli Thera) 1905-1960 und Harald Musson (Nānavira Thera) 1920-1965
Inhalt Vorwort Grundlage
Erwachen Agnostizismus Angst Tod Wiedergeburt Entschluß Redlichkeit Freundschaft
Pfad
Bewußtsein Werden Leere Mitfühlen
Frucht
Freiheit Imagination Kultur Quellen und Anmerkungen
Stephen Batchelor: Buddhismus für Ungläubige
Kaiser Wu von Liang fragte den großen Meister Bodhidharma: »Was ist der höchste Sinn der heiligen Wahrheit?« Bodhidharma sagte: »Leer, nichts Heiliges.« Der Kaiser fragte: »Wer ist das mir gegenüber?« Bodhidharma sagte: »Ich weiß es nicht.« Biyanlu (»Niederschrift von der Smaragdenen Felswand«)
Wir empfangen die Wahrheit nicht, wir müssen sie für uns selbst entdecken nach einer Reise durch die Wildnis, die niemand an unserer statt antreten, die niemand uns ersparen kann, denn unsere Weisheit ist der Standpunkt, von dem aus wir schließlich die Welt betrachten. Marcel Proust
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Stephen Batchelor: Buddhismus für Ungläubige
Vorwort Ich habe ein Buch über den Buddhismus zu schreiben versucht, das sich der normalen Sprache bedient und ohne fremdsprachliche Wörter, ohne Fachausdrücke, Listen und Jargon auskommt. Die einzige Ausnahme ist der Begriff »Dharma«, für den ich keine treffende Entsprechung finde. Der Begriff »Dharma« bezeichnet ganz allgemein gesprochen die Lehren des Buddha, und »Dharma-Praxis« ist die Lebensweise eines Menschen, der sich von diesen Lehren angesprochen fühlt und ihnen folgen möchte. Danken möchte ich vor allem Helen Tworkov und Lorraine Kisly, die mich zu diesem Buch überredet haben. Lorraine hat das Projekt außerdem redaktionell begleitet, was dazu führte, daß das Ziel immer deutlich sichtbar blieb und mein Hang zu Abschweifungen gezügelt wurde. Ebenso danke ich auch Mary South, meiner Verlagslektorin, die für die Schlußredaktion des Manuskripts sorgte. _______________________________________________________________ 2
Stephen Batchelor: Buddhismus für Ungläubige
Dank schließlich an den Sharpham Trust in Devon (England) und das Buddhist Retreat Center in Ixopo (Südafrika), wo ich in schöner ländlicher Umgebung an diesem Text arbeiten konnte; und an meine Frau, Martine, auf deren Rückhalt ich mich während der Arbeit jederzeit verlassen konnte.
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Stephen Batchelor: Buddhismus für Ungläubige
Grundlage Gebt euch nicht zufrieden mit Gehörtem oder mit Tradition oder mit überlieferten Legenden oder mit dem in alten Schriften Gesagten oder mit Mutmaßungen oder mit Schlußfolgerungen oder mit dem Abwägen des Augenscheinlichen oder mit dem Hinneigen zu einer Anschauung nach reiflicher Überlegung oder mit eines anderen Fähigkeiten oder mit dem Gedanken »Dieser Mönch ist unser Lehrer«. Wenn ihr für euch selbst wißt: »Diese Dinge sind zum Heil, ohne Makel, von den Weisen gutgeheißen, und wenn man sie annimmt und anwendet, führen sie zu Wohlergehen und Glück«, dann solltet ihr sie üben und bei ihnen bleiben... Der Buddha Kalama-Sutta
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Stephen Batchelor: Buddhismus für Ungläubige
Erwachen Solange mein Blick noch nicht ganz klar war, was die vier adelnden Wahrheiten angeht, behauptete ich nicht, das echte Erwachen verwirklicht zu haben. Der Buddha
Gehen wir an den Anfang zurück, zum Erwachen des Buddha Siddhārta Gautama, den man auch als den Tathāgata, als Shākyamuni, als den Weltverehrten kennt. Er war es, der das Rad des Dharma erstmals andrehte. Er legte den Mittleren Weg dar. Die Fußspuren, die wir finden, wenn wir den Weg bis zu seinem Ursprung zurückverfolgen, sind seine. Beginnen wir mit seiner ersten Lehrrede im Hirschpark von Sārnāth bei Benares, dessen Zuhörer seine fünf früheren Asketen-Gefährten waren. Das war einige Wochen nach seinem Erwachen, und in der Zwischenzeit hatte er mit sich gerungen, ob er überhaupt etwas sagen solle. Doch dann hatte seine Barmher_______________________________________________________________ 5
Stephen Batchelor: Buddhismus für Ungläubige
zigkeit sich durchgesetzt, und er beschloß, sich der Leiden anderer anzunehmen. Er tauchte ins trügerische Meer der Worte ein und »setzte das Rad des Dharma in Bewegung«. Diese kurze Darlegung läßt sich folgendermaßen zusammenfassen: Der Buddha erklärt, wie er den Mittleren Weg fand, indem er die Extreme des üppigen Wohllebens und der Kasteiung mied. Dann zeigt er vier adelnde Wahrheiten auf: die der Angst*, ihres Ur___________________________ *Der Pali-Terminus dukkha wird u.a. mit »Leiden« übersetzt; er hat jedoch so viele Konnotationen, daß diese unmöglich durch einen einzigen deutschen Begriff wiederzugeben sind. Batchelor verwendet in der englischen Originalausgabe mit Bedacht nicht die übliche englische Übersetzung »suffering«, sondern übersetzt dukkha meist mit anguish (siehe auch »Quellen und Anmerkungen«, S. 135). In Absprache mit dem Autor wurde die deutsche Übertragung »Angst« gewählt, nicht nur weil sie die gleiche Wurzel hat wie anguish (also »Enge«, »Bedrückung«, »Not« anklingen läßt), sondern auch weil sie den für dukkha wichtigen Aspekt der existentiellen Angst betont, welche aus dem »Begehren« entsteht. Auch wenn »Angst« ebenso wie »Leiden« nicht alle Aspekte von dukkha abzudecken vermag, erlaubt dieser Terminus jedoch, eine wesentliche Dimension von dukkha ganz neu zu verstehen. (A.d.R.) _______________________________________________________________ 6
Stephen Batchelor: Buddhismus für Ungläubige
sprungs, ihres Aufhörens und des Weges, der zu ihrem Aufhören führt. Die Angst, so sagt er, muß verstanden werden, von ihrem Ursprung muß abgelassen werden, ihr Aufhören muß verwirklicht werden, und der Weg muß geübt werden. Eben das hat er selbst getan: Er hat die Angst verstanden, er hat von ihrem Ursprung abgelassen, er hat ihr Aufhören verwirklicht und den Weg geübt. Nur aufgrund der Einsicht in diese Wahrheiten und des Wissens, wie man ihnen entsprechend handelt, und schließlich des Wissens, so gehandelt zu haben, kann er behaupten, zu »echtem Erwachen« gekommen zu sein. So knapp und nüchtern der Buddha dies auch darlegte, sein Erwachen ist (sogar für Buddhisten) doch etwas ganz anderes geworden – eine mystische Erfahrung, ein Augenblick transzendenter Wahrheitsoffenbarung. Religiöse Deutung führt stets dazu, daß das Vielschichtige auf etwas Einfaches reduziert und die schlichte Faktenlage zu etwas Heili_______________________________________________________________ 7
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gem erhoben wird. Im Laufe der Zeit wurde immer mehr Gewicht auf diese oder jene einzelne absolute Wahrheit gelegt – etwa »das Todlose«, »das Nichtbedingte«, »die Leere«, »Nirvāna«, »Buddha-Wesen« –, während die innige Verflochtenheit der Wahrheiten etwas in Vergessenheit geriet. Und das entscheidende Kennzeichen der vier Wahrheiten, nämlich daß jede ein ganz bestimmtes Handeln verlangt (die Angst verstehen, von ihrem Ursprung ablassen, ihr Aufhören verwirklichen und den Weg üben), geriet in den Randbereich einer eher scholastischen Beschäftigung mit dem Thema. Heute sind sich vermutlich nur noch wenige Buddhisten dieses Kennzeichens überhaupt bewußt. Aber wo es nicht gesehen wird, da verwandeln sich die vier adelnden Weisheiten, nach denen zu handeln ist, angenehmerweise in vier Faktenaussagen, die geglaubt werden sollen. Die erste Wahrheit wird: »Das Leben ist Leiden»; die zweite: »Die Ursache des Leidens ist das Begehren« – und so weiter. Genau _______________________________________________________________ 8
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das ist der Punkt, an dem Buddhismus eine Religion wird. Ein Buddhist ist dann jemand, der diese vier Aussagen glaubt. Vier zum Handeln auffordernde Wahrheiten zu vier Aussagen mit Wahrheitsanspruch eingeebnet – und nur noch durch den Inhalt dieser Aussagen unterscheidet sich der Buddhist von Christen, Muslimen und Hindus, die an andere Aussagen glauben. Die vier adelnden Wahrheiten sind die Hauptdogmen eines Glaubenssystems namens »Buddhismus« geworden. Der Buddha war kein Mystiker. Sein Erwachen war keine alles bis in die Grundfesten erschütternde Einsicht in eine transzendente Wahrheit, die ihm die Mysterien Gottes offenbarte. Er maßte sich keine Erfahrung an, durch die ihm ein exklusives esoterisches Wissen um das wirkliche Funktionieren des Universums zuwuchs. Erst als der Buddhismus mehr und mehr zur Religion wurde, rankten sich immer mehr solcher großartigen Behauptungen um die schlichte Tatsache sei_______________________________________________________________ 9
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nes Erwachens. Als er den fünf Asketen beschrieb, was dieses Erwachen bedeutete, sagte er nur, er sei in Herz und Geist vollkommen frei von den Zwängen des Begehrens geworden. Und diese Freiheit bezeichnete er als den Geschmack des Dharma. Der Buddha erwachte aus dem Schlaf der existentiellen Verwirrung. Diese Erfahrung war so erschütternd und unerwartet, daß er zunächst annahm, niemand werde ihn verstehen, wenn er sich darüber äußerte. Jemand, der schläft, ist entweder gänzlich ohne Bewußtsein oder traumverloren. So muß der Buddha sowohl sein eigenes früheres Leben als auch das aller Menschen, die er kannte, gesehen haben: Sie waren entweder gänzlich blind für die Fragen des Daseins oder flüchteten sich vor ihnen in metaphysische oder religiöse Phantasien. Sein Erwachen machte jedoch sowohl die Fragen als auch die Lösungen auf sehr eindringliche und unerwartete Weise sichtbar. _______________________________________________________________ 10
Stephen Batchelor: Buddhismus für Ungläubige
Durch sein Erwachen gewann der Buddha Einblick in die Natur des menschlichen Dilemmas und fand den Weg zu seiner Auflösung. Die ersten beiden Wahrheiten (die der Angst und ihrer Ursprünge) schildern das Dilemma, die dritte und vierte (das Aufhören und der Weg) seine Auflösung. Aus der Unmittelbarkeit der Erfahrung hier und jetzt erschlossen sich ihm vier miteinander verknüpfte Wahrheiten. Der Buddha erlebte diese Wahrheiten als »adelnd«. Das Erwachen war nicht einfach das Einnehmen eines erleuchteteren Standpunkts. Es verlieh seinem Leben eine natürliche Integrität, Würde und Autorität. Als er einige Zeit vor seinem Erwachen dem Asketendasein abschwor, hatten seine fünf ehemaligen Gefährten sich vorgenommen, ihm keine Beachtung mehr zu schenken. Als er dann aber im Hirschpark von Sārnāth auf sie zukam, erhoben sie sich unwillkürlich und gegen ihren Entschluß, um ihn achtungsvoll zu empfangen. Gautamas Präsenz hatte _______________________________________________________________ 11
Stephen Batchelor: Buddhismus für Ungläubige
etwas Zwingendes, dem sie nicht widerstehen konnten. Ein unerwecktes Dasein, in dem wir ohne viel Bewußtsein auf einer Woge von Gewohnheitsimpulsen dahintreiben, ist ohne Adel und Würde. Natürliche, keinerlei Zwang ausübende Autorität fehlt hier, und wir zwingen anderen unseren Willen auf, indem wir sie manipulieren oder einschüchtern oder uns auf »Autoritäten« und »Mächtige« berufen. Autorität hat hier mehr mit Durchsetzungs- als mit Überzeugungskraft zu tun. Der Buddha trat nicht als Heiland auf, sondern sah sich als Heiler. Er stellte seine Wahrheiten als eine Art medizinische Diagnose und Prognose zusammen mit einem entsprechenden Behandlungsplan dar. Wenn du Schmerz in der Brust empfindest, mußt du ihn zunächst einmal zur Kenntnis nehmen. Dann gehst du zu einem Arzt und läßt dich untersuchen. Seine Diagnose wird die Ursache des Schmerzes benennen und zugleich eine Aussage über _______________________________________________________________ 12
Stephen Batchelor: Buddhismus für Ungläubige
die Heilbarkeit enthalten. Liegt eine heilbare Krankheit vor, wird er eine Behandlung anraten. So nahm der Buddha zunächst einmal die existentielle Bedingung der Angst zur Kenntnis. Durch Untersuchung fand er heraus, daß ihre Ursache in selbstsüchtigem Begehren liegt. Er sah, daß diese Ursache bereinigt werden kann, und verschrieb eine alle Aspekte menschlicher Erfahrung umfassende Lebensweise als die einzig wirksame Behandlung. Das Wort »Buddhismus« läßt uns an ein Glaubenssystem unter anderen denken, aber »Dharma-Praxis« impliziert eindeutig ein bestimmtes Handeln. Die vier adelnden Wahrheiten sind keine Glaubenssätze, sondern Aufforderung zum Handeln. In Alice im Wunderland gibt es eine Stelle, wo Alice in ein Zimmer kommt und eine Flasche mit der Aufschrift »Trink mich« vorfindet. Die Aufschrift verrät ihr nicht, was in der Flasche ist, sondern sagt ihr nur, was sie _______________________________________________________________ 13
Stephen Batchelor: Buddhismus für Ungläubige
tun soll. Als der Buddha seine vier Wahrheiten eröffnete, sagte er zuallererst, was jede einzelne beinhaltete, und dann forderte er die Zuhörer auf, nach ihnen zu handeln. Sobald wir erfassen, was er mit »Angst« meint, sind wir aufgerufen, zu verstehen – als stünde »Versteh mich« darauf. Die Wahrheit der Angst wird dann eine Handlungsanweisung. Der erste Wahrheit stellt unsere übliche Einstellung gegenüber der Angst in Frage – im weiteren Sinne auch unsere Haltung gegenüber dem Dasein selbst: Geburt, Krankheit, Alter und Tod. Inwieweit meiden wir das Verständnis dieser Realitäten und ihrer Implikationen? Wieviel Zeit ist einfach mit Ablenkung oder Vergessen angefüllt? Wenn uns etwas bekümmert – was tun wir dann? Vielleicht kämpfen wir dagegen an und versuchen es abzuschütteln. Oder wir versuchen uns einzureden, daß die Dinge nicht so sind, wie sie zu sein scheinen, um uns dann, wenn das nicht hilft, mit etwas anderem zu beschäftigen. Wie oft widmen wir uns diesem Kümmernis _______________________________________________________________ 14
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wirklich, wie oft nehmen wir unsere Situation an und bemühen uns um Verständnis? Die Angst behält ihre Macht über uns nur so lange, wie wir uns von ihr einschüchtern lassen. Aber wir haben uns angewöhnt, sie als furchtbar und bedrohlich zu empfinden, und so entgeht uns die vom Buddha angebrachte Aufschrift: »Versteh mich«. Wenn wir in der Brandung einem sich über uns auftürmenden Brecher zu entkommen versuchen, wird er uns unsanft in den Sand schleudern. Aber wenn wir uns ihm zuwenden und ihn durchtauchen, erleben wir nur Wasser. Etwas Beklemmendes verstehen heißt, daß wir es gefaßt und klar als das erkennen, was es ist: vorübergehend, durch die Umstände bedingt und ohne eigene Identität. Es mißverstehen heißt dagegen, daß wir es zu einem Etwas machen, zu einer feststehenden, gesonderten, eigenständigen Realität. Die Sorge beispielsweise, ob ein bestimmter Freund uns noch mag, wird ein gesondert dastehendes Ding und bleibt nicht das, was es eigentlich _______________________________________________________________ 15
Stephen Batchelor: Buddhismus für Ungläubige
ist: Teil eines Stroms mehr oder minder zufälliger Bedingungen. In dieser Form löst die Sorge dann eine innere Blockade aus, wir bleiben an diesem Gedanken hängen und können nicht weiter. Und je länger dieser Zustand anhält, desto handlungsunfähiger werden wir. Die erste Wahrheit fordert uns auf zu handeln, bevor eingefahrene Reaktionen uns blockieren. Ähnlich lassen sich die übrigen Wahrheiten betrachten. Wie die Angst uns eine Gelegenheit zum Verstehen gibt, kann das Begehren uns ein Anlaß zum Loslassen werden. Dieses Begehren hat viele Gesichter; es zeigt sich als schlichter Egoismus und Eigennutz, als dieses tiefsitzende, angstvolle Verlangen nach Sicherheit, als Angst vor Ablehnung durch Menschen, die uns lieb sind, oder auch einfach als das zwanghafte Verlangen nach einer Zigarette. Wo solch ein Gefühl aufkommt, geben wir ihm entweder nach oder leugnen es. Und das macht uns wieder blind für die Worte, die _______________________________________________________________ 16
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der Buddha solchen Gefühlen aufprägte: »Laß los.« »Loslassen« ist keine beschönigende Formel für das Abwürgen des Begehrens. Es beginnt, wie bei der ersten Wahrheit, mit dem Verstehen: ein gefaßtes und klares Zur-KenntnisNehmen dessen, was geschieht. Wenn das Begehren (zweite Wahrheit) Ursprung oder Ursache der Angst (erste Wahrheit) ist, heißt das nicht, daß es zwei verschiedene Dinge wären – so wenig, wie der Keim etwas anderes ist als die Narzisse, die aus ihm wird. Wie das Begehren sich zu Angst verfestigt, so erblüht das Verstehen zum Loslassen. Von einem Begehren loslassen heißt nicht, daß man es zurückweist, sondern daß man es sein läßt, was es ist: ein mehr oder weniger zufälliger Geisteszustand, der auch wieder vergeht. Wenn es aber seine Natur ist, sich in diesem Sinne selbst zu »befreien«, weshalb sollten wir uns dann gewaltsam von ihm befreien? Loslassen von einem Verlangen heißt einfach, daß wir uns nicht mit ihm identi_______________________________________________________________ 17
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fizieren, denn solange wir das tun, klammern wir uns daran, und dann ist es kein vorübergehender Geisteszustand mehr, sondern ein Zwang, der uns im Griff hat. Ähnlich wie beim Verstehen der Angst kommt es also beim Loslassen vom Begehren darauf an zu handeln, bevor die gewohnten Reaktionsmuster uns blockieren. Wenn wir das Begehren loslassen, wird es schließlich aufhören. In diesem Aufhören erleben wir, wenn auch vielleicht nur für einen Augenblick, die Freiheit, Offenheit und Leichtigkeit des »Mittleren Weges«. Die plötzliche Lücke im Strom selbstsüchtiger Zwanghaftigkeit und Furcht läßt uns mit unzweideutiger Direktheit und Klarheit erkennen, wie vergänglich, unsicher und beliebig die Wirklichkeit ihrer Natur nach ist. In diesem Augenblick hat die Dharma-Praxis auch die letzten Spuren von Glaubensgewißheit beseitigt, und von jetzt an fußt sie auf einer aus unmittelbarer Erfahrung gewonnenen Sicht der Dinge. Sie bedarf nicht mehr der Stütze durch Moral_______________________________________________________________ 18
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vorschriften und religiöse Rituale. Sie fußt auf Unangreifbarem und ist von schöpferischer Autonomie. Da sie das Leben in all seiner Verletzlichkeit sichtbar werden läßt, wird sie der Zugang zu echtem Mitfühlen. Im Aufhören des Begehrens berühren wir eine zeitlose Dimension der Erfahrung: wie die Dinge sich aufgrund von Bedingungen spielerisch und mühelos einstellen, um selbst wiederum Bedingungen für etwas anderes zu werden. Das ist die Leere – kein kosmisches Vakuum, sondern die ungeborene, unsterbliche, unendlich schöpferische Dimension des Lebens. Sie wird auch »Schoß des Erwachens« genannt, die freie Stelle in der unbewegten Mitte des Werdens, die Bahn eines Menschen, der seine Mitte gefunden hat. Und sie flüstert: »Verwirkliche mich.« Doch kaum hat man einen flüchtigen Blick auf sie erhascht, ist sie auch schon wieder weg. Das Aufhören des Begehrens ist wie ein kleines Loch in der Wolkendecke. Für einen _______________________________________________________________ 19
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Augenblick bricht die Sonne hervor, dann ist sie wieder von Wolken verdeckt. Wir müssen uns eingestehen, daß wir wieder im Nebel der Angst und des Begehrens, der Gewohnheit, der Unrast und der Ablenkung sind. Aber mit einem Unterschied, denn jetzt wissen wir, wohin der Pfad führt. Wir haben einen Schritt auf das Gelände getan, das diese Worte nur wie eine Landkarte abbilden. Jetzt wissen wir, daß wir bisher eigentlich noch gar nicht auf dem Pfad gewesen sind. Wir sind Ahnungen gefolgt oder den Worten derer, die wir achten; wir haben Sackgassen erkundet, stolpernd und mutmaßend. Und wie stark unsere Entschlossenheit und Überzeugung auch gewesen sein mögen, die ganze Zeit begleitete uns das unbehagliche Gefühl, daß wir eigentlich nicht wissen, wo es lang geht. Jeder Schritt hatte etwas Zögerndes und Gezwungenes, und wir waren schrecklich allein. Der Unterschied zwischen damals und jetzt ist wie der zwischen der Vorstellung von Sex und der ersten wirklichen Erfahrung. Einerseits ist _______________________________________________________________ 20
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dieser Akt ein gewaltiger, unwiderruflicher Schritt, andererseits einfach ein Bestandteil des Lebens. Von jetzt an ist der Entschluß, diesen Weg zu gehen, nicht mehr zu erschüttern, aber zugleich auch ganz natürlich. Er ist einfach das, was wir tun. Die Befangenheit und Verlegenheit, das Zögern und dieses Gefühl der Künstlichkeit – all das ist weg. Das Erwachen wird nicht mehr als etwas in der Zukunft zu Erlangendes gesehen, denn es ist kein Ding, sondern ein Prozeß – und dieser Prozeß ist der Weg. Doch macht uns das natürlich in keiner Weise vollkommen oder unfehlbar. Wir sind durchaus noch in der Lage, diesen Prozeß unseren keineswegs erloschenen Begierden – unserem Ehrgeiz und Haß, unserem Neid und unseren Ängsten – unterzuordnen. Wir sind nicht in den erhabenen Stand des Erwachtseins gelangt, sondern das Erwachen wurde von seinem Sockel gestoßen, hinunter in den Wirrwarr und die Zerrissenheit des Alltagslebens. _______________________________________________________________ 21
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Es ist nichts speziell Religiöses oder Spirituelles an diesem Weg. Er ist all das, was wir tun. Er ist eine authentische Art des In-derWelt-Seins. Er beginnt mit unserer Sicht der Wirklichkeit, in der wir leben, und mit der Sicht unserer selbst als Wesen, die in dieser Wirklichkeit existieren. Von dieser Sicht leiten sich die Wertvorstellungen ab, die unser Denken und damit unsere Entscheidungen, unsere Worte, unsere Taten, unsere Arbeit bestimmen. Sie ist auch die Grundlage für Achtsamkeit und Gewahrsein, die wiederum unser Wirklichkeits- und Selbstverständnis vertiefen – und so weiter. Diese Anteile unseres Daseins zu vervollkommnen heißt, sie zu pflegen wie einen Garten. Wie ein Garten Schutz und fürsorgliche Pflege braucht, so auch die Rechtschaffenheit, das gesammelte Gewahrsein und das Verstehen. Unsere Einsicht in den leeren und zufälligen Charakter der Dinge mag noch so tief sein, das allein genügt nicht zur Ausbildung dieser Eigenschaften. Aus jedem die_______________________________________________________________ 22
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ser Lebensbereiche ergeht eine Aufforderung an uns, eine Handlungsanweisung. Zu zufriedenem Zurücklehnen besteht kein Anlaß, denn auf allem steht: »Übe mich!« Das von den vier Wahrheiten geforderte Handeln zeichnet den Verlauf der DharmaPraxis vor: Das Verstehen der Angst führt zum Loslassen vom Begehren; daraus ergibt sich die Erkenntnis von ihrem Aufhören und das wiederum führt zur Übung des Weges. Das sind keine vier gesonderten Aktivitäten, sondern vier Phasen im Prozeß des Erwachens. Das Verstehen reift zum Loslassen, das Loslassen kulminiert im Erkennen, und das Erkennen treibt zur Übung an. Dieser Verlauf stellt keine lineare Abfolge von »Stufen« dar, auf denen wir »voranschreiten«. Wir lassen kein früheres Stadium hinter uns zurück, um die nächste Stufe auf der Leiter einer Hierarchie zu erklimmen. Alle vier Aktivitäten gehören ein und demselben Handlungskontinuum an. Man kann nicht sagen, eine dieser Aktivitäten mache eigent_______________________________________________________________ 23
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lich die Dharma-Praxis aus; es kommt vielmehr auf alle vier in ihrem Zusammenwirken an. Isoliert man etwa das Verstehen vom Loslassen, so verkommt es zu bloßer Intellektualität. Isoliert man das Loslassen vom Verstehen, ist es bald nur noch ein spirituelles Posieren. Das Gewebe der Dharma-Praxis besteht aus allen vier Aktivitäten, von denen jede einzelne durch ihre Beziehung zu den anderen definiert ist. Die erste Lehrrede des Buddha überzeugte die fünf Asketen davon, daß er da wirklich etwas aufgetan hatte. Also blieben sie bei ihm, lauschten seinen Unterweisungen und kamen schließlich selbst zum Erwachen. Auch sie verstanden die Angst, ließen ab vom Begehren, erkannten das Aufhören und machten sich daran, den Weg zu üben. Auch sie fanden die Freiheit des Herzens und Geistes von den Zwängen des Begehrens. Ihr Erwachen wird mit den gleichen Worten beschrieben wie das des Buddha. Von da an wurde am Schluß einer _______________________________________________________________ 24
Stephen Batchelor: Buddhismus für Ungläubige
Lehrrede des Buddha häufig verzeichnet, wie vielen Menschen beim Zuhören das Erwachen zuteil geworden war und in welchem Ausmaß. Die frühen Lehrreden lassen erkennen, daß es unter denen, die dem Buddha lauschten und nach seinen Worten handelten, ziemlich häufig zu Erfahrungen des Erwachens kam. Es wurden Gradunterschiede eingeräumt zwischen Menschen, die ein erstes Erwachen erlebt und sich für den Weg entschieden hatten, und anderen, die den Weg schon so weit geübt hatten, daß die Gewohnheit des Begehrens von ihnen abgefallen war. Aber das Eintreten in den Prozeß des Erwachens war unkompliziert und ging ohne großes Aufhebens vonstatten. Doch als der Buddhismus dann eine institutionalisierte Religion geworden war, wurde dieser Zugang zum Erwachen immer schwieriger. Denn von denen, die in dieser Institution die Macht innehatten, wurde behauptet, das Erwachen sei etwas so hoch Erhabenes, daß man es nur in der durch die _______________________________________________________________ 25
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Mönchsdisziplin erworbenen Gelassenheit und Reinheit des Herzens anstreben könne. Und selbst dann, sagten sie, komme es selten dazu. Zur Erklärung beriefen sie sich auf die in Indien traditionelle Idee vom »Niedergang«, die besagt, daß Geschichte grundsätzlich und unausweichlich ein Prozeß der Entartung und des Verfalls sei. Deshalb seien die Menschen, die zur Zeit des Buddha gelebt hätten, einfach weniger degeneriert, das heißt »spiritueller« gewesen als die Menschen heutzutage. Immer wieder wurde diese Auffassung angezweifelt. Dann öffneten sich die Pforten des Erwachens wieder denen, die mittels Beschränkungen und Dogmen davon ausgeschlossen worden waren. Laien, Frauen, Ungebildete – die Machtlosen – waren eingeladen, die Freiheit des Dharma selbst zu kosten. Das Erwachen war kein fernes Ziel mehr, das man in einem künftigen Leben erreichen würde. Sondern es war hier: in diesem Augenblick sich entfaltend in deinem Geist. _______________________________________________________________ 26
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Die zentrale Frage, vor der Buddhisten von Anfang an gestanden haben, lautet, auf einen sehr einfachen Nenner gebracht: Ist das Erwachen nah oder fern? Ist es unmittelbar zugänglich oder nur durch äußerste Anstrengung? Sagt man, es sei nah und leicht zu erreichen, besteht die Gefahr, daß es nicht ernst genommen wird, daß ihm nicht der Wert und die Bedeutung beigemessen werden, die ihm zukommen. Sagt man aber, es sei fern und schwer zu erreichen, besteht die Gefahr, daß es zu hoch gehängt wird und sich in eine Ikone der Vollkommenheit verwandelt, die man von fern anbetet. Führt die Frage uns nicht schon in die Irre? Verleitet diese Entweder-Oder-Logik nicht zu der Annahme, daß nur eine der beiden Möglichkeiten richtig sein kann? Wäre hier nicht eine inklusive Logik besser?: Das Erwachen ist ganz nah, und doch verlangt es das Äußerste. Das Erwachen ist weit weg und doch unmittelbar zugänglich. _______________________________________________________________ 27
