Butler � Parker � Nr. 367 � 367
Curd H. Wendt �
Bulter Parker � piesackt die � ›Piraten‹ � 2
Dichter Regen klatsch...
14 downloads
350 Views
568KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Butler � Parker � Nr. 367 � 367
Curd H. Wendt �
Bulter Parker � piesackt die � ›Piraten‹ � 2
Dichter Regen klatschte gegen die Windschutzscheibe. Josuah Parker, der Mylady von den Edinburgher Opernfestspielen ins heimatliche London zurückchauffierte, saß schon seit Stunden am Steuer. Seine Konzentration ließ auch unter widrigen Umständen keine Sekunde nach. Deshalb nahm er unverzüglich den Fuß vom Gaspedal, als die merkwürdig vermummte Gestalt im Lichtkegel der Scheinwerfer auftauchte. »Das ist mit Sicherheit eine Falle, Mister Parker«, meldete sich Agatha Simpson über die Sprechanlage, die den schußsicher verglasten Fond mit dem Fahrersitz verband. »Ein Verdacht, der keineswegs von der Hand zu weisen sein dürfte, Mylady«, pflichtete der Butler seiner Herrin bei. »Trotzdem werde ich halten und der Sache auf den Grund gehen, Mister Parker«, entschied die passionierte Detektivin. »Niemand soll mir nachsagen können, ich wäre einer Gefahr ausgewichen.« Der Mann, der wie ein Hase auf dem Grünstreifen herumhüpfte, um auf sich aufmerksam zu machen, bot einen erbärmlichen Anblick. Er war nicht nur bis auf die Haut durchnäßt, sondern an Händen und Füßen gefesselt. Mit wilden Verrenkungen mühte er sich, den Jutesack abzuschütteln, der über seinen Oberkörper gestreift war…
Die Hauptpersonen: Marvin Fields mißbraucht leichtfertig das Vertrauen einer schwergewichtigen Dame. Phil Bronson zapft Bier und erweist sich als Pfadfinder der Unterwelt. Loretta Henderson verspricht sich von günstigem ›Einkauf‹ höhere Renditen. 3
Ricky Mailer sieht seine Chance und steht plötzlich im Dunkeln. Lady Simpson singt ein Kinderlied und zeigt beachtliche Leistungen im Kopfrechnen. Butler Parker folgt seiner Herrin in einem Lastwagen und setzt edle Pelze als Kampfmittel ein. Mit seinen Nachtvogelaugen versuchte Parker die schwarze Finsternis links und rechts der Straße zu durchdringen, ehe er das Fahrzeug verließ. Anzeichen, die auf einen Hinterhalt gedeutet hätten, vermochte er nicht zu entdecken. Auch die geheimnisvolle innere Stimme, die ihn schon oft vor tödlichen Gefahren gewarnt hatte, blieb stumm. Würdevoll, als hätte er einen Ladestock verschluckt, schritt der Butler im Regen auf den Unbekannten zu. Rasch befreite er ihn von Sack und Fesseln und half ihm auf den Beifahrersitz. »Gott sei Dank!« schnaufte der Fremde, sobald er sich auch noch des zusammengeknüllten Taschentuchs entledigt hatte, das als Knebel in seinem Mund steckte. »Darf man die Hoffnung äußern, daß Sie körperlich unversehrt sind?« erkundigte sich Parker. »Danke, es geht schon wieder«, antwortete der Mann und massierte seine Handgelenke, die noch die Spuren der Fesseln zeigten. »Wenn ich die verdammten Halunken erwische, breche ich ihnen jeden Knochen einzeln.« Trotz seines bulligen Körperbaus und seiner martialischen Äußerung erweckte der Unbekannte nicht den Eindruck eines brutalen Schlägers. Obwohl er vor Wut schäumte, wirkten die hellblauen Augen im sommersprossigen Gesicht eher freundlich und verständnisvoll. »Möglicherweise darf man erfahren, wer die Herren sind, die Sie auf so wenig schmeichelhafte Weise zu titulieren belieben«, 4
äußerte Parker in seiner manchmal etwas umständlichen Art. »Wenn ich bloß wüßte, wer die Gangster sind«, knurrte der Sommersprossige. »Auf jeden Fall sind sie mit meinem Lastwagen auf und davon.« »Ein Umstand, den man nur bedauern kann, Mister…« »Fields. Marvin Fields«, nannte der Mann seinen Namen. »Darf man fragen, wie lange Sie bereits am Straßenrand ausharren mußten, Mister Fields?« wollte der Butler wissen. »Zum Glück nur ein paar Minuten«, erwiderte der etwa Fünfundvierzigjährige. »Weit können die Burschen nicht sein.« »Unter diesen Umständen dürfte eine Verfolgung noch gewisse Aussichten auf Erfolg haben«, bemerkte Parker und wandte sich mit einem fragenden Blick an seine Herrin. »Eine Verfolgung wollte ich auch gerade anordnen, Mister Parker«, nickte Lady Agatha eifrig und ließ ihren perlenbesticken Pompadour wippen. »Ich werde die Lümmel stellen und ihnen eine Lektion erteilen, die sie ihr Leben lang nicht vergessen.« »Ein Vorsatz, der Myladys beeindruckende Tatkraft aufs neue dokumentiert«, entgegnete der Butler, legte mit unbewegter Miene den ersten Gang ein und gab seinem hochbeinigen Monstrum die Sporen. Früher hatte das altertümlich wirkende Gefährt mal brave Dienste als Taxi geleistet. Seit Parker den Wagen erworben und nach seinen Vorstellungen umgebaut hatte, war daraus jedoch eine »Trickkiste auf Rädern« geworden, die über schußsichere Panzerung, ein leistungsstarkes Zusatztriebwerk und diverse Einrichtungen zur Abwehr von Verfolgern verfügte. * »Ich kam mit einer Ladung Whisky aus Aberdeen und hatte meinen Laster auf dem Parkplatz neben der Raststätte bei Darling5
ton abgestellt, um im Führerhaus ein paar Stunden zu schlafen«, berichtete Fields, während das schwarze Vehikel mit aufgeblendeten Scheinwerfern und gleichmäßig brummender Maschine über die leere Landstraße jagte. »Plötzlich wurde ich wach, als zwei Kerle mich packten und mir einen Wattebausch unter die Nase preßten«, fuhr der Mann auf dem Beifahrersitz fort. »Ich verlor das Bewußtsein und kam erst wieder zu mir, als ich gefesselt und geknebelt auf der Ladefläche lag. Kurz darauf hielten die Burschen an, warfen mich in den Straßengraben und fuhren weiter.« »Sagten Sie Whisky, junger Mann?« erkundigte sich Agatha Simpson unvermittelt. »Bester schottischer Whisky, Madam«, erwiderte Fields mit unüberhörbarem Stolz in der Stimme. »Vierzig Paletten. War alles für eine Londoner Exportfirma bestimmt.« »Vierzig Paletten?« wiederholte die ältere Dame. »Sie wollten wohl Flaschen sagen, mein Lieber.« »Unter Paletten versteht man im Transportgewerbe stabile Holzgestelle, auf denen eine größere Anzahl Kartons oder entsprechendes Versandgut gestapelt werden kann«, erläuterte Parker beiläufig. »Beim Be- und Entladen mit Gabelstaplern bieten Paletten entscheidende Vorteile, falls dieser Hinweis gestattet ist.« »Dachten Sie, das wüßte ich nicht, Mister Parker?« reagierte die passionierte Detektivin gereizt. »Nie würde meine Wenigkeit es wagen, Mylady Wissenslücken zu unterstellen«, versicherte der Butler in seiner unbeirrbaren Höflichkeit. »Wie auch immer«, kam Agatha Simpson zielstrebig zum Thema zurück. »Wie viele Flaschen haben Sie denn auf so eine Palette gestapelt, Mister Fields?« »Das sind jeweils zwanzig Kartons á zwölf Flaschen, macht 6
zweihundertundvierzig Flaschen pro Palette«, rechnete der Lastwagenfahrer vor. »Also neuntausendsechshundert Flaschen«, ergänzte Lady Agatha, die sich auf ihr Kopfrechnen etwas zugute hielt. »Sie wollen es aber genau wissen, Madam«, schmunzelte Fields. »Wenn ich den Fall übernehme, muß ich zunächst den präzisen Sachverhalt ermitteln«, belehrte Mylady ihren Mitfahrer. »Meine Fragen stelle ich natürlich aus rein dienstlichem Interesse.« »Sie sind Detektivin, Madam?« fragte der Sommersprossige entgeistert. »Sie haben es erraten, junger Mann«, bekräftigte Agatha Simpson. »Sie dürfen sich darüber hinaus glücklich schätzen, daß mein kriminalistischer Instinkt mich zu Ihnen geführt hat.« »Das war ja wohl eher ein Zufall«, wandte Fields ein, der die Empfindlichkeit der älteren Dame noch nicht kannte. »Zufall?« grollte Mylady. »Bei mir gibt es keine Zufälle, junger Mann. Außerdem muß ich Sie dringend davor warnen, mich zu beleidigen. In solchen Fällen werde ich ausgesprochen ungemütlich, wie Mister Parker Ihnen bestätigen kann.« »Schon gut, Mylady«, lenkte Marvin Fields ein. »War ja nicht so gemeint. Glauben Sie denn, daß wir die Burschen, die meinen Laster geklaut haben, noch kriegen?« »Ohne Zweifel«, stellte Agatha Simpson fest. »Mein Konzept steht bereits. Doch davon später. Auf jeden Fall werden Sie Ihren Lastwagen zurückbekommen, Mister Fields.« »Wenn’s nur die alte Karre wäre«, entgegnete der Fernfahrer. »Damit ist sowieso kein Staat mehr zu machen.« »Demnach kann und muß man davon ausgehen, daß die Unbekannten das Fahrzeug um der Ladung willen gestohlen haben, Mister Fields?« schaltete Parker sich wieder ein. »Sollte man meinen«, erwiderte der Lastwagenfahrer zögernd. 7
