Steve Hagen
Buddhismus im Alltag
scanned 2005/V1.0
Der Zen-Priester Steve Hagen legt den Kern des Buddhismus frei und...
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Steve Hagen
Buddhismus im Alltag
scanned 2005/V1.0
Der Zen-Priester Steve Hagen legt den Kern des Buddhismus frei und macht ihn jenseits von Riten und Fachjargon dem westlichen Sucher verfügbar. Es geht letztlich nicht um Meditation, nicht um Rezitation von Mantras, nicht um die Befolgung von Lebensregeln. Die authentische Lehre Buddhas zielt darauf ab, uns sehend zu machen, ohne die Bevormundung durch den ablenkenden und zensierenden Geist. ISBN: 3-442-21695-8 Original: Buddhism Is Not What You Think Aus dem Englischen von Andrea Panster Verlag: Goldmann Erscheinungsjahr: Deutsche Erstausgabe März 2005 Umschlaggestaltung: Design Team München
Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!!
Buch Worum geht es im Buddhismus wirklich? Nicht um Meditation, nicht um Rezitation von Mantras, nicht um die Befolgung von Lebensregcln. Die authentische Lehre Buddhas zielt darauf ab, uns sehend zu machen. In diesem Sehen erkennen wir, dass wir das Leben nicht in seiner Unmittelbarkeit wahrnehmen, sondern immer durch die Brille unserer Ängste, Hoffnungen, Wünsche und Wertvorstellungen. Jedoch ist unser Ziel nicht die Wahrheit, sondern die Wirklichkeit. Dementsprechend hat es keinen Sinn, das Leben an Regeln ausrichten zu wollen, so buddhistisch diese auch klingen mögen. Das Leben will erfahren werden ohne die Bevormundung durch den sensierenden Geist. Vor diesem Hintergrund erweist sich auch die Erleuchtung als missverständliche Zielvorstellung. Wie aber schaffen wir es, uns aus den Widerhaken des Verstandes zu lösen? Mit Hilfe von Vexierbildern, Gedichten und Anekdoten führt Steve Hagen mit sicherer Hand durch die gängigsten Untiefen des westlichen Denkens – bis hin zum Erwachen aus der geistigen Hypnose.
Autor Steve Hagen war mehr als 30 Jahre lang Schüler von buddhistischen Meistern, allein 15 Jahre verbrachte er mit Dainin Katagiri Roshi, der ihn zum Lehren des Buddhismus ermächtigte. Als Zen-Priester leitet er das Dharma Field Zen Center in Minneapolis. Sein erstes Buch »Buddhismus kurz und bündig« entwickelte sich zum Bestseller. Über die Angebote des Dharma Field Center, u. a. auch über Mitschnitte von Kursen und Vorträgen Steve Hagens zu Buddhismus und Zen, informiert die Website www.dharmafield.org
Inhalt Buch.........................................................................................................2 Autor........................................................................................................3 Vorwort Sieh selbst .................................................................................8 TEIL EINS TRÜBES WASSER ..............................................................13 1. Paradox und Verwirrung ...................................................................14 2. Wenn wir auf die Wahrheit treten......................................................18 3. Das Problem beim Ausmerzen des Bösen ..........................................22 4. Komplett verdreht ..............................................................................26 5. Geistiger Juckreiz ..............................................................................32 6. Winterlich gestimmt ...........................................................................36 7. Kein Geheimnis..................................................................................44 8. Wiedergeburt oder Reinkarnation .....................................................49 9. Das große Geheimnis ist offensichtlich .............................................54 10. Das Webmuster der Wirklichkeit .....................................................57 11. Weder heilig noch profan ................................................................59 12. Schluchten und Kiefernberge...........................................................63 13. Einfach sehen...................................................................................67 14. Die Offenbarung der Welt................................................................77 15. Befreiung, nicht Resignation............................................................85 16. Gast und Gastgeber .........................................................................90 17. Bevor Ideen keimen..........................................................................95 18. Wahre Freiheit.................................................................................99 19. Falsch verstandene Meditation......................................................103 20. Die Dinge umkehren ......................................................................107 21. Es genügt, wach zu sein .................................................................112 22. Leben ohne Maßstab......................................................................118 23. Die wertvollste Sache der Welt ......................................................123 24. Bevor wir sprechen ........................................................................127 25. Die Nadel im Wasser .....................................................................132 26. Warum nach Befreiung streben? ...................................................138 TEIL ZWEI WANDEL VON HERZ UND GEIST................................142 27. Der Geist ist die Quelle .................................................................143 28. Seine Sache gut machen.................................................................146 29. Der beste Bogenschütze der Welt ..................................................152 30. Die Wahrheit ist nichts Besonderes ...............................................157 31. Ohne religiösen Egoismus .............................................................161 32. Das richtige Motiv .........................................................................167 33. Verzicht auf Verständnis................................................................172 34. Wie können wir etwas wissen?.......................................................178
35. Nichts weiter ..................................................................................184 36. Keine Frage des Glaubens.............................................................188 TEIL DREI REINER GEIST..................................................................192 37. Wie man auf der Stelle Befreiung erlangt......................................193 38. Dies kehrt nie mehr zurück ............................................................198 39. Das Elixier der Unsterblichkeit .....................................................203 40. Eis, das im Feuer entsteht..............................................................210 41. Reiner Geist ...................................................................................215 42. Die Zeit und das Jetzt.....................................................................223 43. Erleuchtung....................................................................................231 Epilog Die Wirklichkeit findet nicht im Kopf statt ..............................238 Danksagung .........................................................................................239
Für alle meine Schüler
Die Dummen verwerfen, was sie sehen, nicht was sie denken. Die Klugen verwerfen, was sie denken, nicht was sie sehen. Huang-po
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Vorwort Sieh selbst Man sagt, es sei schwierig, Zen auszuüben, doch es besteht ein Missverständnis über das Warum. Nicht deshalb ist es schwierig, weil es mühsam ist, in der Haltung mit gekreuzten Beinen zu sitzen oder Erleuchtung zu erlangen; es ist schwierig, weil es uns schwer fällt, den Geist und unsere Praxis in ihrem ursprünglichen Sinne rein zu halten. Shunryu Suzuki Dies ist kein Wohlfühlbuch für Leute, die an sich arbeiten und spiritueller werden möchten, sondern eine überaus praktische Anleitung dazu, wie man seinen Alltag offen und ehrlich, mit Weisheit und Mitgefühl lebt. Dieses Buch handelt davon, wie man erwacht und die Wirklichkeit erkennt – davon, ganz Mensch zu sein. Es spiegelt in mancherlei Hinsicht die Worte und Taten von Gautama Siddharta, besser bekannt als Buddha ( »der Erwachte« ). Es beschäftigt sich allerdings nicht mit dem, was Buddha sagte oder tat, sondern erforscht vielmehr, was die Welt jedem Einzelnen von uns jetzt, in diesem Augenblick, offenbart. In seinen Reden und Gesprächen lenkte Buddha die Aufmerksamkeit lediglich auf das, was er unmittelbar sah und erlebte. Dieses Buch beruht darauf, dass die gleiche Erkenntnis und die gleiche Erfahrung ausnahmslos jedem von uns genau in diesem Augenblick zugänglich sind. Buddha hatte kein Interesse an Theologie oder Kosmologie. Er sprach nicht über diese Themen, ja er beantwortete nicht einmal Fragen dazu. Seine Hauptanliegen waren psychologischer, moralischer und höchst praktischer Art: 8
• Wie können wir sehen, dass die Welt jeden Augenblick neu entsteht, wie können wir die Welt sehen, wie sie ist, statt sie durch den Filter unserer Überzeugungen, Hoffnungen und Ängste zu betrachten? • Wie können wir unser Handeln auf die Wirklichkeit begründen statt auf die Sehnsüchte und Abneigungen unseres Herzens und unseres Geistes? • Wie können wir weise, voller Mitgefühl und im Einklang mit der Wirklichkeit leben? • Was heißt es, wach zu sein? Gibt es praktischere, nüchternere, uns unmittelbarer betreffende Lebensfragen als diese? Nachdem er Fragen dieser Art beantwortet hatte, bat Buddha die Menschen, seine Worte nicht ohne weiteres zu akzeptieren, sondern die unmittelbare Erfahrung des Geistes selbst zu erforschen. »Jeder von euch sei sich selbst ein Licht«, forderte er seine Zuhörer auf. »Sucht eure Rettung nicht in einer äußeren Zuflucht.« Immer wieder drängte er sie: »Reinigt euren Geist.« Doch Buddha meinte damit nicht, dass wir unseren Geist von schlechten Gedanken oder Neigungen säubern sollten. Derartige Bemühungen können leicht dazu führen, dass wir unsere Menschlichkeit verleugnen – außerdem funktionieren sie nicht. Wenn wir aktiv daran arbeiten, uns von schädlichen Gedanken zu befreien, trennen wir uns dadurch nur von den anderen und heben uns von ihnen ab. Bald entwickeln wir die Vorstellung, denjenigen überlegen zu sein, die nicht denselben Weg gehen wie wir. Eine solche Haltung verströmt selbst einen üblen Geruch. Wie können wir auf diese Weise unseren Geist reinigen, wenn bereits der Impuls dazu der Unreinheit entspringt? Als Buddha sagte: »Reinigt euren Geist«, sprach er von etwas ganz anderem. Dieses »Andere« ist Gegenstand dieses Buchs: das Erwachen. 9
Deshalb drängte Buddha die Menschen, sich nicht blind auf Traditionen, Berichte, Hörensagen, Meinungen, Vermutungen oder die Autorität religiöser Texte zu verlassen, sondern selbst zu sehen und zu erkennen, was wahr ist – und das, was sich als wahr erwiesen hat, zu praktizieren. Er drängte uns auch, selbst zu sehen und zu erkennen, was uns verletzt und entzweit – und davon abzusehen. Der Schwerpunkt liegt immer auf dem Sehen und Erkennen, nicht auf Denken, Berechnen und Glauben. An dieser Stelle soll auf zweierlei hingewiesen werden: Zum einen werden wir sehen, dass das, was wir als »Geist« bezeichnen, weit mehr ist als die Gedanken, Bilder, Gefühle, Erklärungen und Fragen, die – wie wir glauben – vom Gehirn erzeugt werden. In Wirklichkeit besitzt unser Geist einen weiteren Aspekt, der grenzenlos und nicht auf unsere eigenen gedanklichen und materiellen Erfahrungen beschränkt ist, der uns aber dennoch jeden Augenblick voll und ganz zugänglich ist. Zum anderen werden sich, wenn wir uns mit dem Geist beschäftigen, bestimmte Themen zwangsläufig wiederholen: Aufmerksamkeit, Motivation, Ehrlichkeit sich selbst gegenüber, Weisheit, wahres Mitgefühl und der reine, unverfälschte Wunsch zu erwachen. Diese Themen sind in den 43 Kapiteln dieses Buches so gut wie überall ineinander verwoben. Das Buch besteht aus drei Teilen. Im ersten Teil beschäftigen wir uns mit unserer Verwirrung. Meist ist die Welt wie trübes Wasser. Wir wissen nicht, was vor sich geht, obwohl wir die meiste Zeit über glauben, es zu wissen. Doch wenn wir ganz genau hinschauen, wie wir das im ersten Teil tun werden, können wir sehen, wie wirr viele der vertrauten, alltäglichen Ansichten sind, die wir bezüglich der Welt haben und nie infrage stellen. Im zweiten Teil geht es erneut um unsere Erfahrung, doch nun betrachten wir sie unter einem Aspekt, der sich weniger stark auf die bekannten Annahmen stützt, die praktisch all unsere 10
Verwirrung verursachen, sondern mehr auf einen Wandel von Herz und Geist. Im dritten Teil wird uns schließlich bewusst, dass die unmittelbare Erfahrung die reine Erfahrung des Geistes selbst ist, und doch nichts mit unserem Denken zu tun hat. In diesem Buch geht es um die weit verbreitete Verwirrung, die hinter praktisch allen Fragen und Entscheidungen steht, mit denen wir es Augenblick für Augenblick zu tun haben, und der wir im Allgemeinen keine Beachtung schenken. Allerdings gibt dieses Buch weder die Antworten noch die richtigen Entscheidungen vor – das kann es gar nicht. Stattdessen kann es uns zu etwas Wichtigerem verhelfen: zu der Erkenntnis, wie unangemessen und unsinnig unsere bevorzugten Reaktionen auf die beunruhigendsten Lebensfragen sind. Noch wertvoller ist, dass es uns durch die Praxis reiner Achtsamkeit zu einem Leben voller Freude und Freiheit verhilft. Kurz, es kann uns helfen, zu erwachen und die Realität mit eigenen Augen zu sehen. Wer die Unterschiede zwischen den beiden Wahrheiten (der relativen und der absoluten) nicht versteht, versteht die tiefe Wahrheit nicht, die in Buddhas Botschaft enthalten ist. Nagarjuna (2. Jahrhundert) Wenn wir von einer relativen Wahrheit sprechen – etwa: »Ich sehe das Buch vor mir« –, verwenden wir das Verb »sehen« im konventionellen Sinne. Die höchste Wirklichkeit zu erkennen, sie unmittelbar zu sehen, ist freilich etwas völlig anderes. Wenn in diesem Buch die Worte sehen, erkennen und wissen im Sinne von einsehen, verstehen (der höchsten Wirklichkeit) gebracht werden, 11
sind sie kursiv gedruckt. Diese Kursivschreibung sollte nicht als bloße Betonung der Worte missverstanden werden.
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TEIL EINS TRÜBES WASSER
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1. Paradox und Verwirrung
W
er in Japan einen buddhistischen Tempel besucht, wird dort vermutlich rechts und links der Eingangstür je eine riesige, dämonische Gestalt stehen sehen. Das sind die so genannten Wächter der Wahrheit. Sie heißen »Paradox« und »Verwirrung«. Als ich die beiden Figuren zum ersten Mal sah, war mir nie zuvor der Gedanke gekommen, dass die Wahrheit bewacht werden könnte – oder dass das überhaupt nötig sei. Wäre mir der Gedanke freilich gekommen, so hätte ich mir wohl schöne, engelsgleiche Figuren vorgestellt. Wieso waren diese Kreaturen so fürchterregend und bedrohlich? Und wieso wurden die Wächter der Wahrheit und nicht die Wahrheit selbst dargestellt? Allmählich fand ich des Rätsels Lösung. Es kann kein Bild von der Wahrheit geben. Die Wahrheit lässt sich nicht in einem Bild oder einem Satz oder einem Wort einfangen. Sie lässt sich nicht als Theorie, als Diagramm oder in Buchform darstellen. Welche Vorstellung wir auch von der Wahrheit haben, sie kann uns ihr nicht nahe bringen. Deshalb stoßen wir in dem Versuch, die Wahrheit zu fassen zu bekommen, zwangsläufig auf Paradox und Verwirrung. Das funktioniert folgendermaßen: Wir erleben die Wirklichkeit unmittelbar, ignorieren sie aber. Stattdessen versuchen wir, sie mithilfe von Ideen, Modellen, Überzeugungen und Geschichten zu erklären oder zu fassen zu bekommen. Weil all diese Dinge nicht wirklich sind, decken sich unsere Erklärungen niemals mit der tatsächlichen Erfahrung. Paradox und Verwirrung sind die natürliche Folge der Diskrepanz zwischen der Wirklichkeit und unseren Erklärungsversuchen. 14
Zudem trägt sogar eine korrekte Aussage über die Wahrheit bereits den Keim ihres Zerfalls in sich. Das lässt sie zwangsläufig paradox und widersprüchlich erscheinen. Mit anderen Worten, bei Aussagen über die Wahrheit und die Wirklichkeit handelt es sich nicht um gewöhnliche Äußerungen. Normalerweise greifen wir im Rahmen einer Aussage eine Sache heraus, definieren sie und legen sie unmissverständlich fest. Wenn es um die Wahrheit geht, müssen wir ganz anders vorgehen. In diesem Fall müssen wir bereit sein, uns dem Paradox und der Verwirrung zu stellen, statt zu versuchen, ihnen aus dem Weg zu gehen. Unsere Probleme mit Paradox und Verwirrung beruhen darauf, dass wir unsere unmittelbare Erfahrung unbedingt in eine begriffliche Schublade stecken wollen. Wir versuchen, unsere Erfahrung einzufrieren, sie in unwandelbarer Gestalt festzuhalten: »Dies bedeutet das.« In gewöhnlichen Äußerungen ist kein Platz für das Paradox. Sie sollen den Gegenstand der Aussage vielmehr festnageln und ihn so wirklich und unumstößlich wie möglich erscheinen lassen. Gewöhnliche Aussagen werden uns präsentiert im Sinne von: »Das ist die Wahrheit. Glaube daran.« Anschließend bekommen wir etwas in die Hand gedrückt, meist ein Buch oder eine Broschüre. Doch alles, was uns auf diese Weise präsentiert wird – ob es sich dabei nun um Politik, Moral, Wirtschaft, Psychologie, Religion, Wissenschaft, Philosophie, Mathematik oder KfzMechanik handelt –, ist einfach nur irgendwelches Zeug. Es ist nicht die Wahrheit. Es ist lediglich der Versuch, etwas zu bewahren, das zwangsläufig irgendwann einmal vergehen wird. Wenn wir behaupten, mit Worten beschreiben zu können, was tatsächlich vor sich geht, so sind diese Worte, wie wohlgesetzt sie auch sein mögen, bereits falsch. Die Wahrheit lässt sich nicht repräsentieren. 15
Wir sind versessen auf die Wahrheit. Wir wollen sie ganz fest in unseren Händen halten. Wir wollen sie in Form eines Wortes oder eines Satzes an andere weitergeben. Wir wollen etwas, das wir aufschreiben können. Etwas, das wir anderen aufdrücken – und womit wir sie beeindrucken können. Wir tun so, als sei die Wahrheit etwas, das wir in die Tasche stopfen und hin und wieder herausholen könnten, um es anderen mit den Worten zu zeigen: »Hier, das ist sie!« Dabei vergessen wir, dass die anderen daraufhin ihre Zettelchen mit ihren vermeintlichen Wahrheiten herausholen. Doch das ist nicht die Wahrheit. Wie auch? Wir müssen lediglich sehen, dass wir nur jenseits des wirbelnden Paradoxes einen Blick auf Wirklichkeit und Wahrheit erhaschen können. Wenn wir den Versuch, die Wirklichkeit festzunageln, einfach aufgeben, hält uns unsere Verwirrung nicht mehr von ihr fern. Wenn wir uns ganz genau ansehen, was tatsächlich um uns herum geschieht, können wir erkennen, dass vorgefertigte Überzeugungen, Konzepte und Geschichten das tatsächliche Geschehen niemals voll und ganz erklären. Wir müssen die Augen so lange offen halten, bis wir von einer neuen Erfahrung – einem neuen Bewusstsein – überwältigt werden, das gedankliche Gewohnheiten sprengt und altbekannte Geschichten auslöscht. Wir können uns von Paradox und Verwirrung nur befreien, wenn wir eine offene und neugierige Geisteshaltung einnehmen und uns gleichzeitig stets davor hüten, auf einer bestimmten Überzeugung zu beharren – wie gerechtfertigt sie uns auch scheinen mag. Auf der Suche nach der Wahrheit werden wir feststellen, dass wir uns auf keinerlei Vermutungen oder Vorstellungen stützen können. Stattdessen müssen wir mit bloßer, nackter Aufmerksamkeit auf die Welt zugehen, müssen sie ohne geistige 16
Vorurteile, Konzepte, Überzeugungen, vorgefasste Meinungen, Vermutungen oder Erwartungen sehen. Darum geht es in diesem Buch.
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2. Wenn wir auf die Wahrheit treten
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ie meisten Buddhisten erkennen die folgenden fünf Sittlichkeitsregeln an, die es in zahlreichen Variationen gibt. Es handelt sich dabei nicht um Gebote. Sie beschreiben vielmehr, welche moralische Haltung ein Mensch auf dem Weg zum Erwachen zwangsläufig einnimmt. Wer dem Weg folgt, tötet nicht. Wer dem Weg folgt, nimmt nicht, was ihm nicht gegeben wird. Wer dem Weg folgt, missbraucht die Sinne nicht. Wer dem Weg folgt, spricht die Wahrheit. Wer dem Weg folgt, berauscht weder sich noch andere. Der Buddhismus kennt noch weitere Regeln. Grundsätzlich aber gilt: Wer moralisch denken, sprechen und handeln will, muss das, was er tut, aus Weisheit und Mitgefühl – aus dem Sehen heraus – tun und nicht, weil ihm bestimmte Regeln auferlegt wurden. Es gibt eine Zen-Geschichte von einem Schüler, der sich ganz besonders bemühte, die buddhistischen Regeln einzuhalten. Eines Nachts jedoch trat er im Dunkeln auf etwas, das beim Platzen ein schmatzendes Geräusch von sich gab, und er glaubte, auf einen laichtragenden Frosch getreten zu sein. Sofort wurde er von Angst und Bedauern erfüllt, denn die Regeln verlangen ja, dass man nicht töten soll. Als er sich an jenem Abend schlafen legte, träumte er von Hunderten von Fröschen, die nun sein Leben für das des toten Frosches forderten. Als der Morgen graute, kehrte er an den Ort des Geschehens 18
zurück und sah, dass er auf eine überreife Aubergine getreten war. Mit einem Mal war seine Verwirrung verschwunden. Der Geschichte zufolge wusste er von Stund an, wie er Zen zu üben und die Regeln zu befolgen hatte. Wie viele ernsthafte Buddhisten hatte dieser Schüler die Regeln fälschlicherweise für eine Art Lehrwerk oder Verhaltenskodex gehalten. Da er seine Ausbildung für beendet erachtet hatte und glaubte, die Regeln einhalten zu können, brachte er sich und andere in allerlei Schwierigkeiten. Er konnte zwar stundenlang über die Regeln sprechen, doch als er in jener Nacht auf etwas Glitschiges trat, brachte ihm sein Verständnis der Regeln kein bisschen Seelenfrieden und kein bisschen Stabilität. Im Gegenteil: Er quälte sich sogar unnötig mit Schuldgefühlen. Der Fehler dieses Schülers lag darin, dass er zu wissen glaubte, was er eigentlich nicht wissen konnte. Er glaubte, auf einen Frosch getreten zu sein und ihn getötet zu haben, doch das war nicht der Fall. Er glaubte auch, die Regeln zu verstehen, lag aber auch in diesem Punkt falsch. Statt ehrlich zuzugeben, dass er keine Ahnung hatte, und sich dieser Unwissenheit zu stellen, dachte er in beiden Fällen, er wüsste Bescheid. Weil er lediglich ein intellektuelles Verständnis von der Regel gegen das Töten hatte, stürzte er sich in tiefe Qualen. Er vergaß völlig, dass er in Wirklichkeit nicht wusste, worauf er getreten war, und statt mit dieser Ungewissheit zu leben, zimmerte er sich eine Erklärung für das Geschehen zurecht, glaubte daran und machte sich so selbst das Leben schwer. Diese Geschichte erinnert uns daran, dass wir die Regeln, solange wir sie als rein theoretisches Konzept in uns tragen, nicht verstanden haben, denn sie lassen sich weder fassen noch in Konzepte verpacken. Wenn wir die buddhistischen Regeln einhalten wollen, müssen wir einfach hier sein und unmittelbar am aktuellen Geschehen 19
teilnehmen und dürfen uns nicht in Gedanken oder Spekulationen verlieren. Wir müssen sehen, was in diesem Augenblick geschieht – einschließlich dessen, was sich in unserem eigenen Kopf abspielt. Wenn wir keine Ahnung haben, was gerade geschieht – wenn wir zum Beispiel in der Dunkelheit auf etwas treten –, dann müssen wir uns dieser Unwissenheit ganz und gar bewusst sein. Das ist der tiefere Hintergrund dieser Geschichte – zu wissen, wann man nicht weiß. Wir denken oft, wir wüssten über etwas Bescheid, aber in Wirklichkeit entfernt uns unsere Vorstellung immer weiter vom tatsächlichen Geschehen. Das, was wir uns vorstellen, erscheint uns überaus real, und schon bald sind wir in unsere imaginären Sehnsüchte und Abneigungen verstrickt. Doch wenn wir hier sind – wenn wir wirklich präsent sind –, erkennen wir, dass es nichts gibt, wovor wir davonlaufen oder dem wir nachlaufen müssten. Wir können unsere Ruhe behalten, selbst wenn wir aus Versehen auf einen Frosch getreten sind. Verharre einfach in diesem Augenblick und sieh, was geschieht. Lerne deinen Geist kennen. Diese Geschichte handelt davon, dass wir imaginäre Welten erschaffen und uns in ihnen verfangen. Dabei müssten wir nur genau hinsehen, um zu erkennen, dass die Welt nicht so ist, wie wir sie uns vorstellen – und dass sie es niemals sein kann. Wir bemühen uns, unsere imaginären Welten zu kontrollieren und zu beherrschen. Wir legen allerlei Regeln und Vorschriften, Ziele und Werte fest, schreiben vor, was man tut und was nicht, und streben nach dem meisterhaften Umgang mit all diesen Dingen. Dabei verbrauchen wir sehr viel Zeit und Energie und sind doch so wenig achtsam. Die buddhistischen Regeln sollen uns vergegenwärtigen, dass wir das ohne Unterlass tun. Sie lenken unsere Aufmerksamkeit auf das, was von Augenblick zu Augenblick geschieht – sie 20
drängen uns zu sehen, was genau jetzt in unserem Geist vor sich geht. Wohin neigt er sich – neigt er sich einer Sache zu oder von ihr ab? Die Regeln helfen uns, in diesen Augenblick zurückzukehren – in dem wir die Wirklichkeit unmittelbar erfahren –, bevor wir anfangen, das Erlebte zu interpretieren. Wir müssen immer wieder in diesen Augenblick zurückkehren, um zu sehen, was tatsächlich geschieht. Wenn wir das nicht tun, leben wir in einer Fantasiewelt, glauben, von den anderen getrennt zu sein, und konzentrieren uns ganz und gar darauf, unser Selbst zu beschützen und es zufrieden zu stellen. Als der Schüler in dieser Geschichte die zertretene Aubergine sah, erwachte er blitzartig – und erkannte nicht nur, worauf er da eigentlich getreten war, sondern auch, dass er sich allerhand störende, unnötige Ängste und Vorstellungen eingebildet hatte. Mit einem Mal sah er, was für geistige Welten er erschaffen hatte, und erwachte aus seinem Traum von Getrenntheit, Stolz und Schuld. In einem solchen Augenblick – angesichts einer zertretenen Frucht, wenn wir den Klang eines Kieselsteins hören, der auf Holz trifft, oder wenn wir den Morgenstern sehen – kann jeder von uns erwachen. Nur unser Denken hält uns zurück.
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3. Das Problem beim Ausmerzen des Bösen Ich aber sage euch, dass ihr nicht widerstreben sollt dem Übel. Jesus von Nazareth: Matthäus 5,39 Vor ein paar Jahren stieß ich zufällig auf ein wunderschönes Bild: das Original der drei berühmten Affen, die nichts Böses hören, nichts Böses sagen und nichts Böses sehen. Man hatte sie im 17. Jahrhundert in Japan in den Türsturz einer Stalltür geschnitzt. Ich weiß noch, dass ich als Junge Gipsdarstellungen der drei Affen sah, doch die hatten ganz anders ausgesehen als die alten japanischen Affen. Die Figuren, die ich kannte, waren vergleichsweise bieder. Die drei Affen hockten dabei lethargisch auf dem Boden und blickten alle in die gleiche Richtung. In der japanischen Originalschnitzerei dagegen, wandten sie sich in unterschiedliche Richtungen und waren dadurch aktiv, dynamisch und voller Leben. Diese Affen schienen sich nicht wie auf dem bekannteren Bild zu weigern, das Böse wahrzunehmen, sondern sich in ihrer Reaktion darauf geradezu zu überschlagen. Wir denken gerne, wir hätten rein gar nichts mit dem Bösen zu tun. Wir doch nicht – wir, die Guten! Und wir möchten, dass das auch so bleibt. Folglich stempeln wir bestimmte Menschen oder politische Systeme oder Religionen gerne als böse ab. Man kann tatsächlich in fast allem das Böse sehen. (Das erinnert mich daran, dass mir einmal gesagt wurde, der Lake Superior sei böse, weil er so viele Menschen das Leben koste.) Doch wenn wir glauben, nichts mit dem Bösen zu tun zu haben (oder je zu tun haben zu können), müssen wir immerzu 22
dagegen ankämpfen, um es in Schach zu halten. Wir glauben, ganz und gar von unseren Erfahrungen getrennt zu sein. Wir glauben, dass uns »das dort draußen« einfach widerfährt. Und wenn es so aussieht, als sei »das dort draußen« angenehm oder schutzbringend, nennen wir es gut. Und wenn es bedrohlich oder seltsam oder beängstigend scheint, nennen wir es böse. Demnach lässt erst das Gefühl der Getrenntheit die Vorstellung von gut und böse entstehen. Wenn wir die Welt sähen, wie sie ist, würde sich die Frage nach gut und böse gar nicht erst stellen. Sehen wir uns einmal an, mit welch außerordentlicher Dummheit wir diesen Kreislauf immer wieder neu durchlaufen (und in Gang halten). Zuerst stellen wir uns vor, wir seien ganz und gar von allem anderen getrennt, dann reagieren wir emotional auf unsere Vorstellungen. Anschließend erschaffen wir auf der Basis unserer emotionalen Reaktionen – wir fürchten dies und wollen jenes – geistige Gebilde, die wir in gut und böse einteilen. Aber diese Gebilde sind nicht echt, obwohl wir das denken. Es sind Phantome, die wir als Reaktion auf andere Phantome erschaffen haben. Außerdem besitzt dieses Problem einen noch tiefer gehenden Aspekt. In dem verzweifelten Bemühen, uns vom Bösen fern und diese Trennung aufrechtzuerhalten – in dem fruchtlosen Versuch, das Unmögliche zu tun –, bereiten wir uns und anderen allerhand Schwierigkeiten. Diese Schwierigkeiten werden wiederum als böse gebrandmarkt, und manchmal werden sogar wir selbst als böse bezeichnet. Die Kette setzt sich immer weiter fort. Wir frönen unseren begrifflichen Unterscheidungen und würden lieber Krieg auf uns und andere herabbeschwören, als die ungreifbare Welt der Ganzheit und Totalität zu erkennen, der wir bereits angehören. Tatsache ist, dass wir stets Teil des Ganzen sind. Wir können weder uns selbst noch etwas anderes – einen Gedanken, eine 23
Sache – aus diesem Ganzen herauslösen. Wenn wir dies sehen könnten, bekämen wir eine völlig andere Einstellung zu Gut und Böse. Eine Einstellung, die uns nicht immer mehr in Schmerz und Verwirrung verwickeln würde. Damit soll nicht verleugnet werden, dass wir schmerzliche oder traurige oder schwierige Erfahrungen machen. Aber der erwachte Geist sieht die Erfahrung in ihrer Gesamtheit und nicht das Böse als solches. Er deutet die Erfahrung nicht als »etwas dort draußen, das mich bedroht«. Ebenso wenig sieht er das Gute »dort draußen« als etwas Eigenständiges, Abgetrenntes. Wenn wir erwachen und unsere Erfahrung in ihrer Gesamtheit begreifen, erkennen wir, dass das Denken selbst das Problem ist. Hier liegt die Wurzel all unseres Kummers, unseres Schmerzes, unseres Leids und unserer Verwirrung. Gemäß dem Buddha-Dharma (der Lehre des Erwachten) sollen wir uns darum bemühen, voll und ganz und voller Mitgefühl in dieser trüben Welt zu leben, ohne dabei noch mehr Schlamm aufzuwühlen. Damit uns das gelingt, müssen wir lediglich begreifen, dass alles, was unseres Weges kommt, bereits Teil des Ganzen ist und wir uns dessen nicht entledigen können. Wir müssen uns genau hier, wo wir uns befinden, damit beschäftigen. Damit möchte ich weder Brutalität noch Zorn, Rachsucht oder Zerstörungswut gutheißen. Doch wo Verwirrung herrscht, können wir vielleicht etwas Licht anzünden. Wo Schmerz ist, können wir vielleicht etwas tun, um ihn zu lindern. Wo Gewalt herrscht, ist es vielleicht möglich, sie zu absorbieren – während wir gleichzeitig unser Möglichstes tun, um sie zu reduzieren. Doch zuerst müssen wir lernen, den eigenen Geist zu beobachten. Wir müssen sehen, dass wir von den anderen weder isoliert noch getrennt sind – dass wir es niemals waren und niemals sein werden. Wir müssen den eigenen Geist ehrlich und leidenschaftslos prüfen und erkennen, wie er sich den 24
unzähligen, von ihm selbst erschaffenen Ablenkungen und Vorstellungen zuneigt und sich wieder von ihnen entfernt. Deshalb ermahnt uns Buddha im Dhammapada, unseren Geist zu reinigen. Vermutlich sind wir alles andere als glücklich darüber, uns mit dem Hier und Jetzt beschäftigen zu müssen, doch nur im Hier und Jetzt können wir frei in der Welt leben, ohne andere oder uns selbst für böse zu halten. Eben weil wir so schnell damit bei der Hand sind, die Dinge in gut und böse aufzuteilen, erzeugen wir Trennung und menschliches Elend. Wenn wir das sehen, gelingt es uns allmählich, weise zu handeln. Wenn wir uns dabei ertappen, dass wir trennenden Gedanken nachhängen oder uns in Urteilen über »die da« (oder »uns hier« ) ergehen, können wir uns in die Gegenwart zurückholen. Dazu braucht es lediglich etwas Aufmerksamkeit, Besinnung und Geduld. Sieh Verwirrung als Verwirrung. Erkenne Leiden als Leiden an. Fühle den Schmerz und den Kummer und das Getrenntsein. Erlebe Zorn oder Angst oder Schock als das, was sie sind. Deshalb musst du sie nicht gleich für böse halten – für von Grund auf böse, für etwas, das vernichtet oder aus unserer Welt vertrieben werden muss. Sie müssen im Gegenteil absorbiert, gelindert und geheilt werden. Wie wir selbst ist das, was wir gerne als böse bezeichnen würden, bereits Teil des Ganzen und kann nicht herausgelöst werden. Wenn es uns gelingt, es auf diese Weise zu sehen, reinigen wir unseren Geist.
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4. Komplett verdreht
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iele Menschen stecken Religion und Wissenschaft in zwei getrennte, hermetisch abgeriegelte Schubladen. Dabei entgeht ihnen meist, dass Religion und Wissenschaft jahrhundertelang viele Gemeinsamkeiten hatten, ehe wir sie in diese Schubladen sperrten. Als die Naturwissenschaft noch kein eigenständiger Bereich war, waren Wissenschaft und Religion sogar ein und dasselbe. Das ist gar nicht so abwegig, wenn man bedenkt, dass beide ihren Ursprung in dem tief empfundenen Wunsch des Menschen haben, zu wissen, die Wahrheit zu erkennen. Sehen wir uns einmal an, worum es der Religion wirklich geht. Das Wort Religion kommt von religio, und das bedeutet »Rückbindung (an die Wahrheit)«. Somit geht es bei der Religion im Kern darum, die Wahrheit zu sehen oder zu erfahren – und nicht darum, eine Reihe von Glaubenssätzen anzunehmen. Religio entspringt unserem tief empfundenen Wunsch, zur Wahrheit zurückzukehren. Wir wollen uns nicht täuschen lassen. Wie der Religion geht es auch der Wissenschaft um die Wahrheit. Der Begriff »Wissenschaft« verrät bereits, worum es hier geht: um »Wissen«. Ich habe Wissenschaftler oft sagen hören, in der Wissenschaft gehe es vor allem darum, Dinge zu erkennen und zu wissen, und nicht darum, sie zu glauben. Doch der Punkt, den wir gerne übersehen – der Punkt, an dem wir uns verheddern und in die Irre gehen –, ist genau diese Sache mit dem Glauben. Die landläufige Meinung hinsichtlich Wissenschaft und Religion geht dahin, beiden Bereichen ausgerechnet die Eigenschaft zuzuschreiben, die im Grunde zum jeweils anderen Bereich gehört. Während man die Religion gemeinhin für eine Glaubensangelegenheit hält, geht es ihr in 26
Wirklichkeit ums Erkennen und Wissen. Und während man gemeinhin denkt, in der Wissenschaft ginge es um Fakten, und die Wissenschaft für sich in Anspruch nimmt, glaubensunabhängig zu sein, spielt der Glaube hier in Wahrheit eine recht große Rolle. Vor nicht allzu langer Zeit erschien in der New York Times ein Artikel mit dem Titel »Crossing Flaming Swords over God and Physics« ( »Sie kreuzten Flammenschwerter wegen Gott und Physik« ). Darin wurde eine Diskussion zwischen dem Physiknobelpreisträger Steven Weinberg und dem anglikanischen Geistlichen John Polkinghorne wiedergegeben. Sie wurde als Streitgespräch zwischen dem »Gläubigen« (Polkinghorne) und dem »Ungläubigen« (Weinberg) angekündigt. Doch das entsprach ganz und gar nicht den Tatsachen. Wie es in dem Artikel hieß, geriet die Begegnung beinahe »zu einem körperlichen Schlagabtausch«. Wäre Steven Weinberg tatsächlich ein »Ungläubiger« gewesen, hätte sich dieses Problem nicht gestellt. So aber handelte es sich bei dieser Begegnung nicht um die Diskussion zwischen einem Ungläubigen und einem Gläubigen, sondern um die Konfrontation zwischen zwei glühend überzeugten Gläubigen, um ein zähes Ringen zwischen zwei Männern mit sehr unterschiedlichen festgefügten Ansichten. Die Probleme in der Welt entstehen nicht durch die Gegensätze zwischen Wissenschaft und Religion oder Glaube und Unglaube. Die wütendsten Auseinandersetzungen (und die gewalttätigsten Zusammenstöße) finden unweigerlich zwischen Gläubigen statt. Wenn sich unnachgiebige Gläubige streiten, sind die Chancen auf eine freundschaftliche Beilegung des Streits gleich null. Fest steht, dass die Wissenschaft Glauben braucht. Ohne 27
Glauben geht es nicht. Die Wissenschaft setzt voraus, dass wir die Welt begrifflich darstellen können. Sie setzt voraus, dass wir die Welt zerlegen müssen, um sie untersuchen zu können. Das ist keineswegs falsch, sondern sogar von großem Wert. So gesehen macht die Wissenschaft stärker vom Glauben Gebrauch und ist stärker davon abhängig als die Religion. Andererseits: Damit die Religion richtig funktioniert – das heißt, damit sie uns hilft, unsere Augen der Wahrheit zu öffnen –, sollte kein Glaube nötig sein. Schließlich geht es im Grunde ja um die direkte Kenntnis der Wahrheit. Somit setzt die Religion lediglich das ernsthafte Verlangen voraus, zu wissen, zu sehen und zu erwachen. Das ist genug. Leider macht die Religion in der Praxis reichlich Gebrauch vom Glauben, wenn es um Fragen geht wie: Woher kommen wir, was ist unsere Aufgabe hier, wohin gehen wir und so weiter. All das geschieht in dem verzweifelten Versuch, die Welt und das, was wir auf dieser Welt erleben, zu verstehen. Joseph Campbell sagte, wir würden religiöse Erfahrungen verhindern, weil wir sie in Begriffe fassen. Wenn die Religion auch weiterhin optimal funktionieren möchte, täte sie gut daran, sich ganz und gar vom Glauben zu lösen und aufzuhören, begriffliche Wirklichkeitsmodelle zu erschaffen, die sich unweigerlich als fehlerhaft herausstellen. Diese Aufgabe fällt inzwischen eher in den Bereich der Wissenschaft, nicht der Religion. Kurz gesagt, die Wissenschaft ist zum korrekten Umgang mit dem Glauben in der Lage, die Religion nicht. Die Wissenschaft gibt sich große Mühe, die Gültigkeit ihrer Glaubenssätze (die hier Hypothesen genannt werden) zu beweisen oder zu widerlegen. Sie prüft ihre Hypothesen, und wenn sie sich als falsch erweisen, werden sie verworfen oder neu formuliert und erneut geprüft. Anschließend werden die Tests viele Male von Dritten wiederholt. Das ist eine untadelige Methode, um die Wahrheit – das heißt, die relative, praktische Alltagswahrheit – 28
zu ermitteln. Über die höchste Wahrheit kann uns die Wissenschaft freilich rein gar nichts sagen. Die fällt zu Recht in den Zuständigkeitsbereich – und die Verantwortung – der Religion. Mithilfe der wissenschaftlichen Methode können wir viele falsche Vorstellungen über die Beschaffenheit der relativen Welt – der Alltagswelt – ausräumen und darüber, wie die Dinge funktionieren und zusammenspielen. Sie verschafft uns allerdings kein direktes und unmittelbares Verständnis für das, was tatsächlich vor sich geht. Das ist Sache der Religion – allerdings nur, solange sie sich nicht mit dem Glauben zufrieden gibt. Der Religion fehlt das Handwerkszeug, um Hypothesen zu prüfen und zu belegen. Das ist auch gar nicht ihre Aufgabe. Sie hat keine Verwendung für die wissenschaftliche Methode, weil sie Hypothesen weder braucht noch sich ihrer bedienen oder sich auf irgendwelche Überzeugungen stützen sollte. Dessen ungeachtet setzen leider alle Religionen – auch der Buddhismus – auf den Glauben, weshalb jede unter einem anderen Banner, das nichts weiter als menschliche Verblendung und Torheit ist, eine andere Richtung einschlägt. Das führt dazu, dass die Religionen sowohl einander als auch die Wissenschaft bekämpfen. Mein Lehrer Dainin Katagiri Roshi pflegte zu sagen: »Die Menschen versammeln sich unter der schönen Flagge der Religion, um zu kämpfen.« An dieser Situation trägt freilich nicht die Religion die Schuld, sondern unsere ständige Suche nach etwas, an das wir uns klammern können. Wir wollen sagen können: »Das ist es. So ist es. Das ist die Wahrheit – glaubt daran!« Je mehr wir das tun, desto weiter haben wir uns von der Wahrheit entfernt, denn die Wahrheit – die höchste Wahrheit – ist nicht etwas, das wir glauben können. Das heißt, sie ist nichts, wovon wir uns irgendeine Vorstellung machen könnten. 29
Irgendwann müssen wir uns mit der Tatsache anfreunden, dass es unser sehnlichster Herzenswunsch ist, zur Wahrheit zurückzukehren. In der Religion wird dieses Gefühl oft einfach, aber klar zum Ausdruck gebracht und als »reines Herz« oder »reiner Geist«, der ohne besondere Absicht und Ziel ist, beschrieben. Wenn wir unseren viel beschäftigten Geist zur Ruhe bringen, können wir diese Reinheit des Herzens und des Geistes sofort spüren. Nun sind wir es freilich gewohnt, unseren Blick auf etwas außerhalb von uns selbst zu richten, auf etwas »dort draußen« in der Welt – oder gar »dort draußen« jenseits der Welt – das uns retten wird. Etwas, das als Vermittler dient. Das geschieht aus unserer Verwirrung und der Angst heraus, wir seien aus irgendwelchen Gründen der Wahrheit fern und es gebe von Anfang an eine natürliche Trennung zwischen uns und der Welt. Doch die gibt es nicht. Wir Menschen müssen unbedingt zur Ruhe kommen und ebendas erkennen – und die Religion in ihrer reinsten Form kann uns dabei helfen. Shunryu Suzuki schrieb in seinem ersten Buch Zen-Geist, Anfänger-Geist: Ich habe entdeckt, dass es notwendig ist, absolut notwendig, an nichts zu glauben. Das heißt, wir haben an etwas zu glauben, das keine Form und Farbe hat – an etwas, das existiert, ehe alle Formen und Farben erscheinen. Dies ist sehr wichtig. Oder wie es Huang-po, der chinesische Zenmeister aus dem neunten Jahrhundert, formulierte: »Die Dummen verwerfen, was sie sehen, nicht was sie denken. Die Klugen verwerfen, was sie denken, nicht was sie sehen.« 30
Statt dem zu vertrauen, was wir glauben, denken, erklären, rechtfertigen oder anderweitig in unserem Geist erschaffen, können wir lernen, auf die unmittelbare, direkte Erfahrung zu vertrauen, die schon da ist, bevor Farben und Formen erscheinen. Dabei kann uns die Religion in ihrem ursprünglichsten Ausdruck helfen. Glaube in seiner reinsten Form bedeutet, Vertrauen in die tatsächliche Erfahrung zu haben, bevor wir irgendetwas daraus machen – bevor Ansichten, Gedanken, Zeichen, Erklärungen, Begründungen und andere geistige Gebilde Gestalt annehmen. Die Religion hält eine solch gesunde Einstellung, ein solch starkes Mitgefühl und eine solch große Weisheit für uns bereit. Eine gesunde Einstellung, Mitgefühl und Weisheit rühren allesamt daher, dass wir einfach lernen, darauf zu vertrauen, dass sich die Wahrheit direkt vor unserer Nase befindet. Einen Vermittler gibt es nicht. Weder ein Lehrer noch eine Institution, noch irgendein Glaubenssystem kann uns die Wahrheit schenken. Wir finden sie auch in keinem Buch. Eigentlich kann überhaupt nichts und niemand sie uns geben. Das ist auch gar nicht nötig. Wir kennen sie bereits. Wir sind untrennbar mit ihr verbunden. Wir müssen sie nur sehen. Ob wir nun religiös sind oder nicht, wenn wir uns an feste Überzeugungen klammern und uns damit identifizieren, wenn wir uns verschließen und von anderen abschotten, schaffen wir uns auf diese und andere Weise unsere dringlichsten und größten Probleme selbst. Jeder von uns ist menschlich. Jeder von uns hat den Wunsch zu erwachen, auch wenn sich nicht jeder dessen bewusst ist. Die Grundbedingungen des Menschseins bewegen uns alle. Wir müssen uns lediglich klar darüber werden, was wir direkt sehen, bevor wir es irgendwie deuten – und ohne an Gedanken oder Dingen festzuhalten. Dann erkennen wir die Wahrheit. Mit Glauben hat das nichts zu tun. 31
5. Geistiger Juckreiz
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enn wir im dualistischen Denken verstrickt sind, sagen wir uns oft: »Ich bin verblendet, deshalb möchte ich erleuchtet werden«, und merken dabei nicht, dass wir bereits erleuchtet sind. Wir sitzen hier und glauben, dort drüben gäbe es etwas anderes, etwas Besseres – etwas, das wir bekommen, uns verschaffen, erreichen müssten. Dann fangen wir an zu meditieren, in dem Glauben, die Meditation würde uns irgendwie die Erleuchtung bringen. Wir denken das – ja, wir glauben es mit Inbrunst –, obwohl uns anhand von diversen Beispielen und Geschichten immer wieder gezeigt wird, dass die Wirklichkeit nicht so funktioniert. Wir hören von Baso, der meditierte, um ein Buddha zu werden, bis sein Lehrer begann, einen Ziegel zu polieren, um, wie er sagte, »einen Spiegel daraus zu machen«. Baso verstand: Man kann einen Ziegel so lange polieren, wie man will. Es wird niemals ein Spiegel daraus werden. Ebenso wenig kann uns das Meditieren in einen Buddha verwandeln. Wie könnte es auch? Wir sind bereits ein Buddha – das heißt untrennbar mit der Wirklichkeit und der Wahrheit verbunden. Und doch ignorieren wir das und benehmen uns weiter, als fehle uns etwas. In Zen-Geist, Anfänger-Geist erklärt uns Suzuki Roshi, bei der Zenpraxis gehe es nicht darum, etwas zu erreichen. Falls doch, sei es nicht Zen. Wir bekommen das immer und immer und immer wieder zu hören. Jahrelang. Ein echter Lehrer verpasst uns die volle Dosis. Und doch merzen wir diese grundlegende Verblendung unseres Geistes nicht aus. Wir schwelgen darin, erfreuen uns daran. Wir hoffen weiter darauf, dass es uns irgendwie gelingen 32
wird, den richtigen spirituellen Schalter umzulegen, und dass die Erleuchtung uns dann endlich durchfluten wird. Sind wir in der Lage, diesen kleinen, in unseren Köpfen herumgeisternden Gedanken mit schlichter, einfacher Ehrlichkeit zu betrachten? Denn das müssen wir. Wir müssen uns diese Aufgabe zu Herzen nehmen. Wir müssen sie ernst nehmen. Wenn wir uns erst einmal eingestanden haben, dass wir diesen Gedanken hegen, was tun wir dann dagegen? Vertreiben wir ihn? Tun wir so, als gäbe es ihn nicht? »Ich mache das wirklich nicht, weil ich erleuchtet werden will. Ich mache das einfach so. Ich habe ganz sicher keinerlei Hintergedanken dabei.« Aber wenn der Gedanke da ist, müssen wir ihn uns eingestehen. Es bringt nichts, ihn zu leugnen oder zu bekämpfen oder zu denken: »Ich sollte nicht so sein.« Warum sollten wir nicht so sein? Es ist völlig normal für uns, so zu sein. Das ist nichts, wofür man sich schämen müsste. Wenn wir anfangen, auf uns herumzuhacken, weil wir uns nach der Erleuchtung sehnen, schüren wir dieses Verlangen nur weiter und werden immer wieder das gleiche Problem heraufbeschwören – in der einen oder anderen Form. Im Grunde müssen wir uns lediglich bewusst machen, womit wir uns gerade beschäftigen. Dann, und nur dann, können wir allmählich erkennen, dass wir erst frei sein werden, wenn wir uns weder an den Wunsch nach Erleuchtung noch an das Verlangen klammern, den Wunsch nach Erleuchtung zu überwinden. Das muss uns absolut klar sein. Erst wenn wir diese Erkenntnis verinnerlicht haben, hört der Gedanke an die Erleuchtung von ganz alleine auf, in unserem Kopf herumzugeistern. Von da an üben wir wirklich Zen. Wir müssen unseren Geist, der sich ständig an etwas klammern will, durchschauen. Zen bedeutet keinesfalls, dass man etwas in seinen Geist aufnimmt oder daraus entfernt oder 33
dass man leugnet, wie er beschaffen ist. Das funktioniert nicht, denn es hat nichts mit der Wirklichkeit zu tun. Wenn unser Geist sich in diesem Augenblick an etwas klammert, dann ist das unser Geist. So ist er eben. Es hat keinen Zweck, so zu tun, als sei es nicht so. Seien wir ehrlich. Man kann die Sache auch anders erklären: Glaubst du wirklich, es gäbe etwas, das man in den Geist aufnehmen oder daraus entfernen könnte, um das heftige Verlangen im Herzen zu stillen? »Ich will wach sein.« »Ich wünsche mir Freiheit und Seelenfrieden.« Es ist wie ein geistiger Juckreiz, und wir haben keine Hand frei, um uns zu kratzen. Glaubst du wirklich, dass es »dort draußen« etwas gibt – die Erleuchtung, das Nirvana, eine besondere Erkenntnis –, das dich befriedigen könnte? Hast du je etwas gefunden, das den existenziellen Juckreiz deines Geistes wirklich stillen konnte? So etwas gab es nie und wird es nie geben. Mag sein, dass der Juckreiz einen Augenblick lang nachlässt, doch selbst dann solltest du nicht vergessen, dass es »dort draußen« immer wieder etwas Neues geben wird. Solange du dich abgrenzt, wird es immer etwas geben, was du haben oder loswerden musst. Der Vorrat an diesen Dingen ist unerschöpflich. Und die Erleuchtung wird lediglich zu einem weiteren Verlangen, einem weiteren Juckreiz, den wir zu stillen versuchen. Das, wonach wir wirklich suchen, hat keine Gestalt, ist aber auch nicht formlos. Wir können es nicht erfassen oder erreichen oder festhalten oder in Begriffe packen oder auch nur beschreiben. Was können wir also tun? Wir können unsere Lage verstehen. Wir können erkennen, dass sich unser Leben nicht von der Wirklichkeit – vom Leben der Welt in ihrer Gesamtheit, vom Leben der anderen – trennen lässt. Mit anderen Worten, dass es nichts zu erreichen gibt. 34
In der Praxis bedeutet das zu erkennen, dass unser Geist sich anklammern will – und dieses Anklammern allein durch die Erkenntnis auszumerzen –, während wir unser Leben Tag für Tag leben. Wir können unmittelbar erkennen, dass der Schmerz und die Verwirrung, von der wir uns befreien wollen, von unserem ruhelosen, begehrlichen Geist selbst verursacht werden, der ständig fragt: »Was habe ich davon?« und »Was ist das Beste für mich?«
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6. Winterlich gestimmt
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n der Geschichte vom »Zauberlehrling« muss der Lehrling viele der im Haushalt anfallenden Arbeiten verrichten. Doch für diese niederen Tätigkeiten hat er nicht viel übrig. Ihn verlangt es nach Macht. Er möchte sich ebenso wenig wie sein Meister um den banalen Alltagskram kümmern müssen. Er hat auch schon ein paar Tricks von ihm gelernt und beschließt, sich damit die Arbeit zu erleichtern. Er kennt einen Spruch, mit dem er den Besen verzaubern und ihm befehlen kann, ihm zu Diensten zu sein und beispielsweise Wasser fürs Bad aus dem Fluss zu schöpfen. Leider fehlt es dem Zauberlehrling noch an Wissen für den Umgang mit einer solchen Macht. Es vermag zwar dafür zu sorgen, dass dem Besen Hände wachsen, er den Eimer ergreift und Wasser schleppt. Doch als er ihm den Befehl zum Aufhören geben will, fallen ihm die richtigen Worte nicht ein. Bald läuft das Becken über, aber der Besen gießt immer noch mehr Wasser hinein. Der Zauberlehrling fleht den Besen an aufzuhören, doch dieser kann nicht einfach aufhören. Er muss den richtigen Befehl bekommen. Der Lehrling hat eine Macht entfesselt und weiß nun nicht, wie er ihr Einhalt gebieten soll. In seiner Verzweiflung greift er zum Beil, geht auf den Besen los und spaltet ihn in zwei Teile. Einen kurzen Augenblick lang hat er Ruhe. Die Besenteile fallen zu Boden. Doch bald wachsen beiden Teilen die fehlenden Hälften nach, und aus jedem Besenstück wird ein ganzer Besen mit zwei Händen. Nun schnappt sich jeder einen Eimer, und sie schöpfen weiter Wasser, das allmählich alles überschwemmt. Das ist eine beklemmende Geschichte, aber sie ist uns in 36
mancherlei Hinsicht vertraut. Wenn wir einen bestimmten Weg eingeschlagen haben, entdecken wir oft, dass wir nicht mehr stehen bleiben oder uns in Sicherheit bringen können. Wir besitzen zu viel Macht – mehr als wir beherrschen können. Wir wollen sie nutzen, haben aber nicht einmal uns selbst unter Kontrolle. Wir sind zu impulsiv. Wir handeln, bevor wir sehen. Nehmen wir zum Beispiel die Nanotechnologie, mit der wir Werkzeuge im Nanometer-Bereich herstellen können – so winzig wie Moleküle. Gerade lernen wir, mikroskopisch kleine Maschinen und Roboter zu bauen, und einige davon werden in der Lage sein, sich selbst zu vermehren. Vielleicht gelingt es uns sogar, diese kleinen Maschinen dazu zu bringen, allerhand praktische Dinge für uns zu erledigen. Vielleicht merken wir aber auch, dass wir unserer Schöpfung irgendwann Einhalt gebieten müssen – und stellen fest, dass das unmöglich ist. Stellen wir uns Milliarden winziger Maschinen vor, die in der Lage sind, sich mithilfe natürlich vorhandener Rohstoffe selbst zu vermehren. Wie könnten wir die Kontrolle über sie behalten, wenn sie uns entwischen würden – und noch dazu in der Lage wären, sich selbst zu verändern? Sie könnten sich zu einer Art Viren entwickeln. Nur dass es keine Antikörper gibt, um sie zu stoppen. Bill Joy, der Chefforscher von Sun Microsystems, erschrak, als ihm klar wurde, dass diese Technologie bald Wirklichkeit sein könnte und dann unter Umständen nicht nur den Wissenschaftlern in den Bell Laboratorien, sondern jedem Heimcomputerbesitzer zugänglich wäre. Geschichten wie »Der Zauberlehrling« und Bill Joys albtraumhafte Prognose sind archetypisch. Sie entspringen dem Misstrauen, das wir unserem Wunsch nach Kontrolle und unserer begrenzten Fähigkeit, die eigenen Impulse zu beherrschen, entgegenbringen. Dieses Misstrauen bildet den Kern dieser Geschichten, ebenso wie der von Faust, von Frankenstein und von Dr. Jekyll & Mr. Hyde. Auch die Zen-Literatur kennt eine solche Geschichte. Darin 37
entdeckt ein Mann auf dem Jahrmarkt einen Dämon, der zum Verkauf steht – noch dazu sehr günstig. »Was kann er denn?«, erkundigt er sich. »Dieser Dämon tut alles für Sie«, erklärt ihm der Händler. »Sie müssen ihm nur sagen, was er tun soll, und schon ist es getan. Er wäscht Ihre Wäsche, kocht, geht Einkaufen. Er macht die gesamte Hausarbeit. Sie müssen nur darauf achten, dass er stets beschäftigt ist.« Der Mann denkt nur an die unmittelbar bevorstehenden Aufgaben und hält den Dämon für ein Schnäppchen. Er kauft ihn und nimmt ihn mit nach Hause. Anfangs klappt alles wunderbar. Wie versprochen, macht sich der Dämon sofort an die Arbeit. Er tut, was der Mann ihm befiehlt. Er repariert das Dach, kocht und kümmert sich um den Garten. Natürlich muss sich der Mann immer neue Aufgaben für den Dämon ausdenken, doch das scheint machbar – bis er eines Tages für seine Geschäfte kurz aus dem Haus muss. Als er wenig später zurückkehrt, brät der Dämon das Nachbarskind am Spieß. In unserer Dummheit glauben wir, wir könnten uns die Herrschaft über Dinge aneignen, die zu meistern uns nicht ansteht. Jeder von uns sucht nach Möglichkeiten, sich das Leben leichter zu machen. Wir denken: »Wäre es nicht großartig, wenn ich dies schaffen oder jenes tun oder dies oder jenes vermeiden könnte?« Dabei denken wir nicht an die weit reichenden Konsequenzen unseres Handelns. Wir sehen die Dinge nur in Bezug auf uns selbst und verschwenden selten einen Gedanken an das, was über unsere unmittelbare Situation hinausgeht. Die Krux bei diesen Geschichten – und unser Grundproblem – ist, dass wir allzu sehr darum bemüht sind, uns das Leben angenehm zu machen und uns zu schützen. In dem Bemühen um Sicherheit verunsichern wir uns selbst. Je mehr wir nach Wissen streben, desto mehr verwickeln und verwirren wir uns. Und je 38
mehr wir nach Macht streben, desto stärker untergraben wir unsere Fähigkeit, weise mit ihr umzugehen. Immer wenn das Ego uns antreibt, erreichen wir das Gegenteil von dem, was wir möchten. Die Frage ist: Kann unser Geist überhaupt anders? Sehen wir uns den Geist eines Mannes namens Han-shan an. Er lebte in China zur Zeit der T’ang-Dynastie und ist eine beliebte Figur der Zen-Literatur. Auf Chinesisch bedeutet sein Name »Kalter Berg«. Wie es der Brauch ist, wurde er nach dem Ort benannt, an dem er lebte, dem T’ien T’ai-Gebirge in China. Er lebte unweit des Kuo-ch’ing-Klosters, dem er häufig einen Besuch abstattete. Han-shan und Shih-te, der Küchengehilfe des Klosters, wurden gute Freunde. (Shih-te wird meist mit einem Besen in der Hand dargestellt. Offensichtlich hatte er aber im Gegensatz zum Zauberlehrling nicht den Wunsch, dass der Besen seine Arbeit erledigen sollte.) Han-shan und Shih-te werden oft als zwei Zen-Narren bezeichnet, auf Abbildungen lachen sie und erfreuen sich an den einfachsten Dingen, zum Beispiel einem fallenden Blatt. Han-shan war ein Freigeist. Was die Leute von ihm dachten, war ihm gleich. Viele hielten ihn für einen Narren, weil er schmutzig, zerzaust und arm war. Doch all das störte ihn nicht. Obgleich Han-shan kein Mönch war, behauptete der Abt, er besäße mehr Weisheit als die meisten Mönche, die in seinem Kloster ausgebildet würden. Manchmal, wenn er Kuo-ch’ing verließ, um zum kalten Berg zurückzukehren, liefen ihm ein paar Mönche nach und machten sich über ihn und sein närrisches Gebaren lustig. Doch Han-shan lachte einfach mit ihnen und ging seines Weges. Er schrieb auch Gedichte und hängte sie an Bäume, Felsen und Wände. Zum Glück hat irgendwann einmal irgendjemand einige davon gesammelt – alles in allem etwa 300 Stück. Sie zeigen 39
einen Geist, der sich gewaltig von dem ego-getriebenen Denken unterscheidet, das uns so vertraut ist. Han-shan schrieb: Die Menschen fragen nach dem Han-shan-WEG. Han-shan? Kein Pfad führt euch dorthin. Hier schmilzt das Eis auch spät im Sommer nicht. Im Nebel steigt die Sonne blass wie der Mond. Und ich, wie ist es mir gelungen? Mein Sinn ist nicht dem euren gleich – Wenn euer Sinn wie meiner wäre, Dann führte er auch euch hierher. Wenn ich jemandem begegne, sage ich nur: »Geht zum Han-shan.« Wenn die Menschen zum ersten Mal mit Zen in Berührung kommen, sind sie oft von Han-shan fasziniert. Sie möchten wissen, wie sie zum Han-shan kommen. Sie fragen: »Wie kann ich werden wie er? Wie kann mein Geist so frei werden wie der seine?« Doch wie Han-shan sagte: »Kein Pfad führt euch dorthin.« Einen solchen Pfad kann es gar nicht geben. Es führt kein Weg nach hier. Wenn wir diese Frage stellen, wissen wir eigentlich gar nicht, worum wir bitten. Wir glauben, wir bäten um Freiheit, doch das, worum wir wirklich bitten, befindet sich außerhalb von uns – ist etwas, das wir ergreifen können, das wir kontrollieren und dazu benutzen können, uns das Leben angenehm zu machen. Und wir glauben, Han-shan – oder Zen – gäbe uns einen Wegweiser an die Hand, der uns dorthin führt. 40
Han-shan spielte dieses Spielchen nicht. Das musste er nicht. Und du musst es auch nicht. Du bist bereits hier. Wir sind immer hier. Genau genommen ist es unmöglich fortzugehen. Wir glauben, wir müssten dieses bekommen, um jenes loszuwerden. Wir glauben, wir könnten Macht über dieses haben und jenes kontrollieren. Vor allem aber glauben wir, dass der Geist Han-shans für Menschen wie uns unerreichbar ist. Doch da liegen wir völlig falsch. Betrachten wir Wallace Stevens, einen Dichter des 20. Jahrhunderts, der in seinem Gedicht »Der Mann im Schnee« auf eine solche Geisteshaltung anspielt: Man muss winterlich gestimmt sein, Um den Frost und die Zweige Der schneeverkrusteten Fichten zu betrachten; Und lange kalt gewesen sein, Um den eisgeschuppten Wacholder Und die Tannen, die grob in der fernen Januarsonne glitzern, zu betrachten; und nicht An das Elend im Laut des Windes zu denken, Im Laut von wenigen Blättern, Das der Laut des vom gleichen Wind Überwehten Landes ist, Der an dem gleichen kahlen Ort Für das Ohr dessen bläst, der in den Schnee lauscht, Und selber nichts, nichts sieht, 41
Was nicht da ist, und das Nichtsein, das ist. Wallace Stevens war ebenso wenig Mönch wie Han-shan (er war sogar ein reicher Geschäftsmann) und wusste doch um diesen Ganzheitsgeist – den Geist, der alles einschließt. Im Zen geht es darum, diesen Geist zu erfahren, der nur hier gefunden und zum Ausdruck gebracht werden kann. An diesen Ort führt kein Weg. Wir sind bereits hier. Jeder von uns. Im Winter müssen wir winterlich gestimmt sein – ja, wir müssen der Winter sein –, um hier zu sein. Das heißt, wir dürfen weder an den Frühling denken noch uns nach dem Sommer sehnen, nach etwas, dass es im Hier und Jetzt nicht gibt. Dieser Geist sehnt sich nicht danach, woanders zu sein. Und im Sommer müssen wir sommerlich gestimmt sein. Ein anderswo gibt es nicht. Wir sind immer hier. Wir müssen die Welt nicht kontrollieren. Wir müssen uns nicht gegen sie zur Wehr setzen. Wir müssen nichts beschützen. Wir müssen lediglich hier sein – ganz und gar und frei – und auf die tatsächliche Situation reagieren. Wenn wir wahrlich hier wären, sähen wir nichts, das nicht hier wäre. Wir fielen nicht auf die Illusion vom Selbst und all das Tamtam herein, das um sein Wohlbefinden und seinen Schutz gemacht wird. Die Wahrheit kann nichts und nirgendwo sonst sein. Es kann keine Modelle von ihr geben. Sie lässt sich weder schematisch darstellen noch niederschreiben. Man kann sie nicht wie einen Besitz im Geiste festhalten. Wie gütig von Han-shan, uns auf all das aufmerksam zu machen. Es gibt nur das: genau hier, genau jetzt. Deshalb sagte Hanshan: »Wenn euer Sinn wie meiner wäre, dann führte er auch euch hierher.« Hier zu sein bedeutet geistige Gesundheit, frei zu sein von Angst, Sorge, Kampf, Streben, dem drängenden 42
Wunsch nach Kontrolle und dem ständigen Sehnen danach, Sicherheit zu finden und dem Schmerz zu entfliehen. Wenn Han-shan schreibt: »Wenn ich jemandem begegne, sage ich nur: ›Geht zum Han-shan‹«, lädt er uns alle ein, einfach hier zu sein, zu erwachen und unseren verrückten Geist und unser Herz, das alles fassen möchte, zu erkennen. Das bedeutet es, am Han-shan zu sein.