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Agnostizismus Nimm an, Malunkyaputta, ein Mann werde von einem dick mit Gift bestrichenen Pfeil verwundet und seine Freunde und Begleiter holten einen Heilkundigen, der ihn behandeln soll. Nimm an, der Mann sagte: »Ich werde den Heiler nicht den Pfeil herausziehen lassen, solange ich nicht den Namen und die Sippenzugehörigkeit dessen weiß, der auf mich schoß; solange ich nicht weiß, ob es sich um einen Bogen oder eine Armbrust handelte und ob der Pfeil, der mich verwundete, eine gebogene Spitze hatte oder eine gerade Spitze mit Widerhaken.« All das würde der Mann nicht in Erfahrung bringen, bevor ihn der Tod ereilte. So auch, Malunkyaputta, wenn einer sagte: »Ich werde nicht das edle Leben unter dem Buddha leben, solange er mir nicht dargetan hat, ob die Welt ewig oder nicht ewig, endlich oder unendlich ist und ob ein Erwachter nach dem Tod weiterhin existiert oder nicht.« Dergleichen wird der Buddha nicht darlegen, und der Mann, der darauf besteht, wird unterdessen sterben. Der Buddha _______________________________________________________________ 28
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Wenn man in Asien einen buddhistischen Tempel besucht, sei es ein Wat in Thailand oder ein Gompa in Tibet, wird man den Eindruck haben, daß man so etwas wie eine Abteikirche oder Kathedrale betritt. Hier wirken Menschen, die wie Mönche oder Priester aussehen; man erkennt Gegenstände, die wie Ikonen aussehen und in Nischen verwahrt werden, die etwas von Kapellen haben, offenbar verehrt von Menschen, die wie betende Gläubige wirken. Spricht man einen von denen an, die wie Mönche aussehen, wird er einem ein Weltbild darlegen, das viel von einem Glaubenssystem hat, vor langer Zeit offenbart von jemandem, der wie ein Gott verehrt wird, und nach dessen Tod von anderen ausgedeutet in einer Weise, die an Theologie gemahnt. Es gab Schismen und Reformen, und aus ihnen gingen Institutionen hervor, die ganz so wie Kirchen aussehen. Es scheint also, daß der Buddhismus eine Religion ist. Oder vielleicht doch nicht? _______________________________________________________________ 29
Stephen Batchelor: Buddhismus für Ungläubige
Wenn der Buddha gefragt wurde, was er tue, sagte er, er lehre »die Angst und das Ende der Angst«. Stellte man ihm jedoch metaphysische Fragen – über Ursprung und Ende der Welt, über Identität und Verschiedenheit von Körper und Geist, über das Fortbestehen oder Nichtfortbestehen nach dem Tod -, so schwieg er. Er sagte, der Dharma sei überall und in allen Teilen von einem Geschmack: dem der Freiheit. Er gab sich nicht als einzigartig oder göttlich aus und benutzte keinen Ausdruck, der sich mit »Gott« übersetzen ließe. Gautama rief zu einem Leben auf, das sich in der Mitte zwischen Wohlleben und Kasteiung hält. Er nannte sich selbst einen Lehrer mit offenen Händen, der keine esoterischen Lehren für eine Gruppe Auserwählter zurückhielt. Als er starb, weigerte er sich, einen Nachfolger zu benennen, und sagte, jeder solle für seine Freiheit selber verantwortlich sein. Die Dharma-Praxis werde als Führer genügen. Dieser existentielle, therapeutische und befreiende Agnostizismus wurde natürlich in der _______________________________________________________________ 30
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Sprache jener Zeit und Gegend formuliert, und das waren die dynamischen Kulturen der Gangesebene im sechsten Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung. Wenn Gautama auch als radikaler Kritiker vieler für selbstverständlich genommener Anschauungen seiner Zeit auftrat, so war er doch auch das Geschöpf dieser Zeit. Die von ihm vertretenen Lebensgrundsätze, die seinen Tod lange überdauern sollten, waren gefärbt von den Symbolen und Metaphern, von der Bildsprache dieser Welt. Zweifellos gab es in den ersten religiösen Gemeinschaften, die sich um die Gestalt Gautamas bildeten, auch religiöse Elemente in Gestalt etwa der Buddha-Verehrung oder einer unkritischen Annahme seiner Lehren. Und wenn seine Anhänger auch nach seinem Tod fünf Jahrhunderte lang der Versuchung widerstanden, ihn als gottähnliche Gestalt darzustellen – am Ende taten sie es doch. Und während der Dharma sich in seinem Ursprungsland gegen andere Denksysteme zu behaupten versuchte und zugleich in anderen _______________________________________________________________ 31
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Ländern wie zum Beispiel China Fuß faßte, verknöcherten viele der Ideen, die im Indien des Buddha noch zum Bestand eines lebendigen Weltbildes gehört hatten, und wurden Dogmen. Schließlich wurde von einem Buddhisten, der diesen Namen verdiente, geradezu erwartet, daß er entschiedene Ansichten zu eben den metaphysischen Fragen vertrat, deren Beantwortung der Buddha selbst verweigert hatte. Die Geschichte des Buddhismus läßt erkennen, daß seine agnostische Haltung vor allem durch seine Institutionalisierung bedroht war, durch seine Umdefinierung in eine Religion, das heißt in ein für alle Zeiten gültiges und von einer Priesterschaft kontrolliertes geoffenbartes Glaubenssystem. Es gab immer wieder Gegenbewegungen, man denke nur an die ikonoklastischen Tantriker Indiens, die frühen Zen-Meister in China, die exzentrischen Yogis Tibets und die Waldmönche in Burma und Thailand. Doch in den traditionellen Gesell_______________________________________________________________ 32
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schaften Asiens ging davon keine anhaltende Wirkung aus. Sehr bald waren danach wieder andere Dinge wichtiger, nämlich das Vermögen der organisierten Religion, den Staat mit moralischer Legitimität zu versehen und dabei gleichzeitig die verzweifelte Frömmigkeit der Machtlosen zu befriedigen – meist einfach durch Vereinnahmung der ketzerischen Ideen, die dann in den Kanons einer leicht revidierten Orthodoxie verschwanden. Folglich wird der Dharma heute bei seiner Emigration in den Westen ebenfalls als Religion – wenn auch als »östliche« – aufgefaßt. Schon der Ausdruck »Buddhismus«, eine Erfindung westlicher Gelehrter, suggeriert, daß es sich um einen religiösen Glauben handelt, den man neben andere stellen kann. Vor allem Christen suchen den Dialog mit ihren buddhistischen Brüdern, häufig im Rahmen eines größeren Vorhabens, nämlich gemeinsame Sache mit allen »Glaubenden« zu machen und sich der Flut des gottlosen Säkularismus entgegenzustellen. Bei interreli_______________________________________________________________ 33
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giösen Zusammenkünften werden Buddhisten gern als Zugnummer vorgeführt. Sie haben sich dann zu allen möglichen Fragen – von Kernwaffen bis zur Frauenordination – zu äußern und stehen für den abendlichen Andachtstermin mit beeindruckend sonoren tibetischen Rezitationen auf dem Programm. Diese Umdeutung des Buddhismus in eine Religion vernebelt und entstellt die Begegnung des Dharma mit der agnostischen Kultur unserer Zeit. Gut möglich, daß der Dharma im Grunde mehr mit dem »gottlosen Säkularismus« gemein hat als mit Bastionen der Religion. Der Agnostizismus könnte eher eine gemeinsame Grundlage des Dialogs abgeben als beispielsweise der ziemlich gepreßt wirkende Versuch, Allah buddhistisch zu deuten. Das Wort »agnostisch« ist kraftlos geworden und bedeutet heute kaum noch mehr als: keine Meinung zur Frage von Leben und Tod zu haben und »ich weiß nicht« zu sagen, wenn man eigentlich meint »ich will nicht wissen«. _______________________________________________________________ 34
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In seiner unseligen Verknüpfung (und Verwechslung) mit dem Atheismus ist es ein wesentlicher Aspekt jener Grundhaltung geworden, die hemmungsloses Konsumdenken und gedankenlosen Konformismus als völlig in Ordnung erscheinen läßt. Für T. H. Huxley, dem die Prägung des Begriffs zugeschrieben wird (1869), war Agnostizismus so anspruchsvoll wie irgendein moralisches, philosophisches oder religiöses Bekenntnis nur sein kann. Er verstand den Agnostizismus jedoch nicht als Bekenntnis, sondern vielmehr als eine Methode, und zwar als die »rigorose Anwendung eines einzigen Prinzips«. Er formulierte dieses Prinzip positiv – »Folge deinem Verstand so weit, wie er dich trägt« – und negativ – »Stelle eine Schlußfolgerung nicht als sicher dar, wenn sie nicht bewiesen oder nicht beweisbar ist«. Dieses Prinzip zieht sich durch die gesamte abendländische Geschichte, von Sokrates über die Reformation und Aufklärung bis hin zu _______________________________________________________________ 35
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den Axiomen der modernen Naturwissenschaft. Huxley nannte es den »agnostischen Glauben«. Der Buddha lehrte vor allem eine Methode – die Dharma-Praxis – und keinen »-ismus«. Der Dharma ist nichts, was man glauben, sondern etwas, wonach man handeln soll. Der Buddha machte keine esoterischen Aussagen über die Wirklichkeit, die man glauben kann oder eben nicht. Er forderte die Menschen auf, das Wesen der Angst zu verstehen, von ihren Ursprüngen abzulassen, die Möglichkeit ihres Aufhörens zu erkennen und eine entsprechende Lebensweise anzunehmen. Der Buddha folgte seinem Verstand so weit, wie er ihn trug, und stellte keine nicht bewiesene oder beweisbare Schlußfolgerang als gesichert dar. Dennoch ist die Dharma-Praxis ein Bekenntnis, ein Glaube (»Buddhismus«) geworden, ganz so, wie die wissenschaftliche Methode zum »szientistischen« Glauben verkommen ist. _______________________________________________________________ 36
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Wie der moderne westliche Agnostizismus zum Verlust seines Selbstvertrauens und zum Abgleiten in den Skeptizismus neigt, so zeigt der Buddhismus eine Tendenz, von seiner kritischen Klarheit abzuweichen und in Religiosität abzugleiten. Was der eine dabei verliert, könnte jedoch der andere wiederherstellen. Der Dharma könnte bei seiner Begegnung mit der heutigen Kultur seinen agnostischen Imperativ zurückerobern und der säkulare Agnostizismus seine Seele. Ein agnostischer Buddhist sieht den Dharma nicht als Quelle für »Antworten« auf metaphysische Fragen wie etwa, woher wir kommen, wohin wir gehen und was nach dem Tod geschieht. Er würde solche Erkenntnisse auf den zuständigen Gebieten suchen, Astrophysik, Evolutionsbiologie, Neurowissenschaft und so weiter. Ein agnostischer Buddhist ist kein »Glaubender«, der Kenntnis von übernatürlichen und paranormalen Phänomenen zu haben behauptet, und in diesem Sinne ist er nicht »religiös«. Einem agnostischen Budd_______________________________________________________________ 37
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histen liefert der Dharma Metaphern der existentiellen Auseinandersetzung, aber keine Metaphern der existentiellen Tröstung. Der Dharma ist kein Glaube, der einen auf wunderbare Weise erlösen wird. Er ist eine Methode, die genau erforscht und dann ausprobiert werden will. Sie beginnt damit, daß man dem primären Faktum der Angst nicht mehr ausweicht. Dann folgt die Anwendung einer Reihe von Praktiken, die dem Verstehen des menschlichen Dilemmas dienen, damit auf seine Lösung hingearbeitet werden kann. Wie weitgehend die Dharma-Praxis zu institutionalisierter Religion mutiert ist, erkennt man an der Zahl der nach und nach eingeschleusten Tröstungs-Elemente: etwa das Versprechen eines besseren Lebens nach dem Tod, wenn man gute Taten verrichtet, Mantras rezitiert oder unentwegt den Namen Buddhas sagt. Ein agnostischer Buddhist meidet den Atheismus ebenso wie den Theismus und hütet sich, dem Universum einen Sinn zu_______________________________________________________________ 38
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oder abzusprechen. Das eine ist lediglich das Gegenteil vom anderen, und beide sind Mutmaßungen. Aber hinter der agnostischen Haltung steht kein Desinteresse, sondern das Wissen, daß ich nicht weiß, und die leidenschaftliche Bejahung dieses Nichtwissens. Man läßt die Ungeheuerlichkeit des eigenen Geborenseins einfach so stehen und greift nicht nach tröstlichen Glaubenssätzen. Man legt Schicht um Schicht all die Meinungen ab, die das Mysterium unseres Hierseins nur verschleiern, ob sie es nun bejahen oder verneinen. Ein solch tiefer Agnostizismus ist eine durch fortgesetztes achtsames Gewahrsein gewonnene Haltung gegenüber dem Leben. Er kann zu der Einsicht führen, daß im Kern unserer selbst letztlich weder etwas noch nichts ist, worauf sich der Finger legen ließe. Oder er bündelt sich zu einer tiefen, staunenden Verblüffung, die den Körper beben läßt und dem Gewißheit suchenden Geist keinerlei Rastplatz mehr bietet. _______________________________________________________________ 39
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In einer berühmten Parabel erzählt der Buddha von vier Blinden, die einen Elefanten erkennen sollen. Der eine bekommt den Schwanz des Tiers zu fassen und sagt, es sei ein Seil; der nächste umfaßt ein Bein und sagt, es sei eine Säule; der dritte betastet die Seite und sagt, es sei eine Wand; der vierte schließlich erfaßt den Rüssel und sagt, es sei ein Schlauch. Je nachdem, wo man den Buddhismus »anfaßt«, wird man ihn für ein ethisches System, eine Philosophie, eine kontemplative Psychotherapie oder eine Religion halten. Er beinhaltet all das, aber nichts davon ist der Buddhismus, so wenig ein Rüssel oder ein Schwanz der Elefant ist. Das, was die Gesamtheit der Elemente enthält, die den Buddhismus ausmachen, nenne ich »Kultur«. Ich folge darin der Definition, die der Anthropologe Sir Edward Burnett Tylor dem Begriff 1871 gab: »Jenes komplexe Ganze aus Wissen, Glauben, Kunst, Moral, Recht, Brauch und allen sonstigen Fähigkeiten und Gewohnheiten, das der _______________________________________________________________ 40
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Mensch als Angehöriger einer Gesellschaft erwirbt.« Da die hier betrachtete Kultur ihren Ursprung in Siddhārta Gautamas Erwachen hat und auf eine dieses Erwachen begünstigende Lebensweise abzielt, könnte man den Buddhismus als die »Kultur des Erwachens« bezeichnen. In der Vergangenheit wurde der Buddhismus gern mit seinen religiösen Erscheinungsformen gleichgesetzt, und heute besteht die Gefahr, daß man ihn auf seine Meditationsformen reduziert. Wenn dieser Trend anhält, könnte der Buddhismus mehr und mehr zur Randerscheinung werden, und damit wäre die Chance vertan, ihn als Kultur zu realisieren, als ein in sich stimmiges Gefüge von Werten und Praktiken, das in allen Bereichen des menschlichen Daseins schöpferisch und belebend wirkt. Um das zu verhindern, müßte eine Kultur des Erwachens geschaffen werden, die sowohl der individuellen Dharma-Praxis Rückhalt bietet als auch den Dilemmas einer agnostischen und pluralistischen Gesellschaft gewachsen ist. _______________________________________________________________ 41
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Angst Keine Bedingung ist von Dauer; auf keine Bedingung ist Verlaß; Nichts ist ein Ich. Der Buddha
Es heißt, Siddhārta Gautama sei von seinem Vater, dem König Suddhodana, im Palast festgehalten worden, bis er weit über zwanzig Jahre alt war. Suddhodana wollte verhindern, daß sein Sohn durch all das Beunruhigende, was außerhalb der Palastmauern war, von seiner künftigen Aufgabe als Herrscher des Landes abgelenkt wurde. Doch dem jungen Mann wurde es im Palast zu eng, und er wollte hinaus. Da mußte der König schließlich Besichtigungsfahrten durch die Stadt und ihre Umgebung gestatten. Er sorgte jedoch dafür, daß alles perfekt arrangiert war und nichts seinem Sohn begegnete, was ihm die Illusion der heilen Welt nehmen konnte. Trotz aller Vorsichtsmaßnahmen begegnete Siddhārta _______________________________________________________________ 42
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aber einem von Krankheit Entstellten, einem vom Alter Gezeichneten, einem Leichnam und einem wandernden Mönch. Da wurde ihm in seinem luxuriösen Zuhause unbehaglich zumute. Eines Nachts stahl er sich davon. Sechs Jahre lang durchwanderte er das Land, studierte, meditierte, unterwarf sich der denkbar schärfsten Askese. Als alle Möglichkeiten, die ihm seine Kultur bot, ausgeschöpft waren, setzte er sich am Fuß eines Baumes nieder. Sieben Tage später erlebte er ein Erwachen, bei dem er die Natur der Angst verstand, sich von ihrem Ursprung löste, ihr Aufhören verwirklichte und eine zu diesem Aufhören führende Lebensweise begründete. Vor dem Dilemma des Prinzen Siddhārta stehen wir auch heute noch. Auch wir mauern uns in die »Paläste« des Vertrauten und Sicheren ein. Auch wir spüren, daß das Streben nach Annehmlichkeiten und das Meiden von Unannehmlichkeiten unmöglich schon alles sein kann, was das Leben zu bieten hat. _______________________________________________________________ 43
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Auch wir empfinden die Angst dann besonders eindringlich, wenn wir aus unseren Gewohnheiten und Routinen ausbrechen und uns zwischen Geburt und Tod – unserer Geburt und unserem Tod – schweben sehen. Wir stellen fest, daß wir – offenbar ungefragt – in eine Welt geworfen wurden, die nicht unser Werk ist. Wie qualvoll unser Weg aus dem Mutterschoß auch gewesen sein mag, es breitet sich gnädiges Vergessen darüber. Indem wir jedoch Bewußtsein erlangen, wird uns klar, daß es im Leben nur eine einzige Gewißheit gibt, nämlich daß es enden wird. Der Gedanke gefällt uns nicht; wir geben uns Mühe, auch ihn zu vergessen. Jeder arbeitet für jeden mit am Prozeß des Vergessens. Eltern möchten ihre Kinder auf das Leben vorbereiten. Gesellschaftliche und politische Institutionen sind für die Lebenden da und nicht für die Toten. Und die Religionen bieten Tröstliches: vielleicht sterben wir doch nicht so richtig. _______________________________________________________________ 44
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Auf diese oder jene Weise gelingt es uns, den vom Leben aufgeworfenen Fragen auszuweichen und Geburt und Tod einfach als physische Ereignisse in Raum und Zeit zu behandeln: das erste Einatmen und das letzte Ausatmen. So werden daraus isolierte Fakten, problematisch, aber doch handhabbar; jedenfalls kann man sie vom Hier und Jetzt fernhalten, wo wir unbehelligt unseren täglichen Dingen nachgehen möchten. Das Leben als eine Übung in Detailmanagement: Wir arrangieren die Dinge unserer Welt so, daß wir uns sicher fühlen – umgeben von dem, was wir mögen, geschützt vor dem, was wir nicht mögen. Ist unsere materielle Existenz dann mehr oder weniger geordnet, können wir unsere Aufmerksamkeit dem Psychomanagement unserer Neurosen zuwenden. Klappt das nicht, kann man die schlimmsten Ängste immer noch mit Medikamenten beschwichtigen. Das geht auch ganz gut, bis das nicht zu Handhabende doch wieder als Krankheit, _______________________________________________________________ 45
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Alter, Kummer, Schmerz, Gram und Verzweiflung aufbricht. Da mögen wir unser Leben noch so gekonnt managen, mögen der Welt unser Gut-drauf-Sein noch so überzeugend präsentieren – wir haben doch immer wieder mit Verhaßtem zu tun und werden doch immer wieder von Geliebtem getrennt. Wir bekommen doch nicht, was wir wollen, und bekommen, was wir nicht wollen. Gewiß, wir erleben Freude, Erfolg, Liebe, Lust. Aber am Ende sind wir doch wieder der Angst ausgesetzt. Vielleicht wissen wir das. Aber verstehen wir es? Wir sehen es, und es erschüttert uns auch, aber die Gewohnheit ist stärker und läßt uns vergessen. Wir decken es zu und flüchten uns wieder in die Reize dieser verlockend schönen Welt. Denn verstünden wir es, und sei es auch nur für die Dauer eines Lidschlags, könnte alles verändert sein. Versuchen Sie einmal Folgendes. Suchen Sie sich einen stillen, bequemen Platz. Das könnte _______________________________________________________________ 46
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einfach eine Ecke des Schlaf- oder Arbeitszimmers sein. Setzen Sie sich auf einen Stuhl oder, falls Sie mögen, mit überkreuzten Beinen auf ein Kissen am Boden. Der Rücken soll ohne Unterstützung und aufrecht bleiben, aber unverkrampft. Neigen Sie den Kopf ein wenig, so daß der Blick etwa einen Meter vor Ihnen auf den Boden fällt. Schließen Sie die Augen. Lassen Sie die Hände im Schoß oder auf den Knien ruhen. Vergewissern Sie sich, ob irgendwo im Körper Spannungspunkte sind – Schultern, Nacken, um die Augen. Entspannen Sie sich dort. Vergegenwärtigen Sie sich den Körperkontakt mit der Unterlage. Sorgen Sie für stabiles Gleichgewicht. Nehmen Sie die subtile Polyphonie der Geräusche in Ihrer Umgebung wahr, nehmen Sie Körperempfindungen bewußt zur Kenntnis, machen Sie sich ihre augenblickliche Stimmung bewußt. Beurteilen Sie diese Dinge nicht und versuchen Sie nicht, sie zu ändern: nehmen Sie sie als das an, was sie sind. _______________________________________________________________ 47
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Atmen Sie dreimal lang und tief durch. Stellen Sie sich den Atem nicht als unsichtbaren Stoff vor, der durch die Nase ein und aus geht. Achten Sie auf all die Körperempfindungen, die zusammen das Atmen ausmachen – auch auf so Nebensächliches wie das kaum merkliche Gleiten des Unterhemds auf der Haut. Dann überlassen Sie den Atem seinem eigenen Rhythmus, ohne ihn zu kontrollieren oder sich sonstwie einzumischen. Bleiben Sie einfach bei ihm, lassen Sie den Geist auf diesem leichten Wogen zur Ruhe kommen wie ein kleines vor Anker liegendes Boot, das sich mit dem Meer hebt und senkt. Machen Sie das zehn Minuten lang. Es kann sein, daß Ihnen diese Übung nicht ganz so leicht fällt, wie sie in der Beschreibung klingt. So entschlossen Sie auch sein mögen, geistesgegenwärtig und konzentriert zu bleiben, es bleibt doch schwierig, den Geist vom Abschweifen in Erinnerungen, Pläne, Phantasien abzuhalten. Es kann Minuten dauern, _______________________________________________________________ 48
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bis Sie auch nur merken, daß Sie abgeschweift sind. Normalerweise ist uns nicht bewußt, wie abgelenkt wir sind, und zwar einfach deshalb, weil Ablenkung ein Zustand der Nichtbewußtheit ist. Übungen wie diese machen uns zumindest darauf aufmerksam, daß wir vielfach gar nicht wahrnehmen, was hier und jetzt gerade geschieht. Statt dessen durchleben wir eine zensierte oder geschönte Vergangenheit, planen eine Ungewisse Zukunft oder geben uns dem Anderswosein hin. Oder wir laufen auf Automatik und sind überhaupt nicht wach. Und statt einer kohärenten Persönlichkeit, die sich lückenlos bis zu einer ersten Erinnerung zurückverfolgen läßt und einer noch unbestimmten Zukunft entgegensieht, entdecken wir ein Ich voller Sprünge und Widersprüche. Was »ich bin«, erscheint mir nur deshalb als zusammenhängend und gleichbleibend, weil ich einen ständigen inneren Monolog führe, den ich unentwegt wiederhole und dabei bearbeite, zensiere und ausschmücke. _______________________________________________________________ 49
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Der gegenwärtige Augenblick schwebt zwischen Vergangenheit und Zukunft, wie das Leben zwischen Geburt und Tod schwebt. Beide fliehen wir auf die gleiche Weise: Wie ich mich vor der furchteinflößenden Begegnung mit Geburt und Tod in die Sicherheit einer handhabbaren Welt flüchte, so fliehe ich vor dem Puls der Gegenwart in meine Phantasiewelt. Flucht ist die mangelnde Bereitschaft, sich dem Wandel und der mit ihm einhergehenden Angst zu stellen. Etwas in uns beharrt auf einem statischen Bild, einem festgefügten, angstdichten Ich, das den Tod entweder überlebt oder schmerzlos ausgelöscht wird. Unsere Scheu vor der nackten Unmittelbarkeit des Lebens sitzt sehr tief, und ihr ist schwer beizukommen. Auch der glühende Wunsch, im gegenwärtigen Augenblick wach und bewußt zu sein, bewahrt uns nicht vor den dümmlichen und ermüdenden Vergangenheits- und Zukunftsphantasien unseres Geistes. Diese Sucht, anders und anderswo zu sein, _______________________________________________________________ 50
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durchtränkt Körper, Gefühle, Wahrnehmungen, den Willen – das Bewußtsein insgesamt. Sie ist wie die Hintergrundstrahlung vom Urknall der Geburt, eine Art Nachbeben unseres Ausbruchs ins Leben. Falls Sie bei der Beobachtung des Atems bleiben, werden Sie nach einiger Zeit bemerken, daß der Geist doch ein wenig zur Ruhe kommt. Die Phasen der Sammlung, bevor ein ablenkender Gedanke Sie wieder mitreißt, werden länger. Es fällt Ihnen auch immer leichter wieder ein, daß Sie ja in der Gegenwart sein wollen. Sie werden gelöster und entdecken ein beinah schmerzhaftes In-sichRuhen. Das ist die gesammelte Stille, von der aus Sie sich aufmerksam, einfühlsam auf die Welt einlassen können. Alles Leben ist unaufhörliche Wandlung: auftauchen, sich verändern, verschwinden. Die relative Konstanz der stillen, gesammelten Aufmerksamkeit besteht einfach in stetiger Anpassung an den Strom des Wahrgenom_______________________________________________________________ 51
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menen. An nichts kann man sich halten, um Sicherheit zu finden. Greift man nach etwas, ist es auch schon weg. Angst ergibt sich aus dem Wunsch, das Leben möge anders sein, als es ist. Sie ist das Symptom der Flucht vor Geburt und Tod, vor dem Puls der Gegenwart. Sie ist das nagende Unbehagen, das alles Festhalten an »mir« heimsucht. Es wäre vielleicht besser, wenn das Leben keinen Wandel mit sich brächte, wenn man sich darauf verlassen könnte, daß es uns anhaltendes Glück gewährt. Da dem aber nicht so ist, können wir nur die Umklammerung des Begehrens zu lockern versuchen, und das geschieht durch gefaßtes und klares Verstehen dessen, was der Fall ist: daß keine Bedingung von Dauer oder verläßlich ist. Das Begehren kann weichen, wenn uns die Absurdität der ihm zugrundeliegenden Annahmen aufgeht. Ohne es zu ersticken oder zu leugnen, können wir uns von ihm abwenden, wie ein Kind sich vom Sandburgenbauen abwendet: nicht durch Unterdrückung des Wun_______________________________________________________________ 52
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sches danach, sondern weil es kein Interesse mehr daran hat. Wenn der rastlose Geist Ruhe findet, werden wir dem, was sich vor uns entfaltet, zum ersten Mal wirklich begegnen. Es ist vertraut und geheimnisvoll, beides zugleich. Wir haben diese Welt schon erfahren – in seltenen Augenblicken des Naturerlebens, in der Liebe, in der Begegnung mit Kunst. Sie stellt sich manchmal auch ohne jeden Anlaß ein: wenn wir etwa eine geschäftige Straße entlangschlendern oder unser Blick auf ein Blatt Papier auf dem Tisch fällt oder wir auf der Scheibe einen Topf formen. Und dieses Weltgefühl verschwindet so plötzlich, wie es sich einstellt. Wir haben es nicht in der Hand. Wenn wir vor Geburt und Tod nicht mehr davonlaufen, löst sich die Umklammerung der Angst, und das Dasein offenbart sich als eine Frage. Als Siddhārta einem von Krankheit Entstellten, einem vom Alter Gezeichneten, _______________________________________________________________ 53
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einem Leichnam und einem wandernden Mönch begegnete, war er nicht nur betroffen von der Tragödie der Angst, sondern es stellten sich ihm auch Fragen. Doch seine Fragen waren nicht von der Art, die man distanziert und reflektierend angehen kann, um dann zu einer rationalen Antwort zu kommen. Ihm wurde klar, daß er selbst auch Alter, Krankheit und Tod unterworfen war. Der Fragende war nichts anderes als die Frage selbst. Der entscheidende Umschlagspunkt des menschlichen Bewußtseins: Es wird sich selbst zur Frage. Solch eine Frage ist ein Mysterium und nicht ein Problem. Sie läßt sich nicht mit Hilfe von Meditationstechniken oder durch die Autorität von Texten oder durch Unterwerfung unter den Willen eines Gurus beantworten. Dergleichen Strategien ersetzen die Frage lediglich durch den Glauben an eine Antwort. _______________________________________________________________ 54
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Je klarer eine Frage dieser Art wird, desto rätselhafter wird sie auch. Das Verstehen, das sie als Frage erzeugt, liefert keine tröstlichen Fakten über die Natur des Lebens. Das Fragen dringt immer tiefer ein in das, was doch unbekannt bleibt.