»Aber woher wußten die Burschen, was ich geladen hatte?« »Darf man Ihre Äußerung so verstehen, daß die Täter vor der Tat keinerlei Gelegenheit hatten, Ihre Fracht in Augenschein zu nehmen, Mister Fields?« vergewisserte sich der Butler. Der Fernfahrer schüttelte nachdrücklich den Kopf. »Das halte ich eigentlich für ausgeschlossen«, sagte er. »Auch die Frachtpapiere können die Schurken nicht gesehen haben.« Er griff in seine Jacke, zog eine abgeschabte Brieftasche heraus und klappte sie auf. »Da sind noch alle Unterlagen drin«, stellte er fest. »Und Sie hegen keinen Verdacht wer die Gangster möglicherweise über Art und Wert Ihrer Ladung informiert haben könnte, Mister Fields?« blieb Parker hartnäckig am Ball. »Keine Ahnung«, erwiderte der Mann achselzuckend. »Die Polizei wird’s ihnen ja wohl nicht gesteckt haben.« »Die Polizei?« fragte Agatha Simpson mißtrauisch dazwischen. »Das hab ich nur im Scherz gesagt«, wiegelte Fields ab. »Die Polizei fiel mir gerade ein, weil sie abends auf dem Parkplatz eine Kontrolle gemacht hat.« »Darf man um Aufklärung bitten, welcher Art die Kontrolle war, Mister Fields?« hakte der Butler sofort nach. »Sie ließen sich Führerschein, Tachoscheibe und Frachtpapiere zeigen«, lautete die Antwort. »Und Sie sind sicher, daß es sich tatsächlich um Angehörige der Polizei handelte, Mister Fields?« bohrte Parker weiter. »Sie waren in Zivil, aber ich habe mir den Dienstausweis zeigen lassen«, teilte der Blauäugige mit. »Die sahen wirklich echt aus.« »Was unter Umständen eine eingehende Überprüfung wert wäre, Mister Fields«, sagte Parker und schaltete auf Abblendlicht um. Eben waren in der Ferne die verschwommenen Rücklichter eines Lastwagens aufgetaucht. 8
* � Ebenso plötzlich, wie sie in der Dunkelheit aufleuchteten, waren die roten Lichter auch wieder verschwunden. Marvin Fields, der ebenfalls aufmerksam geworden war, glaubte an eine Bodenwelle, doch die unbestechlichen Augen des Butlers sahen mehr. Josuah Parker war nicht entgangen, daß der Fahrer des vorausfahrenden Lastwagens die Fahrzeugbeleuchtung ausgeschaltet hatte und gleichzeitig von der breiten Piste nach rechts in eine schmale Landstraße abgebogen war. »Wo fahre ich denn jetzt hin, Mister Parker?« fragte die Detektivin überrascht, als der Butler bremste und gleichfalls nach rechts abbog. »Myladys Aufmerksamkeit dürfte kaum entgangen sein, daß der Fahrer des gesuchten Lastwagens diese Richtung einschlug«, gab Parker in seiner höflichen Art Auskunft. »Da die Fahrzeugbeleuchtung unmittelbar vor dem Abbiegemanöver ausgeschaltet wurde, dürften Mylady mit hoher Wahrscheinlichkeit davon ausgehen, daß es sich um den entführten Whiskyfrachter handelt.« Der Butler hatte bis auf einige Wagenlängen zu dem Lkw aufgeschlossen. »Das ist er!« jubelte Marvin Fields und drückte sich die Nase an der Frontscheibe platt. »Jetzt geht’s den Ganoven an den Kragen!« »Meine Wenigkeit wird nichts unversucht lassen, Ihren verständlichen Wunsch der Verwirklichung näherzubringen, Mister Fields«, versprach Parker und trat gelassen das Gaspedal bis zum Anschlag durch. Während der Rennmotor unter der eckigen Haube aufröhrte, betätigte der Butler kurz die Lichthupe und setzte zum Überho9
len des unbeleuchteten Fahrzeuges an. Zügig glitt das hochbeinige Monstrum an dem schon betagt wirkenden Whiskytransporter vorbei. Im selben Moment flammten Scheinwerfer und Rücklichter des Lastwagens wieder auf. Der Butler fuhr einen kleinen Vorsprung heraus, ehe er mehrmals leicht auf das Bremspedal tippte und die Bremslichter aufleuchten ließ. Dabei hielt er sich in der Mitte der Fahrbahn, so daß an Überholen nicht zu denken war. Der Gangster am Steuer des entführten Lkws schien das Signal zu verstehen. Er bremste und erweckte den Eindruck, als wollte er seinen Wagen hinter Parkers hochbeinigem Monstrum zum Stehen bringen. Doch dieser Schein trog… Der Butler, der sein altertümlich wirkendes Gefährt mittlerweile gestoppt hatte, sah die Lichter des Lastwagens in beunruhigendem Tempo im Rückspiegel näherkommen. So handelte er mit der kaltblütigen Präzision eines Computers. Auf jaulenden Pneus machte das hochbeinige Monstrum einen regelrechten Satz nach vorn, als Parker Vollgas gab und gleichzeitig die Kupplung springen ließ. Der Start, der jedem FormelEins-Fahrer anerkennende Bemerkungen in der Fachpresse eingetragen hätte, erwies sich – abgesehen von seinen motorsportlichen Aspekten – als schlicht lebensrettend. Nur um Zentimeter verfehlte die wuchtige Stoßstange des herandonnernden Lastwagens das Heck des losspurtenden ExTaxis. »Das war verdammt knapp«, stöhnte Fields, derweil Mylady verärgert die Pralinen einsammelte, die aus der offenen Schachtel gefallen waren. Im selben Augenblick legte der Butler einen der zahlreichen Kipphebel am Armaturenbrett um, deren Funktion nur ihm selbst bekannt war. Postwendend quoll eine ölige Rußwolke aus dem Auspuff seines schwarzen Vehikels und breitete sich rasch 10
über die ganze Straße aus. Sekunden später waren die Scheinwerfer des Lastwagens im undurchdringlichen Qualm verschwunden. Der Gangster am Lenkrad tat das einzige, was er unter diesen Blindflug-Bedingungen tun konnte: Er bremste, was die Bremsen hergaben, und brachte das schwere Gefährt unter beträchtlichem Rappeln und Quietschen, aber ohne Zwischenfälle zum Stillstand. »Ich werde diesen kriminellen Subjekten keine Atempause gönnen und unverzüglich angreifen, Mister Parker«, setzte Agatha Simpson den Butler ins Bild, der seinen vierrädrigen Kasten gleichfalls angehalten hatte. Dabei widmete sie sich unverdrossen den Pralinen, genauer gesagt dem, was noch davon übrig war. »Sie dürfen schon vorangehen, Mister Parker«, beschied sie den Butler, der mit höflicher Verneigung den Wagenschlag öffnete. »Und Sie dürfen Mister Parker begleiten, Mister Fields. Nur keine Angst. Ich komme gleich nach.« »Wie Mylady wünschen«, sagte Parker und steuerte gemessenen Schrittes die schwarze Wolke an, die den Lastwagen immer noch vollständig verhüllte. Marvin Fields, dessen Rachegelüste jeden furchtsamen Gedanken vertrieben, schloß sich ihm an. Vorsichtig tasteten die Männer sich durch den dichten Qualm vorwärts. Aufmerksam lauschte der Butler auf seine innere Stimme, doch sie meldete sich auch diesmal nicht. Als das Duo endlich das Führerhaus des eingenebelten Lastwagens erreicht hatte, wußte Josuah Parker, warum. – Die Fahrerkabine war leer! * Lauschend und spähend ließ der Butler den scharf gebündelten
Lichtstrahl seiner Kugelschreiberlampe umherwandern. Er
11
leuchtete unter den Wagenboden, hinter die fast mannshohen Räder… Von den Unbekannten fehlte jede Spur. Ob sie in der Nähe lauerten und nur darauf warteten, daß einer ihrer Widersacher ein gutes Ziel abgab? »Wo stecken Sie denn, Mister Parker?« war in diesem Moment das sonore Organ Agatha Simpsons zu hören. »Hier, Mylady«, meldete sich der Butler und schritt seiner Herrin entgegen, die sich schnaufend einen Weg durch die zähen Schwaden bahnte. »Und wo sind die dreisten Lümmel, die ich unverzüglich ins Verhör nehmen werde, Mister Parker?« wollte sie wissen. »Bedauerlicherweise sieht man sich zu der Mitteilung gezwungen, daß die Herren das sprichwörtliche Weite gesucht haben, Mylady.« »Sie haben die Schurken entwischen lassen, Mister Parker. Das ist ja wirklich unerhört! Muß ich denn alles allein machen?« »Passiert ist passiert, Madam«, versuchte Fields die Lady zu besänftigen. »Am besten fahren wir in den nächsten Ort und alarmieren die Polizei.« »Polizei?« entgegnete Agatha Simpson ungehalten. »Was soll denn die Polizei hier, junger Mann?« »Die Gangster fangen, was denn sonst?« reagierte Fields unbekümmert. »Seit wann fängt die Polizei denn Gangster?« grollte Mylady. »Die hat doch mit dem Verkehr genug zu tun.« »Aber wie wollen Sie denn die Schurken fangen?« gab Fields zu bedenken. »Bei Nacht und Nebel!« »Das lassen Sie gefälligst meine Sorge sein, junger Mann«, blieb Lady Agatha unbeeindruckt und wandte sich an den Butler. »Sie dürfen mir ein paar hübsche Vorschläge unterbreiten, Mister Parker.« »Falls meine bescheidene Wenigkeit sich nicht täuscht, dürften 12
die Unbekannten die Hoffnung auf die hochprozentige Ladung noch nicht aufgegeben haben«, schickte Parker voraus. »Diesen Schluß dürften Mylady aus dem Umstand ziehen, daß die Herren so frei waren, die Fahrzeugschlüssel mitzunehmen.« Er sprach mit gedämpfter Stimme, damit die Gangster, die vermutlich nicht weit waren, nichts verstehen konnten. »Und für welches konkrete Vorgehen entscheide ich mich, Mister Parker?« »Mylady dürften es vorziehen, die Gangster in einen Hinterhalt zu locken.« »Das ist ein taktisches Mittel, zu dem ich nur greife, wenn meine Gegner feige sind und sich der Konfrontation entziehen.« »Ein Umstand, der meiner Wenigkeit durchaus bekannt ist, Mylady«, erwiderte Parker. »Dennoch dürften Mylady es in der gegebenen Situation vorziehen, den Gangstern einstweilen das Feld zu überlassen.« »Das Feld überlassen? Niemals, Mister Parker!« »Myladys taktische Überlegungen dürften darauf hinauslaufen, bei den Unbekannten den irrigen Eindruck zu erwecken, ihre Beute wäre unbewacht und wieder verfügbar«, wurde der Butler deutlicher. »Wir könnten in Ihren Wagen steigen und so tun, als ob wir zur Polizei fahren«, schlug Marvin Fields im Flüsterton vor. »Eine Anregung, deren Verwirklichung man unverzüglich ins Auge fassen sollte, falls die Bemerkung gestattet ist«, pflichtete Parker dem Fernfahrer bei. »Meine Wenigkeit würde hier bleiben und die Herren erwarten, sofern Mylady keinerlei Einwände erheben.« »Eigentlich sollte ich Ihnen diese gefährliche Aufgabe nicht überlassen, Mister Parker«, zögerte die ältere Dame. Bei Handgreiflichkeiten wollte sie nicht abseits stehen, andererseits schien es ihr behaglicher im gepolsterten Fond des hochbeinigen Mons13