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7. Kein Geheimnis
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as Leben hat nichts Geheimnisvolles an sich, auch wenn wir immer etwas Geheimnisvolles dahinter vermuten. Geheimnisse sind Schöpfungen, Produkte unseres Geistes. Die Art und Weise, wie wir Geheimnisse erschaffen, hat große Ähnlichkeit mit den Vorstellungen, die wir uns von Gott oder der Wahrheit oder der Wirklichkeit oder Buddha oder der Tugendhaftigkeit – von eigentlich allem – machen. Und wir machen sie uns, ohne uns dessen bewusst zu sein. Geheimnisse entstehen immer dann, wenn wir geistige Gebilde erschaffen. Zum Beispiel schreiben wir der Vorstellung, die wir uns von Gott gemacht haben, alle möglichen Eigenschaften zu. »Gott ist gut.« »Gott hat einen Plan.« »Gott hat etwas mit mir vor.« »Gott ist männlich oder weiblich.« Dabei gelangen wir früher oder später an einen Punkt, an dem wir Gott zu einem Rätsel erklären müssen. »Die Wege des Herrn sind unergründlich.« Möglicherweise haben wir auch unsere Vorstellungen von gut und böse, von Himmel und Hölle, von Engeln und Teufeln. Und sie alle sind in den Mantel des Geheimnisses gehüllt, schlicht und einfach deshalb, weil wir sie in Begriffe gefasst haben. Wir haben sie uns ausgedacht. In William Shakespeares Drama Der Sturm gibt es eine wunderschöne und oft zitierte Zeile: »Wir sind vom Stoff, aus dem die Träume sind; und unser kleines Leben beginnt und schließt mit Schlaf.« In dieser Zeile spricht Shakespeare zu uns, wie der Erwachte es wohl täte. In der buddhistischen Literatur finden wir häufig ähnliche Anspielungen auf die Erkenntnis, 44
dass das Leben wie ein Traum, wie eine Fantasievorstellung ist. Die Erwachten sehen das. Eben deshalb werden sie als Erwachte bezeichnet, weil die Erleuchtung ist, als erwache man aus einem Traum. Die Alltagswirklichkeit ist wie ein Traum, doch dessen sind wir uns nicht bewusst. Wir sehen nicht, dass wir uns diese Wirklichkeit selbst gebastelt haben – dass sie eine reine Erfindung unseres Geistes ist. Wenn wir aus einem Traum erwachen, hallt die Erfahrung, die uns nur wenige Augenblicke zuvor so lebendig erschienen war, noch in uns nach – die Farben, Geräusche, Gerüche und Gefühle. Doch der Nachhall schwindet schnell. Wir sagen: »Es war nur ein Traum.« Nur ein Traum … und was nun? Nun »bin ich wach. Dies ist die Wirklichkeit. Hier bin ich.« Für den Erwachten ist auch das ein Traum, eine Schöpfung unseres Geistes. Es ist nicht das volle Bewusstsein. Wir wissen gar nicht, was vor sich geht. Wir verstehen nicht, worum es im menschlichen Leben geht. Wir verstehen die »große Frage« nicht. Wir sind uns noch nicht einmal sicher, wie sie lautet. Was ist der Sinn des Lebens? Woher komme ich? Wohin gehe ich? Warum ist »etwas« das Gegenteil von »nichts«? Wenn wir über diese Fragen nachdenken, kann uns die Welt in der Tat geheimnisvoll und traumähnlich vorkommen. Wir müssen uns einfach nur umsehen, dann merken wir, dass wir überall von demselben Geheimnis, derselben Unwirklichkeit umgeben sind. Im Umkreis von fünf bis zehn Metern erscheint zwar alles deutlich – hell und klar. Doch sobald sich unser Blick weiter vorwagt, verlieren die Dinge allmählich ihre Konturen. Wenn wir ganz weit in die Ferne blicken, sehen wir überhaupt nichts mehr. Wir wissen nichts vom menschlichen Leben; offenbar wissen wir überhaupt nichts. 45
Wenn wir in die eigene Vergangenheit blicken, passiert dasselbe: Das Leben verblasst und verschwimmt. Mag sein, dass unsere Erinnerungen lebendig sind, doch es sind Erinnerungen an eine Welt, die es in diesem Augenblick nicht mehr gibt. Nicht anders verhält es sich mit der Zukunft. Wir können spekulieren und überlegen, träumen und auf etwas warten, uns ängstigen und fürchten, und dennoch bleibt uns die Zukunft ein Rätsel. Offenbar sind wir sowohl zeitlich als auch räumlich ganz und gar von Dunkelheit umgeben, und das nicht nur bildlich gesprochen, sondern im wahrsten Sinne des Wortes, als wenn wir zum Nachthimmel aufblicken und es uns scheint, als hülle die Finsternis uns ein. Da sind wir nun und leben dieses Leben, das wie ein Traum ist. Sobald wir aus dem Lichtkegel unserer unmittelbaren Tätigkeiten – unserer unmittelbaren Umgebung, dessen, was uns gerade beschäftigt – heraustreten, wird es verschwommen und dunkel. Der wache Mensch erfährt die Wirklichkeit völlig anders. Geheimnisse verbergen sich lediglich in den Details dessen, was uns gerade beschäftigt: Wir sind uns nicht sicher, warum der Computer nicht funktioniert oder woher das Klopfen in der Garage kommt oder was mit dem Buch geschehen ist, das wir suchen – es stand doch immer in diesem Regal, an dieser Stelle. Diese kleinen Bruchstücke der Dunkelheit sind niemals weit. Doch für den Erwachten ist diese Dunkelheit – und sind auch wir selbst – von Licht umgeben. Es gibt nichts Geheimnisvolles. Die Wirklichkeit ist klar, deutlich und (metaphorisch gesprochen) hell erleuchtet. Das entdecken wir, wenn wir uns aufmerksam auf unsere tatsächliche Erfahrung konzentrieren. Solange wir uns an nichts klammern, gibt es kein großes Geheimnis. Der Buddha sprach: »Jeder von euch sei sich selbst ein Licht. 46
Sucht eure Rettung nicht in einer äußeren Zuflucht.« Warum? Weil es eine solche Zuflucht nicht gibt. Sie ist auch nicht nötig. Denn das, wonach wir streben und was uns erhalten und helfen soll, ist lediglich ein Produkt unserer eigenen Fantasie. Es wird uns letzten Endes nur behindern und das Gefühl von Verwundbarkeit aufrechterhalten. Viel besser ist es, wenn wir die Situation, in der wir uns befinden, einfach betrachten und unmittelbar sehen, was vor sich geht. Wenn wir uns ehrlich und ernsthaft darum bemühen, werden wir feststellen, dass wir bereits geborgen, vollkommen und ganz sind und alles haben, was wir tatsächlich brauchen. Wenn wir glauben, ein kleines Selbst zu sein, haben wir uns in unserem eigenen Denken verheddert, ohne uns dessen bewusst zu sein. All das ist lediglich ein Gebilde unseres Geistes, das aus dem tiefen Verlangen entsteht, diese Vorstellung, die wir als »Ich« bezeichnen, zu beschützen. Wir erkennen nicht, welch großes Unbehagen wir uns dadurch bereiten, dass wir unsere Erfahrung auf diese Weise deuten. Wir versuchen nur noch, dieses kleine Selbst vor dem großen Geheimnis zu beschützen, das wir um es herum erschaffen haben, und es zufrieden zu stellen. Offenbar fällt uns nur selten auf, dass diese Zufriedenheit niemals anhält. Ein Gedicht von Jacques Prévert fasst diese grundlegende Verwirrung recht schön zusammen. Darin heißt es: Ich bin, wie ich bin. Was kann ich dafür? Mehr ist nicht drin. Was wollt ihr von mir? »Was kann ich dafür?« Wofür? Nichts bleibt, wie es ist. Das können wir sehen. »Was wollt ihr von mir?« Was von uns erwartet wird (und was 47
wir selbst von uns erwarten sollten, wenn wir lieber glücklich als von diesem imaginären Selbst geplagt sein wollen, dem wir glauben Freude bereiten und Schutz geben zu müssen), ist, ein Buddha – also wach – zu sein. Und was ist ein Buddha? Die Wirklichkeit. Die volle Wirklichkeit. Das Ganze. Nichts Besonderes. Also leben wir doch lieber, als wüssten wir, was wahr ist – als wüssten wir, dass es keine Trennung, keinen Unterschied zwischen uns und der Wirklichkeit gibt! Denn dann verliert das Leben sein Geheimnis. Das entsteht nur dadurch, dass wir uns abschotten, die Welt in dieses und jenes aufteilen, uns selbst von allem anderen abgrenzen. Wirklichkeit ist kein Gedanke. Wirklichkeit findet nicht im Kopf statt. Wirklichkeit ist nichts, was du dir vorstellen kannst. Wirklichkeit ist unmittelbares Erleben. Wirklichkeit ist, was ist. Wahrheit ist, was ist. Die eigentliche Frage lautet: Was bist du?
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8. Wiedergeburt oder Reinkarnation
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ie Vorstellung, Buddhismus habe mit Reinkarnation zu tun, ist weit verbreitet. Doch wenn wir uns auf Buddhas ursprüngliche Einsichten besinnen, werden wir eine solche Lehre nicht finden. Buddha lehrte Wiedergeburt, nicht Reinkarnation. Diese beiden Begriffe werden trotz ihrer völlig unterschiedlichen Bedeutung oft verwechselt. Wir Menschen haben große Probleme mit der gängigen Vorstellung, dass wir geboren werden, eine gewisse Zeit lang leben und dann sterben. Wir fürchten unsere Sterblichkeit. Der Gedanke an unseren Tod ängstigt uns. Wir wollen wissen: »Was passiert nach meinem Tod mit mir? Wohin gehe ich? Oder verschwinde ich einfach?« Um diese Fragen zu beantworten, fabrizieren wir allerlei Überzeugungen und Ansichten darüber, woher wir kommen und wohin wir gehen. Wir schaffen diverse Bilder von Himmel und Hölle. Wir haben eine Vorstellung vom Nichts und der Leere. Und manchmal taucht der Gedanke an Reinkarnation auf: »Ich werde als jemand anderer zurückkehren.« Manchmal ist diese Vorstellung an die Idee geknüpft, wir könnten, wenn wir ein guter Mensch sind, unter glücklicheren Umständen wieder geboren werden. Einer alten hinduistischen Vorstellung zufolge kann ein wahrhaft guter Mensch als Gott wieder geboren werden. Viele Menschen – auch Buddhisten – glauben, wenn man ein einigermaßen gutes Leben führt, würde man als Mensch wieder geboren, selbst wenn dieses Leben nicht über jeden Tadel erhaben ist. Hat man kein gutes Leben geführt, kann es sein, dass man als Tier oder Pflanze zurückkehrt. Und wenn man es wirklich verpatzt hat, kehrt man vielleicht als Mineral zurück. 49
All diese Konzepte haben eines gemeinsam: Sie gehen von einen unvergänglichen Wesen aus – das hier und jetzt inkarniert ist – eine Weile weiterlebt und sich nach seinem Tode auflöst, um in anderer Gestalt wiederzukehren. Doch da gibt es ein Problem. Wenn es in anderer Gestalt wieder geboren wird, wie kann es dann noch dasselbe sein? Und ist es dann immer noch – irgendwie – so, wie es vorher war? Und wenn nicht, wie kann man dann von Reinkarnation sprechen? Und was ist mit dem Wörtchen es überhaupt gemeint? Wir wissen es nicht. Wie kann etwas sein, was es ist, und zugleich etwas anderes? Ungeachtet dieser Frage halten viele Menschen an ihrem Glauben fest, dass das, was wir sind, einen solchen Aspekt – eine Seele, ein Selbst – besitzt, der fortbesteht und irgendwie in künftigen Inkarnationen eingefangen und wiederverkörpert wird. Viele Menschen übersehen (oder ignorieren) beim BuddhaDharma, dass Buddha selbst diese Ansicht als falsch und extrem bezeichnet hat. Sie wird als Ewigkeitsglaube bezeichnet – wonach es ein unvergängliches Selbst, eine Seele gibt, die den Körper irgendwie, möglicherweise durch Seelenwanderung, überlebt. Doch die Erwachten sehen, dass es keine Unvergänglichkeit gibt, dass der Ewigkeitsglaube schlicht unhaltbar ist. Für sie ist dies keine Frage des Glaubens, und sie stellen sich diese Frage gar nicht. Wir müssen uns unser Wunschdenken und die Neigungen unseres Geistes bewusst machen, und wir müssen wissen, dass wir uns an Erklärungen und Antworten festhalten – besonders an den vorgefertigten Meinungen, die unseren egoistischen Wünschen entgegenkommen sollen. Wir müssen sehen, dass wir uns an Dinge und Gedanken klammern – besonders an diese großartige, unwiderstehliche Vorstellung vom »Ich« – und dass wir von dem heftigen Verlangen besessen sind, unser geliebtes 50
kleines Selbst zu erfreuen, zu bewahren und zu beschützen. Buddha sagte, wenn wir mit rechter Weisheit sähen, würden wir erkennen, dass nichts gleich bleibt, sondern dass alles immerfort fließt, strömt, sich verändert. Wenn wir das deutlich sehen, können wir die Vorstellung von Unvergänglichkeit nicht mehr ernst nehmen. Mit anderen Worten, wenn wir das, was wir erleben, ungeschminkt betrachten, ohne etwas hinzuzufügen oder etwas vorauszusetzen, kommt der Gedanke an ein unvergängliches Selbst gar nicht erst auf. Wie Dogen Zenji, der große Zenmeister aus dem 13. Jahrhundert, sagte: »Sobald Brennholz zu Asche verwandelt ist, kann es nicht wieder Feuerholz werden. Ebenso können Menschen, wenn sie sterben, nicht zum Leben zurückkehren.« Sollten wir irgendwie zurückkehren, dann weder als wir selbst (denn dann wären wir jemand anders) noch als jemand anders (denn dann wären wir nicht wir selbst). Tatsache ist, während wir dieses eine Leben Augenblick für Augenblick leben, sind wir niemals ein besonderer, unwandelbarer Mensch. Du bist nicht derselbe Mensch, der du vor zehn oder zwanzig Jahren warst. Im Grunde genommen bist du nicht einmal derselbe Mensch, der du vor zehn oder 20 Minuten warst. Betrachte die Hand, die dieses Buch hält. Bereits nach dieser kurzen Zeit ist es nicht mehr dieselbe Hand, die danach gegriffen hat. Das Blut wurde völlig ausgetauscht. Stoffe wurden durch die Haut freigesetzt und aufgenommen. Die gesamte Anordnung aus Knochen, Muskeln und Sehnen hat sich verändert. Hautzellen haben sich erneuert, die Nägel sind gewachsen. Der ganze Körper, der ganze Geist, die ganze Welt hat sich verändert und wird sich weiter verändern. Der Ursprung unseres Problems liegt in der festen Überzeugung, dass mit den Wörtchen du, ich und es wahre Aspekte echter Erfahrung gemeint sind. Tatsache ist jedoch, dass wir uns nicht als einzigartiges, unwandelbares Selbst 51
erfahren. Bei sorgfältiger Beobachtung können wir das sehen. Wir können sehen, dass das Selbst ein geistiges Gebilde ist – und ein widersprüchliches dazu. Der Buddha sprach von Wiedergeburt (die korrekte Bezeichnung lautet »Wiedergeburtsbewusstsein« ), nicht von Reinkarnation. Jeden Augenblick wird das Universum sozusagen neu geboren. Wiedergeburtsbewusstsein ist das Bewusstsein, dass dieser Augenblick nicht dieser (neue) Augenblick ist. Dieser Mensch, der jetzt hier ist, ist nicht derselbe wie dieser Mensch, der jetzt (in diesem neuen Augenblick) hier ist. Nichts ist von Dauer. Nichts wiederholt sich. Nichts kehrt zurück. Jeder Augenblick ist frisch, neu, einzigartig – unbeständig. Das Wiedergeburtsbewusstsein ist der begriffliche Klebstoff, der diese einzelnen Augenblicke zusammenhält. Deshalb sehen wir zum Beispiel bei einem Film nicht Einzelbilder in schneller Folge, sondern etwas, das uns wie ein fortlaufender und nahtloser Fluss der Momente erscheint. Mit anderen Worten, dieser Augenblick hat große Ähnlichkeit mit diesem (nächsten) Augenblick, der wiederum große Ähnlichkeit mit diesem (nächsten) Augenblick hat. Doch sie sind niemals völlig gleich. Vielmehr präsentiert uns jeder Augenblick ein neu geborenes Universum. Nagarjuna, ein großer buddhistischer Philosoph aus dem zweiten Jahrhundert, wies darauf hin, dass nichts von einem Augenblick zum nächsten überdauert. In der Tat überdauert nichts die Unbeständigkeit des Seins auch nur kurze Zeit. Nagarjuna nannte das »Leere«. Das ist die wahre Bedeutung der Unbeständigkeit. Diese Beobachtung, die einzig und allein auf direkter, unmittelbarer Erfahrung beruht, lässt sich mit keiner Vorstellung von Reinkarnation vereinbaren, da die Reinkarnationslehre von der Existenz eines Selbst oder einer unsterblichen Seele ausgeht. Man kann nicht an die Reinkarnation glauben, ohne zugleich 52
auch an die Beständigkeit zu glauben. Folglich widerspricht jeder Reinkarnationsglaube der Lehre Buddhas. Während der Lektüre dieses Kapitels wurde dieser Augenblick unzählige Male neu geboren. Wenn wir lernen, das, und nicht das Recycling von Seelen zu sehen, erlangen wir die Befreiung, von der Buddha sprach.
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9. Das große Geheimnis ist offensichtlich Ein Zen-Sprichwort besagt, Geburt und Tod sind schnell und flüchtig. Dies gilt als Geheimlehre, obwohl sich überall Beweise dafür finden lassen. In Wirklichkeit sind diese Beweise die ganze Zeit über offenkundig und befinden sich direkt vor unserer Nase. Wir können sie sehen, wohin wir unseren Blick auch wenden. Wir müssen lediglich hinsehen, um zu erkennen, dass es keine Beständigkeit gibt. Geburt und Tod ereignen sich jeden Augenblick. Nichts ist von Dauer. Oft befindet sich das, wonach wir am heftigsten suchen, direkt vor unserer Nase. Als ich klein war, versteckte meine Mutter zu Ostern Eier. Mein Bruder und ich suchten hinter Vorhängen, unter Stühlen und in Lampenschirmen, doch die Eier, die sie an den auffallendsten Stellen versteckt hatte, fanden wir immer zuletzt. So ist es jetzt auch. Wir glauben vielleicht, dass wir nach der Wahrheit suchen, sehen uns aber nicht aufmerksam genug an, was tatsächlich vor sich geht. Wir klammern uns an unser Denken, unsere Wünsche, unsere Bedürfnisse, unsere Ängste und unser Selbstgefühl. All das entfernt uns von der tatsächlichen, unmittelbaren und direkten Erfahrung dieses Augenblicks. Die Wirklichkeit liegt offen vor uns, und wir sehen nicht richtig hin. Stattdessen konzentrieren wir uns auf unsere Gedanken und Erwartungen. Wir sind so im Intellektualisieren, in unseren Gefühlen und unseren geistigen Konstrukten gefangen, dass das, worauf wir unsere Aufmerksamkeit richten, uns zwangsläufig wirklich – und packend – erscheint. Außerdem sind praktisch alle Menschen um uns herum in gleicher Weise gefangen. So erschaffen wir Illusionen, an die wir gemeinsam glauben. 54
Natürlich erliegt jeder von uns auch seiner eigenen Verblendung. Jeder macht sich ein anderes Bild, gelangt zu anderen Ansichten. Darin zeigt sich die Raffinesse, mit der unsere ganz persönlichen Gedankengänge dafür sorgen, dass wir auch weiterhin voneinander und den Ereignissen getrennt bleiben, während wir unbekümmert annehmen, unser Denken finge sie ein. Weil wir uns an unsere Geschichten klammern, schenken wir der Wirklichkeit, die sich vor unseren Augen entfaltet, keine Beachtung. Wir gewöhnen uns an die Vorstellungen und Meinungen, die wir uns von den Ereignissen gemacht haben, und verpassen darüber das tatsächliche Geschehen. Wir werden zum gebannten Publikum des scheinbaren Kommens und Gehens wunderbarer und beängstigender Dinge und Gedanken. In Wirklichkeit aber steht nichts still – nicht einmal für einen Augenblick. Die Unbeständigkeit ist so allumfassend, dass wir eigentlich gar nicht behaupten können, irgendetwas verändere sich, denn nichts hat lange genug Bestand oder verharrt lange genug regungslos, um sich zu verändern. Das heißt, nicht die Welt ist unbeständig oder besitzt die Eigenschaft der Unbeständigkeit. Vielmehr ist dieser Augenblick – jetzt –, in dem die Dinge Gestalt annehmen, die Unbeständigkeit selbst. Wenn wir uns die Erfahrungen, die wir machen, ganz genau ansehen, werden wir keine Welt finden, die ständig im Fluss ist, sich ständig verändert. Stattdessen werden wir entdecken, dass nur der Fluss, nur die Veränderung selbst existiert und sie das ist, was wir als die Welt bezeichnen. (Natürlich darf man sich den »Fluss« und die »Veränderung« weder als Dinge noch als Konzepte oder gar als Vorgänge vorstellen. Sie sind einfach so.) Buddha hat darauf hingewiesen, dass die Vorstellung von Existenz und Beständigkeit falsch ist. Er hat aber auch gesagt, dass die Vorstellung von Nichtexistenz falsch ist. Viele Menschen glauben, der Buddha-Dharma lehre, dass nichts von Dauer sei und sich das gesamte Universum in 55
ständigem Wandel befände, einen endlosen Kreislauf von Geburt und Tod durchlaufe. Doch das trifft Buddhas Lehre nicht genau (und lässt sich auch nicht aus unseren eigenen Erfahrungen schließen). Buddha erkannte vielmehr, dass nichts kommt oder geht, geboren wird oder stirbt. Wir werden in dieser Welt, in der die Dinge zu kommen und zu gehen scheinen, nichts finden, was uns beruhigt, uns von unserem Schmerz, unserem Leid und unserer Verwirrung erlöst. Wir finden es nur in diesem Augenblick – in der völlig frei sich wandelnden Unbeständigkeit selbst.
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10. Das Webmuster der Wirklichkeit
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ntlang der brasilianischen Küste müssen uralte Mangrovensümpfe der Erschließung durch Hotels und andere Immobilien weichen. Sechzig Prozent der Mangrovensümpfe sind bereits vernichtet, der Rest schwindet schnell. Die Nährstoffe, die von den Flüssen angespült werden, blieben früher in den Mangrovensümpfen hängen und schufen dort einen üppigen Lebensraum für unzähligen Lebewesen. Wo die Mangroven bereits verschwunden sind, wird dieser Reichtum größtenteils ins Meer hinausgeschwemmt. Der Großteil dessen, was von Flora und Fauna noch übrig ist, stirbt. Auch die Korallenriffe vor der Küste sterben. Der Schlamm, der sich früher in den Mangroven festsetzte, wird nun ins Meer hinausgetragen und legt sich auf die Korallenriffe. Die Korallen bekommen nicht mehr genügend Sonnenlicht. Und wenn die Riffe sterben, stirbt auch ein großer Teil der Unterwasserwelt, die auf die Riffe angewiesen ist. Wenn die Zerstörung weiter so schnell fortschreitet wie bisher, sind in zehn Jahren alle Mangrovensümpfe verschwunden. Wie viele Lebewesen existieren heute nur deshalb, weil es auf diesem Planeten seit Jahrmillionen Mangrovensümpfe gibt? Und auf wie viele dieser Arten sind wir heute zu unserer Versorgung angewiesen? Wir wissen es nicht. In Wirklichkeit ist alles miteinander verbunden. Wir können es uns nicht leisten, irgendetwas auszugliedern. Der Stoff, aus dem die Wirklichkeit besteht, ist zu fest ineinander verwoben. Wir können nichts herauslösen oder wegwerfen. Alles ist hier und bleibt hier. Und alles fügt sich harmonisch ineinander, ohne dass der Mensch ordnend eingreifen müsste. 57
Das bringt uns zu einer der feinsinnigsten und tiefgründigsten Einsichten Buddhas. Es geht dabei um unseren Willen, unsere Absichten. Nicht nur, dass wir der Natur ihren Lauf lassen sollten – wir können eigentlich gar nicht eingreifen. Wenn wir es versuchen, bringen wir meist nur alles durcheinander, weil wir aus unserem dualistischen Denken heraus zu Werke gehen. Wenn wir versuchen, die Natur zu managen, widersetzen wir uns der natürlichen Weltordnung, obwohl uns das weder bewusst noch unsere Absicht ist. Die Natur ist nicht dualistisch. Sie ist keine bloße Ansammlung von Einzelteilen. Sie wirft nichts weg, sie verwertet alles, und sie handelt nicht aus dem Wunsch heraus, die Dinge besser zu machen. Während wir nur auf die Einzelteile fixiert sind, handelt die Natur auf der Grundlage des Ganzen. Wir müssen allmählich einsehen, dass die Natur nicht dualistisch ist. Wir müssen verstehen, dass unser dualistisches Denken nicht der Wirklichkeit entspricht und dass es uns teuer zu stehen kommt. Erst dann können wir lernen, auf dieser Erde zu leben, ohne alles durcheinander zu bringen. Das heißt nicht, dass wir von allem die Finger lassen müssen. Das wäre ohnehin unmöglich – schließlich sind auch wir ein wesentlicher Bestandteil der Welt. Aber wir können lernen, im Einklang mit der Wirklichkeit zu handeln.
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11. Weder heilig noch profan
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ine der klassischen Zenlehren lautet: »Kein Dualismus.« Doch was soll das bedeuten? Dualismus bedeutet, dass wir die Welt in dieses und jenes, das Selbst und das Andere, gut und böse, richtig und falsch aufteilen. Dualismus entsteht, sobald wir die Welt in Begriffe packen. Das hat zwar durchaus seine Berechtigung in unserem Leben – es hilft uns dabei, miteinander zu kommunizieren und in einer vielschichtigen Welt zu funktionieren –, kann die Wirklichkeit aber niemals genau wiedergeben, geschweige denn die Wirklichkeit selbst sein. Genau genommen verursacht uns das dualistische Denken allerhand Unruhe und Schmerz. Es führt dazu, dass wir uns Sorgen machen, Angst haben, Furcht und Verwirrung spüren. Das müsste nicht sein. Denn obwohl unsere Denkgewohnheiten dualistisch sind, ist unser Leben es nie. Nicht dass der Dualismus an sich schlecht oder falsch wäre. Wir fahren uns nur leicht darin fest, weil wir glauben, die Dinge seien tatsächlich so, wie wir sie uns in Gedanken zurechtgelegt haben. Wir denken, unsere geistigen Erklärungsversuche – die Art, wie wir die Dinge voneinander abgrenzen – gäben uns Kontrolle über die Wirklichkeit. Deshalb reagieren wir fast immer in einer Weise, die nicht das Geringste mit der tatsächlichen Situation zu tun hat. Wir halten zum Beispiel das eine für heilig oder erhaben, das andere für weltlich oder profan. Wir trennen das Transzendente vom Alltäglichen, Glauben von Unglauben, Erkenntnis von Verblendung, fallen dabei aber geradewegs in unsere alte Gewohnheit des dualistischen Denkens zurück. Wenn wir von solchen Voraussetzungen ausgehen, ist der Streit mit anderen, 59
der Welt und sogar mit uns selbst vorprogrammiert. Deshalb sagte der Brahmane Bodhidharma, der Zen im fünften Jahrhundert von Indien nach China brachte, eine dualistische Weltsicht von Alltäglichkeit und Erleuchtung stehe nicht in Einklang mit den Lehren des Erwachten. Wenn wir der Erleuchtung – oder erleuchteten Menschen – einen Sonderstatus einräumen und einen Unterschied zwischen diesen und anderen Menschen sowie uns selbst machen, tun wir ihnen laut Bodhidharma (und Zen) Unrecht. Und damit auch uns selbst. Auf diese Weise rücken wir die Erleuchtung in weite Ferne, machen sie zu etwas Jenseitigem, Geheimnisvollem und (scheinbar) Unerreichbarem. Zen soll uns von diesem irrigen Denken befreien. Das soll nicht heißen, dass wir keine Unterschiede zwischen dem Alltäglichen und der Erleuchtung machen dürfen. Wir müssen uns vielmehr darüber klar werden, dass derartige Unterscheidungen nur in unserem Geist existieren. Die Wirklichkeit kennt keine solchen Unterschiede. Es gibt niemals einen bestimmten Menschen, der erleuchtet ist. So funktioniert das mit der Erleuchtung nicht. Aus demselben Grund gibt es auch niemals einen bestimmten Menschen, der verblendet ist. Das denken wir nur. Ja, bereits der Gedanke, es könne einen solchen »besonderen Menschen« geben, ist dualistisch. Gewiss ist der Dualismus zeitweise von Nutzen, um den Tag zu überstehen; die Wirklichkeit spiegelt er trotzdem nicht. Wenn wir anfangen, uns mit den buddhistischen Lehren zu befassen, sehen wir meist in der Erleuchtung unser höchstes Ziel. Dann denken wir: »Das will ich. Danach suche ich. Deswegen fange ich an zu meditieren und studiere diese Lehren – damit ich erleuchtet werde.« Doch derartige Gedankengänge fuhren nur zu noch mehr Dualismus, noch mehr Verblendung. Die Zenmeister des 60
Altertums wie der Moderne sagen uns immer wieder auf tausenderlei Arten, dass ein solches Denken nicht im Einklang mit der Wirklichkeit steht. Meist hören wir ihre Worte, verstehen sie rein intellektuell und nicken zustimmend. Aber wir nehmen sie uns nicht zu Herzen. Wir denken über den Dualismus nach und projizieren ihn nach »dort draußen«, als sei er nicht unser Problem. Wir sagen: »Ach ja, der Dualismus. Üble Sache«, und verpassen dem Thema Dualismus damit eine weitere dualistische Schicht. Und die ganze Zeit über machen wir uns nicht die Mühe, uns anzusehen, wo wir selbst eigentlich stehen. Wir müssen uns mit dieser Lehre auseinander setzen und sie uns zu Herzen nehmen. Wir müssen uns stets darüber im Klaren sein, was sie uns sagen will – und was wir stattdessen damit anfangen. Eigentlich lässt sich nicht sagen, was Wahrheit oder Wirklichkeit ist. Und wenn wir etwas sagen, ist es schon deshalb dualistisch, weil es in Worte gefasst ist, weil ihm eine begriffliche Form gegeben wurde. Zen geht über rein intellektuelles Verständnis hinaus. Wir müssen wiederholt auf diese Lehre zurückkommen und uns in sie versenken, um sie tatsächlich verarbeiten und uns entsprechend verhalten zu können. Wir können lernen, in diesen Augenblick zurückzukehren. Wir können anfangen, dualistisches Denken zu erkennen, während unser Geist sich damit beschäftigt. Wir können lernen zu sehen, wie wir urteilen und etwas festhalten wollen. Wir können sehen, wie wir nach Dingen greifen, die uns heilig sind, und wie wir verschmähen, was uns profan erscheint. Wenn wir das sehen, können wir auch lernen zu sehen, wie man sich nicht darin verfängt. Unser Denken und unser Bemühen, alles in Begriffe zu packen, sind weit davon entfernt, uns Kontrolle über die 61
Wahrheit zu geben. Stattdessen behindern sie unsere natürliche Gabe, die Wirklichkeit unmittelbar zu sehen. Unser Denken ist – unabhängig davon, wie oder was wir denken – nicht im Einklang damit, wie die Dinge wirklich sind. Wenn wir das erst einmal selbst gesehen haben, werden wir aufhören, uns immerfort dadurch zu frustrieren, dass wir zu begreifen versuchen, was vor sich geht. Wir werden klar sehen, dass jedes Konzept, das wir uns als Antwort ausdenken, dualistisch sein wird – ganz im Gegensatz zur Wirklichkeit. Und wir werden erkennen, dass weder Antworten noch Erklärungen vonnöten sind, sondern dass wir einfach hinsehen müssen. Die Wahrheit ist weder ein Gedanke noch eine Überzeugung. Sie ist nicht greifbar. Sie ist nicht einmal vorstellbar. Und dennoch kann man sie einfach sehen. Schritt für Schritt können wir uns eine Ahnung davon verschaffen, was wahr und wirklich ist – und verstehen, dass es weder heilig noch profan ist. Wir können lernen, einfach zu sehen, ohne alles erklären zu müssen. Tatsache ist, dass wir die Wahrheit bereits kennen. Wir müssen nur zu ihr zurückfinden und uns mit ihr einrichten. Wir müssen lediglich daran erinnert werden.
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12. Schluchten und Kiefernberge
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n der Zenpraxis geht es darum, wach zu sein, bewusst zu sein. Doch wie stellen wir das an? Wie erwacht man? Und was bedeutet es eigentlich, wach zu sein? Sind wir denn jetzt nicht wach? Huang-po, der bereits zitierte chinesische Zenmeister, sagte: Ebenso werdet ihr Schüler des Weges, wenn ihr euren wirklichen Geist nicht als Buddha erkennt, diesen überall suchen, euch auf verschiedenste Handlungen und Übungen einlassen und durch solche stufenweisen Praktiken das Ziel zu erreichen suchen. Aber selbst nach Äonen eifrigster Suche werdet ihr nicht im Stande sein, den Weg zu finden. Und genau so ist es. Wir überlagern unsere direkte Erfahrung der Wirklichkeit mit der Vorstellung, die wir uns von ihr gemacht haben, und weil wir das so gut können und kaum etwas davon merken, sind wir uns dessen nicht einmal bewusst. Folglich leiden wir an chronischer Verwirrung. Nehmen wir irgendein Objekt – einen Berg, den Himmel oder einen Alltagsgegenstand wie zum Beispiel eine Teeschale. Normalerweise denken wir: »Das ist nur eine Schale.« Oft ist uns der Gegenstand so vertraut, und wir können ihn so schnell einordnen, dass wir ihn kaum wahrnehmen. Wir kochen eine Kanne Tee und gießen uns blind eine Schale davon ein, ohne einen Gedanken an das zu verschwenden, was wir eigentlich tun, und ohne diesem Vorgang viel Aufmerksamkeit zu schenken. Wir verhalten uns so, weil wir zu »wissen« glauben, dass es nur eine Schale ist, nichts weiter. Doch wenn wir unsere Aufmerksamkeit auf unsere tatsächliche Erfahrung richten, ist es eben nicht nur eine Schale. Wenn 63
wir hinsehen, finden wir das ganze Universum genau hier, in dieser Schale. In dieser Schale gibt es, wie der Sufidichter Kabir sagen würde, »Schluchten und Kiefernberge«. Die Teeschale ist nicht von alleine entstanden. Irgendjemand hat etwas Ton genommen und sie getöpfert. Und irgendjemand hat die Töpferscheibe gebaut. Und dann ist da noch der Baum, der als Brennholz für das Feuer des Ofens diente. Und die Sonne und der Regen und die Erde, die diesen Baum wachsen ließen. Wenn wir sehen, dass all das Einfluss auf die Teeschale hatte, können wir sie tatsächlich erfahren. Wir können sehen, was die Schale wirklich ist – womit ich sagen möchte, dass sie eigentlich nichts Besonderes ist. Versuche einmal, etwas ganz genau festzunageln. Es geht nicht. Es ist, als wollte man eine Antwort auf die Frage finden: »Bist du das Baby auf dem Foto?« Was kannst du darauf schon erwidern? Du könntest sagen: »Ja, das bin ich.« Aber ganz offensichtlich bist du es nicht. Du bist ja kein Baby. Was, wenn du die Frage verneintest? Wer ist dann da auf dem Foto? Und wenn du sagst: »Das war ich«, wie kannst du noch derselbe sein, wenn du sechsmal so groß und inzwischen sehr viel wortgewandter bist? Und was könnte damit gemeint sein, wenn du sagst: »Ich bin es und bin es nicht«? Hast du schon einmal etwas gesehen, das zugleich das ist, was es ist, und das, was es nicht ist? Und wenn das auf dem Bild weder du noch nicht du bist, worüber sprechen wir dann überhaupt? Wenn wir es ganz genau nehmen, bereiten uns solche einfachen, alltäglichen Fragen Kopfschmerzen. Die Dinge haben nichts Absolutes, niemals, obwohl wir das gerne denken. Wir gehen stillschweigend davon aus, eine Teeschale sei eine Teeschale. Doch wo sollen wir die Grenze zwischen der Teeschale und allem anderen ziehen? Wenn wir ganz genau hinsehen, werden wir erkennen, dass es nicht möglich ist, eine solche Grenze zu ziehen. 64
Alles, was wir in unserem Geist in Schubladen packen, was wir festnageln und von anderen Dingen abgrenzen können, ist ein Konzept. Weil wir unsere Konzepte für die Wirklichkeit halten, geraten wir so oft in Schwierigkeiten. Und wieder stellt sich die Frage: Wie können wir erwachen? Zuerst einmal müssen wir es wollen. Doch erwachen zu wollen ist etwas ganz anderes, als sich ein Auto oder einen neuen Job oder Respekt oder Liebe zu wünschen. Wenn wir wirklich erwachen wollen, sind all die anderen Dinge nicht von Belang. Der Wunsch zu erwachen ist kein gewöhnlicher Wunsch. Wenn wir erwachen und die Welt sehen wollen, wie sie wirklich ist, müssen wir uns dem gegenwärtigen Augenblick – der Wirklichkeit dieses Augenblicks – ganz und gar öffnen und uns zugleich voll und ganz bewusst sein, dass wir uns keine Vorstellung von der Wirklichkeit machen können. Wir können nur erwachen, indem wir sehen, nicht indem wir uns dazu zwingen oder unseren Willen einsetzen. Wir müssen bereit sein, uns von allen lieb gewonnenen Ansichten zu trennen. Wenn wir nach der Erleuchtung streben, als erwarteten wir eine Art Lohn für unser Verhalten, frustrieren wir uns nur selbst. Wenn du wirklich erwachen willst, dann erwache. Beginne damit, den Gegenständen in deinem Leben Beachtung zu schenken. Achte auf das, was du denkst, glaubst, dir vorstellst – was du in deinem Geist erschaffst. Achte dann auch darauf, wie verwirrend, wie widersprüchlich und allgegenwärtig die Schöpfungen deines Geistes sind. Wenn wir erst einmal verstehen, was vor sich geht, werden wir nicht mehr so sehr an lieb gewonnenen Meinungen festhalten, weil wir sehen, dass uns alles, wonach wir greifen, wie Wasser durch die Finger rinnt. Wir wissen, dass wir mit den Schöpfungen unseres Geistes nicht weit kommen werden, ehe sie zerfallen und unbrauchbar werden. Das Universum ist nicht geheimnisvoll. Die Wirklichkeit liegt 65
jederzeit offen vor uns. Nichts ist verborgen. Wenn unsere Gedanken nicht wären, sähen wir die Wirklichkeit. Der wahre Pfad befindet sich genau jetzt geradewegs vor deiner Nase. Du musst dich nur auf das konzentrieren, was wirklich vor sich geht – und es nicht zu sehr komplizieren. Öffne das Auge deiner Weisheit und sieh.