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Tod Was auch immer mir zuteil wird, gleich einem Traum wird es Erinnerung – Vergangenes wird nicht nochmals erlebt. Shāntideva
Suchen Sie sich wieder einen bequemen Platz, wo Sie mit aufrechtem Rücken und in stabilem Gleichgewicht sitzen können. Schließen Sie die Augen, und verfolgen Sie Ihren Atem. Fühlen Sie, wie die Luft in die Nase eintritt, wie sich die Lunge weitet und das Zwerchfell sich senkt. Beim Ausatmen spüren Sie, wie das Zwerchfell sich löst, die Lunge sich zusammenzieht und warme Luft durch die Nase ausströmt. Halten Sie diese Aufmerksamkeit zehn Minuten lang, indem sie jedem Atemzug von Anfang bis Ende folgen. Machen Sie sich Ihre Intention klar: Was hat mich hierher geführt? Weshalb sitze ich hier? Versuchen Sie assoziative Gedankengänge zu meiden, die Sie doch nur von der Frage weg_______________________________________________________________ 56
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führen. Wenn Sie innerlich ruhig und gesammelt sind, halten Sie sich diese Frage vor Augen: Da einzig der Tod gewiß, der Zeitpunkt des Todes aber ungewiß ist - was soll ich tun? Lassen Sie das einmal auf sich wirken, und schauen Sie, ob die Frage einen körperlichen Widerhall findet, ob sie eine nichtgedankliche Reaktion, etwas Instinktives auslöst. Achten Sie mehr auf die Gestimmtheit des Körpers als auf Gedanken und Ideen, die durch die Frage ausgelöst werden. Falls Sie solch einen körperlichen Widerhall spüren, bleiben Sie darin, bis er vergeht. Vielleicht wirkt die Frage intellektuell anregend auf Sie, läßt Sie aber ansonsten völlig kalt. Vielleicht gibt sie Ihnen auch nur eine schwache Ahnung ihrer Implikationen preis. Ziel dieser Meditation ist es, ein Gefühl zu wecken: zu fühlen, was es heißt, daß dieses _______________________________________________________________ 57
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Leben enden wird. Zur Vertiefung der Frage könnten die folgenden Überlegungen beitragen. Da einzig der Tod gewiß ist... Denken Sie an die Anfänge des Lebens auf dieser Erde: Einzellige Organismen teilen sich und evolvieren, Schritt für Schritt entstehen Fische, Amphibien und Säugetiere, bis schließlich vor etwa fünf Millionen Jahren die ersten menschlichen Wesen auftauchen; dann die Milliarden Männer und Frauen, die meiner eigenen gerade ein paar Jahre zurückliegenden Geburt vorausgingen. Jeder von ihnen wurde geboren, jeder starb. Sie starben, weil sie geboren waren. Was unterscheidet mich von irgendeinem von ihnen? Empfanden sie ihr Leben nicht als genauso einzigartig wie ich meines? Und doch folgt das Sterben der Geburt so sicher wie das Scheiden der Begegnung. _______________________________________________________________ 58
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Dieser erstaunliche Organismus, aus unvorstellbar vielen miteinander verflochtenen Teilen – von der kleinsten Zelle bis zu den Hirnhemisphären – zusammengesetzt, hat sich zu solcher Komplexität entwickelt, daß er das zum Verständnis dieser Worte notwendige Bewußtsein aufzubringen vermag. Das Leben hängt von der Erhaltung dieses empfindlichen Gleichgewichts ab, vom Funktionieren der lebenswichtigen Organe. Zugleich spüre ich aber, wie es sich mit jedem Pulsschlag verändert, wie es mit jedem Atemzug abnimmt. Ich bin Zeuge meines Alterns: Das Haar geht aus, die Gelenke schmerzen, die Haut wird faltig. Das Leben verebbt von Augenblick zu Augenblick. Als säße ich in einem flußabwärts treibenden Boot. Über das Heck nach rückwärts blickend, genieße ich die Landschaft und bin so versunken in all die Schönheit, daß ich den Wasserfall ganz vergesse, der mich irgendwo flußabwärts erwartet. _______________________________________________________________ 59
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... der Zeitpunkt des Todes aber ungewiß... Wenn ich den Kopf wenden möchte, um zu sehen, wie weit es noch bis zum Wasserfall ist, kann ich es nicht. Ich sehe immer nur, was sich gerade jetzt zeigt. Ich sehe den Tod anderer, aber nicht meinen eigenen. Meine Zeit wird auch kommen, aber ich weiß nicht, wann. Die Statistik gibt uns eine gewisse »Lebenserwartung«, aber täuschen wir uns nicht: Wahrscheinlichkeit und Gewißheit sind zweierlei. Nichts garantiert mir, daß ich nächste Woche noch lebe – von Jahren ganz zu schweigen. Erinnere ich mich nicht an jemanden meines Alters, der schon tot ist? War an diesem Menschen etwas, das ihn zu einem frühen oder plötzlichen Tod prädestinierte? Worin unterscheidet er sich von mir? Ich versetze mich in seine Lage. Der Tod widerfährt nicht nur den anderen. Und er hält sich nicht an meine Vorstellungen vom richtigen Zeitpunkt. _______________________________________________________________ 60
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Dieser Körper ist so verletzlich. Nur Fleisch und ein bißchen Gerüst. Lauschen Sie dem Herzschlag. Das Leben hängt von den Pumpbewegungen eines Muskels ab. Und alles kann passieren. So oft ich eine Straße überquere, eine Reise antrete, eine Treppe hinuntergehe, riskiere ich mein Leben. Da mag ich selbst noch so vorsichtig sein, die Unaufmerksamkeit eines Autofahrers, den Einsturz einer Brücke, den Ruck in einer geologischen Bruchlinie, die Bahn einer verirrten Kugel, den Ausbreitungsweg eines Virus kann ich nicht vorhersehen. Das Leben ist lebensgefährlich. ... – was soll ich tun? Wozu bin ich hier? Lebe ich so, daß ich ohne Bedauern sterben kann? Wieviel von dem, was ich tue, ist Kompromiß? Verschiebe ich das, was ich »eigentlich« tun möchte, immer wieder auf eine Zeit, in der vielleicht die Umstände günstiger sind? _______________________________________________________________ 61
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Solche Fragen rütteln mich auf aus meiner behaglichen Routine. Sie zwingen mich, den Impuls wahrzunehmen, der mich ganz aus der Tiefe bewegt; sie zwingen mich, Abschied zu nehmen von seichten Gewohnheitsmustern. Ich muß mir auch klarmachen, wie sehr ich an Gesundheit, finanzieller Unabhängigkeit, guten Freunden hänge. So leicht geht das alles verloren. Sicherheit ist da letztlich nicht zu finden. Gibt es denn irgend etwas, worauf ich mich verlassen kann? Vielleicht am Ende nur darauf, daß ich immer wieder bereit bin, Fragen wie diese zu stellen: Da einzig der Tod gewiß ist, der Zeitpunkt des Todes aber ungewiß – was soll ich tun? Und dann entsprechend zu handeln. Solche Überlegungen – daß der Tod gewiß, der Zeitpunkt des Todes aber ungewiß ist – sagen einem natürlich nichts Neues. Es kommt darauf an, sich diese Fakten regelmäßig und langsam vor Augen zu halten, so daß sie wirklich einsinken und man immer deutlicher _______________________________________________________________ 62
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spürt, was sie sagen und bedeuten. Selbst wenn man sich diese Gedanken jeden Tag vergegenwärtigt, wird man mitunter wahrscheinlich gar nichts dabei empfinden; sie kommen einem dann abgedroschen, nichtssagend und gegenstandslos vor. Ein andermal jedoch wird man regelrecht gepackt von einem körperlichen Bewußtsein der Sterblichkeit. In solchen Augenblicken wäre es gut, wenn Sie die Gedanken verblassen lassen könnten, um sich mit ungeteilter Aufmerksamkeit diesem Gefühl zuzuwenden. Diese Meditation ist wirksam gegen unser tiefes psychosomatisches Gefühl, daß in uns etwas Beständiges sei, was noch eine gute Weile da sein wird. Der Verstand mag seine Zweifel an solchen Intuitionen haben, aber meistens empfinden wir eben doch anders, als der Verstand es sieht. Gegen dieses Gefühl richtet man mit noch mehr Information oder Philosophie nicht viel aus. Es ist nur mit seinen eigenen Mitteln in Frage zu stellen. _______________________________________________________________ 63
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Und eines der Mittel, Gedanken in die Sprache der Gefühle zu übersetzen, ist die reflektierende Meditation. Hier läßt sich nämlich herausfinden, ob wir die Dinge mit unserem Fühlen genauso sehen wie mit unseren Gedanken und Wahrnehmungen. Wir sehen dann, daß sogar die stärksten, scheinbar völlig offensichtlichen Intuitionen über uns selbst auf sehr tief sitzenden Grundannahmen beruhen. Und wenn wir unser Leben durch reflektierende Meditation allmählich anders sehen lernen, werden wir es schließlich auch anders fühlen. Dann werden wir auch sehen, daß Todesmeditation alles andere als eine morbide Übung ist. Erst wenn uns etwas für selbstverständlich Genommenes vorübergehend verlorengeht (sei es das Telefon oder ein Auge), erkennen wir urplötzlich seinen Wert. Wenn das Telefon repariert ist, die Binde wieder vom Auge genommen wird, sind wir heilfroh, aber bald vergessen wir die unangenehme Einschränkung wieder. Auch das Leben nehmen wir als _______________________________________________________________ 64
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selbstverständlich und nehmen es daher meistens nicht richtig wahr. Seltsamerweise wird uns gerade durch die Todesmeditation das Leben bewußter. Ist es nicht höchst erstaunlich, daß wir überhaupt hier sind? Das Todesbewußtsein kann uns wachrütteln für die Sinnlichkeit des Lebens. Das Atmen ist dann nicht mehr einfach ein kaum je bemerkter Gasaustausch, sondern pulsierendes Aufnehmen von Leben. Das Auge wird jetzt erst richtig wach für das Spiel von Licht und Schatten und Farbe, das Ohr für das feine Gespinst der Laute und Töne. Dahin soll die Meditation führen. Bleiben Sie darin; ruhen Sie darin. Erkennen Sie, wie jedes Abgelenktsein eine Flucht davor ist, ein Ausweichen in Sorgen und Pläne. Kommen Sie zum Abschluß der Meditation zu Ihrer Atmung und Haltung zurück. Öffnen Sie die Augen, und nehmen Sie langsam auf, was Sie vor sich sehen. Bevor Sie aufstehen und sich anderen Dingen zuwenden, sollten Sie _______________________________________________________________ 65
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sich kurz vergegenwärtigen, was Ihnen aufgefallen ist oder was Sie gelernt haben. Solche Reflexionen können uns auf den Tod anderer vorbereiten. Wenn jemand stirbt, bekommt unsere Illusion der Dauer einen Sprung. Allerdings sind wir gut im Vertuschen solcher Reaktionen mit Worten und Konventionen, die dem Tod einen gesellschaftlichen Rahmen geben und ihn dadurch einigermaßen handhabbar machen. Wenn wir über die Gewißheit des Todes und die Ungewißheit seines Zeitpunkts meditiert haben, werden wir diesen Fehler wohl nicht mehr machen, sondern uns durch den Tod anderer an die Vergänglichkeit allen Lebens erinnern lassen. Auf die Dauer wird sich diese Meditation unserem Lebens-Grundgefühl mitteilen. Sie macht uns unsere Beziehungen zu anderen Menschen, die so vergänglich sind wie wir, wertvoller. Sie hält das Schmerzhafte und Dringliche wach, das in der Flüchtigkeit aller Dinge liegt. _______________________________________________________________ 66
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Wiedergeburt »Wenn es aber keine andere Welt gibt und keine Frucht und kein Ausreifen des guten oder bösen Handelns, dann werde ich hier und jetzt in diesem Leben frei sein von Feindseligkeit, Plagen und Angst und werde glücklich leben.« Das ist der zweite Trost, den man sich verschafft... Der Buddha
Was die Religionen verbindet, ist nicht der Glaube an einen Gott, sondern der Glaube an ein Leben nach dem Tode. Dem religiösen Buddhismus zufolge werden wir in einer Lebensform wiedergeboren, die dem ethischen Status unseres Handelns in diesem oder einem früheren Leben entspricht. Ähnlichen Prinzipien folgen die monotheistischen Religionen, wenngleich hier im Großen und Ganzen nur zwei Post-mortem-Zustände zur Wahl stehen: Himmel und Hölle. Zu allen Zeiten haben die Religionen gesagt, daß der Tod _______________________________________________________________ 67
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nicht das Ende ist, sondern irgendein Teil von uns – vielleicht sogar alles – bestehen bleibt. Der Buddha akzeptierte den Gedanken der Wiedergeburt. Bei seinem Erwachen, so wird erzählt, erinnerte er sich an die gesamte Kette seiner früheren Geburten. Später schilderte er, manchmal sehr detailliert, wie Taten der Vergangenheit die Erfahrung dieses Lebens bestimmen und welche Auswirkungen die Taten dieses Lebens auf weitere Geburten haben. Was den Prozeß des Erwachens angeht, sprach er von zahllosen Geburten, die notwendig seien, bis der Mensch den Kreislauf verlassen kann, in dem er immer wieder sterben und wiedergeboren werden muß. Er sagte zwar, daß Dharma-Praxis auf jeden Fall sinnvoll sei, ob man nun an Wiedergeburt glaubt oder nicht; er sagte auch, daß Spekulationen über frühere oder künftige Leben nur ablenken – aber alles in allem müssen wir davon ausgehen, daß er in dieser Frage nicht zu einer agnostischen Anschauung neigte. _______________________________________________________________ 68
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Doch auch wenn die Religionen darin übereinstimmen, daß das Leben in irgendeiner Form nach dem Tod weitergeht, stellt das noch keinen Wahrheitsbeweis dar. Es gibt bekanntlich Religionen, die bis vor einiger Zeit überzeugt waren, die Erde sei flach, doch dieser Glaube hatte keinerlei Auswirkung auf die tatsächliche Gestalt der Erde. Der Buddha entsprach dem Weltbild seiner Zeit, als er die Idee der Wiedergeburt akzeptierte. In Übereinstimmung mit der indischen Tradition sagte er, das Ziel des Lebens sei die Befreiung aus dem Kreislauf der Wiedergeburten. (Kurioserweise finden Westler die Idee der Wiedergeburt gerade beruhigend.) Diese Anschauung wurde von späteren Buddhisten übernommen – ganz so, wie auch wir allerlei wissenschaftliche Anschauungen übernehmen, die, wenn man sie ernsthaft unter die Lupe nähme, schwer zu beweisen wären. Der Buddha befand die bestehende indische Wiedergeburtslehre für ausreichend als Basis seiner ethischen und befreienden Lehre. Im _______________________________________________________________ 69
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späteren, religiösen Buddhismus galt, daß ein Leugnen der Wiedergeburtslehre jegliches Gefühl von sittlicher Verantwortung und damit die Gesellschaft insgesamt untergraben würde. Ähnliche Befürchtungen kamen zur Zeit der Aufklärung in den christlichen Kirchen auf: Der Verlust des Glaubens an Himmel und Hölle werde zu totaler sittlicher Verwahrlosung führen. Eine der großen Erkenntnisse der Aufklärung bestand darin, daß ein atheistischer Materialist ebensoviel Moralgefühl haben kann wie ein Gläubiger – oder sogar mehr. Diese Einsicht brach die uneingeschränkte Herrschaft des kirchlichen Dogmas, und das war entscheidend für die Entwicklung der geistigen und politischen Freiheit, wie wir sie heute kennen. Vielfach wird behauptet, man könne kein Buddhist sein, wenn man sich die Wiedergeburtslehre nicht zu eigen macht. Von der Tradition her gesehen ist es tatsächlich problematisch, den Glauben an die Wiedergeburt abzu_______________________________________________________________ 70
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legen, denn in diesem Fall wären viele Grundgedanken zu überprüfen. Folgen wir aber dem Rat des Buddha, daß nichts blindlings akzeptiert werden darf, so sollte der »rechte Glaube« uns nicht daran hindern, uns ein eigenes Bild zu machen. Schwierig war für den Buddhismus von Anfang an die Frage, was denn da wiedergeboren wird. Die Religionen, die ein ewiges Selbst neben dem Körper und den mentalen Funktionen postulieren, tun sich da leichter: Körper und Geist mögen sterben, aber das Selbst (die Seele) besteht weiter. Im Buddhismus gilt jedoch, daß solch eine Selbst-Wesenheit in keinem Ding oder Lebewesen aufzufinden ist, weder durch Analyse noch durch Meditation. Das tief eingewurzelte Gefühl von persönlicher Identität ist reine Fiktion, ein tragischer Irrtum, der allem Begehren und aller Angst zugrunde liegt. Wie vereinbaren wir das jetzt mit dem Gedanken der Wiedergeburt, der ja etwas voraussetzt, das nicht nur den Tod von Körper und Gehirn überlebt, son_______________________________________________________________ 71
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dern irgendwie auch die Kluft zwischen Leiche und befruchteter Eizelle überwindet? Die verschiedenen buddhistischen Schulen haben unterschiedliche Antworten auf diese Frage gegeben – und schon das deutet darauf hin, daß die Antworten auf Spekulationen beruhen. Manche sagen, das von der Kraft der Gewohnheit getriebene Begehren setze sich in einem neuen Leben sogleich wieder durch; andere postulieren Bewußtseinsformen, die nicht an Körperlichkeit gebunden sind und sich Tage oder Wochen in einem Zwischenbereich aufhalten, bis sie einen geeigneten Mutterschoß finden. Solche Spekulationen führen uns von der agnostischen und pragmatischen Grundhaltung des Buddha weg und zu metaphysischen Gegenständen hin, die weder bewiesen noch widerlegt werden können. Und sollte es eines Tages unwiderlegliche Beweise für die Wiedergeburt geben, so würde das nur weitere und noch schwierigere Fragen aufwerfen. Das bloße Faktum der Wiedergeburt würde ja noch _______________________________________________________________ 72
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nichts über eine ethische Verbindung zwischen einem Leben und dem nächsten aussagen. Wenn ich demonstrieren kann, daß dem Tod ein weiteres Leben folgt, habe ich damit noch nicht bewiesen, daß ein Mörder in der Hölle und ein Heiliger im Himmel wiedergeboren wird. Der Wiedergeburtsgedanke hat seinen Stellenwert im religiösen Buddhismus allein dadurch, daß er einer der wichtigsten metaphysischen Lehren Indiens als Vehikel dient – ich meine die Lehre vom Handeln und seinen Folgen, die Karma-Lehre. Der Buddha akzeptierte den Karma-Gedanken ebenso wie den der Wiedergeburt, aber wenn man ihn dazu befragte, gaben seine Antworten zu erkennen, daß er eher ein psychologisches als ein kosmisches Gesetz darin sah. Er sagte häufig, daß Karma Intention sei – eine Bewegung des Geistes, zu der es immer dann kommt, wenn wir denken, sprechen oder handeln. Wenn wir darauf sehr genau achten, erkennen wir schließlich, wie Intentionen Verhaltensmuster _______________________________________________________________ 73
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erzeugen, die sich dann wieder auf die Qualität unserer Erfahrung auswirken. Im Unterschied zu dem, was der religiöse Buddhismus häufig lehrt, sah der Buddha das Karma allein noch nicht als ausreichende Erklärung für die individuelle Erfahrung. All das hat jedoch nichts mit der Frage zu tun, ob Buddhismus und moderne Naturwissenschaft miteinander vereinbar sind oder nicht. Wirklich kurios, daß eine Praxis, bei der es um die Beendigung der Angst geht, gezwungen sein sollte, sich uralte metaphysische Theorien zu eigen zu machen und damit ein für allemal als Glaubenssatz zu akzeptieren, daß Bewußtsein nicht anhand von Gehirnfunktionen zu erklären ist. Die Dharma-Praxis kann niemals in Widerspruch zur Naturwissenschaft gelangen, aber nicht deshalb, weil sie wissenschaftlichen Befunden eine Art mystische Bestätigung verschafft, sondern weil sie überhaupt nicht mit deren Bestätigung oder Widerlegung befaßt ist. Ihr geht es ausschließlich um die Natur der existentiellen Erfahrung. _______________________________________________________________ 74
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Es scheint also zwei Möglichkeiten zu geben: an die Wiedergeburt glauben oder nicht an sie glauben. Aber wir haben noch eine dritte Alternative, nämlich ganz ehrlich zuzugeben: Ich weiß es nicht. Wir müssen uns weder den naiven Wiedergeburtsglauben der religiösen Tradition zu eigen machen noch ins andere Extrem fallen und den Tod als endgültige Auslöschung ansehen. Und was wir auch glauben, unser Handeln wird jedenfalls über unseren Tod hinausreichen. Unsere Gedanken, Worte und Taten leben in denen weiter, denen wir begegnet sind und bei denen wir Eindrücke hinterlassen haben. Die Dharma-Praxis verlangt den Mut, uns mit unserem Menschsein zu konfrontieren. Die Bilder, die wir uns von Himmel und Hölle und den Zyklen der Wiedergeburt machen, sind nur dazu da, das Unbekannte mit einem Bild des schon Bekannten zuzumalen. Das Festhalten am Wiedergeburtsgedanken kann die Bereitschaft zu fragen lähmen. _______________________________________________________________ 75
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Die Frage, ob wir den Mut aufbringen, gegenüber solchen existentiellen Dingen eine undogmatische und nicht ausweichende Haltung einzunehmen, hat auch ethische Gesichtspunkte. Soll unser Handeln von dem ausgehen, was wirklich zählt im Leben, dann ist kein Platz für Dogmatismus und Winkelzüge. Agnostizismus kann kein Feigenblatt für Entschlußlosigkeit sein. Er ist vielmehr vor allem ein Katalysator des Handelns, denn er holt uns aus der Beschäftigung mit künftigen Leben zurück in die Gegenwart und verlangt damit ein Ethos des Einfühlens anstelle einer Metaphysik von Furcht und Hoffnung.
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Entschluß Wenn Krähen eine sterbende Schlange finden, benehmen sie sich, als wären sie Adler. Wenn ich mich als Opfer sehe, kränkt mich der kleinste Fehlschlag. Shāntidcva
Das Leben ist weder sinnhaltig noch sinnlos. Sinn oder das Fehlen von Sinn werden dem Leben durch Sprache und Imagination beigemessen. Wir sind sprachliche Wesen, Bewohner einer Wirklichkeit, in der es sinnvoll ist, nach Sinn zu fragen. Wenn das Leben Sinn haben soll, braucht es ein Ziel. Selbst wenn es uns darum geht, vollkommen im Hier und Jetzt zu sein, frei von Prägungen und dem Gedanken eines zu erreichenden Ziels, haben wir darin doch eine klare Zielvorstellung, und ohne sie wäre das Leben sinnlos. Eine Zielvorstellung besteht aus Worten und Bildern. Und wir können aus Sprache und Vorstellungen ebensowenig heraustreten wie aus unserem Körper. _______________________________________________________________ 77
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Unser Problem liegt weniger in mangelnder Entschlußkraft als vielmehr darin, daß unser Entschluß sich so häufig als irregeleitet erweist. Die bedeutungsschwangeren Gefühle halten nicht an. Wir beschließen, reich und berühmt zu werden, müssen dann aber irgendwann einsehen, daß dergleichen Dinge uns nicht das anhaltende Behagen einbringen, das wir uns von ihnen versprachen. An Reichtum und Erfolg ist nichts auszusetzen; aber wenn wir sie haben, verlieren sie ihre Zugkraft. Es ist wie beim Bergsteigen. Wir wenden beim Klettern viel Kraft auf und machen uns große Hoffnungen, aber wenn wir auf dem Gipfel sind, stellen wir fest, wie mickrig er sich gegen den nächsten, noch höheren ausmacht. Gibt es in einer Welt, die in ihrem Wandel voller Widersprüche ist, irgend etwas, für das sich totales Engagement lohnt? Die Versuchung ist groß, sich hier an einen die Ziele vorgebenden Gott außerhalb von Raum und Zeit zu halten, an ein transzendentes Absolutes, das letzten Sinn garantiert. Aber geben wir da_______________________________________________________________ 78
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mit nicht dem Drang nach den Tröstungen der Religion nach? Dharma-Praxis geht nicht vom Glauben an eine transzendente Wirklichkeit aus, sondern beginnt als das Sich-Einlassen auf die Erfahrung der Angst in einer unsicheren Welt. Auch wenn eine Zielvorstellung vielleicht aus nicht mehr als Bildern und Worten besteht, können wir uns doch ganz und gar auf sie festlegen. Zu solcher Entschlossenheit gehören Streben, Wertschätzung und Überzeugung: Ich strebe danach zu erwachen, ich weiß seinen Wert zu schätzen, und ich bin überzeugt, daß es möglich ist. Daran ist die gesamte Person beteiligt: Das Streben ist ebenso körperliches Verlangen wie geistiges; Wertschätzung ist Vorliebe, aber auch Leidenschaft; Überzeugung ist ebensosehr Intuition wie rational gewonnen. Wo solche Gefühle wach werden, ist das Leben von Sinn erfüllt, um welche Zielvorstellungen es auch gehen mag. _______________________________________________________________ 79
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Angst ist die Folge des Wunsches, das Leben möge anders sein, als es ist. In einer sich wandelnden Welt ist dieser Wunsch Ausdruck der Suche nach Trost in etwas Dauerhaftem und Verläßlichem – in einem Selbst, das die Dinge in der Hand hat, in einem Gott, der die Geschicke lenkt. Die Ironie dieser Strategie liegt darin, da sie eben das erzeugt, wogegen sie gerichtet ist. Wenn wir der Angst auf diese Weise beizukommen versuchen, verstärken wir nur das, was Angst erzeugt: den Wunsch, das Leben möge anders sein, als es ist. Wir befinden uns in einem Teufelskreis: Je peinigender die Angst, desto größer der Wunsch, sie loszuwerden, aber je größer dieser Wunsch, desto peinigender die Angst. Und das ist nicht einfach ein Irrtum, der sich ohne weiteres korrigieren ließe. Es ist eine tiefsitzende Gewohnheit, eine Sucht, die selbst dann bestehen bleibt, wenn wir erkennen, wie destruktiv sie ist. Um sie aufzuheben, bedarf es eines Entschlusses von mindestens gleicher Kraft. Solch ein Entschluß wird jedoch wahr_______________________________________________________________ 80
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scheinlich nicht gleich dazu führen, daß wir uns anders fühlen. Ein Raucher mag noch so entschlossen sein, von den Zigaretten zu lassen, wenn er ein verrauchtes Zimmer betritt, wird er trotzdem jedesmal das Verlangen spüren. Die Dharma-Praxis geht von einem Entschluß aus. Damit ist keine emotionale Konversion gemeint, keine niederschmetternde Einsicht in die Fehlerhaftigkeit unserer Lebensweise, kein verzweifelter Drang, gut zu sein, sondern eine nicht nachlassende, zuinnerst empfundene Besinnung auf Prioritäten, Werte und Ziele. Was wir brauchen, ist eine unsentimentale, unerschrockene Bestandsaufnahme unseres Lebens. Jemand sagt vielleicht: »Ich fasse den Entschluß aufzuwachen, ein diesem Ziel dienendes Leben zu führen und Freundschaften zu pflegen, die dafür förderlich sind« –, und trotzdem empfindet er vielleicht meistens ganz anders. So oft lassen wir es dabei be_______________________________________________________________ 81
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wenden, einfach von Tag zu Tag weiterzutreiben, uns von Routine mitziehen zu lassen, uns alten Gewohnheiten zu überlassen, die Zügel schleifen zu lassen – und unser tiefer Entschluß ist uns nur noch ganz von ferne und nebenbei bewußt. Wir wissen, daß das unbefriedigend ist und wir uns damit selbst verraten – aber wir tun es trotzdem. Vielleicht meditieren wir sogar nur mechanisch, überlassen uns allerlei Phantasien und langweilen uns. Oder wir werden selbstgerecht und fromm. Erwachen ist der Entschluß, der alle anderen Entschlüsse einbegreift. Was wir tun, ist sinnvoll in dem Maße, wie es zum Erwachen führt, und sinnlos in dem Maße, wie es von ihm weg führt. Dharma-Praxis ist der Prozeß des Erwachens: die Gedanken, Worte und Taten, die die Fäden des Daseins zu einem zusammenhängenden Ganzen verweben. Und das ist ein kooperativer Prozeß, getragen durch Gemeinschaft. Der Prozeß des Erwachens ist wie das Gehen auf einem Pfad. Wenn wir nach stundenlan_______________________________________________________________ 82
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gem Kampf mit Gestrüpp schließlich auf einen Pfad stoßen, schwindet damit zumindest das Gefühl des blinden Umherirrens. Außerdem können wir uns jetzt plötzlich frei bewegen und sind nicht mehr ständig mit Hindernissen beschäftigt. Wir können zu einer rhythmischen, mühelosen Gangart übergehen. Und wir sind nun auch mit anderen verbunden, denn Tiere und Menschen müssen hier schon gegangen sein. Ein Pfad bleibt ja nur als Pfad erhalten, wenn er immer wieder betreten wird. Andere haben diesen Pfad für uns geschaffen, und wir sorgen durch unser Gehen dafür, daß er auch für spätere noch erhalten bleibt. Wohin der Weg führt, ist hier weniger wichtig als der Entschluß, den nächsten Schritt zu tun. Beim Gehen auf dem Pfad des Erwachens bleibt Raum für alle möglichen Vorhaben. Manchmal haben wir uns vielleicht auf die materiellen Erfordernisse des Lebens zu konzentrieren, indem wir uns etwa einen Broterwerb aufbauen, der mit unseren tiefsten Wertvorstellungen und Sehnsüchten überein_______________________________________________________________ 83
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stimmt. Manchmal werden wir uns auch zurückziehen, uns aus dem Netz sozialer und psychologischer Zwänge lösen, um unser Leben in stiller und förderlicher Umgebung zu überdenken. Dann wieder lassen wir uns auf die Welt ein, um ganz entschieden und schöpferisch auf die Angst anderer zu reagieren. Bei diesen Vorhaben gibt es keine Hierarchie; keines ist »besser« als ein anderes, und der Weg von einem zum nächsten ist kein »Voranschreiten«. Jedes hat seine Zeit. Wenn wir geistige Gelassenheit und Klarheit suchen, während unser äußeres Leben ein einziges Durcheinander ist, werden wir vielleicht zeitweilig entkommen können, aber dauerhaften Gleichmut finden wir auf diese Weise nicht. Wenn wir uns für das Wohlergehen der Welt einzusetzen versuchen, während wir selbst noch von irrationalen Idealen und Zwängen beherrscht sind, untergraben wir nur unseren eigenen Entschluß. _______________________________________________________________ 84
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Wir mögen uns den erhabensten Dingen verschreiben, es wird nicht viel dabei herauskommen, solange wir uns das Erreichen des Ziels nicht wirklich zutrauen. Wir trösten uns vielleicht mit dem Gedanken, daß das Erwachen uns irgendwann zuteil werden wird, wenn wir lange genug daran geglaubt haben. Der Wunsch nach Tröstlichem reicht vielleicht tiefer, als wir wahrhaben möchten. Dahinter steckt der Wunsch, einigermaßen einverstanden mit uns selbst zu sein, ohne jedoch allzuviel tun zu müssen. Aber können wir uns solchen Luxus leisten in einer Welt, in der einzig der Tod gewiß, der Zeitpunkt des Todes aber ungewiß und das Weiterleben eine Hypothese ist? Hier läßt uns die Dharma-Praxis wach und kritisch bleiben. Wir haben zumindest die Möglichkeit, das Aufweichen unseres Entschlusses zu selbstzufriedener Routine zu bemerken oder uns zu durchschauen, wenn wir Selbstrechtfertigung durch die Zustimmung anderer suchen. Wir können darauf aufmerk_______________________________________________________________ 85
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sam werden, daß wir der Angst doch lieber ausweichen, als sie zu verstehen und anzunehmen. Und es wird uns nicht verborgen bleiben, daß wir uns trotz aller Einsicht nicht unbedingt anders verhalten. Unser Entschluß ändert wenig daran, daß wir Geschöpfe der Gewohnheit sind. Wirklich wirksam wird unser Entschluß erst durch Selbstvertrauen, und das hängt davon ab, welches Bild wir von uns selbst haben. Wenn wir uns als klein und häßlich sehen, immer im Schatten anderer, wird uns die kleinste Schwierigkeit als unüberwindlich erscheinen. Wir werden uns zu denen hingezogen fühlen, die das Erwachen als ein fernes Ziel betrachten, nur einigen Auserwählten vorbehalten. Fühlen wir uns dagegen anderen überlegen, so werden wir wohl allem Schweren mit stoischer Verachtung begegnen, aber wenn wir dann doch unterliegen, quält uns die Demütigung. Und vielleicht gehen wir der Freundschaft jener aus dem Weg, die uns auf die Selbstgefälligkeit aufmerksam machen _______________________________________________________________ 86
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könnten, die uns in einem weiteren Zyklus der Angst gefangenhält. Selbstvertrauen hat nichts mit Überheblichkeit zu tun. Es ist das Vertrauen auf unsere Fähigkeit zu erwachen. Es ist der Mut, all dem, was uns das Leben vorsetzt, gelassen zu begegnen, und es ist die Demut, die uns jede Situation, in die wir gelangen, als eine Gelegenheit zu lernen sehen läßt.