trums als auf der naßkalten Landstraße. »Nun gut, Sie sollen Gelegenheit erhalten, sich zu bewähren, Mister Parker«, überwand sich Agatha Simpson. »Dann lassen wir den Lastwagen hier stehen und fahren erst mal zur Polizei«, sagte Fields so laut, daß man es im Umkreis hören mußte. Die Detektivin, die an seiner Seite auf Parkers eckiges Gefährt zuschritt, schluckte im letzten Moment ihren Protest hinunter. »Sie sind sich ja hoffentlich im klaren, daß das nur eine List ist«, raunte sie dem Fernfahrer zu. Parker hörte die Bemerkung nicht mehr. Er war mit katzenhafter Geschmeidigkeit, die man seiner würdevollen Erscheinung nie zugetraut hätte, auf die Ladefläche des Lastwagens geklettert und erwartete die Unbekannten. Daß sie kommen würden, daran zweifelte er nicht. Der Butler hatte sich auf der dunklen Ladefläche bis zum Führerhaus vorgearbeitet und war damit beschäftigt, ein Stück der Plane zu lösen, als er draußen eilige Schritte vernahm. Im nächsten Moment klappten Türen, und der Motor sprang an. Rumpelnd setzte sich der schwere Wagen in Bewegung und nahm rasch Fahrt auf. Kurz entschlossen griff Parker in die rechte Außentasche seines schwarzen Covercoats und förderte eine Handvoll Krähenfüße zutage. Diese im Winkel verschweißten Stahlnägel konnten auf die Fahrbahn fallen, wie sie wollten – immer zeigte eine der nadelscharfen Spitzen nach oben und wartete nur darauf, sich in einen prall gefüllten Reifen bohren zu können. Vorsichtig schob der Butler die Plane ein wenig beiseite und steckte den Kopf nach draußen in den scharfen Fahrtwind. Bei Tageslicht hätte der Fahrer ihn vermutlich sofort im Außenspiegel entdeckt. In der Dunkelheit jedoch blieb ihm die schwarze Melone ebenso verborgen wie das glatte, ausdruckslose Gesicht 14
darunter. Parker war mit seiner Position durchaus zufrieden. Wenn er sich nur ein kleines Stück hinausbeugte, konnte er die Krähenfüße so unter das Fahrzeug werfen, daß die schweren Zwillingsreifen der Hinterachse über die gierig zupackenden Spitzen hinwegrollten. Draußen tauchten die düsteren Umrisse einer Ortschaft auf. Wenig später nahm der Lkw-Fahrer das Gas weg und bog in eine Seitenstraße, die in ein verlassen wirkendes Industrierevier führte. Bedächtig ließ der Butler die Krähenfüße wieder in die Tasche gleiten. Offenbar war das Ziel, das die Gangster ansteuerten, nicht mehr weit. Wenn sie ihren blinden Passagier nichtsahnend dorthin mitnahmen, konnte das die Ermittlungen nur beschleunigen. Parker registrierte, wie der Lastwagen über einen unbeleuchteten Fabrikhof kurvte und dicht vor einer mächtigen Garage stoppte. »Von dieser Ladung stauben wir uns aber auch ‘ne Kiste ab«, rief der Fahrer dem Beifahrer zu, während er aus dem Führerhaus kletterte. »Ist ja nicht nötig, daß der Chef alles bekommt.« Fröhlich vor sich hinpfeifend, wollte der bullig wirkende Ganove seine Schritte in Richtung Garagentor lenken, als der Butler mit der bleigefüllten Spitze seines schwarzen UniversalRegenschirmes vernehmlich auf den hölzernen Boden der Ladefläche pochte. Wie angewurzelt blieb der Mann stehen und blickte mißtrauisch in die Richtung, aus der das Geräusch gekommen war. »Hast du das gehört, Lee?« fragte er den Beifahrer, der gerade an der anderen Seite aus dem Fahrzeug stieg. »Nee, was denn, Alan?« reagierte Lee. »Da hat irgendwas geklopft«, gab Alan Auskunft. »Ich sehe 15
mal nach.« Nach kurzem Suchen kramte er eine Taschenlampe aus der Jackentasche, trat dicht an das Fahrzeug heran und leuchtete unter den Wagenboden. Um besser sehen zu können, ging der breitschultrige Alan in die Knie und ließ den Lichtstrahl in jeden Winkel wandern. Den Urheber des geheimnisvollen Pochens entdeckte er nicht. Da der Mann seine ganze Aufmerksamkeit auf die Unterseite des Lastwagens richtete, entging ihm völlig, was sich zur selben Zeit über ihm abspielte. Lautlos wurde die Plane beiseitegeschoben. In der Öffnung tauchte Parkers schwarz behandschuhte Rechte auf, die die Spitze des altväterlich gebundenen Regendachs fest umspannt hielt. Gerade richtete Alan sich wieder auf, als der Bambusgriff des Schirmes in Aktion trat. Stöhnend drehte der verdutzte Gangster auf einknickenden Knien eine mißglückte Pirouette, als sich das harte Material auf seine Schädeldecke senkte. Der Butler vernahm noch ein paar unverständliche Grunzlaute, bevor sein Gegner eilig den Kontakt zum Boden suchte und sich mit erlöstem Seufzer auf dem Beton ausstreckte. Die Lampe war ihm aus der Hand gefallen und erloschen. »Was ist denn los, Alan?« rief Lee und umrundete hastig die wuchtige Motorhaube des Lastwagens. Ihm blieb nicht viel Zeit, sich in den Anblick seines friedlich schlummernden Komplizen zu vertiefen. Erneut setzte Parker seinen Regenschirm in Marsch und entlockte auch dem zweiten Gangster Laute, die nur entfernt an menschliche Äußerungen erinnerten. Torkelnd probierte Lee ein paar Sambaschritte, ehe er sich ebenfalls in die Horizontale begab und seine Frage vergaß. Der Butler harrte noch zwei Minuten in seinem Versteck aus. 16
Als sich draußen nichts rührte, kletterte er von der Ladefläche und sah sich um. Der betonierte Hof war an drei Seiten von Lagerschuppen und Lkw-Garagen umgeben, die einen heruntergekommenen Eindruck machten. Bewohnt schien keines der Gebäude zu sein. Offenbar hielt sich auch niemand hier auf, der das Diebesgut in Empfang nahm und für den Weitertransport sorgte. Dennoch hielt Parker es für unwahrscheinlich, daß die beiden Männer ihre Raubzüge auf eigene Faust ausführten. Seine Vermutung wurde bestätigt, als er mit Hilfe seines handlichen Universalbestecks einen Teil der Tore öffnete. – Im scharf gebündelten Lichtstrahl der Bleistiftlampe tauchte eine Szenerie auf, die an das gut sortierte Warenlager eines Kaufhauses denken ließ. Die Herkunft dieser Güter würde sich klären lassen. Jetzt galt es, Mylady und dem Fernfahrer die Festnahme der Gangster zu melden. Mit sicherem Griff zog der Butler eine kleine Sprühflasche aus einer der unergründlichen Innentaschen seines schwarzen Covercoats. Ausgiebig ließ er die schnarchenden Ganoven an dem feinen, betäubenden Nebel schnuppern, um ihnen noch eine Weile ungestörter Ruhe zu ermöglichen. Anschließend legte er ihnen Handschellen aus speziell gehärtetem Stahl an und verfrachtete das Paar auf die Ladefläche des Lastwagens. Sekunden später saß Josuah Parker hinter dem Lenkrad und startete die schwere Dieselmaschine. Rumpelnd rollte der Lastwagen vom Hof und nahm wieder Kurs auf die Landstraße. * Nach kurzer Fahrt erreichte der Butler die Einmündung, bremste
das schwerfällige Gefährt und schaltete den linken Blinker ein.
Das Fahrzeug, dessen Lichter sich von links näherten, wollte er
17
noch vorbeilassen. Doch plötzlich spitzte Parker die Ohren. Das Motorengeräusch des nahenden Wagens kam ihm ausgesprochen bekannt vor. Auch Form und Anordnung der Scheinwerfer stimmten. Das konnte nur das hochbeinige Monstrum sein! Im nächsten Moment brauste der eckige Kasten an der Einmündung vorbei. Die Silhouette, die der Butler im Vorüberhuschen erfaßte, ließ keinen Zweifel daran, wer am Steuer saß: Lady Agatha Simpson persönlich. Kurz entschlossen schaltete Parker vom linken auf den rechten Blinker um und nahm die Verfolgung auf. Eine Chance, Mylady einzuholen, hatte er nicht. Wenn überhaupt, konnten nur noch Lichthupe und Signalhorn helfen. Offenbar erreichten die optischen und akustischen Signale ihr Ziel. Jedenfalls leuchteten gleich darauf die Bremslichter der »Trickkiste auf Rädern« auf. Lady Agatha verlangsamte ihr Tempo, so daß der Butler aufholen konnte. Wenn Parker gehofft hatte, die ältere Dame würde halten, um sich über den aktuellen Stand der Gangsterjagd zu informieren, sah er sich gründlich getäuscht. Kaum war der Lastwagen auf zwanzig Schritte heran, gab die Detektivin wieder Gas und spurtete davon. Kurz darauf ließ sie den Butler wieder aufschließen, um aufs neue mit dem neckischen Spiel zu beginnen. Dieses Verhalten nährte in Parker den Verdacht, daß Mylady ihn für einen Kriminellen hielt, den es abzuschütteln galt. Die Bestätigung kam wenig später. Mit gewissem Unbehagen gewahrte der Butler, wie sich unvermittelt am Heck des gerade wieder davonbrausenden Monstrums eine Klappe öffnete. Da er sein Fahrzeug mit allen Raffinessen kannte, wußte Parker natürlich, was das zu bedeuten hatte, und stemmte sich mit aller Kraft auf die Bremse, um den Lastwagen rechtzeitig zum Stehen 18