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13. Einfach sehen
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or diesem Augenblick habe ich noch nie ein Wort geschrieben. Das ist im wahrsten Sinne des Wortes wahr. Die meisten Menschen freilich würden angesichts dieser Aussage an meinem Verstand zweifeln. Oder sie für einen dieser reichlich skurrilen, verwirrenden Zensprüche halten. In Wirklichkeit sind derartige Äußerungen weder skurril noch verwirrend (und das ist auch nicht ihre Absicht). Um den Menschen das Erwachen zu erleichtern, lenken Zenlehrer ihre Aufmerksamkeit oft mithilfe von Wörtern und Vorstellungen auf die Wirklichkeit, obwohl man diese nur direkt sehen kann und es unmöglich ist, sie zu beschreiben oder begrifflich zu erfassen. Deshalb klingt das, was sie sagen, manchmal widersprüchlich – oder einfach dumm und lächerlich. Derartige Äußerungen lassen sich leicht nachahmen, sie werden aber auch leicht missverstanden. Deshalb stellen Zenlehrer oft gegenseitig ihr Verständnis auf die Probe. Andernfalls könnte man glauben, um Zenlehrer zu werden, müsse man lediglich lernen, bizarre, abwegige Sprüche herunterzurasseln. Ein echter Zenlehrer aber stellt nicht einfach irgendwelche idiotischen Äußerungen in den Raum. Er meint es todernst. Deshalb gibt es im Zen die Tradition, dass Lehrer das Verständnis ihrer Schüler – und das der anderen Lehrer – prüfen. Eine typische Begegnung könnte sich etwa folgendermaßen abspielen: Es ist später Abend. Der Lehrer sagt zu einem Schüler: »Zeig mir dein Zen.« (Mit anderen Worten: »Zeig mir, was du weißt.« ) 67
Der Schüler neigt sich zu seinem Lehrer hinüber und knipst dessen Lampe an. Der Lehrer schnauzt ihn missbilligend an: »Ist das alles, was du weißt?« Der Schüler reagiert perfekt, indem er sich erneut hinüberbeugt und die Lampe ausmacht. Der Lehrer lächelt und nickt anerkennend, denn der Schüler hat wahre Einsicht bewiesen. Das ist ein recht typischer Vorgang und leicht nachzuahmen. Doch ein Zenmeister lässt sich nicht so leicht täuschen. Statt anerkennend zu nicken, könnte er auch anfangen nachzuhaken. Wenn du dich etwa hinüberbeugst, um die Lampe auszumachen, könnte er fragen: »Ist das Licht an oder aus?« Was sagst du? (Wenn du nach der richtigen Antwort suchst, bist du schon in Schwierigkeiten.) Im Zen geht es darum, einfach zu sehen. Wenn wir wissen, wie man sieht, ohne dem, was man sieht, eigene Gedanken oder Überlegungen hinzuzufügen, bekommen wir keinerlei Schwierigkeiten. Wenn ein Zenlehrer jemanden prüft, erprobt er dessen Fähigkeit, einfach zu sehen (Fähigkeit ist allerdings eine etwas irreführende Bezeichnung, da jeder von uns bereits voll und ganz in der Lage ist zu sehen). Die Fähigkeit, einfach zu sehen, lässt sich auf unzählige Arten und Weisen demonstrieren. Allerdings geht es dabei niemals darum, etwas zu wissen, herauszufinden oder nach der richtigen Antwort zu suchen. Genau genommen liegt man, wenn man es sich als Suche nach »der richtigen Antwort« vorstellt, bereits daneben. (Eigentlich liegt man in dem Augenblick daneben, in dem man zu denken anfängt, denn schon dann erfasst man die Dinge nur begrifflich und hört auf zu sehen.) Was bedeutet einfach sehen? Dieses Experiment soll dir eine Ahnung davon vermitteln, was 68
es heißt, einfach zu sehen, indem es dir zeigt, dass wir der Welt normalerweise mit vorgefertigten Meinungen, Vermutungen, Erwartungen, Vorstellungen und Neigungen begegnen. Die Analogie ist nicht ganz perfekt, denn auch sie ist an Begriffe gebunden. Trotzdem kann sie dir einen Vorgeschmack vom Sehen geben. Entspanne dich zuerst und mache es dir bequem. Atme ein paar Mal tief durch und warte, bis deine Gedanken zur Ruhe gekommen sind. Sieh dir nun die Tintenkleckse auf der nächsten Seite an. Betrachte sie eine Weile. Sie stellen etwas dar, das dir wohlvertraut ist. Hast du es erkannt? Nein? Schau noch einmal hin. Wenn du die Lösung nach ein, zwei Minuten nicht gefunden hast, dreh das Bild 90 Grad nach rechts und betrachte es noch ein wenig. Versuche nicht, die Lösung logisch zu erschließen – es gibt nichts zu erschließen. Entweder du siehst, was es ist, oder du siehst es nicht. Und wenn du es siehst, wirst du keine Zweifel mehr haben. Wenn du nach einer Weile immer noch ratlos bist, versuche, dich nicht auf die schwarzen Kleckse, sondern vor allem auf die Form der weißen Fläche in der Mitte zu konzentrieren. Sieh dir das Bild weiter an.
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Irgendwann erkennst du vielleicht, dass du eine grobe Negativsilhouette Westeuropas vor dir hast. Wenn du das Bild bereits um 90 Grad gedreht hast, siehst du unten links ein kleines Stück von Spanien. Unten rechts liegt ein großer Teil Italiens (ohne den verräterischen »Stiefel« ). Oben links liegt der südlichste Teil Englands jenseits des Kanals und gegenüber von Frankreich. Im Nachhinein scheinen all diese Details offensichtlich. Und 70
sie lagen die ganze Zeit über direkt vor deiner Nase, klar und unverhüllt. Wieso hast du trotz eines gewissen Maßes an erdkundlichem Wissen nicht sofort erkannt, was das Bild darstellt? Du hast es nicht gesehen, weil der Mensch gewisse Betrachtungsgewohnheiten hat. In diesem Fall lag es an der Gewohnheit, die Aufmerksamkeit zuerst den kleinen, dunklen Formen zuzuwenden. So wandern unsere Augen bei der Analyse zuerst dorthin, wenn wir uns einen Reim auf etwas machen wollen. Zudem erwarten wir, dass sogar etwas so Vertrautes wie der Umriss Westeuropas in einer bestimmten Weise vor uns liegt. Ist das nicht der Fall, übersehen wir viele der Hinweise, auf die wir uns beim Aufbau unserer geistigen Welt verlassen. Jeder von uns hat ähnliche Denkgewohnheiten, die ihm helfen, die Welt zu verstehen. Aber sie schränken uns auch ein. Sie können uns aus dem Konzept bringen, wie das bei diesem Bild von Westeuropa oder bei optischen Täuschungen der Fall ist. Die Angewohnheit, die Dinge anhand bestimmter Muster zu betrachten, einzuordnen und zu bewerten, dient der begrifflichen Festlegung. Es handelt sich also nicht um einfaches Sehen, sondern vielmehr um das genaue Gegenteil davon. Als du den ersten Blick auf die Landkarte warfst, hattest du vielleicht eine Chance, einfach zu sehen – das heißt, sie direkt wahrzunehmen, bevor Konzepte in dir aufstiegen und die Gewohnheit, die Dinge zu ordnen, die Oberhand gewann. Wenn wir dem, was wir sehen, erst einmal eine Bedeutung verliehen haben, ist es mit dem einfachen Sehen vorbei. Dann interpretieren wir Dinge in unsere Wahrnehmung hinein, die nicht da sind, springen zwischen der Erfahrung unserer Wahrnehmung und unserem begrifflichen Überbau hin und her. Das geschieht so automatisch und so mühelos, dass wir es meist gar nicht bemerken. 71
Ein Buddha, ein Erwachter, ist ein Mensch, der einfach sieht – also ein Mensch, der Vorstellung und Wahrnehmung nicht miteinander verwechselt. Reine Wahrnehmung ist gegenstandsloses Bewusstsein. Sie findet statt, bevor wir irgendwelche geistigen Konstrukte erschaffen und bevor wir unsere Erfahrung in Dinge, Gedanken und Gefühle – in »ich« und »das andere« – aufteilen. In diesem Punkt unterscheidet sich ein Buddha am deutlichsten von einem normalen Menschen. Ein Buddha nimmt die Welt genauso wahr wie alle anderen auch, aber er geht anders mit den Vorstellungen um, die normalerweise in uns aufsteigen. Ein Buddha verwechselt Denken nicht mit Sehen, und er lässt es nicht zu, dass ein Gedanke oder eine Vorstellung seine Wahrnehmung außer Kraft setzt. Wenn wir uns in unserem Denken verfangen, können wir nicht erkennen, was wir sehen – obwohl uns das nur selten bewusst wird. Statt einfach zu sehen, suchen die meisten Menschen die ganze Zeit nach einer noch besseren Idee, einem noch nützlicheren Konzept, einer noch deutlicheren Erklärung, die uns die Welt endlich offenbaren wird. Doch die Welt muss nicht offenbart werden. Sie ist bereits offenbar. Niemand muss sie uns erklären (was auch gar nicht möglich wäre), als sei sie ein Puzzle oder eine Formel oder eine Gleichung. Im Grunde ist uns die Wirklichkeit wohl vertraut. Sie entgleitet uns nur deshalb, weil wir uns so leicht und unaufhörlich in unseren Gedanken und begrifflichen Gewohnheiten verfangen. Kehren wir nun unter Berücksichtigung all dessen zu der Frage des Meisters nach dem Licht zurück. Ist es an oder aus? In unserer Vorstellungswelt – dem Modell, das wir uns im Geiste von der Wirklichkeit gemacht haben – kann doch, so sollte man meinen, nur das eine oder das andere zutreffen. Doch damit 72
nicht genug: Die Antwort wäre auch noch unstrittig. So denken wir eben, und diese Art zu denken ähnelt unserer Gewohnheit, die Bedeutung in den kleinen, dunklen Umrissen auf der Seite zu vermuten. Alles ist fein säuberlich in unterschiedliche Begriffe verpackt – und deshalb muss eine Lampe mit einem Kippschalter entweder an oder aus sein. Doch das ist eine sehr begriffliche Art zu sehen: Da gibt es nur »an« oder »aus«, und »an« ist etwas völlig anderes als »aus«. Wären wir in der Lage, einfach zu sehen, ohne diese Wahrnehmung mit allen möglichen Vermutungen hinsichtlich Substanz, Beschaffenheit und Andersartigkeit sowie mit einer Menge anderer Vorstellungen zu überlagern – von denen wir die meisten weder je bewusst wahrgenommen noch überprüft haben –, würden wir verstehen, dass unsere begriffliche Sicht nicht das Gesamtbild wiedergibt. Wir übersehen, dass es »aus« ohne »an«, »dies« ohne »jenes« nicht geben kann. Genau genommen kann in unserem Geist nichts entstehen, ohne dass seine Identität von dem bestimmt wird, was es nicht ist. In der direkten Wahrnehmung wirkt alles vertraut und nah, nichts bleibt außen vor. Es kommt gewissermaßen nichts »von draußen herein«. Der Eindruck, wir holten die Dinge von »draußen« herein, entsteht erst dadurch, dass wir diese Dinge in Begriffe packen. Deshalb wird bei bloßer Wahrnehmung Folgendes deutlich: Damit wir etwas überhaupt begrifflich erfahren können, muss es zwangsläufig auch all das enthalten, was im Augenblick nicht Gegenstand unseres Interesses ist. Wo konkav ist, ist auch konvex, erst dann ist das Universum ganz. Das ist mit allem so. Mit keinem Objekt in unserer Vorstellung könnte es anders sein. Nichts steht allein. Nichts existiert unabhängig von allem anderen. Alles ist untrennbar mit all dem verbunden und identisch, was es nicht ist. Deshalb ist Wahrnehmung gegenstandsloses Bewusstsein, 73
denn wenn wir einfach sehen, sehen wir nicht einzelne Objekte, sondern das Ganze. Im Grunde entsteht nichts unabhängig, getrennt von allem anderen. Wohin wir auch blicken, überall ist nur dies. Hier kommt ein weiteres Beispiel für eine unsinnig klingende Zenfrage, die eigentlich ein Ausdruck einfachen Sehens ist: Wie klingt das Klatschen einer Hand? Wenn wir uns eine Hand vorstellen, denken wir an eine einzige, einsame Hand, und die Frage verwirrt uns. Zum Klatschen braucht man zwei Hände. Doch wenn wir so denken, nähern wir uns der Frage auf die übliche, also begriffliche Weise. Wenn wir einfach hinsehen, erkennen wir, dass eine Hand nicht nur eine einzelne, von allem anderen getrennte Hand ist. Wir erkennen, dass alles in ihr enthalten ist. Das Klatschen einer einzelnen Hand klingt wie das Klatschen zweier Hände und das Klatschen von zehn Händen. Es klingt wie der Klang vor und nach dem Klatschen zweier Hände. Es klingt auch wie der Klang vor und nach dem Klatschen einer Hand. Wenn wir in Begriffen denken, ist ein Klang für uns ein Klang, und Stille ist für uns Stille. Die beiden lassen sich scheinbar klar voneinander trennen – es scheint sogar, als sei das eine das genaue Gegenteil des anderen. Doch das gilt nur für unser Denken, für die von uns definierten Begriffe. Es hat nichts mit der Wirklichkeit zu tun, die wir wahrnehmen, bevor wir alles fein säuberlich in ordentlich beschriftete (aber irreführende) kleine Schubladen packen. Wir glauben, damit es Klang gibt, müsse lediglich der Klang existieren. Dabei übersehen wir, dass auch die Stille existieren muss, damit es den Klang gibt. Und weil es den Klang gibt, gibt es auch die Stille. Wenn es keinen Klang gäbe, wie könnte es dann Stille geben? Der Klang ist schon hier, bevor die Glocke angeschlagen wird. 74
Er ist hier, wenn die Glocke angeschlagen wird. Und er ist noch hier, nachdem er immer leiser geworden und vergangen ist. Der Klang ist nicht nur der Klang, sondern auch die Stille. Und die Stille ist der Klang. Das nehmen wir wahr, bevor wir alles in dies und jenes, in »ich« und »das Gehörte« unterteilen. Der Klang der Glocke lässt sich weder von allem, was vorher war, noch von allem, was danach kommt, oder allem, was jetzt geschieht, trennen. Er schließt das Trommelfell ein, das davon in Schwingung versetzt wird. Er schließt die Luft ein, die aufgrund des Klangs in unterschiedlichen Druckwellen pulsiert. Er schließt den Stock ein, der die Glocke anschlägt. Er schießt die Metallurgen der Vergangenheit und der Gegenwart ein und alle Menschen, die herausfanden, wie man Metall aus Erz gewinnt, sowie die Hersteller der Glocke. Und er schließt jenen uralten Schmelzofen ein, in dem dieses Metall entstand und der vor langer Zeit in einer Supernova verglühte. Wenn wir ein beliebiges Glied dieser Kette entfernen – wenn wir einen beliebigen Bestandteil der Welt entfernen –, kann es keinen Glockenklang geben. Der Klang der Glocke ist somit nicht nur »der Klang der Glocke«. Er ist das ganze Universum. Wie ich zu Beginn dieses Kapitels sagte, habe ich vor diesem Augenblick noch nie ein Wort geschrieben. Wenn wir das übliche Denken zugrunde legen, ist diese Aussage lächerlich. Und dennoch ist sie wahr. Unserem begrifflichen Denken zufolge sind Dinge unvergänglich und überdauern die Zeit. So wie wir die Dinge sehen, ist das »Ich« von vor 50 Jahren oder von vor fünf Jahren oder von vor fünf Tagen oder von vor fünf Minuten identisch mit dem »Ich« in diesem Augenblick. Aber das ist lächerlich. Vor 50 Jahren war das, was ich als »Ich« bezeichne, ein Kind. Inwiefern ist es identisch mit dem »Ich« von vor fünf Minuten? Und wo sollen wir das »Ich« von vor fünf Minuten – oder von vor 50 Jahren – suchen? Sosehr wir uns auch bemühen, wir werden es nicht finden – nicht jetzt und nicht hier. 75
Wie kann ich also behaupten, ich hätte vor dem jetzigen Zeitpunkt schon einmal etwas geschrieben, wenn dieses »Ich« nur jetzt existiert, nicht aber in der Vergangenheit? Wir glauben, wir kehrten jeden Abend in dasselbe Zimmer, dieselbe Wohnung oder dasselbe Haus zurück. Doch das ist nur die halbe Wahrheit. Das ist lediglich die Vorstellung, die wir uns von unserer Erfahrung gemacht haben. Jeder Abend – ja sogar jeder Augenblick – ist eine neue Erfahrung: ein neues »Ich«, ein neues Haus, ein neues Haustier, ein neuer Mitbewohner, ein neuer Ehepartner oder ein neues Kind. Jede Mahlzeit ist eine Mahlzeit, die wir noch nie gegessen haben, in einer Welt, die nicht mehr dieselbe ist, die sie am Abend oder auch nur im Augenblick zuvor noch war. Wenn wir einfach sehen, lockern wir den festen Griff, mit dem wir ungewollt alles umschließen, worüber wir nachdenken. Vor dem jetzigen Augenblick hast du noch nie ein Wort gelesen. Sieh einfach, dass das so ist, und koste die Freiheit.
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14. Die Offenbarung der Welt
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ch saß alleine im Boundary-Waters-Seengebiet in meinem Kanu. Das Wasser war ruhig und spiegelglatt. Kein Lüftchen regte sich, alles war friedlich und still. Das Wasser kräuselte sich leicht und warf das blasse, sanfte Morgenlicht auf die Felsen und Bäume am Ufer. Es war wunderschön und ruhig. Aus dem Wald erklang der Ruf eines Vogels. Ein Eistaucher schwamm dicht an mir vorbei. Er war wohl ein wenig neugierig, was ich da tat. Ein Adler tauchte nach einem Fisch – und verfehlte ihn. Ju-ching, der Dogen in China unterrichtete, riet ihm vor seiner Rückkehr nach Japan, er solle sich vom Trubel menschlichen Lebens fern halten. Ju-ching drängte ihn, die Stadt zu verlassen und in die Wildnis zu gehen, was Dogen schließlich auch tat. In einer entlegenen Region Japans gründete er das Eiheiji-Kloster. Es ist auch heute noch recht abgeschieden. Auf dem Land ist es ruhig und beschaulich. Auf dem Land ist es friedlich. Das Leben dort ist nicht laut und lenkt nicht ab wie das Leben in der Stadt. Deshalb können wir dort leichter zur Ruhe kommen und leichter unsere Mitte finden. Das scheint auf der Hand zu liegen. Vielleicht ist das für uns sogar der einzige Grund, weshalb wir zum Meditieren gerne in die Natur fahren. Doch wenn uns nicht mehr dazu einfällt, entgehen uns einige wichtige Punkte. Zum einen ist es auf dem Land nicht immer ruhig. Mein Kanutrip war zwar sehr friedlich, aber natürlich kommen auch manchmal Stürme auf. Ich habe dieselbe Wildnis auch schon bei beängstigendem Wetter erlebt. Ich sah, wie Wind, Regen und Hagel große Bäume zu Fall brachten. Gleich im darauf folgenden Sommer zog ein Sturm über das Gebiet hinweg, der fast alle großen Kiefern fällte, die ich gesehen hatte. Wo einst 77
diese majestätischen Kiefern gestanden hatten, wächst nun wirres Gestrüpp – so dicht, dass man nicht einmal mehr die Felsen darunter sehen kann. Vereinzelt ragen noch massive Baumstämme in die Höhe, doch alle sind etwa drei bis fünf Meter über dem Boden abgeknickt. Und an einen Berghang nicht weit davon hat der Wind große Zedern gefällt, die zum Teil bis zu 600 Jahre alt waren. Die Ruhe und den Frieden, die wir suchen, finden wir nicht einfach, indem wir in die Natur hinausfahren. Der Friede, den wir im Laufe unserer Zenpraxis entwickeln, lässt sich nicht außerhalb von uns finden. Trotzdem kann es durchaus hilfreich sein, sich ein ruhiges Plätzchen zu suchen, zumindest zu Beginn unserer Zenpraxis. In diesem frühen Stadium lässt man sich leicht von Geräuschen oder von den Dingen ablenken, die sich um einen herum ereignen. An einem ruhigen Ort kommt man möglicherweise leichter zur Ruhe. Doch wenn wir nur in einer ruhigen äußeren Umgebung Ruhe und Seelenfrieden finden, werden wir häufig frustriert, und es fehlt unserer Übung an Stabilität und Erdung. Denn fest steht: Ob wir nun in der Stadt oder auf dem Land sind, Störungen gibt es überall, und manchmal treten sie ohne Vorwarnung auf. Hakuin, ein japanischer Zenmeister aus dem 18. Jahrhundert, bewies diese Ruhe, diesen Frieden und diese Stabilität unabhängig von seinen Lebensumständen. Einst beschuldigte ihn eine schwangere junge Frau aus seinem Dorf zu Unrecht, der Vater ihres Kindes zu sein. Ihre Eltern gingen zu ihm, um ihn zur Rede zu stellen. Hakuin leugnete die Geschichte nicht. Er stritt auch nicht mit ihnen. Er sagte lediglich: »Wenn das so ist …« Obwohl sein Ruf als Mönch und Lehrer ruiniert war, blieb er ruhig und gelassen. Als das Kind geboren war, brachten es die Großeltern zu Hakuin. Sie sagten zu ihm: »Es ist dein Kind. Kümmere dich 78
darum.« Hakuin nahm das Kind klaglos auf und kümmerte sich vorbildlich darum. Einige Zeit später kam die Wahrheit ans Licht. Die junge Mutter gestand, dass in Wirklichkeit der junge Mann vom Fischmarkt der Vater ihres Kindes war. Also begaben sich ihre Eltern zu Hakuin, um das Kind zu holen. Nachdem er ein Jahr lang für das Kind gesorgt hatte, gab Hakuin es widerstandslos auf. Als er das Kind seinen Großeltern übergab, meinte er lediglich: »Wenn das so ist …« Wenn wir geistig ebenso flexibel und gelassen sein möchten wie Hakuin, müssen wir aufhören, diese Eigenschaften in der Außenwelt – oder vielmehr in dem, was wir dafür halten – zu suchen. Mein Lehrer hatte sein Leben lang ein Lieblingsthema: Das Üben aus ganzem Herzen. Immer wieder sprach er davon. Es dauerte einige Zeit, ehe ich verstand, dass damit dieser Augenblick – nicht nur Zazen (die Sitzmeditation), sondern das ganze Leben – gemeint war. Mit anderen Worten, wir müssen unser Leben aus ganzem Herzen und mit offenen Augen leben. Oder, wie Thoreau es ausdrückte, wir müssen unser Leben mit Bedacht leben. Katagiri Roshi sagte gerne, Zen sei entweder alles oder nichts. Mit anderen Worten: Tu das, was du tust, von ganzem Herzen oder lass es bleiben. Beginne nichts halbherzig. Was du tust, muss in dir und in deinem Leben entweder vollständig oder gar nicht zum Ausdruck kommen. Wenn du dich dieser Praxis, dieser Haltung, dieser Entschlossenheit verschreibst, wirst du genau wie Hakuin geistige Ruhe und Gelassenheit finden. Dann wirst du, wenn die Stürme des Lebens kommen und gehen, genau wie Hakuin wissen, wie du sie überstehst. Statt dich darauf zu verlassen, »dort draußen« etwas zu finden, das dir Ruhe und Gelassenheit schenken kann, wirst du auf die Ruhe und Gelassenheit vertrauen, die in dir 79
gewachsen sind. Du wirst dir diese Lehre und diese Praxis zu Herzen genommen und gelernt haben, sie umzusetzen – immer wieder, Augenblick für Augenblick. Unerwartete, überraschende und sogar traumatische Ereignisse können jederzeit eintreten. Wenn das geschieht, wirst du nicht davonlaufen. Dann wirst du erkennen, dass wahre Ruhe und Gelassenheit nicht von der Außenwelt abhängen. Ju-ching gab Dogen seinen Rat also nicht, weil er dachte, Dogen würde »dort draußen« geistige Ruhe und Stabilität finden. Wenn wir tiefer blicken, entdecken wir ein Bewusstsein wie in Thoreaus berühmtem Zitat: »In der Wildnis bewahrt sich die Welt.« In einer Stadt ist alles geplant. Das hat seine Vor- und Nachteile. Alles erfüllt einen – guten oder schlechten – Zweck, dient der Bequemlichkeit oder der Zierde. Die Natur dagegen verfolgt keine Absicht. Sie legt es nicht darauf an, etwas zu tun, etwas hervorzubringen oder etwas zu erreichen. Und sie bringt doch so viel hervor. Allerdings unterscheidet sich ihre Art, das zu tun, im Allgemeinen gänzlich von der Methode des Menschen. Unser Handeln entspringt meist unseren Absichten, unseren Sehnsüchten, unserem Versuch, bestimmte Situationen herbeizuführen, und unserem Wunsch, andere Situationen zu vermeiden. Im Gegensatz dazu steht hinter dem, was die Natur hervorbringt, weder Zweck noch Absicht oder Willen. Das liegt daran, dass es nichts außerhalb ihrer selbst gibt, wonach sie streben oder wogegen sie kämpfen könnte. Deshalb möchte ich Thoreaus Worte umformulieren und behaupten, dass sich die Welt in der Wildnis nicht nur bewahrt, sondern auch offenbart. Wir glauben oft, die Welt sei von etwas oder jemandem – nennen wir es Gott – erschaffen worden, das nun darüber 80
herrscht. Wenn wir einer solchen Vorstellung anhängen, sprechen wir bald von diesem Wesen, als besäße es bestimmte Eigenschaften – als habe es Wünsche und Sehnsüchte – wie wir. Wir sprechen vom »Willen Gottes«. Früher oder später entwickeln wir die Vorstellung, der Mensch sollte sich dem Willen Gottes fügen. Doch wenn wir ganz genau hinsehen, stellen wir fest, dass wir dabei unsere Vorstellungen von Gott – also unseren Willen – auf die absichtslose Natur, auf die Wirklichkeit übertragen. Wenn wir glauben, »dort draußen« gäbe es einen Gott – oder ein anderes übergreifendes Prinzip –, sollten wir uns klar machen, dass wir lediglich unsere eigenen Ansichten, unser eigenes engstirniges Denken auf die Welt und auf andere projizieren. Die Absicht und der Wille, die in uns aufsteigen und allzu oft unseren Geist beherrschen und uns den Grund dafür liefern, dieses zu tun und jenes zu lassen, entstehen dadurch, dass wir in unserem kümmerlichen Ego gefangen sind und die Wirklichkeit des Ganzen verleugnen. Wir glauben, vom Ganzen – und von allem anderen »dort draußen« – getrennt und ihm fern zu sein. Deshalb fühlen wir uns genötigt, unsere Situation zu verändern, was unsere Unzufriedenheit nur noch steigert. Wir haben das Gefühl, dieses heiß geliebte Etwas, das wir »Ich« nennen, beschützen zu müssen. Und wir wollen diesem Ich Freude machen. So kommt es, dass wir von Zuneigung und Abneigung erfüllt sind. Das ist Verblendung. Das ist die Haltung, die unser Geist am häufigsten einnimmt. Wir erkennen nicht, dass wir den Weg aus diesem Elend finden können, indem wir einfach sehen – und nicht, indem wir etwas »dort draußen« in Ordnung bringen. Wenn wir erwachten und sähen, wäre dieses Sehen der erleuchtete Geist. Wir sollten freilich nicht glauben, einen erleuchteten Geist haben und zugleich eine getrennte Identität behalten zu können. 81
Genau genommen haben nicht wir den erleuchteten Geist, sondern er hat uns. Sogar in diesem Augenblick besitzt er einen jeden von uns. Er besitzt bereits all das, was wir sehen, hören, fühlen und denken. Er ist der Geist des Ganzen, der Geist der Wirklichkeit. Nichts befindet sich außerhalb dieses Geistes. Deshalb neigt er sich auch nicht wie der von Zuneigung und Abneigung erfüllte individuelle Geist einer Sache zu oder von ihr fort. Er will auch nichts Bestimmtes erreichen. Im Gegensatz zu unseren aus Egoismus entstandenen Gottesvorstellungen besitzt der Geist des Ganzen – also die Wirklichkeit – keinen Willen. Wenn in dieser Welt der Unterschiede und der Trennung Dinge auf dich zukommen, die der normale menschliche Geist für bedrohlich oder unangenehm hält, sieh wie Hakuin einfach, dass es nichts gibt, wonach du streben oder wovor du zurückschrecken müsstest. Im Grunde riet Ju-ching Dogen, sich aus der von Absicht geprägten Welt zurückzuziehen, von der wir ganz und gar umgeben sind. Wenn wir das nicht tun, verfangen wir uns in unserem kleingeistigen Denken – unseren Vorlieben, unseren Abneigungen, unseren Sorgen, unseren Vorurteilen – und grübeln unermüdlich über all das nach, was uns missfällt oder was wir glauben, haben zu müssen. Je mehr wir uns aus dieser selbstgebastelten Welt der Zu- und Abneigungen zurückziehen, desto leichter fällt es uns zu sehen, wie wir uns im Kreisen unserer Gedanken verfangen. Dann erkennen wir, dass es im Zen darum geht, das Leben zu vereinfachen, sich nicht von diesem täuschen oder von jenem erschüttern zu lassen. Dann können wir sehen, dass wir uns nicht in der Welt »dort draußen«, sondern in unserem eigenen Geist verfangen – in unseren eigenen Meinungen, Mutmaßungen und Empfindungen. Vielleicht glauben wir, die Welt in einer künstlich erzeugten 82
Umgebung leichter als Illusion erkennen zu können. Doch ganz im Gegenteil. In der künstlichen, von Menschenhand erschaffenen städtischen Umgebung vergessen wir die Welt gemeinhin gleich ganz und gar. Wir vergessen, dass dieser Augenblick die Wirklichkeit ist. Wir verfangen uns in Dingen und Gedanken und Problemen. Unser Geist wird geschäftig, zielstrebig, berechnend, und er arbeitet unermüdlich daran, ein illusorisches Selbst zu verteidigen und zu erfreuen. Doch wenn wir uns aus dem Karussell dieses Lebens, in dem es nur darum geht, Geld zu verdienen und auszugeben, in eine natürliche, absichtslose Umgebung zurückziehen – wenn wir einfach ruhig in einem Kanu auf dem stillen Wasser sitzen und das blasse Licht über Bäumen und Felsen flimmern sehen –, fällt es uns viel leichter zu erkennen, dass alles Illusion ist. Mit Illusion meine ich nicht, dass das Kanu, das Wasser, die Bäume und die Felsen gar nicht echt sind. Sie sind nur nicht auf die Art echt, wie wir glauben – als eigenständige, dauerhafte, aus dem Ganzen herausgelöste, voneinander und von uns getrennte Wesenheiten. Wir denken vielleicht: »Aber die Natur ist doch wirklich, nur unser künstliches Umfeld ist Illusion. Das haben wir schließlich selbst geschaffen. Das haben wir uns ausgedacht.« Doch das ist es nicht, was es zur Illusion macht. Es war bereits eine Illusion, bevor wir versuchten, diese Illusion zu kontrollieren. Und wenn wir uns erst einmal an die Arbeit gemacht und angefangen haben, die Dinge zu manipulieren, fällt es uns noch schwerer zu sehen, dass die Welt in Wirklichkeit eine Illusion ist, weil wir uns so leicht in unserer eigenen Schöpfung verlieren. Natürlich ist die Wirklichkeit immer dieselbe – ob wir nun versuchen, sie in den Griff zu kriegen und zu kontrollieren, oder sie einfach sehen. Sie ist immer Teil des Ganzen, der Natur. Die Illusion ist weder schlecht noch falsch oder böse. Wir 83
müssen uns nicht davon oder von der Welt befreien. Das ist nicht das Ziel der Zenpraxis. Ihr Ziel ist es, endlich zu erkennen, inwiefern die Welt illusorisch ist. Das ist sehr viel leichter in einer Umgebung oder mit einer Geisteshaltung möglich, die uns nicht unaufhörlich ablenkt und vor irgendeinen Karren spannt. Wenn wir Zen üben, konzentrieren wir uns nicht auf das, was »dort draußen« vor sich geht, denn wir wollen nichts erreichen oder unsere Lebensumstände in Ordnung bringen oder etwas klären. Wir konzentrieren uns nur auf unseren Geist. Beobachte, wie dich unablässig dieses oder jenes oder wieder etwas anderes auf immer neue und raffinierte Weise abzulenken versucht. Beobachte, was dieser Augenblick ist und wie er entsteht. Beobachte, wie du durch deine eigene Unachtsamkeit verhinderst, dass du siehst, was wirklich vor sich geht. Erkenne, dass das Erwachen, dein natürlicher Lebensraum, klar und offensichtlich ist.
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15. Befreiung, nicht Resignation
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er Buddha sagte, er lehre lediglich zwei Dinge: Duhkha, was man als Wandel, Kummer, Verlust, Leiden, Qual oder Verwirrung übersetzen kann, und die Befreiung von Duhkha. Solange wir uns an unser geliebtes Selbst klammern, wird Duhkha uns begleiten. Wenn wir genau hinsehen, können wir sehen, dass sogar das Vergnügen Duhkha ist, denn wenn sich die Dinge ändern, leiden wir unter dem Verlust (und der Angst vor dem Verlust) des Vergnügens. Im Grunde genommen ist Duhkha das menschliche Leben mit all seinen Fesseln. Buddha zeigte uns unsere Fesseln und wies uns einen Weg in die Freiheit. Diese Freiheit finden wir, indem wir erkennen, dass wir uns selbst aus Unwissenheit in unserem Denken fesseln. Buddhas Lehren zeigen uns deutlich, wie wir uns in tausend Dingen, Situationen und Beziehungen verfangen und verstricken. Dadurch können diese Lehren uns helfen, einen großen Teil des Leidens zu vermeiden – unter anderem auch das beunruhigende Gefühl, dass wir im Grunde nicht die leiseste Ahnung haben, was vor sich geht. Doch Buddha beließ es nicht dabei. Er zeigte uns sogar, wie wir uns auch davon – von Befreiung und Erleuchtung – befreien können. Wir sind, was die Freiheit angeht, sehr verwirrt. Wir werfen mit allerlei Vorstellungen um uns, die wir uns von der Freiheit gemacht haben, doch im Grunde fesseln uns all diese Vorstellungen, denn es sind nur Ideen, durch die wir die Wirklichkeit ersetzten. Deshalb fällt es uns schwer, wahre Freiheit zu kosten, denn je mehr wir darüber nachdenken und je mehr wir ihr nachjagen und versuchen, sie zu erlangen, desto gründlicher 85
vereiteln wir unsere Bemühungen und desto tiefer verstricken wir uns in unseren Fesseln. Der Versuch, Freiheit zu erlangen, hält unsere Verwirrung und unser Leiden nur aufrecht. Manche Menschen glauben, Buddha habe gesagt, wir sollten einfach aufgeben und die Widrigkeiten des Lebens akzeptieren. Sie denken, im Grunde laute seine Botschaft an die Menschen: »Hört mal, lasst euch davon nicht stören. Das menschliche Leben ist nun mal schwierig und verdrießlich. Ihr könnt nur das Beste daraus machen.« In Wirklichkeit sagte Buddha nichts dergleichen. Er räumte ein, dass die Menschen ihn oft missverständen und seine Worte falsch auslegten, und sagte sogar: »Was ich als Befreiung bezeichne, bezeichnet die Welt als Resignation.« Zudem glauben manche Menschen, darunter auch Buddhisten, der Buddhismus könne uns bestenfalls inneren Frieden schenken. Sie wollen sagen können: »Ich habe Frieden gefunden.« Doch als Buddha von Befreiung sprach, meinte er damit keine derart arme und begrenzte Erfahrung. Buddha lehrte echte Befreiung, wirkliche geistige Freiheit. Er zeigte uns, wie wir unabhängig von den Umständen frei sein können – nicht nur resigniert oder in Frieden. Wenn wir nicht sehen, wird alles, was wir anfangen, zur Fessel, sogar Buddhas Lehre. Diese Fessel befindet sich in unserem Geist. Folglich finden wir auch wahre Freiheit nur in unserem Geist – in unserem Verständnis und unserer Fähigkeit, einfach zu sehen. Diese Freiheit, dieses Sehen, verlangt keine Opfer. Das, was uns so teuer ist – wovon wir fürchten, dass von uns verlangt werden könnte, es aufzugeben –, bringt uns nur deshalb Schmerz, weil wir daran festhalten. Wenn wir genau hinsehen, entdecken wir, dass wir nichts dabei gewinnen, wenn wir daran festhalten. 86
Was können wir schon festhalten? Nichts. Weder unseren Besitz noch unsere Gedanken, unsere Gefühle, unsere Erinnerungen, unseren Geist, unser Leben oder die Menschen, die wir lieben. Nichts hat Bestand. Alles verändert sich. Deshalb müssen wir der Freiheit nichts opfern, denn das, was wir fürchten aufgeben zu müssen, hat uns nie gehört. Wir dachten es nur. Nur wenn wir glauben, die Dinge, nach denen wir streben und an die wir uns klammern, könnten uns befriedigen – wenn wir glauben, wir könnten uns ihrer tatsächlich bemächtigen und irgendwie könnten sie die tiefe Sehnsucht unseres Herzens stillen –, nur dann erzittern wir bei dem Gedanken, dass alles vergeht – sogar unser geliebtes Selbst. Und es wird vergehen – allerdings nicht, weil wir es aufgeben müssen. Es vergeht so oder so. Wenn wir gar nicht erst versuchen, irgendetwas festzuhalten, werden wir die Befreiung sehen, von der Buddha sprach. Die Befreiung besteht darin, dass wir unsere wahre Situation eindeutig erkennen. Dabei geht es niemals darum, etwas aufgeben zu müssen, das uns gehört. Schon der Gedanke ist völlig aus der Luft gegriffen, und diese Angst beruht auf Verblendung. Wie können wir etwas aufgeben, das uns nie gehört hat (und von dem wir nur dachten, es hätte uns gehört)? Wir müssen lediglich sehen, was in jedem beliebigen Augenblick tatsächlich vor sich geht. Dann werden sich die Dinge als die Eintagsfliegen entpuppen, die sie schon immer waren. Nichts geht dabei verloren. Wenn der eine oder andere Teil dieser Lehre ein wenig bedrohlich klingt, liegt das nur daran, dass wir noch immer an der Vorstellung vom Selbst und dem Anderen festhalten. Die Wahrheit ist, dass alles schon immer so war, und wenn wir diesen Weg weitergehen wollen, gibt es nichts, was wir fürchten, aufgeben oder wegwerfen müssten. Wenn wir aber 87
sehen, verschwindet vieles von alleine, und ohne dass es uns fehlt. Es ist wie mit der Angst vor dem schwarzen Mann. Solange wir ihn fürchten, obwohl es ihn gar nicht gibt, müssen wir ihn in Schach halten. Möglicherweise nageln wir jeden Abend die Tür zu. Oder wir sagen Zaubersprüche und Gebete auf, damit er uns in Ruhe lässt. Oder wir lassen das Licht an und bleiben wach, für den Fall, dass er kommt. Irgendwann gewöhnen wir uns an diese Vorsichtsmaßnahmen, denn schließlich haben sie immer funktioniert. Der schwarze Mann ist nie gekommen. Allein die Vorstellung, welche Schrecken uns widerfahren könnten, wenn wir einen Fehler machten oder sie gar vergäßen! Außerdem haben wir uns daran gewöhnt, ihn in Schach halten zu müssen. Wieso sollten wir etwas riskieren? Der Gedanke, nichts gegen den schwarzen Mann zu unternehmen, versetzt uns in Angst und Schrecken. Wenn jemand käme und unsere Rituale unterbinden, die Nägel aus der Tür ziehen und sie weit öffnen würde, würden wir ihn für verrückt oder zumindest für sehr mächtig und tapfer halten. Natürlich ist er weder das eine noch das andere. Davon könnten wir uns selbst überzeugen, wenn die Tür nachts erst einmal geöffnet würde. Mit einem Mal würden wir sehen, dass wir dem Wunsch und dem heftigen Verlangen nach Sicherheit erlegen sind, dass wir von Angst und Kummer gefesselt waren – und dass wir all das selbst erschaffen hatten. Wir würden sehen, dass uns die völlige Befreiung keine Opfer abverlangt. All die Mühe, der ständige Kampf, um den schwarzen Mann in Schach zu halten – was wir zuvor für unerlässlich gehalten hatten –, ist nun gänzlich verschwunden. Befreiung ist auch nicht bloße Akzeptanz. Hinsichtlich der Wirklichkeit haben wir keine Wahl. Wir stecken bereits mittendrin. Wir können nicht einfach sagen: »Also gut, ich akzeptiere die Wirklichkeit.« Wirklichkeit ist 88
Wirklichkeit, ob wir sie annehmen oder nicht, wir haben sie am Hals. Wir können uns natürlich mit Händen und Füßen wehren, doch wozu? Buddhas Lehre ist sehr viel subtiler und tiefgründiger als bloße Akzeptanz. Akzeptanz kann es nur geben, wenn wir uns für ein getrenntes, abgeschnittenes, isoliertes Selbst halten. Sowohl Akzeptanz als auch Resignation gibt es nur in der Welt des Ego, in der wir an Vorstellungen von Trennung und Isolation gebunden sind. Wenn wir aber sehen, was tatsächlich vor sich geht – dass die Bestandteile unserer unmittelbaren Erfahrung etwas mit uns selbst zu tun haben, mit uns verbunden sind –, erkennen wir, dass es nichts gibt, was wir annehmen oder in das wir uns fügen müssten. Es gibt nicht einmal ein »Ich«, das etwas annehmen oder sich fügen könnte. Befreiung – das, was genau hier, genau jetzt geschieht – geht über jede Vorstellung von Akzeptanz oder Resignation weit hinaus. Genau genommen wird uns in der Befreiung klar, dass es weder eine einzelne Person gibt, die befreit werden müsste, noch etwas, wovon sie befreit werden müsste. Wenn wir das sehen, sind wir frei.
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16. Gast und Gastgeber
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m Grunde bedeutet Zen die Erkenntnis der Freiheit. Mag sein, dass wir uns für frei halten, doch die meisten Menschen sind gefangen – in ihren Ideen, Überzeugungen, Vorstellungen und Begriffen. Diese Form von Gefangenschaft ist sehr viel wirksamer und schädlicher, als wenn wir hinter eisernen Gittern säßen. Dabei sperrt uns niemand ein – wir tun es selbst. Oft nähern wir Menschen uns dem Zen auf eine Art und Weise, die uns nur noch stärker bindet. Wir suchen Zuflucht in der Zenpraxis, weil wir den brennenden Wunsch nach Freiheit verspüren, und haben viele Vorstellungen von Freiheit im Kopf. Dann flehen wir unseren Lehrer an, er möge uns lehren, frei zu sein. Doch die Freiheit, von der im Zen die Rede ist, lässt sich nicht erlangen, verdienen, erreichen oder besitzen. Genau genommen kann man die Freiheit des Zen nicht einmal erfolgreich suchen. Das liegt daran, dass wir bereits frei sind und dass wir es von Anfang an waren. Wir erkennen es nur nicht, weil wir uns auf unzählige verschiedene Arten in Ketten legen. Wir legen uns nicht nur intellektuell, sondern auch emotional Fesseln an. Der Dichter Basho brachte diese Art von Fesseln in einem Haiku zum Ausdruck. Als er den Ruf des Hototogisu, einer für ihren leisen, wehmütigen Ruf bekannte Kuckucksart vernahm, schrieb Basho: In Kioto bin ich, Doch beim Schrei des Kuckucks Sehn ich mich nach Kioto Da ist Basho nun in der schönen Stadt Kioto. Er hört den Ruf des Kuckucks, und mit einem Mal steigt eine tiefe Sehnsucht in 90
seinem Herzen auf. Er sehnt sich nach Kioto – nach seiner Vorstellung von Kioto –, obwohl er in Kioto ist. Jeder von uns kennt dieses Gefühl. Ich empfinde es manchmal, wenn ich nachts im Boundary-Waters-Canoe-Sperrgebiet in meinem Zelt liege. Ich liebe diesen Ort und fahre seit vielen Jahren regelmäßig einmal im Jahr dorthin. Beim wehmütigen Ruf des Eistauchers füllt sich mein Herz mit tiefer Sehnsucht nach den Boundary Waters. Dabei bin ich bereits dort. Andererseits ist diese Sehnsucht, die Basho verspürt (und die auch ich kenne), sehr schön. Es ist eine Form von Freude, und ist dennoch Leid und Verblendung. Wie können wir also ein Leben führen, das frei von Verblendung ist? Wir können es nicht. Es ist unmöglich. Je fester wir daran glauben, dass es das Selbst und das Andere gibt, desto tiefer tauchen wir ein in ein Meer der Verblendung. Im Zen gibt es einen Fachausdruck dafür. Wir nennen es »trübes Wasser«. Aber Verblendung ist weder falsch noch schlecht. Eigentlich geht es im Zen nicht darum, sich von der Verblendung zu befreien. Die Verblendung verschwindet nicht. Trübes Wasser bleibt trübes Wasser. Wenn wir versuchen, uns von der Verblendung zu befreien, wirbeln wir nur noch mehr Schlamm auf. Buddhas befreien sich nicht von der Verblendung. Sie sehen sie einfach als das, was sie ist, und fallen nicht darauf herein. Wir denken, wir müssten gegen die Verblendung ankämpfen, um ein erleuchtetes Leben führen zu können. Oder wir glauben, mit der Erleuchtung für immer frei von Verblendung zu sein. Doch das ist eine noch größere Verblendung. Wir können die Erleuchtung nicht erlangen. Wir haben sie bereits. Genauer gesagt, wir sind bereits in ihr. Wir sind bereits ein Teil von ihr. Nichts kann uns von ihr trennen. Wenn wir das sehen, sind wir frei. 91
Von Linji (japanisch Rinzai), einem der großen chinesischen Zenlehrer des neunten Jahrhunderts, stammt folgende kleine Geschichte: Ein Schüler tritt angejocht und angekettet, also vollgestopft mit Dogmen, Ansichten, Behauptungen und anderen Problemen vor den Lehrer. Der Lehrer, selbst ein dogmatischer Priester, legt prompt seinerseits nun auch noch Joch und Ketten dazu. Der Schüler freut sich darüber. Weder der Schüler noch der Lehrer sind fähig zur Einsicht in die Wirklichkeit. Das heißt, der Gast durchschaut den Gast. Gefangen in den Ketten unserer Vorstellungen und Ideen gehen viele von uns zu Zenlehrern und erwarten, dass sie uns noch mehr Vorstellungen und Ideen präsentieren. Deshalb sind wir entzückt, wenn wir einen Lehrer finden, der uns Lehren erteilt, und bedanken uns aufrichtig bei ihm. Doch damit versuchen wir nur wieder, etwas festzuhalten – wie wir es gewohnt sind. Für Zenlehrer, die verwirrende und scheinbar kryptische Bemerkungen machen, die wir nicht verstehen, haben wir nicht viel übrig. Wie viel angenehmer ist es da, wenn sie uns etwas geben, das wir fassen können, in das wir unsere Zähne schlagen können, das wir mit uns tragen, mit dem wir uns identifizieren und das wir unser Eigen nennen können. In unserer Verblendung glauben wir, das Erwachen und das Setzen dieses Augenblicks sei lediglich ein weiterer Punkt auf unserer Aufgabenliste, der zu erledigen und abzuhaken ist. Deshalb versuchen wir, eine immer genauere Vorstellung von der Wirklichkeit zu bekommen – statt völlig Abstand vom Denken zu nehmen. Zen lehrt uns etwas sehr Grundlegendes über diesen Augenblick. Was wir in diesem Augenblick sehen, hat die Macht, uns zu befreien, obwohl wir es nicht ergreifen, nicht festhalten, 92
uns nicht einmal eine Vorstellung davon machen können. Wenn du das Gefühl hast, dass Zen dir etwas gibt, ist es wie immer. Dann ist es Gefangenschaft, nicht Freiheit. Es gibt nichts, was du bekommen könntest. Du legst dir nur noch eine Kette um, eignest dir noch etwas an, das dich fesselt, dich weiter unzufrieden sein und nach der nächsten tollen Sache Ausschau halten lässt. Das war schon immer so, das ist nichts Neues. Diese Kette ist wie all die anderen Ketten, die du trägst. Sie sieht nur anders aus, besteht aus einem anderen Material, hat ein anderes Gewicht und eine andere Farbe. Nach und nach wirst du ihrer überdrüssig werden wie all der anderen auch. Was die Erleuchtung angeht, gibt es nichts zu verstehen. Sie ist kein Modell, das die Wirklichkeit erklären soll, was also gäbe es zu verstehen? Außerdem ist es Verblendung – Dinge verstehen zu wollen, alles in Begriffe zu packen. Zen oder Meditation bedeutet einfach, immer wieder in diesen Augenblick zurückzukehren, in der Gegenwart zu leben und zu erkennen, wann wir Selbstgespräche führen, wann wir uns Geschichten erzählen, mit denen wir alles erklären wollen. Zen wird dir nie etwas sagen. Wenn es dir etwas sagt, dann nur, weil du dir das ausdenkst. Wenn du dir sagst: »Das war aber eine gute Meditation. Heute war ich wirklich ganz tief drin«, dann ist das Unsinn, pure Verblendung. Und wenn du denkst: »Ach, meine Meditation war voll daneben, mein Geist war wirklich unruhig«, dann ist das ebenfalls Verblendung. Oder wenn du das Meditieren mit den Worten rechtfertigst: »Mein Tag läuft viel besser, wenn ich ihn mit einer Meditation beginne« – alles Verblendung. Ich habe meinen Lehrer kein einziges Mal so etwas sagen hören. Das sind nur unsere Gedanken, die unermüdlich kreisen und uns etwas vorplappern. Linji sagte dazu: »Das heißt, der Gast durchschaut den Gast.« Mit anderen Worten, wir achten nicht auf das, was wir unmittelbar erleben, sondern auf das, was wir darüber denken. 93
Dabei lassen wir das außer Acht, was im Zen als der Gastgeber bezeichnet wird – das tatsächliche Erleben dieses Augenblicks. Wir lassen außer Acht, dass kein Unterschied zwischen uns und der Wirklichkeit besteht. Die Wahrheit spricht unmittelbar und ohne Worte zu uns. Wir sind bereits erleuchtet, wir sind bereits Teil der Erleuchtung, aber wir sehen es nicht. Stattdessen glauben wir weiterhin, ein eigenständiges, klar umrissenes Etwas – mit einem Namen und einer Identität – zu sein. Wenn wir derartige Gedanken einfach durch uns hindurchziehen ließen, würden wir erkennen, dass wir bereits der »Gastgeber im Gastgeber« sind, wie es bei Linji heißt, und die Frage nach Gefangenschaft und Freiheit würde sich nicht mehr stellen.