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Redlichkeit Ein Mönch fragte Yunmen: »Was ist die Lehre des ganzen Lebens?« Der Meister sagte: »Dem Jeweiligen angepaßte Aussagen.« Niederschrift von der Smaragdenen Felswand
Der Entschluß zu erwachen verlangt die Redlichkeit, niemandem dabei zu schaden. Die Dharma-Praxis läßt sich nicht losgelöst von unseren Interaktionen mit der Welt betrachten. Unsere Taten, Worte und Absichten schaffen ein ethisches Umfeld, das den Entschluß entweder mitträgt oder schwächt. Wenn unser Verhalten anderen oder uns selbst schadet, wird unsere Fähigkeit der Ausrichtung auf das Vorhaben geschwächt. Wir sind dann beeinträchtigt, fühlen uns abgelenkt und unbehaglich. Die Praxis ist beeinträchtigt, als hätte unser Entschluß seine Vitalität eingebüßt. _______________________________________________________________ 88
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Redlichkeit wurzelt in unserem Gefühl von uns selbst und der Wirklichkeit, in der wir leben. Daß wir isolierte, verängstigte Wesen in einer feindlichen Welt sind, ist vielleicht nicht unsere bewußte Philosophie, könnte aber ein tiefes, geradezu körperliches Gefühl sein, das sich unter dem nach außen hin präsentierten Bild eines mitfühlenden, verantwortungsbewußten Menschen verbirgt. Erst wenn etwas uns ernsthaft erschreckt oder wenn Gier und Haß uns mitreißen, wird diese verborgene Grundhaltung offenbar. Dann erlebt jeder die Welt als Gegner: eine einzelne Seele im verzweifelten Ringen um ihr Überleben unter anderen. Unter diesen Umständen können wir anderen auf vielerlei Weise schaden, und nicht nur durch Totschlag und körperliche Verletzung, sondern indem wir ihnen wegnehmen, was ihnen zusteht, indem wir sie mißhandeln und sexuell ausbeuten; schließlich auch dadurch, daß wir sie belügen, hinter ihrem Rücken schlecht von ihnen sprechen, bösar_______________________________________________________________ 89
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tige oder abschätzige Bemerkungen machen oder ihnen einfach mit unserem Geschwätz die Zeit stehlen. Redlichkeit verlangt nicht nur, daß wir solches Handeln unterlassen, sondern auch, daß wir uns klarmachen, wie es in unseren Gedanken und Phantasien eben doch stattfindet, wie wir es vielleicht sogar planen (auch wenn wir dann die Ausführung nicht über uns bringen). Es gibt auch Zeiten, in denen wir uns nicht gegen andere gestellt sehen, sondern als Teilhaber einer gemeinsamen Wirklichkeit. Auch in dieser Situation können wir natürlich nicht verletzen, berauben, mißhandeln oder belügen, ohne unsere Redlichkeit aufzugeben. Redlichkeit hat sehr viel mit Einfühlungsvermögen zu tun, denn wo wir uns einfühlen können, wird uns das Wohlergehen anderer am Herzen liegen, und das macht uns großzügig und fürsorglich. Unser Denken, Sprechen und Handeln ist dann mehr vom Gefühl des Gemeinsamen als von dem des Trennenden geleitet. Aber wenn wir die Schwierig_______________________________________________________________ 90
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keiten eines anderen Menschen nachzufühlen vermögen und von den besten Absichten geleitet sind, heißt das noch nicht, daß unser Handeln auch wirklich hilfreich sein wird. Einfühlungsvermögen allein bewahrt uns noch nicht vor Fehlern. Redlichkeit wurzelt zwar im Einfühlungsvermögen, aber sie verlangt außerdem Mut und Intelligenz, denn jede ethische Entscheidung von einigem Gewicht bringt Risiken mit sich. Wir können zwar die Folgen unserer Entscheidungen nicht unbedingt absehen, aber wir können für mehr ethische Intelligenz sorgen. Ethische Intelligenz entsteht durch das Lernen aus Fehlern. Wir lernen zu erkennen, wann eine reaktive Gewohnheit sich einschaltet und uns wieder mal den Weg des geringsten Widerstands suchen läßt. Wir sehen, wann das Einfühlungsvermögen vor Furcht oder Eigeninteresse kapituliert. Und wir lernen, auf Worte und Gesten zu achten, _______________________________________________________________ 91
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die bloß den Eindruck von Einfühlungsvermögen geben sollen, in Wirklichkeit aber der Wahrung des Gesichts dienen. Und schließlich wird uns auch auffallen, wann wir Risiken aus dem Wege gehen. Wie oft tun wir etwas nicht, weil wir unsicher sind, wie unser Handeln aufgenommen wird? Solch einen Augenblick einfach verstreichen zu lassen kann quälend sein. Um solchen Ängsten zu begegnen, müssen wir den Mut aufbringen, weniger ichbezogen und dafür mitfühlender zu leben. So bedrohlich eine Situation auch erscheinen mag, sobald wir etwas sagen oder tun, ist sie auch schon entschärft. Ist das Zögern einmal überwunden, treten wir in eine dynamische, fließende Welt ein, die uns herausfordert, zu handeln und immer wieder zu handeln. Die tiefschürfendste Meditation über Ethik läßt die Welt genau so, wie sie ist; ein einziges Wort, eine einzige Tat kann sie für immer verwandeln. _______________________________________________________________ 92
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Zur Redlichkeit gehört nicht nur die Intelligenz, die gegenwärtige Situation als Folge früherer Entscheidungen zu verstehen, sondern auch der Mut, sich auf sie als den Ort einzulassen, an dem das Künftige entsteht. Sie gibt uns die Kraft, die Zweischneidigkeit einer Gegenwart zu bejahen, die an eine unwiderrufliche Vergangenheit geknüpft und zugleich offen für eine unbestimmte Zukunft ist. Solche Redlichkeit kann nicht auf moralische Gewißheit zurückgreifen. Apriorische Gewißheit verträgt sich nicht mit einer wandelbaren, unsicheren Welt, in der die Zukunft nicht festgelegt ist und sich erst aus Entscheidungen und Handlungen entwickelt. Gewißheit kann beruhigend und bestärkend wirken, aber sie stumpft auch das Bewußtsein für die Einzigartigkeit jedes Augenblicks ab. Angesichts der noch nie dagewesenen und unwiederholbaren Vielschichtigkeit dieses Augenblicks lautet die Frage nicht »Was ist jetzt das richtige Handeln?«, sondern »Was ist jetzt das einfühlende Handeln?«. An diese Frage kann _______________________________________________________________ 93
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man mit Redlichkeit herangehen, aber nicht mit Gewißheit. Redlichkeit akzeptiert, daß jedes Handeln ein Risiko birgt, und damit bejaht sie die Fehlbarkeit, die der Gewißheit ein solcher Greuel ist. Bedroht ist die Redlichkeit ebenso durch das Haften an der Sicherheit des Bekannten wie durch die Furcht vor der Unsicherheit des Unbekannten. Allzu leicht wird sie gebeutelt von den Winden des Begehrens und der Furcht, des Zweifelns und Sich-Sorgens, der Einbildung und des Egoismus. Je mehr wir diesen Dingen nachgeben, desto mehr wird unsere Redlichkeit untergraben, bis wir schließlich von psychischen und sozialen Gewohnheiten beherrscht werden. Angesichts eines moralischen Dilemmas wissen wir dann nichts Besseres zu tun, als nachzubeten, was die Eltern oder sonstige Autoritätsfiguren oder die religiösen Texte uns sagen. Moralische Erziehung mag für die Stabilität der Gesellschaft notwendig sein; als Orientierungshilfe für redliches Verhalten taugt sie nicht. _______________________________________________________________ 94
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Aber manchmal tun wir etwas, was uns selbst erstaunt. Ein Freund bittet uns um Rat in einer Sache, die verzwickte moralische Entscheidungen erfordert. Aber anstatt ihn wie meist mit nichtssagenden Gemeinplätzen oder den Weisheiten anderer abzuspeisen, sagen wir plötzlich etwas, das uns selbst neu ist. So etwas entschlüpft uns mit beinahe schockierender Spontaneität. Wir können solch eine Äußerung kaum für uns selbst reklamieren, aber von anderen stammt sie auch nicht. Hier hat das Mitfühlen den Würgegriff des Ich durchbrochen, und für einige atemberaubende Sekunden erleben wir die schöpferische Freiheit des Wachseins.
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Freundschaft Wie die Morgendämmerung dem Aufgang der Sonne vorausgeht, so geleitet wahre Freundschaft auf den edlen achtfachen Pfad. Der Buddha
Dharma-Praxis besteht nicht nur darin, daß wir in uns selbst Entschluß und Redlichkeit heranbilden, sondern sie verkörpert sich als Freundschaft. Unsere Praxis wird bestärkt, gestützt und herausgefordert durch kontinuierlichen Kontakt mit Freunden und Mentoren, die den Dharma in ihrem eigenen Leben zu verwirklichen trachten. Wir kommen allein zur Welt und werden allein sterben. Einen großen Teil unseres Lebens verbringen wir in Gefühlen und Gedanken, die wir nie vollständig mitteilen können. Trotzdem ist unser Leben definiert durch die Beziehungen zu anderen. Der Körper kündet von Eltern und einer unübersehbaren Li_______________________________________________________________ 96
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nie von Vorfahren; Sprache setzt voraus, daß es außer mir noch andere Sprecher gibt; und meine geheimsten Gedanken zeugen von denen, die ich liebe und fürchte. Stets und immer zugleich sind wir allein und mit anderen. Wir sind partizipatorische Wesen in einer partizipatorischen Wirklichkeit, und wir suchen Beziehungen, die uns erfahrbar machen, was es heißt, lebendig zu sein. Im Hinblick auf die Dharma-Praxis ist ein wahrer Freund mehr als nur ein Gleichgesinnter, der uns so nimmt, wie wir sind. Er wird uns vielmehr verstehen machen, was Leben bedeutet; er wird uns führen, wenn wir uns verlaufen, er wird uns den Weg zeigen, er wird uns die Angst durch seine Anwesenheit erträglicher machen. Solche Freundschaften entstehen zwischen Gleichgestellten mit ähnlichen Wünschen und Interessen auf natürliche Weise, aber es gibt auch eine ganz besondere Form der Freund_______________________________________________________________ 97
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schaft, nämlich mit denen, die wir achten, weil sie an Reife und Einsicht weiter sind als wir. Alles an solchen Menschen gibt uns Orientierung und beruhigenden Zuspruch. Wie sie ihren Körper bewegen, wie sie unseren Blick halten, der charakteristische Fluß ihrer Rede, ihre Reaktionen auf plötzliche Provokationen, ihre Art, in aller Gelassenheit den täglichen Verrichtungen nachzugehen – all das ist so sprechend wie das, was sie in Worten formulieren. Und auch wir sind aufgerufen, so zu reagieren. In solchen Beziehungen sind wir nicht mehr Wissensempfänger. Vielmehr sind wir zur Interaktion aufgefordert: uns herausfordern zu lassen und selbst herauszufordern. Diese Freunde sind Lehrer in dem Sinne, daß sie Meister des Lernens aus jeder Situation sind. Wir suchen in ihnen nicht Vollkommenheit, sondern das ehrliche und wohlwollende Akzeptieren menschlicher Unvollkommenheit; nicht Allwissenheit, sondern das lächelnde Eingeständnis der Unwissenheit. Geben wir acht, daß wir uns nicht von charis_______________________________________________________________ 98
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matischen Erleuchtungs-»Lieferanten« einwickeln lassen. Wahre Freunde drängen oder manipulieren uns nicht zum Glauben an etwas, dessen wir noch nicht sicher sind. Solche Freunde sind wie Hebammen, die eine helfende Hand reichen, wenn etwas geboren werden will. Sie machen sich nicht unersetzlich, sondern Schritt für Schritt überflüssig. Sie sind unsere lebendige Verbindung zu Vergangenheit und Zukunft. Auch sie sind durch Freundschaften gereift. Die DharmaPraxis ist durch eine ununterbrochene Folge von Freundschaften lebendig geblieben – seit Gautama. Durch Freundschaft wird uns ein Faden in die Hände gelegt, der frühere mit künftigen Generationen verbindet. Von da an sind wir etwas schuldig und tragen Verantwortung. Die Dharma-Praxis kann nur leben, wo solche Freundschaften leben. Sie hat nur dieses eine Medium der Weitergabe. Solche Freunde sind auch unsere lebendige Verbindung zur Gemeinschaft der heute Lebenden und Ringenden. Durch sie sind wir _______________________________________________________________ 99
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Angehörige einer Kultur des Erwachens, die immer weitere Kreise zieht und nicht nur »Buddhisten« einschließt, sondern alle, die sich den Werten der Dharma-Praxis verpflichtet fühlen oder in diese Richtung tendieren. Die Formen der Freundschaft haben sich im Laufe der Zeit gewandelt. Der Dharma hat seinen Weg durch Kulturen genommen, in denen unterschiedliche Vorstellungen von Freundschaft herrschten. Dabei zeichneten sich zwei Hauptformen ab: das GefährtenModell des Frühbuddhismus und das GuruSchüler-Modell späterer Traditionen. In beiden Fällen ist Freundschaft mit Fragen der religiösen Autorität verquickt worden. Vor seinem Tod verkündete der Buddha, daß der Dharma ausreichend sei als Führer. In der frühen Gemeinschaft beruhte Freundschaft auf der gemeinsamen Verpflichtung auf die vom Buddha zur Unterstützung der DharmaPraxis eingeführten Regeln der Disziplin. Es _______________________________________________________________ 100
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waren brüderliche und schwesterliche Gemeinschaften unter Führung einer väterlichen oder mütterlichen Lehrergestalt. Wir finden hier zwar die Hierarchie einer indischen Großfamilie wieder, in der man sich den Älteren unterordnet, aber die letzte Autorität lag nicht bei der Position, die man in der Hierarchie innehatte, sondern bei den Regeln der Disziplin. Wahre Freundschaft war der Beziehung zwischen Geschwistern und zwischen Kindern und Eltern nachgebildet, mit dem Unterschied, daß vor dem Dharma alle gleich waren und alle gleichermaßen seinem Gesetz unterworfen. Nach ungefähr fünfhundert Jahren übernahmen manche Schulen das indische GuruSchüler-Modell. Hier wird der Lehrer eine heroische Gestalt, deren Willen der Schüler sich unterwirft, um den Prozeß des Erwachens zu beschleunigen. Diese Beziehung ist der zwischen Herr und Knecht oder zwischen Landesherr und Untertan nachempfunden. Der Unterschied der Machtfülle zwischen Guru _______________________________________________________________ 101
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und Schüler wurde als treibende Kraft der persönlichen Wandlung genutzt. In die Vorstellung von wahrer Freundschaft flossen also Elemente von Herrschaft und Unterwerfung (und damit auch die Gefahr des Zwanges) ein. Wer nach reiflicher Überlegung jemanden als seinen Lehrer akzeptierte, von dem wurde erwartet, daß er ihn achtete und ihm gehorchte. Hier wurde die Autorität des Dharma mehr oder weniger weitgehend durch die des Guru ersetzt, dem in manchen Traditionen schließlich die Rolle des Buddha beigemessen wurde. So gegensätzlich diese Modelle wirken, sie konnten doch nebeneinander existieren. Als einer, der sich zu den vom Buddha eingesetzten Regeln der Disziplin bekannte, war er ein wahrer Freund der Gemeinschaft und dem Dharma Rechenschaft schuldig, aber als Guru war er erhaben über jede Kritik, die der verblendete Geist vorbrachte. Die meisten der heutigen buddhistischen Traditionen sind von einem dieser beiden Modelle oder einer Mischform geprägt. _______________________________________________________________ 102
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Natürlich werden solche traditionellen Modelle der Freundschaft in heutigen demokratischen Gesellschaften angezweifelt. Wir fühlen uns einfach nicht mehr wohl in Freundschaften, die sich nach dem Vorbild der Hierarchie einer Großfamilie, anhand der Gültigkeit eines Gesetzes oder als Unterwerfung unter den Willen eines anderen definieren. Viele haben nicht mehr das Bedürfnis, eine Uniform zu tragen oder irgendwie außergewöhnlich zu erscheinen. Exotische Namen, Gewänder, Amtsinsignien, Titel – das ganze Drum und Dran der Religion - stiften soviel Verwirrung, wie sie vielleicht Hilfe bieten. Sie repräsentieren die Annahme, daß es da eine Elite gibt, die sich durch ihre bekundete Ausrichtung implizit als außergewöhnlich ausweist. Fragen zur Natur wahrer Freundschaft kommen jedoch nicht allein durch veränderte Umstände auf. Noch wichtiger ist, daß wir bemerken, daß die Umstände sich geändert haben. Auf historisches Bewußtsein kommt es _______________________________________________________________ 103
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also an. Es läßt sich nicht mehr behaupten, daß die Dharma-Praxis seit der Zeit des Buddha gleich geblieben ist. Sie hat den Bedingungen der jeweiligen Zeit angepaßte Formen entwickelt und tut das weiterhin. Und eben weil sie auf Veränderungen kreativ reagieren konnte, hat sie überlebt. Welche Züge des heutigen Lebens wirken sich wohl am ehesten auf den Begriff der wahren Freundschaft aus? Achtung vor der schöpferischen Autonomie der individuellen Erfahrung wird einen höheren Stellenwert haben als Unterwerfung unter die Dogmen einer Schule oder die autokratische Autorität eines Gurus. Die Aufgabe eines Freundes wird darin bestehen, die Individuation, Eigenständigkeit und Imagination zu fördern. In solche Freundschaften könnten Gedanken wie Martin Bubers »Ich-Du«-Beziehung oder auch Gabriel Marcels Ideal der »Zugänglichkeit« für andere eingehen. Die praktische Umsetzung könnte auf psychotherapeutische Erfahrungen zurückgreifen, etwa auf die Schaffung _______________________________________________________________ 104
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eines »schützenden Freiraums«, in dem vertrauensvolle, öffnende und heilende Begegnungen möglich werden. Und was das Lernen und die Schulung angeht, könnte die Beziehung zwischen Künstler und Lehrling als Modell dienen: Entwicklung von Fähigkeiten, die eine gekonnte Umsetzung des schöpferischen Potentials erlauben. Seit der Buddhismus Religion wurde, begannen Fragen der Macht eine immer größere Rolle in der wahren Freundschaft zu spielen. Sowohl das Gemeinschafts- als auch das GuruSchüler-Modell haben große, unpersönliche, hierarchische und autoritäre Strukturen entstehen lassen, in denen eine Elite die Macht ausübte. Vielfach sind daraus regelrechte »Kirchen« geworden, die vom Staat sanktioniert und unterstützt wurden. Das hat häufig zu starrem Konservatismus und Intoleranz gegenüber abweichenden Meinungen geführt. Das muß nicht so sein. Man kann sich auch Freundesgemeinschaften vorstellen, in denen Verschiedenheit nicht unterdrückt, sondern _______________________________________________________________ 105
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begrüßt wird, in denen Größe nicht das Maß des Erfolgs ist, in denen die Macht von allen gemeinsam getragen und nicht einer Minderheit von Experten übertragen wird, in denen Frauen und Männer wirklich als Gleiche behandelt werden, in denen die Fragen mehr gelten als die Antworten.
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Pfad Einst umschritt ein alter Mann das Kloster Reting. Geshe Drom sagte zu ihm: »Es macht mich froh, Euch bei der Umschreitung zu sehen, aber würdet Ihr nicht lieber den Dharma üben?« Der alte Mann dachte darüber nach und befand, er sollte sich vielleicht lieber absichern und einige buddhistische Schriften lesen. Als er im Tempelhof las, sagte Geshe Drom zu ihm: »Es macht mich froh, Euch den Dharma lesen zu sehen, aber würdet Ihr ihn nicht lieber üben?« Daraufhin kam dem alten Mann der Gedanke, daß die beste Absicherung wohl darin bestünde, entschlossen und mit gesammelter Aufmerksamkeit zu meditieren. Er legte seine Lektüre beiseite und setzte sich auf ein Kissen, die Augen halb geschlossen. Drom sagte: »Gut zu sehen, daß Ihr meditiert, aber würdet Ihr nicht lieber den Dharma üben?« Da dem alten Mann nun nichts mehr einfiel, was er noch tun konnte, fragte er: _______________________________________________________________ 107
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»Geshe-la, bitte, wie soll ich den Dharma üben?« »Wenn Ihr übt«, erwiderte Drom, »gibt es keinen Unterschied zwischen dem Dharma und Eurem eigenen Geist.« Tsun ba je gom (»Vermischte Ratschläge der Kadampa-Meister«)
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Bewußtheit Des weiteren weiß ein Mönch, wenn er geht: »Ich gehe.« Er weiß, wenn er steht: »Ich stehe.« Er weiß, wenn er sitzt: »Ich sitze.« Er weiß, wenn er sich niederlegt: »Ich lege mich nieder.« Der Buddha
Ich mache den Kühlschrank auf und stelle fest, daß keine Milch da ist und ich welche besorgen muß. Ich schließe die Tür hinter mir, wende mich draußen nach links, biege zwei Straßen weiter wieder nach links ab und trete links in den Laden ein, wo ich mir einen Karton Milch aus dem Kühlregal nehme, ihn an der Kasse bezahle, dann den Laden wieder verlasse, mich draußen nach rechts, an der Straßenecke wieder nach rechts wende, zwei Querstraßen weiter auf dem Gehsteig gehe, mich wieder nach rechts wende, die Tür aufschließe und wieder in die Küche gehe. _______________________________________________________________ 109
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Davon, daß all dies geschehen ist, zeugt einzig der kalte Milchkarton in meiner Hand, den ich mit etwas zu festem Griff halte. Bei dem Versuch, diese zehn verschwundenen Minuten zu rekonstruieren, fällt mir ein, daß mir etwas im Kopf herumging, das XY gestern zu mir gesagt hat und das ich seitdem mit Achselzucken loszuwerden versucht habe. Es wurmte mich und hat sich als eine Art Stich irgendwo im Oberbauch festgesetzt. Ich erinnere mich, daß ich eben beim Gehen völlig beschäftigt war mit Überlegungen, was ich hätte erwidern sollen, als die Bemerkung fiel, und was ich sagen würde, wenn sie noch einmal fiele. Den genauen Wortlaut meiner Erwiderung weiß ich nicht mehr. Aber ich erinnere mich an das sehr befriedigende Gefühl, das die beißende Mischung aus Beiläufigkeit und Grausamkeit bei mir auslöste, bestätigt noch durch den erschrockenen Ausdruck, den ich mir in XY's Gesicht vorstellte. Von dem Windstoß dagegen, der den ersten Frosthauch vom Winter herantrug und die _______________________________________________________________ 110
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letzten welken Blätter schabend über den Gehsteig trieb, während ich den Kragen gut unter dem Kinn zusammenzog, weiß ich nichts mehr. Und obwohl ich in XYs Richtung starrte, entgingen mir die winkende Hand meines Freundes drüben auf seinem Fahrrad, sein Ruf und sein Pfiff, sein Lächeln, mit dem er dann bei Grün weiterfuhr. Einen Großteil unserer Zeit verbringen wir so. Wenn es uns einmal bewußt wird, drängt sich der Verdacht auf, daß wir unser Leben nicht so ganz in der Hand haben. Vielfach treiben wir auf einer Woge von beharrlich immer wieder sich durchsetzenden Impulsen dahin. In stillen Augenblicken der Selbstbetrachtung merken wir es, aber meistens lassen wir uns einfach mitreißen – bis wir wieder mal unsanft an den Felsen anklagender Ichbefangenheit geschleudert werden und dann in Übellaunigkeit und Depression abgleiten. Kaum etwas ist schwerer zu erinnern, als sich an das Erinnern zu erinnern. Bewußtheit _______________________________________________________________ 111
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fängt mit dem Erinnern dessen an, was wir so gern vergessen. Und das Sich-treiben-Lassen auf einer Welle von Impulsen ist nur eine von vielen Strategien des Vergessens. Wir vergessen nicht nur das Erinnern, wir vergessen sogar, daß wir in einem Körper mit Sinnen und Gefühlen und Gedanken und Emotionen und Ideen leben. Das Grübeln über etwas, das ein Freund gesagt hat, kann uns so völlig in Anspruch nehmen, daß es uns vom Rest unserer Erfahrung abschneidet. Die Welt der Farben und Formen, der Laute, Gerüche, Geschmäcke und Empfindungen hat dann etwas Stumpfes und Fernes. Sogar ein Sympathie zeigender Mensch erscheint uns dann wie fremd und unerreichbar. Wir fühlen uns abgeschnitten und haltlos treibend. Anhalten und auf das achten, was eben geschieht, ist eine der Möglichkeiten, solch einer Klemme zu entkommen. Es ist auch eine ganz brauchbare Definition von »Meditation«. _______________________________________________________________ 112
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Man kann Meditation als formale Praxis betreiben, ein- oder zweimal am Tag für jeweils eine halbe Stunde oder so, aber ihr eigentliches Ziel ist es, frisches Bewußtsein in alles hineinzutragen, was wir tun. Ob ich gehe oder stehe, sitze oder liege, ausruhe oder arbeite, allein oder in Gesellschaft bin – stets versuche ich diese gleiche Aufmerksamkeit walten zu lassen. Wenn ich also Milch hole, werde ich das schabende Geräusch der Blätter auf dem Gehsteig ebenso wahrnehmen wie meinen verletzten Ärger über die von XY gemachte Bemerkung. Bewußtheit ist ein Prozeß des zunehmenden Annehmens unserer selbst. Sie ist weder kühle Zergliederung des Lebens noch das Mittel, mit dem man sich vollkommen macht. Was sie wahrnimmt, das umfängt sie. Es gibt nichts, was dieses Annehmens unwürdig wäre. Das Licht des Bewußtseins wird zweifellos auch auf Dinge fallen, die wir lieber nicht sehen würden. Und das kann einen Abstieg ins Verbotene, Verdrängte, Verleugnete notwen_______________________________________________________________ 113
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dig machen. Wir stoßen da vielleicht auf beunruhigende Erinnerungen, irrationale Kindheitsängste. Und wir haben da möglicherweise nicht nur einen in uns verborgenen potentiellen Heiligen anzunehmen, sondern auch einen potentiellen Mörder, Vergewaltiger oder Dieb. Auch wenn ich mich als einen verständnisvollen Menschen sehe, da ist jetzt dieser Impuls, XY ins Gesicht zu schlagen. Was passiert mit diesem Haß normalerweise? Ich verkneife mir, ihm Ausdruck zu geben, und nicht etwa, weil ich XY so über die Maßen liebe, sondern weil ich mir vorstelle, wie andere dann wohl von mir dächten. Mein Haften an diesem Bild meiner selbst führt auch dazu, daß ich meine eigene Rachsucht gar nicht gern sehe und sie lieber vergesse. Auf die eine oder andere Weise leugne ich sie. Ich lasse sie nicht ins Feld der Bewußtheit ein. Ich nehme sie nicht an. Oder ich spiele sie in meiner Phantasie durch, für mich allein oder auf der Couch des _______________________________________________________________ 114
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Analytikers. Das wird die Symptome der Wut und Enttäuschung vorübergehend lindern, aber hilft es mir bei der nächsten bissigen Bemerkung, die XY machen wird? Wahrscheinlich nicht. Solche Phantasien können sogar die Emotionen verstärken, aus denen sie eigentlich den Dampf ablassen sollen. Wenn der Haß wieder hochkommt, weiß etwas in mir augenblicklich, wie ich ihn beschwichtigen kann. Das wird eine Gewohnheit, die immer höhere Dosen Wut verlangt, damit man anschließend das Wohlgefühl der Lösung erleben kann. Ich könnte eine subtile Neigung zur Gewalt entwickeln. Und am Ende könnte es passieren, daß ich XY schlage. Aber den Haß anzunehmen heißt nicht, daß man ihm nachgeben muß. Man nimmt ihn vielmehr einfach als das, was er ist: eine aufwühlende, aber vorübergehende Geistesverfassung. Die Bewußtheit verfolgt, wie er urplötzlich auftaucht, das Bewußtsein tönt und den Körper packt. Der Herzschlag beschleunigt sich, der Atem wird flach und ruckartig, _______________________________________________________________ 115
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und ein beinahe physischer Drang zu reagieren beherrscht den Geist. Diesem Rasenden steht aber ein dunkler, stiller Abgrund von Gekränktsein, Demütigung und Scham gegenüber. Die Bewußtheit bemerkt all das, ohne gutzuheißen oder zu verdammen, ohne es zu unterdrücken oder in Aktion umzusetzen. Sie erkennt, daß der Haß genauso vergeht, wie er entsteht. Wenn wir uns mit ihm identifizieren – »Ich bin echt stinksauer!« –, gießen wir nur Öl ins Feuer. Nicht daß wir das mit Fleiß täten; aber der Impuls ist von solch plötzlicher Wucht, daß wir den Zorn überhaupt erst bemerken, wenn die Identifikation bereits abgelaufen ist. Wir bemerken, daß wir schwitzen, daß das Herz schneller schlägt, daß uns verletzende Worte in der Kehle stecken und unsere Fäuste geballt sind. Ist es so weit einmal gekommen, können wir nicht viel mehr tun, als zuzusehen, wie der Zorn uns beutelt. Bewußtheit ist dazu da, den Impuls gleich bei seinem Aufkommen zu erwischen, die ersten Anzeichen des Grolls _______________________________________________________________ 116
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zu bemerken, der unsere Gefühle und Wahrnehmungen verfärbt. Das verlangt jedoch einen gesammelten Geist. Gesammeltes Bewußtsein ist ebenso ruhig wie klar. Ruhe wird von Rastlosigkeit und Ablenkung verhindert, Klarheit durch Langeweile und Lethargie untergraben. Zwischen diesen beiden Polen wandernd, verbringen wir einen Großteil unserer Zeit, entweder leicht überdreht oder leicht gedrückt. Rastlosigkeit ist wie ein Affe, der sich von Ast zu Ast schwingt. In diesem Zustand beherrscht uns ein Drang, anderswo zu sein: Bin ich drinnen, möchte ich raus, bin ich draußen, möchte ich rein. Wir fühlen uns eingesperrt. Vielleicht schaffen wir es gerade noch, uns körperlich ruhig zu halten, aber innerlich laufen wir Amok. Kaum setzen wir uns zur Meditation hin, schon jagen wir Chimären nach. Anstatt mich in die Fragen von Leben und Tod zu versenken, versuche ich mich an den Namen des Drummers von Led Zeppelin zu erinnern. _______________________________________________________________ 117
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Ablenkung benebelt uns und macht uns vergeßlich. Sie kommt immer wieder, da mögen wir uns noch so sehr wünschen, bei etwas wirklich Wichtigem bleiben zu können. Wir können sie nicht abschalten – und je mehr wir uns darüber grämen, desto schlimmer wird es. Anstatt also dagegen anzukämpfen, lasse ich mich lieber darauf ein. Hinnehmen, daß es eben jetzt nun mal so ist: Ich schweife geradezu zwanghaft ab. Dieses Annehmen kann sogar dazu führen, daß ich begreife, wovor ich da weglaufe. Anstatt also der Verärgerung nachzugeben, holt man die Aufmerksamkeit besser immer wieder zurück, sanft, geduldig, beharrlich. Dann werden wir irgendwann vielleicht bemerken, daß der Tumult sich gelegt hat wie ein Sturm. Vielleicht folgt noch die eine oder andere Bö, aber alles in allem und zumindest für den Augenblick ist es still. Wenn Ruhe herrscht, kann es natürlich sehr schnell zu ruhig werden – bis hin zur völligen Flaute. Dann nimmt Langeweile den Platz der Ablenkung ein. Nichts von überschüssiger En_______________________________________________________________ 118
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ergie; wie ausgelaugt fühlen wir uns. Am liebsten würden wir uns irgendwo hinhauen und wegdämmern. Unsere Gedanken sind verwaschen, schwerfällig, wie in zähem Nebel. Wenn wirklich nur körperliche Erschöpfung dahintersteht, wird ein Nickerchen Abhilfe schaffen. Wenn aber nicht, dann ist diese Schläfrigkeit wahrscheinlich der dunkle Schatten der Rastlosigkeit – ein weiteres Ausweichmanöver. Diese Art Müdigkeit ist leicht zu erkennen: Sobald das Telefon läutet oder zum Essen gerufen wird, ist sie weg. Auch hohe Dosen von Expertenrat aus dem mystischen Osten werden dieses Problem nicht lösen, denn Rastlosigkeit und Lethargie sind nicht einfach geistige oder körperliche Leistungslöcher, sondern Ausdruck einer existentiellen Grundbedingung. Gesammelte Bewußtheit ist nicht deshalb schwierig, weil wir irgendeine spirituelle Technik nicht recht beherrschen, sondern weil sie unsere Vorstellung von uns selbst erschüttert. Das so harmlos anmutende Verweilen beim Atem, die _______________________________________________________________ 119
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stille Betrachtung all dessen, was sich in Körper und Geist tut, läßt einen Widerspruch erkennen zwischen dem, was wir sein möchten, und dem, was wir tatsächlich sind. Rastlosigkeit und Lethargie sind zwei der Wege, die uns an diesem peinlichen Widerspruch vorbeiführen. In solcher Verfassung kann es sinnlos sein, die Aufmerksamkeit immer wieder zum Gegenstand der Meditation zurückzuzerren. Statt dessen sollten wir lieber den Entschluß überprüfen, der unsere Dharma-Praxis trägt. Machen wir uns also erneut unsere Motivation klar mit der Frage: »Weshalb tue ich das hier?« Oder wir vergegenwärtigen uns noch einmal die Gewißheit des Todes und die Ungewißheit der Zeit seines Eintretens und schließen mit der Frage: »Was soll ich tun?« Solche Überlegungen können uns auf den Boden jener Wirklichkeit zurückholen, an der Rastlosigkeit und Lethargie unbedingt vorbeikommen wollen. Von der Basis eines klaren und festen Entschlusses aus kann eine ge_______________________________________________________________ 120
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sammelte Bewußtheit entstehen, die sich auf alle Bereiche der Erfahrung erstreckt. Anfangs sind es nur gelegentliche Augenblicke, aber nach und nach wird eine von Augenblick zu Augenblick aufrechterhaltene Achtsamkeit daraus. Nicht daß dann keine Anfälle von Rastlosigkeit und Lethargie mehr vorkämen; aber ohne Zweifel steht dem Bewußtsein die Möglichkeit offen, immer wacher zu werden. Suchen Sie sich einen stillen, bequemen Platz. Sitzen Sie still. Vergewissern Sie sich, daß der Rücken ohne Unterstützung und aufrecht, aber nicht verkrampft ist. Überprüfen Sie, ob irgendwo Spannungspunkte im Körper sind: vor allem Schultern, Hals, um die Augen. Lassen Sie dort los. Atmen Sie dreimal langsam durch. Dann überlassen sie den Atem seinem eigenen Rhythmus, ohne Einmischung oder Kontrolle. Die formelle Achtsamkeitsübung beginnt mit erhöhtem Gewahrsein des sensorischen Gefüges, das der Körper darstellt. Im Mittelpunkt _______________________________________________________________ 121
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steht der Atem. Lassen Sie bei der Atemmeditation alle Vorstellungen beiseite, etwa von einem unsichtbaren Stoff, der in die Lunge gesaugt und wieder hinausgepumpt wird. Und sollten Sie die Vorstellung haben, daß das meditierende Ich von einer Stelle über dem Kopf auf den Atem hinunterblickt, so lassen Sie auch davon los. Erleben Sie den Atem, wie der Körper ihn erlebt, als einen Rhythmus von Empfindungen, die mit dem Gefühl des Einströmens kalter Luft an der Nasenöffnung beginnt und dem Gefühl eines wärmeren Ausströmens an derselben Stelle endet. Erst wenn Sie genau auf den Atem achten, merken Sie, wie komplex und subtil die damit verbundenen Empfindungen sind. Tauchen Sie bei jedem Ein- und Ausatmen noch tiefer in die filigrane Vielfältigkeit dieses Geschehens ein. Wenn Sie ruhig und gesammelt und gänzlich empfänglich für den Atem sind, können Sie Ihr Gewahrsein auf andere Körperempfindungen ausdehnen. Richten Sie Ihre Aufmerksamkeit auf den Scheitel; von da aus kann sie _______________________________________________________________ 122
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sich ruhig und langsam über den ganzen Schädel, über Gesicht und Hals ausbreiten, dann durch Rumpf und Gliedmaßen bis zu den Zehenspitzen. Auch hier: Stellen Sie sich die Dinge nicht bildhaft vor, sondern erleben Sie sie sinnlich, als Wärme oder Kälte, Schweregefühl, Spannung, Bewegung, Kribbeln, Jukken. Beachten Sie empfindungslose Zonen und erkunden Sie auch diese. Das mentale Bild unseres Körpers kann idealisiert und fixiert sein (ungefähr unserer Selbstdarstellung im Spiegel entsprechend), aber die sinnliche Erfahrung des Körpers besteht aus einem komplexen Geflecht von Prozessen, das sich keinen Augenblick lang gleichbleibt. Und das sind nicht einfach physische Prozesse. Zusammengenommen spiegeln sie unsere augenblickliche emotionale Verfassung wider – zufrieden, traurig, obenauf, deprimiert. An bestimmten Stellen (Unterbauch, Sonnengeflecht, Herz, Kehle) pflegen sich die Emotionen ganz besonders zu konzentrieren. Jede geistige Verfassung ist _______________________________________________________________ 123
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auch an entsprechenden körperlichen Empfindungen zu erkennen – als wäre der Körper ein Baum voller huschender Gefühle, raschelnder Ideen, schwatzender Gedanken und tschilpender Intuitionen. Aber plötzlich haben wir zu all dem keine Verbindung mehr. Eine Erinnerung, eine Phantasie, eine Befürchtung hat uns ins lockende Halbdunkel der Nichtbewußtheit entführt. Ein innerliches Blinzeln, und schon ist der ganze faszinierende Zauber der Empfindungen verschwunden. Ein winziger Augenblick der Unachtsamkeit läßt eine Welle von Impulsen herein, die uns wegspült. Minuten vergehen, bevor uns auch nur auffällt, daß wir abgelenkt sind. Mit einem Ruck kommen wir zurück: Die Gedanken stieben nur so (obwohl wir möglicherweise schon vergessen haben, weshalb), das Herz pocht, die Stirn ist feucht. Verunsichert tasten wir uns zum Atem zurück. Zur Achtsamkeitsübung gehört, daß wir geduldig immer wieder zum Gegenstand der _______________________________________________________________ 124
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Meditation zurückkehren. Hat der Atem sein Gleichmaß gefunden, können wir die Bewußtheit wieder auf Körperempfindungen, Gefühle, Emotionen, Gedanken ausdehnen, bis wir innerlich so ruhig und klar sind, daß wir schon die ersten Anzeichen ablenkender Impulse bemerken. Doch das Bemerken genügt nicht. Wir müssen uns entschlossen alles Schwelgen in Erinnerungen und Phantasien versagen, und sei es auch nur für ein paar Sekunden. Sobald wir uns der Ablenkung auch nur für einen Augenblick überlassen, wird sie uns mitreißen. Achtsamkeit richtet sich nicht nur nach innen. Wenn Sie ruhig und klar genug sind, weiten Sie die Aufmerksamkeit auf Ihre Umgebung aus: das Gewirr der ständig dem Ohr präsenten Laute; das selbst durch geschlossene Lider wahrnehmbare Spiel von Licht, Schatten und Farbe; Gerüche, die der Nase zugeweht werden; ein noch am Gaumen haftender Geschmack. Halten Sie bei Ihren täglichen Verrichtungen gelegentlich inne; las_______________________________________________________________ 125
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sen Sie los von den Sorgen, Phantasien und Plänen, die Sie gerade beschäftigen mögen, und nehmen Sie die sinnliche Unmittelbarkeit des Augenblicks in sich auf: das tiefe Rumpeln eines Lastwagens, durchschnitten vom erschreckten Zetern einer Amsel. Meditieren heißt nicht den Geist leer machen und die Dinge in tranceartigem Stupor anglotzen. Nichts von Bedeutung wird sich je zeigen, wenn man irgendeinen Gegenstand nur leeren Blickes anstarrt, wie lange auch immer. Meditieren heißt, mit höchster Sensibilität jedem Farbschimmer nachzuspüren, jeder Lautfolge, jeder Berührung durch die Hand eines anderen, jedem stockenden Wort, das zu sagen versucht, was nicht zu sagen ist. Je stiller der Geist ist, desto hautnaher wird die blendende Fülle des Lebens. Vom Aufsprudeln der Gedanken bis zum Zusammenbruch von Weltreichen – stets im Wandel und unaufhaltsam bewegt sich diese Welt weiter, getrieben von Umständen, Richtungswechseln aufgrund von Entscheidungen vollziehend, _______________________________________________________________ 126
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durch Zu- und Zwischenfälle aufgehalten. Wenn sich die Bewußtheit jedem Detail der Erfahrung mit dem gleichen forschenden Blick zuwendet, macht sie mir sichtbar, daß ich auch ein Teil davon bin: daß es nirgendwo etwas gibt, worauf ich bauen kann, nichts, was ich als »ich« und »mein« bezeichnen könnte. Ich mache den Kühlschrank auf. Der brummende Kasten präsentiert mir in seinem Inneren Gläser mit bunten Etiketten, folienüberzogene Schüsseln, anonyme Plastiktüten, eine schwitzende Dose Bier – alles in einem Licht, das mich an Gefängnisse erinnert. Mein Blick fällt auf die Stelle, wo die Milch stehen sollte, aber es steht keine da, und mir fällt ein, daß ich sie gestern Nachmittag aufgebraucht habe, als XY zum Kaffee hereinschaute. Die Kühlschranktür schließt sich mit einem leisen Seufzen, und plötzlich steht mir die Schale vor Augen, an die ich meine Aufmerksamkeit geheftet hatte, während XY sprach. Ich drehe mich auf dem rechten Absatz, dabei einen Eindruck von vorbeiwischender Küche em_______________________________________________________________ 127
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pfangend, bis mein Blick zuerst an dem leeren Haken neben der Hundeleine hängenbleibt und dann nach unten fällt auf den Schlüsselbund, der noch so auf der Kommode liegt, wie ich ihn gestern müde und leicht genervt hingeworfen habe. Beim Anblick des stumpfschimmernden Schlüsselmetalls züngelt genau diese leichte Gereiztheit vom Sonnengeflecht hoch in die Kehle und setzt sich dort fest. Ich huste, versuche mir einzureden, daß sich da vielleicht eine Erkältung zusammenbraut, und greife zuerst nach dem Halstuch, das über eine Stuhllehne hängt, dann nach dem Mantel, der sich ausnahmsweise da befindet, wo er hingehört, am Kleiderständer neben der Tür. Ich ziehe an der Tür, aber sie ist abgeschlossen, und ein Muskel in meiner Schulter beschwert sich. Ich mache kehrt, um die Schlüssel zu holen, und stolpere fast, überspiele das aber mit einem Tanzschritt und sehe mich für eine Sekunde als ein Nurejew, bis meine Finger die Schlüssel berühren und mir das geschminkte Gesicht eines Mannes einfällt, der seinen _______________________________________________________________ 128
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eigenen Tod nicht wahrhaben will. Traurig stecke ich den Schlüssel ins Schloß, wo er sich immerhin mit beruhigender Leichtigkeit derhen läßt, und öffne die Tür, um in eine abermals andere Welt einzutreten.