zu bringen. Agatha Simpson hatte begonnen, die zahlreichen Kipphebel am Armaturenbrett durchzuprobieren und war dabei an die Krähenfuß-Streuanlage geraten. Was keinem echten Verfolger gelungen wäre – der Butler schaffte es. Eine Handbreit vor der ersten Nagelspitze kamen die Vorderräder des Lasters quietschend zum Stillstand. Hundert Schritte weiter stoppte auch das hochbeinige Monstrum. Doch ehe die Lenkerin das Fahrzeug verließ, legten ihre vorwitzigen Finger noch einen weiteren Kipphebel um, was für sie selbst ärgerliche Folgen hatte. Von weitem sah Parker eine fettige Qualmwolke aufsteigen, die das altertümliche Vehikel im Handumdrehen seinen Blicken entzog. Husten und Keuchen signalisierten ihm, daß Mylady ausgerechnet in diesem Moment die Wagentür geöffnet hatte. Besorgt um das Wohlergehen seiner Herrin, verließ Parker das Führerhaus des Lastwagens. Seine Schritte beschleunigte er allerdings nur soweit, wie es seine stets würdevolle Haltung zuließ. »Wo stecken denn die dreisten Lümmel?« hörte er Agatha Simpson schon beim Näherkommen rufen. Wild entschlossen, aber einigermaßen orientierungslos irrte sie in der undurchdringlichen Wolke herum und ließ ihren Pompadour kreisen. Ihr sogenannter Glücksbringer war ein veritables Hufeisen, das – in dem ledernen Beutel verstaut – von einem stämmigen Brauereigaul stammte und niemandem echtes Glück brachte. »Wo bleiben Sie denn, Mister Parker. Auf keinen Menschen kann man sich heutzutage verlassen«, behauptete Agatha Simpson allen Ernstes. »Man bittet in aller Form um Nachsicht, Mylady«, machte Parker die erregte Dame auf sich aufmerksam. »Meine Wenigkeit ist 19
unverzüglich bereit, Myladys Wünsche als Befehl zu betrachten.« »Ach, Sie sind das, Mister Parker«, stellte Lady Agatha dann überrascht fest, nachdem sie um ein Haar mit dem Pompadour die Melone zerbeult hätte. »Mylady sagen es«, bestätigte der Butler mit einer höflichen Verbeugung und geleitete seine Herrin aus der Nebelzone. »Und wo sind die kriminellen Subjekte, die mich eben verfolgt haben, Mister Parker?« wollte sie wissen. »Die Burschen haben einen Denkzettel mehr als verdient.« »Die Herren haben es sich zu einem Nickerchen auf der Ladefläche des Lastwagens bequem gemacht, Mylady«, gab Parker zur Antwort. »In kurzer Zeit dürften sie für ein erstes Verhör zu Verfügung stehen, falls der Hinweis erlaubt ist.« »Die Lümmel sind schon dingfest gemacht?« vergewisserte sich die Detektivin. »Da bin ich wieder mal schneller gewesen, als ich selbst geglaubt habe.« »Mylady waren wieder absolut unvergleichlich«, versicherte der Butler. Er hielt es für besser, die ältere Dame nicht darüber aufzuklären, daß er selbst am Steuer des Lastwagens gesessen hatte. So ließen sich einige Fragen und Mißverständnisse vermeiden. »Wie auch immer«, fuhr Agatha Simpson in unverkennbar dienstlichem Ton fort. »Ich habe keine Zeit zu verlieren. Laden Sie die Lümmel in Ihr Fahrzeug um, damit wir nach London zurückkehren können, Mister Parker.« »Mylady beabsichtigen, von einer Vernehmung an Ort und Stelle Abstand zu nehmen?« vergewisserte sich Parker. »Ich habe keine Lust, mir die Subjekte von der Polizei wegschnappen zu lassen, Mister Parker.« »Demnach haben Mylady konkrete Anhaltspunkte für die Befürchtung, die Polizei könne kurzfristig hier auftauchen?« 20
»Vermutlich sind die beamteten Schnüffelnasen schon unterwegs, Mister Parker.« »Ein Umstand, den Mylady keineswegs als erfreulich betrachten.« »Eben, Mister Parker. Also stehen wir nicht so untätig herum…« »Man wird sich der größten Eile befleißigen«, versprach der Butler und machte sich umgehend ans Werk. * Wenige Minuten später hatte Parker die immer noch übermüdet wirkenden Ganoven auf dem Rücksitz des hochbeinigen Monstrums verstaut, derweil Mylady mit dem Beifahrerplatz vorliebnahm. Dann stieß er mit der Fußspitze die verstreuten Krähenfüße in den Graben und rangierte den Lastwagen an den Straßenrand, damit er kein gefährliches Hindernis bildete. »Darf man möglicherweise erwarten, daß Mylady Auskunft über den Verbleib von Mister Marvin Fields geben können?« fragte er, während das schwarze Gefährt rasch Fahrt aufnahm. »Erinnern Sie mich nur nicht an diesen ungehobelten Rüpel, Mister Parker«, grollte Agatha Simpson. »Mit dem Burschen habe ich noch ein Hühnchen zu rupfen.« »Wie möchten Mylady diese Äußerung verstanden wissen?« »Der Lümmel hatte nichts besseres zu tun, als auf kürzestem Weg zur nächsten Polizeiwache zu fahren.« »Mylady überließen Mister Fields die Führung des Fahrzeuges?« »Natürlich, Mister Parker, ich glaubte, in Ruhe an der Vollendung meines taktischen Konzepts arbeiten zu können, während der Bursche fuhr. Aber er hat das Vertrauen, das ich ihm auf diese Weise entgegenbrachte, schamlos mit Füßen getreten.« 21
»Eine Mitteilung, die man nur mit Bedauern und Entrüstung zur Kenntnis nehmen kann, Mylady.« »Wäre diese vermaledeite Trennscheibe nicht gewesen – ich hätte den Rüpel noch während der Fahrt zur Räson gebracht, Mister Parker.« »Woran meine bescheidene Wenigkeit keinen Augenblick zweifelt, Mylady.« »So mußte ich notgedrungen warten, bis er vor der Polizei hielt und hineinging. Da bin ich umgestiegen und losgefahren.« »Hinsichtlich entschlossenen Handelns stellen Mylady ein Vorbild dar, das man nur als leuchtend bezeichnen kann und muß.« »Das haben Sie aber wirklich schön formuliert, Mister Parker«, strich Mylady gelassen das Lob ein. »Ihren krönenden Abschluß fand die laufende Phase meiner Ermittlungen dann durch die Festnahme der Gangster. Das einzige, was noch fehlt…« Agatha Simpson brach mitten im Satz ab und schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn. »Aber das Wichtigste habe ich ja vergessen, Mister Parker.« »Möglicherweise darf man um Auskunft darüber bitten, was Mylady zu meinen geruhen?« »Den Whisky natürlich. Ich wollte mir doch eine Kiste zum Probieren mitnehmen.« »Darf man die Vermutung äußern, daß Mylady von der Ladung in Mister Fields Lastwagen zu. sprechen belieben?« »Wovon denn sonst, Mister Parker. Mister Fields hätte bestimmt nichts dagegen. Eine Annahme, die sich momentan kaum überprüfen lassen dürfte, Mylady.« »Wie auch immer, Mister Parker. Nach der Schmach, die der Rüpel mir angetan hat, geschähe es ihm recht, wenn gleich mehrere Kisten fehlten.« Josuah Parker wunderte sich ein wenig, weil seine Herrin für 22
gewöhnlich französischen Kognak bevorzugte und dem schottischen Nationaldestillat nicht besonders zugetan war. Doch wenn es etwas umsonst gab, konnte Agatha Simpson kaum widerstehen. Nicht ohne Grund war ihre Sparsamkeit ebenso sprichwörtlich wie ihr Reichtum. »Mylady wünschen, zu Mister Fields Lastwagen zurückzukehren?« erkundigte er sich knapp. »Auf keinen Fall, Mister Parker. Die Polizisten dort würden nur neidisch werden, wenn ich mir nähme, was mir zusteht.« »Was eindeutig zu befürchten ist, Mylady.« »Wie lange bin ich noch bis London unterwegs, Mister Parker?« wollte die ältere Dame nach geraumer Zeit wissen. Ihre Stimme klang schläfrig. »Etwa drei Stunden, falls man nicht sehr irrt, Mylady«, gab der Butler Auskunft. »Sie hätten mich aber wirklich an den Whisky erinnern können, Mister Parker«, sagte Lady Agatha undeutlich, schon auf der Schwelle vom Wachen zum Träumen. »Man bittet höflich, die Unterlassung zu entschuldigen, Mylady«, erwiderte Parker, bevor er sich ausschließlich auf die Straße konzentrierte. Im Osten dämmerte schon das erste graue Morgenlicht. * Die Sonne strahlte vom Himmel, als der Butler in die stille Wohnstraße im Londoner Stadtviertel Shepherd’s Market einbog, an der Lady Simpsons repräsentatives Anwesen lag. Hier bewohnte sie eine im Fachwerkstil errichtete Villa, die sich auf den Grundmauern einer steinalten Abtei erhob. In der Höhe von Nottingham hatte Parker eine kurze Pause einlegen müssen, als die Fahrgäste im Fond sich durch unruhi23
ges Stöhnen bemerkbar machten. Eine kleine Zusatzdosis aus der Sprühflasche hatte die Männer jedoch wieder in tiefen Schlummer versenkt. Lee und Alan gaben noch immer friedliche Schnarchtöne von sich, als der Butler sein hochbeiniges Monstrum auf dem Vorplatz des Hauses abstellte und behutsam seine Herrin weckte. Die ältere Dame zog sich in ihre privaten Gemächer im Obergeschoß zurück, und Parker verfrachtete die ausgesprochen apathisch wirkenden Gestalten in eines der Gästezimmer im Souterrain. Dabei handelte es sich um Räumlichkeiten, die mit allem Komfort ausgestattet waren – bis hin zu Farbfernseher und Kühlschrank. Nur Fenster und Telefon suchte man vergeblich. Die stählernen Feuerschutztüren hatte der Butler mit komplizierten Sicherheitsschlössern versehen lassen, da Lady Agatha großen Wert darauf legte, den Abreisetermin ihrer Gäste selbst zu bestimmen. Es war schon später Vormittag, und Parker deckte im Salon, der an die weitläufige Wohnhalle grenzte, den Frühstückstisch. Er war gerade damit beschäftigt, den Tee zu richten, als herzhaftes Gähnen seine Tätigkeit unterbrach. Wie Majestät persönlich schritt Agatha Simpson die geschwungene Freitreppe herab, die die Wohnhalle mit der umlaufenden Galerie verband. Obwohl sie die Sechzig überschritten hatte, war die steinreiche Lady noch immer eine ausgesprochen eindrucksvolle Erscheinung. Hinzu kam ihre ausgeprägte Neigung, sich mit dem Pathos einer Bühnenheroine in Szene zu setzen. »Ich muß doch ein wenig eingenickt sein, Mister Parker«, meinte sie jetzt. »Dabei kann ich mir unter der Last meiner beruflichen Pflichten eigentlich gar keinen Schlaf erlauben.« »Mylady sollten der Gesundheit etwas mehr Aufmerksamkeit 24