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17. Bevor Ideen keimen
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er alte chinesische Zenlehrer Foyan stellte fest: »Ein Zenschüler bist du erst, wenn du siehst, bevor sich Zeichen zeigen, bevor du ins Denken verfällst, bevor Ideen keimen.« Was soll das heißen, sehen, bevor sich Zeichen zeigen? Und was genau sind diese Zeichen? Es sind die Eigenschaften, anhand deren wir die Dinge identifizieren – vor allem, wenn wir diesen Eigenschaften Bedeutung beimessen. Es sind die Konzepte, Begriffe, Vorstellungen und Werte, die wir den Dingen zuschreiben und die sie in unserem Geist lebendig werden lassen. Hitze ist eine Eigenschaft des Feuers, ebenso wie Licht und Rauch. Doch ein Zeichen ist mehr. Zeichen haben für uns Bedeutung. In Wirklichkeit aber sind Zeichen eine Form von Verblendung. Wir glauben, sie zeigten uns die Wirklichkeit, dabei sind sie nur Schöpfungen unseres Geistes. Folglich sind die vielen Zeichen, die wir sehen, nur unsere Gedanken. Wir erzählen nach, was wir unmittelbar erfahren, und packen es in Begriffe. Wir können die Wirklichkeit gar nicht anhand von Zeichen erfahren. Wirklichkeit ist, was passiert, bevor wir zu denken beginnen, bevor wir uns Vorstellungen machen, bevor wir Erklärungen finden. Wirklichkeit ereignet sich, bevor sich in unserem Geist einzelne, voneinander abgetrennte Objekte herausbilden. Foyan sagte auch: »Die Zenpraxis verlangt, dass man nicht an Gedanken haftet.« Damit fordert uns Foyan nicht auf, das Denken einzustellen. Er drängt uns vielmehr, unsere Gedanken nicht für die Wirklichkeit zu halten. Statt uns in ihnen zu verfangen, können wir einfach aufhören, ihnen irgendeine 95
Substanz zuzuschreiben. Foyans Worte erinnern an das Diamant-Sutra, in dem es heißt, man könne den Buddha nicht an irgendwelchen Merkmalen oder Anzeichen erkennen. Tathagata, das Wort, mit dem Buddha im Diamant-Sutra bezeichnet wird, ist ein zusammengesetztes Wort aus dem Sanskrit und bedeutet »der So-Gegangene« – und das soll heißen: der auf eine Art und Weise kommt und geht, dass nichts wirklich kommt oder geht. In dieser Bedeutung ist Tathagata eine Metapher für die Wirklichkeit – für unmittelbare, direkte Erfahrung. Tathagata beschreibt, wie die Dinge sind, nämlich nichts Besonderes, denn alles ist ein ständiger, vollkommener Fluss. Es verweist auf die tatsächliche Erfahrung, auf das, was man wahrnimmt, bevor im Geist Ideen keimen, bevor wir zu denken beginnen, bevor sich Zeichen zeigen. In diesem Augenblick besteht unsere Aufgabe darin, unsere Aufmerksamkeit auf dies hier zu richten – auf das, was tatsächlich vor sich geht, bevor wir etwas daraus machen. Sie besteht darin zu erkennen, dass der Geist unaufhörlich flüchtige Welten herbeizaubert und dass diese Welten wie Rauch oder Nebel verflögen, wenn wir nur genau hinsähen – und erwachten. Leider gestatten es die meisten Menschen ihren geschätzten Gedanken – ihren Überzeugungen, ihren Abneigungen und Vorlieben, ihren Meinungen und Berechnungen, ihrer Besessenheit, ihrer Freude und ihrem Leid – nicht, sich aufzulösen. Weil sie so verbissen daran festhalten, erkennen sie nicht einmal, dass es möglich ist. Sie begreifen nicht, dass es nur Gedanken sind. Ohne es zu merken, klammern wir uns am stärksten an das, was uns am meisten Kummer und Schmerz bereitet. Gleichzeitig lehnen wir die Freiheit ab, weil wir fürchten, uns könne dabei irgendwie etwas Wertvolles verloren gehen. »Die Zenpraxis verlangt, dass man nicht an Gedanken haftet.« Wir haften nur dann nicht an Gedanken, wenn wir erkennen, dass die Gegenstände unseres Denkens nicht wirklich sind – 96
dass sie wenig mehr sind als die Gegenstände eines Traums. Foyan erinnert uns daran, dass die von uns ersonnenen Gedanken und Zeichen nichts mit der Wirklichkeit zu tun haben. Es sind lediglich Modelle der Welt, und sie können die Wirklichkeit nicht ersetzen. Deshalb weist er darauf hin, dass gerade die Gegenstände unseres Geistes, einschließlich des Gefühls, es gebe ein Selbst und »eine Welt dort draußen«, nicht wirklich sind. Dies ist ein weitere Möglichkeit, Buddhas Anatman-Lehre darzulegen – die Lehre von der Ichlosigkeit aller Dinge. Wir müssen dies sehen. Es lässt sich nur unmittelbar sehen nicht erklären oder begreifen –, weil es nicht nur eine Idee, sondern eine tatsächliche Erfahrung ist. Im Zen geht es wie auch in anderen Richtungen des Buddhismus um Achtsamkeit. Wir müssen sehen, was tatsächlich vor sich geht, statt uns auf unser Denken zu konzentrieren. Die tatsächliche Erfahrung verwirrt nicht. Wir brauchen uns von unseren Empfindungen, unseren Gedanken und Vorlieben nicht erschüttern zu lassen. Wir können denken und fühlen – und tun es auch –, müssen uns aber von unseren Gedanken und Gefühlen weder beherrschen noch zugrunde richten lassen. Zen bedeutet, sich auf diesen Augenblick zu konzentrieren, ihn zu sehen, wie er ist, als nichts Besonderes, nichts Greifbares. Ablenkung lässt sich am leichtesten dadurch feststellen, dass man beobachtet, ob der eigene Geist sich neigt – ob er sich Ersehntem zu- oder von Unerwünschtem abneigt. Wie hindert man den Geist daran, sich Dingen zu- oder von ihnen abzuneigen? Gewiss nicht dadurch, dass man sich darauf konzentriert, ihn gerade zu richten. Das wäre, als wollte man verhindern, dass man an einen Elefanten denkt. Das ist nicht möglich, denn man muss ja an einen Elefanten denken, um sicher zu sein, dass man nicht daran denkt. Man kann den eigenen Geist nicht mit Willenskraft dazu zwingen, sich gerade 97
zu richten. Denn sobald wir uns der Willenskraft bedienen, neigt sich unser Geist. Stattdessen genügt es festzustellen, dass unser Geist sich neigt. Wenn wir uns seiner Neigung bewusst werden, richtet er sich von selbst wieder auf. Wenn wir uns in Zeichen verfangen, ins Denken verfallen, hinter Ideen herjagen, sobald sie keimen, dann neigt sich unser Geist. Wenn er sich wieder aufrichtet, verschwinden diese Symptome von alleine, und übrig bleibt, was schon immer hier war: Wirklichkeit. Es ist lediglich eine Frage des Sehens.
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18. Wahre Freiheit
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ing-an, ebenfalls ein chinesischer Zenlehrer aus alter Zeit, sagte zu seinen Schülern: »Beim Hindurchgehen kann euch niemand festhalten, niemand zurückrufen.« Diese Worte könnten zu der Vorstellung verleiten, im Zen gäbe es eine Art Barriere, ein Ziel, eine Schwelle, die man erreichen und überschreiten müsse. Und wenn man sie einmal überschritten habe, könne man die wunderbare, herrliche Freiheit der Erleuchtung sein Eigen nennen. Dann hätte man es geschafft, wäre glücklich und gelassen, unantastbar und unbesiegbar. Dann könnte einem niemand mehr sagen, was man zu tun habe, könne einen niemand zurückrufen. Dann wäre man wirklich frei. Wenn wir Ying-ans Worte so auslegen, missverstehen wir ihn und sind meilenweit von der Wahrheit entfernt. Das Missverständnis entsteht durch unsere übliche, ichbezogene Betrachtungsweise, und Ying-an möchte uns helfen, uns eben davon zu lösen. Was die Freiheit angeht, sind wir sehr verwirrt. Wir glauben, Freiheit bedeute ungefähr: »Ich kann tun, was ich will. Niemand kann mir sagen, was ich zu tun habe. Nichts schränkt mich ein. Es liegt ganz und gar bei mir.« Allerdings sollte uns schon der pubertäre Anklang solcher Sätze stutzig machen. Ich habe einmal einen Fernsehbericht gesehen, in dem mehrere Teenager zum Verkauf von Tabak an Jugendliche befragt wurden. Ein Reporter fragte eine Gruppe junger Leute: »Raucht ihr, weil eure Eltern etwas dagegen haben?« Viele von ihnen bejahten die Frage, und einer fügte hinzu: »Wenn sie uns sagen, dass wir etwas nicht machen sollen, dann machen wir es erst recht.« 99
Viele Menschen haben auch als Erwachsene noch eine solche Vorstellung von Freiheit. Die bringen sie dann bezüglich der Religion, ihrer Karriere oder ihrer Bürgerpflichten zum Ausdruck. Aus dem buddhistischen Blickwinkel betrachtet ist die Aussage »Du hast mir nicht zu sagen, was ich zu tun habe« freilich ein Ausdruck von Gefangenschaft, nicht Freiheit. Weil Buddha sagte: »Was ich als Befreiung bezeichne, bezeichnet die Welt als Resignation«, glaubt so mancher, im Buddhismus ginge es darum, auf- oder nachzugeben – als rieten uns die Lehren, anderen als Abtreter zu dienen, statt uns zu erheben und der Wirklichkeit ins Auge zu sehen. Wer dieser Täuschung erliegt, sagt vielleicht: »Dort draußen gibt es gewaltige Kräfte. Hör auf, dagegen anzukämpfen. Gib einfach auf, dann werden dir Erleuchtung und Freiheit zuteil.« Das hat nicht das Geringste mit dem zu tun, was Buddha als Befreiung bezeichnete. Ein solches Denken ist die Gefangenschaft selbst. Es ist immer noch Ausdruck unserer normalen, ichbezogenen Geisteshaltung. Buddhas Botschaft klingt für uns wie Resignation, weil wir immer noch glauben, es gäbe ein Selbst, das »hier«, und etwas anderes, das »dort draußen« sei. Buddha aber zeigte uns, dass es »dort draußen« keine von uns getrennte Welt gibt. Das heißt, eine Trennung zwischen uns und allem anderen lässt sich schlicht und einfach nicht feststellen. Befreiung erlangen wir nicht dadurch, dass wir uns den Regeln des Universums fügen, sondern indem wir sehen, dass es weder einen abgetrennten Menschen gibt, der sich fügen müsste, noch ein übermächtiges Universum, dem er sich fügen müsste. Buddha spricht von der Erfahrung, die du jetzt, in diesem Augenblick, machst. Wenn du sie jetzt gleich einmal betrachtest, wirst du sehen, dass sie unmittelbar und fortlaufend ist und sich nicht von dem »dort draußen« trennen lässt. Du siehst und hörst ein Auto vor deinem Fenster und denkst: 100
»Dort draußen auf der Straße fährt ein Auto.« Doch wo ist das Geräusch? Ist es »dort draußen« auf der Straße? In deinem Ohr? In deinem Kopf? Steckt es in der Schwingung der Luft zwischen dir »hier« und der Straße »dort draußen«? Wo ereignet sich all das? Die meisten Menschen denken: »Da ist etwas dort draußen, und ich bin hier drin. Mit dem, was dort draußen ist, habe ich nichts zu tun.« Eben weil wir so denken, erschüttert uns die Welt so sehr – genauer gesagt, erschüttern uns unsere Gedanken und Gefühle über die Welt so sehr. Sie legen uns Fesseln an und halten uns gefangen. Doch wenn wir unsere Erfahrungen eingehend betrachten, können wir erkennen, dass es kein »Wir« gibt, das von »dem dort draußen« getrennt ist. Dieses Sehen ist, was Ying-an als »Hindurchgehen« bezeichnet. Wenn Ying-an sagt: »Niemand kann euch festhalten, niemand zurückrufen«, bestätigt er nur, dass es nichts gibt, was aufgehalten oder zurückgerufen werden könnte. Das gab es nie und wird es nie geben. Ebenso wenig wie wir »dem Geräusch dort draußen« eindeutig einen Raum zuordnen können, ist je irgendwo etwas entstanden. Wenn wir unsere unmittelbare Erfahrung untersuchen, entdecken wir, dass sich nichts je festnageln lässt – auch nicht das, was wir für das eigene Selbst halten. Wenn wir diesen Augenblick einmal gesehen haben, wie er ist, verschwindet der Glaube an ein Universum, in dem es ein winziges, isoliertes »Ich« gibt, das alles »dort draußen« aus der Ferne betrachtet. Dann verschwindet das Bedürfnis, sich vor dem »dort draußen« zu schützen und sich dagegen zu wehren oder sich Gutes von ihm zu verschaffen oder dem »dort draußen« etwas zu entlocken. Das ist Befreiung, Erleuchtung, geistige Freiheit. Es ist das genaue Gegenteil von Resignation. Es ist das Verschwinden des 101
Wunsches, alles zu bekommen, was man möchte, oder zu tun und zu lassen, was einem gerade gefällt. Du bist schon jetzt in der Lage, die Wahrheit zu sehen. Diese Fähigkeit wird (und kann) dir niemand geben – weder ich noch dieses Buch noch Buddha oder irgendjemand oder irgendetwas sonst. Wie könnte man dir auch geben, was du bereits hast? Niemand kann dich festhalten, niemand kann dich zurückrufen. So wie niemand dich bindet, niemand dich blendet.
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19. Falsch verstandene Meditation
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enn wir anfangen, regelmäßig zu meditieren, glauben wir oft zu wissen, was Meditation ist. Das ist verständlich. Schließlich wurden wir in der Meditation unterwiesen, haben vielleicht sogar einen Kurs absolviert. Wir meditieren jeden Tag. Wieso sollten wir also nicht wissen, was Meditation ist? Normalerweise dauert es aber einige Zeit, bis wir wirklich wissen, was wir beim Meditieren tun. Ich selbst hatte beispielsweise seit vielen Jahren »meditiert« – zumindest hatte es nach außen hin den Anschein gehabt –, ehe ich allmählich verstand, was ich tat. Genau genommen wurde es mir erst dann allmählich klar, als ich einen guten Zenlehrer gefunden hatte. Anfangs sagte mein Lehrer Sachen über die Meditation, die mich aus der Fassung brachten. Er bezeichnete sie als unnütz und er wies mich darauf hin, dass sie mich nirgendwo hinbringen würde. Dennoch saß er jeden Tag da und meditierte, manchmal sogar stundenlang. Wenn er so etwas sagte, versuchte er auch nicht, besonders clever oder originell oder gar metaphorisch zu sein. Er meinte es absolut ehrlich und drückte sich äußerst präzise aus – er meinte das, was er sagte, sogar wörtlich, obwohl mir das erst einige Zeit später bewusst wurde. Eine der größten Fußangeln, die wir uns selbst bezüglich des Zen legen können, besteht darin, die Meditation als »Sitzen« zu bezeichnen. Das ist irreführend. Es erweckt den Eindruck, Meditation habe etwas mit Sitzen zu tun (und festigt diese Auffassung in unserem Geist). Das liegt zum Teil daran, dass das japanische Wort Zazen, mit dem wir die Meditation bezeichnen, wörtlich »Sitzmeditation« bedeutet. Zum Teil liegt es auch daran, dass Shikantaza, ein 103
weiteres japanisches Wort für die Meditation, gewöhnlich mit »nur sitzen« übersetzt wird. Dabei entgeht uns das Wesentliche, nämlich das Wörtchen »nur«. Nur abwaschen. Nur Basketball spielen. Nur Auto fahren. Nur sehen. Nur sitzen. All das ist echte Meditation. Das meine ich ganz wörtlich. Darin schwingen sogar die Worte des großen Zenlehrers Dogen mit, der über Zazen sagte: »Wie könntet ihr Zazen mit dem gewöhnlichen Sitzen oder Liegen vergleichen?« Meditieren kann man überall, und man braucht dazu kein Kissen. (In vielen Zenschulen ist es sogar üblich, dass die Schüler nicht nur im Sitzen, sondern auch bei der Arbeit, beim Gehen oder Essen meditieren.) Meditation bedeutet einfach, den Geist zu sammeln. Man kann den Geist beim Autofahren sammeln. Man kann den Geist in einem Gespräch mit dem Chef sammeln. Man kann den Geist sammeln, während man einen Apfelkuchen backt oder einen Brief schreibt. Es spielt keine Rolle, was wir tun. Wenn wir verstanden haben, was Meditation ist, kann sie rund um die Uhr auf alle Lebensbereiche angewendet werden. Nicht dass wir rund um die Uhr voll gegenwärtig sein könnten oder überhaupt sein sollten. Bislang ist mir noch niemand begegnet, der dazu in der Lage war. Ich bin es gewiss nicht. Doch darum geht es nicht. Es geht darum, die Aufmerksamkeit zurückzuholen, wenn wir merken, dass sie das Hier und Jetzt verlässt. Wenn dein Geist anfängt zu wandern, holst du ihn einfach zurück. Er ist schon wieder fort. Hol ihn einfach zurück. Das kannst du überall machen. Im Zen bezeichnen wir das als Meditationsübung, da es genau das ist: Wir üben die Einsgerichtetheit des Geistes, wir üben, immer wieder in diesen Augenblick zurückzukehren. Atemzug um Atemzug, Tag für Tag. Das ist nicht leicht. Die meiste Zeit über haben wir reichlich 104
Ablenkung in unserem Leben. Natürlich sind wir für einen großen Teil dieser Ablenkungen selbst verantwortlich. Wir versuchen sogar, es unseren Maschinen gleichzutun und mehrere Dinge auf einmal zu erledigen, in dem Glauben, es handle sich dabei um ein besonderes Verdienst. In Wirklichkeit zerstreut es den Geist. Meditation ist das genaue Gegenteil davon. Viele Leute messen der Zeit, die man mit formaler Sitzmeditation verbringt, auch die größte Bedeutung bei, doch das ist nicht ganz richtig. Die drei wichtigsten Punkte, die man im Auge behalten sollte, wenn man anfängt zu meditieren, sind vielmehr: Meditiere regelmäßig. Meditiere zusammen mit anderen. Enthalte dich jeglichen Urteils hinsichtlich der Qualität deiner Meditation. Es hat keinen Sinn, mit dem Meditieren anzufangen, wenn du nur ab und zu meditierst, sofern du gerade Lust dazu hast. Das ist, als wollte man Kartoffeln kochen, indem man sie in einen Topf voll Wasser gibt, auf den Herd stellt und die Herdplatte dann jede Stunde nur ein paar Sekunden lang voll aufdreht. Die regelmäßige formale Sitzmeditation ist unentbehrlich. Nur dadurch entwickeln wir die richtige Lebens- und Geisteshaltung, die wir dringend brauchen. Meditiere stets zur festgesetzten Zeit, unabhängig davon, was du gerade davon hältst, statt aus einer Laune heraus oder spontan zu meditieren. Wenn es Zeit für die formale Meditation ist, meditiere einfach, ob du nun willst oder nicht. Sofern irgend möglich, ist auch das gemeinsame Meditieren mit anderen sehr hilfreich, besonders wenn du das Meditieren beibehalten möchtest. Die anderen machen dir Mut, und du machst ihnen Mut. Wenn du gemeinsam mit anderen meditierst, hilft das auch zu verhindern, dass du in deine eigene geistige Welt abdriftest. 105
Schließlich kann man auch nicht präsent sein, wenn der Geist ständig urteilt. Beim Meditieren lernen wir allmählich, nur hier zu sein, ohne das Geschehen ständig zu kommentieren. (Was wir auch sagen würden, es wäre doch nur Ausdruck unserer Verblendung.) Zuerst lernen wir, unsere Meditation nicht mehr zu beurteilen. »O, das war aber eine konzentrierte Meditation!« Oder: »Immer mache ich es falsch. Ich kann das einfach nicht.« Indem wir lernen, nicht über uns zu urteilen, lernen wir auch, nicht über andere zu urteilen. Je mehr wir urteilen, desto schwerer fällt es uns, einfach zu sehen. Bei der formalen Sitzmeditation kommen wir immer mehr zur Ruhe, bis wir nur noch sitzen und atmen. Dieser Zustand hält natürlich nicht an. Früher oder später schleicht sich das Denken wieder ein, wie sehr wir uns auch bemühen. Das ist in Ordnung. Selbst wenn du ruhig dasitzt und nichts tust, wird dein Geist mit immer neuen Geschichten aufwarten. Kein Grund zur Beunruhigung. Das ist normal. Wichtig ist nur, dass du dich nicht in deinem Denken verfängst. Lass die Gedanken einfach ziehen. Was, wenn du sie einmal nicht loslassen kannst? Dann ist auch das in Ordnung. Die Gedanken werden von selbst weiterziehen – wenn du sie lässt. Irgendwann merken wir, dass wir nicht auf die Dinge reagieren müssen, auf die unser Geist sich stürzt. Wir lernen, dass wir nicht gezwungen sind, Leid und Unzufriedenheit zu erschaffen und aufrechtzuerhalten. Wir entdecken, dass wir wahre Freiheit sehen und erfahren können.
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20. Die Dinge umkehren
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eder von uns kennt das, wenn der Geist lauthals vor sich hin zetert. Jeder von uns schimpft im Stillen über das, was ihm nicht passt. Entweder wollen wir etwas und kriegen es nicht. Oder wir bekommen immer wieder etwas, das wir nicht wollen. Wir wollen nicht dieses, sondern jenes. Aber die Welt tischt uns immer nur dieses auf. Manchmal gelingt es uns in dieser Situation, unseren Geist irgendwie abzulenken, zu besänftigen oder gar zu erfreuen. Folglich verwenden wir sehr viel Zeit und Energie auf diesen Versuch. Weil es uns nicht gefällt, wenn unser Geist vor sich hin zetert, versuchen wir für gewöhnlich, die Welt zu verändern, in dem Glauben, wir würden uns dann besser fühlen. Wir denken und handeln, als könnten wir mit der richtigen Planung, der richtigen Strategie und dem richtigen Einsatz alles irgendwie ins Lot bringen oder doch zumindest zu einer zufrieden stellenden Regelung gelangen. Dann, so sagen wir uns, wird sich das Gezeter in unserem Kopf legen, und wir können endlich glücklich und in Frieden leben. Doch schon deshalb, weil wir mit anderen zusammenleben, läuft garantiert nicht immer alles nach unseren Vorstellungen. Früher oder später werden wir mit anderen und der Welt auf verschiedene Weise in Konflikt geraten. Die Unzufriedenheit wird sich immer wieder regen, was wir auch tun, zumindest solange wir unser Problem weiter »dort draußen« suchen. Gerade die Tatsache, dass Unzufriedenheit unvermeidlich ist, offenbart uns eine bemerkenswerte Erkenntnis: Nämlich dass nicht die Welt »dort draußen« unser Problem ist. Du kannst dich aufregen, so viel du willst, der Welt – der Natur – ist das egal. Die Natur schimpft und zetert nie. Sie macht einfach weiter – tischt mal dies, mal jenes auf. 107
Wenn wir Zen üben, lernen wir nicht nur, diesen unzufriedenen, lauten, zeternden Geist loszulassen. Wir lernen sogar, ihn zu vergessen. Uns nicht weiter darum zu kümmern, ob er noch da ist oder nicht. Ihn einfach loszulassen. Die Aufmerksamkeit von dem Durcheinander abzuziehen, das wir in unserem Geist anrichten, und sie auf das zu richten, was genau hier, genau jetzt in diesem Augenblick passiert. Wenn wir im Sitzen meditieren, passiert nicht allzu viel – schließlich beschränken wir uns weitgehend in unserem Tun, in unserem Sprechen und in dem Platz, den wir einnehmen. Deshalb können wir uns diesem Geist, der ständig von uns verlangt, dass wir ihm alles recht machen, nun frei und offen stellen und ihn betrachten. Wenn wir meditieren, kann sich jener Geist hervorwagen, der nicht ängstlich, wütend, unleidlich oder unzufrieden ist. Wenn andererseits Unzufriedenheit in deinem Geiste lauert, wird das ruhige Verharren in der Meditation sie deutlich hervortreten lassen. Das ist eine wundervolle Chance: Indem du dich dieser Unzufriedenheit zuwendest und dich ihr stellst, indem du sie betrachtest und siehst, was vor sich geht, kannst du deinen zeternden Geist loslassen. Betrachten wir unsere chronische Unzufriedenheit – unseren Wunsch, die Dinge mögen anders sein, als sie sind – einmal genauer. Wir leben in einer Kultur, in der man von uns erwartet, dass wir einen Großteil unserer Zeit darauf verwenden, auf vielerlei Weise für das eigene Wohlbefinden zu sorgen. Dabei liegt gerade dieser Nachdruck, den wir darauf legen, uns selbst zufrieden zu stellen, unserer Unzufriedenheit, unserem Unglücklichsein und unserem Kummer zugrunde. Wir müssen unser Ego ans Licht zerren und es einer strengen Prüfung unterziehen. Wenn unser Leben einem Geist folgt, der ständig verlangt: »Ich will das so« oder: »Ich will das anders«, 108
besteht unsere unmittelbare Erfahrung aus Unzufriedenheit, Elend, Schmerz, Leid, Besessenheit, Verzweiflung, Frustration, Wut und so weiter. Dieses Ego, dieses »Ich«, dieser Nabel der Welt, möchte beschützt und zufrieden gestellt werden – und fordert es manchmal sogar sehr nachdrücklich. Es ist der Sitz all unseres Leids, der Ursprung all unserer Probleme. Trotz seiner Sorge um das eigene Wohlergehen ist das Ego unser ärgster Feind. Doch wenn wir aufmerksam bleiben, wissen wir, worauf wir achten müssen, und wenn wir uns selbst gegenüber absolut ehrlich sind, werden wir die Tricks unseres Egos erkennen und uns nicht davon täuschen lassen. Wenn wir sehen, bekommen wir die Gelegenheit, die Situation zu verändern – und eine andere Art des Denkens zu wählen. Als ich Schüler von Katagiri Roshi war, erstanden wir eine neue Klangschale für den Meditationssaal. Wir kamen bald dahinter, dass die Schale besser klang, wenn wir sie schräg stellten. Die Schale stand zwar nun nicht mehr so sicher auf ihrem Kissen, aber wir hatten, was wir wollten – einen vollen Klang ohne große Mühe. Als unser Lehrer das sah, rückte er die Schale sofort gerade. »Zwingt die Schale nicht, sich euch anzupassen«, sagte er. »Lernt, euch der Schale anzupassen.« Wenn wir uns jeden Augenblick neu erschaffen, um der jeweiligen Situation gerecht zu werden, wird es kein Gezeter in unserem Geist geben. Was die Welt uns auch auftischt, wir nehmen es an – nicht zu unseren, sondern zu ihren Bedingungen. Um des Ganzen willen vergessen wir uns und unsere Verblendung. Ein alter Zenlehrer sagte: »Der Weg ist immer bei den Menschen, aber die Menschen jagen den Dingen nach.« Der Weg – Wahrheit, Wirklichkeit, Erleuchtung – ist immer bei den Menschen. Er ist auch jetzt bei dir. Er ist nicht »dort draußen«, du musst ihm nicht nachlaufen, ihn in Ordnung 109
bringen oder besitzen. Dein Problem besteht darin, dass du hinter den Dingen her- oder vor ihnen davonläufst. Erkenne, dass der Weg anders ist. Er ist immer bei dir. Wenn du das nicht im Hinterkopf behältst, wirst du nicht verstehen und nur wieder irgendwo hinlaufen. Du wirst versuchen, Zen zu erwerben oder zu besitzen, und wirst damit genauso verfahren, wie mit allem anderen, wonach du strebst.
Betrachte diese beiden Personen. Äußerlich sehen sie gleich aus, doch in ihrem Inneren sind sie ganz und gar verschieden. Die Person links hat einen lärmenden Geist, der begreifen will und voller Vorstellungen und Techniken ist. Ganz anders die Person auf der rechten Seite, die sich weder mit irgendwelchen Gedanken noch mit irgendeiner Technik beschäftigt. Die Person links meditiert, um Erleuchtung zu erlangen – um ein Buddha zu werden. Die Person rechts meditiert wie ein Buddha. Der Geist der Person links kennt tausend Erklärungen, Rechtfertigungen und Gründe für die Sitzmeditation. Die Person rechts sitzt einfach. Die Person links versteht die Person rechts noch nicht, nimmt aber an, sie täten beide das Gleiche. Sie versteht noch nicht, dass geistige Freiheit unmittelbar ist und mit dem Verständnis kommt – nicht dadurch, dass man sich an den »korrekten« Ablauf hält. 110
(Der »korrekte« Ablauf ergibt sich, er führt dich nicht. Trotzdem müssen wir ihn einhalten.) Die Person links versteht nicht, dass sie nicht nach dem streben kann, wonach sie zu streben glaubt. (In Wirklichkeit weiß sie gar nicht, wonach sie da eigentlich strebt. Sie hat lediglich eine Vorstellung von der Erleuchtung.) Die Person rechts hat keinen Grund für das, was sie tut. Deshalb tut sie es so vollkommen. Deshalb kennt sie wahre Weisheit und wahres Mitgefühl sowie völligen geistigen Frieden und geistige Freiheit. Dass wir bereits besitzen, was unser Erwachen uns zeigen will – Wahrheit, Wirklichkeit –, ist der Grund, weshalb wir überhaupt erwachen und es erkennen können. Es offenbart sich uns weder unter den richtigen Umständen noch wenn wir die richtige Technik anwenden. Es ist immer hier. Es ist immer mit uns. Es ist immer mit dir – oder vielmehr, du bist immer bei und in ihm. Was hier gesagt wird, ist so unglaublich einfach, dass du es wahrscheinlich übersiehst. Doch wenn du aufrichtig danach suchst, kannst du es sehen. Die Chance, sich völlig von Unmut, Unzufriedenheit, Sehnsucht, Abneigung und unserem zeternden Geist zu befreien, befindet sich genau hier.
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21. Es genügt, wach zu sein
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s gibt eine Geschichte über einen chinesischen Zenlehrer des neunten Jahrhunderts namens Kuei-shan und seinen Schüler Yang-shan. Yang-shan ging zu Kuei-shan und fragte: »Was ist zu tun, wenn die zehntausend Dinge auf dich zukommen?« Kuei-shan antwortete: »Grün ist nicht gelb. Lang ist nicht kurz. Die Dinge regeln sich selbst. Weshalb sollte ich mich einmischen?« Leider glauben die meisten von uns, sich einmischen zu müssen. Wir haben das Gefühl, etwas tun zu müssen, etwas sein zu müssen, etwas regeln zu müssen. Wir denken, wenn wir es nur richtig anstellten, käme alles in Ordnung. Dabei übersehen wir, dass die Dinge, die wir regeln möchten, nur in unserer Vorstellung existieren, dass sie erstarrt und in geistige Schubladen verpackt sind – während die Wirklichkeit ein ständiges Fließen, ein vollkommener Fluss ist. Wir verhalten uns, als könnten wir das Leben zu unserer vollsten Zufriedenheit gestalten, wenn es uns nur irgendwie gelänge, die Kunst der Organisation zu erlernen. Wir leben so, als bekämen wir, was wir wollten, sobald wir diese Kunst gemeistert hätten. Als sei Zufriedenheit möglich. Als könnten wir dafür sorgen, dass unser Leben funktioniert und dass auch der Rest der Welt funktioniert. Doch es gelingt uns nie, die Welt oder unser Leben so einzurichten, wie wir es uns wünschen – zumindest nicht lange. Die Dinge ändern sich wieder, also probieren wir etwas Neues. Wir fangen wieder an, darüber nachzudenken, was unser Los verbessern könnte, und durchlaufen den gesamten Kreislauf der Verblendung noch einmal. 112
Wenn wir ganz genau hinsehen, sehen wir, dass wir uns dem Leben aus Unzufriedenheit auf diese Weise nähern. Vielleicht erkennen wir sogar, dass unser Leben vollkommen in Ordnung ist, bevor wir eingreifen und versuchen, es besser zu machen. Doch sind wir heute nicht in jeder Hinsicht besser dran als früher? Wenn wir versuchen abzuschätzen oder zu beweisen, dass es uns besser geht – oder auch nicht –, greifen wir schon wieder nach einer Erklärung oder einer Antwort. Doch was wir auch zu fassen kriegen, es ist von Anfang an fragwürdig. Wenn wir sagen: »Es geht uns besser«, glauben wir, die Geschichte sei aus irgendeinem Grund bereits vorbei und wir seien an einem Punkt angelangt, an dem Stillstand herrscht. Aber im echten Leben gibt es keinen solchen Punkt, im Gegensatz zu Märchen. Es ist ja eines der typischen Merkmale von Märchen, dass sie in einem kurzen, glücklichen Augenblick enden oder uns in dem Glauben lassen, es ginge ewig so weiter ( »… und sie lebten glücklich und zufrieden bis an ihr Lebensende« ). Im echten Leben ist die Geschichte nie vorbei. Das echte Leben ist ständig im Fluss. Wie können wir also behaupten, wir seien jetzt besser dran? Was für ein absurder Gedanke. Niemand weiß, wie die Geschichte weitergeht. Was wir auch anführen, es kann sich stets in sein Gegenteil verkehren. Die Geschichte hört niemals auf. Trotzdem planen und handeln wir, als hätten die Dinge irgendwann ein Ende. Das liegt daran, dass wir in unserer Verblendung den steten Wandel ignorieren, in dem Glauben, irgendetwas könne tatsächlich von Dauer sein, und sei es nur für einen kurzen Augenblick. Das alles ist Illusion, aber wir sehen es nicht. In einer anderen Geschichte von Meister Kuei-shan heißt es, dass er einmal zu seinen Mönchen sagte: »Heute ist es kalt – so 113
kalt wie vor einem Jahr. Und nächstes Jahr wird es genauso kalt sein.« Dann wandte er sich an Yang-shan und fragte: »Sag mir, was wiederholen die Tage des Jahres?« Yang-shan, ein hochrangiger Mönch, machte eine Geste des Respekts und schwieg. Kuei-shan sagte: »Ich wusste, du würdest dazu nichts sagen können.« Dann sah er Hsiang-yen, einen der jüngeren Mönche, an und fragte: »Was meinst du?« »Ich glaube, ich kann etwas dazu sagen«, setzte Hsiang-yen an. Da unterbrach ihn Kuei-shan mit den Worten: »Ich bin froh, dass Yang-shan meine Frage nicht beantworten konnte.« Was können wir über die fortwährende, zyklische, in ständigem Wandel begriffene Existenz schon sagen? In dem Augenblick, in dem wir etwas dazu sagen wollen – in dem wir versuchen, ihr eine starre, begriffliche Form zu geben –, entfernen wir uns von der Wirklichkeit, wie sie ist und wie wir sie erfahren. Wer erwacht ist, will nur wach sein und will sich bezüglich dessen, was vor sich geht, nicht täuschen lassen. Das ist genug. Eine der großen Erkenntnisse Buddhas bezieht sich direkt darauf, dass wir uns mit eigenen Plänen, mit eigenen Vorhaben, mit der Vorstellung in die Welt stürzen, die Wirklichkeit habe so oder so zu sein. Er erkannte darin die Vergegenständlichung einer geistigen Schöpfung namens »Ich«, die wir heute oft als Ego bezeichnen. Wenn wir an diese Illusion glauben, entsteht eine Aktivität von ganz anderer Art als die, die der auf natürliche Weise entspricht: Sie ist absichtsvoll – das heißt, sie ist von einem Selbst und dessen Rolle aktiviert und nicht von der Wirklichkeit in ihrer Ganzheit. Anders gesagt, sie bezieht sich auf einen einzelnen Punkt und nicht auf das ganze Feld. Weil sie nicht aus der Ganzheit kommt, verursacht sie Duhkha – Unzufriedenheit, Frustration, Ärger, Kummer, Sorge, Angst, Abscheu und Verwirrung. 114
Das heißt nicht, dass wir gar nichts tun sollten. Es ist nicht möglich, nichts zu tun. Wir sind Teil der Welt, und die Welt ist ständig in Bewegung. Genau genommen ist sie nur Aktivität, Bewegung, Energie. Nichts steht jemals still. Wenn wir uns vornehmen, nichts zu tun, so tun wir dennoch etwas, weil alles eine Form von Aktivität ist. Selbst wenn wir reglos in einem Fluss sitzen, interagieren wir mit allem, was an uns vorbeischwimmt. Der Erwachte sieht, dass die große Frage im Leben nicht lautet: »Was muss ich tun, um die Welt zu meiner Zufriedenheit zu gestalten?«, sondern: »Wie kann ich lernen, zu sehen, was vor sich geht?« Anders gesagt, unsere Frage spiegelt nicht mehr unseren Wunsch wider, etwas zu bekommen oder uns auf irgendeine egoistische Weise alles recht zu machen, sondern sie hat sich in wahres Interesse am Erwachen verwandelt. Wenn wir lernen, auf das zu achten, was tatsächlich geschieht, und die Dinge zu sehen, wie sie sind, handeln wir noch immer, doch dieses Handeln ist nicht mehr von unseren persönlichen Wünschen oder Plänen bestimmt. Jeder Augenblick stellt uns vor eine neue Situation, und normalerweise haben wir auch schon einen Plan oder ein Programm dafür. Es ist nicht falsch, einen Plan zu haben. Es ist nur sehr viel wichtiger, dass wir stets die Augen offen halten und sehen, was jetzt geschieht. Nichts steht still, deshalb kann unser Plan manchmal zu einem Hindernis werden. Besonders, wenn wir uns an ihn klammern. Wenn wir nicht auf das achten, was tatsächlich geschieht, werden wir all die Möglichkeiten, die sich uns ständig eröffnen, nicht sehen. Handeln oder nicht handeln ist eigentlich nicht die Frage. Der Erwachte möchte in erster Linie einfach wach sein – sehen, was vor sich geht. Wenn man sieht, was in diesem Augenblick geschieht, wird angemessenes – und natürliches – Handeln möglich. Kuei-shan sagte: »Weshalb sollte ich mich einmischen?« 115
Wenn wir auf der Grundlage dessen handeln, was wir sehen, mischen wir uns nicht mehr störend in die Welt ein, sondern handeln wie die Natur – aus dem Ganzen, aus der Gesamtheit heraus. Dem Erwachten liegt in erster Line daran, einfach zu sehen, was geschieht, und im Einklang damit zu handeln. Darin unterscheiden sich die Erwachten von den Menschen, die in Verblendung gefangen sind. Es ist ein sehr kleiner, feiner Unterschied – mit gravierenden Folgen. Wenn man ihn erkennt, vollzieht sich ein völliger Wandel in Herz und Geist. Erleuchtung ist nicht mehr als das: voll und ganz gegenwärtig zu sein, die Habgier des Geistes zu sehen und nicht daraus zu handeln. Erleuchtung bedeutet, dass wir uns nicht für eigenständig, ungenügend, schwach und hilflos und auch nicht für diejenigen halten, die das Sagen haben. Wenn wir nicht mehr aus dem Glauben an ein eigenes Selbst – aus unseren Wünschen, Ängsten, Sorgen und Zwangsvorstellungen – heraus handeln, werden wir auch nicht mehr von dem Zwang getrieben, alles so zu regeln, dass es uns angenehm und zufrieden stellend erscheint. Die Wahrheit ist, dass es uns niemals gelingen wird, alles genau so zu arrangieren, dass wir glücklich und zufrieden bis an unser Lebensende sind. Dass es uns niemals gelingen wird, uns länger als nur einen flüchtigen Augenblick zufrieden zu stellen oder uns zu schützen. Weshalb sich also einmischen? Wenn wir genau betrachten, was Augenblick für Augenblick geschieht, sehen wir, dass es nichts gibt, woran wir uns klammern müssten – ja, dass es überhaupt nichts gibt, was wir ergreifen könnten. All das bedeutet nicht, dass wir nichts tun können oder sollen. Es bedeutet nicht, dass wir nicht planen oder denken oder glauben oder irgendwelche Vorstellungen haben können. Es bedeutet, dass wir uns weder von diesem täuschen noch auf jenes hereinfallen müssen. 116
Es ist die Motivation des Erwachten, die sich verschoben hat. Er möchte nun einfach Augenblick für Augenblick wach erleben und sich mit jeder frischen, neuen Situation beschäftigen, wenn sie entsteht. Wir begeben uns unwissend, aber mit offenen Augen für das, was wirklich geschieht, in jede neue Situation und handeln entsprechend. Wenn wir jeden neuen Augenblick sehen, während er entsteht, ist unser Handeln im Einklang damit, wie die Dinge jetzt sind. Das Universum wird in jedem Augenblick neu geboren und du mit ihm. Seit du dieses Buch zur Hand genommen hast, sind unzählige Versionen von dir gekommen und gegangen – jeden Augenblick wirst du neu geboren. Nichts ist von Dauer. Was für ein »Ich« müsstest du also befriedigen und beschützen? Der Erwachte hat nur das eine Ziel, sich immer wieder auf diese Erkenntnis zu besinnen und sich nicht im Glauben an Dauerhaftigkeit zu verfangen. Viele von uns wenden sich dem Zen zu, weil sie die Wirklichkeit kennen lernen möchten. Wenn wir dann aber gelernt haben, ganz genau hinzusehen, sehen wir, dass sich die Wirklichkeit mit nichts vergleichen lässt. Sie ist sie selbst, und muss es auch sein. Wie Sextus Empiricus, ein griechischer Philosoph, bemerkte: »Es genügt, aus der Erfahrung zu leben, ohne irgendwelchen Überzeugungen anzuhängen« Wir müssen nicht glauben. Wir müssen nur sehen. Es genügt, wach zu sein – für jeden von uns. Wenn wir erwachen, werden wir sehen, dass wir die ganze Zeit über nur den einen wahren Wunsch hatten, wach zu sein.
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22. Leben ohne Maßstab
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m Zen geht es darum, sein Bestes zu geben. Das Problem ist, dass wir gewöhnlich nicht erkennen, was das ist. Stattdessen schnappen wir irgendeine Vorstellung davon auf, was es heißt, sein Bestes zu geben. Wir denken uns aus, was gut und was schlecht ist, was wir tun und was wir lassen sollen. Dann setzen wir uns Ziele und entwickeln Maßstäbe, an denen wir unseren Fortschritt messen. Auf diese Weise verlagern wir alles in den Zuständigkeitsbereich des Egos. »Ich werde mein Bestes geben.« »Ich werde es schaffen.« »Ich werde besser sein als andere.« Wir verfangen uns in unserem Denken und unserem persönlichen Ehrgeiz, sogar wenn es um Meditation, Weisheit oder Mitgefühl geht. »Ich werde die Ichlosigkeit erlangen.« »Ich werde ins Nirvana eingehen.« Das ist lächerlich. Sieh dir an, welche Geisteshaltung wir mit solchen Gedanken erzeugen: den üblichen gierigen, besitzergreifenden, anhaftenden, zersplitterten und überreizten Geist. Im Zen heißt das Beste geben, dass wir uns um einen Geist bemühen, der sich nicht in egoistischen Spielereien verfängt. Dass wir uns vor verbalen Äußerungen und Verhaltensweisen hüten, die uns von anderen abheben, von ihnen abschneiden oder uns in Opposition zu ihnen bringen. Der japanische Zenmönch und Dichter Ryokan, der von 1758 bis 1831 lebte, besaß wahren Zengeist. Es gibt viele Geschichten über Ryokan, einige davon sogar mit etlichen Variationen. Hier sind zwei davon, die diesen Zengeist hervorragend illustrieren. Eines Tages, als Ryokan fort war, betrat ein Dieb seine Hütte auf der Suche nach etwas, das er stehlen konnte. Er hatte in der Hütte nichts Wertvolles gefunden und wollte gerade enttäuscht 118
wieder gehen, als Ryokan zurückkehrte. Ryokan hatte Mitleid mit dem Dieb und bot ihm seine Kleider an. Der verblüffte Dieb nahm sie und verschwand. An jenem Abend saß Ryokan nackt vor seiner Grashütte und betrachtete den aufgehenden Vollmond. »Armer Kerl«, dachte er, »ich wünschte, ich könnte ihm den Mond geben.« In dieser Geschichte kann man den Mond sicher auch wörtlich nehmen. Allerdings ist es hilfreich zu wissen, dass der Vollmond im Zen ein Erleuchtungssymbol ist. Vielleicht wünschte Ryokan tatsächlich, dem Dieb einen erleuchteten Geist schenken zu können, doch das konnte er natürlich nicht. Diesen Geist muss jeder selbst entwickeln. Das kann niemand für einen anderen tun. In einer anderen Geschichte saß Ryokan in seiner Hütte, als er einen Bambustrieb bemerkte, der aus dem Lehmboden unter seiner Veranda wuchs. Er ließ ihn in Ruhe, der Schößling wuchs weiter und reichte eines Tages bis zur Decke. Da machte Ryokan ein Loch ins Dach, damit der Bambus weiterwachsen konnte. Unser Bestes geben heißt, in diesem Augenblick präsent zu sein und zu sehen, was tatsächlich geschieht. Zu erkennen, dass unser Leben nicht uns gehört – dass unser Leben in Wirklichkeit untrennbar mit dem Ganzen verbunden ist. Die meisten Menschen halten sich für selbstständige Einzelwesen. Doch ein solches Denken führt nur zu Einsamkeit, Selbstsucht und Schmerz und verursacht Schwierigkeiten. Weil wir uns so sehen – und weil wir versuchen, den Schmerz, den uns diese Art zu leben bereitet, zu lindern –, verwenden wir sehr viel Energie und viele Ressourcen darauf, uns selbst, unsere Mitmenschen und unsere Umwelt zu verändern. All das tun wir in dem Bemühen, unsere unmittelbaren Angelegenheiten zu unserer Zufriedenheit zu regeln. Dabei ist uns kaum oder gar nicht bewusst, wie sich unser Handeln auf andere auswirkt – und 119
wir erkennen nur selten, dass das, was sich auf andere auswirkt, auch für uns Folgen hat. Es fällt uns sehr leicht, uns »dort draußen« umzusehen und auf die negativen Auswirkungen von »dem da« auf »mich« zu reagieren. »Ich will nicht, dass dort ein Bambus wächst!« »Ich will keinen Bienenstock unter meinem Dach.« »Ich will, dass meine Investitionen immer über zehn Prozent Gewinn bringen.« Dabei ziehen wir die Wirkung unseres Geistes oder den Einfluss unseres Handelns auf die Welt nur selten in Betracht. Sehen wir uns doch einmal die Praxis der Meditation an. Im Allgemeinen verstehen wir darunter, dass man eine gewisse Zeit lang in einer bestimmten Haltung dasitzt. Doch das ist eine recht enge Definition. Eine vollständigere und genauere Definition lautet, einfach im tatsächlichen Geschehen gegenwärtig zu sein, statt sich mit der Auswertung von intellektuellen Daten oder Emotionen zu beschäftigen – mit den Erklärungen, Rechtfertigungen und Problemen, die unsere Aufmerksamkeit so oft auf sich ziehen und sich ihrer bemächtigen. Demnach ist die Meditation mit unserem üblichen Geist, mit diesem Geist, der manipulieren und kontrollieren möchte, unvereinbar. Dennoch ist uns der Meditationsgeist jederzeit und überall verfügbar. Dieser aufmerksame, wache Geist, der sich nicht an ein bestimmtes Ergebnis klammert, der nicht darauf beharrt, dass sich die Dinge auf eine bestimmte Weise zu entwickeln haben, ist uns sogar bei vollem Terminkalender verfügbar. Die Meditation beschäftigt sich stets mit dem, was genau in diesem Augenblick geschieht, was das auch sein mag – Auto fahren, eine Unterhaltung führen, im Bett liegen. Eine der Fragen, die mir bei der Meditationsunterweisung am häufigsten gestellt wird, lautet: »Wie lange sollte ich meditieren?« Diese Frage ist nicht dumm, und es ist keineswegs falsch, sie zu stellen. Aber sie spiegelt unsere übliche Haltung 120
und unsere üblichen Erwartungen wider. Es kommt nicht darauf an, wie lange du meditierst, sondern mit welcher Regelmäßigkeit und mit welcher Geisteshaltung du es tust. Wenn du regelmäßig und ernsthaft meditierst, wirst du allmählich jene Art Geist entwickeln, von der ich spreche. Sorge dich also nicht darum, wie lange du meditieren solltest. Gegenwärtig zu sein ist keine Frage dessen, wie lange du dich zwingst, auf dem Kissen zu sitzen. Wenn du dir diese »Je mehr desto besser« -Haltung einen Moment lang ansiehst, wirst du erkennen, dass sie auf einem gierigen, zersplitterten, anhaftenden und nicht auf einem integrierten Geist beruht. Wenn wir Zen üben, richten wir unsere Aufmerksamkeit einfach auf das Jetzt, auf diesen Augenblick – ohne den Geist besser oder konzentrierter oder gesammelter oder erleuchteter machen zu wollen. Es geht nicht darum, unseren Geist niederzuringen oder uns zu zwingen, auf einem Kissen zu sitzen. (Natürlich fangen viele von uns so an, doch früher oder später muss das ein Ende haben – entweder, weil wir es einsehen oder weil wir aufgeben.) Wenn wir unser Bestes geben möchten, müssen wir lediglich erkennen, dass die übliche Haltung unangemessen ist, und unsere Einstellung zur Meditation ändern. Wir müssen lernen, einfach zu üben – ernsthaft, ohne Ziel, ohne Grund und ohne dass wir uns etwas davon versprechen. Unser Geist hat bereits seinen natürlichen Zustand – seine natürliche Reinheit. Wir müssen sie nicht »erwerben«. Die Erleuchtung ist immer da. Wir müssen sie uns nicht aneignen. In der Zenpraxis üben wir, in diesem Augenblick zu sein, jeden Moment voll lebendig zu sein, jeden Augenblick neu geboren zu werden, immer und immer wieder – frisch, neu, lebendig, sauber und gesund. Wir üben, natürlich und ohne Schuld zu leben. Je mehr wir in diesem Augenblick leben – und uns restlos ihm hingeben –, desto freier ist unser Geist. Gleichzeitig befreien wir 121
dadurch andere, da wir ihnen gestatten, ihr Leben ungestört zu leben. Je mehr wir erwachen und erkennen, wie wir anderen früher Unrecht getan haben, desto mehr wächst unsere Freiheit, uns selbst zu vergeben und das Unrecht wieder gutzumachen. So können wir ein geistig gesundes Leben in Frieden und Harmonie führen und unser Bestes geben.