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Werden Verwirrung bedingt Aktivität, welche Bewußtsein bedingt, welches verkörperte Persönlichkeit bedingt, welche Sinneserfahrung bedingt, welche Einwirkung bedingt, welche Gestimmtheit bedingt, welche das Begehren bedingt, welches das Anhaften bedingt, welches das Werden bedingt, welches Geburt bedingt, welche Alter und Tod bedingt. Der Buddha
Verwirrung Ich bin verwirrt. Mir ist unfaßbar, wie überhaupt Dinge ins Sein treten können, und dann in solchen Massen. Mich verwirrt auch, daß ich in eine Welt hineingeboren werde, die mich irgendwann wieder ausstößt. Wer bin ich _______________________________________________________________ 130
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eigentlich und warum? Mich verwirrt das Labyrinth der Wahlmöglichkeiten, vor dem ich stehe. Ich weiß nicht, was tun. Diese Verwirrung ist keine Dunkelheit, in der ich gar nichts sehe. Sie ist eher eine partielle Blindheit. Da ich nicht gut sehe, mache ich mir ein falsches Bild von den Dingen, wie etwa wenn ich den Töpferschuppen hinter dem Haus betrete und in der Ecke eine Schlange entdecke. Ich erstarre, mein Herz rast. Erst wenn sich meine Augen an das Halbdunkel gewöhnt haben, merke ich, daß da ein Stück Gartenschlauch liegt. Ist womöglich eine ähnliche Verwirrung in meiner gesamten Lebenserfahrung am Werk? Eine Verwirrung, die mir das, was wirklich vorgeht, nicht nur falsch darstellt, sondern dann auch noch angstvoll eine Welt zusammenspinnt, die es gar nicht gibt, die mir aber absolut real erscheint? _______________________________________________________________ 131
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Verwirrung bedingt Aktivität, welche Bewußtsein bedingt, welches verkörperte Persönlichkeit bedingt... Wenn Sie zum ersten Mal einen Topf auf der Scheibe zu formen versuchen, gehorcht der Ton den Fingern nicht. Sie machen aus einem nassen Tonklumpen einen nassen Matschhaufen. Mit einiger Übung finden Sie dann heraus, wie der Ton im Verhältnis zur Drehgeschwindigkeit der Scheibe zu behandeln ist, und können brauchbare und schöne Dinge formen. So bekommen wir auch Übung in der Ausformung unserer selbst aus dem wirbelnden Ton unseres Daseins ... wir schaffen eine Persönlichkeit, ein Zuhause, Freundschaften, Kinder, Ideen. Nur daß die Sache leider durch Verwirrung und Durcheinander verunstaltet wird. Da wachsen Frustration und Bitterkeit statt Mitgefühl und Verständnis. Ich wüte stumm gegen eine Welt, die mich einfach nicht so recht schätzen will. Ich will doch einfach nur _______________________________________________________________ 132
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in Frieden sein, möchte geliebt und angenommen werden, aber aus irgendeinem Grund ignorieren oder übergehen mich die Leute. Weinerliches Selbstmitleid macht alles nur noch schlimmer, aber es kommt einfach, und ich kann da gar nichts machen. Also stelle ich mir die absurde Aufgabe, die Welt so umzugestalten, wie sie meiner Ansicht nach sein müßte. Ich versuche mir eine Situation zu schaffen, in der ich alles habe, was ich möchte, und nichts von dem, was ich nicht möchte. Ich träume von einem Leben, in dem alle Unvollkommenheiten beseitigt sind. Dabei gerate ich natürlich mit der Wirklichkeit selbst aneinander. Ich sehe mich der dumpfen Widerspenstigkeit der Materie konfrontiert, den schwankenden Launen, der Unsicherheit der Wahrnehmung, der Eigensinnigkeit im Denken und Handeln. Um all das für mich handhabbar zu machen, teile ich die Wirklichkeit in zwei Teile: in das, was meins ist, und den Rest. Mein Körper befindet sich nicht nur in Oppo_______________________________________________________________ 133
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sition zu deinem Körper, sondern zu aller anderen Materie. Meine Gefühle sind die einzigen, die wirklich zählen. Meine Sicht der Dinge ist immer richtig. Mein Begehren steht gegen deins. Ich erfahre Materie, Stimmung, Wahrnehmung und Impuls nicht als solche, sondern immer nur als in jedem Augenblick einzigartiges – noch nie dagewesenes und unwiederholbares – Konglomerat. Solch ein Komplex gewinnt nur dadurch eine Art Realität, daß ich meine Erfahrung benenne. Wenn etwas mir bedrohlich erscheint, dann ist das sicher nichts, was ich in dem Augenblick als ein Arrangement von Formen und Farben wahrnehme, sondern: Da ist eine Schlange im Schuppen! Das wird nirgendwo besser sichtbar als an der verkörperten Persönlichkeit. Und zusammengefaßt ist das alles in einem Namen. Ob jemand meinen Namen ruft oder ich ihn auf einem Briefumschlag sehe, er identifiziert mich so unmittelbar wie mein Spiegelbild oder _______________________________________________________________ 134
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ein Foto: »Ja, das bin ich.« Genauso unmittelbar, wie ich beim Blick über die Straße feststelle: »Ah, da ist XY.« Wenn hinter der Trennung zwischen mir und dem Rest der Welt Verwirrung und innerer Aufruhr stehen, verhärtet sie sich um so mehr. Mein Anderssein gefriert zu absolutem Alleinsein. Ich fühle mich verloren und verlassen, in meinem Körper gefangen. Auch hier wieder: Ich muß anhalten. Ich kann diese Isolation vielleicht abschmelzen, wenn ich aufmerksam betrachte, wie komplex ich eigentlich bin. Vielleicht kann ich den Krampf der Selbstbezogenheit lösen, wenn ich mir klarmache, daß ich kein monolithisches Ganzes bin, sondern ein Geflecht interaktiver Prozesse. Nehmen Sie Ihre Sitzposition ein, und kommen Sie zum Atem zurück. Sammeln Sie Ihre Aufmerksamkeit auf den Rhythmus der Empfindungen, die zusammen den Akt des Atmens ausmachen. Lassen Sie den Geist zur Ruhe kommen, um die Bewußtheit dann auf _______________________________________________________________ 135
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den ganzen Körper auszuweiten. Lassen Sie das Bewußtseinsfeld in ruhiger Wachheit weiter wachsen, bis es die Gesamtheit Ihrer Erfahrung in diesem Augenblick umfaßt: alles, was Sie hören, sehen, riechen, schmecken, alle Berührungsempfindungen, alle Gedanken und Emotionen, die in Ihnen aufkommen und wieder verklingen. Nehmen Sie wahr, daß ein unaufhörlicher Strom von Farben, Formen, Lauten, Gerüchen, Geschmäcken, Berührungsempfindungen und Ideen auf Ihre Sinne einwirkt. Die Welt, ständig in Bewegung, fliegt aus allen Richtungen auf dieses Empfangsinstrument zu. Jeder Kontakt schwingt in Ihnen mit einem sehr charakteristischen, aber nicht zu benennenden Ton nach. Unser Erleben der Welt ist von einem sehr fein abgestuften Register von Gefühlen und Stimmungen begleitet, die sich nicht unterdrücken lassen. Jede Erfahrung bringt irgendeine Stelle dieses von Verzückung bis zu heftigem Schmerz reichenden Tonregisters zum Schwingen. Achten Sie auf _______________________________________________________________ 136
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diese Tonqualität, die körperlicher wie geistiger Natur ist – dabei aber unglaublich schwer zu benennen. Achten Sie auch darauf, daß die Welt Ihnen bei aller Vielgestaltigkeit und Komplexheit immer auf verständliche Weise präsent ist. Sogar wenn Sie einen noch unbekannten Vogelruf hören, ordnen Sie ihn irgendwie ein: »Ah, den kenne ich noch nicht.« Wenn ein von Geburt an Blinder plötzlich sehen könnte, würde er beim Öffnen der Augen trotzdem nicht einfach die Welt der Sehenden erblicken. Er würde ein völlig unverständliches Gewirr von Formen und Farben wahrnehmen und müßte erst mühsam die Gliederung und Zuordnung des Gesehenen erlernen. Die Welt ist derart gesättigt mit zugeschriebenen Bedeutungen, daß es den Anschein hat, als ruhten diese Bedeutungen in den Dingen selbst. Aufgrund von Gewöhnung gehen wir einfach davon aus, daß die von den Sinnen repräsentierte Welt wirklich da draußen so existiert, wie sie uns erscheint. Beispielsweise sieht es doch wirklich _______________________________________________________________ 137
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so aus, als sagte dieses schwarze Muster auf weißem Grund etwas über die Natur der Wahrnehmung. Achten sie beim Lauschen auf Geräusche oder beim Beobachten der Körperempfindungen darauf, wie das, was Sie erleben, aus Ihren Prägungen, Gewohnheiten und Ansichten aufgebaut ist. Machen Sie sich auch klar, daß die Welt ständig ein Ort der Möglichkeiten ist. Wenn Sie sitzen, stehen Ihnen die Möglichkeiten zur Wahl, entweder zu stehen oder zu gehen oder sich hinzulegen. Wenn Sie schweigen, haben Sie die Möglichkeit zu sprechen. In jedem Augenblick sind wir entweder mit etwas beschäftigt, oder es bahnt sich gerade an: eine Körperbewegung, eine Äußerung, ein Gedanke. Selbst wenn Sie nicht handeln, tun Sie etwas: Sie unterlassen. Und selbst wenn der Geist still ist, bleibt eine Grundspannung bestehen, die Bereitschaft jederzeit wieder aktiv zu werden. Nur dadurch, daß das Leben immer Alternativen bietet, können Sie überhaupt ein Ge_______________________________________________________________ 138
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fühl von Ziel und Richtung haben. Die Intentionen, die sich in Ihrem Denken formen, können dann in der Welt realisiert werden. Wenn Sie sich zur Meditation hingesetzt haben, ist das die Umsetzung eines vorangehenden Entschlusses. Und indem Sie sich den Einzelheiten dieses gegenwärtigen Augenblicks widmen und Erinnerungen oder Zukunftspläne dahingestellt sein lassen, sind Sie mitten in einem Prozeß der gezielten Erschaffung Ihrer selbst. Aber was ist dieses Sie-Selbst, das Sie da erschaffen? Sagen Sie Ihren Namen oder »Ich«. Was für ein Bild oder Gefühl löst das aus? Existiert Ihr Ich im Körper, im Geist, in beiden? Oder irgendwo anders. Wenn Sie danach forschen, was finden Sie? Sollte das Ich sich wie eine Körperempfindung anfühlen, so gehen Sie ihr auf den Grund. Sollte es eher eine Stimmung, eine Wahrnehmung oder eine Willensregung sein, so betrachten Sie das ganz genau. Je näher Sie hinsehen, desto deutlicher wird Ihnen viel_______________________________________________________________ 139
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leicht auffallen, daß alles, was Sie als Sitz des Ich-Gefühls in Betracht ziehen, sich in etwas anderes auflöst. Statt eines Ich-»Kerns« erleben Sie etwas Zusammengesetztes: Empfindungen, Stimmungen, Wahrnehmungen und Intentionen, die wie die Besatzung eines Schiffes zusammenarbeiten, dessen Richtung ein Skipper namens Aufmerksamkeit bestimmt. Sehr leicht schlägt dieser Eindruck eines fluktuierenden Interaktionsprozesses wieder um in das gewohnte Bild eines für sich stehenden Ich. Es scheint der natürliche Lauf der Dinge zu sein, daß Verwirrung sich wieder durchsetzt und die Plackerei einer angstbehafteten Existenz weitergeht. ... verkörperte Persönlichkeit bedingt Sinneserfahrung, welche Einwirkung bedingt, welche Gestimmtheit bedingt... Ich bin gänzlich absorbiert von mir selbst, meinen Ängsten, meinen Sehnsüchten, mei_______________________________________________________________ 140
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nen Erinnerungen, meinen Plänen. Ob ich gehe, stehe, sitze oder liege, ich bin im Gefängnis meiner inneren Zwänge. Ich blicke hinaus auf die Welt, als wäre sie Ausland. Die Tatsache, daß die Welt stets und ständig auf meine Sinne einwirkt und ich sie entweder als Verbündeten oder als Bedrohung ansehe, führt dazu, daß ich den Ursprung meiner Stimmungen falsch einschätze. Wenn ich ein Musikstück unangenehm finde, werde ich mein Mißbehagen der Musik selbst zuschreiben (selbst wenn jemand neben mir Genuß an ihr findet). Wenn es keinen erkennbaren Grund für meine finstere Stimmung gibt, suche ich nach jemandem oder etwas, dem ich die Schuld geben kann (eine schlaflose Nacht, XY, neue Schuhe). Das gilt auch für lustvolle Empfindungen – wenngleich ich weiß, daß ein zu langer Kuß ziemlich naß werden und zu Nackensteifigkeit führen kann. Einwirkung und Stimmung lösen meine gewohnten Wahrnehmungs- und Reaktionsmuster aus. Wie der Regen die Gosse entlang _______________________________________________________________ 141
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und in die Kanalisation läuft, so folgen meine Interaktionen mit der Welt gern den vertrauten Bahnen, dem Weg des geringsten Widerstands. Wenn ich im Schuppen eine Schlange sehe, wird mein gesamtes Weltempfinden in diesem Augenblick durch mein Wissen über Schlangen und die damit verbundenen Ängste bestimmt. Während ich da schreckensstarr stehe, schießen mir Handlungsalternativen durch den Kopf: Springe ich mit einem Satz zur Tür? Schleiche ich mich vorsichtig raus? Soll ich sie verscheuchen? Totschlagen? Aber diese Empfindungen, Wahrnehmungen und Impulse, gegen die man sich scheinbar gar nicht wehren kann, sind nicht die einzigen Möglichkeiten. Vielmehr liegt in der Unmittelbarkeit dieser Erfahrung die Freiheit, klarer zu sehen. Ich kann innehalten, auf den Atem achten, mein pochendes Herz spüren, mich zur Bewußtheit zurückrufen. Dann kann ich vielleicht intelligent und mit Augenmaß auf die Gegenwart der Schlange reagieren. Oder sie als ein Stück aufgerollten Schlauch erkennen. _______________________________________________________________ 142
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... Gestimmtheit bedingt das Begehren, welches das Anhaften bedingt, welches das Werden bedingt... Stimmungen oder Gefühlslagen diktieren mir mein Verhalten. Was mir ein gutes Gefühl gibt, möchte ich haben; was mir ein schlechtes Gefühl gibt, möchte ich los sein; was mich überhaupt nicht anspricht, ignoriere ich. So werden meine Gefühle mal hierhin gezerrt, mal dahin geschoben, aber hinter all dem Angezogen- und Abgestoßensein steht das Begehren: ein kindliches und utopisches Verlangen nach einer Lebenssituation, in der ich endlich alles habe, was ich möchte, und ganz frei von dem bin, was ich nicht mag. Ganz in der Tiefe beharre ich auf einem dauerhaften, gesonderten Ich, dem ein Leben in Freiheit von den Wechselfällen und Unsicherheiten des Daseins zusteht. Und die Bilder meines Begehrens bekommen etwas so unbezweifelbar Gültiges. Sex oder Ruhm oder Reichtum – sie leuchten so _______________________________________________________________ 143
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strahlend, so verlockend, und sie haben so gar nichts von der Zweifelhaftigkeit der gelebten Erfahrung. Ich denke nicht an das, was sie so mit sich bringen. Windeln und Wutausbrüche spielen in meinen Phantasien von sexueller Eroberung so wenig eine Rolle wie Journalisten und Steuern in meinen Tagträumen von Ruhm und Reichtum. Das Begehren entsteht aus dem Strudel meiner Verwirrung. In meinem Nicht-sehenKönnen greife ich verzweifelt nach etwas, woran ich mich halten kann. Ich empfinde Verlust, Angst, Isolation und Ziellosigkeit und sehne mich nach irgend etwas, das diese Gefühle beschwichtigen könnte. Doch das Begehren wird entstellt und gestört durch eben die Verwirrung, nach deren Beendigung es strebt. Was es gern haben möchte, hält es für wünschenswerter, als es ist, und was es los sein möchte für hassenswerter. Von seinen eigenen Projektionen verhext, bauscht es seine Ziele zu Angelegenheiten von höchster Bedeutung auf. Wo dieses Begehren herrscht, _______________________________________________________________ 144
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scheint mein ganzes Leben stets von der Beoder Abschaffung von irgend etwas abzuhängen. »Wenn doch nur...« wird das Mantra des nichterfüllten Wünschens. Eine Welt der Zufälle und des Wandels kann allenfalls den Anschein von Vollkommenheit bieten. Wenn das Begehren mich treibt, bin ich überzeugt, daß alles gut wäre, wenn ich nur dieses Ziel erreichen könnte. So erzeugt das Begehren die Illusion eines auf ein Ziel ausgerichteten Lebens, aber in Wirklichkeit ist es der Verlust der Richtung. Es ist ein Prozeß des zwanghaften Werdens. Es dreht mich im Kreis herum, immer wieder über dasselbe Gelände. Immer wenn ich denke, jetzt hätte ich endlich eine Situation gefunden, die alle meine Probleme löst, stellt sich plötzlich heraus, daß nur die Elemente umgruppiert wurden und es sich im Grunde nach wie vor um die Situation handelt, der ich entkommen wollte. Das neue Leben, das ich mir erhoffte, erweist sich als Wiederholung der Vergangenheit. Ich erkenne, daß ich auf der Stelle trete _______________________________________________________________ 145
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und der leere Bewegungsdrang mich nirgendwohin führt. ... das Werden bedingt Geburt, welche Alter und Tod bedingt. Das Leben wird eine Abfolge kleiner Geburten und Tode. Wenn ich bekomme, was ich möchte, fühle ich mich neu geboren. Doch kaum habe ich mich in diesem Gefühl behaglich eingerichtet, kommen die alten Ängste wieder hoch. Der neue Besitz altert schnell, und sein Altern wird beschleunigt durch etwas noch Begehrenswerteres, das ich noch nicht habe. Was so vollkommen schien, verliert schnell seinen Glanz, wenn mir erste kleine Unvollkommenheiten auffallen. Die neue Situation löst meine Probleme nicht, sondern setzt andere, mit denen ich nicht gerechnet hatte, an ihre Stelle. Anstatt dies nun aber als die Natur des Lebens in einer unbeständigen Welt zu akzeptieren, anstatt Fehlschläge und Schmerz ebenso hinzunehmen _______________________________________________________________ 146
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wie Erfolg und Freude, anstatt die bittersüße, tragische und traurige Schönheit des Lebens dankbar anzunehmen, knirsche ich mit den Zähnen und lasse mich von der leisen, verführerischen Stimme, die da »Wenn doch nur...« flüstert, zum Weiterkämpfen überreden.