schenken, falls die Anmerkung gestattet ist«, äußerte der Butler, während er seine Herrin zum Frühstückstisch geleitete und ihr fürsorglich einen Sessel unterschob. »Ich brauche keinen Schlaf, um gesund zu bleiben, Mister Parker«, erwiderte Agatha Simpson. »Wie Mylady zu meinen belieben«, ließ Parker sich vernehmen, schenkte dampfenden Kaffee ein und trat in seiner unnachahmlichen Art einen halben Schritt zurück. »Ich halte mich gern an alte Spruchweisheiten, Mister Parker«, verriet die Detektivin. »Danach hält Essen und Trinken Leib und Seele zusammen. Von Schlaf ist nicht die Rede.« »Bei solcher Logik ist Mylady kaum zu widersprechen«, versicherte der Butler, während die Hausherrin sich über die Krabben in Sherrysahne hermachte, die er zum Auftakt serviert hatte. In diesem Augenblick läutete die Haustürglocke. »Sofern Mylady keine Einwände erheben, wird man nachsehen, wer Einlaß begehrt«, sagte Parker mit einer angedeuteten Verbeugung und lenkte seine Schritte in Richtung verglastem Vorflur. »Chief-Superintendent McWarden möchte seine Aufwartung machen.«, meldete er gleich darauf. »Aber jetzt doch nicht, Mister Parker!« protestierte Agatha Simpson. »Mister McWarden soll sich endlich abgewöhnen, mich ständig zur Frühstückszeit zu besuchen.« »Nach Landessitte dürfte inzwischen Lunchzeit sein, falls man sich diesen Hinweis erlauben darf, Mylady«, entgegnete der Butler. »Auf eine Frau meines Formats lassen sich eben nicht die gängigen Maßstäbe anwenden, Mister Parker«, gab Mylady entschieden zurück. »Und für mich ist jetzt Frühstückszeit.« »Eine Feststellung, der man keineswegs widersprechen möchte, Mylady. Andererseits betonte Mister McWarden, sein 25
Anliegen sei von außergewöhnlicher Dringlichkeit.« »Wahrscheinlich steckt er wieder tief in der Tinte und kommt ohne meinen Rat nicht weiter«, mutmaßte Agatha Simpson und wandte sich mit ungebrochener Energie den Rehmedaillons in Preiselbeerrahm zu, die Parker ihr vorlegte. »Also gut, lassen Sie ihn meinetwegen herein, Mister Parker. Aber bieten Sie ihm höchstens eine Tasse Tee an. McWarden muß an seine schlanke Linie denken und ich an meinen Geldbeutel.« Der Chief-Superintendent, der in mehr oder weniger regelmäßigen Abständen die Gastfreundschaft des Hauses Simpson genoß, galt als einer der fähigsten und einflußreichsten Beamten von Scotland Yard. Der untersetzte Mittfünfziger leitete eine Spezialeinheit zur Bekämpfung des organisierten Verbrechertums und war unmittelbar dem Innenminister unterstellt. Obwohl er als professioneller Ganovenjäger auf Amateure in diesem Metier herabzusehen pflegte, hatte er sich in Shepherd’s Market schon manchen wertvollen Rat geholt, wenn seine konventionellen Ermittlungsmethoden nicht mehr weiterhalfen. Allerdings galten seine Besuche in erster Linie Josuah Parker, dessen ausgewogenes, auf Erfahrung fußendes Urteil er seit Jahren schätzte. Agatha Simpson begegnete dem Yard-Beamten mit zwiespältigen Gefühlen. Einerseits lebte sie in ständiger Furcht, McWarden könnte ihr den letzten Bissen vom Teller wegschnappen oder sich an ihrem feinen, alten Sherry vergreifen. Andererseits genoß sie es, ihn mit boshaften Sticheleien auf die Palme zu bringen. * »Blendend sehen Sie aus, Mylady.« begrüßte der Chief-Superintendent die Hausherrin. »Man hat den Eindruck, daß Sie von Tag zu Tag jünger werden. Wie machen Sie das bloß?« 26
»Mein Geheimnis, McWarden«, reagierte, Lady Simpson geschmeichelt. »Nur soviel will ich Ihnen verraten: Man muß sich selbst immer Höchstleistungen abverlangen, um auch in reiferen Jahren jugendfrisch zu bleiben. Wer nur hinter dem Schreibtisch hockt, wird schlaff und träge. Er setzt überflüssige Pfunde an, verlernt das Denken und verkalkt.« »Das war doch nicht auf mich gemünzt, Mylady«, meinte McWarden, während er sich galant über die muskulöse Rechte beugte, die Lady Agatha ihm zum Handkuß entgegenstreckte. »Das habe ich nicht gesagt, mein Lieber«, gab die ältere Dame ausweichend zur Antwort. »Sie haben doch hoffentlich schon gefrühstückt?« »Bisher nicht, Mylady«, teilte der Yard-Beamte mit. »Allerdings bekomme ich auch keinen Bissen herunter im Moment. Der Streß muß mir auf den Magen geschlagen sein.« »Das tut mir leid«, erwiderte Mylady in lieblichstem Tonfall. »Andererseits würden ein paar Fastentage Ihrer Figur nur guttun.« McWarden streifte die wogende Körperfülle der Hausherrin mit raschem Blick. Er war jedoch Gentleman genug, um die Bemerkung zu schlucken, die ihm auf der Zunge lag. »Trotz allem freut es mich, einem Menschen mit gesundem Appetit beim Essen zuzusehen, Mylady«, sagte er statt dessen. »Ein gesunder und aktiver Körper braucht eben seine Kalorienzufuhr, McWarden«, beschied Mylady ihn. »Im Gegensatz zu Ihnen habe ich eine ausgesprochen anstrengende Nacht hinter mir.« »Darauf wollte ich gerade zu sprechen kommen, Mylady«, griff der Chief-Superintendent das Stichwort auf. »Was Sie letzte Nacht…« »Was ich letzte Nacht getan und gelassen habe, mein lieber McWarden«, unterbrach die Hausherrin unwirsch, »ist meine 27
Privatsache.« »Darüber kann man geteilter Meinung sein, Mylady«, gab der Yard-Beamte zurück. Er war fest entschlossen, sich diesmal nicht provozieren zu lassen. »Aber damit Sie sehen, daß ich vor Ihnen keine Geheimnisse habe: Bis gestern habe ich den Opernfestspielen in Glasgow beigewohnt«, fuhr Agatha Simpson mit maliziösem Lächeln fort. »Verzeihung, Mylady«, schaltete Parker sich ein. »Die Opernfestspiele, die Mylady zu meinen geruhen, fanden in Edinburgh statt.« »Sagte ich das nicht?« tat die ältere Dame überrascht. »Wie auch immer – die nächtliche Rückfahrt war außerordentlich anstrengend.« »Vor allem die Unterbrechung in der Gegend von Darlington«, warf der Chief-Superintendent ein. »Ich weiß überhaupt nicht, wovon Sie reden, mein Lieber«, entgegnete Mylady gelassen, während McWardens linkes Augenlid die ersten nervösen Zuckungen zeigte. »Geben Sie doch zu…«, setzte der Besucher an, aber Agatha Simpson fiel ihm sofort ins Wort. »Gar nichts gebe ich zu«, grollte sie. »Im übrigen wünsche ich nicht, daß Sie mir nachspionieren.« »Aber Mylady«, versuchte McWarden, die Aufgebrachte zu besänftigen. »Wir können doch in Ruhe über die Sache reden.« »Ich bin ein Mensch, mit dem man jederzeit in Ruhe reden kann, McWarden«, entgegnete die Detektivin. »Aber daß Sie mir nachspionieren, gefällt mir nicht. Wenn das der Dank für meine Gastfreundschaft ist…« McWarden beherrschte sich, trotzdem die Ader an seiner Schläfe hektisch pochte. Die Gesichtsfarbe des Yard-Beamten ließ mehr und mehr an eine reife Tomate denken. »Ich wollte Ihnen ja gar nicht in die Ermittlungen hineinpfu28
schen, aber eine Zusammenarbeit in dieser brisanten Sache hätte für beide Seiten ihre Vorteile«, meinte McWarden. »Das läuft doch nur darauf hinaus, daß ich Ihnen den Lorbeer aus dem Feuer hole und Sie sich dann auf den Kastanien ausruhen«, entgegnete Agatha Simpson spitz. »Umgekehrt, Mylady«, korrigierte der Besucher. »Wie auch immer, McWarden. Wenigstens geben Sie zu, daß Sie gegen eine Detektivin keine Chance haben.« »Was das Mundwerk angeht, jedenfalls nicht«, konterte der Chief-Superintendent. Unerwartet sprang er auf und steuerte dem Ausgang zu, der Hausherrin nur kurz zunickend. »Haben Sie die beiden Burschen eigentlich gefaßt, Mister Parker?«, wollte er mit gedämpfter Stimme wissen, als der Butler ihm in der Diele Hut und Mantel reichte. »Die Sache, auf die Sie letzte Nacht gestoßen sind – ich nehme an, zufällig – stellt nämlich nur die Spitze eines Eisberges dar.« »Darf man sich möglicherweise erkundigen, wie Sie diese Äußerung zu meinen geruhen, Sir?« überhörte Parker die Frage. »Es muß sich um eine weitverzweigte Bande ausgekochter Profis handeln«, verriet der Yard-Beamte. »Seit Wochen ist kein Lkw zwischen Newcastle und Leeds vor den Burschen sicher.« »Eine Mitteilung, die man ohne große Überraschung, aber mit einem gewissen Interesse zur Kenntnis nimmt, Sir.« »Sie arbeiten immer nach derselben Masche«, fuhr McWarden fort. »Lastwagenfahrer werden im Schlaf überfallen und irgendwo an der Straße ausgesetzt. Wenn der Lkw dann auf einem abgelegenen Parkplatz gefunden wird, ist er längst entladen.« »Und Sie konnten bisher keinen der Täter fassen, Sir?« »Nicht mal eine brauchbare Personenbeschreibung haben wir, Mister Parker. Nebenbei bemerkt, schienen die Gangster einen bemerkenswerten Riecher zu haben. Was sie rauben, ist nur vom 29
Feinsten. Whisky, Farbfernseher, Pelzmäntel…« »Unter diesen Umständen dürfte schon der Absatz der Beute eine professionelle Organisation erfordern, falls der Hinweis erlaubt ist, Sir.« »Natürlich, Mister Parker. Und von der Absatzseite her werde ich die Burschen auch irgendwann packen.« »Was eindeutig zu hoffen und zu wünschen ist, Sir. Ist Ihnen im übrigen bekannt, ob auf den Rastplätzen der fraglichen Region in letzter Zeit Kontrollen von Polizeibeamten in Zivil durchgeführt wurden?« »Soviel ich weiß, nicht, Mister Parker. Aber ich kann mich erkundigen. Warum fragen Sie?« »Ihr Einverständnis voraussetzend, Sir, würde man die Beantwortung dieser Frage gern auf einen späteren Zeitpunkt vertagen.« »Wie Sie wollen, Mister Parker«, resignierte der Chief-Superintendent. »Aber passen Sie auf, daß Sie sich nicht die Finger an der Geschichte verbrennen.« »Man dankt für den wohlgemeinten Ratschlag und wird die erforderliche Vorsicht walten lassen, Sir«, sagte Parker mit einer angedeuteten Verbeugung und ließ den Gast hinaus. * Agatha Simpson schien pikiert zu sein, als der Butler gemessen in den Salon zurückkehrte und sich anschickte, das Frühstücksgeschirr abzuräumen. »McWarden wird sich schwarz ärgern, wenn ich ihn wieder mal vor vollendete Tatsachen stelle.« »Mylady sehen den abschließenden Erfolg der Ermittlungen schon in greifbarer Nähe?« »Selbstverständlich, Mister Parker«, nickte die ältere Dame zuversichtlich. »Welche Ermittlungsschritte hatte ich mir denn 30