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23. Die wertvollste Sache der Welt
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in Schüler ging zu Zenlehrer Ts’ao-shan und fragte: »Was ist die wertvollste Sache der Welt?« Ts’ao-shan erwiderte: »Der Kopf einer toten Katze.« »Warum ist der Kopf einer toten Katze die wertvollste Sache der Welt?«, wollte der Schüler wissen. »Weil niemand seinen Preis kennt«, sagte Ts’ao-shan. Wehe den Menschen, die tatsächlich den Preis der Dinge kennen, denn sie bewerten alles im Leben. Sie legen alles und jedes auf ihre Art der Waagschale. »Was ist das wert?« »Wofür ist es gut?« »Was bringt es ein?« »Was habe ich davon?« Wenn wir das tun, fühlen wir uns elend, unglücklich und unerfüllt, dann werden wir gierig, betteln und intrigieren. Wir sind unzufrieden und wissen nicht, woran es liegt. Wir sehen keinen Zusammenhang zwischen dem ständigen Urteilen und unserer immer wiederkehrenden Niedergeschlagenheit. Und schon stürzen wir uns auf die nächste Sache und die nächste und die nächste und die nächste. Dabei entgeht uns das Wertvollste am Leben. Wir machen immer wieder denselben Fehler. Was wir vom Leben wirklich wollen, können wir uns nicht auf diese Weise verschaffen. Es ist etwas, das sich nicht kaufen und verkaufen lässt. (Eigentlich ist es nicht einmal ein »Etwas«.) Die wertvollste Sache im Leben ist etwas ganz Einfaches wie der Kopf der toten Katze. Deshalb übersehen wir sie so leicht. Trotzdem ist sie immer da. Was wir wirklich wollen – und was von wahrhaft unschätzbarem Wert ist –, ist das Erwachen. Wir wollen erwachen und sehen. Doch es gibt nichts Besonderes zu sehen – nichts, was man packen oder ausbrüten oder aus Einzelteilen zusammensetzen könnte. Es ist nichts Greifbares. Es ist auch kein geistiges 123
Gut, das man im Kopf abspeichern könnte. Es sind eben nicht die Dinge, die wir messen oder mit Preisschildern versehen können, nach denen unser Herz sich verzehrt und was wir tatsächlich brauchen. Das, wonach wir uns zutiefst sehnen und was wir tatsächlich brauchen, haben wir bereits – und es ist von wahrhaft unschätzbarem Wert. Und eben weil sein Wert unschätzbar ist, übersehen wir es meist. Wir lassen uns zu sehr von den Dingen ablenken, die wir beurteilen können. Wir nehmen an, die wertvollste Sache der Welt sei zwangsläufig wie alles andere, das zu beurteilen wir gewohnt sind – nur größer oder bedeutender oder schöner oder bewegender. Was also ist die wertvollste Sache der Welt? Es ist gar keine Sache. Es ist genau dieser Augenblick. In Zengeist, Anfänger-Geist schreibt Shunryu Suzuki: »Wenn meine Rede zu Ende ist, ist euer Hören zu Ende. Es ist nicht notwendig, sich dessen zu erinnern, was ich sagte.« Ich möchte hinzufügen: Es ist nicht notwendig, an dem Gesagten festzuhalten. Wir müssen einer Rede nicht so lauschen oder ein Buch (auch nicht dieses) so lesen, dass wir am Ende ein Preisschildchen draufkleben können. Einerseits scheint der Wunsch, dass es die Zeit und Mühe wert sein möge und man etwas mitnehmen könne, natürlich und vernünftig. Aber wir irren uns, wenn wir glauben, dieses »Etwas« sollte (oder könnte) so konkret sein, dass wir es in die Tasche stecken können. Was wahren Wert hat, ist nicht greifbar. Das wissen wir zwar, übersehen es aber geflissentlich. Wenn du einer Rede lauschst oder ein Buch liest – besonders eines wie dieses –, kommt es nicht darauf an, was du daraus mitnimmst. Es spielt keine Rolle, ob du dich später an das, was du gelesen hast, erinnern oder es wiedergeben kannst. Entscheidend – und von unschätzbarem Wert – ist nur, dass dein 124
Geist sich verändert. Wenn wir der Erfahrung des Augenblicks begegnen – egal, ob wir uns einen Vortrag anhören oder mit der Angel am Ufer sitzen und einen Schwimmer im Wasser beobachten –, ist es am wertvollsten, voll gegenwärtig zu sein, den Augenblick zu erleben, wahrhaft lebendig zu sein. Wenn das der Fall ist, können wir, wenn wir jenen Augenblick hinter uns lassen (was wir irgendwann unweigerlich müssen), bei dem bleiben, was jetzt vor sich geht – bei nur diesem. Es geht nicht darum, sich die richtige Vorstellung zu machen, um sie später in die Praxis umsetzen zu können. Es geht nicht darum, etwas zu erwerben, das wir nützen können. Es geht um nichts weiter als nur dieses. Du verfügst bereits über vollkommenes Verständnis. Erinnere dich lediglich daran, es nicht festhalten zu wollen, nicht zu sagen: »Ich hab’s.« (Immer, wenn wir sagen: »Ich hab’s«, ist das Verblendung.) Kürzlich las ich von einem Unternehmen, dem es gelungen ist, nicht fortpflanzungsfähiges Saatgut zu züchten. Landwirte kaufen dieses Saatgut, bestellen ihre Felder damit, und wenn das Wetter mitspielt, fahren sie eine gute Ernte ein, die sie dann auf dem Markt verkaufen können. Sollte der Landwirt aber einen Teil seiner Ernte zurückbehalten, um daraus neue Samen zu gewinnen und damit im nächsten Jahr die Felder zu bestellen, dann werden diese Samen nicht keimen. Das liegt daran, dass sie genetisch verändert und ihnen die Keimfähigkeit genommen wurde. Mit anderen Worten, Menschen haben den Samen verändert – das Symbol der Fruchtbarkeit, der Erneuerung und des Lebens selbst –, um ein Grundcharakteristikum des Lebens auszuschalten: die Fähigkeit zur Vermehrung. Ein derartiges Tun entspringt einem Geist, der für alles, sogar 125
die Grundcharakteristika des Lebens, einen Wert festsetzt. Dieser Geist will, dass die Dinge wertvoll sind. Er will die Dinge nicht, weil sie sind, wie sie sind; er will sie, weil sie etwas bringen. Wenn ein solcher Geist die Grundlage unseres Lebens bildet, wollen wir nicht Wirklichkeit, sondern Abstraktion. Dabei verlieren wir unsere Lebenswirklichkeit in der Welt aus den Augen. Buddha bezeichnete diese Art zu handeln als »absichtsvolles Handeln« (Karma). Sie unterscheidet sich grundlegend vom natürlichen oder absichtslosen Handeln und lässt die Ganzheit der Wirklichkeit außer Acht. Sie ignoriert die Struktur, zu der alles gehört. Wenn wir das Bild im Gegensatz dazu im Ganzen betrachten, sehen wir nichts, was wir messen oder bewerten oder mit einem Preisschild versehen könnten. Wir sehen, dass wir keine wahre Zufriedenheit finden werden, solange wir für alles einen Wert festsetzen, es messen und beurteilen. Wir können nicht sagen, was an sich gut oder schlecht oder wertvoll oder wertlos ist. Am wertvollsten ist einfach dies – oder genauer, das Bewusstsein dessen. Und zugleich sehen wir, dass jeder Versuch, einen Preis dafür zu nennen, absurd wäre.
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24. Bevor wir sprechen
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er, Subhuti, wird diese vollkommene Weisheit begreifen, wie sie hier dargelegt ist?« Worauf der erwürdige Ananda antwortete: »Diejenigen, die nicht zurückfallen können, werden sie begreifen, oder Menschen, die zu gesunden Ansichten gelangt sind …« »Niemand«, sagte Subhuti, »wird diese vollkommene Weisheit begreifen, wie sie hier dargelegt ist. Denn es wurde nichts dargelegt, erhellt oder mitgeteilt. Deshalb wird sie niemand begreifen.« Aus dem Ashta sahasrika Sutra
Vor den Ereignissen sieht der Weise oft wie ein Narr aus. Danach sieht der Experte oft wie ein Narr aus. Ein paar Beispiele: Mitte der achtziger Jahre explodierte das sowjetische Atomkraftwerk in Tschernobyl, und radioaktive Substanzen verteilten sich über den ganzen Globus. Knapp ein Jahr zuvor hatte uns der zuständige sowjetische Volkskommissar versichert, Atomkraftwerke seien sicher. Dabei hatte er ausdrücklich von dem Werk in Tschernobyl gesprochen und gesagt, ehe es zu einem einigermaßen folgenschweren Unfall käme, müssten zehntausend Jahre vergehen. Nur wenige Monate vor der Explosion des Spaceshuttles Challenger hatte ein NASA-Mitarbeiter versichert, erst nach vielen zehntausend Starts würde ein Raumschiff beim Start explodieren. Und doch wurden wir inzwischen tragischerweise zum zweiten Mal Zeugen des katastrophalen Versagens eines Spaceshuttles – dieses Mal beim Wiedereintritt in die Atmosphäre, der unter Experten als weit weniger riskant gilt als der Start. 127
Vor nicht allzu langer Zeit versicherten uns Experten, dass wir vor Bioterrorismus sicher seien. Seither gab es jedoch etliche von Milzbranderregern verursachte Erkrankungen und Todesfälle, und von der US-Regierung wurden umgehend 300 Millionen Dosen Pockenschutzimpfungen geordert. In allen diesen und vielen anderen Fällen übersahen oder ignorierten Menschen, die angeblich Bescheid wussten, was für jeden, der einfach sehen kann, offensichtlich ist. Darüber hinaus wird immer deutlicher, dass solche blinden Flecken immer gefährlicher werden. Doch das liegt in der Natur des Wissens, wie wir es gemeinhin verstehen. Denn damit die Experten eine bestimmte Meinung vertreten können, müssen sie einige Aspekte ausklammern oder gänzlich ignorieren. Da ist kein Platz mehr für Weisheit – denn die Weisheit vertritt nichts – ebenso wenig wie die Wirklichkeit – und klammert nichts aus. Einst fragten unsere Anführer weise Menschen um Rat. Heute verlassen sie sich vorwiegend auf Experten. Das ist aus zwei Gründen verständlich: (1) Ob jemand ein Experte ist oder nicht, lässt sich leichter bescheinigen und nachprüfen, und (2) die weisen Menschen machen keine Werbung für sich. Das Problem ist nicht, dass Experten keine wichtigen Aufgaben erfüllen, denn das tun sie sehr oft. Das Problem ist, dass Experten unsere Aufmerksamkeit nicht auf die Wirklichkeit, die Wahrheit oder das Ganze lenken. Ihr Wissen beschränkt sich auf einen begrenzten Bereich, weshalb sie uns nicht dahin bringen können, dass wir selbst sehen, was tatsächlich vor sich geht. Genau genommen lenken sie unseren Geist sogar ungewollt davon ab. Wer ein Experte werden möchte, muss zunächst sein Gebiet eingrenzen. Folglich haben Experten ihre ganz eigenen und in sich stimmigen Argumente, die sie in einer Sprache vorbringen, die oft nur andere Experten auf dem Gebiet beherrschen. Zudem 128
sind ihre Aussagen üblicherweise nachprüfbar, klar und vor allem nicht paradox (und wir halten sie deshalb für wahr). Doch weil sie einen begrenzten Bereich nicht überschreiten, lassen ihre Schlüsse unweigerlich die unbegrenzte, fließende Wahrheit und Wirklichkeit außer Acht. Mit anderen Worten, wir können uns so viele begriffliche Modelle ausdenken, wie wir wollen. Die Wirklichkeit können sie letzten Endes niemals ersetzen. Wir sind vielleicht versucht, diese Beobachtung mit einem Achselzucken abzutun, doch es kann verheerend sein, ihre Auswirkungen zu ignorieren. Wenn wir uns freiwillig auf den begrenzten Bereich einer Luftblase beschränken, fällt es uns schwer zu sehen, dass unser ganzes begriffliches Wissen auf einem riesigen Meer mit zahllosen weiteren Luftblasen schwimmt. Wenn wir in einer Luftblase sitzen, werden wir kaum erkennen können, dass wir die Wahrheit erst sehen, wenn die Luftblase platzt. Aber früher oder später platzt jede Luftblase. Wenn es so weit ist, tun wir gut daran, dem Drang zu widerstehen, uns sofort in eine neue Blase zu flüchten. Am besten wäre es, wenn wir die Luftblase selbst zum Platzen brächten. Doch das schaffen wir weder mithilfe von Intrigen noch mit Plänen oder dem einfachen Versuch. Es gelingt uns nur, wenn wir sehen. Die Erwachten sehen die Wirklichkeit – die Wahrheit –, bevor sie interpretiert wird. Was sie über dieses Sehen zu sagen haben, heißt der Dharma. Der Dharma lässt sich weder konkretisieren noch in Begriffe fassen. Er lässt sich weder in einem Satz noch mit einem Wort einfangen. Er lässt sich nicht als Theorie, als Diagramm oder in einem Buch erklären – auch nicht in diesem. Demnach muss sich jede Lehre, die sich mit der Wahrheit beschäftigt, am Ende selbst auslöschen. Indem sie sich selbst auslöscht, bezieht sich eine solche Lehre – Dharma – zwangs129
läufig auf sich selbst. (Ich verdeutliche das oft damit, dass jemand mit der rechten Hand etwas auf eine Tafel schreibt und es gleich danach mit der linken Hand wieder löscht.) Das kann sie paradox oder widersprüchlich erscheinen lassen. Dabei ist sie gar nicht paradox oder widersprüchlich. Im Gegensatz zu den üblichen Lehren, die als nützlich und dauerhaft angeboten werden, werden Dharma-Lehren in dem Verständnis erteilt, dass sie vergehen – dass sie lediglich ein Notbehelf und nur vorübergehend von Nutzen sind. Buddha zum Beispiel verglich seine Lehre mit einem Floß, das zum Überqueren des Flusses nötig ist. Wenn es seinen Zweck erfüllt hat – wenn der Fluss überquert ist –, sollte man es zurücklassen. Andernfalls wird es zu einer unnötigen Last. Leider vergessen viele Menschen, dass auch Dharma-Lehren nur ein Notbehelf oder ein Fingerzeig sein können. Wir denken: »Das ist doch eine altehrwürdige Lehre! Wieso sollte ich mich davon wieder trennen? Das ergibt keinen Sinn!« Und wir wenden uns von den Lehren ab, die direkt und ohne Hintergedanken auf die Wahrheit verweisen, und greifen stattdessen Ansichten auf, die wir leichter begreifen und an denen wir besser festhalten können. Wir sind es nicht gewohnt, einfach zu sehen. Wenn wir den Dharma verwerfen, haben wir noch nicht erkannt, dass unsere Konzepte im Grunde nichts mit der Wirklichkeit zu tun haben – niemals. Wir sehen auch nicht, dass gerade der Wunsch, Paradoxa, Unbegreiflichkeiten und ständigen Wandel zu vermeiden, uns daran hindert, Wahrheit oder Wirklichkeit zu sehen. Im Gegensatz zum Dharma räumen die üblichen Lehren die Existenz von Paradoxa und ständigen Wandel nicht ein und haben auch keine Erklärung dafür. Sie versuchen vielmehr, ihr Thema festzunageln, es solide und vernünftig erscheinen zu lassen. Aber jede Lehre, die sich auf diese Art darstellt – ob es 130
dabei nun um Politik, Wirtschaft, Psychologie, Religion, Wissenschaft oder Kfz-Mechanik geht –, will einer Sache Dauer verleihen, die unweigerlich vergeht. Wenn wir glauben, unsere Vorstellungen und Begriffe entsprächen dem tatsächlichen Geschehen – wenn wir glauben, wir könnten die Wahrheit tatsächlich zu fassen bekommen –, irren wir uns. Die Wahrheit lässt sich einfach nicht beschreiben, in ein Modell verpacken oder darstellen. Aber man kann sie sehen. Wir wollen die Wahrheit unbedingt finden, suchen sie aber fälschlicherweise in Begriffen, Worten oder Sätzen. Wir tun, als könnten wir sie in die Tasche stopfen und ab und zu hervorziehen, um sie den Leuten zu zeigen. Doch während wir uns abmühen, das zu propagieren und zu schützen, was wir für die blendende Schönheit in unserer Tasche halten, enthüllt uns die Wahrheit weiterhin nur ein ständiges Fließen – vollständige Relativität, unaufhörlichen Wandel. Für den Dharma gibt es keine Experten. Du kannst kein Experte für Wahrheit werden. Du kannst dein Leben nicht meistern. Aber du kannst erwachen.
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25. Die Nadel im Wasser
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anadeva, der später der 15. Zen-Patriarch werden sollte, begab sich zu Nagarjuna, dem 14. Patriarchen, in der Hoffnung, sein Schüler zu werden. Wie Nagarjuna stand Kanadeva in dem Ruf, sehr weise zu sein, und wie Nagarjuna liebte er die Rhetorik, die Philosophie und das Streitgespräch. Das wusste Nagarjuna, als Kanadeva ihn aufsuchte, und er dachte sich: »Sehen wir einmal, wie weise er wirklich ist. Ich werde ihn auf die Probe stellen.« Nagarjuna wies einen Diener an, eine Schale bis zum Rand mit Wasser zu füllen und sie Kanadeva zu bringen, der sich dem Tor näherte. Nagarjuna wollte von einem Fenster aus beobachten, was Kanadeva tat. Als der Diener Kanadeva die Schale mit Wasser darbot, zog Kanadeva eine Nadel hervor und legte sie hinein. Dann nahm er die Schale und brachte sie dem hocherfreuten Nagarjuna. Die beiden lachten herzlich. Sie hatten den gleichen Geist und verstanden einander voll und ganz. Danach reisten Nagarjuna und Kanadeva zusammen umher, und manchmal lehrten sie sogar gemeinsam. Es gibt viele Interpretationen von Nadel und Schale, wonach die Schale ein Symbol für das eine und die Nadel ein Symbol für das andere ist. Manchmal heißt es etwa, die Schale stünde für die Erkenntnis oder die Erleuchtung und die Nadel für den Wunsch zu erwachen. Wenn wir nicht aufpassen, verfangen wir uns leicht in solchen Begriffen, ohne die Geschichte richtig zu verstehen. Wir müssen tiefer graben. Erstens war die Schale randvoll mit klarem, reinem Wasser. Obwohl die Schale voll war, konnte Kanadeva den Boden sehen. Sie war ein Ausdruck von Leere, von Ganzheit. Nagarjuna ließ Kanadeva ein konkretes Symbol der Ganzheit 132
des Lebens, der Wirklichkeit überreichen, und Kanadeva verwies umgehend auf den anderen, komplementären Aspekt unseres Lebens – die Welt des Alltags, von diesem und jenem, von Nutzen und Funktion. Der Alltag durchdringt die Ganzheit von oben bis unten, ohne dass die Ganzheit überläuft, ohne dass etwas ausgelassen wird. Somit ergänzte Kanadeva Nagarjunas Botschaft auf vollkommene Weise. In der Zen-Überlieferung wird Nagarjuna oft als der Vollmond (der Erleuchtung) oder wie hier als volle Schale dargestellt. Darüber hinaus bedeutet Kanadeva »der Einäugige«, und in der Zen-Literatur wird darauf hingewiesen, dass auch eine Nadel nur ein Öhr hat. Das eine Auge Kanadevas wird zudem oft als Auge der Nichtdualität bezeichnet. Sehen wir uns die Geschichte noch genauer an. Eine Nadel ist etwas Nützliches. Sie hat einen Sinn und einen Zweck. Das ist normal und richtig. Doch in dem Augenblick, in dem wir in die Dimension der Nützlichkeit, des Sinns und Zwecks – das heißt die absichtsvolle Welt – eintreten, sehen wir überall Vielfalt und Dualität und lassen uns auch leicht davon täuschen. Möglicherweise gehen wir stillschweigend davon aus, dass die Welt nur aus Vielfalt und Dualität besteht. Doch wir Menschen sind in der Lage, mehr als das zu sehen. Wir können sehen, dass Dualität und Ganzheit, Verblendung und Erleuchtung, Samsara und Nirvana nicht zweierlei sind. Wir Menschen leiden unter dem Problem des Selbst – das heißt wir glauben, wir seien allein und verlassen auf der Welt, umgeben von fremden Dingen. Das erfüllt uns mit Sehnsucht, Vorliebe und Ablehnung. Dennoch sind wir alle in der Lage, mit dem Auge der Nichtdualität zu sehen, mit einem Auge, welches das Leben in seiner Ganzheit vollständig durchdringen kann. Wir können die Welt als ein Ganzes erfahren. Das drückte Kanadeva aus, als er die Nadel ins Wasser legte.
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Wenn ich eine solche Linie
ziehe und die Leute frage, was das Gegenteil davon ist, zeichnen die meisten eine Linie
Doch wenn wir uns das Ergebnis ansehen, erkennen wir, dass beide Linien im Grunde gleich sind. Dieses Beispiel verrät, wie wir normalerweise denken und sehen. Wir sehen das eine und leiten daraus ab, was wir für das Gegenteil halten. Doch dieses angebliche Gegenteil sieht oft ähnlich, wenn nicht sogar gleich aus. Religiöse Fanatiker zum Beispiel machen heftig Propaganda für ihre Ansichten, sind dem Standpunkt anderer gegenüber aber oft intolerant. Unterdessen mokieren sich andere Leute über deren Engstirnigkeit. Doch wenn wir uns ganz genau ansehen, was diejenigen denken, die sich mokieren, dann ist das praktisch mit dem Denken der Fanatiker identisch: »Ihr seid ganz und gar im Unrecht. Wir kennen die richtige Art zu leben, ihr nicht.« Sie spiegeln die Menschen, deren Intoleranz sie kritisieren. Das ist die Art von Denken, in die wir oft verfallen, wenn wir uns als einzelne kleine, vom Ganzen abgetrennte Teile sehen. Das Gegenteil einer solchen Linie
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könnte eine solche Linie sein:
Sie ist nicht mehr gerade, unveränderlich, sondern schwankt, wechselt die Richtung, ist in Bewegung. Auch in diesem Beispiel finden wir das Wasser und die Nadel wieder. Wir haben zum einen etwas Gerades, Kontinuierliches. Und wir haben zum anderen das Gegenteil, etwas, das sich schlängelt und windet. Zusammen ergeben diese beiden Elemente die Wirklichkeit. Wenn uns ein solches Muster oder Zusammenspiel begegnet, spricht es uns normalerweise unmittelbar und oft auf einer sehr tiefen Ebene an. Es ist Bestandteil vieler Musikstile und Chorgesänge, in denen ein monotoner Bass von einer Melodie überlagert wird. Meist finden die Menschen ganz natürlich an einer solchen Musik Gefallen. Dieses Muster macht etwas deutlich, das wir alle tief im Herzen wissen: dass unser Leben einen kontinuierlichen, unveränderlichen Aspekt besitzt. Es ist nichts Besonderes. Es ist das Ganze. Es ist zutiefst friedlich. Gleichzeitig lässt es sich nicht von dem Auf und Ab und den Kleinigkeiten des Lebens trennen – von all den Dingen, die sich ständig verändern, die schwanken, kommen und gehen. Unser Fehler ist, dass wir uns die meiste Zeit über ganz und gar im Schwanken, im Kommen und Gehen verlieren. Wir vergessen den ruhigen, gleich bleibenden Hintergrund der Wirklichkeit. Wir verlieren die Schale aus den Augen. Folglich übersehen wir das, was Nagarjuna uns sagen möchte. Wir bezeichnen es vielleicht sogar als zu theoretisch, abstrakt und komplex. 135
Doch das ist es ganz und gar nicht. Das sehen wir falsch. Nicht die Wirklichkeit ist theoretisch und abstrakt, sondern wir Menschen, die wir uns in Begriffen verlieren. Der Zenlehrer Keizan Jokin, der viele Geschichten über die alten Zen-Patriarchen zusammentrug, merkt an: Wenn man Nagarjunas Wasser trinkt, ohne zu wissen, dass sich eine Nadel darin befindet, bleibt einem die Nadel im Hals stecken. Wir verlieren uns leicht in Einzelheiten, in speziellen Details, in unseren Gedanken und Gefühlen, in der Welt von Sinn und Zweck. Dann denken wir, wir müssten etwas tun – uns korrigieren, die Welt in Ordnung bringen, die Dinge klären, andere Leute auf den rechten Weg bringen. Stattdessen müssen wir uns unseres getriebenen Geistes bewusst werden. Bemerkenswert an dieser ersten Begegnung zwischen Nagarjuna und Kanadeva ist, dass ihre Kommunikation nicht nur unmittelbar, sondern auch ohne Worte war. Wir leben, als sei unser Leben – und die Erleuchtung und die Wirklichkeit – etwas, das wir wie durch ein Fenster oder auf einem Fernsehbildschirm betrachteten. Wir leben, als hätten wir einen gewissen Abstand zu der unmittelbar erlebten Situation. Oder um es mit dem chinesischen Zenlehrer Tungshan zu sagen: Wir leben unser Leben, als seien wir der Gast, nicht der Gastgeber. Doch die Wahrheit ist stets bei uns. Wir müssen nur erwachen und sie sehen. Du kannst sie nicht suchen oder finden, als sei sie getrennt oder fern von dir. Das Leben, das wirklich dir gehört, ist untrennbar mit der ganzen Welt verbunden. Das Juwel ist in deiner Tasche. Es war die ganze Zeit über dort. Es bestand nie die Notwendigkeit, es zu suchen. 136
Unsere Aufgabe ist es, uns um diesen Augenblick zu kümmern. Unsere Aufgabe ist immer dieser Augenblick. Am Ende musst du Zen selbst leben und das Leben in die Arme schließen, das du wirklich lebst. Niemand wird dich an der Eingangstür kontrollieren. Du kannst jetzt aus freien Stücken eintreten. Du musst es nur tun. Wenn du das erkennst, wirst du dein Leben allmählich aus einer anderen Haltung, einer anderen Einsicht, einem anderen Verständnis her leben. Von außen sieht es ganz normal aus. Du nimmst immer noch Nahrung zu dir, atmest Luft, gehst zur Arbeit. Doch in dir herrscht ein völlig anderes Bewusstsein für das, was tatsächlich vor sich geht. Dein Leben sind nicht deine Ziele oder deine Erinnerungen oder diese paar Kubikzentimeter Fleisch. Dein Leben ist einfach das, was hier und jetzt geschieht, und darin gibt es kein Innen und kein Außen. Darüber hinaus wirst du sehen, dass es schon immer so war. Das sind die Nadel und das Wasser. Sie sind nicht ein und dasselbe, aber sie sind auch nicht zweierlei.
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26. Warum nach Befreiung streben?
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s war einmal ein Mann, der ging zu einem Zenlehrer und fragte: »Ich habe gehört, dass es vor langer Zeit einen Buddha gab, der zehn Ewigkeiten meditierte, aber dennoch nicht die volle Befreiung des Geistes erlangte. Wie ist das möglich?« Der Lehrer sprach: »Du hast deine Frage selbst beantwortet.« »Aber er hat andauernd meditiert! Warum ist er nicht erwacht?« Der Lehrer erwiderte: »Er war kein Buddha.« Wie der Mann in dieser Geschichte verlangen wir Erklärungen. Wenn wir mit Zen oder dem Meditieren beginnen, haben wir eine bestimmte Vorstellung davon, was mit Menschen geschieht, die fleißig üben. Wir denken, wenn es jemandem mit der Meditation wirklich ernst ist, muss er etwas Bedeutendes erreichen. Wir hegen alle möglichen Erwartungen – was ein Buddha ist, was die Erleuchtung ist, was mit Menschen passiert, die viel meditieren. Und wenn die Wirklichkeit nicht unseren Erwartungen entspricht, regen wir uns auf. Doch die meisten von uns verstehen nicht, dass nicht die Wirklichkeit, sondern unsere Erwartungen das Problem sind. Wir denken, wenn wir uns eifrig um etwas bemühen – zum Beispiel darum, Astronom oder Kfz-Mechaniker zu werden –, werden wir gut darin und können diese Kunst vielleicht sogar meistern. Manchmal trifft das auch zu. Das Problem ist, dass wir mit der gleichen Auffassung an die Meditation herangehen. Einen Zenlehrer halten wir also für jemanden, der die Kunst der Meditation gemeistert hat. Doch wenn wir mit dieser Vorstellung an die Zenpraxis herangehen, haben wir nichts verstanden. In dieser Geschichte ging der Fragesteller davon aus, dass 138
jeder, der fleißig und gewissenhaft meditiert, eine besondere Erfahrung macht und zu tiefer Erkenntnis gelangt. Schließlich scheint es nur fair, dass wir eine Sache, um die wir uns lange und eifrig bemühen, auch irgendwann meistern. Oder sie aufgeben. In der Tat geben viele Leute die Zenpraxis wieder auf, nachdem sie sich einige Zeit sehr eifrig darum bemüht haben. Wenn es so aussieht, als würden sie nichts erreichen, hören sie auf. Wieso aber haben sie nichts erreicht? Sie – und wir – erreichen nichts, weil sie glauben, wir suchten etwas, das sich erreichen ließe. Bei der Zenpraxis geht es nicht darum, etwas zu erreichen oder ein Buddha zu werden. Genau genommen ist das unmöglich. Niemand wird ein Buddha. Ein Buddha ist schlicht ein Mensch, der wach ist, der sich der Wirklichkeit bewusst ist. Wenn du siehst, was wirklich ist, bist du ein Buddha. Dessen ungeachtet klammern wir uns an die Vorstellung: »Wenn ich richtig hart arbeite, werde ich vielleicht erleuchtet wie ein Buddha.« Dann fangen wir an zu üben, als könnten wir uns die Buddhaschaft irgendwie erarbeiten. Doch das ist nicht möglich. Aus einem sehr einfachen Grund: Du bist bereits ein Buddha. Es gibt nichts, was du dir erarbeiten müsstest. Die meisten von uns gehen an die Zenpraxis heran, als könne sie uns etwas geben, das wir brauchen. In Wirklichkeit ist es eher so, dass wir etwas loswerden müssen. Du hast bereits, was du brauchst, um das menschliche Leben vollständig zu verstehen – um nicht verwirrt, nicht verängstigt zu sein, dich nicht ständig nach etwas zu sehnen, nicht zu leiden. Du hast es bereits jetzt. Trotzdem glauben wir weiterhin, irgendwie unzulänglich zu 139
sein – ganz besonders, wenn es um die Erleuchtung geht. Und wir glauben, wenn wir eine Ewigkeit üben, können wir vielleicht zu Buddhas oder erleuchteten Wesen werden. Doch so funktioniert die Wirklichkeit nicht. Wie können wir etwas erlangen, das wir bereits besitzen, und wenn wir noch so lange meditieren? Es ist, als sehne man sich danach, in Amerika zu sein, obwohl man in New York lebt. Wir müssen verstehen, dass es den Buddha, nach dem sich der Mann in der Geschichte erkundigte, gar nicht gab. Der Mann stellte ihn sich als einen Menschen vor, dem etwas fehlte und der meditieren musste, um ein Buddha zu werden. Doch einen solchen Menschen gibt es nicht – und wird es nie geben. Niemandem, der lebt und unter uns weilt, fehlt die Fähigkeit, wach zu sein, ganz und gar Mensch zu sein, die Wirklichkeit zu erkennen. Hier ist noch eine Zen-Geschichte von einem Mann, der auf der Suche nach geistiger Freiheit zu einem Zenlehrer kam. Der Lehrer fragte ihn: »Wer bindet dich?« Der Mann antwortete: »Niemand.« »Weshalb strebst du dann nach Befreiung?« Wir haben die Angewohnheit, auf unserem Lebensweg ständig nach irgendetwas zu suchen. Wir lesen sogar Bücher wie dieses, weil wir etwas finden möchten. Wieso sollten wir etwas suchen, das uns direkt ins Auge sticht? Wir verbringen unsere Zeit in Gedanken, verbringen sie damit, alles zu zerlegen, uns von der Wirklichkeit abzuspalten – und dann zu glauben, wir seien unzulänglich und müssten diesen Mangel beheben. Solange wir das nicht erkennen, können wir kein Buddha werden. Schlicht und einfach deshalb, weil diese Art Buddha nur eine Vorstellung ist. Solange du diese Vorstellung hast, übersiehst oder leugnest du die klare, offensichtliche Wahrheit 140
dieses Augenblicks. Buddhas sind Menschen, die sich ihrer Verblendung bewusst sind. Wir schreiben ihnen vielleicht besondere Einsicht zu, dabei sehen sie in Wirklichkeit nur, dass wir dieses Spielchen spielen. Sie sehen, wie wir dazu verführt werden. Und sie sehen, wie schmerzhaft es ist, dieses Spiel zu spielen, ohne es zu wissen. Wenn wir Zen üben, machen wir uns tagtäglich damit vertraut, wie schnell wir uns täuschen lassen, wie leicht wir uns von unseren Vorstellungen der Wirklichkeit einfangen lassen und wie fest uns all unsere Vorlieben und Abneigungen, unsere Ängste und Vorurteile binden. Und dennoch sind wir hier. Wir können nicht anders. In Wirklichkeit bist du bereits ein Buddha. Dies geschieht gerade. Es entgeht uns nur deshalb, weil wir es immer irgendwie interpretieren. Wir blasen etwas auf, das nichts Besonderes ist. Wenn wir Zen üben oder uns mit Zenlehren beschäftigen, geht es nicht darum, etwas zu finden oder sich etwas anzueignen. Es geht darum, die Wirklichkeit zu erkennen – dass uns gar nichts fehlt. Wir müssen lediglich erkennen, was vor sich geht. Darum geht es in der Meditation – um Achtsamkeit und Sosein. Die Welt ist nichts Besonderes – sondern Augenblick für Augenblick lebendig, unvorhersehbar und wirklich. Wir müssen lediglich sehen, wie sie ist und dass sie so ist – unmittelbar vor unseren Augen.
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TEIL ZWEI WANDEL VON HERZ UND GEIST
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27. Der Geist ist die Quelle
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er Geist ist die Grundlage. Der Geist ist die Quelle. Der Geist ist allgegenwärtig. Damit in diesem Augenblick etwas geschieht, muss der Geist gegenwärtig sein. Der Geist ist die Grundlage für dieses, für das, was jetzt geschieht. Das ist der eigentliche Kern von Buddhas Lehre: »Alle Dinge entstehen im Geist, sind unseres Geistes Schöpfung. Rede mit reinem Geist, handle mit reinem Geist, und Glück wird dir folgen.« Doch können wir wirklich mit einem solchen Geist sprechen oder handeln? Und was ist ein reiner Geist überhaupt? Ein reiner Geist begibt sich bereitwillig in jede Situation, wie immer sie aussehen mag. Mag sein, dass wir Trauer, Reue oder Kummer empfinden, doch wenn unser Geist rein ist, gleitet all das durch uns hindurch. Es findet nirgends Halt. Es reibt uns nicht auf. Im Geist ist nichts, was das Gefühl blockiert, daher verfängt es sich nicht. Wir haben nicht das Bedürfnis, ihm aus dem Weg zu gehen, es zu blockieren, zu ergreifen, etwas Größeres oder etwas anderes daraus zu machen. Es war einmal ein Zenlehrer, der weinte, als seine Frau starb. Das überraschte seine Schüler sehr. »Du bist erleuchtet! Weshalb weinst du?« Der Lehrer antwortete geradeheraus: »Sie wird mir fehlen.« In Wirklichkeit wollten seine Schüler damit sagen: »Wir dachten nicht, dass du menschlich bist.« Das ist natürlich Unsinn. Ein Zenlehrer ist ein Mensch mit menschlichen Empfindungen. Dennoch sind viele Menschen der irrigen Meinung, wir hätten nach dem Erwachen keine tiefen oder starken Gefühle mehr (oder sollten sie nicht mehr haben). Eine solche Auffassung ist reine Verblendung. Warum sollte uns 143
das Erwachen plötzlich dazu veranlassen, jedes menschliche Gefühl aufzugeben, etwas anderes als menschlich zu sein? Wenn unser Geist rein ist, sind unsere Gefühle nicht grundlegend anders. Doch das, was wir mit den Gefühlen anstellen (oder, besser gesagt, nicht mehr anstellen), ist in der Tat völlig anders. Buddha fuhr fort: »Alle Dinge entstehen im Geist, sind unseres mächtigen Geistes Schöpfung. Rede mit unreinem Geist, handle mit unreinem Geist, und Leiden wird dir folgen.« Was meint er, wenn er davon spricht, mit unreinem Geist zu handeln oder zu sprechen? Ein unreiner Geist ist ein gebrochener, gespaltener, zerteilter Geist – ein Geist, für den dieses das Gegenteil von jenem ist. Es ist der Geist, der das Selbst und das andere, Teilung und Entfremdung kennt – anders gesagt, unser ganz normaler Geist. In einem unreinen Geist tauchen Gefühle und Vorstellungen ebenso auf wie in einem reinen Geist – doch wir halten sie fest, statt sie hindurch- und weiterziehen zu lassen. Wir halten sie fest und bauen allerhand geistige Gebilde um sie herum auf. Wir tragen sie mit uns, identifizieren uns mit ihnen und stellen sie zur Schau. Mit anderen Worten, ein unreiner Geist ist dem Ganzen fern. Es ist der Geist des Ego. Ein Geist, der glaubt, von allem getrennt zu sein. Es ist ein Geist, der sich in Gier, Selbstsucht, Angst, Sehnsucht, Ablehnung und Anhaften verfängt. Buddha zögerte nicht, diesen Geist als Ursache des Leidens zu benennen. In der Zenpraxis geht es darum, den unreinen Geist als solchen zu erkennen. Es geht darum, zu sehen, was Augenblick für Augenblick geschieht, ohne es festhalten zu wollen. Es geht darum, die Dummheit und das Leiden des unreinen Geistes zu sehen. Zu sehen, dass der Versuch, die Kontrolle zu erlangen, nur Schmerz verursacht. Dieses Sehen ist selbst Ausdruck eines 144
reinen Geistes. Wir haben es immer mit dem Jetzt zu tun. Mit dem, was tatsächlich geschieht. Folglich konzentrieren wir uns in der Zenpraxis auf das, was sich jetzt in unserem Geist abspielt. Jede Art von Leiden – ob Angst, Wut, Einsamkeit, Traurigkeit oder Kummer – entsteht durch Anhaften. Je mehr wir lernen, das zu erkennen, desto besser können wir es gehen lassen, können wir es durch uns hindurchziehen lassen. Das ist Meditation. Während wir sitzen und meditieren, tauchen immer neue Gedanken auf. Mal sind sie beunruhigend, mal wunderbar. Aber sie hören nie auf. Und manchmal halten wir sie fest, spinnen sie weiter, erschaffen ganze geistige Welten. Das ist der unreine Geist, von dem Buddha sprach. In der Meditation üben wir, dieses Verhalten zu sehen. Ein weiterer häufiger Fehler des unreinen Geistes ist der Glaube, loslassen zu müssen – als ob das Loslassen ein spezieller, bewusster Vorgang wäre. Das ist es nicht, ebenso wenig wie das Einschlafen. In unserer Unwissenheit versuchen wir, unsere Gedanken vorsätzlich, gewaltsam loszulassen. Wir versuchen, den Vorgang des Loslassens zu kontrollieren. Doch das wird nicht funktionieren. So wenig, wie man sich zwingen kann einzuschlafen, kann man sich zwingen zu erwachen. Um loszulassen, musst du nur sehen. Wenn wir einfach sehen, lassen wir los – oder vielmehr, wir halten einfach nichts mehr fest. Der Geist ist bereits hier. Wir können also jederzeit einen reinen Geist haben. Wir müssen nur absolut ehrlich zu uns sein. Reinheit und Freiheit sind immer schon hier. Wir müssen nur sehen, Gedanken und Gefühle durch uns hindurchgleiten lassen und uns nicht einmischen.
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28. Seine Sache gut machen
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ie »halkyonischen Tage« nennt man die ruhige Zeit um die Wintersonnwende. Es ist eine Zeit des Nachdenkens, eine dunkle und traumerfüllte Zeit, die sich gut zur stillen Kontemplation eignet – nicht nur über das vergangene Jahr, sondern auch über die größeren Dimensionen und Aspekte unseres Lebens. In seinem Gedicht »Halcyon Days« beschwört Walt Whitman die Bilder dieser Jahreszeit herauf, er verwendet den Begriff aber im weiteren symbolischen Sinne, um von dem Glück und der Ruhe zu sprechen, die man am Abend eines langen, wohlgelebten Lebens findet. Whitmans Gedicht ist in einem Anhang zur Gedichtsammlung Grashalme zu finden, der den Titel »Sands at Seventy« trägt. Hier schreibt ein älterer Walt Whitman, doch sein Gedicht umfasst alle Lebensphasen, die Zeit der Liebe, die Zeiten der Erfolge und Siege, die Lebensmitte und natürlich das Alter. Jeder Lebensabschnitt ist wunderschön, und Whitman bringt dies in wenigen Zeilen und mit seiner unnachahmlichen Begeisterung zum Ausdruck: Nicht glückliche Liebe allein, Nicht Reichtum, ehrenvolle Lebensmitte noch Sieg in Politik und Krieg; Nein, wenn das Leben schwindet und sich der Sturm der Leidenschaften legt, Wenn prächtige, diesige Stille den Abendhimmel tönt, Wenn Weichheit, Fülle, Ruhe den Körper durchdringen mit mildem Hauch, 146
Wenn der Tag in sanfterem Licht erglüht und der Apfelendlich reif - noch träg am Baume hängt, Dann sind die ruhigsten, frohsten Tage da! Die traumschweren, glücklichen halkyonischen Tage! Ob Erfüllung und Glück in der Liebe, ob Reichtum oder errungene Siege, Whitman zollt allen Lebensabschnitten Tribut. Er erinnert uns aber auch daran, dass der Lebensabend ebenfalls seine Freuden hat. Wenn wir nur in die Vergangenheit und auf die aufregenderen, aktiveren Lebensaspekte blicken oder das Altern schrecklich finden, lassen wir uns etwas wahrlich Wertvolles entgehen. In der Jugend sind wir damit beschäftigt, alles zu ordnen und Vorbereitungen für die Ausbildung, Karriere, Ehe und Kindererziehung zu treffen. Was soll aus uns werden? Was sollen wir mit unserem Leben anfangen? Welche Interessen haben wir? Welche Talente? Was ist uns wichtig? Wonach sollen wir uns richten. Es ist eine turbulente Zeit voller Fragen, Pflichten, Aufgaben und Verantwortung. Doch am Abend unseres Lebens ist all das mehr oder weniger zufrieden stellend geregelt, und nun erstrahlt unser Leben in gedämpfterem Licht. Es wird ruhiger, wenn wir »endlich reif« sind, wie ein Apfel, der vollreif am Baum hängt. In Frankreich gibt es den Ausdruck la chose bien faite – die gut gemachte, die gut erledigte Sache oder das gut gelebte Leben. Das ist auch der Kern der Zenpraxis – gut zu handeln und zu leben, aus ganzem Herzen zu handeln und zu leben, das Beste zu geben und das bestmögliche Leben zu führen. Zeit unseres Lebens sind wir meist so sehr mit diesem oder jenem beschäftigt, hetzen wir durch die einzelnen Stadien und lockenden Zerstreuungen, dass wir uns die Zeit nicht nehmen (oder nehmen können), um es uns in dem stets gegenwärtigen sanfteren Licht bequem zu machen und unseren Körper vom 147
milden Hauch durchdringen zu lassen. Dabei entgeht uns diese nahe liegende Sache, nämlich einfach zu handeln und mit jeder Faser zu leben. Der Schauspieler Peter O’Toole erzählte einst von einem Mantel, den er in die Reinigung gegeben hatte. Als er den Mantel zurückbekam, war darin ein Zettel befestigt, auf dem stand: »Es würde uns Leid tun, wenn dieser Auftrag nicht zu Ihrer vollsten Zufriedenheit ausgeführt wäre.« Das bedeutet es für mich, voll und ganz Mensch zu sein. Nicht, dass wir perfekt sein müssten oder überhaupt dazu in der Lage wären, alles zu Perfektion oder Vollendung zu bringen, sondern vielmehr, dass wir uns darum bemühen. Genau darum geht es in der Zenpraxis: dass wir unser Bestes geben. Dass wir, egal was wir tun, jeder Aufgabe – sei sie bescheiden oder großartig – von Anfang bis Ende unsere ungeteilte Aufmerksamkeit widmen. Auf diese Weise gelangen wir jeden Augenblick zur Vollendung. Im Zen geht es nicht darum, irgendeinen Endpunkt zu erreichen, der in der Zukunft liegt. Genau genommen gibt es so etwas nicht. Es gibt keine Garantie dafür, dass wir ein hohes Alter erreichen werden. Es geht vielmehr darum, dass wir unser Leben jeden Augenblick ganz und gar, aus ganzem Herzen leben. Dass wir uns voll und ganz auf diesen Augenblick konzentrieren und auf das, was in diesem Augenblick entsteht, uns aber nicht an das Ergebnis klammern. Mit 20 Jahren entwickelte ich eine Leidenschaft für die Musik Gustav Mahlers. Ich beschloss, mehrere Porträts des Komponisten zu einer Collage zusammenzufügen, die ich mir an die Wand hängen wollte. Grundlage der Collage sollte eine Fotografie Mahlers vom Cover einer meiner Schallplatten sein. Aber ich brauchte mehrere Kopien davon. Da es ein scharfes, kontrastreiches Schwarzweißbild war, dachte ich, es müsse sich 148
leicht kopieren lassen. Das war zu einer Zeit, als es weder Copy-Shops noch Fotokopiergeräte gab. Wenn man Kopien von etwas brauchte, musste man in die Druckerei gehen. Ich fragte den Mann in der nahe gelegenen Druckerei, ob er das Bild reproduzieren könne. Er war sich nicht sicher, da das Bild auch ein paar feine Grautöne enthielt, sagte aber, er würde es versuchen. Er bat mich, ein paar Stunden später wieder vorbeizukommen. Eine Weile später war ich mit meinem Bruder zurück, aber der Mann in der Druckerei war noch nicht fertig. Er zeigte mir die angefertigten Kopien. Ich hielt sie für in Ordnung, aber er sagte, er sei nicht zufrieden. Er wollte mir die Kopien nicht geben und ging noch einmal in seine Werkstatt, um etwas daran zu ändern. Meinen Bruder und mich ließ er draußen warten. Ich war jung und ungeduldig und wurde bald ärgerlich. Aber mein Bruder, der elf Jahre älter ist als ich, hatte als Künstler und Lehrer für so etwas viel Verständnis. Als ich wütend wurde und anfing, mich zu beschweren, sagte er ruhig: »Der Mann ist ein Profi.« Seine Worte warfen mich fast um. Plötzlich wurde mir klar, dass sich dieser Mann sehr viel mehr Mühe bei der Arbeit gab, als ich es erwartet hatte. Er wollte mir nicht irgendeine Kopie aushändigen. Dies war sein Leben, und die Qualität seines Lebens zeigte sich in dem, was er machte. Es würde ihm Leid tun, nicht sein Bestes gegeben zu haben. Obwohl ich nicht sehen konnte, was den Bildern, die er mir zeigte, fehlte, und obwohl ich sie nehmen – und zahlen – wollte, wie sie waren, weigerte er sich, seine Arbeit für getan zu erklären. Er war in der Tat ein Profi. Schließlich gelangen ihm die Kopien doch so gut, dass er sich von ihnen trennte, aber dieser Vorfall, so unwichtig er auch scheinen mag, hinterließ einen gewaltigen Eindruck bei mir. Er lehrte mich sehr viel darüber, wie man sein Leben führen sollte. 149
Bald darauf begann ich, mich für Buddhismus und Zen zu interessieren. Damals war es mir noch nicht klar, doch die Begebenheit in der Druckerei tat viel, um meinen Geist auf das vorzubereiten, was mein Zenlehrer zu sagen hatte. Es gab auch andere Einflüsse. Ich hatte einen Onkel, der Schreiner war. Er war bereits sehr alt, als ich noch ein Kind war. Er war sein Leben lang Schreiner gewesen und erblindet, nachdem er sich zu Ruhe gesetzt hatte. Trotzdem schreinerte er weiter – sogar komplizierte Stücke mit passgenauen Fugen. Jeder war von seinem Können beeindruckt. Aber er hatte sein Leben lang mit Holz und Sägen und Stechbeiteln gearbeitet. Sein Wissen und sein Können steckten in seinen Knochen, seinem Geist, seinem Herzen und in seinen Händen. Ich erinnere mich daran, dass ich ihn einmal zufällig bei der Arbeit in der Werkstatt überraschte. Ich sah ihm von der Kellertreppe aus zu. Ich weiß nicht einmal, ob er merkte, dass ich da war. Er arbeitete einfach langsam, aber stetig weiter. Am meisten beeindruckte mich, wenn er ein Stück Holz in die Hand nahm. Noch nie zuvor hatte ich jemanden so mit einem Gegenstand umgehen sehen. Er waren seine Hände. Er liebkoste das Holz. Ich wusste, dass er sehr viel über den Gegenstand sagen konnte, den er in den Händen hielt, denn seine Hände schienen sich lückenlos um das Holz und sein Werkzeug zu schmiegen. Die Arbeit bereitete meinem Onkel keine Mühe. Die Zeit des Lernens, des Übens, des Arbeitens war vorüber. Eine Berührung verriet ihm, was ein jüngerer, nicht so erfahrener Kollege in vielen Jahren würde lernen müssen. Wenn wir unser Leben voll und ganz leben wollen, müssen wir jeden Augenblick bis zur Neige auskosten. Dabei verschmelzen wir mit unserem Objekt, mit dem, was wir tun – was es auch sein mag. Irgendwann wird eine Sache, der wir uns rückhaltlos widmen, 150
Teil unseres Lebens. Wir haben sie uns einverleibt. Wir haben nicht nur eine Vorstellung davon, sondern kennen sie durch und durch. Sie steckt in unseren Händen und Fingern, in unseren Knochen und im Mark. Und wir müssen uns nicht mehr übermäßig anstrengen. Wie Whitman sagt, schließt ein Leben, das diese Art von Vollkommenheit zeigt, alles ein – alles Glück, alle Liebe und alle Leidenschaften, alles Wachsen und Reifen, all das ist hier und jetzt und wird in Form unseres Lebens zum Ausdruck gebracht. Der Onkel, von dem ich erzählte, war ein alter Mann. Er konnte nicht mehr hinausgehen und Baseball spielen wie früher. Sein Leben war ruhiger geworden. Aber es war immer noch voller Kraft und Energie – sie war nur von anderer Art. Wenn wir gereift und gealtert sind und viel vom Leben gesehen haben, können wir das Gelernte ruhig und leidenschaftslos überdenken. So kann sogar im Alter Neues reifen, Neues auf uns zukommen. Wenn wir lernen, jeden Augenblick unseres Lebens voll auszukosten, können wir zufrieden damit sein, wie wir in jede neue Erfahrung hineingehen, und sind nicht davon abhängig, dass uns jemand oder etwas außerhalb von uns selbst vervollständigt. Wenn wir unser Leben voll und ganz leben, gibt es kein »außerhalb«, denn wer sein Leben wahrhaft lebt, hat die Fesseln des Selbst abgestreift.