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Leere Ungeborene Leerheit hat abgelassen von den Extremen des Seins und des Nichtseins. Daher ist sie sowohl die Mitte selbst als auch der Mittlere Weg. Leere ist der Pfad, auf welchem der in seiner Mitte ruhende Mensch geht. Tsongkhapa
Nehmen Sie einen Tintenkugelschreiber zur Hand. Nehmen Sie die Kappe ab und fragen Sie: »Ist das noch ein Tintenkuli?« Ja, natürlich, nur eben ohne Kappe. Schrauben Sie das Oberteil ab, nehmen Sie die Mine heraus, und schrauben Sie die beiden Teile wieder zusammen. Ist das ein Tintenkuli? Nun ja, nicht so ganz. Und die Mine, ist das ein Tintenkuli? Nein – wenngleich sie im Unterschied zur leeren Hülle immerhin noch zum Schreiben dienen kann. Schrauben Sie nun die beiden Teile wieder auseinander. Ist eins von beiden ein Tintenkuli? Nein, ganz bestimmt nicht, nichts zu machen. _______________________________________________________________ 148
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Was passiert mit dem Ding, wenn Sie es zerlegen? Wann hören die Komponenten auf (oder fangen an) ein Schreibstift zu sein? Von welchem Punkt ab ist die Banane, die Sie essen, keine Banane mehr? Wann fängt der Tonklumpen auf der Scheibe an, ein Gefäß zu sein? Namen und Begriffe vermitteln den Eindruck, daß es Dinge in der Welt gibt, die genauso festgelegt und eindeutig sind wie Sie selbst. Stifte, Bananen, Gefäße – dergleichen versteht sich von selbst und ist auf den ersten Blick zu erkennen. Aber schauen Sie ein wenig genauer hin, und schon verschwimmt die schöne Sicherheit. Die Dinge sind nicht so fest umrissen, wie sie zu sein scheinen. Sie haben keine Linien um sich herum oder zwischen sich und anderen Dingen. Solche Linien ziehen wir in unseren Köpfen. In der Natur gibt es keine Linien. Setzen Sie sich auf einen Stuhl, schließen Sie die Augen, und lauschen Sie aufmerksam dem draußen fallenden Regen. Wo endet das Geräusch des Regens, und wo beginnt Ihr Hör_______________________________________________________________ 149
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en? Oder auch: Wo hört Ihr Gesäß auf, und wo beginnt der Stuhl? Für das Denken ist das Geräusch des Regens von meinem Hören so verschieden wie mein Gesäß vom Stuhl, aber in der Erfahrung ist es unmöglich, eine klare Linie zu ziehen. Regengeräusch und Hören, Gesäß und Stuhl verschwimmen ineinander. Denken Sie an eine Narzissenzwiebel, die den Winter über in der Erde ruht. Sobald es wärmer wird und taut, sprießt ein Keim daraus hervor. Wenn es jetzt ausreichend regnet und kein strenger Frost mehr kommt und niemand auf die Stelle tritt, werden Sie eines Morgens rufen: »Schau, die Narzissen sind aufgegangen!« Aber ist der Sprößling dann plötzlich weg und an seiner Stelle eine Narzisse erschienen? Ein Sprößling ist keine Narzisse und eine Narzisse kein Sprößling, aber aus dem Sprößling ist eine Narzisse geworden. Die zur Unterscheidung notwendige sprachliche Trennung von Sprößling und Narzisse ist in der Natur nicht als tatsächliche Trennungslinie zu finden. _______________________________________________________________ 150
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In diesem Sinne haben Tintenkugelschreiber, Bananen, Gefäße, Regen, Hören, Stühle, Gesäße, Sprößlinge und Narzissen keinen Anfang und kein Ende. Sie fangen nicht an, und sie hören nicht auf. Sie werden nicht geboren, und sie sterben nicht. Sie gehen aus einer Matrix von Bedingungen hervor und werden selbst Bestandteil einer weiteren Matrix von Bedingungen, aus der wieder etwas anderes hervorgeht. In der täglichen Erfahrung führt ein Ding zum nächsten. Ich ärgere mich über etwas, das XY zu mir gesagt hat, und am Ende würde ich ihm am liebsten eine runterhauen. Ich bilde mir ein, im Schuppen eine Schlange zu sehen, und bin schreckensstarr. Alles, was geschieht, geht aus dem Vorangehenden hervor. Alles, was wir jetzt tun, wird zur Bedingung dessen, was später möglich ist. Wir können von Bedingungen und Folgen sprechen, als wären das Dinge, aber bei näherem Hinsehen erweisen sie sich als Pro_______________________________________________________________ 151
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zesse, die nicht unabhängig und für sich selbst bestehen. Eine bissige Bemerkung, die uns tagelang nachgeht, ist nur ein Augenblick, den wir aus dem Strom der Ereignisse herauslösen. Aber in unserem Bewußtsein existiert sie als etwas Eigenständiges, das seine eigene Realität besitzt. Durch diesen Hang, die Dinge zu isolieren, leben wir in einer Welt, in der die Lücken zwischen den Dingen etwas Absolutes bekommen. Die Schlange im Schuppen ist wirklich da, vom erschrockenen Töpfer so deutlich unterschieden wie von dem Tonscherbenhaufen, auf dem sie liegt. Daß wir so an uns selbst und der Welt festhalten, ist eine der Vorbedingungen der Angst. Da wir die Dinge als absolut getrennt und als in sich selbst erstrebenswert oder zum Fürchten ansehen, setzen wir uns das Ziel, etwas zu besitzen, was wir niemals haben können, oder etwas zu beseitigen, was überhaupt nicht da war. Sobald wir wahrnehmen, wie die Dinge aus einem ununterbrochenen Strom der Bedingungen hervorgehen und wieder in ihn ver_______________________________________________________________ 152
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sinken, werden wir schon ein wenig freier. Wir begreifen, daß die Dinge relativ, aber nicht absolut begehrenswert oder zum Fürchten sind. Sie sind miteinander verbunden und interagieren, jedes bedingt die anderen, und keines ist seiner Natur nach vom Rest getrennt. Was sich auf diese Weise zeigt, besitzt keine in sich selbst liegende Identität – und in diesem Sinne ist es leer. Die Dinge sind nicht so fest und undurchsichtig, wie sie uns erscheinen: sie sind durchsichtig und fließend. Sie sind nicht so einheitlich und unmißverständlich, wie sie zu sein scheinen: sie sind komplex und mehrdeutig. Sie sind nicht allein durch Philosophie, Wissenschaft und Religion definiert: sie werden lebendig durch Anspielung, Paradox und Witz. Sie lassen sich nicht ein für allemal festnageln: sie lösen Verblüffung, Erstaunen und Zweifel aus. Das gleiche gilt für jeden von uns. Wie der Töpfer auf der Scheibe eine Schale formt, so _______________________________________________________________ 153
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gestalte ich meine Persönlichkeit aus dem wirbelnden Ton meines Daseins. Die Schale existiert nicht aus sich selbst, sondern geht aus vielschichtigen Interaktionen hervor: Töpfer, Scheibe, Ton, Form, Funktion – und auch diese gehen wieder aus den Interaktionen vorausgehender Ursachen und Komponenten hervor, ad infinitum. Es gibt keinen essentiellen Topf, an dem seine Attribute sozusagen haften. Wie es auch keine essentielle Narzisse gibt, an der Stengel, Blätter, Blüte und Standvermögen festgemacht wären. Schalen und Narzissen sind Konfigurationen von Ursachen, Bedingungen, Teilen, Funktionen, Sprache und Bildern. Sie besitzen keine wie eine Seriennummer ihrem Wesenskern aufgeprägte Identität. So auch wir. Als Mensch bin ich zwar komplexer als eine Tonschale oder eine Narzisse, aber ich bin auch aus Ursachen hervorgegangen und aus vielfältigen, wechselnden Zügen und Eigenheiten gefügt. Es gibt kein essentielles Ich zusätzlich zu diesem einma_______________________________________________________________ 154
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ligen Ineinandergreifen biologischer und kultureller Prozesse. Dem mag mein Verstand zustimmen, aber das intuitive Gefühl meiner selbst ist ein anderes. In der Dharma-Praxis geht es jedenfalls nicht um Beweis oder Widerlegung irgendwelcher Theorien des Ich, sondern um das Verstehen, um ein Lockern dieser Zwangsjacke der Ichbezogenheit, die Körper, Gefühle und Emotionen zu einem dichten Kern der Angst zusammenpreßt. Stellen Sie sich vor, Sie besuchen eine Ausstellung von Ming-Porzellan, in der sich viele Menschen drängen. Plötzlich ruft eine Stimme: »Heda! Dieb! Finger weg!« Alle derhen sich um und sehen Sie an. Obwohl Sie nichts gestohlen haben, bringen diese unverhoffte Anschuldigung und die mißbilligenden Blicke Sie in arge Verlegenheit. Sie stehen so exponiert da, als wären Sie nackt. Und da bricht es aus Ihnen – vielmehr aus diesem dichten Kern der Angst – heraus: »Das war ich nicht, ehrlich!« _______________________________________________________________ 155
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Es ist, als wäre dieses Ich, das ja nur ein Gebilde aus eher zufälligen Bedingungen ist, als etwas Festes aus dem Brennofen der Angst hervorgegangen. Fest, aber auch spröde – leicht zerbrechlich. Je kostbarer es mir wird, desto sorgfältiger muß ich es vor Angriffen schützen. Die Bedingungen dafür, daß ich mich wohlfühle, werden immer spezifischer, immer einengender. Befangenheit, das ständige und übermäßige Bewußtsein meiner selbst, steht in meinem Leben ganz im Vordergrund und ist zugleich doch eine höchst unsichere Sache. Wenn ich bei der Meditation mein Ich zu finden versuche, ist es so, als wollte ich meinen eigenen Schatten fangen. Ich greife danach, aber da ist nichts. Dann taucht es woanders wieder auf. Ich erspähe es gleichsam aus dem Augenwinkel, aber kaum wende ich mich ihm ganz zu, ist es schon wieder weg. Immer wenn ich meine, jetzt hätte ich es, stellt sich heraus, daß es doch wieder etwas anderes ist: eine Körper_______________________________________________________________ 156
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empfindung, eine Stimmung, eine Wahrnehmung, ein Impuls oder einfach die Bewußtheit als solche. Ich kann also nicht auf irgendeine körperliche oder geistige Gegebenheit zeigen und dann sagen: »Ja, das bin ich.« Alle diese Dinge kommen und gehen, während das IchGefühl konstant bleibt. Aber ich kann meinen Finger auch nicht auf etwas anderes als diese Gegebenheiten und Züge legen, denn so flüchtig und beliebig sie auch sein mögen, ich bin doch durch sie definiert. So ist das Ich also wahrscheinlich kein Etwas, aber es ist auch nicht nichts. Es ist einfach nicht zu fassen, nicht festzulegen. Was ich bin, das bin ich nicht durch ein essentielles Ich, das sich irgendwo in meiner Tiefe verbirgt, sondern aufgrund der einzigartigen Matrix von Bedingungen, die mich geformt hat. Je tiefer ich der Frage nachspüre, was ich bin (oder was irgend etwas ist), desto klarer wird, daß ich nirgendwo ankommen werde. Es gibt kein Ende, nur eine unendliche Bahn, die sich _______________________________________________________________ 157
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von den Extremen des Seins und Nichtseins fernhält. Diese Bahn ist nicht nur die Mitte, die von dieser Dualität frei bleibt, sondern der Mittlere Weg überhaupt. »Leere«, sagte der tibetische Philosoph Tsongkhapa 1397, »ist der Pfad, auf dem ein Mensch geht, der seine Mitte gefunden hat.« Das hier für »Pfad« verwendete Wort ist shul, wörtlich »Eindruck«: ein Zeichen, das bleibt, wenn das, wodurch es entstanden ist, schon nicht mehr da ist – zum Beispiel ein Fußabdruck. Shul kann auch die vernarbte Mulde sein, wo einst ein Haus gestanden hat, oder eine Rinne im Gestein, die nur bei starken Niederschlägen tatsächlich Wasser führt, die flachgedrückte Stelle im Gras, wo letzte Nacht ein Tier gelegen hat. All das ist Shul: der Eindruck oder Abdruck von etwas, das einmal da war. Auch ein Pfad ist Shul: ein im Laufe der Zeit entstandener Eindruck, von vielen Füßen geschaffen und für andere frei und gangbar gehalten. Als Shul kann auch die Leere als _______________________________________________________________ 158
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Abdruck von etwas verstanden werden, das einst da war. Der Abdruck ist in diesem Fall durch die Narben gegeben, die das selbstsüchtige Begehren hinterläßt. Wenn es sich legt, erleben wir ein großes Aufatmen und Stille und Freiheit. Man kennt die Leere noch nicht, wenn man den Begriff verstanden hat. Sie kennenlernen ist eher so etwas wie im Wald auf eine Lichtung zu stoßen, wo man sich plötzlich frei bewegen und klar sehen kann. Die Leere erleben heißt das schockierende Fehlen all dessen, was normalerweise Ihr Ich-Empfinden und Ihr Weltbild ausmacht. Vielleicht dauert es nur einen Augenblick, bis die Gewohnheiten eines ganzen Lebens sich wieder durchsetzen und alle Lücken schließen. Aber in diesem einen Augenblick erkennen wir uns und die Welt als offen und empfänglich. Dieser ruhige, freie, offene und sensible Raum ist die Mitte der Dharma-Praxis – unmittelbar, sehr nah, dynamisch. Ein Pfad, ein Abdruck. Er bietet eine Ahnung von jenem unsichtbaren _______________________________________________________________ 159
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Punkt, in dem die Linien unseres Lebens zusammenlaufen. Er impliziert auch, daß wir nicht allein sind, sondern denen verpflichtet, die ihn schon gegangen sind, und denen verantwortlich, die noch folgen werden. »Leere« oder »Leerheit« ist ein irreführender Begriff. Grammatisch gesehen ein Abstraktum, ist dieses Wort dennoch keine Bezeichnung eines abstrakten Gegenstands oder Zustands. Leere ist nicht ein Etwas, das wir in einem Augenblick mystischer Einsicht »realisieren«, wenn wir zu einer transzendenten Wirklichkeit »durchbrechen«, die hinter der empirischen Welt verborgen liegt und doch auf geheimnisvolle Weise deren Grundlage ist. Die Dinge gehen auch nicht aus der Leere hervor oder lösen sich wieder in ihr auf, als wäre sie eine Art gestaltloser kosmischer Stoff. Das alles sind nur Versuche, die Leere zu einer metaphysischen oder religiösen TröstungsMetapher umzudeuten. _______________________________________________________________ 160
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»Leere« hat ja zunächst wenig Begehrenswertes an sich und ist auch ursprünglich dazu da, das Verlangen nach zu kurz greifenden Tröstungen zu unterlaufen. Erstaunlicherweise ist der Begriff aber gerade in den Dienst solchen Verlangens gestellt worden. Der mit »Leere« übersetzte Sanskritbegriff, Shūnyatā, hat im Grunde wenig von jener Großartigkeit an sich, die vor allem im Westen zu seiner metaphysischen Umdeutung in »das Absolute« oder »die Wahrheit« oder sogar »Gott« geführt hat. So fiel der Gedanke der Leere also eben jener Gewohnheit des Geistes zum Opfer, die er unterbrechen sollte. Die Leere hat so wenig ein in ihr selbst liegendes Sein wie eine getöpferte Schale, eine Banane oder eine Narzisse. Und gäbe es keine Schalen, Bananen und Narzissen, dann gäbe es auch keine Leere. Leere verneint nicht die Existenz solcher Dinge; sie beschreibt nur, inwiefern diese ohne ein in ihnen selbst liegendes, gesondertes Sein sind. Die Leere ist _______________________________________________________________ 161
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von der Welt der Alltagserfahrung nicht getrennt; sie besitzt überhaupt nur einen Sinn im Kontext des Schalentöpferns, Bananenessens und Narzissenpflanzens. Ein auf das Bewußtsein der Leere hin orientiertes Leben ist einfach eine geeignete Weise, in dieser wechselvollen, schockierenden, schmerzhaften, freudvollen, frustrierenden, staunenswerten, widerspenstigen und widersprüchlichen Wirklichkeit zu existieren. Leere ist der Mittlere Weg, der nicht über diese Wirklichkeit hinausführt, sondern direkt in ihr Herz. Sie ist der Pfad, auf dem ein Mensch, der seine Mitte gefunden hat, geht. Auch wir sind Abdrücke, von etwas hinterlassen, was einmal hier war. Wir wurden hervorgebracht und geformt von einer unübersehbaren Matrix zusammentreffender Gegebenheiten, die uns vorausgingen: von der DNS-Struktur, die unsere Eltern uns mitgaben, bis zum Feuerwerk der Abermilliarden Neuronen in unserem Gehirn, von der kulturellen und historischen Prägung des zwan_______________________________________________________________ 162
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zigsten Jahrhunderts, unserer Erziehung und Ausbildung, und schließlich sämtlichen Erfahrungen, die wir je gemacht, und sämtlichen Entscheidungen, die wir je gefällt haben: all das fließt zusammen zu dieser einzigartigen Lebensbahn, die in diesem gegenwärtigen Augenblick kulminiert. Der unwiederholbare Abdruck all dessen ist das, was jetzt hier ist und was wir »ich« nennen. Aber dieses Bild ist so lebendig und verblüffend, daß wir es nicht als bloßen Abdruck erkennen, sondern für etwas unabhängig von seinen Bedingungen Existierendes halten. Was sind wir also anderes als die Geschichte, die wir ständig wiederholen und dabei immer wieder überarbeiten, zensieren und ausschmücken? Das Ich ist nicht wie der Held eines Schmachtfetzens, dem die Stürme der Leidenschaft und die Intrigen, denen er vom Vorspann bis zum Ende ausgesetzt ist, nichts anhaben können. Es ähnelt mehr den komplexen, zwiespältigen Charakteren, wie sie im Verlauf eines Romans auftauchen, sich ent_______________________________________________________________ 163
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wickeln und leiden. Es ist überhaupt nichts Dinghaftes an mir. Ich bin mehr wie eine sich entfaltende Erzählung. Wenn uns das alles immer bewußter wird, werden wir die Verantwortung für den Lauf unseres Lebens mehr und mehr bei uns selbst sehen. Anstatt an Gewohnheiten und Routine zur Sicherung unseres Ichgefühls festzuhalten, stehen wir vor der Freiheit, uns selbst zu erschaffen. Anstatt uns von Abdrücken und Eindrücken blenden zu lassen, machen wir selbst welche. Anstatt uns so furchtbar ernst zu nehmen, finden wir Gefallen an der spielerischen Ironie einer Geschichte, die genau so noch nie erzählt wurde.
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Mitgefühl Wenn ich etwas um anderer willen tue, stellt sich kein Erstaunen, keine Selbstgefälligkeit ein. Es ist, als gäbe ich mir selbst zu essen. Keine Gegengabe wird erwartet. Shāntideva
Stellen Sie sich drei vor Ihnen sitzende Menschen vor: einen Freund, einen Feind und einen Fremden (machen Sie sich keine Gedanken über Einzelheiten; fühlen Sie einfach, mit geschlossenen Augen, diese drei Menschen). Lassen Sie Ihren Geist im Atem zur Ruhe kommen, und betrachten Sie dann die drei Personen nacheinander. Achten Sie darauf, wie das Bild, das Sie von jedem der drei haben, eine bestimmte Stimmung bei Ihnen auslöst. Gegenüber dem Freund oder der Freundin fühlen Sie sich entspannt und sicher, während der Feind (oder jemand wie XY) Unbehagen und Nervosität auslöst und _______________________________________________________________ 165
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ein fremder Mensch (zum Beispiel die Frau an der Kasse im Supermarkt) Sie zu nicht mehr als höflichem Desinteresse bewegt. Was haben diese Personen an sich, daß Sie so empfinden? Vielleicht gibt es da nur einen einzigen kleinen Augenblick – eine Bemerkung, eine Geste, ein Blick –, den Sie zu einem Bild gerinnen ließen. Bei Menschen, die Sie gut kennen, wird dieses Bild ständig überarbeitet und auf den neuesten Stand gebracht; bei anderen, die Sie lediglich von ferne bewundern oder verachten oder die Ihnen gar nichts bedeuten, kann eine kurze Begegnung zu einem für immer feststehenden Bild werden, über das Sie im Laufe der Zeit immer weniger mit sich reden lassen. In allen drei Fällen hängt Ihr Eindruck davon ab, was für ein Gefühl Ihnen die betreffende Person vermittelte: Wer Ihnen ein gutes Gefühl gibt, den mögen Sie, wer Ihnen ein schlechtes Gefühl gibt, den mögen Sie nicht, und alle übrigen sind Ihnen ziemlich gleichgültig. _______________________________________________________________ 166
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Bleiben Sie noch bei diesen Bildern und den zugehörigen Gefühlen. Beachten Sie, wie Ihre Wahrnehmung eines Menschen das Gefühl verstärkt, das Sie ihm gegenüber haben, und wie dieses Gefühl dann wiederum Ihre Wahrnehmung verstärkt. Das Bild, das wir von einem anderen Menschen haben, ist ein Mischmasch aus objektiven Fakten (lange Nase, Brillenträger, Glatzenbildung) und unseren Vorstellungen von ihm (arrogant, blöd, mag mich nicht mehr). So besteht dieser Mensch also nicht nur für sich, sondern wir besetzen mit ihm auch noch eine Rolle in unserem privaten Psychodrama. Es wird immer schwieriger, ihn selbst noch aus den von unseren Wünschen und Ängsten kreierten emotionalen Bildern herauszulösen. Dem entgehen wir nicht dadurch, daß wir so tun, als empfänden wir anders, sondern nur durch eine neue Betrachtungsweise. Wir können selbst entscheiden, wie wir die Welt wahrnehmen. Wenn wir einmal näher hinsehen, wird uns vielleicht auffallen, daß unser _______________________________________________________________ 167
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Gefühl zu einem Menschen, wie stark es auch sein mag, häufig ganz und gar auf dem Bild beruht, das wir uns von ihm gemacht haben. Von Vorurteilen ist also die Rede, und da genügt ja schon die Hautfarbe, Nationalität oder Religion eines Menschen, um ein bestimmtes Gefühl ihm gegenüber zu entwickeln. Die hier beschriebene Meditation ist ein direkter Angriff auf die festen Bilder, die wir uns von anderen machen. Wir setzen unser Urteil aus und sind so in der Lage, den Menschen unvoreingenommen zu betrachten. Fangen Sie mit dem Freund, der Freundin an. Sehen Sie sie als eben geboren, noch blutverschmiert. Folgen Sie ihr langsam durch das Krabbelalter und die Kinderzeit, sehen Sie zu, wie sie heranwächst, eine junge Frau wird und Ihnen schließlich zum ersten Mal begegnet. Malen Sie sich aus, was für Hoffnungen und Sehnsüchte sie gehabt haben mag, bevor sie von Ihrer Existenz auch nur wußte. Sehen Sie sie jetzt als eine Frau, die an den eigenen _______________________________________________________________ 168
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Ideen und Gefühlen genauso selbstverständlich festhält wie Sie an Ihren. Dann blicken Sie in die Zukunft, um zuzusehen, wie sie altert und krank wird und schließlich alt ist und stirbt. Wenden Sie sich dem Feind und dem Fremden zu und tun wieder das gleiche, bis drei Menschen vor Ihnen sitzen – gleich an Geburt und Tod. Ändert diese Betrachtungsweise etwas an Ihrem Gefühl gegenüber jedem der drei? Können Sie, wenigstens für einen Augenblick, diese Menschen in all ihrer Eigenständigkeit, Rätselhaftigkeit, Erhabenheit und Tragik sehen? Können Sie sehen, daß sie ihre eigenen Zwecke sind und nicht einfach Mittel zu Ihren Zwecken? Fällt Ihnen auf, wie beschränkt und selektiv das Bild ist, das Sie sich von ihnen gemacht haben? Können Sie loslassen von dem Wunsch, den Freund zu umarmen und den Feind wegzustoßen? Können Sie den Fremden lieben? _______________________________________________________________ 169
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Wenn ich stolpere und mir auf dem Gehsteig das Knie aufschlage, greife ich instinktiv hin, um den Schmerz zu lindern. Vielleicht setze ich mich sogar hin und massiere sanft. Ich inspiziere den Schaden und stehe dann auf, um nach Hause zu gehen und mich dort richtig zu verarzten, wobei ich das verletzte Bein möglichst entlaste, um die Sache nicht noch schlimmer zu machen. Weh tut jedoch nur das Knie. Die Hand ist unverletzt, ebenso das Auge, das die Abschürfungen betrachtete, und ebenso das zweite Bein, das die Last, die das verletzte Knie sonst zu tragen hat, auf sich nimmt. Wenn meine Freundin zur Tür hereinkommt und mich mit einem Lächeln umarmt, erkenne ich schon am Zucken ihrer Lider und einem kaum merklichen Beiklang ihrer Stimme, wenn sie »Hallo« sagt, daß etwas nicht in Ordnung ist. In diesem Augenblick spüre ich den Stich ihres Kummers, und ich spüre, es steckt etwas dahinter, was XY zu ihr gesagt oder ihr angetan hat. Ich nehme intensiv an _______________________________________________________________ 170
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ihrem Schmerz teil, während sie erzählt, was passiert ist. Ich erleide jedoch nicht selbst den Schmerz, den XY ihr zugefügt hat. Bei solchen Gelegenheiten kommt das Mitgefühl natürlich und spontan. Ich reagiere auf das Leiden meiner Freundin wie meine Hand oder meine Augen auf das schmerzende Knie. Aber wenn ich irgendwo auf der Straße auf einen Bettler stoße, bin ich vielleicht nur peinlich berührt oder empfinde für einen Augenblick Mitleid und werfe schnell eine Münze hin, bevor ich weiterhaste. Oder wenn ich höre, daß XY irgendeinen Rückschlag erlitten hat, werde ich mich vielleicht insgeheim freuen, auch wenn ich nach außen hin bekunde, wie leid mir der arme Kerl tut. Mein Mitgefühl geht mühelos zu denen hin, die diesseits einer unsichtbaren Schranke zwischen mir und dem Rest der Welt stehen. Mein Knie, meine Freunde, meine Familie, meine Gemeinschaft, meine Kollegen – sie alle gehören zum Bereich des »Meinigen«. Was uns verbindet – seien es gemeinsame Eltern _______________________________________________________________ 171
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oder die Begeisterung für denselben Fußballverein –, wird überzeichnet durch den Wunsch nach Zugehörigkeit und die Furcht vor Zurückweisung. Auch beim Errichten dieser unsichtbaren Schranke bestimmt meine Wahrnehmung wieder, was ich empfinde: Das »wir« ist ein gutes Gefühl, »die anderen« ein ungutes, bestenfalls Gleichgültigkeit. Aber es ist nicht immer so. Es kommt auch vor, daß die Schranke sich hebt. Manchmal bewegt mich die Not derer, die ich nicht kenne und wohl nie kennenlernen werde – das hungrige Kind, der ausgesetzte Hund, der Strom der Flüchtlinge. Oder meine Welt wird plötzlich verklärt durch das Lächeln einer alten Frau auf einer Parkbank. Und wenn ich XY zufällig begegne und er mir erzählt, welche Qual es für ihn sei, den Leuten zu sagen, daß er HIV-positiv sei, löst sich all mein Groll in Luft auf, und sein ganzes Entsetzen wird auch meines. So lange, wie solch ein Augenblick währt, lebe ich in einer Welt, in der alle Lebewesen _______________________________________________________________ 172
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vereint sind durch den Wunsch, weiterzuleben und keinen Schaden zu erleiden. Die Angst anderer ist dann nicht mehr nur ihre, sondern unsere. Es ist, als habe das Ganze des Lebens sich mir als ein einziger Organismus offenbart: Meine Hand streckt sich einem, der Schmerzen leidet, so selbstverständlich und ohne jede Ichbefangenheit hin, wie sie nach meinem verletzten Knie greift. So lange wir von Ichbezogenheit beherrscht sind, bleibt unser Mitgefühl auf die beschränkt, die wir auf unserer Seite sehen. Das ist eine beinahe uneingeschränkte Herrschaft, wie ein Krampf, der Körper, Emotionen und Seele gepackt hält. Andererseits ist sie uns so vertraut, daß wir sie entweder gar nicht bemerken oder als normal empfinden. Löst sich dieser Krampf aber durch den Blick in die Augen einer alten Frau, so ist die Welt augenblicklich verändert, und wir wissen, wie es sich anfühlt, wenn das Herz aufgeht. Sei der Augenblick auch noch so kurz, dieses belebende Gefühl der Weitung und Wärme werden wir nie wieder ganz vergessen. _______________________________________________________________ 173
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Dharma-Praxis ist die Einübung einer Lebensweise, durch die solche Augenblicke nicht mehr allein dem Zufall überlassen bleiben. Denn soviel sie uns auch bedeuten mögen, schnell reißt uns die gedankenlose Selbstbefangenheit wieder mit. Die durch DharmaPraxis vermittelte Alternative liegt darin, daß wir die Annahme eines feststehenden, unwandelbaren Ich-Kerns unserer Erfahrung immer wieder in Frage stellen und die Gültigkeit der Bilder, in die wir andere einsperren, immer wieder anzweifeln. Durch diszipliniertes Meditieren und beharrliches forschendes Fragen können wir die gewohnte Wahrnehmung unserer selbst und anderer aufweichen. Einsicht in die Leere und Mitgefühl für die Welt sind die beiden Seiten ein und derselben Münze. Sobald wir wirklich erleben, daß wir selbst und die Welt interaktive Prozesse und nicht Ansammlungen diskreter Dinge sind, verlieren unsere altvertraute Wahrnehmung der Welt und unsere gewohnten Gefühle über _______________________________________________________________ 174
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sie an Kraft. Diszipliniertes Meditieren ist deshalb so wichtig für die Dharma-Praxis, weil es uns über die Welt der Ideen hinaus in die des lebendigen Erlebens führt. Es genügt nicht, die Philosophie der Leere zu verstehen. Die Ideen müssen durch Meditation in die wortlose Sprache des Fühlens übersetzt werden, wenn die emotionalen Knoten gelöst werden sollen, die uns im Krampf der Ichbezogenheit festhalten. Wenn wir auf die Lichtung gelangen, die das Verschwinden des selbstsüchtigen Begehrens hinterläßt, werden wir wissen, wie das ist, für die Angst und das Leiden der Welt nicht mehr verschlossen zu sein. Auf den Pfad, den wir in Augenblicken tiefer Sammlung einschlagen, finden wir geistige Klarheit und Herzenswärme. Wie eine Lampe gleichzeitig Licht und Wärme erzeugt, strahlt der Mittlere Weg vom Licht der Weisheit und von der Wärme des Mitfühlens. Wenn die Empfänglichkeit des Mitfühlens erhalten bleiben soll, darf die achtsame Be_______________________________________________________________ 175
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wußtheit nie nachlassen. Der bloße Wunsch, anderen gegenüber so zu empfinden, genügt nicht. Wir müssen stets auf der Hut sein vor der Invasion von Gedanken und Emotionen, die stets bereit stehen, um diese Bereitschaft zu verdrängen. Auch ein mitfühlendes Herz empfindet noch Zorn, Gier, Eifersucht und dergleichen. Aber es nimmt sie gelassen als das, was sie sind, und entwickelt die geistige Stärke, die erforderlich ist, um sie kommen und gehen zu lassen und sich nicht mit ihnen zu identifizieren oder das Handeln von ihnen bestimmen zu lassen. Mitgefühl kommt nicht ohne Mut und einen klaren Blick aus. Auf die Angst eines anderen einzugehen erfordert Mut, und wir brauchen einen ungetrübten Blick, um unsere Grenzen zu erkennen und dann auch einmal »nein« sagen zu können. Mitfühlend leben bedeutet, daß wir unsere Mittel zum größtmöglichen Nutzen einsetzen. Wir müssen wissen, wann wir uns einer Aufgabe mit allen Kräften widmen können und wann wir innehalten und ausruhen müssen. _______________________________________________________________ 176
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Die größte Gefahr für das Mitgefühl liegt in der Versuchung, uns Phantasien von moralischer Überlegenheit hinzugeben. Unsere selbstlose Hilfsbereitschaft gegenüber anderen kann berauschend wirken, so daß wir uns schließlich als ihr Erlöser fühlen. In aller Bescheidenheit nehmen wir die Identität eines Menschen an, den das Schicksal ausersehen hat, den Kummer der Welt zu heilen und den Weg zu Versöhnung, Frieden und einer wahrhaft aufgeklärten Welt zu weisen. Unsere Ratschläge an die, die sich in schwieriger Lage befinden, verwandeln sich kaum merklich in Predigten an die Menschheit. Unsere an einen Freund gerichteten Vorschläge für eine Vorgehensweise werden zu einem moralischen Kreuzzug. Ein auf diese Weise ausgehöhltes Mitgefühl setzt uns der Gefahr messianischer und narzißtischer Selbsterhöhung aus. Hat diese Selbsterhöhung sich einmal festgesetzt – insbesondere wenn sie von Anhängern und Bewunderern mitgetragen wird –, ist es sehr schwierig, sie zu durchschauen. _______________________________________________________________ 177
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Mitgefühl ist das Herz und die Seele des Erwachens. Meditation und Reflexion können ihm den Weg bereiten, aber es läßt sich nicht herbeidenken oder herstellen. Wenn es plötzlich wach wird in uns, kommt es uns vor, als wären wir zufällig auf es gestoßen. Und es kann so schnell verschwinden, wie es kam. Wir gewinnen einen Eindruck von ihm in Augenblicken, wo die Schranke des Ich sich hebt und die individuelle Existenz um der Gesamtheit des Existierenden willen zurückgestellt wird. Es wird dann überdeutlich, daß wir das Erwachen nicht für uns allein bewirken können: Wir können nur teilhaben am Erwachen des Lebens.