für heute noch vorgenommen?« »Sofern man richtig unterrichtet ist, dürften Mylady eine Vernehmung der beiden Herren planen, die derzeit Gastrecht unter Myladys Dach genießen.« »Richtig. Sie haben hoffentlich dafür gesorgt, daß es meinen Gästen an nichts fehlt?« »Man war so frei, den Herren nach dem Erwachen einige Sandwiches und Kaffee zu servieren, Mylady. Inzwischen ist Lunchzeit, so daß eine Tomatensuppe und Toast angebracht erscheinen dürfte.« »Ganz schön üppig, Mister Parker«, mäkelte Agatha Simpson. »Es muß doch nicht sein, daß die Lümmel sich auf meine Kosten mästen.« »Was man selbstverständlich verhindern wird, Mylady.« »Jedenfalls werde ich jetzt unverzüglich die Geständnisse dieser Subjekte zu Protokoll nehmen, Mister Parker. Dann ist der Fall für mich abgeschlossen, und die Polizei kann für die weitere Verpflegung aufkommen.« »Falls man sich nicht gründlich täuscht, dürften Mylady eine Fortsetzung und Ausweitung der Ermittlungen bereits ins Auge gefaßt haben«, warf Parker ein. »Papperlapapp, Mister Parker. Warum sollte ich an kleine Straßenräuber mehr Zeit verschwenden als unbedingt nötig?« »Mister McWarden geruhte anzudeuten, daß es sich bei dem Überfall auf Mister Marvin Fields nur um die Spitze eines Eisberges handelte.« »Eisberg? Was für ein Eisberg?« »Mister McWarden sprach von einer ganzen Serie ähnlicher Überfälle, Mylady.« »Ist der ständige Gast meines Hauses auch endlich draufgekommen? Für mich steht schon lange fest, daß es sich um eine straff organisierte Bande handelt, die über Leichen geht, Mister 31
Parker«, stellte die passionierte Detektivin sich mühelos auf die neue Lage ein. »Myladys Scharfsinn und Weitsicht sind geeignet, Staunen und Bewunderung hervorzurufen.« »Ich weiß, Mister Parker«, strich Agatha Simpson mit der ihr eigenen Routine das dicke Lob ein. »Noch mehr Grund zum Staunen werden Sie haben, wenn ich im Handumdrehen die ganze Bande hinter Schloß und Riegel bringe.« »Was meine Wenigkeit nicht im mindesten bezweifelt, Mylady.« »Das hätte ich Ihnen auch nicht geraten, Mister Parker. Sind die Lümmel denn aussagebereit?« »Bisher zeigten die Herren sich wenig gesprächig, wenn man es mal so formulieren darf, Mylady.« »Das wird sich ändern, sobald ich komme«, prophezeite Agatha Simpson, griff nach ihrem Pompadour und erhob sich. »Sie dürfen mich begleiten und zuhören, damit Sie etwas lernen, Mister Parker.« »Man dankt für das Entgegenkommen, Mylady«, sagte der Butler in seiner unerschütterlichen Höflichkeit und schritt voran. Auf dem Weg ins Souterrain nahm Parker aus der Küche noch ein Tablett mit zwei Tassen dampfender Tomatencremesuppe und einigen Toastscheiben mit. An der Tür des Gastzimmers angekommen, warf er einen Blick durch den Türspion. Lee und Alan saßen Seite an Seite auf dem Sofa und starrten grimmig vor sich hin. Trotz der Handschellen hatten sie es mittlerweile geschafft, sich die Sandwiches einzuverleiben. Das Lunchtablett in der rechten, den Schlüssel in der Linken, schloß der Butler auf und ließ die ältere Dame eintreten. Auf diesen Augenblick schien der sportlich durchtrainierte Lee nur gewartet zu haben…
32
* � Wie eine Stahlfeder schnellte er aus den Polstern und flog förmlich auf die Freiheit verheißende Türöffnung. Er hatte allerdings nicht mit der Standfestigkeit der Hausherrin gerechnet, die ihn seelenruhig an ihren ehrfurchtgebietenden Pfunden abprallen ließ. Der Gangster, der allerdings durch die auf dem Rücken gefesselten Hände benachteiligt war, reagierte umgehend mit Symptomen akuter Atemnot. Sein Gesicht zeigte eine ausgesprochen ungesunde Blässe, während er heftig japsend zurücktaumelte. »Gegen eine Detektivin ist jeder Widerstand zwecklos, junger Mann«, stellte Agatha Simpson unmißverständlich klar, während Lee sich stöhnend wieder in die Polster fallen ließ. »Eine Feststellung, der man nur vorbehaltlos zustimmen kann«, sagte Parker und betrat hinter Mylady den Raum. Das Tablett mit der heißen Suppe stellte er vor den Gangstern auf einen Tisch. Lee, der noch immer unter der stürmischen Begegnung mit Agatha, Simpson litt, zeigte keinerlei Neigung, dem Imbiß zuzusprechen. Der rundliche Alan hätte dagegen gern zugelangt, wären nur die Handschellen nicht gewesen. »Was soll das verdammte Theater?« protestierte er. »Wenn Sie uns nicht augenblicklich hier rauslassen, handeln Sie sich eine Klage wegen Freiheitsberaubung ein.« »Sie können dieses Haus verlassen, sobald Sie ein umfassendes Geständnis abgelegt haben, junger Mann«, bot die Hausherrin in frostigem Ton an. »Geständnis?« wiederholte Alan und lachte bitter. »Wenn hier einer ein Geständnis abzulegen hat, sind Sie das!« »Darf man höflich um Aufklärung bitten, wie Sie diese Äußerung verstanden wissen möchten?« schaltete der Butler sich ein. 33
»Sie haben uns überfallen, Sie haben unseren Lastwagen gestohlen und uns verschleppt«, trug der Ganove seine Anklage vor. »Eine etwas eigenwillige Sicht der Dinge, falls die Anmerkung erlaubt ist«, entgegnete Parker unbeeindruckt. »Möglicherweise darf man daran erinnern, daß Sie es waren, die Mister Marvin Fields auf dem Rastplatz bei Darlington überfielen und seinen Lastwagen stahlen, worauf Sie den Bedauernswerten gefesselt und geknebelt auf einsamer Landstraße aussetzten.« »Verdammt!« entfuhr es dem Rundlichen, aber jetzt griff Lee, dessen Lebensgeister allmählich wiederkehrten, in die Unterhaltung ein. »Ist doch alles Quatsch mit Soße«, erklärte er barsch. »Wo ist denn dieser Martin Fields, von dem Sie reden. Den gibt’s doch genausowenig wie den großen Unbekannten. Auf Ihre plumpen Tricks fällt nicht mal ein Geisteskranker rein.« »Der Rüpel wagt es, mir ins Gesicht zu lügen, Mister Parker!« grollte die ältere Dame. Ihr Mienenspiel ließ unwillkürlich an ein heraufziehendes Gewitter denken. Lee übersah die drohenden Vorzeichen jedoch, oder er wußte sie nicht richtig zu deuten. Wie sollte der unfreiwillige Gast auch ahnen, welch gewichtigen Inhalt der perlenbestickte Handbeutel barg, der tatendurstig an Myladys Handgelenk wippte? »Ist ein bißchen aus der Mode, das Täschchen«, spottete er. »Aber zu einer abgewrackten Vogelscheuche paßt der alte Plunder.« Agatha Simpsons Teint, der bis zu diesem Augenblick alle Nuancen von Erdbeer- bis Tomatenrot gezeigt hatte, wurde schlagartig aschfahl. Ihre Augen verengten sich zu Schlitzen. »Muß ich davon ausgehen, daß dieser Lümmel mich soeben tief beleidigt hat, Mister Parker?« stieß die Detektivin zwischen zusammengepreßten Lippen hervor. 34
»Mylady haben den rechtlichen Tatbestand in einer Weise in Worte gefaßt, die man nur als bestechend bezeichnen kann und muß«, pflichtete der Butler seiner Herrin bei. Dieser Bekräftigung hätte es allerdings nicht bedurft. Die energische Dame war schon dabei, sich auf ihre sehr persönliche, handfeste Art Genugtuung zu verschaffen. * Der unhöfliche Besucher stieß einen langgezogenen Sirenenton aus, als Myladys sogenannter Glücksbringer sich mit der Zärtlichkeit einer Dampfwalze an seine Wangen schmiegte. Seine Augen machten Anstalten, aus den Höhlen zu hüpfen. Haltlos pendelte der Kopf des Mannes von einer Schulter zur anderen. Kalter Schweiß trat auf seine Stirn. »Ich hoffe, die kleine Lektion hat Ihnen gezeigt, daß man eine Lady Simpson nicht ungestraft belügt und beleidigt, junger Mann«, grollte die resolute Dame. »Bei Bedarf kann ich auch eine deutlichere Sprache sprechen. Das gilt selbstverständlich auch für Sie«, wandte die Hausherrin sich an Alan, der seinen wimmernden Komplizen mit vor Angst geweiteten Augen anstarrte. »Ist er tot?« flüsterte der Rundliche entsetzt, als Lees Gesicht sich entspannte und sein Kopf hintenüberkippte. »Papperlapapp«, klärte Lady Agatha ihn auf. »Der Schwächling ist nur ein paar Minuten sprachlos. Dafür sind Sie jetzt an der Reihe, junger Mann.« »Was… was soll das heißen: Ich bin an der Reihe?« stammelte Alan und bedachte den vor seiner Nase schwingenden Pompadour mit ehrfürchtigen Blicken. »Ich gebe Ihnen Gelegenheit, ein umfassendes Geständnis abzulegen«, wurde die passionierte Detektivin deutlicher. »Aber 35