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29. Der beste Bogenschütze der Welt
Z
iel der Zenpraxis ist der völlige Wandel von Herz und Geist. Wenn du Zen lebst, verändert es dich von Grund auf. Natürlich veränderst du dich jeden Augenblick, ob du Zen kennen lernst oder nicht. Doch wenn du nicht Acht gibst, welcher Art diese Verwandlung ist, wirst du kaum erwachen. Normalerweise denken wir, zu einem erfüllten Leben gehören Ziele. Wenn wir angefangen haben, Zen zu üben, setzen wir uns vielleicht die Erleuchtung zum Ziel. Doch im Zen geht es nicht darum, dass wir uns ein Ziel ausdenken und dann sehr viel Zeit und Energie darauf verwenden, es zu erreichen. Das ist nur unser normales Denken – unsere übliche, eingefahrene Art und Weise, am Leben und der Welt zu haften. Zen bedeutet, frei zu sein von allen Anhaftungen. Zen bedeutet, dass wir diesen Augenblick erleben und sehen, was geschieht, statt uns alle möglichen Theorien und Erklärungen auszudenken. Es gibt eine taoistische Geschichte, die das sehr schön illustriert. Sie handelt von einem Mann namens Chi-ch’ang, der den Wunsch hatte, der beste Bogenschütze der Welt zu werden. Also machte er sich auf die Suche nach dem besten Lehrmeister. Wie er gehört hatte, war das ein Mann namens Wei-fei. Wei-fei erklärte Chi-ch’ang zuerst, er müsse lernen, nicht mehr zu zwinkern. Chi-ch’ang legte sich mit offenen Augen unter den Webstuhl seiner Frau, und der Staub und die Fusseln von ihrem Webstuhl fielen in seine Augen. Als eine Spinne zwischen seinen Wimpern ihr Netz spann, wurde ihm klar, dass er die Kunst des Nichtzwinkerns gemeistert hatte. Er ging zu Wei-fei und zeigte ihm stolz, was er gelernt hatte. Wei-fei blieb ungerührt und sagte, dass er nun lernen müsse zu 152
sehen. Er zeigte Chi-ch’ang, wie er die Dinge betrachten musste, bis Chi-ch’ang nach langem Üben die feinsten Adern eines Weidenblatts aus hundert Schritt Entfernung sehen konnte. Nun, so sagte Wei-fei, sei Chi-ch’ang bereit, das Bogenschießen zu lernen. Chi-ch’ang blieb viele Jahre lang Wei-feis Schüler, bis er die Kunst des Bogenschießens schließlich gemeistert hatte. Danach zog er umher und prahlte mit seinen Kunststücken. Er balancierte Wassergläser auf seinem Ellbogen und schoss gleichzeitig hundert Pfeile in ein hundert Schritte entferntes Weidenblatt, ohne einen Tropfen Wasser zu vergießen. Aber sein Ziel, der beste Bogenschütze der Welt zu sein, hatte Chi-ch’ang noch immer nicht erreicht. Einer stand ihm noch im Weg: sein Lehrer Wei-fei. Er war zwar ebenso gut wie sein Lehrer, doch solange Wei-fei lebte, würde er ihn niemals übertreffen. Chi-ch’ang lauerte ihm auf, und als Wei-fei eines Tages auf eine Lichtung hinaustrat, zielte er mit einem Pfeil geradewegs auf sein Herz. Wei-fei aber war sehr scharfsichtig und hatte bemerkt, was vor sich ging. Er nahm einen Pfeil aus seinem Köcher und schoss damit Chi-ch’angs Pfeil geradewegs aus der Luft. Ein bizarrer Kampf entbrannte. Wei-fei begegnete jedem von Chi-ch’angs Pfeilen seinerseits mit einem Pfeil. Pfeil um Pfeil prallten in der Luft aufeinander, bis Wei-fei alle Pfeile verschossen hatte. Chi-ch’ang ließ seinen letzten Pfeil fliegen, und als er auf Wei-feis Herz zuflog, riss dieser einen Zweig von einem nahen Baum. Es gelang ihm damit, Chi-ch’angs Pfeil in letzter Sekunde abzuwehren, sodass dieser sich zu seinen Füßen in den Boden bohrte. Inzwischen waren beide Männer so überwältigt von dem Geschick, das sie bewiesen hatten, dass sie aufeinander zuliefen und einander in die Arme schlossen. Aber Wei-fei vergaß nicht, in welch großer Gefahr er schwebte. Er erzählte Chi-ch’ang von 153
einem noch besseren Bogenschützen namens Kan-ying, gegen den sie beide wie ungeschickte Kleinkinder aussähen. Als Chi-ch’ang hörte, dass Wei-fei sein Können als Kinderkram bezeichnete, war sein Stolz verletzt, und er machte sich unverzüglich auf die Suche nach Kan-ying. Seine Suche führte ihn in ferne, exotische Länder. Schließlich fand er Kan-ying in einer Höhle auf einem hohen Berg. Kan-ying war sehr alt, sehr viel älter als alle Menschen, denen Chi-ch’ang je begegnet war. »Ich komme, um zu sehen, ob ich tatsächlich ein so großartiger Bogenschütze bin, wie ich glaube«, brüllte Chi-ch’ang. Er griff nach seinem Bogen, spannte ihn und erlegte eine Gans, die hoch über ihren Köpfen dahinflog. Scheinbar unbeeindruckt sprang der alte Mann auf einen schmalen Felsvorsprung über einer abgrundtiefen Schlucht und forderte Chi-ch’ang auf, es ihm gleichzutun. Chi-ch’ang war zu stolz, um diese Herausforderung abzulehnen, und sprang ebenfalls auf den Vorsprung. Sofort wurde ihm schwindelig, und in seinem Kopf begann sich alles zu drehen. Er hatte keine andere Wahl, als auf Knien zurückzukrabbeln. Chi-ch’ang rang noch damit, die Fassung wiederzufinden, als er zurückblickte und sah, wie Kan-ying auf einen Vogel deutete, der so weit oben flog, dass er kaum größer war als ein Sesamkorn. Er bemerkte auch, dass Kan-ying weder Pfeil noch Bogen in der Hand hatte. Dennoch tat er so, als spanne er den Bogen, und ließ den unsichtbaren Pfeil mit einem Zischen fliegen. Der Pfeil traf sein Ziel, und der Vogel fiel vom Himmel. Da wurde Chi-ch’ang klar, dass er noch viel zu lernen hatte. Die Geschichte verschweigt, was es genau war, was Chich’ang bei Kan-ying lernte, aber zehn Jahren später kehrte er in sein Dorf zurück. Alle dort wussten, wie arrogant und eingebildet er gewesen war, aber sie sahen auch, dass er sich verändert hatte. Fort war der Ausdruck von Selbstgefälligkeit 154
und Verachtung. Fort war auch sein Bogen. Trotzdem war offensichtlich, dass er etwas Großartiges gelernt hatte, und die Dorfbewohner warteten allesamt auf die ganz großen Bogenkunststücke, die er zweifellos bald vorführen würde. Aber Chi-ch’ang zeigte ihnen nichts. Die Zeit verging, er wurde älter, aber er zeigte ihnen nichts. Dennoch pries man sein Können nah und fern. Kurz vor seinem Tode stattete er einem Freund einen Besuch ab und sah dort in einer Ecke einen Bogen stehen. »Wie heißt das Gerät dort in der Ecke«, fragte Chi-ch’ang, »und wozu dient es?« Sein Freund erwiderte: »O Meister! Jetzt weiß ich, dass Ihr wahrlich der größte Bogenschütze im ganzen Land seid, denn nur so konntet Ihr sowohl den Namen als auch den Zweck des Bogens vergessen.« Bald drauf starb Chi-ch’ang. Es heißt, eine Zeit lang hätten alle Künstler in seinem Dorf ihre Pinsel fortgeworfen und die Schreiner sich ihres Zollstocks geschämt. Es ist kein Versehen, dass die Geschichte uns verschweigt, was den völligen Wandel Chi-ch’angs herbeiführte. Niemand weiß, was es war. Es ist wichtig, dass wir das verstehen. Es ist nichts Besonderes geschehen, worauf wir mit dem Finger zeigen und wovon wir sagen könnten, es hätte den Wandel von Chi-ch’angs Herz und Geist bewirkt. Indem Chi-ch’ang sah und verstand, lernte er, dass »dort draußen« nichts zu holen, zu meistern, zu ergreifen, zu erlangen war. Er erkannte, dass die Wirklichkeit immer genau hier ist, dass wir das Leben meistern müssen, das wir genau hier, genau jetzt leben – Augenblick für Augenblick. Chi-ch’ang lernte, sich von der Sehnsucht des Herzens zu befreien – sich von dem Verlangen zu befreien, etwas Besonderes zu sein. Irgendwann müssen wir wie Chi-ch’ang erkennen, worum es bei der Zenpraxis geht. Es geht um geistige Freiheit. Darum, 155
sich nicht in Zielen, in seinem Stolz oder in Ideen zu verfangen. Es geht nicht darum, dass wir unser Leben aufgeben. Es geht noch nicht einmal darum, dass wir unsere Ziele aufgeben. Aber es geht darum, dass wir nicht anhaften. Darum, dass wir als einfache, aber freie Menschen durch diese Welt ziehen, ohne uns von den Dingen täuschen zu lassen, die wir sehen, hören und fühlen. Solange wir eine ähnliche Geisteshaltung haben wie Chich’ang in seinen frühen Jahren, haben wir Zenlehre und -praxis nicht verstanden. Dann stecken wir lediglich in der üblichen, gierigen, besitzergreifenden Art zu leben fest. Immer wieder müssen wir uns unsere tatsächlichen Lebensumstände bewusst machen und das besitzergreifende Wesen unseres Geistes erkennen, der das eine vom anderen trennt und das eine über das andere stellt. Wir müssen erkennen, dass unsere Verwirrung und unser Schmerz ihren Ursprung in eben jener Neigung unseres Geistes haben. Wenn wir uns mit unserem Herzen und unserem Geist vertraut machen – wenn wir sehen, wie ängstlich, begehrlich, besitzergreifend sie sind –, werden wir verwandelt. Dadurch befreien wir uns von Verwirrung und Schmerz.
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30. Die Wahrheit ist nichts Besonderes
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achdem Katagiri Roshi mir erlaubt hatte, ein wenig zu lehren, dauerte es nicht lange, bis mir klar wurde, wie unmöglich es ist, die Wahrheit zu lehren. Ich wollte etwas sagen, doch jedes Mal, wenn ich etwas sagte, hatte ich das Gefühl, hinzufügen zu müssen: »Na ja, das ist nicht ganz das, was ich meinte.« Bald wurde mir klar, dass es mir niemals gelingen würde zu sagen, was ich tatsächlich meinte. Zumindest nicht hundertprozentig. Es war buchstäblich unmöglich, das zu sagen, was ich sagen wollte. Also wollte ich aufhören zu lehren. Ich ging zu Katagiri Roshi und erzählte ihm von meinen Bedenken. »Ich kann es nicht in Worte fassen«, sagte ich. »Aber du musst etwas sagen«, erwiderte er. »Wenn du nichts sagst, wird es niemand verstehen.« Wenn uns jemand etwas mitteilt, meint der Betreffende üblicherweise wortwörtlich, was er sagt. Bei Dharma-Worten ist das anders. Es gibt nichts, was du aufnehmen, dir einprägen oder deiner Ideenbank hinzufügen müsstest. Du hast bereits all das, worauf der Dharma hinweist. Dharma-Worte erinnern uns vielmehr daran, zur Kenntnis zu nehmen, was wir bereits sehen und wissen, aber vor langer Zeit vergessen haben. Manchmal finden wir es beunruhigend, dazusitzen und zuzuhören, ohne etwas festzuhalten. Wir hören einen DharmaVortrag, und wenn man uns hinterher danach fragt, sagen wir: »Er war gut.« »Worum ging es?«, werden wir gefragt. Zu unserem Erstaunen stellen wir dann fest, dass wir es nicht sagen können. Trotzdem haben wir das Gefühl, der Vortrag habe uns viel gebracht, obwohl wir nichts Besonderes daraus 157
mitgenommen haben – nichts, das wir festhalten könnten. Der Unterschied ist klein, aber wir müssen immer wieder darauf zurückkommen und darauf hinweisen: Der Dharma ist anders als alle anderen Lehren. Beim Dharma heißt es nie: »Das ist es. Das musst du wissen. Das solltest du glauben.« Stattdessen geht es darum, zu erwachen und zu sehen, was sich nicht in Worte kleiden, was sich nicht fassen, was sich nicht begrifflich festlegen lässt – worauf zwar hingewiesen, was aber nur unmittelbar gesehen werden kann. Zwei Zenschüler unterhalten sich. Sagt die eine: »Zen ist harte Arbeit. Tag und Nacht muss man Disziplin üben.« Darauf der andere: »Das stimmt überhaupt nicht. Zen ist natürlich und leicht, wie fließendes Wasser, das nach Ausgleich strebt.« Die Schülerin ist überzeugt davon, Recht zu haben. Also beschließt sie, sich Bestätigung von ihrem Lehrer zu holen. »Zen ist schwierig«, setzt sie an. »Man muss sehr hart arbeiten und sehr diszipliniert sein, nicht wahr?« Der Lehrer sieht sie an und sagt: »Da hast du Recht.« Sie ist hocherfreut, dass der Lehrer ihre Einsicht bestätigt, läuft unverzüglich zu dem anderen Schüler und sagt: »Roshi gibt mir Recht! Zen ist harte Arbeit.« Dieser denkt: »Wie ist das möglich? Zen ist das Natürlichste von der Welt. Nichts daran ist irgendwie schwer.« Also macht er sich auf den Weg zu seinem Lehrer. »Zen ist ganz natürlich und einfach«, setzt er an. »Es ist wie die Blätter, die im Herbst vom Baum fallen, nicht wahr?« »Da hast du Recht«, antwortet ihm sein Lehrer. Leider ist der Assistent des Lehrers beide Male zugegen. Nachdem der zweite Schüler gegangen ist, kann er sich nicht mehr beherrschen und platzt heraus: »Moment mal! Erst hast du ihr Recht gegeben, als sie sagte, Zen sei schwierig, und dann hast du ihm Recht gegeben, als er sagte, Zen sei einfach. Was 158
stimmt denn nun? Es kann ja wohl nicht beides richtig sein!« »Da hast du Recht«, erwidert Lehrer. Was soll man von einer solchen Geschichte halten? Ist sie einfach nur albern? Dumm? Widersprüchlich? Absurd? (Wenn du denkst, der Zenlehrer würde auf alle ihm gestellten Fragen »Da hast du Recht« antworten, irrst du dich.) Die Falle, in die wir tappen, besteht darin, dass wir versuchen Dinge festzuhalten. Solange wir das tun, werden wir nicht sehen, was diese Geschichte uns offenbaren will – dass die echte Welt, die stets unverhüllt und offensichtlich ist, außerhalb unserer begrifflichen Reichweite liegt. Man kann auf die Wirklichkeit zwar hinweisen, man kann sie aber weder genau beschreiben noch über sie sprechen. Es fällt uns so viel leichter, nach Erklärungen und Geschichten zu suchen, als einfach zu sehen. Während wir die Welt geistig in Schubladen stecken, beharren wir darauf, die Dinge hätten so oder so zu sein – oder wir erklären die ganze Sache für lächerlich. Und wenn wir gerade unseren großzügigen Tag haben, sagen wir vielleicht etwas wie: »Ja, du siehst das so, aber ich sehe das so.« Wenn wir eine dieser Verhaltensweisen an den Tag legen, entgeht uns die Wirklichkeit (oder wir meiden oder ignorieren sie). Wir müssen aufhören, nach etwas Besonderem, einer besonderen Vorstellung, einer besonderen Lehre, einer besonderen Antwort zu suchen, die uns aus der Patsche hilft. Wir sehen nicht, dass alles, was wir zu fassen bekommen, vom Ganzen isoliert und abgeschnitten ist. Die Wahrheit – Dharma, die Wirklichkeit – finden wir einfach nicht in unseren Vorstellungen und Überzeugungen. Unser Leben besteht aus Erfahrungen, nicht aus Beschreibungen. Wir haben zwar das Bedürfnis, unsere Erfahrungen mit anderen zu teilen, doch das ist im Grunde genommen unmöglich. Wenn du einen Sonnenuntergang mit jemandem teilen 159
willst, hat es keinen Sinn, ihn zu beschreiben (oder darüber zu diskutieren, wie er sich am besten beschreiben lässt). Stell dich einfach neben den anderen und sieh dir an, wie die Sonne untergeht, ohne ein Wort zu sagen. Der größte Fehler, den ein Lehrer machen kann, ist das, was er seinen Schülern sagt, für die Wahrheit zu halten. Wenn der Schüler das Gehörte verinnerlicht, kann der Lehrer es ihm nicht wieder wegnehmen und ihn so die Freiheit schmecken lassen. Letztlich müssen wir jede Hoffnung darauf aufgeben, die Wahrheit dadurch zu finden, dass wir etwas Besonderes zu fassen bekommen – eine besondere Vorstellung, Überzeugung, Ritual, Religion, Sichtweise, Art sich zu kleiden oder sich zu verhalten. Irgendwann müssen wir aufhören, nach einem Retter zu suchen, nach einem Dach, nach etwas, womit wir uns identifizieren können, was uns besser, was uns ganz macht. Wir müssen aufhören, verstehen und verstanden werden zu wollen, denn dann können wir diesen Augenblick erleben – lebendig und wach.
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31. Ohne religiösen Egoismus
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er Zen übt, bemüht sich um einen Geist, der nicht immer nur aus dem Dualismus, das heißt aus dem Selbst heraus handelt. Der bemüht sich um einen Geist, der dem Ganzen entspringt, der die Ganzheit alles Handelns sieht, in der alle Menschen leben und die alles aufrechterhält. Das Bemühen um einen solchen Geist wird manchmal als die Praxis der Ichlosigkeit bezeichnet. Ein solcher Geist stellt sich nicht automatisch ein, nur weil wir meditieren, Vorträge über den Buddhismus hören, buddhistische Bücher lesen oder uns als Buddhisten bezeichnen. Es kostet große Anstrengung, die noch dazu in die richtige Richtung gehen muss – und damit ist nicht gemeint, dass wir diese fließende, unvorstellbare Welt »dort draußen« in Ordnung bringen müssen. Es geht vielmehr in erster Linie darum, dass wir lernen, tief in unser eigenes Leben und unser Herz hineinzusehen und den Ursprung unserer Schwierigkeiten und unserer Verwirrung zu erkennen. Alle buddhistischen Lehren und die gesamte buddhistische Praxis beschäftigen sich mit diesem einen Problem – der allgemeinen Verwirrung in Bezug auf sich selbst. Folglich ist Zen eine sehr nüchterne Angelegenheit. Man kann nicht einfach so tun, als ob man Zen übt. Man kann nicht einfach meditieren, Bücher lesen, den Unterricht besuchen, an Kursen und an Meditationsseminaren teilnehmen, als sei das Studium des Buddha-Dharma lediglich ein weiteres Selbsthilfeprogramm. Hier geht es nicht darum, dem Selbst zu helfen. Es geht darum, dieses so genannte Selbst als das zu sehen, was es ist – eine Illusion. Das bedeutet, wir müssen uns tatsächlich mit den Dingen auseinander setzen, darüber nachdenken, uns ansehen, was vor 161
sich geht, und daran arbeiten. Kurz, wir müssen tatsächlich sehen, was wir tun. Unser Problem ist nicht die Welt dort draußen. Es geht nicht darum, »denen da« zu sagen, wo es langgeht, oder eine bestimmte Situation zu regeln. Es geht darum, den eigenen Geist zu betrachten. Es war einmal ein Zenlehrer, der einen seiner Schüler ganz besonders lobte. Das verwirrte einige Leute, und sie erkundigten sich danach, was denn so außergewöhnlich an ihm sei. »Kommt mit«, sagte der Lehrer und führte sie zum Zimmer des Schülers. Er klopfte an die Tür. Drinnen raschelte Papier, ein Stift wurde hingeworfen, ein Buch geschlossen, und schließlich waren Schritte zu hören. Die Tür ging auf, und ein junger Mann fragte: »Ja bitte?« »Entschuldigung, wir haben uns im Zimmer geirrt«, sagte der Lehrer. Sie gingen zum nächsten Zimmer, und auch dort klopfte der Lehrer an. Sofort waren Schritte zu hören. Die Tür ging auf, und ein junger Mann fragte: »Ja bitte?« »Dürfen wir hereinkommen?«, fragte der Lehrer. Der Schüler bat sie herein. Im Zimmer stand ein Tisch mit einem Blatt Papier, darauf ein angefangener Kreis, der mittendrin abgebrochen worden war. Der Schüler hielt den Kalligraphiepinsel noch in der Hand. Offensichtlich hatte er gerade begonnen, einen Kreis zu malen, war aber vom Klopfen an der Tür unterbrochen worden. Daraufhin wandte sich der Lehrer an seine Gäste und sagte: »Einem solchen Menschen kann man etwas beibringen.« Dieser Lehrer wusste, wie viel leichter es ist, jemanden zu unterrichten, der willens ist, von eigenen Plänen und Vorhaben abzurücken. Deshalb fand er den Schüler so erfrischend. Ein solcher Mensch kann von einem wahren Lehrer schnell lernen – falls er das Glück hat, einen solchen zu finden. 162
Anfangs mag uns vieles am Zen in weiten Teilen verwirrend oder widersprüchlich erscheinen. Doch mit der Zeit, mit Mühe und Aufmerksamkeit, klären sich diese scheinbaren Widersprüche allmählich auf. Mit meinem Lehrer ist mir das jedenfalls wiederholt passiert. Er sagte oft Dinge, die mir zuerst absurd, lächerlich oder schlichtweg falsch erschienen. Aber ich stellte meine Zweifel hintan und hielt die Augen offen und lernte allmählich, was er mir zu zeigen hatte. Etwas später dämmerte mir, dass diese scheinbaren Zweideutigkeiten, Widersprüche, Paradoxa und Rätsel in Wirklichkeit oft weder widersprüchlich noch zweideutig waren. Nur die Vermutungen und ungeprüften Neigungen meines Geistes ließen sie so erscheinen. Die Praxis war nicht leicht für mich, nachdem ich Katagiri Roshi kennen gelernt hatte. Dreimal hätte ich beinahe aufgegeben – zweimal, weil ich zu der Überzeugung gelangt war, Zen sei verrückt, und einmal, weil ich nach einiger Zeit bei ihm glaubte, dem Ganzen nicht gewachsen zu sein. Aber ich tat es nicht. Natürlich war meine Ausbildung in manchen Punkten nicht optimal (wie könnte das auch anders sein?), aber Katagiri Roshi zeigte mir alles, was ich wissen musste. Ob ich etwas von ihm lernte, blieb mir überlassen. Da mischte er sich nicht ein. Er war ein sehr guter Lehrer. Ich hätte wohl nie etwas von ihm gelernt, wenn ich meine Vorstellungen und Vorlieben nicht an einigen entscheidenden Punkten bereitwillig zurückgestellt hätte. Unter seiner Führung konnte ich meine eigenen Meinungen und Überzeugungen locker in der einen Hand halten, während ich das, was er mir zeigte, in der anderen drehen und wenden und ungehindert prüfen konnte. Es ist unumgänglich, dass wir den Griff lockern, mit dem wir lieb gewonnene Vorstellungen, Ansichten und Urteile festhalten, so wie der Kalligraphieschüler seinen Kreis aufgab. Wenn du an einer bestimmten Ansicht – von der Welt, von Fairness, vom 163
Buddhismus, von dir selbst – festhältst, wirkt sich das störend aus oder erzeugt Widerstand gegen das, was ein Lehrer dir zeigt. Dann wirst du nicht wirklich sehen. Oder du tauschst lediglich die alte Ansicht, an die du zuvor geglaubt hast, gegen eine neue aus. Wenn du das tust, spielst du nur Zen. Dann findet weder in deinem Herzen noch in deinem Geist ein Wandel statt, und es ändert sich auch nichts an der zugrunde liegenden Verwirrung. Wir müssen aber auch erkennen, dass der umgekehrte Ansatz ebenso verfehlt ist – nämlich alles, was einem vom Lehrer präsentiert wird, unreflektiert zu übernehmen, ohne es kritisch, offen, sorgfältig, fair und respektvoll zu prüfen. Offenheit ist nicht blinde, gedankenlose Akzeptanz. Das wäre nur eine weitere Form von Anhaften – in diesem Fall klammert man sich an die Vorstellung, das vom Lehrer Gesagte sei zwangsläufig richtig. Wir müssen uns diese Worte Buddhas zu Herzen nehmen: Glaubt mir nicht, nur weil ich als Lehrer vor euch stehe. Glaubt mir nicht, nur weil andere es tun. Und glaubt auch nicht, nur weil ihr es in einem Buch gelesen habt. Verlasst euch nicht auf Berichte oder Tradition oder Hörensagen oder die Autorität religiöser Führer oder Texte. Stützt euch nicht auf bloße Logik oder Hypothesen oder Phänomene oder Spekulationen. Erkennt selbst, dass gewisse Dinge unheilsam und falsch sind. Und hört auf damit, wenn ihr es wisst. Und wenn ihr erkannt habt, dass gewisse Dinge heilsam und gut sind, dann nehmt sie an und folgt ihnen. Nützlich in dieser Frage ist auch Buddhas Rat, Extreme zu vermeiden. Sei nicht zu leichtgläubig. Sei aber auch nicht zu kritisch und geringschätzig. Der Buddha-Dharma rät uns eindringlich, ein guter Skeptiker im klassisch-griechischen Sinne zu sein. Ein guter Skeptiker ist auch ein bisschen leichtgläubig: Er ist bereit, über jeden Beweis, jedes aufgeworfene Thema 164
nachzudenken und es zu prüfen – zumindest eine gewisse Zeit lang. Er akzeptiert eine Sache weder unkritisch, noch lehnt er sie auf der Stelle ab. Er beobachtet sie eine Weile, prüft sie und befasst sich interessiert, neugierig und offen damit. Den Gläubigen, nicht den Skeptiker erkennt man daran, dass er etwas als völligen Blödsinn verurteilt, ohne es zuvor geprüft zu haben. Wer nicht bereit ist, etwas zu prüfen, hat seine eigenen Vorurteile, ist nicht offen für die tatsächliche Erfahrung und hat so viele eigene Ideen, dass er nicht sehen kann, was um ihn herum passiert. Für einen solchen Menschen hat die Welt eine feste Struktur, und oft ist er in seinem eigenen Starrsinn gefangen: dass er darauf beharrt, bestimmte Möglichkeiten oder Ansichten gering zu schätzen und zu verwerfen. Das ist Zynismus, nicht Skepsis. Wenn wir uns um einen reinen Geist bemühen, müssen wir von unseren Vorurteilen Abstand nehmen. Das heißt freilich nicht, dass wir uns die Vorurteile anderer zu Eigen machen sollten – zum Beispiel die eines Lehrers. Ein echter DharmaLehrer würde niemals von dir verlangen, dass du seinen Vorstellungen folgst. Im Grunde hat er, was dich betrifft, gar keine Vorstellungen. Es liegt ihm lediglich daran, dass du erwachst. (Mein Lehrer pflegte zu sagen, die letzte Aufgabe eines Lehrers sei es, den Schüler vom Lehrer zu befreien.) Viele von uns haben, wenn sie sich dem religiösen Leben zuwenden, hehre Vorstellungen von dem, was sie erreichen werden. Doch das ist nur noch mehr Egoismus, noch mehr vom üblichen Denken – religiöser Egoismus. Wenn wir ein wahrhaft religiöses Leben führen möchten, müssen wir unsere eigenen Vorstellungen aufgeben – auch die religiösen. Erst dann können wir anfangen, einen Geist wahrer Tugend und wahren Mitgefühls zu entwickeln, der seinen Ursprung in der Sorge um das Ganze hat. Wenn wir aus einem solchen Geist heraus leben, können wir großzügig sein, ohne das Gefühl zu haben, etwas aufgeben oder 165
ein Opfer bringen zu müssen. Dann können wir offen sein, ohne das Gefühl zu haben, tolerant sein zu müssen. Dann können wir geduldig sein, ohne das Gefühl zu haben, etwas ertragen zu müssen. Dann können wir mitfühlend sein, ohne das Gefühl zu haben, ausgenutzt zu werden. Dann können wir weise sein, ohne das Gefühl zu haben, jemanden verbessern zu müssen.
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32. Das richtige Motiv
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ie meisten Menschen fangen mit ihrem Alltagsgeist an, Zen zu üben – das heißt, sie haben die Vorstellung, davon irgendwie zu profitieren, gesünder oder glücklicher oder besser geerdet oder spiritueller zu werden; oder sie denken, dass Zen sie anderweitig zu besseren Menschen macht. In der Tat prüfen wir bei den meisten neuen Projekten zuerst, was sie uns bringen werden. Wieso sollten wir uns auch bemühen, wenn dabei nichts für uns herausspringt? Das ist nicht wahres Zen. Diese Art von Zen kann mancherlei Gestalt annehmen, je nachdem, was du dir davon erwartest. Am häufigsten übt man um der eigenen Person willen. Du willst deinem Schmerz und deinem Leid ein Ende bereiten. Du möchtest gerne ZenErfahrungen machen. Die meisten von uns fangen so an. Irgendwann stoßen wir vielleicht auf die weit verbreitete Vorstellung, dass wir Zen zum Wohle aller Wesen üben sollten. Normalerweise lernen wir dann, unseren Geist auf andere zu richten. Doch wenn uns das tiefe Verständnis dafür fehlt, dass das Selbst und die anderen eins sind, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass wir eine Fassade von Nächstenliebe aufbauen, die verdeckt, dass die Sorge um das Selbst auch weiterhin unser Hauptmotiv ist. Wir wollen allen Wesen helfen. Wir wären gern eins mit den andern. Wir hätten gern weniger egoistische Motive. Auch das ist nicht wahres Zen. Oder wir üben, weil wir hoffen, eine mystische Erfahrung zu machen – möglicherweise erwarten wir, Zwiesprache mit Gott halten zu können oder in einer Woge des Entzückens oder der Energie zu vergehen. Das ist schön und gut, aber auch das ist nicht Zen. Genau genommen ist eine solche Einstellung noch 167
nicht einmal buddhistisch. Zen kennt keine äußeren Beweggründe. Wir üben Zen um seiner selbst willen. Wenn du aus einem anderen Grund anfängst, Zen zu üben, sieht es vielleicht aus wie Zen, ist es aber nicht. Es ist Verwirrung – das Übliche. Wir beschäftigen uns gerne mit Dingen, die besonders und wunderbar sind und uns Macht verleihen. Von außen kann es durchaus so aussehen, als träfe all das auf die Zenpraxis zu – oder als könnte sie uns diese Eigenschaften verleihen. Aber derartige Gedanken sind reine Verblendung. Zen ist nichts von alledem. Der Zenlehrer Bankei war ein beliebter Redner, und viele Menschen kamen, um ihm zuzuhören. Eines Tages erschien der Schüler einer anderen buddhistischen Richtung, der Bankei seine große Zuhörerschaft neidete, und unterbrach seinen Vortrag, weil er ihn in eine Diskussion verwickeln wollte. »Der Gründer unserer Sekte«, sagte der Schüler, »stand am einen Ufer, sein Diener stand am anderen Ufer des Flusses und hielt ein leeres Blatt Papier in die Höhe. Dann schrieb unser Meister mit seinem Pinsel den Namen Buddhas durch die Luft auf das Blatt. Kannst du das auch?« »Das ist ein toller Trick«, sagte Bankei, »aber es ist nicht Zen. Das Wunder, das ich wirke, besteht darin, dass ich esse, wenn ich hungrig bin, und trinke, wenn ich durstig bin.« Wir müssen uns wirklich darüber klar werden, dass Zen nichts mit irgendwelchen Wundern oder besonderen Kräften zu tun hat. Wir finden es im Alltag und im einfachen Leben. Aber wenn wir anfangen, Zen zu üben, weil wir glauben, etwas Besonderes dabei zu lernen, bleiben wir in unserem alltäglichen Geist, in unserem normalen Denken gefangen, in dem sich alles um Nutzen, Ziele und Gewinne dreht. Simone Weil schrieb: »Der mittelmäßige Teil unserer selbst fürchtet nicht die Erschöpfung und das Leiden, er fürchtet das, 168
was ihm selbst den Tod bringen könnte.« Sieh dir nur an, wie viel Schmerz und Leid die Menschen in ihrem Leben erdulden – um ein bestimmtes Ziel zu erreichen oder eine bestimmte Stellung zu bekommen, um sich oder andere zu beeindrucken, um anderen eine Freude oder sich selbst glücklich zu machen. Wir treiben uns dazu an, dieses zu bekommen oder jenes zu erreichen, und erdulden – oder erzeugen – auf dem Weg dorthin gewaltigen Schmerz und gewaltiges Leid. Wir glauben, Schmerz und Leid erdulden zu müssen, um den Weg zur Erleuchtung zu finden. Aber auch darum geht es im Zen nicht. Wenn wir nicht wissen, warum wir wirklich Zen üben, kann es vorkommen, dass wir Schmerz und Leid erdulden und immer noch verwirrt, immer noch unglücklich sind. Was fürchten wir eigentlich? Wir haben keine Angst davor, Schmerz, Leid, Erschöpfung oder unseren eigenen Ehrgeiz zu ertragen. Wir haben Angst vor dem Tod. Wir fürchten die Ichlosigkeit. Die meisten von uns verdrängen ihre Angst vor dem Tod mit allerlei schlauen oder verzweifelten Tricks – indem sie sich einen Ruf aufbauen, sich Macht und Reichtum verschaffen, sich große Ziele stecken; indem sie versuchen, sich anzupassen oder sich nicht anzupassen. Im Rahmen der Zenpraxis führt eine solche Einstellung in der Regel zu einer Form von »Schaufenster-Zen«. Wir hängen uns mächtig rein. Wir nehmen häufig an längeren Meditationsseminaren teil. Wir besorgen uns die richtige Kleidung. Wir schrauben unsere Lebenshaltungskosten zurück. Leider hat nichts von alledem etwas mit Zen zu tun. Es ist nur noch mehr Verblendung. Tatsächlich fürchten sich die meisten Menschen vor der Freiheit. Im Grunde sagen sie: »Ich möchte dieses Ding, diese Freiheit nicht, weil ich Angst habe, dass mich die Leute dann nicht mehr bemerken. Man wird mich vergessen, an den Rand 169
drängen, hinter sich lassen. Ich habe Angst davor, in der Versenkung zu verschwinden.« Also treiben sie sich in den Bereichen, in denen sie ohne Angst sind, gnadenlos an – und ertragen Erschöpfung, Leid und Schmerz. Wenn wir Zen üben ( »rechte Anstrengung«, wie Buddha es nannte), geht es nicht darum, uns abzurackern, nach etwas zu streben und gegen Hindernisse anzukämpfen. Stattdessen geht es darum, uns voll und ganz der Tätigkeit zu widmen, die wir in diesem Augenblick ausüben. Wenn wir zuhören, hören wir nur zu. Wenn wir abspülen, spülen wir nur ab. Wenn wir Auto fahren, fahren wir nur Auto. Wir trinken, wenn wir durstig sind, und essen, wenn wir Hunger haben. Wir glauben, wir sehnten uns nach Erleuchtung – und genau darin liegt das Problem. Wir wollen sie haben – und wir wollen wissen, wann es so weit ist, damit wir uns in ihrem Glanz sonnen können. Statt des Films mit dem Titel »Verblendung«, den wir uns ständig ansehen, soll der Film namens »Erleuchtung« laufen. Doch wenn wir die Verblendung auf Abstand halten, halten wir gleichzeitig auch die Erleuchtung auf Abstand. Das Paradoxe daran ist: Wenn wir dieses Verhalten erkennen, werden wir auf der Stelle erleuchtet. Wir werden erleuchtet, wenn wir lernen, uns nicht selbst zu täuschen. Wir sehen uns die alten Zenmeister an und denken, sie müssen besondere Kräfte und Fähigkeiten gehabt haben, die auch wir gerne hätten. Dabei entgeht uns, dass wir nur an uns denken – und dann fragen wir uns, weshalb wir nicht erwachen. Weil die Zenpraxis so unkompliziert ist, rutschen wir leicht ab, lassen wir uns ablenken, verstehen wir oft nicht, worum es geht. Mein Lehrer pflegte zu sagen, Zen erwecke oft den Anschein, schwierig und kompliziert zu sein, doch dem sei nicht so. Das Komplizierte seien unser Geist und unser Denken, mit denen wir uns das Leben schwer machen. 170
Beim Zen geht es darum, zu sehen, wie wir das tun und was wir bewirken, wenn wir es tun – Schmerz, Erschöpfung und Leid. Schritt für Schritt, ohne Kampf und Mühe, sondern einfach durch das Sehen, lernen wir, Abstand von derartigen Verwicklungen zu nehmen. Es läuft immer auf unsere Beweggründe hinaus. Wollen wir etwas bekommen oder erreichen – oder einfach nur wach sein?
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33. Verzicht auf Verständnis
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n der buddhistischen Literatur findet sich häufig der Begriff Bodhisattva, das bedeutet »erleuchtetes Wesen« – ein weiser, mitfühlender Mensch von hoher Moral, der gelobt hat, alle Wesen von Kummer und Leid zu befreien. Das hört sich vielleicht nach etwas ganz Besonderem an, doch in Wirklichkeit wird man ein Bodhisattva auf ganz ähnliche Weise, wie man ein Fußgänger wird. In diesem Augenblick bist du vermutlich kein Fußgänger. Aber sobald du dieses Buch niederlegst und einen Spaziergang machst, bist du einer – du gehst zu Fuß. Plötzlich ist ein Fußgänger erschienen. Allerdings gibt es niemanden, der von Natur aus die ganze Zeit über ein Fußgänger wäre. Sobald du aufhörst zu gehen, verschwindet der Fußgänger. Mit dem Erscheinen eines Bodhisattvas verhält es sich so ähnlich. Ein Bodhisattva kann jeden Augenblick plötzlich erscheinen. Im einen Augenblick bist es vielleicht du, im nächsten ist es ein anderer. Wenn wir glauben, der Begriff Bodhisattva beschreibe einen bestimmten Menschen, der zu einer bestimmten Zeit geboren wurde, jemanden, der von Geburt an besondere Kräfte besitzt (oder dazu bestimmt ist, sie zu entwickeln), missverstehen wir das nüchterne, praktische Wesen eines Bodhisattva. So, wie du ohne Berechnung oder ohne es geplant zu haben jeden Augenblick zu einem Fußgänger werden kannst, kannst du auch zu einem Bodhisattva werden. Ich spreche hier nicht von etwas Esoterischem, Fernem oder Übersinnlichem. Das ist unsere Wirklichkeit. Alles entfaltet sich auf ebendiese Weise. Nichts ist von Natur aus etwas Besonderes. Alles ist sehr dynamisch, sehr praktisch, sehr bodenständig. 172
Es heißt, wenn ein Bodhisattva erscheint, verzichtet er sowohl darauf zu verstehen als auch darauf, verstanden zu werden. Das ist wahr. Bei meiner Ordination zum Laienpriester druckte mein Lehrer ein chinesisches Schriftzeichen auf die Rückseite meines Rakusu (dabei handelt es sich um die Miniaturausgabe einer Zenrobe, die eine gewisse Ähnlichkeit mit einem Lätzchen hat und um den Hals getragen wird). Das Schriftzeichen bedeutet »kein Verständnis« und wird auch mit »Nichtwissen« oder »kein Wissen« übersetzt. Damals war ich zutiefst enttäuscht, als ich das hörte. Ich dachte, im Zen ginge es darum zu verstehen – darum, sich über die Welt und den eigenen Platz darin klar zu werden. »Kein Verständnis« – das verwirrte mich sehr. Doch »kein Verständnis« spielt in der buddhistischen Praxis und Erleuchtung eine zentrale Rolle. Genau genommen sprach der Buddha von zweierlei Wissen. Das erste nannte er »Verständnis« – das Wissen darum, wie die Dinge aussehen, klingen und erscheinen. Bei dieser Art Wissen geht es um Ideen, Vorstellungen und die äußere Erscheinung scheinbar voneinander getrennter Dinge. Das Verständnis bezieht sich auf das Reich der Dinge, der Getrenntheit, des Dualismus, in dem die übliche zersplitterte Weltsicht herrscht. Die meiste Zeit tun wir so, als könne uns dieses Verständnis zu Wahrheit und Wirklichkeit führen (oder sie zumindest widerspiegeln). Doch sobald wir ein wenig an der Oberfläche kratzen, ist unser Verständnis zu Ende. Das macht uns Angst, bereitet uns Sorge und macht uns nervös. Wir begehen gerne den Fehler zu denken, wir könnten den Dingen mit dem richtigen Verständnis – den richtigen Vorstellungen – auf den Grund gehen. Doch Verständnis allein genügt nicht, um die fließende, dynamische, stets im Wandel begriffene Wirklichkeit zu erkennen. Es ist einfach nicht das richtige Werkzeug. Es ist, als wolle man Wasser mit einem Sieb schöpfen. Auch das beste, mit größter Sorgfalt gefertigte Sieb ist 173
zum Wasserschöpfen nicht geeignet. Trotzdem können wir die Wirklichkeit sehr wohl erkennen. Eigentlich erkennen wir nur die Wirklichkeit und können auch nur sie erkennen. Dennoch gibt es nichts darüber zu sagen, denn alles ist im Fluss, alles ist im Wandel. Sobald wir etwas sagen, frieren wir ein winziges Stückchen, einen winzigen Augenblick davon ein. Doch da die Wirklichkeit niemals erstarrt ist, kann das, was wir sagen, niemals die Wahrheit sein (oder uns zu ihr führen). Die Wahrheit lässt sich einfach nicht in Worte fassen. Aber wir können sie sehen. Der Buddha sprach von einer zweiten Art von Wissen – davon, zu erwachen und die Wahrheit zu erkennen; davon zu sehen, dass wir die Wirklichkeit nicht festnageln können, dass sie fließend ist, nicht starr. Das bedeutet, nicht nur die Oberfläche der Wirklichkeit, sondern die ganze Wirklichkeit durch und durch zu sehen. Buddha bezeichnete dieses Sehen als »Einsicht«. Wir haben es immer mit dem Hier und Jetzt zu tun – und mit dem, was uns genau hier, genau jetzt begegnet. Wenn wir lernen, genau hier, genau jetzt zu sein, werden wir allmählich sehen, dass alles vollkommen im Fluss ist und beliebig viele Ausdrucksmöglichkeiten hat, solange wir es nicht in unserem Geist festnageln. Tatsache ist, dass wir nicht in der Lage sind, hinreichend zu sagen oder zu erklären, wie etwas ist, oder uns eine Vorstellung davon zu machen. Einsicht bedeutet, unmittelbar zu sehen. Sie ist ein stillschweigendes, aber tiefes Verständnis dieses Augenblicks, das an keine Vorstellungen von »Ich« oder »ich verstehe das« gebunden ist. Wir müssen erkennen, dass wir uns an der Oberfläche der Welt bewegen, sobald wir versuchen, etwas festzuhalten. An sich ist das kein Problem. Doch wir halten das, was wir auf 174
diese Weise zu fassen bekommen – was wir denken, glauben oder uns vorstellen – zu Unrecht für die Wirklichkeit. Wir verwechseln unsere Gedanken, Meinungen und Überzeugungen mit wahrer Einsicht. Das ist der Ursprung unseres tiefsten Leidens. Einsicht lässt einen Bodhisattva in diesem Augenblick erscheinen, ohne dass er den Wunsch hat, die richtige Vorstellung von den Dingen oder die richtige Erklärung dafür zu finden, wie die Dinge sind. Der Bodhisattva erkennt in diesem Augenblick, dass nichts etwas Besonderes ist – auch nicht der Bodhisattva, das »Ich« selbst. Wir alle kommen immer wieder auf die Welt – mal als Fußgänger, mal als Leser, mal als Bodhisattva und mal als etwas anderes, das ebenso fließend und flüchtig und ebenso wenig in Worte zu fassen ist. Der Bodhisattva erscheint mit dieser Einsicht in der Welt. Er greift nicht nach Oberflächlichem, nach erstarrten Formen. Er greift nicht auf die vorübergehende Notlösung des Verständnisses zurück. Wenn wir darauf verzichten wollen, zu verstehen und verstanden zu werden, kommt es darauf an, uns nicht in unserem Denken zu verfangen. Denn dann können wir jeder Situation rein und ohne festgelegt zu sein, begegnen – dann sind wir nichts Bestimmtes, sind kein Ego, haben keine Pläne und erwarten nicht, dass Rücksicht auf unsere Wünsche und Gefühle genommen wird. Wenn wir darauf verzichten, zu verstehen und verstanden zu werden, gibt es keine Aufregung, kein Unbehagen, keine Nervosität. Dann beunruhigt uns nicht, dass es uns an Verständnis fehlt. Wenn wir uns auf unser Verständnis verlassen, entsteht dadurch unweigerlich Unruhe im Geist. Wir können sehen, welche tiefgreifenden Störungen dadurch entstehen, dass wir 175
versuchen, etwas Greifbares, etwa eine Vorstellung oder eine Erklärung oder eine Antwort, festzuhalten. Dies ist die am tiefsten empfundene Form von Duhkha – der Ursprung allen Leidens. Letzten Endes gibt es nichts festzuhalten. Wenn wir tatsächlich einsehen, dass die Welt so ist, wie sie ist, dass sie schon immer so war und immer so bleiben wird und muss, können wir das Unbehagen überwinden, nicht zu wissen – ebenjenes Unbehagen, das uns fast immer davon abhält, die Wirklichkeit zu sehen. Die meisten von uns haben gerne etwas in der Hand, woran sie sich festhalten können, wünschen sich festen Boden unter ihren Füßen. Wir glauben, darauf angewiesen zu sein, und fühlen uns sehr unbehaglich bei dem Gedanken, dass nichts von dem, worauf wir bauen, verlässlich oder die Wahrheit ist. Also suchen wir immer wieder nach etwas Neuem. Doch nichts von dem, worauf wir bauen, hält. Das kann es nicht. Trotzdem sind wir in jedem Augenblick hier. Wahrheit und Wirklichkeit sind immer hier, wir können sie jederzeit sehen. Wir müssen nicht auf eine bestimmte Vorstellung, Überzeugung, Antwort oder ein anderes geistiges Gebilde pochen. Wir können jeden Augenblick sehen, was tatsächlich geschieht, ohne es festhalten zu wollen – ohne etwas finden zu müssen, das uns stützt oder tröstet. Denn was muss überhaupt gestützt werden? Was ist bedroht? Wir verwenden sehr viel Zeit und Energie darauf, uns zu fürchten und zu sorgen. Wir sind sehr erfinderisch, wenn es darum geht, uns anzutreiben, weil wir glauben, es gäbe etwas in uns, das wir zufrieden stellen, schützen und unterstützen müssten. Der Bodhisattva erscheint ohne dieses Bedürfnis in der Welt. Wir können in diesem Augenblick erkennen, dass wir nicht 176
verstehen müssen, nicht verstanden werden müssen, nicht die richtige Vorstellung haben müssen. Wir müssen lediglich erwachen und das Hier und Jetzt sehen – müssen aufhören, uns selbst etwas einzureden, und diesen Augenblick erfahren. Es gibt nichts zu beweisen, nichts herauszufinden, nichts zu bekommen, nichts zu verstehen. Wenn wir endlich aufhören, uns für alles eine Erklärung auszudenken, entdecken wir vielleicht, dass in der Stille die Einsicht von Anfang an vollkommen war.
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34. Wie können wir etwas wissen?