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Frucht Den Weg des Buddha gehen heißt sich selbst erkennen. Sich selbst erkennen heißt sich selbst vergessen. Sich selbst vergessen heißt, von allen Dingen erweckt zu werden. Dogen Zenji
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Freiheit Ohne Erwachen ist selbst ein Buddha ein gewöhnliches Wesen, und selbst ein gewöhnliches Wesen, wenn es in einem Gedanken-Augenblick erweckt wird, ist ein Buddha. Hui-neng
Wenn ein Mann aus dem Gefängnis entlassen wird, gewinnt er seine Freiheit zurück. Sobald er das Tor durchschritten hat, liegen seine Strafe und die Wärter und die Mauern, Gitter und Schlösser seiner Zelle hinter ihm. Die Welt steht ihm offen, und er kann die Möglichkeiten verwirklichen, die sie ihm jetzt bietet. Er ist auch frei für andere – wieder zugänglich für Beziehungen, für alle Ansprüche und Herausforderungen, mit denen andere ihm begegnen. Freiheit ist nie absolut, sondern hat immer Bezug zu etwas anderem: Freiheit von Einschränkung, Freiheit zum Handeln, Freiheit _______________________________________________________________ 180
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für andere. Den entlassenen Sträfling schränken immer noch die geltenden Gesetze, die ihm zur Verfügung stehenden Mittel, die Grenzen seiner Bildung, seines Wissens und Könnens und letztlich auch der Zustand seines Körpers und die Gesetze der Natur ein. So ist auch die Freiheit des Erwachens eine relative Freiheit, nämlich von der Enge der selbstbezogenen Verwirrung, von dem Verlangen nach einer feststehenden Identität, von dem zwanghaften Streben nach der perfekten Lebenssituation, von der Identifikation mit vorgefaßten Anschauungen und von der Angst, die in solchen Verhaftungen ihren Ursprung hat. Auch der Buddha selbst unterlag der Beschränkung durch das Weltbild seiner Zeit, durch seine Sprache, sein Wissen und seine Fähigkeiten, sein Bewußtsein dessen, was seine Gesellschaft noch tolerieren würde, die Verfügbarkeit von Mitteln und Techniken, die geographischen und politischen Barrieren, die sein Wirkungsfeld auf einen umgrenzten _______________________________________________________________ 181
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Bereich Nordindiens beschränkten, und schließlich durch seinen Körper und die Gesetze der Natur. Dennoch stand ihm die Welt offen wie nie zuvor. Er besaß auch die Freiheit zu: die gebotenen Möglichkeiten schöpferisch zu verwirklichen, jetzt aber nicht mehr behindert durch die Wünsche und Begierden, die früher seine Entscheidungen bestimmt hatten; dadurch war er auch frei, geeignete Mittel gegen die Angst anderer zu entwickeln, einen echten Weg, der sich auf alle Bereiche des menschlichen Lebens erstreckt; er war frei, eine Gemeinschaft von Freundschaften entstehen zu lassen und eine Kultur des Erwachens zu schaffen, die weit über seinen Tod hinaus Bestand haben würde. Und er war frei für andere. Er stellte sein persönliches Wohlergehen unter das ihre. Er hielt sich bereit für alle Bedürfnisse und Herausforderungen, mit denen andere an ihn herantreten mochten. _______________________________________________________________ 182
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Die Freiheit des Erwachens wurzelt im Aufhören des Begehrens. Solche Freiheit ist möglich, weil die Wirklichkeit in ihrem wandelbaren, zufälligen, Ungewissen und schöpferischen Charakter von Natur aus frei ist. Wir sind unsere eigenen Kerkermeister. Wir halten an uns selbst und der Unfreiheit fest, weil wir uns aus Verwirrung und Angst an ein Ich klammern, das unabhängig von allen Bedingungen existiert. Anstatt die Dinge anzunehmen und zu verstehen, wie sie sind, suchen wir in der Vorstellung eines isolierten Ich Zuflucht vor ihnen. Und ausgerechnet diese entfremdete Selbstbezogenheit wird dann als Freiheit des Individuums ausgegeben. Die Dharma-Praxis möchte uns von der Illusion dieser Freiheit befreien. Der Weg dazu ist Einsicht in die Angst, die mit diesem Unabhängigkeitswahn einhergeht, und das Loslassen von dem Begehren, das eben diesem Wahn immer wieder Nahrung gibt. Der Weg beginnt damit, daß wir einmal wirklich sehen, wie wandelbar, bedingt und _______________________________________________________________ 183
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schöpferisch wir selbst und die Welt sind. Anfangs wird es nur sporadisch und nur für Augenblicke vorkommen, daß wir die in der Natur der Wirklichkeit liegende Freiheit sehen, aber durch die zur Dharma-Praxis gehörende Lebensweise wird diese Erfahrung schließlich eher die Norm als die Ausnahme. Auch dann wird es noch vorkommen, daß alte Gewohnheitsmuster uns mitreißen, aber wir schwanken dann nicht mehr in unserem Festhalten an dieser Vision von Freiheit. Um das fixierte Bild der Dinge aufzulösen, das uns in den Zyklen des Begehrens und der Angst festhält, müssen wir uns der Freiheit bewußt werden, die in jedem Augenblick der Erfahrung liegt. Solange man nicht auf den Atem achtet, geht er von sich aus seinen eigenen Gang. Widmet man ihm jedoch bewußt seine Aufmerksamkeit, bekommt er leicht etwas Gehemmtes, auch wenn man sich sagt: »Beobachte ihn einfach, wie er ist.« Ich werde dann eher das _______________________________________________________________ 184
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Gefühl haben, daß »ich atme«, und nicht so sehr, daß »es atmet«. Versuchen Sie es einmal so: Warten Sie am Ende des nächsten Ausatmens einfach, bis das Einatmen von selbst kommt – wie eine Katze, die vor dem Mauseloch sitzt und auf die Maus wartet. Sie wissen, daß das nächste Einatmen kommen wird, aber wann genau das sein wird, wissen Sie nicht. Während Ihre Aufmerksamkeit also wach und bereit in der Gegenwart bleibt wie die einer Katze, ist sie zugleich frei von jedem Wunsch der Kontrolle über das, was als Nächstes kommt. Warten Sie einfach ohne Erwartung. Irgendwann geschieht es plötzlich, daß Sie »es« atmen fühlen. Diese Art des Atem-Bewußtseins hat etwas seltsam Belebendes (vielleicht auch Beunruhigendes). Als einzige Körperfunktion, die sowohl autonom als auch vom Willen gesteuert sein kann (im Unterschied etwa zum Herzschlag), eignet sich der Atem besonders gut als Gegenstand der Achtsamkeit. Das Achten auf den Atem ist nicht nur eine gute Kon_______________________________________________________________ 185
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zentrationsübung; wenn wir nämlich den Impuls, ihn zu kontrollieren, gänzlich aufgeben können, werden wir in seinen rhythmischen Bewegungen Zeuge jener Freiheit, die in der Natur der Wirklichkeit liegt. Das Atmen ist die Bewegung des Lebens, und es verbindet den Körper mit seiner Umwelt. Je offener und tiefer unser Bewußtsein des Atems und des Körpers wird, desto besser verstehen wir die innere Dynamik unserer gesamten Erfahrung. Nichts steht auch nur einen Augenblick lang still. Atem, Herzschlag, Körper, Gefühle, Gedanken, Umwelt – all das sind Facetten eines unteilbaren, interaktiven Systems, und es gibt hier nichts, was ich als »ich« oder »mein« bezeichnen könnte. Weshalb halten wir uns dann krampfhaft fern von all dem, als ein Ich, das allem anderen gegenübersteht? Was hindert uns daran, uns ganz auf diese Erfahrung einzulassen? Selbst wenn wir wissen, daß solches Einlassen uns nicht verschwinden lassen wird, identifizieren wir uns doch mit diesem Ich, _______________________________________________________________ 186
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das eigentlich ein Gespenst ist – irgendwie über diesem Leben schwebend und für immer von ihm getrennt. Deshalb empfinden wir das Interaktionssystem als vollgestopft und uns selbst als dumpf, blockiert, frustriert und unfrei. Wenn wir uns jedoch immer wieder in den dynamischen, unsicheren, ichfreien Strom der Erfahrung vorwagen, wird diese tiefsitzende Überzeugung unserer separaten Existenz allmählich abgeschliffen, und wir können dann auch mehr und mehr von Anschauungen loslassen, die unsere Erfahrung einschränken und festlegen. Dazu bedarf es jedoch des Eingeständnisses, daß das, was geschieht, vollkommen rätselhaft ist, wie wir es auch beschreiben mögen (etwa als »dynamisch, unsicher und ichfrei«). Je stiller und klarer die achtsame Bewußtheit wird, desto lebendiger und zugleich unerklärlicher wird die Erfahrung. Wir erleben etwas sehr tief und intensiv – und merken _______________________________________________________________ 187
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plötzlich, daß unser Nichtwissen genauso tief ist. Wenn wir etwa dem Regen lauschen oder aufmerksam einen Stuhl betrachten, werden diese Dinge uns nicht nur gegenwärtiger, sondern auch unbekannter. Wir sitzen und achten auf den Atem, und er ist einerseits etwas ganz Gewöhnliches und Selbstverständliches, aber andererseits versetzt es uns in Staunen, daß wir überhaupt atmen. In dieser Dimension der Erfahrung, wo Beschreibungen und Erklärungen nicht greifen, werden unsere Annahmen über die Art und Weise unseres Erkennens fraglich. Die Erfahrung läßt sich nicht dadurch erklären, daß man sie unter begriffliche Kategorien bringt. Sie hat eine Doppelnatur: erkennbar und zugleich nicht erkennbar. Wie gut wir irgend etwas auch kennen mögen, wenn wir Zeuge des in seiner Natur liegenden Nicht-festgelegt-Seins, Zeuge seiner Freiheit werden, können wir uns nur noch eingestehen: »Im Grunde kenne ich es nicht.« _______________________________________________________________ 188
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Dieses Nichtkennen oder Nichtwissen ist zwar der Punkt, über den das Denken nicht hinauskommt, aber trotzdem nicht das Ende. Es ist vielmehr die Basis eines echten Agnostizismus. Wo das Glauben und Meinen nichts mehr nützt, findet der Geist nichts, wo er sich häuslich einrichten kann. Jetzt ist uns die Möglichkeit einer völlig anderen Art des Fraugens gegeben. Dieses Fragen ist durch das Nichtwissen selbst gegeben. Wenn wir angesichts des Regens, eines Stuhls oder des Atems verblüfft und staunend innehalten müssen, präsentieren sich uns diese Dinge als Frage. Unsere alten Annahmen und Erklärungen versagen plötzlich, und wir hören uns stammeln: »Was ist das?« Oder einfach: »Was?« oder »Warum?« oder vielleicht ganz ohne Worte, einfach nur »?«. Die schiere Präsenz der Dinge ist kaum zu fassen. Sie wirkt wie ein Schock, unbegreiflich, Staunen und Ehrfurcht auslösend. Und die Bestürzung erfaßt nicht nur den Verstand, _______________________________________________________________ 189
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sondern den gesamten Organismus. Das kann ziemlich umwerfend sein. Deshalb kann die Bewußtheit jetzt leicht durch plötzlich aufblitzende spekulative Gedanken oder spontane poetische Ausbrüche unterbrochen werden; dergleichen mag inspiriert und originell sein, wirft uns aber zurück in die vertraute Welt, in der sich alles in Kategorien einteilen läßt. In der Dharma-Praxis geht es darum, dieses verblüffte Nichtwissen in einem Zustand ruhiger, klarer und gesammelter Bewußtheit zu erhalten und zu einem forschenden Fragen werden zu lassen, das sich der Gesamtheit dessen zuwendet, was sich im Augenblick gerade entfaltet. Es ist die Kraft, die das Bewußtsein antreibt, ins Herz des Unbekannten vorzudringen. Das Fragen aus Nichtwissen unterscheidet sich von gewöhnlichem Fragen dadurch, daß es nicht auf Antworten aus ist. Es fängt da an, wo Beschreibung und Erklärung enden. Es hat alle Begrifflichkeit schon hinter sich. Es weiß, daß Geheimnisse nicht enträtselt werden, als _______________________________________________________________ 190
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wären sie Probleme, die man anschließend vergessen kann. Je tiefer wir in ein Geheimnis eindringen, desto geheimnisvoller wird es. Solches Fragen ist der Mittlere Weg selbst. Es läßt sich gar nicht erst in das Antworten hineinziehen – »ja« und »nein« oder »es ist dies« und »es ist nicht das« –, es meidet Bejahung und Verneinung, die Extreme von Etwas und Nichts. Wie das Leben geht es einfach weiter und bedarf nicht des Halts an festgelegten Positionen – auch nicht denen des Buddhismus. Es läßt Bewußtheit nicht passiv und zur Routine werden, was zwar mit einem Glaubenssystem vereinbar wäre, die Erfahrung aber stumpf und trüb machen würde. Das Staunen hält die Bewußtheit hellwach. Es läßt die Erfahrung als durchsichtig, strahlend und frei von Hindernissen erkennbar werden. Das Fragen ist der Weg, auf dem ein Mensch geht, der seine Mitte gefunden hat. So eindringlich dieses Fragen ist, es bleibt gelassen und ist nicht auf Antworten aus und kann die Dinge so sein lassen, wie sie sind. _______________________________________________________________ 191
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Kein Vorhaben, nicht einmal ein verschleiertes, steckt dahinter. Erfolgserwartungen (zum Beispiel Erleuchtung) werden als das erkannt, was sie sind: letzte Versuche des Ich-Gespenstes, die ganze Sache doch noch seinen eigenen Absichten und Zielen unterzuordnen. Je mehr wir des Geheimnisvollen des Lebens innewerden, desto klarer sehen wir, daß es nicht dazu da ist, die Erwartungen des Ego zu erfüllen. Wir können uns nur die Frage vergegenwärtigen, die es uns stellt. Alles Weitere müssen wir dann dem Abwarten und Lauschen überlassen. Die Wirklichkeit ist ihrem Wesen nach frei, weil sie als dynamisches Spiel von Beziehungen veränderlich, ungewiß, zufällig und leer ist. Sobald uns das aufgeht, wird uns auch unsere eigene Freiheit bewußt, denn auch wir sind ein dynamisches Spiel von Beziehungen. Wir müssen diese Freiheit wirklich gesehen haben, um zu unserer individuellen Freiheit und schöpferischen Autonomie zu finden. So_______________________________________________________________ 192
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lange wir glauben, das Ich und die Dinge seien unwandelbar, eindeutig, absolut, undurchsichtig und fest, werden wir entsprechend eingeschränkt, entfremdet, empfindungslos, frustriert und unfrei bleiben. In der Praxis freilich ist das Leben nicht ganz so leicht in »frei« und »unfrei«, »erwacht« und »nicht erwacht« einzuteilen. So klar diese Unterscheidungen sind, das Leben selbst ist nicht so eindeutig. Die Freiheit kann wiedergefunden und wieder verloren werden. Das Erwachen ist die Rückkehr in jene Freiheit, mit der wir geboren wurden, der wir aber die Pseudounabhängigkeit eines vereinzelten Ich vorzogen. Dadurch bekommt die Freiheit etwas Erschreckendes für uns,und wir fliehen sie – aber sie bleibt doch immer zum Greifen nah. Und ob wir sie suchen oder nicht, manchmal bricht sie ein in unser Leben und läßt uns eine Wirklichkeit erblicken, die vertrauter und doch unfaßbarer ist als alles, was wir kennen, und in der wir zutiefst allein und zugleich auch zutiefst mit allem verbunden _______________________________________________________________ 193
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sind. Doch die Macht der Gewohnheit sorgt dafür, daß wir sie wieder verlieren und in die so herrlich eindeutige Normalität zurückkehren. Wenn die Dharma-Praxis dieser Macht der Gewohnheit entgegenwirkt, geht es um zweierlei: vom selbstsüchtigen Begehren loslassen, damit unser Leben immer wacher werden kann; und bereit zu sein für das plötzliche vollständige Erwachen, zu dem es jederzeit kommen kann. Aufwachen ist einerseits ein linearer, in der Zeit ablaufender Prozeß des Einübens von Freiheit, zugleich aber auch eine jederzeit gegebene Möglichkeit. Der Mittlere Weg ist ein Pfad mit Anfang und Ende, zugleich aber auch das formlose Potential im Zentrum aller Erfahrung.
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Imagination Hauptinstrument des kulturellen Wandels ist weniger die Fähigkeit, gut zu argumentieren, als vielmehr die Fähigkeit, anders zu sprechen. Richard Rorty
Unser staunendes Nichtwissen angesichts des Atems, des Regens, eines Stuhls ist vergleichbar mit der Situation, daß wir vor einem Klumpen Ton, einem weißen Blatt Papier, einem leeren Computerbildschirrn sitzen. In beiden Fällen befinden wir uns in der Schwebe an einem Umschlagspunkt von nichts in etwas, Formlosigkeit in Form, Untätigkeit in Tätigkeit. Wir verharren in stiller Bereitschaft an der Schwelle der Schöpfung und warten darauf, daß etwas sich zeigt (das nächste Einatmen oder ein erster behutsamer Ansatz zur Formung des Tons), das sich noch nie ganz genauso abgespielt hat und sich nie wieder ganz genauso abspielen wird. _______________________________________________________________ 195
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In beiden Fällen balancieren wir auch bang auf jener feinen Grenze zwischen Begeisterung und Angst. Ein Meditierender kann hingerissen sein von der Freiheit, die er als das Wesen der Wirklichkeit entdeckt, während er zugleich die niederschmetternden Erfahrungen fürchtet, die da unmittelbar bevorzustehen scheinen. Töpfer und Schriftsteller können wie gebannt sein von den endlosen schöpferischen Möglichkeiten jedes Augenblicks, während sie zugleich wie gelähmt dasitzen und nicht eine dieser Möglichkeiten umzusetzen in der Lage sind. Und wie der Meditierende sich dann in die Sicherheit von Erinnerungen und Phantasien flüchtet, so springt der Künstler auf, um sich noch eine Tasse Kaffee zu holen. Wir könnten einfach in der Versunkenheit in dieses geheimnisvolle, ungeformte freie Spiel der Wirklichkeit verharren. Das wäre der Weg des Mystikers, der in Gott oder dem Nirvāna verlöschen möchte – analog vielleicht der unter Künstlern verbreiteten Neigung, sich im _______________________________________________________________ 196
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Alkohol- oder Drogenrausch zu verlieren. Aber wenn uns daran liegt, Teilhaber einer gemeinsamen Wirklichkeit zu bleiben, in der Sinn und die Vermittlung von Sinn etwas bedeuten, würde solche Selbstverneinung uns eines wichtigen Elements unseres Menschseins berauben: des Bedürfnisses, zu sprechen und zu handeln und unsere Erfahrung mit anderen zu teilen. Freiheit bringt Verantwortung mit sich. Freiheit vom ichbezogenen Begehren ist Freiheit zur schöpferischen Verwirklichung der von der Welt gebotenen Möglichkeiten für andere. Wenn Verstehen und Mitfühlen zwei Seiten derselben Münze sind, wird sich ein Einblick in die Leere und Beliebigkeit der Dinge lebendige Formen suchen, in denen er zum Ausdruck kommen kann. Dieser Welt gegenübergestellt, suchen wir nach Ausdrücken, Bildern, Ideen, durch die wir der unaussprechlichen Wirklichkeit doch irgendwie sprechend und handelnd authentischen Ausdruck geben kön_______________________________________________________________ 197
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nen. Der Einblick in die Leere hat wie diese keine Form, drängt aber durch Imagination zur Form. Das Erwachen ist eine Erfahrung der Freiheit, und infolgedessen bringt es uns nicht in den Besitz fertiger Ideen und Bilder oder gar philosophischer und religiöser Doktrinen. Freiheit – auch von Ideen, Bildern und Doktrinen – ist sein Wesen. Es enthält keine Antworten, nur die Möglichkeit neuer Anfänge. Wenn wir ihm Ausdruck geben, übersetzen wir nicht esoterische Erkenntnis in weise Worte – wie man ja auch etwa bei einem Schriftsteller nicht annimmt, daß er fertig in seinem Gehirn vorliegende Sätze nur aufs Papier überträgt. Ideen und Worte stellen sich vielmehr ein bei dem Bemühen, sich einer jetzt vorhandenen Zuhörerschaft oder einem künftigen Publikum mitzuteilen. Und was sich da einstellt, kann überraschend, ja schockierend sein, sogar für den, der es formuliert und ausspricht. Nichts kommt hier fix und fertig _______________________________________________________________ 198
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ans Licht – wie ja auch eine Narzisse nicht fertig und ausgestaltet aus der Zwiebel hervorgeht. Worte und Ideen gehen aus einer in jedem Augenblick einzigartigen Matrix von Bedingungen hervor, und die wichtigsten dieser Bedingungen sind: die Authentizität unserer Erfahrung und unseres Mitgefühls in diesem Augenblick, die jeweiligen Bedürfnisse anderer und unser Können bei der Nutzung der verfügbaren technischen und kulturellen Ressourcen. Dharma-Praxis hat mehr mit künstlerischem Schaffen als mit Problemlösung durch die Anwendung von Techniken gemein. Die »technische« Dimension der Dharma-Praxis – also etwa die gezielte Einübung von Achtsamkeit und Sammlung – ist dem technischen Können vergleichbar, das sich ein Töpfer erst aneignen muß, wenn er ein echter Könner werden will. Beides erfordert vielleicht Jahre der Disziplin und Arbeit. Aber in beiden Fällen ist das Können bloß ein Mittel und nicht Selbstzweck. Und wie die technische Beherrschung der Töpferei noch _______________________________________________________________ 199
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keine Gewähr für schöne Erzeugnisse ist, so garantiert die technische Beherrschung der Meditation noch nicht, daß man klug und mitfühlend auf Angst reagiert. Die Kunst der Dharma-Praxis erfordert Hingabe, technische Fertigkeit und Imagination. Und wie es bei allen Künsten ist: Wir werden ihr Potential nicht voll ausschöpfen, wenn eines dieser Ingredienzen fehlt. Das Rohmaterial der Dharma-Praxis sind wir selbst und unsere Welt – und beide sollen nach den Vorgaben des Dharma verstanden und transformiert werden. Das ist kein Prozeß der Selbst- oder Welttranszendierung, sondern Selbst- und Welt-Erschaffung. Was im Buddhismus »Ich-Losigkeit« genannt wird, bezieht sich natürlich nur auf die Ich-Vorstellung, die ein essentielles Ich als unabhängig von Körper und Geist postuliert; es ist nicht unser ganz gewöhnliches Gefühl von personaler Identität damit angesprochen. Diese Vorstellung eines statischen Ich ist das Haupthindernis bei der Umsetzung unseres _______________________________________________________________ 200
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Potentials. Löst diese Fiktion sich jedoch auf, weil wir deutlich gesehen haben, wie vorübergehend, unklar und bedingt unsere Erfahrung ist, so gewinnen wir die Freiheit, uns selbst neu zu erschaffen. Das Haupthindernis der Welt-Erschaffung besteht, im gleichen Sinne, in der Vorstellung, die Welt sei eine eigenständige, fremde Wirklichkeit aus diskreten, Widerstand leistenden Dingen. Wenn wir dieses Bild durch ein neues ersetzen, das uns die Welt als dynamisches, vernetztes Ganzes zeigt, dem auch wir als integraler Bestandteil angehören, gewinnen wir auch hier die Freiheit, uns ganz neu auf die Welt einzulassen. Für solche neuen Bilder bedarf es der Imagination. Den vergänglichen, leeren Charakter des Daseins erkennen, der in der Natur der Wirklichkeit liegenden Freiheit als lebendiger Wirklichkeit begegnen, leidenschaftlich den Wunsch hegen, anderen ihre Angst zu erleichtern – all das ist gut und schön, aber wir werden trotzdem nicht allzuviel ausrichten, solange wir uns nicht Lebensformen _______________________________________________________________ 201
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vorstellen können, die der tatsächlich gegebenen Situation angepaßt sind. Anstatt auf unsere tatsächliche Situation einzugehen, bewegen wir uns weiter in den Klischees und Dogmen anderer Epochen. Anstatt für unsere Zeit eine Kultur des Erwachens zu schaffen, versuchen wir das zu konservieren, was an Resten solcher Kultur auf uns gekommen ist. Selbsterschaffung verlangt, daß wir uns selbst auch anders zu sehen imstande sind: nicht mehr als den gleichbleibenden Kern im Strom mentaler und physischer Prozesse, sondern vielleicht als eine Art Erzählfaden, der aus diesen Prozessen eine sich entwickelnde Geschichte macht. Dann ist das Leben nicht mehr ein Unternehmen, das vor allem ein unwandelbares Ich bewahren soll, sondern das stetige Weitererzählen einer stets unfertigen Geschichte. Als Erzählfaden haben wir eine ausreichend gesicherte Identität, und eine solche Identität braucht kein metaphysisches Zentrum, um das sich alles dreht. Wer im Bewußtsein der Vergänglichkeit, Un_______________________________________________________________ 202
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sicherheit und Zufälligkeit lebt, der wird die leichte Hand zu schätzen wissen: Flexibilität und Anpassungsfähigkeit, Sinn für Humor und Abenteuer, Wohlwollen gegenüber anderen Anschauungen, Freude an Verschiedenartigkeit. Wenn diese Imagination im Verlauf der Dharma-Praxis wach wird, haben wir Zugang zu dem gefunden, was man ihre ästhetische Dimension nennen kann. Gesammelte Bewußtheit beispielsweise ist ja nicht einfach nur Ausdruck kognitiver und affektiver Veränderungen, sondern bedeutet auch eine Erfahrung von Schönheit. Je mehr der innere Wirrwarr zur Ruhe kommt und je klarer unsere Aufmerksamkeit wird, desto direkter erfahren wir die natürliche Schönheit der Welt. Wir bestaunen das filigrane Aderngeflecht eines Blattes, das Spiel von Licht und Schatten auf der Rinde eines Baumes, die Spiegelungen und Bewegungen in einer Wasserlache, das schmelzende Strahlen in einem _______________________________________________________________ 203
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menschlichen Auge. Auch für die Künste sind unsere Sinne jetzt anders geöffnet: eine Tonfolge, eine Gedichtzeile, eine Tanzfigur, eine Bleistiftskizze, eine Tonvase kann uns so tief ansprechen und berühren wie nie zuvor. Die großen Kunstwerke aller Kulturen fangen ja nicht nur das Pathos der Angst ein, sondern enthalten auch die Vision ihrer Linderung oder Beendigung. Nehmen wir etwa die sehnsuchtsvollen Sätze Prousts oder die Haiku eines Basho, die späten Streichquartette und Sonaten Beethovens, Sengais Tuschbilder und Rothkos gewaltige Farbflächen, die Selbstporträts Rembrandts und Hakuins. Hier gibt es keine Lösung der Angst durch Trost oder romantische Verklärung. Solche Werke akzeptieren die Angst vielmehr, ohne in ihr unterzugehen. Sie offenbaren die Angst als das, was der Schönheit Würde und Tiefe gibt. Die vier adelnden Wahrheiten des Buddha handeln von Freiheit und haben damit zugleich eine ästhetische Dimension: Jedes Kunstwerk, das unser Verständnis der Angst _______________________________________________________________ 204
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vertieft, uns ein wenig von unseren selbstbezogenen Begehren befreit, das dynamische Spiel von Leere und Form sichtbar macht und uns in dem Wunsch nach einem auf diese Ziele ausgerichteten Leben bestärkt, ist damit als ein Gegenstand von wahrer Schönheit ausgewiesen. Selbstverständlich können auch nichtbuddhistische Werke diesen Kriterien genügen; und selbstverständlich gibt es explizit buddhistische Werke, die ihnen nicht genügen. Selbst- und Welterschaffung – ein Werk der Imagination, das in beiden Fällen von ein und derselben ästhetischen Sicht getragen ist. Die adelnden Wahrheiten fordern nicht nur ein weises und mitfühlendes, sondern auch ein im ästhetischen Sinne schöpferisches Handeln. Unsere Worte, unsere Taten, unser bloßes Vorhandensein in der Welt erzeugen in anderen bleibende Eindrücke ähnlich denen, die Schriftsteller, Maler oder Töpfer in ihren Arbeitsmaterialien hinterlassen. Die Menschenwelt ist wie ein gigantisches Musikinstrument, auf dem wir alle unsere _______________________________________________________________ 205
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Stimme spielen und dabei zugleich den Kompositionen anderer lauschen. Die Erschaffung unserer selbst im Prozeß des Erwachens ist kein subjektives, sondern ein intersubjektives Geschehen. Ob wir uns auf die Welt einlassen oder nicht, haben wir nicht zu entscheiden, nur wie wir es tun. Unser Leben ist eine Geschichte, die wir anderen durch jede unserer Lebensäußerungen – Gesichtsausdruck, Körpersprache, Kleidung, Tonfall – weitererzählen, ob wir wollen oder nicht. Nach seinem Erwachen blieb der Buddha wochenlang in einem unentschiedenen Zustand zwischen dem Verzückungszustand der Freiheit und dem »Ungemach« des Zugehens auf die Welt: Sollte er im Frieden des Nirvāna bleiben oder anderen vermitteln, was er entdeckt hatte? Was schließlich den Ausschlag gab, war ein Gedanke, der ihm kam (in der Sprache des alten Indien ein »Gott«, der sich ihm näherte), nämlich daß auch andere das _______________________________________________________________ 206
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Potential zum Erwachen besitzen und er sich ihrer annehmen mußte. Sobald seine Imagination sich einschaltete, verließ er den mystischen Weg der reinen Versenkung in die Transzendenz und wandte sich der Welt zu. So machte sich der Buddha auf einen Weg, der von einer Vision ausging, durch Ideen in Worte und Taten umgesetzt wurde und Kulturen des Erwachens entstehen ließ, die heute noch inspirierend wirken. Jeder schöpferische Prozeß verläuft so: Eine noch ungeformte Vision wird durch Imagination in kulturelle Formen übersetzt. Das Leben des Buddha ist ein Paradigma menschlicher Existenz, das in Asien während der letzten zweieinhalb Jahrtausende immer wieder in verschiedenen Gestalten realisiert worden ist. Das Genie des Buddha lag in seiner Imagination. Er vermochte nämlich seine Vision nicht nur in die Sprache seiner Zeit zu übersetzen, sondern fand eine so universale Formulierung, daß auch spätere Generationen, in Indien und anderswo, sie noch nachvollziehen _______________________________________________________________ 207
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konnten. Seine Ideen haben überlebt, wie große Kunstwerke überleben. Manche eher stilistischen Elemente seiner Lehre mögen uns heute ein wenig befremden, aber seine zentralen Gedanken sprechen uns ganz direkt an, unabhängig von besonderen zeitlichen oder räumlichen Umständen. Im Unterschied zu antiken Statuen bleibt das vom Buddha angedrehte Rad des Dharma weiterhin in Bewegung und bringt immer neue, überraschende Kulturen des Erwachens hervor. Immer wenn der Dharma in eine neue Zivilisation oder historische Epoche eintrat, stand er vor einer doppelten Herausforderung: sich selbst als innerlich stimmige Tradition zu bewahren, zugleich aber auf schöpferische Weise den neuen Umständen Rechnung zu tragen. Um unter den verschiedensten Umständen einleuchtend zu bleiben, mußte er sich auf originelle und unerwartete Weise immer wieder neu erschaffen – man vergleiche nur die Texte das Pāli-Kanon mit einer Sammlung von _______________________________________________________________ 208
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Zen-Koan oder dem »Totenbuch der Tibeter«. Solche Entwicklungen und Wandlungen zogen sich stets über etliche Generationen hin, bis ihnen durch einzelne oder eine Handvoll einzelner Gestalt gegeben wurde. Auch bei diesen Menschen lag das Genie in der Imagination, in ihrer Fähigkeit, eine authentische Vision des Dharma so umzusetzen, wie es den Gegebenheiten am besten entsprach. Sie initiierten immer wieder neue Kulturen des Erwachens, die in Philosophie, Literatur und Kunst ihren Ausdruck fanden. Allerdings dauerten solche Zeiten der Hochblüte nie besonders lang, denn so imaginativ und kreativ die Gründergestalten auch gewesen sein mögen, in den Schulen und Orden, die sie ins Leben riefen, waren das später meist nicht gerade die am meisten geförderten Eigenschaften. Sobald religiöse Institutionen mit entsprechender Macht entstanden waren, ging es weit mehr um die Wahrung der Orthodoxie als um neue Anstöße. _______________________________________________________________ 209
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Das Bemerkenswerte an jeglicher Orthodoxie ist, daß sie zwar in einem imaginativen Neubeginn ihren Ursprung hat, dann aber gerade diese Imagination unter ihre Kontrolle zu bringen versucht, damit nichts ihre Autorität untergraben kann. Das Maß der Authentizität der Einsicht eines Menschen ist dann seine Konformität mit den Dogmen der Schule. Doch wenn auch Vorkehrungen gegen Scharlatanerie und Selbsttäuschung notwendig sein mögen, zeigt sich immer wieder, daß die Grenze zur Unterdrückung echter kreativer Ansätze, die den Status quo in Frage stellen, nur allzuleicht überschritten wird. Imagination ist anarchisch und daher potentiell subversiv. Je mehr eine religiöse Institution autoritär und hierarchisch verfaßt ist, desto entschiedener wird sie auf der Konformität aller Schöpfungen der Imagination mit den bestehenden Doktrinen und ästhetischen Normen beharren. _______________________________________________________________ 210
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Doch durch Unterdrückung der Imagination wird die Dharma-Praxis von ihrem Lebensquell abgeschnitten. Religiöse Orthodoxien mögen jahrhundertelang lebendig bleiben, irgendwann werden sie verknöchern. Wenn sich ihr Umfeld dann wandelt, haben sie nicht mehr die Kraft, schöpferisch auf die Herausforderungen der neuen Situation zu reagieren.