meine Zeit ist kostbar. Deshalb zähle ich jetzt bis drei. Eins…« »Halt!« unterbrach Alan. »Wird’s bald?« drängelte Agatha Simpson. »Ich fühle mich so schwach. Kann ich vorher ein paar Löffel von der Suppe essen?« fragte der Gangster in unterwürfigem Ton. »Ich bin ja kein Unmensch«, erwiderte die Hausherrin entgegenkommend. »Aber nur wenig.« »Die Handschellen«, wandte Alan ein. »Sie müssen mir die Dinger schon abnehmen, wenn ich essen soll.« »Kommt überhaupt nicht in Frage«, entschied Mylady, nachdem der Butler ihr einen warnenden Blick zugeworfen hatte. »Mister Parker wird Ihnen behilflich sein.« »Myladys Wünsche sind meiner Wenigkeit Befehl«, versicherte Parker und schickte sich an, dem Verlangen nachzukommen. Groß schien Alans Appetit jedoch nicht zu sein. Jedenfalls sperrte er den Mund nicht weit genug auf, so daß sich der erste Löffel Tomatensuppe auf seinem Kinn verteilte und anschließend eine Etage tiefer in den Kragen tropfte. »Verdammt!« knurrte der Gangster und schüttelte sich. Damit sorgte er jedoch ungewollt dafür, daß der nackte Löffel sein rechtes Ohr färbte. »Man bittet die kleine Ungeschicklichkeit zu entschuldigen«, sagte der Butler mit einer höflichen Verbeugung. »Falls die Suppe nicht mehr heiß genug sein sollte, könnte man sie rasch im Mikrowellenherd aufwärmen.« »Bloß das nicht!« schrie Alan und versuchte dem Löffel auszuweichen, den Parker schon wieder in die Suppe getaucht hatte. Diesmal landete der flüssige Imbiß in den Haaren des Mannes und rann von dort über Stirn und Nase. »Genug, Mister Parker!« gebot die ältere Dame. »Der Lümmel soll sich ja nicht den Bauch vollschlagen. Also: Wo bleibt das 36
Geständnis?« »Ja, es stimmt alles«, räumte der suppentriefende Ganove geknickt ein. »Wir haben den Lkw geklaut.« »Und weiter?« begehrte Agatha Simpson zu wissen. »Nichts weiter«, erwiderte Alan. »Was denn sonst noch?« »Mylady legt Wert darauf, Namen und Anschrift Ihres Auftraggebers zu erfahren«, sprang der Butler ein, als er registrierte, daß seine Herrin schwieg und die Stirn in nachdenkliche Falten zog. »Es gibt keinen Auftraggeber«, schüttelte der Rundliche den Kopf. »Lee und ich arbeiten auf eigene Rechnung.« »Eine Aussage, der Mylady nur ein geringes Maß an Glaubwürdigkeit beimessen dürfte, falls man sich nicht gründlich irrt«, bemerkte Parker kühl. »Es ist aber so«, beharrte sein Gegenüber. »Der Lümmel lügt genauso dreist wie sein Komplize, Mister Parker«, grollte die resolute Dame. »Ich werde ihn auch in den Genuß einer kleinen Lektion kommen lassen.« »Aber das können Sie doch nicht machen!« Alan jammerte und folgte mit ängstlichem Blick dem Pompadour, dessen Schwingung zusehends hektischer wurde. »Natürlich kann ich das machen, junger Mann«, belehrte Agatha Simpson ihn. »Ich kann sogar noch viel mehr machen. Ihre Schreie hört außerhalb des Hauses kein Mensch.« »Sie wollen mich doch nicht etwa foltern?« kreischte der Ganove mit überschnappender Stimme. »Was für ein häßliches Wort!« entrüstete sich die Detektivin. »Gebildete Menschen sprechen von verfeinerten Vernehmungsmethoden. Soll ich Ihnen mal zeigen, was ich darunter verstehe?« »Nein, nein«, wehrte Alan entsetzt ab. »Dann darf man vermutlich die Hoffnung äußern, daß Sie mitt37
lerweile bereit sind, Ihren Auftraggeber preiszugeben?« nahm Josuah Parker wieder das Wort. »Mann, wissen Sie, was mir blüht, wenn ich singe?« rief der Ganove. »Wissen Sie, was Ihnen blüht, wenn Sie nicht singen?« konterte Mylady ungerührt. »Okay«, signalisierte Alan Bereitschaft zum Einlenken. »Wer der Boß ist und wo er zu finden ist, weiß ich auch nicht. Lee und ich arbeiten für eine Organisation, die sich die ›Piraten‹ nennt.« »Der Schurke lügt schon wieder«, fuhr Mylady wütend dazwischen. »Ehrenwort!« beteuerte der Gangster. »Wenn Sie mehr wissen wollen, müssen Sie in Phil Bronsons Pub in Harrogate nach den ›Piraten‹ fragen.« »Ein Hinweis, dem man zweifellos nachgehen wird«, versprach der Butler. »Dann können wir jetzt gehen?« fragte der Rundliche hoffnungsvoll. »Wie kommen Sie denn darauf, junger Mann?« stellte die Hausherrin belustigt die Gegenfrage. »Aber Sie haben doch gesagt, daß wir dieses Haus verlassen können, sobald wir ein Geständnis abgelegt haben«, entgegnete Alan in vorwurfsvollem Ton. »Stimmt«, lächelte die ältere Dame in einer Weise, die man nur boshaft nennen konnte. »Aber an der Tür wird die Polizei Sie in Empfang nehmen.« »So haben wir nicht gewettet«, protestierte der Ganove. »Gewettet haben wir überhaupt nicht, junger Mann«, stellte Mylady klar. »Im übrigen sollten Sie sich glücklich schätzen, daß Sie meine selbstlose Gastfreundschaft noch so lange genießen dürfen, bis ich Ihre Angaben überprüft habe.« Sie wandte sich um und steuerte hoch erhobenen Hauptes die 38
Tür an. »Aber…« Alans Protest klang schwach und kraftlos. »Die Zellen im Untersuchungsgefängnis sollen weitaus weniger komfortabel sein, als die Gästezimmer hier, habe ich mir sagen lassen«, äußerte die Detektivin im Hinausgehen. »Von der Verpflegung ganz zu schweigen.« »Was meine Wenigkeit nur mit dem allergrößten Nachdruck unterstreichen kann«, bekräftigte Parker, folgte seiner Herrin und schloß sorgfältig die Tür. * »Ich hätte den abgefeimten Schurken noch härter in die Mangel nehmen sollen«, überlegte Lady Agatha, als sie später beim Tee in der geräumigen Wohnhalle saß. »Mylady sehen Anlaß, an den Aussagen des Herrn zu zweifeln, der sich Alan nennt?« erkundigte sich Parker und legte seiner Herrin noch ein Stück Nußtorte vor. »Der Kerl ist einfach ein durchtriebenes Subjekt, Mister Parker«, erwiderte die ältere Dame und ließ sich bernsteinfarbenen Darjeelingtee nachschenken. »Ich habe das sofort erkannt. Mein kriminalistischer Instinkt ist unfehlbar.« »Was meine Wenigkeit keineswegs in Frage stellen möchte, Mylady«, ließ der Butler sich mit angedeuteter Verbeugung vernehmen. »Kann und muß man aus Myladys Äußerung schließen, daß Mylady von der Fahrt nach Harrogate Abstand zu nehmen gedenken?« »Das nicht, Mister Parker«, antwortete die passionierte Detektivin. »Sollte sich aber bestätigen, daß der Schurke wirklich versucht hat, mich auf den Leim zu führen, dann gnade ihm Gott!« Parker blieb eine Stellungnahme erspart, denn in diesem Augenblick läutete die Haustürglocke. 39
»Das wird doch nicht schon wieder Mister McWarden sein?« meinte die Hausherrin argwöhnisch. »Schließen Sie auf jeden Fall den Sherry weg, bevor Sie öffnen, Mister Parker.« »Wie Mylady wünschen«, sagte der Butler und ließ die geschliffene Kristallkaraffe in der Anrichte verschwinden, ehe er sich in würdevoller Haltung zur Tür begab. »Hallo, Parker!« grüßte Mike Rander in seiner lässigen Art. »Guten Tag, Mister Parker«, schloß die attraktive Kathy Porter sich an. »Man dankt und erlaubt sich, ebenfalls einen angenehmen Tag zu wünschen«, sagte Parker, während er die Besucher einließ. »Wir stören doch nicht?« fragte Rander, während der Butler ihm aus dem Mantel half. »Keineswegs und mitnichten, Sir«, gab der Butler zur Antwort. »Mylady dürfte erfreut sein, Sie und Miß Porter zum Tee begrüßen zu können. Allerdings sieht man sich zu dem höflichen Hinweis veranlaßt, daß Mylady noch am frühen Abend nach Harrogate aufzubrechen gedenkt.« »Harrogate?« wiederholte Rander. »Eine ganz schöne Strecke. Es geht doch nicht etwa um einen Kriminalfall?« »Meine Wenigkeit möchte Myladys Bericht in keiner Weise vorgreifen, Sir«, erwiderte Parker ausweichend und führte das Paar in die Wohnhalle. Braungebrannt und athletisch gebaut, erinnerte der etwa vierzigjährige Rander lebhaft an einen prominenten James-BondDarsteller. Der erfolgreiche Anwalt betrieb eine Kanzlei in der nahegelegenen Curzon Street, war aber in der Hauptsache damit beschäftigt, das Vermögen der steinreichen Witwe zu verwalten. Er und Parker kannten sich schon seit Jahren. Jenseits des großen Teichs hatten die Männer turbulente Zeiten erlebt und aufsehenerregende Fälle gelöst. Als der Butler dann nach London zurückkehrte und in die Dienste Lady Simpsons trat, war 40
auch Rander bald gefolgt. Im Haus Simpson, wo Parker ihn einführte, hatte der sympathische Anwalt nicht nur das Herz der älteren Dame im Sturm erobert. Dort hatte er auch Myladys Gesellschafterin, die hübsche Kathy Porter, kennengelernt. Die junge Dame, die auch Agatha Simpsons Korrespondenz erledigte, war eine bezaubernde Erscheinung. Leicht mandelförmig geschnittene Augen und dunkles Haar mit einem Kastanienschimmer verliehen der zierlichen Person exotisches Flair. Wie Mike Rander hatte auch Kathy Porter das skurrile Paar aus Shepherd’s Market schon häufiger bei der Verbrecherjagd begleitet. Dabei kam ihr zugute, daß sie jahrelang mit Hingabe die Künste fernöstlicher Selbstverteidigung studiert hatte. Legten zudringliche Ganoven es darauf an, konnte sich die anschmiegsame Kathy im Handumdrehen in eine fauchende Pantherkatze verwandeln, die ihren Gegnern die scharfen Krallen zeigte. Agatha Simpson betrachtete beide als ihre Kinder und hätte sie zu gern vor dem Traualtar gesehen. Da die jungen Leute aber andere Vorstellungen von zeitgemäßer Partnerschaft hatten, blieb der Wunsch der älteren Dame bislang unerfüllt… * »Schade, daß ihr nicht früher gekommen seid, Kinder«, rief Agatha Simpson den Ankömmlingen entgegen. »Mich ruft wieder mal die Pflicht. In wenigen Minuten breche ich nach Narrowgate auf.« »Mister Parker sprach von Harrogate«, warf der Anwalt ein und zog sich einen Stuhl heran, während Kathy Porter an der Seite der Hausherrin auf dem Sofa Platz nahm. »Sagte ich das nicht, mein Junge?« tat die Detektivin verwun41