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enn wir uns zum ersten Mal mit buddhistischen Lehren beschäftigen, machen sie oft einen sehr komplizierten Eindruck auf uns. Auf viele Menschen wirken sie geheimnisvoll, fremd und verwirrend. Aber eigentlich ist das, was Buddha lehrte, recht einfach und unmittelbar, wenn wir uns an seine ursprüngliche Lehre halten. Wir sind kompliziert. Wir denken zu viel. Das Entscheidende am Buddha-Dharma ist, dass wir erwachen und die Wirklichkeit sehen. Man sagte mir einmal, im Buddhismus gebe es drei Möglichkeiten, die Wahrheit zu erkennen: erstens durch Autorität, zweitens durch das Ziehen logischer Schlüsse und drittens durch direkte Erfahrung. Eine derartige Äußerung habe ich freilich in keinem buddhistischen Text finden können, und sie hat einen entscheidenden Makel – egal, ob es sich dabei nun tatsächlich um eine buddhistische Lehre handelt oder auch nicht. Wenn wir genau hinsehen, stellen wir fest, dass die ersten beiden Behauptungen schnell zu Staub zerfallen. Aber auch die unmittelbare Erfahrung löst sich auf, doch statt zu Staub zu zerfallen, verschwindet sie spurlos. Wenn das kompliziert, geheimnisvoll, fremd oder verwirrend erscheint, lies bitte weiter. Du wirst bald merken, wie einfach es ist. Widmen wir uns zuerst der Vorstellung, man könne Wissen durch Autorität erlangen. Diese Behauptung ist leicht zu widerlegen. Der britische Philosoph Bertrand Russell tat dies in einem Satz, als er sagte, das Problem mit der Autorität sei, dass sich stets eine andere Autorität finden lasse, die das Gegenteil behauptet. 178
Im Buddhismus besitzt Buddha selbst die wohl größte Autorität. Er aber forderte die Menschen ausdrücklich dazu auf, sich nicht auf die Autorität anderer zu verlassen – auch nicht auf die seine. Er machte oft Bemerkungen wie: »Glaubt mir nicht, nur weil ich als Lehrer vor euch stehe. Glaubt mir nicht, nur weil andere es tun.« Er ermahnte die Menschen unablässig dazu, genau hinzusehen, um selbst zu sehen und zu erkennen. Das bedeutet, die Worte einer äußeren Autorität weder blind zu akzeptieren noch sie kurzerhand abzulehnen, sondern zuzuhören und sie an der tatsächlichen Erfahrung zu messen. Der Dalai Lama formulierte das einmal so: »Wir Buddhisten können viel aus den neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen lernen. Und die Wissenschaftler können aus den buddhistischen Erkenntnissen lernen. Wir müssen nachforschen, alles prüfen und dann die Ergebnisse unserer Forschungen akzeptieren. Wenn Buddhas eigene Worte der Prüfung nicht standhalten, müssen wir sie ablehnen.« Diese Worte sind sowohl mit Buddhas Lehre als auch mit den modernen wissenschaftlichen Methoden im Einklang. Manchmal gehen wir der falschen Vorstellung auf den Leim, erleuchtete Menschen könnten das Absolute auch in absolute Worte fassen, sobald sie die Wirklichkeit gesehen haben, und wir könnten ihre Äußerungen niederschreiben, bewahren, studieren und für alle Zeit verehren. Doch wir Menschen – erleuchtet oder nicht – machen keine absoluten Erfahrungen. Wir leben mit der Veränderung. Das ist es, was Buddha lehrte, und es trifft auch auf seine eigene Lehre zu. Deshalb gibt es in einigen buddhistischen Gruppen regelmäßige Versammlungen, in denen sie prüfen, wie sie vorgehen wollen, was funktioniert, was noch stimmt und was nicht. Die Zeiten ändern sich, und deshalb kann es vorkommen, dass Dinge, die früher oder anderswo einmal angebracht waren, hier und jetzt nicht mehr funktionieren. Wir können – und sollten – uns nicht in einen Rahmen sperren, der vor 2.500 Jahren in 179
irgendeiner fremden Kultur (oder auch nur vor 20 Jahren hier) seinen Sinn hatte. So manches trifft vielleicht nicht mehr auf uns zu oder könnte uns sogar schaden. Wir müssen ständig prüfen, was wir lehren. Wir müssen uns fragen: »Ist es effektiv? Hilft es den Menschen, die Augen zu öffnen?« Kurz gesagt ist alles zu prüfen und mit äußerstem Respekt zu behandeln, wie Buddha es lehrte, aber nichts ist heilig – oder könnte es je sein. Deshalb verglich Buddha seine Lehre mit einem Floß, das man nach der Flussüberquerung zurücklassen sollte. Noch etwas zum Thema Autorität: Kein Mensch und keine Institution hat mehr Autorität, als ihr von anderen zugestanden wird. Das bedeutet, du bist die höchste Autorität, wenn es darum geht, wem du Glauben schenkst und wie du dein Leben lebst. Wenn man diese Autorität auf andere überträgt, ist das eine Art spirituelle Faulheit. Du bist dann nicht mehr gewillt, kritisch und genau zu betrachten, was tatsächlich geschieht, und bist der Manipulation, der Täuschung und dem Betrug schutzlos ausgeliefert. Buddha wusste das und warnte davor. Er wies die Menschen zum Beispiel an, sich kein Bildnis von ihm zu machen (was sie anfangs auch nicht taten). Du musst erkennen, dass du Buddha bist. Doch je mehr wir den Mann, den wir Buddha nennen, verherrlichen und vergöttern, desto schwerer fällt es uns zu erwachen. Denn wenn du Lehrer zu Göttern machst, wie kannst du dann erkennen, dass du im Grunde bist wie sie? Am Ende läuft es auf Folgendes hinaus: Die Autorität, die du bereits besitzt, beruht ganz allein auf der unmittelbaren Erfahrung. Im Grunde musst du nirgends sonst suchen. Die zweite Möglichkeit, wie man die Wahrheit angeblich finden kann, ist das Ziehen logischer Schlüsse. Logik ist 180
zweifellos ein sehr viel nützlicheres Werkzeug als blinder Gehorsam. Sie kann verhindern, dass wir vom Weg abkommen und Schlüsse ziehen, die von unseren Voraussetzungen abweichen. Doch logische Schlüsse verraten uns nichts über die Gültigkeit dieser Voraussetzungen. Wir können uns also nicht darauf verlassen, dass uns das Ziehen logischer Schlüsse allein zur Wahrheit führt. Hier ist das Beispiel für einen legitimen logischen Schluss, den so genannten Syllogismus: Alle Vögel sind grün. Der König von Spanien ist ein Vogel. Deshalb ist der König von Spanien grün. Die Logik ist tadellos. Da aber beide Voraussetzungen falsch (um nicht zu sagen absurd) sind, gelangen wir zu einem Schluss, der sich zwar folgerichtig aus den Voraussetzungen ergibt, grundsätzlich aber falsch (um nicht zu sagen lächerlich) ist. Das Werkzeug, die Logik, funktioniert einwandfrei. Trotzdem müssen wir noch irgendwie sicherstellen, dass wir von gültigen Voraussetzungen ausgehen. In der buddhistischen Lehre arbeiten wir tatsächlich mit Logik. Mit ihrer Hilfe zeigen wir, dass die Voraussetzungen, von denen wir normalerweise hinsichtlich der Wirklichkeit ausgehen, falsch sind. Buddhistische Logik, wie Nagarjuna sie einsetzte, bringt uns an einen Punkt, an dem wir feststellen, dass all unsere Vorstellungen uns am Ende in der Luft hängen lassen. Wenn wir ein paar davon geprüft haben, sehen wir schließlich, dass wir am Ende immer in der Luft hängen, wenn wir uns auf unsere Gedanken und unsere Vorstellungen verlassen. Wir sehen, dass diese Methode uns niemals zur Wahrheit führen wird. Halten wir kurz inne und machen wir Inventur. Wir können uns weder auf die Autorität noch auf das bloße Ziehen logischer Schlüsse verlassen. Keines von beidem kann uns den Weg zur Wahrheit weisen. Wir können uns also nur auf die unmittelbare Erfahrung verlassen. 181
Nachdem sowohl Autorität als auch Logik zu Staub zerfallen sind und all unsere Vorstellungen – vom Selbst, vom anderen, von Weisheit, Leere und Buddhismus – verblasst und vom Winde verweht sind, hat die unmittelbare Erfahrung noch immer Gültigkeit. Sie ist noch da. Aber wenn wir sie ganz genau betrachten, fällt uns noch etwas auf: Nur, weil es eine unmittelbare Erfahrung gibt, bedeutet das noch lange nicht, dass es auch jemanden gibt, der diese Erfahrung macht. Hui-neng, der sechste Zen-Patriarch, fragte den Mönch Huaijang: »Woher kommst du?« »Ich komme von Tung-shan«, erwiderte der. »Was kommt von dort?«, fragte Hui-neng. Huai-jang war sprachlos. Acht lange Jahre sann er über die Frage nach. Dann dämmerte es ihm eines Tages, und er rief aus: »Allein zu sagen, es ist, ist verkehrt.« Wir müssen es selbst sehen – unmittelbar. Bei genauer Betrachtung löst sich all das auf, was wir für unser Selbst halten. Doch die unmittelbare Erfahrung geht weiter. Wir erfahren niemals etwas, das tatsächlich »dort draußen« geschieht. Und wir erfahren niemals, dass »hier drin« tatsächlich jemand existiert, der etwas erfährt. Wir denken es nur. Wir alle werden nackt und unschuldig in diese Welt hineingeboren. Wir können uns nur auf das stützen, was passiert – auf unsere unmittelbare Erfahrung. Nur dieses. Das Problem ist, dass es den meisten Menschen nicht besonders gut gelingt, auf die tatsächliche Erfahrung zu achten. Der Grund dafür ist schnell gefunden: Wir denken zu viel. Dabei ist es ganz einfach, sich auf das zu konzentrieren, was ist. Wir müssen nur hinsehen und feststellen, dass das, was wir sehen, von dem abweicht, was wir denken. Wir müssen uns dem Paradox und der Verwirrung stellen. Ich rede hier nicht von vagen, mystischen Ideen. Fang an, dir 182
die Bäume, Felsen, Vögel, Menschen, den Geist, das Denken, das Fühlen, ja sogar Gedankengebilde wie Engel und Geister ganz genau anzusehen. Betrachte sie eher als Erfahrung und nicht so sehr als materielle Dinge, die »dort draußen«, getrennt von »dir«, existieren. Sieh dir ruhig und wortlos (das heißt ohne geistigen Dialog) an, was vor sich geht. Das ist ganz einfach, nicht geheimnisvoll, fremd, kompliziert oder verwirrend. Prüfe ständig, was du tust, was du denkst, was du fühlst. Achte auf das, was du glaubst und was du sagst. Tue das immer wieder, ohne davon auszugehen, dass du je wieder damit aufhören wirst. Lass zu, dass Logik und Autorität unter ihrem eigenen Gewicht zusammenbrechen. Was bleibt, ist das, was schon immer hier war: die Wirklichkeit, so wie sie ist, bevor wir versuchen, etwas aus ihr zu machen.
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35. Nichts weiter
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alt Whitman begann Teil 32 seines längsten Gedichts, Gesang von mir selbst, mit den Zeilen: Ich meine, ich könnte mich zu den Tieren wenden und mit ihnen leben; sie sind so ruhig und selbstständig; Ich stehe und betrachte sie, lange und lange. Sie schwitzen und wimmern nicht über ihre Lage, Sie liegen nicht wach im Dunkel und weinen über ihre Sünden, Sie machen mich nicht elend durch Erörterungen über ihre Pflichten vor Gott; Keines ist unzufrieden; keines ist besessen von der Manie nach Besitz; Keines kniet vor dem anderen oder vor einem seinesgleichen, das vor Tausenden von Jahren lebte; Keines ist respektabel oder unglücklich auf der ganzen Erde. Wie Whitman zeigt, genügen Tiere sich selbst. Sie suchen nicht jenseits von genau diesem nach irgendetwas. Jedes Tier hat alles, was es braucht, um eine Katze oder eine Kuh, ein Löwe oder ein Hirsch, ein Vogel oder ein Fisch zu sein. Sie sind willens und in der Lage zu schlafen, sich fortzupflanzen, Nahrung und Schutz zu suchen und zu überleben. Das ist der Grund für ihre Gelassenheit. Sie handeln nicht aus einer Neigung ihres Geistes heraus. Sie leben ganz im Augenblick, ohne außerhalb von sich selbst nach etwas zu suchen. Selbst wenn der Löwe den Hirsch tötet, dreht die Welt sich weiter. Alles ist friedlich und ruhig. Tiere sind ungekünstelt – ohne Arglist oder Täuschung. Sie versuchen nicht, den Eindruck zu manipulieren, den wir von ihnen haben, oder die Wahrheit 184
über sich zu vertuschen. Gleiches gilt für kleine Kinder. Ein Neugeborenes zeigt keinerlei Anzeichen dafür, dass es das Gefühl hat, von der Welt isoliert zu sein. Manchmal genügt es, wenn wir Erwachsenen diese Eigenschaft bei einem Baby (oder einem Tier) bemerken, um einen kurzen Eindruck von Freiheit und Leichtigkeit zu bekommen. Warum besitzen wir nicht den gleichen Frieden, die gleiche Gelassenheit? Was haben wir für ein Problem? Wir haben das Problem, dass wir ernsthaft glauben, außerhalb der eigenen Person gäbe es etwas, das wir uns verschaffen müssten, um ganz zu sein. Wir glauben, »dort draußen« gäbe es etwas, das den Schmerz in unserem Herzen tatsächlich zum Verschwinden bringen könnte. Also machen wir uns auf, unsere tiefste Sehnsucht dadurch zu stillen, dass wir dieses Etwas »dort draußen« jagen wie eine Beute. Wir sind daran gewöhnt, nach etwas zu suchen und es uns zu verschaffen. Wir sind so sehr daran gewöhnt, uns materielle Dinge zu verschaffen, dass wir annehmen, unsere spirituellen Bedürfnisse ließen sich auf die gleiche Weise stillen. Aber genau dieser Umgang mit der Wirklichkeit hält uns gefangen. Thoreau gab zu bedenken, Besitz lasse sich leichter erwerben als loswerden. Oft belastet und stört er nur und weckt den Wunsch nach mehr. Doch das tiefe Sehnen unseres Herzens können wir nicht stillen, indem wir uns etwas verschaffen. Wenn wir einmal von all unseren Wünschen absehen und unsere tatsächlichen Bedürfnisse prüfen, wird uns vielleicht bewusst, was wir wirklich brauchen und uns wünschen. Vielleicht sehen wir dann auch, dass unsere wahren Bedürfnisse leicht zu befriedigen sind. Wir sehen, dass wir uns wie die Tiere selbst genug sind. Es gibt »dort draußen« nichts, was wir uns verschaffen müssten. Die Welt ist immer hier. Die Wirklichkeit 185
ist stets präsent. Wir haben bereits, was wir brauchen und uns wünschen. Ich habe einen guten Freund, der, als wir Kinder waren, eine kleine Hündin besaß. Er nannte sie Tippy, weil sie ganz schwarz war, bis auf die äußerste weiße Spitze ihres Schwanzes. Tippy war gut erzogen und sehr diszipliniert. Wir nahmen sie oft mit zum Wandern, und sie folgte meinem Freund stets aufs Wort. Als wir in der Highschool waren, wurde Tippy allmählich weiß im Gesicht und altersschwach. Sie bekam Arthritis und litt starke Schmerzen, aber sie beklagte sich nie. Schließlich erkrankte sie an Krebs im Kiefer und im Gesicht und konnte nicht mehr fressen. Aber noch immer jammerte oder beklagte sie sich nicht über ihren Zustand. Irgendwann war meinem Freund klar, dass Tippy eingeschläfert werden musste. Er ging sie ein letztes Mal holen. Als er ins Zimmer kam, war Tippy zu schwach, um den Kopf zu heben, obwohl sie sich bemühte. Aber sie wedelte mit dem Schwanz. Sie war froh, ihren Freund und Herrn zu sehen. Sogar im Angesicht des Todes war sie gelassen. Was den Tod angeht, machen wir Menschen uns im Gegensatz zu den Tieren etwas vor. Wir glauben zu wissen, dass wir sterben werden. Aber der Tod lässt sich nicht als Vorstellung begreifen. Was wir »Tod« nennen, ist lediglich unsere Vorstellung davon. Der echte Tod – alles, was echt ist – tritt immer nur genau jetzt, genau hier ein. Er lauert nicht irgendwo in der Zukunft. Er tritt jetzt ein – er kann nur jetzt eintreten. Tiere wissen das ganz genau. Nur wir Menschen mit unserem komplexen Denken sind verwirrt. Wir beklagen uns über unser Befinden. Wir tun das, weil wir glauben, von allem, vom Hier und Jetzt, getrennt zu sein. Aber das, was du oder ich oder irgendjemand sonst denkt, hat nichts mit dem Jetzt zu tun. Es ist nicht die Wirklichkeit, die wir Augenblick für Augenblick erleben. 186
Geburt und Tod ereignen sich genau hier, genau jetzt. Würden wir erwachen und diesen Augenblick leben, hätten wir keinen Grund zur Klage.
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36. Keine Frage des Glaubens
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er Buddhismus verlangt nicht, dass wir blind an Gott oder an eine heilige Schrift glauben. Genau genommen geht es beim Buddha-Dharma nicht darum, irgendetwas zu glauben. Der Buddha-Dharma ist eine religiöse Tradition, die vor zweieinhalb Jahrtausenden entstand, aber er ist kein Glaubenssystem. Eine Lehre oder Praxis oder Tradition, die unseren Blick auf die Wahrheit lenken möchte, kann nicht auf Glauben beruhen. Sie kann nicht darauf beruhen, dass wir uns irgendwelche Vorstellungen zu Eigen machen. Sie kann uns nur lehren, die tatsächliche, unmittelbare, direkte Erfahrung dieses Augenblicks zu prüfen, zu testen und zu erkennen. Wenn sich die Menschen mit den großen Fragen des Lebens beschäftigen, legen sie sich meist im Geiste eine Auswahl von Vorstellungen und Überzeugungen zurecht, mit deren Hilfe sie alle aufkommenden Fragen klären. Sie tun dies in dem Versuch, sich einen Reim auf sich selbst und auf die Welt zu machen. Vielleicht ist dir bereits klar geworden, dass uns das nicht hilft, die Welt zu verstehen. Unsere Vorstellungen und Überzeugungen sind einfach nicht tragfähig – sie tragen noch nicht einmal sich selbst, geschweige denn uns und die Last der Welt. Deshalb sind wir tief im Inneren unsicher und verwirrt, wenn wir durchs Leben tappen und versuchen, uns einen Reim auf unsere Erfahrungen zu machen, indem wir unsere Überzeugungen, unsere Vorstellungen, unsere Wirklichkeitsmodelle dazu heranziehen. Das heißt nicht, dass wir keine Überzeugungen haben dürfen oder können. Um im Alltag klarzukommen, brauchen wir eine gewisse Anzahl fester Überzeugungen. Die meisten Menschen halten es für besser, die Verkehrsregeln zu befolgen und es mit der Körperpflege einigermaßen ernst zu nehmen. Überzeu188
gungen wie diese erfüllen einen Zweck und sind oft notwendig. Doch wenn wir vor den großen Fragen stehen – »Woher komme ich?« »Wohin gehe ich?« »Was ist die Wirklichkeit?« –, helfen uns die Überzeugungen und die Geschichten, die wir uns als Antwort auf unsere Fragen ausdenken, nicht weiter. Sie trösten uns eine Zeit lang, verursachen letzten Endes aber nur Schmerz und Verwirrung, einfach deshalb, weil die Ungewissheit zwangsläufig bleibt – egal, was wir uns erzählen. Uns muss klar werden, dass mit derartigen Fragen von Grund auf etwas nicht stimmt. Wir müssen sehen, dass sie unseren geistigen Konstrukten – unseren egoistischen Wünschen, Ängsten und Spekulationen – und nicht der unmittelbaren Erfahrung entspringen, die aus dem einfachen Sehen folgt. Nur wenn wir lernen, eine solche Verwirrung unseres Denkens zu erkennen, können wir verhindern, dass wir uns weiter darin verstricken. Doch die Möglichkeiten, sich zu verstricken, sind vielfältig und nicht leicht zu erkennen. In dem Zen Center, in dem ich lehre, gibt es keine Buddhastatue. Nicht, weil es falsch oder schlecht wäre, eine Buddhastatue in einer Meditationshalle oder einem buddhistischen Zentrum zu haben, sondern weil eine solche Statue viele von uns unnötig verwirren könnte, da sie uns reizt, eine Menge von Vorstellungen und Gefühlen zu entwickeln. Die einen denken an »Götzendienst« und fühlen sich davon abgestoßen. Andere verlieben sich in sie und wollen sofort auch eine Statue haben. Keine dieser Reaktionen ist dem Erwachen dienlich. Deshalb haben wir stattdessen einen großen Stein in unserem Meditationssaal. Es ist schwer (wenn auch nicht unmöglich), sich dabei viel zu denken. Es ist nur ein Stein. Trotzdem ist er ebenso Ausdruck der Wahrheit wie eine Buddhastatue (oder alles andere, was wir dort hätten aufstellen können). Wir fanden den Stein auf einem Feld westlich der Stadt. Dort, 189
wo ihn die Gletscher vor vielen zehntausend Jahren zurückgelassen haben. Er war Teil uralter Gebirge, die schon seit langem fortgewaschen sind. Er ist recht schlicht, aber er wirkt im Meditationssaal, als wenn er dort hingehört. Ruhig liegt er da, ein eleganter Ausdruck von Stabilität. Gleichzeitig stört sich niemand daran, da er keinerlei Ähnlichkeit mit der Vorstellung hat, die sich jemand von einem Buddha machen könnte (oder von irgendetwas anderem – bis auf einen Stein vielleicht). Dennoch helfen uns der Stein und die vergängliche Blume, die daneben steht, unser kleines Leben in die richtige Perspektive zu rücken. Während wir gemeinsam im Meditationssaal sitzen, scheint sich unser Leben in einem Tempo zu entfalten, das zwischen dem des langlebigen Steins und dem der flüchtigen Blume liegt. Der Stein ist ein natürlicher Gegenstand – er ist ohne Absicht entstanden. Deshalb drückt er alle Eigenschaften eines Buddhas wie Stille, Ruhe, Zentriertheit, Geduld, Toleranz, ja sogar Großzügigkeit, Mitgefühl und Weisheit aus. Der Stein, der einfach nur ruhig daliegt, erinnert uns an unser wahres Wesen, das da ist, bevor wir unseren Geist mit unseren Gedanken aufrühren. Weil er aber dennoch immer ein natürlicher Gegenstand bleibt, kränkt er niemanden und fördert keinen besonderen Ansichten oder Gedanken. Weshalb verzichten wir nicht auf alles und lassen die Meditationshalle leer? Das ist natürlich eine Möglichkeit. Doch jeden Augenblick muss sich etwas manifestieren, nimmt irgendetwas Gestalt an. Die Entstehung von Dingen ist in unserer materiellen Welt nötig. Dass wir sie festhalten freilich nicht. Schon aus diesem Grund ist es am besten, die von uns erschaffenen Formen eher schlicht zu halten. Es fällt uns nämlich leicht, eine Form auf die andere zu bauen, bis wir nicht 190
mehr wissen, was wir tun oder warum wir es tun. Wir verfangen uns so leicht in Formen, dass wir bestimmte Formen bald nicht nur für wirklich, sondern auch für unbedingt erforderlich halten. Wenn wir andererseits versuchen, uns der Formen ganz und gar zu entledigen, betrügen wir uns selbst. Was wir auch tun, es wird eine Form entstehen. Selbst in dieser gestaltlosen Welt muss immer etwas Gestalt annehmen. Ja, nur in dieser Welt der Leere können Formen überhaupt entstehen. Was wir auch tun, wie wir auch leben, unser Leben und unser Erleben in diesem Augenblick wird stets eine bestimmte Atmosphäre, ein Aroma, einen Beigeschmack haben. Doch im Zen geht es darum, sich nicht in dieser oder jener Form, dieser oder jener Überzeugung zu verfangen. Ständig zerren Menschen und Umstände uns in die eine oder andere Richtung. Trotzdem müssen wir uns ansehen, was wir wirklich tun. Wir müssen sehen, was in unserem Herzen und in unserem Geist vor sich geht. Wir müssen sehen, woran wir hängen, worauf wir beharren, was wir nicht verlieren möchten. Wir müssen uns wieder und wieder auf das besinnen, was wir tun – jetzt, in diesem Augenblick. Es sind unsere Gedanken, unsere Überzeugungen – die Schöpfungen unseres Geistes –, die uns beunruhigen, ängstigen und verwirren. Das gilt besonders für die Vorstellungen, die sich in erster Linie in Form unseres Egos äußern. Mit diesen verstricken wir uns unwissentlich in Tatsachen und Angelegenheiten, die von geringer oder gar ohne Bedeutung sind. Das hält uns im Sumpf von Unwissenheit und Verwirrung gefangen. Wir müssen dies lediglich sehen, um sofort frei zu sein.
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TEIL DREI REINER GEIST
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37. Wie man auf der Stelle Befreiung erlangt
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aizhang, ein großer chinesischer Zenlehrer aus dem achten Jahrhundert, sagte einmal, wenn wir erkennen könnten, dass zwischen unseren Sinnen und der Außenwelt keinerlei Zusammenhang besteht, wären wir auf der Stelle frei. Die meisten von uns finden diese Äußerung seltsam. Wir denken, dort draußen gäbe es eine Welt. Eine Welt, die wir durch die Tore unserer Sinne in uns aufnehmen. Als Mensch hat man den Eindruck: »Ich bin hier drin und bekomme Informationen über eine Welt dort draußen. Ich kann sie sehen. Ich kann sie hören. Ich kann sie riechen, schmecken und berühren.« Das Gefühl der Trennung ist ziemlich stark. Doch woher kommt es? Dieses Gefühl ist das Bewusstsein selbst. Einfach gesagt ist Bewusstsein die Wahrnehmung eines Objektes (in diesem Fall dessen, was wir als Außenwelt bezeichnen) und eines Subjektes (in diesem Fall dessen, was wir als Ich hier drinnen bezeichnen). Doch sowohl das Objekt als auch das Subjekt – als unabhängige, voneinander getrennte Größen – sind Schöpfungen unseres Geistes. In der tatsächlichen Erfahrung gibt es keine Grenze zwischen dem »Hier« und dem »Dort«, zwischen dem, was ich als Ich bezeichne, und dem, was ich Außenwelt nenne. Sowohl Subjekt als auch Objekt sind vom Geist erzeugte Illusionen. Es gibt einen Zen-Aphorismus, der besagt: »Was durch die Tore hereinkommt, ist ein Fremder.« Die Tore sind die Sinne, und alles, von dem wir glauben, es käme durch sie herein, halten wir für fremd und von uns getrennt. Doch das kommt nur daher, dass wir eine begriffliche Trennung zwischen dem vollzogen haben, was wir als unsere Sinne bezeichnen, und dem, was wir als Außenwelt bezeichnen. 193
Baizhang weist korrekterweise darauf hin, dass keinerlei Zusammenhang zwischen unseren Sinnen und der Außenwelt besteht. Wenn wir einen Zusammenhang sehen, setzt das eine Zweiheit voraus – ich hier drinnen und die Welt dort draußen –, die irgendwie verbunden werden kann. Doch Baizhang sagt, dass es diese Zweiheit gar nicht gibt. Die Wirklichkeit ist immer genau hier, genau jetzt. Sie ist nur dies – lebendige, unmittelbare Erfahrung. Dies kommt nicht durch irgendwelche Tore herein. Wie könnte es auch, wenn es niemals draußen war? Es ist uns vertraut. Es ist der Geist selbst. Wir können diese Erfahrung als »Flugzeug« oder »Vogel« oder »Liebe« oder »Angst« bezeichnen, doch in Wirklichkeit ist es einfach nur dies, das im Geist entsteht. Die meiste Zeit freilich überlagern wir das Unmittelbare, Wirkliche mit etwas anderem. Wir benutzen die unmittelbare Erfahrung als Projektionsfläche und geben der Projektion eine räumliche und zeitliche Dimension. Auf diese Weise erschaffen wir ein Subjekt und Objekte, und anschließend entstehen in Bezug auf diese Objekte Vorlieben und Abneigungen in unserem Geist. So verwechseln wir die Welt, die wir in unserem Geist erschaffen und nach »dort draußen« projiziert haben, mit der Wirklichkeit. All das läuft darauf hinaus, dass wir die Welt nicht erleben, wie sie wirklich ist. Stattdessen reagieren wir auf die Welt, wie wir sie sehen – oder noch schlimmer, wie wir sie uns vorstellen oder erträumen. Wir leben unser Leben in unserer Fantasie und reagieren auf unsere Vorstellungen von der Welt statt auf die tatsächliche, unmittelbar wahrgenommene Wirklichkeit. Trotz alledem siehst du die Welt die ganze Zeit genau so, wie die Erwachten sie sehen. Es gibt keinen Unterschied zwischen dem, was die Erwachten sehen, und dem, was jeder von uns sieht. Die Wahrnehmung ist für uns alle gleich. Doch die Erwachten lassen es bei der Wahrnehmung bewenden, statt sie durch ihre geistigen Schöpfungen oder Vorstellungen von der 194
Wirklichkeit zu ersetzen. Obwohl sie sich in unzähligen Formen manifestiert, gibt es nur eine Wirklichkeit – wie könnte es auch anders sein. Und jeder, der sieht, sieht dasselbe. Das heißt nicht, dass die Vielfalt der Welt, die uns überall umgibt, nicht wirklich wäre. Das heißt nicht, dass das Flugzeug über deinem Kopf ein Phantom ist oder es die Seite, die du liest, nicht gibt. All das ist durchaus wirklich. Doch wenn wir diese Welt von Subjekt und Objekt für die ganze Wahrheit halten, verirren wir uns bald in einer Welt der Verwirrung, des Verlangens, der Sehnsucht und der Angst. Das macht das Leben schwer – auch wenn uns das vielleicht nicht völlig klar ist. Wir müssen sehen, dass man dieselbe Wirklichkeit auf eine völlig andere Weise betrachten kann, die ganz allein auf der Wahrnehmung beruht. Die Erwachten sehen die Wirklichkeit, wie sie ist. Sie sehen, dass Erleuchtung in nichts weiter besteht als darin, sich nicht mehr von der begrifflichen Welt täuschen zu lassen, die wir alle erschaffen. Das Bewusstsein teilt die Welt in dieses und jenes und anderes auf. Die Trennung, die all dem zugrunde liegt, ist natürlich: »Ich bin hier« und: »Alles andere ist dort draußen.« Wenn wir aber verstehen, was Bewusstsein ist und wie es funktioniert, wird uns klar, dass das Gefühl, es gäbe das Selbst und das Andere, Subjekt und Objekt, eine vom Bewusstsein selbst erschaffene Illusion ist. Der erleuchtete Mensch lässt sich von solchen begrifflichen Dualitäten nicht täuschen. Deswegen verschwindet die Illusion nicht. Sie stellt sich trotzdem ein, wird aber als das gesehen, was sie ist – eine Illusion. Es ist äußerst befreiend, dies zu sehen. Buddha formulierte es so: »Genau wie ein Mensch voll Entsetzen zusammenschrickt, wenn er auf eine Schlange tritt, und lacht, nachdem er genau hingesehen und entdeckt hat, dass 195
es nur ein Stück von einem Seil ist, so kam eines Tages die Erkenntnis, dass das, was ›Ich‹ genannt wird, gar nicht auffindbar ist, und alle Furcht und Unruhe verschwanden zusammen mit diesem Irrtum.« Was hat sich also verändert? In gewisser Weise nichts. »Das Seil« ist immer noch »da«. »Der Fuß« ist immer noch »da«. Doch wir sehen, dass alles ohne Selbst ist. So verschwindet mit dem Sehen das Gefühl vom »Ich«. Wir müssen nicht mehr eingreifen und die Welt manipulieren oder kontrollieren. Erleuchtete Menschen verschwinden nicht urplötzlich. Sie vergessen auch nicht mit einem Mal, wie man isst oder Auto fährt oder sich um seine Kinder kümmert. Aber sie verstehen, dass sie sich selbst schaden, wenn sie einen anderen verletzen. Im Grunde verstehen sie, dass all dies eins ist. Die Bibel wirft eine der großen moralischen Fragen auf, als Kain seinen Bruder Abel tötet. Gott wendet sich an Kain und fragt: »Wo ist dein Bruder Abel?« Kain antwortet: »Ich weiß nicht; soll ich meines Bruders Hüter sein?« Wie kann man eine solche Frage beantworten? Wenn wir in der Begrifflichkeit unseres Geistes gefangen bleiben, ist das unmöglich, denn wie können wir unseres Bruders Hüter sein, ohne ihn zu kontrollieren? Und wenn wir nicht sein Hüter sind, weshalb fühlen wir dann mit ihm, wenn sein Haus niederbrennt oder er verhungert oder ins Gefängnis geworfen wird? Doch was wäre, wenn du – mit Haut und Haar – wüsstest, dass es letzten Endes keinen Unterschied zwischen dir und deinem Bruder gibt? Was wäre, wenn du sähst, dass »Ich bin hier und er ist da« nicht die ganze Wirklichkeit ist? Was wäre, wenn du sähst, dass ein Schlag gegen deinen Bruder ein Schlag gegen dich selbst ist? Mit dieser direkten Einsicht in die Wirklichkeit löst sich das Dilemma. Was du erlebst, ist immer dies, genau hier, genau jetzt. Es gibt keine getrennte Außenwelt, keine getrennten Sinne, und deshalb 196
gibt es keine Verbindung zwischen ihnen. Wie kann etwas mit sich selbst verbunden sein?
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38. Dies kehrt nie mehr zurück
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ach einem erfrischenden Spaziergang an einem kalten Wintertag machte ich es mir vor dem Feuer bequem und schlug einen Band mit Gedichten von Emily Dickinson auf. Die erste Zeile, auf die mein Blick fiel, lautete: »Dass es nie wiederkehren wird.« Das klang vertraut, also las ich weiter: Dass es nie wiederkehren wird, Macht uns das Leben süß. Und glauben ohne Glaubens Sinn Begeistert uns nicht groß. Das Sein ist flüchtig, bestenfalls, Und Werden heißt vergehen – Es lässt in uns nur größere Lust Aufs Gegenteil entstehen. Emily Dickinsons Gedicht rührt an die tiefe Sehnsucht des menschlichen Herzens, ewig zu leben. Wir wollen nicht sterben. Wir wollen nicht aus dem Leben scheiden. Auf den ersten Blick sieht es so aus, als fasse die Zeile »Dass es nie wiederkehren wird« das allgemeine Lebensverständnis unserer Kultur zusammen. Und denken Buddhisten denn nicht ganz anders? Wir leben nicht nur einmal; wir werden immer wieder neu geboren – und das geht lange Zeit so weiter. Sollen wir als Buddhisten das Leben denn nicht so verstehen? Nein, denn im Grunde ist es das Gleiche, wie zu denken, wir würden ewig leben. Das hat nichts mit Buddhas Lehren zu tun. 198
Es ist nur eine andere Form von Ewigkeitsglaube. Der große japanische Zenlehrer Dogen Zenji sagte, ebenso wenig wie Brennholz wieder zu Brennholz wird, wenn es einmal verbrannt ist, so wenig kehre ein Mensch nach seinem Tod zum Leben zurück. Was hat es also damit auf sich, dass wir ständig wiedergeboren werden? Was bedeutet es, wiedergeboren zu werden? Und worüber schreibt Emily Dickinson eigentlich? Sie schreibt über dieses. Diesen wunderschönen, klaren, hellen, blauen Wintertag. Er wird nicht wiederkehren. Es wird zweifellos andere, recht ähnliche Tage geben. Doch dieser Tag wird nicht zurückkehren. Du wirst nie wieder genauso hier sitzen und dies lesen und dabei genau dieselben Gedanken haben und genau dieselben Gefühle empfinden. Nichts von alldem wird je wieder dasselbe sein. Selbst wenn du das Buch hinlegst und hinausgehst, bist du nicht mehr der Mensch, der du warst, als du hereinkamst. Dies wird nie wiederkehren. Das ist immer so. Dies wird nie wiederkehren. Das ist die eigentliche Bedeutung dessen, dass wir stets neu geboren werden. Wir, ja die ganze Welt wird immer wieder neu geboren, immer wieder, in jedem neuen Augenblick. Mit einer Einschränkung. Dieser Wandel, dieser Fluss ist allumfassend und absolut. Er ist sogar so absolut, dass es hier überhaupt nichts Dauerhaftes – auch kein »Wir« – gibt. Es gibt nichts Dauerhaftes, das zurückkehrt oder bestehen bleibt. Es gibt kein »Ich« in diesem Bild. Auch keine »Welt außerhalb von mir«. Wenn wir an Reinkarnation denken, gehen wir von einem Selbst aus. Wir betrachten alles im Hinblick auf ein »Ich«, das die Zeit überdauert. »Und wenn ich sterbe«, sagen wir, »werde ich zurückkehren. Ich werde als ein anderer Mensch wiedergeboren.« Doch das ist absurd. Wir können unmöglich »ein anderer Mensch« sein. Wie kannst du jemand anders als der 199
Mensch sein, der du in diesem Augenblick bist? Wie kann irgendetwas anders sein als das, was es jetzt ist? Solche Gedanken sind nicht mehr (oder weniger) als die tiefe Sehnsucht des menschlichen Herzens nach Beständigkeit – wenn im Grunde genommen nichts in der Welt von Dauer ist. Dennoch erscheint dieser wunderbare, wertvolle, herrliche Augenblick jetzt, jetzt, jetzt und wieder jetzt stets neu geboren, Augenblick für Augenblick. Es ist immer nur dies, doch kein Augenblick kehrt je zurück. Das, sagt Emily Dickinson, »macht uns das Leben süß«. Es ist seine Flüchtigkeit, die das menschliche Leben – das nicht von diesem Augenblick zu trennen ist – so wertvoll macht. Nicht genug damit, dass es nicht von Dauer ist. Es kehrt auch niemals zurück. Das ist das echte, blühende Leben, das wir unmittelbar erfahren und sehen. Und das ist genug. Dieses Dickinson-Gedicht enthält zwei merkwürdige Zeilen: Und glauben ohne Glaubens Sinn begeistert uns nicht groß. Was glauben wir und sehen doch, dass unser Glaube keinen Sinn hat? Wir glauben an Beständigkeit. Zumindest täten wir es gerne. In unseren Herzen sehnen wir uns genau deshalb nach Dauer, weil wir unter der Oberfläche unserer Gedanken und Überzeugungen eigentlich nicht daran glauben können. Ob wir es uns nun eingestehen oder nicht, wir sehen nichts als diesen grenzenlosen Wandel. Das Leben zeigt uns nichts als Fließen, Bewegung und Veränderung. Jede Zelle und jedes Atom in unserem Körper, jeder Gedanke und jedes Gefühl in unserem Geist ist im Fluss. Nichts steht still oder dauert an, nicht einmal für einen Augenblick. Nirgends können wir Dauerhaftes finden. Dennoch machen wir weiter und leben unser Leben so, als ob es anders wäre. Aber tief drinnen wissen wir, dass das keinen Sinn hat. 200
Wir stellen uns eine ewige Oase, eine himmlische Wohnstatt – ein Reines Land, die elysischen Gefilde – vor und verzweifeln, weil wir sie nicht finden. Sie sind niemals hier, und hier ist alles, was wir kennen. Wenn wir aber voll und ganz verarbeitet haben, was wir tief drinnen bereits wissen – dass die Welt uns nichts außer tiefgreifenden Wandel offenbart –, werden wir sehen, dass wir genau hier hergehören und nirgendwo sonst sein müssen. Dann werden wir zu schätzen wissen, dass diese Welt der Leere voller Leben ist, eben weil nichts von Dauer ist. Was wir am liebsten einfrieren und festhalten würden, als könnten wir dadurch den Schmerz in unseren Herzen stillen, ist die Vergänglichkeit selbst. Abgesehen davon, dass es uns niemals gelingen wird, die Leere in etwas Dauerhaftes zu verwandeln, merken wir gar nicht, dass wir uns nicht an die Welt klammern müssen. Wir müssen nichts aus dem Schmerz in unseren Herzen machen. Statt uns also nach etwas zu sehnen und die Hand nach etwas auszustrecken, das niemals war und niemals sein wird, können wir erwachen und die Vergänglichkeit dieses Augenblicks erkennen. Wenn wir unser Leben leben, als kämen wir irgendwann an ein Ende, leben wir in ständiger Angst vor diesem Ende. Wenn wir glauben, irgendwann ein Ziel zu erreichen, an dem alles gut ist – oder alles irgendwie aufhört oder sich wiederholt –, verleugnen wir diese Welt, in der nichts bleibt, wie es ist. Dann verleugnen wir Leben und Bewusstsein. Wenn wir »glauben ohne Glaubens Sinn«, leben wir unser Leben mit angezogener Bremse – ohne Begeisterung. Doch unsere Begeisterung und Vitalität hat ihren Ursprung darin, dass wir aufhören, uns um das zu sorgen, was uns am Leben erhält. Zu dieser Begeisterung und Vitalität finden wir nur, wenn unser Leben im Einklang mit den Erfahrungen ist, die wir tatsächlich machen, und wenn wir uns dabei nicht von unseren Wünschen, Vermutungen und Überzeugungen behindern lassen. 201
Wenn wir uns unsere Erfahrungen etwas genauer ansehen und von den selbstgebastelten Tatsachen und den in Gedanken und in der Vorstellung ersehnten Objekten ablassen, finden wir das Leben, wie es wirklich ist. Doch »das Sein ist flüchtig, bestenfalls«, wie Emily Dickinson sagt. Das heißt, es weicht ständig vor uns zurück. Wir bekommen es nicht zu fassen. Und das, so Dickinson, weckt in uns die Lust auf das Gegenteil. Gerade, dass wir uns die Welt im Geiste vorstellen – was unserem innigen Wunsch entspringt, uns an ein Selbst zu klammern, von dem wir hoffen, es könne in einer himmlischen Wohnstatt ewig weiterbestehen –, weckt in uns die Lust auf das genaue Gegenteil des Lebens. Wir wollen das Gute, das Wundervolle, das Angenehme – aber wir wollen es konserviert für alle Ewigkeit. Wonach wir auch streben: Wenn wir einer Sache lange genug hinterherjagen, wird uns ihre Bedeutungslosigkeit klar. Und irgendwann fürchten wir, alles sei bedeutungslos. Aber das Gefühl von Bedeutungslosigkeit bliebe uns erspart, wenn wir gar nicht erst nach etwas greifen würden, das es nicht gibt. Was wir wirklich brauchen – und bereits haben –, kann man sich weder erträumen noch wünschen. Es ist das Wunschlose und Merkmalslose. Und es sieht genauso aus und fühlt sich genauso an wie dieses.
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39. Das Elixier der Unsterblichkeit
A
ls Buddha gebeten wurde, seine Lehre in einem Wort zusammenzufassen, sagte er: »Achtsamkeit«. Diese Achtsamkeit, von der Buddha sprach, ist nicht das Achten auf besondere Dinge, Gedanken oder Gefühle. Es ist die Achtsamkeit an sich, die da ist, bevor Dinge, Gedanken oder Gefühle entstehen. Es ist auch die Achtsamkeit, die Buddha meinte, als er sagte: »Achtsamkeit ist der Weg zum Todlosen, Unachtsamkeit ist der Weg zum Tod. Wer achtsam lebt, der stirbt nicht mehr, doch der Unachtsame ist schon wie tot.« Wir Menschen leiden unter Verwirrung, Angst, Sehnsucht, Abscheu. Vor allem aber leiden wir unter dem Wissen, dass wir sterben werden. Es prägt sich tief in die menschliche Seele ein. Es ist sehr schmerzlich, darüber nachzudenken, denn wir stellen uns diesem Problem nur höchst ungern. Wenn uns bewusst wird, dass wir dieses Problem namens Tod haben, fragen wir uns: Welchen Sinn hat das Leben? Wie können wir glücklich sein, wenn am Ende alles vergeht? Wie können wir etwas tun oder erschaffen, das unvergänglich ist? Diese Fragen verwirren uns und machen uns Angst. Als Buddha die Achtsamkeit als den »Weg zum Todlosen« bezeichnete, war das nicht nur eine Redensart. Er erinnerte uns an das, was wirklich geschieht. Er lenkte unsere Aufmerksamkeit auf etwas, das wir nicht glauben, festhalten oder irgendwie in Begriffe fassen können. Dennoch können wir lernen zu sehen, worauf er hinauswollte. Das »Samadhi des Schatzspiegels«, ein Gedicht des großen chinesischen Zenlehrers Tung-shan, handelt von der gleichen Achtsamkeit, von der auch Buddha sprach. 203
Das Bild vom Schatzspiegel steht für die Quelle alles Seins. All die unzähligen Dinge, Gedanken und Gefühle, die wir erleben, sind wie die Bilder in einem Spiegel: lebendig, aber ohne Substanz. Im Gegensatz zu den vielen Einzeldingen, die sich im Spiegel zeigen, ist nur der Spiegel selbst wirklich, obwohl wir ihn nicht fassen können. Betrachten wir zum Beispiel den einfachen Vorgang, wenn wir an einer Rose riechen. Wir sehen die Rose, spüren sie, beugen uns zu ihr und atmen ihren Duft durch die Nase ein. Wir »riechen die Rose«, wie wir sagen, obwohl uns diese Ausdrucksform weniger über die tatsächliche Erfahrung als darüber verrät, wie wir diese Erfahrung in Begriffe fassen. Wenn wir sagten, wir könnten den Duft riechen, käme das der tatsächlichen Erfahrung näher. Wo aber findet das Riechen eines Duftes statt? Wenn wir sehr aufmerksam sind, sehen wir, dass all die üblichen Möglichkeiten, diese Erfahrung zu beschreiben, in sich zusammenzubrechen. Ist der Duft in der Rose? Wenn ja, wie kannst du ihn dann riechen? Du bist hier, und die Rose ist irgendwo »dort draußen«. Würde man dir andererseits die Rose wegnehmen, könntest du den Duft überhaupt nicht riechen. Du könntest ihn auch dann nicht riechen, wenn du dich entfernen würdest – oder die Luft zwischen dir und der Rose entfernt würde. Ist der Duft also in der Rose? Ist er in deiner Nase? Ist er in der Luft dazwischen? Liegt er auch dann in der Luft, wenn niemand da ist, der ihn riecht? Wenn ja, woher wollen wir das wissen? Ist der Duft also nur in deinem Kopf? Und wenn er in deinem Kopf ist, wozu ist die Rose dann überhaupt nötig? Letzten Endes ist es unmöglich, das einfache »Riechen einer Rose« – oder jede andere Handlung, bei der es ein Subjekt und ein Objekt gibt – festzunageln. Es verliert jegliche Substanz. 204
Allmählich aber lernen wir verstehen, was es tatsächlich bedeutet, die Rose zu riechen. Das hängt mit dem Wesen des Spiegels zusammen – das bedeutet nämlich, dass der Geist die Quelle aller Erfahrung ist. Somit ist der Akt des Riechens – oder Sehens oder Hörens oder Fühlens oder Denkens – in der Tat nirgends festzunageln. Es ist eine Grundeigenschaft des Geistes, dass er nicht an einen Ort gebunden ist. Naiverweise glauben wir, der Geist übermittle uns tatsächliche Objekte, als seien diese die Wirklichkeit. Für uns hat es vielleicht den Anschein, doch in Wahrheit gibt es gar keine eigenständigen Objekte, die an uns übermittelt werden. Genau genommen ist ein solches Arrangement buchstäblich unmöglich. Wir wissen zum Beispiel aus der Physik, dass dieses Buch, das du in der Hand hältst, und die Hand, in der du es hältst, jeden Augenblick in einem Wirbel sich blitzschnell bewegender Moleküle und Atome neu erschaffen (das heißt neu geboren) werden, die alle in rasender Geschwindigkeit mit anderen Molekülen und Atomen Elektronen und Energie austauschen. Das bedeutet, das Buch und die Hand sind niemals gleich. Am Ende besteht alles aus Energie und Bewegung. Obwohl die alten buddhistischen Lehrer keine Ahnung von moderner Physik hatten, erkannten sie die völlige Unbeständigkeit. Nichts hat Bestand. In jedem Augenblick bietet sich uns ein anderes Bild, ein völlig verändertes Universum. Weshalb ist die materielle Welt so? Weil wir sie nur so erfahren können. Als geistige Erfahrung. Der Geist ist die Quelle. Damit meine ich nicht die übliche Vorstellung, die wir uns vom Geist machen, etwa »dein Geist« oder »mein Geist«. Dein Geist und mein Geist sind nur noch weitere Beispiele für geistige Gebilde oder Etiketten wie »dieses Buch«, »die Rose«, »der Duft« und alles andere. Wir können nicht leugnen, dass all 205
das wirklich ist. Wenn wir es aber für die ganze Wahrheit halten, sitzen wir einem Irrtum auf. Bei den meisten von uns benannten Dingen handelt es sich nicht um die Wirklichkeit, sondern lediglich um unsere Vorstellungen und Interpretationen der Wirklichkeit. Die Philosophie erwuchs aus der Überzeugung, es müsse eine Möglichkeit geben, sein Leben zu führen, das menschliche Leben zu verstehen und die eigenen Angelegenheiten zu regeln, ohne dabei zu leiden. Das ist das Grundproblem des Menschen, und wir suchen seit Jahrtausenden nach einer Lösung dafür. In unserem Bestreben, das Problem des menschlichen Leidens zu lösen, haben wir uns allerlei Philosophien ausgedacht – ganz zu schweigen von Religionen, politischen Systemen und so weiter. Trotzdem nehmen Leid und Unwissenheit kein Ende. Woran liegt das? Wenn wir uns in dem Glauben, »dort draußen« warte tatsächlich etwas darauf, von uns entdeckt zu werden, auf die Suche nach dem Reinen Land, dem Ort des Friedens, der richtigen Philosophie, dem Paradies oder was auch immer begeben, ist die Enttäuschung vorprogrammiert. So etwas gibt es nicht, und solange wir daran glauben, haben wir nur zwei Möglichkeiten: Entweder wir bleiben naiv und unreif, oder wir werden frustriert, mürrisch und zynisch. Dabei entgeht uns, dass unser Denken die Ursache für all das ist. Solange wir uns an irgendetwas festhalten, lauern Angst und Verzweiflung tief in unserem Geist. Doch diese Verzweiflung kommt nur daher, dass wir uns an den Gedanken klammern, es könne etwas Wunderbares, Perfektes, Heilendes – ein Objekt oder ein Konzept oder eine Philosophie oder eine Antwort – geben. Und da dem nicht so ist, benehmen wir uns, als habe das menschliche Leben keinen Sinn. Solange wir in einem solchen Denken feststecken, können wir dieses menschliche Grundproblem nicht lösen. Dann sind wir 206
letzten Endes entweder dazu verdammt zu erkennen, dass wir in einem Universum leben, das keinen Sinn hat, oder auf den Verstand zu verzichten und in einem Narrenparadies zu leben. Beides ist auf seine Art die Hölle. Gibt es noch eine Möglichkeit jenseits dieser beiden Extreme? Hör dir an, was Baizhang, der bereits erwähnte chinesische Zenlehrer, als das »Elixier der Unsterblichkeit« bezeichnete. Ein Elixier ist eine Arznei, die alle Krankheiten heilt. Das Elixier, von dem Baizhang spricht, ist reines, nacktes, gegenstandsloses Bewusstsein. Laut Baizhang leiden wir, weil wir an die Vorstellung glauben, die Dinge hätten irgendeine Substanz. Das heißt, wir glauben, alles, was wir sehen, hören, riechen, schmecken, fühlen und denken, sei wirklich, besäße Substanz und sei von Dauer. Doch reines, gegenstandsloses Bewusstsein zeigt uns eine andere Wirklichkeit. Wenn Baizhang vom Elixier der Unsterblichkeit spricht, ist das nicht nur rein metaphorisch oder poetisch gemeint. Er spricht von der Einsicht, dass nichts wirklich stirbt – und dass nichts je geboren wird. Wenn wir das sehen, vollzieht sich ein völliger Wandel dessen, wie wir die Welt erfahren. Und praktisch alles, worunter wir leiden – Verwirrung, Schmerz, Sehnsucht und Abscheu, Verlust und Trauer, Angst und Tod –, hat ein Ende. Im Grunde entsteht es erst gar nicht mehr, da wir nicht mehr »dort draußen« nach etwas suchen, das uns zufrieden stellt. Wir können sehen, dass es »dort draußen« – und »hier drinnen« – nicht gibt. Man kann dieses Elixier der Unsterblichkeit – die Erkenntnis, dass nichts stirbt – auf unterschiedliche Weise interpretieren. Ich werde nur zwei Beispiele geben. Sehen wir uns zuerst Nagarjunas Betrachtung, dass nichts unbeständig ist, an. 207
Wenn wir das zum ersten Mal hören, kommt es uns vermutlich sehr merkwürdig vor. Vielleicht sehen wir darin sogar einen Widerspruch zu den buddhistischen Lehren. Schließlich ist die Unbeständigkeit eine wichtige und sehr einleuchtende Lehre des Buddha-Dharma. Wenn uns erst einmal gesagt wurde, dass nichts von Dauer ist, scheint es klar auf der Hand zu liegen. Dennoch behauptet Nagarjuna, ein völliges Verständnis der Unbeständigkeit führe zu der Erkenntnis, dass nichts unbeständig sei. Nagarjuna meint daraufhin, dass der Glaube an die Unbeständigkeit der Dinge widersprüchlich ist. Zuerst postulieren wir voneinander getrennte, beständige Dinge (im Grunde absolute Objekte). Dann bezeichnen wir sie als unbeständig (also relativ). Dabei übersehen wir, dass wir immer noch eine Substanz zugrunde legen, und sehen nicht, wie vollkommen die Veränderung, wie vollkommen die Ichlosigkeit ist. Nagarjuna lässt keinen Zweifel daran, dass die Unbeständigkeit (das Relative) vollkommen, umfassend, gänzlich, absolut ist. Das heißt nicht, dass sich das Universum aus unzähligen Objekten zusammensetzt, die sich im Fluss befinden. Das heißt, dass es nur Fluss gibt. Nichts schwimmt mit dem Strom wie ein Korken in einem Fluss (oder wäre dazu überhaupt in der Lage). Im Grunde entsteht nichts und vergeht nichts. Alles ist nur Fluss. Eine weitere Interpretation der Erkenntnis, dass nichts stirbt, stammt von Bodhidharma, dem ersten chinesischen ZenPatriarchen. In einem Kommentar zu der buddhistischen Regel, nicht zu töten, führte er aus: »Die Regel des Nichttötens besagt, dass man keinen Gedanken an Auslöschung hegt.« Mit anderen Worten, wenn wir glauben, dass tatsächlich etwas stirbt oder vergeht, glauben wir an konkrete, dauerhafte Wesen und Dinge, die entstehen und vergehen. Es lässt sich nicht leugnen, dass es den Anschein hat, als würden Formen kommen und gehen. Doch von der Existenz 208
imaginärer, dauerhafter Wesenheiten auszugehen und sie an diesem scheinbaren Entstehen und Vergehen festzumachen ist Verblendung. Als Buddha sagte, der Unachtsame sei schon wie tot, meinte er damit, wenn wir an die Dauer von Formen glauben, die zu kommen und zu gehen scheinen, müssen wir mit Angst, Verwirrung und dem Gefühl leben, dass das menschliche Leben letzten Endes sinnlos ist. Das ist eine große Last – und wir tragen sie nur aufgrund unserer wunderbaren Fähigkeit, Dinge und Gedanken aus unserer Erfahrung zu abstrahieren. Es ist eine große Illusion, die uns täuscht – und uns bis ins Mark erzittern lässt bei dem Gedanken, dass wir sterben werden, dass alles andere ebenfalls vergeht (zumindest für uns) und – was am schlimmsten ist – dass wir eigentlich nichts verstehen. Auf diese Weise entgeht uns die Struktur von nur diesem – der dynamischen Wirklichkeit selbst. Um es mit Buddhas Worten zu sagen: Wir sind »schon wie tot«. In buddhistischen Texten wird auch gerne ein anderes Bild verwendet, um die gegenstandslose Erkenntnis auszudrücken, dass nichts stirbt. Es sind die so genannten »goldenen Fische«. Sie stehen für etwas, was wir nicht fassen und nicht einmal vorstellen können. Wir wissen nicht, was es ist, weil es nichts Besonderes ist. Es ist kein Objekt. Genau genommen können wir diesem Etwas nicht einmal einen Namen geben, geschweige denn es besitzen oder eine Beziehung dazu aufbauen. Und doch schenkt es uns wahre Zufriedenheit. Doch da es nirgends zu Hause ist, können wir es auch nirgends suchen. Wir müssen nur das Netz auswerfen.