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Kultur Es gibt nichts, was die vom Buddha Inspirierten nicht üben würden. Wer darin geübt ist, so zu leben, für den ist nichts ohne Wert. Shāntideva
Heute begegnet der Buddhismus einer Welt, in der Imagination und Kreativität als zentrale Werte anerkannt sind, wichtig für die individuelle wie die gesellschaftliche Freiheit. Alle Traditionen des Buddhismus sind sich einig gewesen in der entscheidenden Bedeutung des Freiseins von Begehren und Angst für eine Kultur des Erwachens, aber auf Freiheit zum schöpferischen Reagieren auf die Angst der Welt haben nicht alle immer gleich viel Wert gelegt. Buddhistische Traditionen haben stets eine Neigung zum politischen Konservatismus gezeigt, weil sie sich einerseits zu religiösen Orthodoxien entwickelten und sich andererseits gern mit autokratischen oder sogar tota_______________________________________________________________ 212
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litären Regimen identifizierten. Als Ergebnis dieser Entwicklung erkennen wir einen Hang zum Mystizismus und zugleich die Auffassung, daß Erfüllung als Person und gesellschaftliches Wesen in dieser verdorbenen Welt nicht zu haben ist und erst bei der Wiedergeburt in einer besseren Welt erwartet werden darf. Bei der Begegnung des Buddhismus mit der heutigen Welt kommen zwei Auffassungen von Freiheit zusammen: die vom Buddha verwirklichte Freiheit von Angst und Begehren und die Freiheit des selbstbestimmten Individuums, sein Potential zu persönlicher und gesellschaftlicher Erfüllung selbst zu verwirklichen. In den freiheitlichen Demokratien unserer Zeit werden wir dazu erzogen, uns als autonome Individuen selbst zu verwirklichen. Es dürfte kaum je zuvor eine Zeit gegeben haben, in der so viele Menschen sich vergleichbarer Freiheit erfreuten. Die Ausnutzung dieser Freiheiten im Dienst von Gier, Aggression und Angst hat allerdings zum Zusammenbruch _______________________________________________________________ 213
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aller Gemeinschaftlichkeit, zur Zerstörung der Umwelt, zu rücksichtsloser Ausbeutung der Ressourcen, zur Festschreibung von Unrecht und Ungleichheit geführt. Anstatt ihre Freiheit kreativ zu realisieren, entscheiden sich viele Menschen für den vom Fernsehen diktierten gedankenlosen Konformismus, für Massenkonsum, für die Betäubung ihrer Angst und ihrer Entfremdungsgefühle mit Drogen. Theoretisch hat die Freiheit einen sehr hohen Stellenwert; praktisch wird sie als schwindelerregender Sinn- und Richtungsverlust erlebt. Das Anziehende einer religiösen Orthodoxie liegt zum Teil darin, daß sie der Unsicherheit, Richtungslosigkeit und Ziellosigkeit der modernen Gesellschaft ein Bild des Lebens entgegenhält, in dem es Sicherheit, Struktur und Sinn gibt. In den traditionellen Formen des Buddhismus bot diese Zuflucht eine solide Basis für die ethischen, meditativen und philosophischen Werte, die dem Erwachen dienen. Heute jedoch zögern die orthodoxen Traditionen vielfach, wenn es darum geht, all das in _______________________________________________________________ 214
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eine Kultur des Erwachens umzumünzen, die den spezifischen Bedürfnissen der heutigen Welt gerecht wird. Lieber am Bekannten und Bewährten festhalten, als sich auf Imagination einzulassen, auf den stets riskanten Sprung ins Dunkle. Der buddhistische Freiheitsbegriff läuft auf die Forderung nach einem Weg der individuellen und gemeinschaftlichen Praxis hinaus, der zu einer befreienden Erfahrung von Selbst und Welt führt. Echte Freiheit ist nach dieser Auffassung in einem Leben des verwirrten, selbstsüchtigen Begehrens nicht möglich. Der moderne Freiheitsbegriff läuft auf die Forderung nach gesellschaftlichen und politischen Strukturen hinaus, die das Recht sichern und den schöpferischen Möglichkeiten des Individuums das bestmögliche Umfeld bieten. Nach dieser Auffassung ist echte Freiheit in einer repressiven und ungerechten Gesellschaft nicht möglich. _______________________________________________________________ 215
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Sich eine Kultur des Erwachens vorzustellen, die aus der Begegnung dieser beiden Sichtweisen entstehen könnte, dürfte ein wenig verfrüht sein, aber zwei Hauptthemen beginnen sich abzuzeichnen: Durch die Begegnung mit der modernen Welt erfährt die Dharma-Praxis einerseits eine Individuation und andererseits entwickelt sie soziales Engagement. Zur Individuation der Dharma-Praxis kommt es immer da, wo die Lösung eines persönlichen existentiellen Dilemmas wichtiger genommen wird als die Übereinstimmung mit der »rechten Lehre« des Buddhismus. Individuation ist die Wiederaneignung unserer persönlichen Autorität durch das Freiwerden von den Zwängen eines kollektiven Glaubenssystems. Wenn die Schulung bei einem Lehrer einer bestimmten Tradition zu wachsender Abhängigkeit von dieser Tradition und zu entsprechendem Verlust an persönlicher Autonomie führt, muß man diese Verbindung vielleicht abbrechen. Allerdings sind uns heute sehr viele buddhistische Tra_______________________________________________________________ 216
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ditionen zugänglich, und so ist die Wahrscheinlichkeit, daß man dem selbstverständlichen Überlegenheitsanspruch irgendeiner dieser Schulen aufsitzt, eher gering. Eine wahrhaft individuierte Sicht, der Imagination und Vielfalt kostbar sind, wird letztlich jedem Praktizierenden die Möglichkeit geben, im Feld der Dharma-Praxis seinen ganz eigenen Weg zu gehen. Das soziale Engagement der heutigen Dharma-Praxis geht aus von dem Wissen, daß Verwirrung und Begehren und die daraus resultierende Angst nicht mehr einfach als persönliche, individuelle Phänomene aufgefaßt werden können. Wir finden diese Kräfte in den wirtschaftlichen, militärischen und politischen Strukturen am Werk, die das Leben des größten Teils der Menschheit beeinflussen. In ihrer Verknüpfung mit der industriellen Technik entscheiden diese Kräfte über den Zustand der Umwelt, die Verfügbarkeit von Ressourcen und Arbeit, die Beschaffenheit der Institutionen, die das Leben der Menschen beherr_______________________________________________________________ 217
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schen. Für solch eine sozial engagierte Dharma-Praxis ist jeder Praktizierende durch ein Ethos des Mitfühlens gehalten, sich der jetzt globalisierten Angst einer vollkommen vernetzten Welt zu widmen. Individuation und soziales Engagement gibt es natürlich nicht erst heute. Jede in der Vergangenheit realisierte Kultur des Erwachens ging aus der ursprünglichen, imaginativen Vision eines einzelnen hervor und wurde dann in soziale Strukturen eingebettet, die der neuen Situation entsprachen. In den modernen Demokratien sind die Rolle des einzelnen und die gesellschaftlichen Beziehungen von ganz anderer Art, als sie früher waren, vor allem in Asien. Es wird verschiedener und doch kommensurabler Prozesse der Individuation und des gesellschaftlichen Engagements bedürfen, wenn eine moderne Kultur des Erwachens entstehen soll. Die Selbsterschaffung der Individuation und die Welterschaffung des sozialen Engagements können nicht unabhängig voneinander _______________________________________________________________ 218
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bestehen. Sie bestehen in einer gemeinsamen Kultur, die sie zu einem sinnvollen Ganzen fügt. Zugleich besteht aber zwischen ihnen eine schöpferische Spannung, die diese Kultur ausgestaltet und formt. So werden Individuation und soziales Engagement die beiden Pole einer Kultur des Erwachens. Der Begriff »Kultur« beinhaltet, daß etwas »kultiviert« wurde. Zu kultivieren ist nach den Worten des Buddha ein Pfad der Einsicht, des authentischen Denkens, Sprechens und Handelns, der rechten Lebensweise, des Entschlusses, der Achtsamkeit und der gesammelten Bewußtheit. So ist also eine Kultur des Erwachens da gegeben, wo dieser Pfad kultiviert wird. Eine Kultur des Erwachens steht und entsteht zwischen den beiden Polen der Wertschätzung für die Vergangenheit und des Verantwortungsbewußtseins gegenüber der Zukunft. In Übergangszeiten wie der gegenwärtigen ist die Spannung zwischen diesen beiden _______________________________________________________________ 219
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Polen besonders deutlich spürbar. Um eine Tradition unverletzt zu bewahren, müssen wir zwischen ihrem Kernbestand und verzichtbarem Beiwerk unterscheiden. Was also ist lebenswichtig für die Dharma-Praxis, und was ist künstlich aufgepfropft und ihrer Lebensfähigkeit vielleicht eher im Wege? Das wäre in unserer Zeit zum Beispiel die Frage, ob die metaphysische Lehre von Karma und Wiedergeburt zum Kernbestand der Tradition gehört oder nicht. Zu welchem Schluß wir auch kommen mögen, es sind immer Risiken damit verbunden. Solche Entscheidungen, deren mögliche Folgen für andere wir nie ganz absehen können, müssen mit größtmöglichem Verantwortungsbewußtsein getroffen werden. Eine Kultur des Erwachens kann niemals unabhängig von den sozialen, religiösen, künstlerischen und ethnischen Anteilen der Kultur bestehen, in die sie eingebettet ist. Sie geht aus schöpferischer Interaktion mit diesen Kultur-Aspekten hervor, ohne sie abzulehnen oder von ihnen aufgesogen zu werden. Sie _______________________________________________________________ 220
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wird zwangsläufig manche Züge der Gegenwartskultur annehmen und diese vielleicht auch inspirieren und beleben; gleichzeitig aber wird sie eine kritische Haltung beibehalten. Es sind vor allem zwei Dinge, die der Dharma-Praxis heute gefährlich werden können: Wenn sie sich dem schöpferischen Austausch verweigert, könnte sie als Subkultur und Randerscheinung enden, als ansehnlich präparierter Kadaver; wenn sie ihre innere Integrität und kritische Haltung aufgibt, könnte sie schließlich von etwas anderem – zum Beispiel Psychotherapie oder kontemplativem Christentum – vereinnahmt und geschluckt werden. Und wie weitgehend eine Kultur des Erwachens auch individuiert sein mag, sie kann niemals Privatsache werden. Sie ist immer Ausdruck von etwas Gemeinschaftlichem. Um Reife und Tiefe zu bekommen, muß sie über Generationen kultiviert worden sein. Gemeinschaft ist das lebendige Bindeglied zwischen Individuation und sozialem Engagement. Eine _______________________________________________________________ 221
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Kultur des Erwachens kann es ohne ein verläßlich tragendes Gemeinschaftsgefühl einfach nicht geben, denn der Boden, auf dem die Dharma-Praxis kultiviert wird, ist eine Matrix von Freundschaften. Wie solche echte Gemeinschaftlichkeit als Grundlage für eine die individuelle Freiheit befördernde Kultur des Erwachens geschaffen werden kann, ist vielleicht die wichtigste von all den Fragen, die sich den Dharma-Praktizierenden heute stellen. Die Stärke des religiösen Buddhismus besteht sicherlich zum Teil darin, daß er hier eine so eindeutige Antwort weiß: bei den hierarchischen Institutionen bleiben, die Jahrhunderte der Gärung und des Wandels überdauert haben. Aber auch wenn solche Institutionen ein optimaler Rahmen für kontinuierliche Schulung in Meditation und Reflexion sind, ob sie ausreichen als Basis für die Schaffung einer modernen Kultur des Erwachens, bleibt fraglich. Die demokratische und agnostische Prägung einer säkularen Welt be_______________________________________________________________ 222
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darf keiner neuen buddhistischen Kirche, sondern einer individuierten Gemeinschaft, in der schöpferische Imagination und soziales Engagement so viel gelten wie philosophische Reflexion und meditative Vertiefung. Eine agnostische Sicht der Kultur des Erwachens wird zweifellos viele der altehrwürdigen Funktionen des religiösen Buddhismus in Frage stellen. Anders als in den vorwissenschaftlichen asiatischen Kulturen wird man dem Buddhismus künftig kaum noch das letzte Wort zu Dingen wie Kosmologie, Biologie und Bewußtsein überlassen. Man wird sich auch kaum noch mit der tröstlichen Versicherung abspeisen lassen, nach einem Leben in Übereinstimmung mit der Lehre von Karma und Wiedergeburt dürfe man mit einer neuen Geburt unter günstigeren Umständen rechnen. Die agnostische Sicht wird nicht bei der altindischen Niedergangslehre bleiben, sondern von der Freiheit und Aufgabe sprechen, auf dieser Erde eine erwachte und mitfühlende Gesellschaft entstehen zu lassen. Sie _______________________________________________________________ 223
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wird nicht autoritären und monolithischen Institutionen das Wort reden, sondern einem dezentralen Netzwerk kleiner autonomer Gemeinschaften des Erwachens. Anstelle einer von autokratischen Führungsgestalten beherrschten mystischen religiösen Bewegung wird sie eine zutiefst agnostische, säkulare Kultur entwerfen, deren Grundlage Freundschaft und deren Erscheinungsbild das gemeinschaftliche Handeln ist.
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Quellen und Anmerkungen Die Hauptquellen dieses Buchs sind die Menschen, bei denen ich studiert und den Dharma praktiziert habe. Mein Dank gilt insbesondere meinen verstorbenen Lehrern Geshe Ngawang Dargyey und Geshe Tamdrin Rabten vom Kloster Sera Je in Lhasa und dem verstorbenen Kusan Pangjang Sunim vom Kloster Songgwang Sa in Südkorea. Im Folgenden gebe ich zwar die Quellen der im Buch angeführten Zitate an, aber eine erschöpfende Liste der Quellen, die mich zu diesem Buch inspiriert haben, wäre nicht angebracht. Zwei Bücher möchte ich jedoch nennen, weil etliche der Zitate aus ihnen stammen und sie eine Einführung in die beiden Hauptströmungen buddhistischen Denkens bieten: Nanamoli Thera (Osbert Moore), The Life of the Buddha, Kandy (Sri Lanka): Buddhist Publishing Society, 1972, 1992. Shāntideva, Bodhicaryavatara. 1) Aus dem Sanskrit von Kate Crosby und Andrew Skilton, Oxford/New York: Oxford University Press, 1996. 2) Aus dem Tibetischen von Stephen Batchelor als A Guide to the Bodhisattva's Way of Life, Dharamsala (Indien): Library of Tibetan Works and Archives, 1979. Informationen über die Geschichte des Buddhismus sowie seine wichtigsten Gestalten, Schulen und Lehren findet der Leser in Rick Fields', How the Swans Came to the Lake: A Narrative History of Buddhism in America (Boston: Shambhala, 1981), und in meinem The Awakening of the West: The Encounter of Buddhism and Western Culture (Berkeley: Parallax, 1994). _______________________________________________________________ 225
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Grundlage »Gebt euch nicht zufrieden mit Gehörtem...« stammt aus dem KalamaSutta (Anguttara Nikaya III, 65) in The Life of the Buddha, übers. v. Nanamoli Thera, S. 175 f.
Erwachen Solange mein Blick noch nicht ganz klar war...« stammt aus dem Dhammacakkappavatana-Sutta (Samyutta Nikaya LIV, 11), vollständig übersetzt in The Life of the Buddha, S. 43-45. Anregungen zu diesem Kapitel, das Reflexionen zum Dhammacakkappavatana-Sutta enthält, bezog ich aus den Schriften von Nanavira Thera (Harold Musson), gesammelt in Clearing the Path (Colombo, Sri Lanka: Path Press, 1987). Der Hinweis auf die Episode in Alice im Wunderland sowie der Gedanke, daß die Vier Wahrheiten nicht Sätze sind, die man glauben soll, sondern Anweisungen zum Handeln, finden sich in diesem Werk auf S. 258-59; der Ausspruch, daß das Erwachen »von seinem Sockel gestoßen« wird, auf S. 282. Auch die kritische Betrachtung des Buddhismus als Mystik ist von Nanavira beeinflußt. Zu Leben und Werk dieses ungewöhnlichen englischen Buddhisten und Autors siehe mein »Existence, Enlightenment and Suicide: The Dilemma of Nanavira Thera«, in The Buddhist Forum Volume IV: Seminar Papers 1994-1996, hrsg. v. Tadeusz Skorupski (London: School of Oriental and African Studies), S. 9-34. Alles, was hier oder an anderer Stelle über »den Buddha« oder »Gautama« gesagt wird, bezieht sich auf den Buddha, wie er im Pāli-Kanon dargestellt wird. _______________________________________________________________ 226
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Agnostizismus »Nimm an, Malunkyaputta, ein Mann werde...« wurde gekürzt übernommen aus dem Culamalunkya-Sutta (Majjhima Nikaya 63), enthalten in The Middle Length Discourses of the Buddha, übers. v. Nanamoli Thera und Bikkhu Bodhi (Boston: Wisdom, 1995), S. 534-36. In Trevor Lings, The Buddha: Buddhist Civilization in India and Ceylon (London: Temple Smith, 1973) stieß ich auf die Auffassung von Religion als »Restzivilisation«. Ich selbst bezeichne den Buddhismus jedoch nicht als Zivilisation, sondern hebe darauf ab, daß er etwas mit Kultur gemein hat. S.31: »rigorose Anwendung eines einzigen Prinzips« und die weiteren Huxley-Zitate entstammen seinem Essay »Agnosticism« aus dem Jahr 1889, aufgenommen in Science and the Christian Tradition (London: Macmillan, 1904), S. 245-46. Kaum zwanzig Jahre später wurde der von Huxley geprägte Begriff bereits von Ananda Metteyya (Allan Bennett), dem zweiten zum buddhistischen Mönch ordinierten Westeuropäer, auf den Buddhismus angewendet. In einem Brief an den Free Thought Congress von 1904 schrieb er: »Der Standpunkt des Buddhismus zu diesem entscheidenden Problem stimmt in seinen Grundgedanken exakt überein mit der modernen agnostischen Philosophie des Westens...« Siehe Buddhism: An Illustrated Review 2 (Ran-gun, Oktober 1905), S. 86. In derselben Nummer dieser von Bennett herausgegebenen Zeitschrift findet sich ab S.79 ein Artikel von Prof. Allessandro Kosta mit dem Titel »Buddhism, an Agnostic Religion«. Auch die aktuelle Ausgabe der Encyclopaedia Britannica stellt den Buddhismus als religiöse Form des Agnostizismus dar. S.33: »Jenes komplexe Ganze...« stammt aus E.B. Tylors Primitive Culture (London: J. Murray, 1871), S. 1. _______________________________________________________________ 227
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Angst »Keine Bedingung ist von Dauer...« Dies ist meine freie Übersetzung des Pāli-Textes sabbe sankhara anicca, sabbe sankhara dukkha, sabbe dhamma anatta, wörtlich »alle Bedingungen sind vergänglich, alle Bedingungen sind dukkha, alle Phänomene sind ohne ein Ich«. Dukkha wird meist als »Leiden« übersetzt. Ich verwende den Ausdruck »Angst«, wenn dukkha als persönliche Erfahrung jenes Leidens gemeint ist, das durch selbstsüchtiges Begehren verursacht wird; und »kein Verlaß« oder »Ungewißheit«, wenn dukkha als das Merkmal der Bedingungen des Lebens gemeint ist. Eine detailliertere Analyse der überlieferten Legende von Siddhārta Gautama biete ich in Alone With Others: An Existential Approach to Buddhism (New York: Grove, 1983), S. 25-38. Andere Ideen dieses Kapitels sind weiter entwickelt in Flight: An Existential Conception of Buddhism (Wheel Publication no. 316/317, Kandy, Sri Lanka: Buddhist Publication Society, 1984). Tod »Was auch immer mir zuteil wird...« ist aus meiner Übersetzung einer tibetischen Fassung von Shāntidevas Bodhicharyāvatāra (II, 36). Shāntideva war ein indischer Mönch, der in der ersten Hälfte des achten Jahrhunderts wirkte. Das Bodhicharyāvatāra ist ein Grundlagenwerk zum buddhistischen Pfad, das in der tibetischen Tradition einen hohen Stellenwert hat. Die beiden verfügbaren Fassungen sind weiter oben genannt. Die Todesmeditation basiert auf einer entsprechenden Meditationsform, die man im tibetischen Buddhismus antrifft. Siehe zum Beispiel Gampopa, Jewel Ornament of Liberation, übers. v. Herbert V. Guenther (London: Rider, 1970), S. 41-54. _______________________________________________________________ 228
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Wiedergeburt »Wenn es aber keine andere Welt gibt...« stammt aus dem Kalama Sutta (Anguttara Nikaya III, 65), in The Life of the Buddha, übers. v. Nanamoli Thera, S. 177. Einige meiner Argumente in diesem Kapitel sind noch weiter ausgeformt in meinem Artikel »Rebirth: A Case for Buddhist Agnosticism«, in Tricycle 2 (Herbst 1992), S.16-23. Zu buddhistischen Belegen für die Wiederge-burtslehre schreibt Martin Willson in Rebirth and the Western Buddhist (London: Wisdom, 1987). Ian Stevenson schreibt über die Erforschung von Fällen, in denen Menschen sich an frühere Leben erinnern, zum Beispiel in Cases of the Reincarnation Type, 4 Bde. (Charlottesville, Virginia: University Press of Virginia, 1975-83). Eine kritische Betrachtung des Belegmaterials für die Theorie eines Lebens nach dem Tode gibt Susan Blackmore in Dying to Live: Science and the NearDeath Experience (London: Grafton, 1993). S. 51: Zu der Aussage des Buddha, daß Karma Intention sei, vgl. beispielsweise Anguttara Nikaya VI, 13. Die psychologische Funktion der Intention wird weiter unten im Kapitel »Werden« entwickelt. Meine Aussage, daß der Buddha »das Karma allein noch nicht als ausreichende Erklärung für die individuelle Erfahrung« ansah, ist im Sivaka-Sutta (Samyutta Nikaya, Vedana 21) belegt, wo er von acht Bedingungen für Lust, Schmerz usw. spricht und Karma nur die letzte dieser Bedingungen ist. Die Passage ist übersetzt in Nanavira Theras Clearing the Path (Colombo, Sri Lanka: Path Press, 1987, S. 486-87). Entschluß »Wenn Krähen eine sterbende Schlange finden...«ist aus meiner Übersetzung der tibetischen Fassung von Shāntidevas Bodhicharyāvatāra, VII, 52. _______________________________________________________________ 229
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Redlichkeit »Ein Mönch fragte Yunmen...« ist das 14. Beispiel des Biyanlu, einer chinesischen Kōan-Sammlung aus dem zwölften Jahrhundert, die in der Zen-Schulung eine bedeutende Rolle spielt. Eine deutsche Ausgabe liegt in der Übersetzung von Wilhelm Gundert vor: Bi-yän-lu: Meister Yuanwu's Niederschrifl von der Smaragdenen Felswand, Berlin: Ullstein, 1983. Freundschaft »Wie die Morgendämmerung...« ist eine anonyme Übersetzung einer Passage aus dem Samyutta Nikaya V. S.67: Den Gedanken des »schützenden Freiraums« verdanke ich meiner Jungschen Analytikerin Dora Kalff. Siehe Dora M. Kalff, Sandplay: A Psychotherapeutic Approach to the Psyche (Los Angeles: Sogo, 1980). Pfad »Einst umschritt ein alter Mann...« stammt aus dKa gdams kyi skyes bu dam pa rnams kyi gsung bgros thor bu rnams (Vermischte Ratschläge der Kadampa-Meister), hrsg. v. Tsun ba je gom, Tibetan blockprint, o. J., S. 41-42. Hier meine eigene Neuformulierung der Übersetzung von Geshe Wangyal in The Door of Liberation (Boston: Wisdom, 1995), S.100. Die letzte Antwort Droms weicht sowohl vom tibetischen Text als auch von Geshe Wangyals Übersetzung ab; ich habe mich für eine Fassung entschieden, die ich von tibetischen Lamas hörte. Bewußtheit »Des weiteren weiß ein Mönch...«ist die Übersetzung einer Passage des Satipatthana-Sutta (Majjhima Nikaya 10) aus The Middle Length Dis_______________________________________________________________ 230
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courses of the Buddha, übers. v. Nanamoli Thera und Bikkhu Bodhi (Boston: Wisdom, 1995), S. 146. Meine Darstellung der Achtsamkeits-Meditation basiert auf dem Satipatthana-Sutta (wie oben), Shāntidevas Bodhicharyāvatāra und mündlichen Unterweisungen aus der heutigen Vipassanā- oder »Einsichts«Meditation. Joseph Goldstein und Jack Kornfield behandeln diese Tradition in ihrem Buch Seeking the Heart of Wisdom: The Path of Insight Meditation (Boston: Shambhala, 1987; dt.: Einsicht durch Meditation, Bern u.a.: O.W. Barth, 1989). Werden »Verwirrung bedingt Aktivität...« ist meine Übersetzung der PāliFassung dessen, was man heute im Allgemeinen »die zwölf Glieder des Entstehens in Abhängigkeit« nennt. Der Abschnitt, der mit »Nehmen Sie Ihre Sitzposition ein, und kommen Sie zum Atem zurück« beginnt, bietet eine Reflexion über die fünf Grundbestandteile des mentalen Lebens: Einwirkung, Gestimmtheit, Wahrnehmung, Intention, Aufmerksamkeit. Im Theravāda-Buddhismus werden diese als Nāma-Faktoren bezeichnet. Dem Pāli-Kanon zufolge führt der Buddha sie als den Nāma- oder »Namen«-Anteil von Nāmarūpa (wörtlich »Name-Form«) an, und letzteres gebe ich hier als »verkörperte Persönlichkeit« wider. In der tibetischen Tradition erscheinen sie als die fünf »allgegenwärtigen« geistigen Prozesse, wie wir sie in Asangas Abhidharmasamuccaya finden. Siehe Geshe Rabten, The Mind and Its Functions, übers. u. hrsg. v. Stephen Batchelor (MontPelerin, Schweiz: Editions Rabten Choeling, 1992, S. 110-15). Die Lehre von den zwölf Gliedern des Entstehens in Abhängigkeit gehört zum Kernbestand des Buddhismus, meist gedeutet als Beschreibung _______________________________________________________________ 231
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eines Werdens, das sich über drei Leben erstreckt; es scheint allerdings in den Lehrreden des Buddha, die in den Pāli-Kanon aufgenommen wurden, keine Stelle zu geben, wo er explizit von diesem Modell der drei Leben spricht. Eine leicht verständliche traditionelle Darstellung des Gegenstands findet sich in einem Buch Seiner Heiligkeit des vierzehnten Dalai Lama: The Meaning of Life from a Buddhist Perspective, übers. u. hrsg. v. Jeffrey Hopkins (Boston: Wisdom, 1992).
Leere »Ungeborene Leerheit hat abgelassen von den Extremen...« ist meine Übersetzung eines Abschnitts aus dem von Tsongkhapa (einem tibetischen Lama des vierzehnten Jahrhunderts) stammenden Text rTsa she tik chen rigs pa'i rgya mtso (Sarnath, 1973), S.431. Das Werk ist ein Kommentar zu Nāgārjunas Mūlamādhyamakakārikā (Wurzel-Verse über die Mitte) aus dem zweiten Jahrhundert. Die zitierte Passage stammt aus Tsongkhapas Kommentar zu Kapitel 24, Vers 18. Er lautet: »Was aufgrund von Bedingungen erscheint, wird leer genannt. Es ist durch die Umstände gefügt, es ist der Mittlere Weg.« Meine Darstellung der Lehre von der Leere beruht auf der Deutung Tsongkhapas und seiner Nachfolger in der Geluk-Schule des tibetischen Buddhismus. Siehe Geshe Rabten, Echoes of Voidness, übers. u. hrsg. v. Stephen Batchelor (London: Wisdom, 1983); und die Einleitung zu Robert Thurmans Tsong Khapa's Speech of Gold in the Essence ofTrue Eloquence: Reason and Enlightenment in the Central Philosophy of Tibet (Princeton: Princeton University Press, 1984).
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Mitfühlen »Wenn ich etwas um anderer willen tue...« ist meine Übersetzung aus der tibetischen Fassung von Shāntidevas Bodhicharyāvatāra VIII, S. 116. Die einleitende Meditation beruht auf mündlichen Unterweisungen tibetischer Lehrer. Was im weiteren über das Einfühlen gesagt wird, orientiert sich an Shāntidevas Bodhicharyāvatāra VIII, S.90 et seq. Die Theravāda-Sicht zu diesem Gegenstand stellt Sharon Salzberg dar in Loving Kindness: The Revolutionary Art of Happiness (Boston: Shambhala, 1995; dt.: Geborgen im Sein, Frankfurt a. M.: Wolfgang Krüger, 1996). Frucht »Den Weg des Buddha gehen heißt dich selbst erkennen...« stammt aus Dogen Zenjis Genjō-Kōan (einem Teil seines Hauptwerks Shōbōgenzō). Übersetzt ist das Genjō-Kōan in Moon in a Dewdrop: Writings of Zen Master Dogen, hrsg. v. Kazuaki Tanahashi (Berkeley: North Point Press, 1985, S. 69-73). Freiheit »Ohne Erwachen ist selbst ein Buddha...« stammt aus Philip B. Yampolskys The Platform Sutra of the Sixth Patriarch (New York: Columbia University Press, 1967, S. 151). Eine deutsche Fassung ist Das Sutra des Sechsten Patriarchen, aus dem Chinesischen und Japanischen von Ursula Jarand (Bern u.a.: O.W. Barth/Scherz, 1989). Die letzten drei Kapitel dieses Buches, »Freiheit«, »Imagination« und »Kultur«, stehen im Zeichen der Lehre von den »drei Körpern« (Sanskrit: trikāya) des Buddha; die Begriffe werden vielfach wörtlich übersetzt
als
»Dharma-Körper«
(dharmakāya)
»Freude-Körper«
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(sambhogākaya)
und
»Manifestations-Körper«
(nirmānakāya).
Außerdem zeichnen diese Kapitel die ersten fünf Stufen des »Edlen Achtfachen Pfades« nach: authentisches Sehen, authentisches Denken, authentische Rede, authentisches Handeln und authentischer Lebenserwerb. »In der Natur der Wirklichkeit liegende Freiheit« ist meine Ausdrucksweise für das im Mahāyāna-Buddhismus gültige Prinzip, daß alle Phänomene »in sich selbst nirvānisch« (prakrikti-parinirvrita) sind. Hier besteht auch eine Beziehung zur tibetischen Dzogchen-Praxis, in der alle Phänomene als »selbstbefreiend« angesehen werden. Zur Einführung in das Dzogchen siehe The Flight of the Garuda, übers. v. Keith Dowman (Boston: Wisdom, 1994). Imagination »Hauptinstrument des kulturellen Wandels...« ist aus Richard Rortys Contingency, Irony and Solidarity (Cambridge: Cambridge University Press, 1989), S.7. Dieses Buch und andere Schriften Rortys haben mich beim Schreiben von Buddhismus für Ungläubige stark inspiriert. Seine Denkweise kommt meinem Bemühen um eine zeitgemäße, nichtreligiöse Formulierung buddhistischer Ideen sehr entgegen. Weitere Bücher von ähnlicher Wirkung waren Milan Kunderas The Art of the Novel (New York: Grove, 1986) und Testaments Betrayed: An Essay in Nine Parts (London: Faber, 1995) sowie Don Cupitt, The Time Being (London: SCM, 1992). Dieses Kapitel spinnt Fäden weiter, die ich erstmals in meinem Essay »A Democracy of the Imagination« (Tricycle 4,2, Herbst 1994, S. 70-75) aufgenommen habe. »Selbsterschaffung« ist die wörtliche Übersetzung des tibetischen bdag _______________________________________________________________ 234
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bskyed, womit traditionell auf die Ima-gination der eigenen Person in der Gestalt einer »Gottheit« verwiesen wird – eine Vajrayāna-Praxis des bskyed rim (»Erschaffungs-Stufe«) in den Mahanuttara-Yoga-Tantras. Ein Überblick findet sich in The Jewel in the Lotus: A Guide to the Buddhist Traditions of Tibet, hrsg. v. Stepen Batchelor (London: Wisdom, 1987) S. 46-57. Kultur »Es gibt nichts, was die vom Buddha Inspirierten nicht üben würden...« ist meine Übersetzung der tibetischen Fassung von Shāntidevas Bodhicharyāvatāra V, 100. Der Gedanke der Individuation orientiert sich an der Verwendung dieses Begriffs in der von C. G. Jung formulierten analytischen Psychologie (insbesondere in Band 9/1 seiner Gesammelten Werke). Ein bahnbrechendes Werk über soziales Engagement aus buddhistischer Sicht ist Thich Nhat Hanh, Being Peace (Berkeley: Parallax, 1987).
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