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40. Eis, das im Feuer entsteht
D
ogen Zenji sagte: »Was ist Wirklichkeit? Ein Eiszapfen, der im Feuer entsteht.« »Das scheint unmöglich«, bemerkte mein Lehrer Katagiri Roshi einmal. »Doch die Wirklichkeit ist so. Wir leben sie Tag für Tag.« Dogen bedient sich hier nicht einfach nur eines schönen, poetischen Bildes. Er lenkt unsere Aufmerksamkeit auf die unmittelbare Erfahrung dieses Augenblicks. Denn genau so manifestiert sich die Wirklichkeit Augenblick für Augenblick in unserem Leben – als Eis, das im Feuer entsteht. Nehmen wir zum Beispiel die Erinnerung. Wenn ich die Menschen frage, welche geistige Erfahrung am längsten andauert, bekomme ich gewöhnlich zur Antwort: die Erinnerung. Allerdings ist höchst fragwürdig, wie verlässlich und unveränderlich Erinnerungen tatsächlich sind. Kürzlich fuhr ich wieder einmal in den Itasca State Park, ins Quellgebiet des Mississippi. Ich weiß noch sehr gut, wie ich als Kind mit meiner Familie dort war. Ich kann mich auch klar und deutlich daran erinnern, dass ich unweit der Stelle, wo der Mississippi dem Lake Itasca entspringt, um seine lange Reise zum Golf von Mexiko anzutreten, über den Mississippi sprang. Ich kann mich auch noch ganz genau an die Ufer zu beiden Seiten des Wasserlaufs erinnern, der eigentlich mehr ein Bach als ein Fluss war. Grasbüschel hingen über dem klaren Wasser, das aus dem See quoll. Und ich weiß noch ganz genau, wie ich von einem Ufer zum anderen sprang. So klar meine Erinnerung auch ist – sie ist falsch. Als ich vor kurzem noch einmal dort war, wurde mir das sofort bewusst. Ein Großteil dessen, woran ich mich erinnerte, war 210
noch immer unverändert und wich im Wesentlichen nicht von meiner Erinnerung ab – die bewachsenen Ufer mit den Grasbüscheln, die Fußgängerbrücke aus Baumstämmen, die historische Steinsäule. Doch der Fluss war sehr viel breiter, als ich ihn in Erinnerung hatte. Ich konnte unmöglich dort hinübergesprungen sein. Unsere Erinnerungen sind in der Tat nicht so beständig und fest, wie wir glauben. Sie vermischen sich mit anderen Gedanken und Dingen und verändern sich im Laufe der Zeit. Deshalb können klare, deutliche Erinnerungen trotzdem fehlerhaft oder sogar gänzlich falsch sein. Nicht einmal für gemeinsame Erinnerungen gibt es eine Verlässlichkeitsgarantie. Erinnerungen sind wie Eiszapfen, die im feurigen Fluss unserer Gedanken entstehen. Es hat den Anschein, als seien sie fest und blieben in all unseren Stimmungsschwankungen und dem ständigen Anhäufen von Erfahrungen und Vorstellungen unverändert. Wir tragen sie jahrelang mit uns herum, ohne zu merken, dass Teile verloren gehen und Neues ergänzt wird. Unsere Erinnerungen sind nur eine der Arten, wie wir uns die Welt zurechtbasteln, damit wir sie im Geiste erfassen können. Sie machen einen soliden Eindruck – sie wirken echt, eigenständig, immer gleich und beständig –, in Wirklichkeit aber verändern sie sich genau wie alle anderen Schöpfungen. Tatsache ist: Nichts bleibt, wie es ist. Alles ist im Fluss. In dieser Hinsicht unterscheiden sich Erinnerungen nicht von den anderen Aspekten der Wirklichkeit. Ebenso wenig wie unser Gefühlsleben und im Grunde alle anderen geistigen Aspekte, die wir in Betracht ziehen könnten. Trotzdem glauben wir weiterhin, Menschen seien so oder so – gut oder schlecht, glücklich oder traurig, großzügig oder geizig, freundlich oder bedrohlich. Wir sehen nicht, dass sich Menschen von Grund auf verändern, weil die Bilder in unserem Geist starr und spröde werden wie Eiszapfen und wir nicht die 211
Wirklichkeit, sondern diese gefrorenen Objekte sehen. Zuerst frieren wir unser eigenes Leben und das Leben unserer Zeitgenossen auf diese Weise ein. Anschließend geben wir diese erstarrten Vorstellungen von Generation zu Generation weiter und zerren so unzählige unschuldige Menschen – unsere Kinder und deren Nachkommen – in unsere Torheit mit hinein. In vielen Teilen der Welt werden Hassgefühle weitergegeben, deren Ursprung Hunderte von Jahren zurückliegt. Obwohl heute niemand mehr lebt, der weiß, wie der Konflikt entstand, erschaffen oder verändern die Menschen Erinnerungen und Geschichten, um die andauernden Konflikte zu rechtfertigen. Auf diese Weise sorgen wir dafür, dass Gewalt, Trauer und Elend nicht nur uns selbst, sondern auch der Nachwelt erhalten bleiben. All unsere Kriege sind die Folge von Gedanken und Überzeugungen. Sie sind die unmittelbare Folge erstarrter geistiger Gebilde – als seien all unsere Vorstellungen, Überzeugungen und Erinnerungen tatsächlich wahr und man müsse darauf reagieren. Wir täten gut daran zu vergessen, wie es angeblich schon immer war – das, was wir darüber glauben oder denken, woran wir uns erinnern oder was wir uns vorstellen –, und uns stattdessen anzusehen, wie wir uns in diesem Augenblick verhalten. Dies ist der Augenblick, in dem wir zur Vernunft kommen können. Wir verwandeln nicht nur unsere Erinnerungen in Eiszapfen. Wir tun das andauernd mit allen Objekten, Gedanken und Gefühlen, die in unserem Geist auftauchen. Stell dir einen Wasserstrudel vor. Wir können ihn betrachten, wir können ihn bewundern, und wir können darüber reden. Aber wir verstehen nicht so ohne weiteres, dass das, was wir leichtfertig als »den Strudel« bezeichnen, nichts Besonderes ist. Der Strudel in einem See oder Fluss verändert ständig seine 212
Lage und Form. Er wird flacher oder tiefer. Die Wassermoleküle verändern sich ständig. Die Zusammenstellung der Wassermoleküle, die dem Strudel seine Oberfläche und seine Form geben, ist niemals gleich. Trotzdem ist »der Strudel« für uns etwas Konkretes – Eis, das im Feuer entsteht. Wir stellen uns vor, Dinge seien beständig, obwohl wir gleichzeitig wissen, dass sie vergänglich sind. Weil wir an dieser Vorstellung festhalten, können wir nicht erkennen, dass in Wirklichkeit gar nichts da ist. Wir leben in dem krampfhaften Glauben, Eis könne tatsächlich im Feuer entstehen. Was ist dieses Feuer? Dieses Feuer ist der Geist – völlige Bewegung, Fluss, Fließen, Veränderung. Da aber alles im Fluss ist, funktioniert der Geist, ohne dass sich tatsächlich irgendetwas bewegt. Wenn du ganz genau hinsiehst, wird dir klar, dass alles wie der Strudel ist – dass es nichts Konkretes, sondern Veränderung selbst ist. Könnten wir unser Sehen genügend beschleunigen, würden wir erkennen, dass sich der Steinhaufen genau wie der Strudel im Laufe von Jahrtausenden verändert und verschwindet. (Und wenn wir durch ein Elektronenmikroskop schauen könnten, sähen wir die ständigen molekularen und atomaren Veränderungen des Steins.) Doch hier geht es um etwas sehr viel Tieferes. Die Begriffe Stein und Strudel habe ich nur aus Gründen der Verständlichkeit verwendet. In Wirklichkeit gibt es nur Veränderung – nur Feuer. Es gibt nichts Beständiges namens »Stein« oder »Strudel«, das sich verändert. Eigentlich gibt es nichts, das überhaupt ein Stein oder ein Strudel oder du oder ich wäre. Wir halten die harten Eiszapfen, die sich in unserem Geiste bilden – Eiszapfen wie Katzen und Steine und Strudel und »Ich« –, tatsächlich für die beständigen, voneinander getrennten Wesenheiten, als die sie uns erscheinen. Anschließend schenken wir ihnen unsere gesamte Aufmerksamkeit. 213
Dabei entgeht uns das Feuer – der Geist – ganz und gar. Und was noch wichtiger ist, uns entgeht, dass auch das Eis nur aus Feuer besteht.
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41. Reiner Geist
Z
urzeit ist das Bewusstsein groß in Mode, und viele neue Bücher greifen das Thema auf. Allerdings machen diese Bücher uns immer wieder klar, dass wir keine genaue Vorstellung davon haben, was Bewusstsein eigentlich ist. Es hat sogar den Anschein, als steuere die ganze Diskussion auf materielle Aspekte – das heißt Gehirn, Nerven, Synapsen und Ähnliches – und nicht auf das Bewusstsein zu. Das ist angesichts der Tatsache, dass das Bewusstsein einem jeden von uns sehr vertraut ist, ein wenig seltsam. Es begleitet uns immerzu. Sobald wir uns darauf konzentrieren, können wir es erfahren und deutlich zur Kenntnis nehmen. Trotzdem halten wir es für vage und mysteriös. Allerdings sind wir hinsichtlich der Materie meist ebenso verwirrt wie hinsichtlich des Bewusstseins. Meist halten wir die Materie für die Grundlage der Wirklichkeit. Doch da verdrehen wir die Tatsachen. Wenn wir sorgfältig hinsehen und tief blicken, sehen wir, dass weder der Geist noch das Bewusstsein, sondern die Materie abstrakt ist. Materie besteht aus Atomen. Aber woraus bestehen Atome? Wenn wir in dem Bestreben, das herauszufinden, genauer hinsehen, entdecken wir Protonen, Neutronen und Elektronen. Wenn wir noch genauer hinsehen, entdecken wir, dass Protonen und Neutronen aus Quarks bestehen. Allerdings hat keines dieser Teilchen eine Ähnlichkeit mit dem, was wir gewöhnlich mit dem Begriff Materie bezeichnen. Materielle Dinge besitzen physische Eigenschaften wie Masse, Energie, Lage und Impuls. Elektronen und andere subatomare Teilchen aber verfügen nicht immer über diese Eigenschaften. Wir wissen zum Beispiel nicht, wo sich ein Elektron befindet 215
– es sei denn, wir begeben uns auf die Suche danach. Die fehlende Ortsangabe kommt uns erst dann seltsam vor, wenn wir den Ort des Elektrons bestimmt haben und feststellen, dass wir nichts über seinen Impuls (das heißt das Produkt aus Masse, Geschwindigkeit und Richtung) wissen. Also machen wir uns auf die Suche nach dem Impuls. Auch der lässt sich ermitteln, doch nur wenn wir dafür auf die Ortsangabe verzichten. Mit anderen Worten, ein Elektron besitzt offenbar nur die Eigenschaften, auf die wir gerade unsere Aufmerksamkeit richten. Ein solches Verhalten hat keinerlei Ähnlichkeit mit dem, was wir uns gemeinhin unter Materie vorstellen – das heißt etwas Substanzielles, Objektives und vom Geist Getrenntes. Jedes Mal, wenn wir uns auf die Suche nach dem Stoff machen, aus dem die Materie besteht, stellen wir fest, dass sie untrennbar mit dem Bewusstsein verbunden ist. Diese Beobachtung veranlasste den Physiker und Astronomen Sir Arthur Eddington dazu zu schreiben: »Physik ist das Studium der Strukturen des Bewusstseins. Der Stoff der Welt ist der Stoff des Geistes.« Es wimmelt nur so von anderen Beispielen für die Vermischung von Geist und Materie. Da wäre zum Beispiel das berühmte Doppelspaltexperiment, in dem Elektronen auf eine Platte mit zwei Schlitzen geschossen werden. Wenn wir nicht versuchen nachzuvollziehen, welchen Schlitz ein Elektron passiert, entsteht auf dem dahinter liegenden Projektionsschirm ein bestimmtes Muster, ein so genanntes Interferenzmuster. Wenn wir allerdings die beiden Schlitze beobachten, erhalten wir ein völlig anderes Muster, ein so genanntes Beugungsmuster. Allein dadurch, dass wir darauf achten, durch welchen Schlitz das Elektron fliegt, bekommen wir bei diesem Experiment völlig andere Ergebnisse. Unsere Schwierigkeiten mit der Materie kommen daher, dass sie im Vergleich zum Bewusstsein, das wir direkt erfahren, immer sekundär ist – das heißt indirekt über den Geist erfahren 216
wird. Dies – das Bewusstsein – ist unsere tatsächliche, unmittelbare Erfahrung – sie ist rein geistig, nicht körperlich. Kurz, die materielle Wirklichkeit lässt sich ohne das Bewusstsein gar nicht vollständig erklären. Gleichzeitig steht keineswegs fest, dass zur Erklärung des Bewusstseins die Materie nötig ist. Wenn wir die materielle Welt betrachten, sehen wir scheinbare Vielfalt: viele Dinge, die alle voneinander und von »mir«, dem Beobachter, getrennt sind. Man hat den deutlichen Eindruck, sie existierten unabhängig von unserer ganz persönlichen und subjektiven Erfahrung. Bei dieser Betrachtungsweise – nennen wir sie Betrachtungsweise A – interessieren uns normalerweise all diese scheinbar voneinander getrennten Objekte. Dabei entgeht uns (oder wir ignorieren oder übersehen es), dass sich all diese scheinbar voneinander getrennten Objekte zu einem Gesamtbild zusammenfügen. Bei dieser Betrachtungsweise glauben wir blind an die Objektivität der Welt »dort draußen«. Wir übersehen die tatsächliche Erfahrung und konzentrieren uns auf die verführerische Ansammlung von Objekten, die es in dieser angeblich »äußeren« Welt gibt. Letzten Endes veranlasst uns das dazu, die tatsächliche Erfahrung von Ganzheit zugunsten der Dinge zu verwerfen, die wir »objektiv« messen, zählen und bestimmen können. Also gehen wir mit unterschiedlichen Messwerkzeugen an die große Menge von Objekten heran, die in dieser äußeren Welt zu existieren scheinen, weil wir die Wirklichkeit besser verstehen wollen. (Zu diesen Objekten zählen nicht nur Formen, Farben, Klänge und Gerüche, sondern auch Gefühle, Eindrücke, Menschen, Wolken, Wut, Liebe, Verwirrung, Leidenschaft und so weiter.) Auf diese Weise entwickeln wir eine ebenso vielfältige und verführerische Ansammlung von Messwerkzeugen. Doch Betrachtungsweise A sieht die Welt nicht so, wie wir sie 217
tatsächlich erfahren, sondern wie wir sie zu erfahren glauben. Anders formuliert: Wir sehen die Welt nicht so, wie wir sie wahrnehmen, sondern wie wir sie begrifflich erfassen. Aber es ist durchaus möglich, die eigene Erfahrung anders zu deuten. Bei dieser zweiten Betrachtungsweise – Betrachtungsweise B – ist das Gesamtbild für uns von Interesse, nicht die Einzelteile, aus denen es besteht. Ja, es scheint nicht einmal einzelne Teile zu geben. Bei dieser Betrachtungsweise sehen wir die Welt nicht als Vielfalt, sondern als Einheit. Wir betrachten sie nicht als gewaltige Ansammlung einzelner Objekte, sondern als ein Ganzes. Menschen, die ekstatische und mystische Erfahrungen der Einheit und Totalität gemacht haben, verwechseln diese Sichtweise gerne mit der Erleuchtung. Die erste Betrachtungsweise liefert uns Vielfalt und Relativität, die zweite Einheit und Totalität. Welche ist richtig? Wenn wir Zen üben, wissen wir, dass wir das Ziel verfehlen, sobald wir uns für eine der beiden Sichtweisen entscheiden. Beide sind unentbehrlich, aber keine von beiden liefert uns ein genaues Bild von der Wirklichkeit. Das Problem bei der ersten Betrachtungsweise – Betrachtungsweise A, unserem praktischen Ansatz – liegt darin, dass sie uns verwirrt. Sie ist nicht geeignet, uns wahres Wissen zu verschaffen. In den vorangegangenen Kapiteln wurden viele Beispiele dafür angeführt, dass Betrachtungsweise A uns nicht alles zeigt. Aktive Anhänger einer Religion, darunter auch viele Buddhisten, machen dagegen oft den Fehler, anzunehmen, Betrachtungsweise B, Einheit oder Totalität, gäbe die Wirklichkeit korrekt wieder. Doch das ist nicht der Fall, da sie Betrachtungsweise A ausschließt, die ganz klar nicht von der Hand zu weisen ist. Die Welt erscheint auch als Vielzahl von Dingen, Gedanken und Gefühlen. Das Problem liegt darin, dass es für uns so aussieht, als 218
schlossen sich diese beiden Betrachtungsweisen gegenseitig aus. Das kommt daher, dass wir uns im begrifflichen Denken verfangen, sobald wir uns für eine von beiden entscheiden. Wir ignorieren die unmittelbare, direkte Erfahrung dieses Augenblicks, die beide Betrachtungsweisen gleichzeitig einschließt. Natürlich erfahren wir Vielfalt, und wenn wir ganz genau hinsehen, erfahren wir die Einheit ebenso deutlich. Ein vollständiges Bild erhalten wir nur dann, wenn wir diese beiden Sichtweisen – Betrachtungsweise A und Betrachtungsweise B – miteinander verschmelzen, das heißt als eine einzige Sichtweise sehen. Genau davon handelt ein klassischer Text des Zenlehrers Shiht’ou (japanisch Sekito Kisen) mit dem Titel: Ts’ant’ungch’i (Sandokai), »Essenz und Erscheinungsformen durchdringen einander«. In diesem Text finden sich folgende Zeilen: »Zu sehr an den Erscheinungsformen zu haften führt zur Täuschung. Der Essenz zu begegnen und ihr zu folgen ist nicht das wahre Satori.« Wenn die Menschen einen ersten Vorgeschmack auf das Einssein bekommen, glauben sie oft, ihnen sei die Erleuchtung zuteil geworden. Doch es war noch nicht die Erleuchtung, einfach deshalb, weil das Einssein nicht die Vielfalt erklärt, die uns ständig umgibt. Wenn wir die Wirklichkeit tatsächlich sehen, erleben wir beide Betrachtungsweisen gleichzeitig, so dass sie sich zu einer neuen, vollständigen Sicht vereinigen. Erleuchtung ist, wenn wir sehen, dass Vielfalt (die Alltagswelt von diesem und jenem) und Einheit (Einssein) nicht zweierlei und nicht voneinander zu trennen sind. Wenn wir uns in Betrachtungsweise A verfangen haben, fällt es uns schwer, das Bewusstsein zu verstehen, geschweige denn zu erklären. Es ist uns aber auch keine große Hilfe, wenn wir uns an Betrachtungsweise B klammern. Sofern wir nicht beides 219
zugleich sehen, werden wir das Bewusstsein nicht verstehen. Das liegt daran, dass das Bewusstsein die Aufteilung dessen vornimmt, was sonst ein nahtloses Ganzes ist. Sowohl Einheit als auch Vielfalt sind nötig. Sie widersprechen sich nicht und schließen sich auch nicht gegenseitig aus. Es gibt eine frische, direkte, absichtslose, nicht begriffliche Art und Weise, diesen Augenblick zu erkennen. Wenn wir das erst einmal sehen, müssen wir uns nicht mehr so sehr oder so ausschließlich auf unsere geistigen Gebilde – unsere Gedanken, unsere Überzeugungen und unsere Wirklichkeitsmodelle – verlassen. Wir sehen nicht nur, dass Betrachtungsweise A und Betrachtungsweise B miteinander verschmolzen sind, sondern auch, dass es die ganze Zeit über nur eine Sichtweise gab. Dieses Sehen ist die plötzliche Erkenntnis, dass unser Leben und die Welt eine Weite und eine Tiefe besitzen, deren wir uns zuvor nicht bewusst gewesen waren. Um einen kleinen Vorgeschmack darauf zu bekommen, wie das funktioniert, versuch es einmal mit der Übung auf der nächsten Seite.
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Halte die Abbildung etwa 30 Zentimeter vors Gesicht. Starre auf die beiden Punkte am oberen Rand des Bildes und lasse den Blick verschwimmen. Schiebe das Buch etwas umher, bis zwischen den beiden Punkten ein dritter erscheint. Starre weiter auf das Bild und lasse deinen Blick dabei ganz vorsichtig nach unten wandern, bis plötzlich ein dreidimensionales Bild entsteht. Wenn wir diese Abbildung ansehen, wie wir es immer tun, können wir das dreidimensionale Bild nicht sehen. Doch sobald wir wissen, wie wir danach suchen müssen, fällt uns das Bild ins Auge. Unser Leben ist von ähnlicher Weite und ähnlicher Tiefe. Normalerweise sind wir uns dessen nicht bewusst und schneiden 221
uns davon ab. Praktisch all unser Leiden resultiert daraus, dass wir uns auf diese Weise isolieren. Dabei haben wir das, was zu unserer Befreiung nötig ist, stets unmittelbar vor Augen.
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42. Die Zeit und das Jetzt Ich, die große Erde und alle Wesen beenden den Weg zur gleichen Zeit. Buddha Für uns gläubige Physiker hat die Scheidung zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft nur die Bedeutung einer wenn auch hartnäckigen Illusion. Albert Einstein Wie kann es sein, dass Buddha die Erleuchtung zusammen mit allen Wesen erlangte? Liegt dieses Ereignis denn nicht schon sehr lange zurück? Wenn es bereits vorbei ist, wo ist es dann jetzt? Sind mit »alle Wesen« auch wir gemeint? In der buddhistischen Literatur gibt es viele Hinweise auf die Zeitlosigkeit von Dingen, Beziehungen und Ereignissen. Ein klassisches Beispiel ist Nagarjuna, der darauf hingewiesen hat, dass wir uns die Zeit nicht als zusammenhängende Einheit vorstellen können. In seinem Werk Die Philosophie der Leere erklärt er, Zeit ließe sich nur als eine Reihe voneinander abhängiger Beziehungen betrachten. Auch Dogen lenkt unsere Aufmerksamkeit in seinem Essay »Sein-Zeit« auf diese Erkenntnis. Seng-t’san, der dritte Zen-Patriarch in China, schließt seine »Verse über den Glaubensgeist« mit den Worten: »Worte gehen fehl, es zu benennen. Es ist nicht von der Vergangenheit, der Zukunft oder Gegenwart.« Und der Zenlehrer Shih-t’ou beginnt sein bereits zitiertes Werk mit dem Satz: »Der Geist des großen Weisen aus Indien wurde innigst, direkt und verborgen weitergegeben von Osten nach Westen.« Ein solches Ereignis muss sich zwangsläufig fernab jeder zeitlichen Vorstellung abspielen. Trotzdem halten wir die Welt und unsere Erfahrung der Welt 223
normalerweise für linear, als reihten sich die Dinge in einer geraden Linie von der Vergangenheit über die Gegenwart und bis in die Zukunft aneinander. Etwas, das jetzt geschieht, wirkt sich später aus. Wir glauben, dass das so ist und auch so sein muss. Welche Ansicht ist stärker im Einklang mit den Erkenntnissen der modernen Wissenschaft? Welche Ansicht spiegelt genauer, wie die Welt wirklich ist? In jüngster Zeit zeigen einige Wissenschaftler erneut Interesse an einer besonderen Art und Weise, Zeit und Raum zu veranschaulichen, die seit den vierziger Jahren des 20. Jahrhunderts im Umlauf ist. In einem der entsprechenden Modelle wird die Zahl der räumlichen Dimensionen auf zwei reduziert und die Zeit in die dritte Dimension projiziert. Diese Theorie geht davon aus, dass alles, was wir als »Jetzt« bezeichnen – das heißt die Anordnung aller Dinge und Ereignisse –, auf einer einzigen, zweidimensionalen Ebene liegt. Da es sich bei dieser Ebene um den gegenwärtigen Augenblick handelt, bleibt sie natürlich nicht, wo sie ist. Es sieht vielmehr so aus, als steige sie wie der Boden eines Aufzugs durch die dritte Dimension (Zeit) empor, wobei sie sich im Gegensatz zum Fahrstuhl eben nicht durch den Raum, sondern durch die Zeit bewegt. Innerhalb dieses begrifflichen Modells ist alles, was sich zu einem beliebigen Zeitpunkt unter dem Boden des Aufzugs befindet, Vergangenheit. Auf die Zukunft – das, was noch kommt – stoßen wir, wenn sich der Boden des Aufzugs hebt und auf sie zu bewegt. Wenn wir uns diese Ansicht zu Eigen machen, können wir uns die gesamte Raum-Zeit als dreidimensionalen Block und Menschen oder Dinge als einen Punkt (oder eine Reihe von Punkten) darin vorstellen. Das Leben lässt sich dann als Linie darstellen, die in diesem Block entsteht, wenn sich der Aufzug durch die Zeit nach oben bewegt. Der eine oder andere Wissenschaftler sieht in diesem Modell 224
auch eine Möglichkeit zur Erklärung von Bewusstsein. Der deutsche Mathematiker Hermann Weyl beschrieb es so: »Die objektive Welt ist schlechthin, sie geschieht nicht. Nur vor dem Blick des in der Weltlinie meines Leibes emporkriechenden Bewusstseins ›lebt‹ ein Ausschnitt dieser Welt ›auf‹ und zieht an ihm vorüber als räumliches, in zeitlicher Wandlung begriffenes Bild.« Weshalb aber sollen wir uns die Zeit überhaupt als Bewegung vorstellen? Wie das oben erläuterte Modell und die Erforschung zeitlicher Phänomene im Allgemeinen zeigen, gehen die Forscher natürlich auch weiterhin von der praktischen Annahme aus, Zeit sei eine Bewegung von der Vergangenheit über die Gegenwart in die Zukunft. Doch wenn man an dieser Meinung festhalten möchte, ergeben sich einige Probleme. Ein paar Physiker entdeckten beispielsweise, dass gewisse Quantenereignisse offenbar mit dem Aufzug nach unten und nicht nach oben fahren. Die Wissenschaft musste sich im Besonderen eine Erklärung für ein Teilchen namens Positron einfallen lassen. Das ist keine theoretische oder hypothetische Größe, sondern ein echtes Teilchen, das bei einigen Quantenexperimenten auftritt. Man kann ein Positron entweder als ein positiv geladenes Elektron betrachten (doch Elektronen sind negativ geladen) oder als ein Elektron, das sich rückwärts durch die Zeit bewegt. Wie wir gleich sehen werden, löst der zweite Ansatz eine Vielzahl verwirrender Probleme, mit denen sich die Physiker schon seit geraumer Zeit herumschlagen. Am einfachsten wäre es natürlich, all den vermeintlichen Blödsinn zu vergessen, dass sich irgendwelche Teilchen rückwärts durch die Zeit bewegen, da man vom mathematischen Standpunkt aus ebenso gut sagen könnte, dass sie sich »vorwärts« durch die Zeit bewegen. In der Tat versuchten 225
seither viele Physiker genau das zu beweisen. Das Dumme war nur: Wenn sie vom Gegenteil ausgingen und sich Positronen als Elektronen vorstellten, die von der Zukunft durch die Gegenwart in die Vergangenheit reisen, vereinfachte sich ihr Gesamtbild vom Universum mit einem Mal erheblich. Für Physiker ist eine solche Vereinfachung ein starker Anreiz, etwas ernst zu nehmen. Darüber hinaus entdeckten sie vor kurzem, als sie die Dinge zeitweilig unter diesem umgekehrten zeitlichen Vorzeichen betrachteten, dass sich auf diese Weise viele Quantenphänomene begrifflich erfassen ließen, die sonst nicht zu erklären waren – Phänomene, die seit Jahrzehnten für große Verwirrung sorgen. Wenn wir aber von einem derartigen Modell ausgehen, führt das anderweitig zu großer Verwirrung. In einem sehr wörtlich zu verstehenden Sinne würde es bedeuten, dass es im Universum weder Zeit noch Raum gibt oder dass die gesamte Wirklichkeit – die gesamte Zeit, der gesamte Raum – gleichzeitig vorhanden ist. Anders formuliert, nichts fährt mit dem Aufzug nach oben oder unten und hinterlässt irgendwelche Linien – weder unsere Körper noch unser Bewusstsein oder die Positronen. Genau genommen gibt es keine solche Zeitlinie. Sie ist eine Illusion und der Ursprung unserer Verwirrung hinsichtlich der Zeit. Heute beschäftigen sich also Physiker mit derartigen Thesen, wie sie hier sehr stark vereinfacht dargestellt wurden. Wenn, sagen wir mal, ein Elektron in deiner Küche vibriert, sendet es ein Signal aus, das sich mit Lichtgeschwindigkeit durch die gesamte Zeit und den gesamten Raum bewegt. Wenn ein anderes Elektron dieses Signal empfängt, wird es in Schwingung versetzt und antwortet seinerseits mit einem Signal an das Elektron in deiner Küche. Jedes Elektron erhält die Information von allen anderen Teilchen überall – ja, von buchstäblich allem, was es in der gesamten Zeit und im gesamten Raum erreicht. 226
Aufgrund dessen »kennt« jedes Elektron seinen genauen Platz und seine Bedeutung im Universum. Sehen wir uns das einmal genauer an. Angenommen, wir erregen ein Elektron hier auf dieser Buchseite (und bezeichnen es als Sender). Es sendet ein Signal mit Lichtgeschwindigkeit ins ganze Universum (das heißt, es gibt ein Photon ab, das sich in Form von Wellen fortbewegt). Vielleicht kommt es nur bis zum Ende dieser Seite. Vielleicht gelangt es aber auch bis zum Andromedanebel, der zwei Millionen Lichtjahre entfernt ist. Wie weit oder wohin es kommt, spielt aber keine Rolle, denn früher oder später wird das Photon von einem anderen Elektron eingefangen (dem Empfänger). Dieses Elektron wird in Schwingung versetzt und schickt ein Antwortsignal zum Senderelektron hier auf dieser Seite. Herkömmlichen Ansichten zufolge braucht das Signal, wenn es bis in den zwei Millionen Lichtjahre entfernten Andromedanebel vordringt, vier Millionen Jahre für die Hinreise und die Rückreise zum Sender auf dieser Seite. Doch es hat den Anschein (und viele Experimente haben das bestätigt), als empfange der Sender das Antwortsignal des Empfängers in dem Augenblick, in dem er sein Signal aussendet. Das Signal braucht also keine vier Millionen Jahre für die Reise in den Andromedanebel, sondern die gesamte Transaktion findet gleichzeitig statt. Nicht eine Mikrosekunde später, sondern im selben Augenblick. Mit anderen Worten, die gesamte Transaktion findet jetzt statt – unabhängig von der Zeit. Im Jetzt, nicht in der Zeit. Einige Forscher erklären dieses Phänomen so: Wenn das Signal den Empfänger erreicht, schickt dieser seine Antwort rückwärts durch die Zeit. Da das Senden des Antwortsignals ebenso lange dauert wie das Senden des ursprünglichen Signals, ist die ganze Angelegenheit in dem Augenblick vorbei, in dem sie beginnt. Physiker haben bei Experimenten tatsächlich Daten 227
gewonnen, die eine derartige Erklärung, die »Transaktionsinterpretation der Quantenmechanik«, stützen. Wenn wir uns die Transaktion darüber hinaus aus der Sicht der Signale selbst ansehen, vergeht während der scheinbar vier Millionen Jahre langen Reise überhaupt keine Zeit. Einstein zeigte uns, wenn es uns irgendwie gelänge, Lichtgeschwindigkeit zu erreichen (da wir im Gegensatz zu einem Photon eine Masse besitzen, ist das natürlich nicht möglich, aber entwickeln wir diese Hypothese ruhig einen Augenblick weiter), würde die Zeit immer langsamer vergehen, je schneller wir uns bewegten (obwohl es uns nicht so vorkäme), bis sie schließlich bei Lichtgeschwindigkeit ganz und gar zum Stillstand käme. Aus der Sicht desjenigen, der sich mit Lichtgeschwindigkeit vorwärts bewegt, hätte es den Anschein, als würde die gesamte Strecke – jeder Zentimeter und jedes einzelne Lichtjahr – auf einmal zurückgelegt, egal wie lang sie ist. Aus der Sicht eines Photons auf dem Weg zum Andromedanebel wäre die Reise buchstäblich im Nu vorüber. Anders formuliert, für das Photon ist Andromeda genau hier, da es keine Zeit braucht, um »dorthin« zu gelangen. Da die Botschaft gleichzeitig hier und dort ist, ist »dort« nicht von »hier« zu unterscheiden. Gleiches gälte für jede beliebigen zwei Standorte im Universum. Es hat den Anschein, als besäße das Universum an sich weder eine räumliche noch eine zeitliche Ausdehnung. Unserem normalen Denken erscheint das Universum unvorstellbar groß und älter, als wir errechnen können. Doch der Erleuchtete versucht erst gar nicht, objektive Wirklichkeit auf dieses Weise zu bestimmen (oder in Zahlen festzuhalten). Wie Huang-po, der große chinesische Zenlehrer aus dem neunten Jahrhundert, sagte: »Dieser Geist, der ohne Anfang ist, ist ungeboren und unzerstörbar … Auch kann man nicht in Ausdrücken wie alt oder neu von ihm denken. Er ist weder lang 228
noch kurz, weder groß noch klein, denn er überschreitet alle Grenzen, Maße, Namen, Zeichen und Vergleiche.« Das Universum – wie der Erwachte es sieht – hat weder eine bestimmte Größe noch ein bestimmtes Alter. Es gibt nur das Hier und Jetzt. Trotz alledem scheint es innerhalb dieses Hier und Jetzt, das weder zeitliche noch räumliche Ausdehnung hat, zeitliche und räumliche Dimensionen zu geben. Wie kann so etwas wie Zeit und Raum überhaupt entstehen? Es entsteht in Folge von Bewusstsein. Nur in dem geistigen Gebilde, das wir uns vom Universum gemacht haben – nur in unserer Vorstellung davon –, können wir Größe und Dauer finden. In unserer tatsächlichen Erfahrung – also in dem, was wir tatsächlich wahrnehmen, statt es uns vorzustellen – gibt es nur das Hier und Jetzt. Erfahrungen finden immer in der Gegenwart statt. Wir können niemals in der Zukunft oder der Vergangenheit leben, sondern immer nur in dem zeitlosen, unendlich kurzen Augenblick, den wir als Jetzt bezeichnen. An die Vergangenheit können wir uns lediglich erinnern, und die Zukunft können wir uns nur vorstellen, doch das müssen wir zwangsläufig im Jetzt tun. Wo solltest du auch sein, wenn nicht hier? Hier machen wir uns unsere Vorstellung vom »Dort«. Aber wir können uns nicht wirklich auf den Weg nach »dort« begeben. Wohin du auch gehst, es bleibt immer hier. Was wir als zeitliche Dauer und räumliche Ausdehnung erleben, ist eine Folge der Funktionsweise unseres Geistes. Das Bewusstsein erzeugt sie. Ja, das Bewusstsein ist sie. Das Bewusstsein teilt dieses nahtlose Ganze, das über Zeit und Raum hinausgeht, in Raum und Zeit auf – also in das Hier und das Dort, in damals und jetzt. Es sind all die geistigen Gebilde, an denen wir festhalten und die uns teuer sind, die uns als Zeit und Raum, Ausdehnung und 229
Dauer erscheinen. Sie – und die gesamte materielle Welt – leiten sich von dem Bewusstsein her, das Zeit und Raum aus einem zeit- und raumlosen Meer schöpft. Für den Erwachten hingegen ist das nahtlose, grenzenlose, raumlose, zeitlose Ganze wirklich. Der erleuchtete Mensch sieht, dass dieses Ganze keine Dimension hat außer dem Geist.
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43. Erleuchtung Wenn wir zu viel über die Erleuchtung reden, kommen wir vielleicht auf die Idee, es handle sich dabei um einen besonderen Geisteszustand, der um jeden Preis anzustreben sei. Am Ende bemühen wir uns darum, ihn zu erreichen, weil wir glauben, die Erleuchtung könne uns etwas Wundervolles schenken: Einsicht, Entzücken, Ekstase, Befreiung, Erlösung von Leiden. Doch all das hat überhaupt nichts mit Erleuchtung zu tun. Begriffe wie Entzücken und Ekstase haben rein gar nichts damit zu tun. Es sind Worte, mit denen wir normale Erfahrungen beschreiben. Die Erleuchtung gehört nicht dazu. Wenn wir die Erleuchtung hoch schätzen (oder uns in Gedanken danach sehnen), ist das nur wieder eine Form von Verblendung. Zenschüler tappen gerne in diese Falle. Man kann sich leicht in die Vorstellung von der Erleuchtung hineinsteigern. Doch das ist nicht der richtige Weg. Es ist besser, gar nicht an die Erleuchtung zu denken. Wenn wir Erleuchtung erlangen, erinnern wir uns im Grunde lediglich an längst Vergessenes, das bereits die ganze Zeit über irgendwo vorhanden war. Deshalb machen Lehrer in der Tradition des Soto-Zen nicht viel Aufhebens um die Erleuchtung. Dabei übertreiben sie gerne in die andere Richtung. Sie sprechen das Thema Erleuchtung nur selten an oder behandeln es, als sei es tabu. Wenn es überhaupt zur Sprache kommt, hat es den Anschein, als senkten sie die Stimme zu einem Flüstern. Auf diese Weise geben sie ungewollt ein gewisses Unbehagen hinsichtlich der Diskussion über die Erleuchtung weiter. Das führt zu sehr viel unnötiger Verwirrung und erweckt in den Menschen den völlig falschen Eindruck, die Erleuchtung sei 231
vage, mysteriös und schwer (oder gar nicht) zu erlangen. Was ist falsch an diesem Eindruck? Woher kommt all die Verwirrung, kommen Schwierigkeiten und Missverständnisse? Weshalb lässt sich die Erleuchtung nicht ebenso klar festlegen und verstehen wie alles andere? Wir kommen nur selten auf den Gedanken, dass es an den Fragen liegen könnte, die wir gemeinhin in Bezug auf die Erleuchtung stellen. Unsere Fragen haben ihren Ursprung normalerweise in grundlegenden, häufig auftretenden Missverständnissen, die wiederum dem zersplitterten, dualistischen Denken entspringen. Zuerst einmal ist die Erleuchtung weder ein Zustand der Ekstase noch der Verzückung. Gewiss gibt es Momente, in denen wir von einer plötzlichen Einsicht oder von geistiger Klarheit überwältigt sind. Sie können sehr echt und auch sehr stark sein. Im Zen bezeichnen wir solche Momente mit dem japanischen Wort Kensho. Solche Erfahrungen können dir helfen, dein Leben in Ordnung zu bringen, dir ein Gefühl für seine Richtung geben oder dich bei deiner täglichen Zenpraxis unterstützen, doch an und für sich sind es noch keine Hinweise auf die Erleuchtung. Manchmal werden Kensho-Erfahrungen von ekstatischen Gefühlen begleitet, doch das gilt auch für vieles andere wie das Verliebtsein oder das Musikhören. Und obwohl es heißt, dass nach Momenten der Ekstase immer noch die Wäsche auf uns wartet, ist das bei der Erleuchtung anders. Das liegt daran, dass es kein »nach der Erleuchtung« gibt. Die Erleuchtung liegt jenseits aller Zeitvorstellungen. Alle zeitlichen Vorstellungen, die wir uns von der Erleuchtung machen, entspringen unserem dualistischen Denken. Buddha, der mit Momenten der Ekstase und der Verzückung wohl vertraut war, sagte, sie hätten nichts mit der Erleuchtung zu tun. Das liegt daran, dass sie wie alles andere, dem wir einen 232
Namen geben, das wir beschreiben oder in Begriffe packen können, nicht von Dauer sind. Irgendwann sind sie vorüber, und wir kehren auf den Boden der Tatsachen zurück. Und dann müssen wir uns um die Wäsche kümmern. Sicher, es war echte Ekstase, aber es war nicht die Erleuchtung. Wenn wir Erleuchtung erlangen, geschieht noch etwas anderes, und das hat nichts mit Ekstase zu tun und geht nicht vorüber. Wir erkennen endlich, dass es niemals ein »Ich« gegeben hat, das Erleuchtung erlangte. Folglich unterscheidet sich das Erwachen völlig vom Anfang (oder Ende) eines ekstatischen Zustandes. Wenn es sich um etwas Besonderes handelt, dem du einen Namen geben, das du in die Hand nehmen, herausgreifen oder auf das du zeigen kannst, ist es nicht die Erleuchtung. Dann ist es etwas ganz Normales. Dann ist es weder wahre Befreiung noch geistige Freiheit. Das 27. Beispiel im Bi-yän-lu (den »Aufzeichnungen des Meisters vom Blauen Fels« ) bringt etwas Licht in diese Angelegenheit. Ein Mönch fragt den Zenlehrer Yün-men: »Was ist das für eine Zeit, wenn der Bäume Laub dahinwelkt und die Blätter fallen?« Yün-men erwiderte: »Man verkörpere sich selbst im Goldenen Wind.« Yün-men macht uns darauf aufmerksam, dass wir immer dann, wenn wir glauben, etwas in der Hand zu haben, und es aufmerksam betrachten, sehen können, dass es verwelkt und stirbt. Was du auch herausgreifst und vor dich hinstellst – deinen Ruf, deine Ausbildung und deine Erfahrung, ja sogar dein Leben und Buddhas Lehren –, es wird welk, stirbt und vergeht. Was es auch ist, wenn wir es vom Ganzen trennen, wird es welk und vergeht. Es hat keinen Zweck, so zu tun, als sei es anders (oder könnte je anders sein). Doch das erscheint uns nur dann traurig, deprimierend und nihilistisch, wenn wir an der Vorstellung festhalten, es gäbe 233
ursprünglich tatsächlich etwas Solides und Beständiges. Nach Jahren der Zenpraxis stellen sich manche Menschen die Frage: »Wozu das Ganze? Wozu ist es gut? Was hat es mir – oder auch der Welt – gebracht?« Derartige Fragen sind freilich nur ein weiterer Versuch, ein imaginäres Selbst am Leben zu erhalten und wichtig zu nehmen. Wenn wir ganz genau hinsehen, können wir sehen, dass es nichts Besonderes gibt, das die Zeit überdauert – nicht einmal das Jetzt. Das gab es nie und wird es niemals geben – es ist einfach unmöglich. Wenn wir verstehen, dass »nichts Besonderes« existiert, entsteht keinerlei Verwirrung hinsichtlich der Frage des Erleuchtetwerdens oder -seins. Auch tiefer schürfende Äußerungen zum Thema wie die Yün-mens werden uns weder verblüffen noch deprimieren. Sofern wir das Gefühl haben, etwas zu besitzen – was es auch sei, auch das Gefühl, ein Selbst zu haben –, dann ist dieses Etwas sterblich. Würden wir das tatsächlich sehen, erlangten wir sofort Befreiung. Was kannst du schon voll und ganz besitzen, dein Eigen nennen oder kontrollieren? Was hattest du je? Für den Erwachten geht es im Leben einfach nicht ums Haben. Tenkei, ein japanischer Zenlehrer des 18. Jahrhunderts, sagte über Yün-mens Baum: »Was ist das für eine Zeit, wenn der Bäume Laub dahinwelkt und die Blätter fallen? Wie spät ist es, wenn wir essen und trinken?« Mit anderen Worten, welche Jahres- oder Uhrzeit ist jetzt? Wenn wir aufmerksam hinsehen, können wir sehen, dass nichts unverändert bleibt. Echte Erfahrung hat nichts Statisches an sich. Alles ist im Fluss. Es gibt keinen besonderen Punkt in Zeit oder Raum, den wir festnageln oder eindeutig identifizieren 234
können. Es gibt nur jetzt. Es ist immer jetzt. Wir können uns dem Jetzt nicht entziehen oder es überwinden. Und jetzt ist gar keine besondere Zeit. Auch all diese scheinbar wirklichen Dinge, an die wir uns klammern und die wir besitzen – vor allem unser Selbst – sind nichts Besonderes. Normalerweise denken wir, unser »Ich« gäbe es nur einmal und dieses einzigartige »Ich« würde zumindest eine gewisse Zeit lang überdauern. In Wirklichkeit aber entsteht jeden Augenblick ein neuer Mensch. Stimmungen schwanken, Gedanken verändern sich, Motive verändern sich, sogar die Moleküle und Atome, aus denen das besteht, was du als »deinen Körper« bezeichnest, verändern sich. Es gibt kein besonderes »Du«. Das denkst du vielleicht, aber wenn du aufmerksam genug hinsiehst, wirst du nichts finden. Das meinte Huang Po, als er sagte, die Klugen – die Erwachten – verwerfen, was sie denken, nicht was sie sehen. – Wir glauben, es gäbe einen konkreten, unveränderlichen Menschen, und fragen dann: »Ist dieser Mensch erleuchtet?« oder: »Werde ich jemals Erleuchtung erlangen?« Doch da ist niemand, der erleuchtet wird – oder verblendet bleibt. Alle diese Fragen gehen am Thema vorbei. Ich bekam einmal einen Brief von einem Zenschüler, der wissen wollte, warum manche Zenlehrer nicht sagen, ob sie erleuchtet sind. Nicht einmal, wenn sie direkt gefragt werden. Diese Frage ist berechtigt. Der Grund, weshalb viele Lehrer weder ja noch nein sagen, liegt darin: Ein Lehrer, der tatsächlich erwacht ist, erkennt, dass da niemand Besonderes ist, der erwacht ist. Ein Ja oder ein Nein würde die Annahme bestätigen, dass von einem bestimmten Menschen die Rede ist, was nicht zutrifft. Deshalb ist es angemessen, diese Frage weder mit Ja noch mit Nein zu beantworten. Das soll nicht heißen, dass es keine Erwachten gibt. Es gibt sie 235
sehr wohl. Aber sie sind immer nur in diesem Augenblick erwacht. Erwacht zu sein ist nicht so unvergänglich, wie wir glauben. Das, was tatsächlich entsteht, ist wie der Luftwirbel beim Flügelschlag eines Schmetterlings. Die von den Flügeln des Schmetterlings erzeugten Wirbel vergehen oder gehen in anderen Windstößen auf, doch »dieser Wirbel« wird scheinbar immer größer. Er nimmt die Energie anderer Luftwirbel in sich auf. Wenn »er« dann irgendwann groß genug ist, geben wir ihm einen Namen, etwa Cindy oder Bob. Sobald er einen Namen hat, ist er in unseren Augen noch besonderer und dauerhafter. Es sieht so aus, als besäße er ein Eigenleben. Ein Orkan bewegt sich. Er verändert sich, wächst und vergeht. Doch was sind Orkane wie Bob oder Cindy wirklich? Nichts Besonderes. In keinem Stadium, keinem Augenblick, ist das, was wir Bob oder Cindy oder du oder ich nennen, je etwas Besonderes – und doch entstand es aus der Energie des Ganzen. Wir sind wie Strudel und Musik, Orkane und Eiszapfen. Wenn es uns erst einmal gibt – das heißt, wenn sich jemand eine Vorstellung von uns gemacht hat –, sind wir scheinbar etwas ganz Besonderes, und dennoch ist jeden Augenblick alles frisch und neu. Wenn du also einen Erleuchteten fragst, ob er erleuchtet ist, mach dich auf eine Antwort wie die von Baseballspieler »Yogi« Berra gefasst. Er soll auf die Frage: »Hey, Yogi, wie spät ist es?«, geantwortet haben: »Meinst du jetzt?« Wir denken über die Erleuchtung nach. Wir wollen wissen, wer erleuchtet ist und ob wir ebenfalls erleuchtet werden können. Doch es wäre besser zu fragen: »Wer möchte das wissen?« Noch etwas ist zur Erleuchtung zu sagen: Wenn wir uns in Vorstellungen, im Besonderen verfangen, versperren wir uns unabsichtlich den Weg – und das mit großem Aufwand. Wir 236
gehen leicht in diese lautlose, aber äußerst heimtückische Falle. Und zwar folgendermaßen: Wir nähern uns der Erleuchtung dabei stets auf die falsche Weise, nämlich in der Annahme, es sei eine besondere Annäherungsweise dazu nötig. Doch das Gegenteil ist der Fall. Wenn wir uns der Erleuchtung auf eine bestimmte Art und Weise nähern, bleibt sie stets unerreichbar. Wenn wir uns für eine bestimmte Annäherung entscheiden, erzeugen wir – »dort draußen« – etwas, dem wir uns annähern. Doch die Erleuchtung ist nicht »dort draußen«. Man kann sich ihr nicht nähern. Sie ist bereits hier, jetzt. Die Erleuchtung ist weder etwas Besonderes noch greifbar – und doch steht sie der Wahrnehmung stets offen. Vielleicht glaubst du noch immer, es wäre schön, etwas in der Hand zu haben und sagen zu können: »Das ist es! Das ist, was ich will. Das ist, was ich brauche.« Doch irgendwann muss dir endgültig klar werden – und dieses Wissen muss dir in Fleisch und Blut übergehen, keine bloße intellektuelle Erkenntnis bleiben –, dass alles, was wir in der Hand halten können, welkt und stirbt. Es befriedigt uns nicht. Es lindert den tiefen Schmerz in unserem Herzen nicht. Zum Rätsel wird etwas erst, wenn du versuchst, es zu fassen. Doch wenn du die unmittelbare Erfahrung nicht mit deinen Sehnsüchten und Abneigungen außer Kraft setzt, wenn du dich an deinen ernsthaften Wunsch erinnerst, der Frage der menschlichen Verblendung auf den Grund zu gehen, obwohl du nach nichts Besonderem suchen kannst, wirst du die Wirklichkeit und die Wahrheit erkennen. Denke nur nicht, du könntest deinen Blick auf irgendetwas richten, das nicht wirklich und wahr ist.
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Epilog Die Wirklichkeit findet nicht im Kopf statt Alles Denken ist Verblendung. Dainin Katagiri Ein Erwachter nimmt die Welt genauso wahr wie du. Das ist gut, denn es bedeutet, dass du erwachen kannst. Du musst die Wirklichkeit nur direkt sehen und die Tendenz deines Denkens überwinden, sie dir vorzustellen, sie zu berechnen und zu erklären. Nur das Denken verwirrt uns. Die Wirklichkeit braucht keine Erklärung, und im Grunde lässt sie sich nicht erklären. Das ist auch nicht nötig, denn sie ist ja bereits hier. Erklärungen sind lediglich ein Versuch zu sagen, wie die Wirklichkeit ist. Aber es ist absurd zu denken, die Wirklichkeit ließe sich mit irgendetwas vergleichen. Die Wirklichkeit lässt sich mit nichts vergleichen. Sie ist Wirklichkeit. Die Wirklichkeit ist unvorstellbar – sie lässt sich nicht in Begriffe fassen, und das muss auch nicht sein. Wir können sie ja sehen. Wir müssen einfach aufhören, sie festhalten zu wollen. Lass los, woran du dich klammerst. Erlebe diesen Augenblick. Kehre einfach zu diesem zurück. Das kostet etwas Mühe. Doch kehre zurück, kehre zurück, kehre einfach zu diesem zurück. Sieh, was zu sehen du schon so lange vermeidest.
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Danksagung Mein aufrichtiger Dank gilt all den Freunden und Mitarbeitern, die mir bei der Transkription der Vorträge halfen, auf denen dieses Buch beruht. Danken möchte ich auch meinem langjährigen Freund Clarence Douville und meinem Dharma-Bruder Norm Randoph, die das Manuskript sorgfältig durchsahen und diverse Verbesserungen und Korrekturen ermöglichten. Ein besonderes Dankschön geht an Jose Palmieri, der mir seit einigen Jahren auf vielfältige Weise zur Seite steht und der alle Grafiken für dieses Buch anfertigte. Ich danke meiner Frau Jean für ihre unermüdliche Unterstützung, ihre Geduld und ihre guten Ratschläge. Zu guter Letzt möchte ich Scott Edelstein, seit vielen Jahren mein literarischer Berater, Lektor und Freund, meinen tief empfundenen Dank aussprechen. Ohne seine Arbeit und seine Sachkenntnis hätte wohl keiner meiner Texte je das Licht der Welt erblickt.
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