dert. »Sie müssen sich verhört haben. Verwechslungen von Namen kommen bei mir grundsätzlich nicht vor.« »Vielleicht habe ich mich wirklich verhört, Mylady«, sagte Rander und warf seiner Begleiterin einen belustigten Blick zu. »Was führt Sie denn ausgerechnet nach Harrogate, Mylady?« wollte Kathy Porter wissen. »Ich werde die Piraten dingfest machen, die dort ihr Unwesen treiben, Kindchen«, ließ die Hausherrin verlauten. »Piraten?« wunderte sich die junge Dame. »Ich dachte, die existieren nur noch in Abenteuerromanen. Außerdem liegt Harrogate doch gar nicht am Meer.« »Im vorliegenden Fall handelt es sich um moderne Piraten, die ihr Unwesen nicht auf See, sondern auf Straßen und Parkplätzen treiben, falls der erläuternde Hinweis erlaubt ist, Miß Porter«, schaltete Parker sich ein. »Ach, die Geschichte meinen Sie«, erinnerte sich der Anwalt. »Ich habe davon in der Zeitung gelesen. Die ›Pistenpiraten‹, wie sie in der Boulevardpresse genannt werden, haben bereits Beute in Millionenhöhe gemacht. Aber niemand weiß, wer dahintersteckt.« »Außer mir, mein lieber Junge«, warf Mylady sich in die ohnehin üppige Brust. »Heute abend schnappt die Falle zu. Dank meiner Taktik werde ich das Gesindel überwältigen und hinter Schloß und Riegel bringen.« »Nach Ansicht der Polizei soll es sich aber um eine weitverzweigte und straff organisierte Bande von professionellen Gangstern handeln, Mylady«, wandte Kathy Porter ein, die von den »Pistenpiraten« in den Fernsehnachrichten gehört hatte. »Na und?« gab die resolute Dame unbeeindruckt zurück. »Der Mensch wächst mit seinen Aufgaben, Kindchen. Und ein außergewöhnlicher Mensch kann sich nur an außergewöhnlichen Aufgaben bewähren.« 42
»Vielleicht können Sie trotzdem unsere Hilfe gebrauchen, Mylady«, bot Mike Rander an. »Kathy und ich haben heute abend sowieso nichts vor, und etwas Abwechslung würde uns bestimmt guttun.« »Mit Ihrer freundlichen Offerte kommen Sie einer entsprechenden Bitte meiner Wenigkeit zuvor, Sir«, Heß der Butler sich vernehmen. »Papperlapapp, Mister Parker«, fuhr Lady Agatha dazwischen. »Warum sollen wir denn zu viert in die Piratenkneipe gehen. Zu viele Köche verderben den Brei, wie ein Sprichwort sagt.« »Falls man nicht sehr irrt, planten Mylady zunächst das Warenlager der sogenannten Piraten in Augenschein zu nehmen«, behauptete Parker im Vertrauen auf das mangelnde Gedächtnis seiner Herrin. »In der Zwischenzeit könnten Miß Porter und Mister Rander unauffällig den Pub von Mister Phil Bronson in Harrogate observieren.« »Das wollte ich doch gerade sagen, Mister Parker«, fing Mylady geschickt den Ball auf, den der Butler ihr zuspielte. »Sie haben Glück, daß ich ein verständnisvoller und geduldiger Mensch bin.« »Brechen wir denn jetzt sofort auf?« verlangte Kathy Porter zu wissen. »In zehn Minuten, Kindchen«, vertröstete Agatha Simpson ihre Gesellschafterin. »Vorher muß ich unbedingt meinen Kreislauf pflegen.« Parker verstand den Wink mit dem Zaunpfahl sofort. Gemessen begab er sich zur Anrichte, holte den weggeschlossenen Sherry hervor und schenkte seiner Herrin ein. Die Zeit, die Agatha Simpson zur Pflege ihres Kreislaufs benötigte, benutzte der Butler, um Kathy Porter und den Anwalt in den bisherigen Stand der Ermittlungen einzuweihen. Wenig später rollten Mike Randers dunkelblauer Austin und Parkers hoch43
beiniges Monstrum aus dem stillen Wohnviertel auf die belebte Durchgangsstraße. * »Bin ich schon da, Mister Parker?« fragte Mylady mit schlaftrunkener Stimme. Sie war jäh aus sanftem Schlummer gefahren, als der Butler scharf bremste. Am Ausgang einer Kurve waren plötzlich die Rücklichter eines Lastwagens aufgetaucht. Das schwere Fahrzeug war zwar am Straßenrand abgestellt, verengte die Fahrbahn aber dennoch auf ein gefährliches Nadelöhr. Der Fahrer war gerade im Begriff gewesen auszusteigen. Als er Parkers altertümliches Vehikel nahen sah, hatte er die Tür jedoch rasch wieder zugeschlagen. »Bis zum Warenlager der ›Piraten‹ dürften es noch etwa zehn Meilen sein, wenn man sich nicht gründlich täuscht«, antwortete der Butler auf die Frage seiner Herrin. »Sofern Mylady keine Einwände erheben, würde man jedoch kurz halten und den Fahrer des Lastwagens bitten, sein Fahrzeug an einer weniger gefährlichen Stelle zu parken.« »Aber bitte keine langen Diskussionen, Mister Parker. Dafür ist jetzt keine Zeit«, mahnte die Detektivin, während der Butler das hochbeinige Monstrum in der Nähe des Lastwagens zum Stehen brachte. »Was ist denn los, Opa?« fragte der Lkw-Fahrer mürrisch, als Parker auf das Trittbrett stieg und an die Scheibe klopfte. Schleppend kurbelte der Mann das Fenster ein Stück herunter. »Sofern es nottut, würde man den Herren gern eine helfende Hand anbieten«, gab der Butler in seiner höflichen Art Auskunft. »Nicht nötig, Opa. Troll dich«, knurrte der Beifahrer. »Wir haben keine Panne.« »Unter diesen Umständen muß man Sie im Interesse anderer 44
Verkehrsteilnehmer höflich ersuchen, Ihr Fahrzeug an einem weniger gefährlichen Ort abzustellen«, fuhr der Butler fort, ohne den ruppigen Ton der Männer zur Kenntnis zu nehmen. »Haste nicht gehört, Opa?« nahm der Fahrer wieder das Wort. »Du sollst die Biege machen. Verschwinden. Abhauen. Und zwar ‘n bißchen plötzlich, kapiert?« »Bedauerlicherweise sieht man sich genötigt, mit allem Nachdruck an Ihre Vernunft zu appellieren«, blieb Parker hartnäckig. »Nur durch eine Notbremsung konnte meine Wenigkeit einen drohenden Auffahrunfall vermeiden, sofern der Hinweis gestattet ist.« »Wenn du nicht mal den dicken Brummi siehst, solltest du dir ‘ne Brille zulegen«, spottete der Beifahrer. »Bisher hatte man nicht den geringsten Anlaß, über mangelnde Sehschärfe zu klagen«, gab der Butler ungerührt zurück. »Schluß mit dem blöden Gequatsche!« unterbrach der Fahrer ungeduldig. »Scher dich weg, Opa. Das ist mein letztes Wort. Sonst mach ich dir Beine.« Als Parker keinerlei Anstalten machte, der Aufforderung nachzukommen, packte den Mann die Wut. »Jetzt reicht’s«, brüllte er. Parker, der mit eine Zuspitzung der Diskussion gerechnet hatte, sorgte jedoch dafür, daß das unfreundliche Vorhaben gründlich mißglückte. Gelassen trat er einen Schritt zur Seite, als der bullige Lastwagenlenker wütend die Tür aufstieß. Gleichzeitig ließ er den altväterlich gebundenen Universal-Regenschirm, der wie gewohnt am angewinkelten Unterarm hing, in die Waagerechte wippen. Sein Gegner stieß einen spitzen Schrei aus, als er das Hindernis zwischen den Beinen gewahrte. Die Absicht, mit schwungvollem Satz vom Trittbrett auf die Fahrbahn zu springen, ließ sich nun nicht mehr verwirklichen. 45
Statt dessen entschloß sich der Mann spontan zu einem Gleitflug. Wie schon viele vor ihm, scheiterte aber auch er an den ehernen Gesetzen der Schwerkraft. Er mochte mit den Armen rudern, soviel und so heftig er wollte, der nötige Auftrieb stellte sich dennoch nicht ein. Die Bauchlandung auf dem Asphalt mit der das Flugexperiment endete, schien ungemein schmerzhaft zu sein. Jedenfalls erweckte der Bruchpilot diesen Eindruck durch langgezogenes Jaulen, das er unmittelbar nach dem Aufsetzen produzierte. Da hielt es auch den Beifahrer nicht mehr auf seinem Platz. Mit katzenhafter Gewandtheit sprang der Mann auf der anderen Seite aus dem Fahrzeug und schickte sich an, den Aufbau des Lastwagens zu umrunden, um Parker in den Rücken zu fallen. Der Mann im schwarzen Covercoat war jedoch auf der Hut und durchkreuzte, die feindseligen Absichten seines Gegners ausgesprochen wirkungsvoll. Blitzschnell ging Parker in die Hocke, faßte nach seiner schwarzen Melone und ließ sie wie eine Frisbeescheibe unter dem Fahrzeug hindurchschwirren. Der Angreifer stöhnte erbärmlich, als die stahlgefütterte Krempe der fliegenden Kopfbedeckung über seine Kniescheibe strich. Der flammende Schmerz brachte ihn augenblicklich aus dem Tritt. Wimmernd stolperte der Mann noch ein paar Schritte weiter, ging anschließend in die Knie und suchte eilig den Kontakt zu Mutter Erde. Der langläufige Revolver, den er gezogen hatte, entglitt seiner Hand und schurrte über den Asphalt. »Ihre Umgangsformen geben eindeutig Anlaß zur Kritik«, bemerkte der Butler gelassen und nahm die Waffe an sich. »Halten Sie aus, Mister Parker! Ich komme Ihnen zu Hilfe«, dröhnte in diesem Moment Lady Simpsons weittragender Bariton durch die Nacht. »Ich habe Ihnen doch gleich gesagt daß das 46
eine Falle ist.« Als sie bis auf wenige Schritte heran war, erblickte sie die momentan etwas kampfmüde Lastwagenbesatzung. »Wenn ich nicht ständig meine schützende Hand über Sie halten würde, wären Sie schon längst ins Verderben gerannt, Mister Parker«, entfuhr es ihr. »Myladys grenzenlose Fürsorge verpflichtet meine Wenigkeit zu tiefer Dankbarkeit«, sagte der Butler in seiner unerschütterlichen Höflichkeit und setzte die Melone wieder auf. »Allem Anschein nach habe ich es mit gemeingefährlichen Kriminellen zu tun«, stellte Agatha Simpson mit sachverständiger Miene fest. »Eine Vermutung, der man sich vorbehaltlos anschließen möchte, Mylady«, stimmte der Butler ihr zu. Die dumpfen Geräusche, die in diesem Augenblick an sein Ohr drangen und von der Ladefläche zu kommen schienen, ließen die Vermutung schnell Gewißheit werden. * Ohne seine würdevolle Haltung zu verlieren, stieg Parker auf einen Meilenstein, faßte das schwarze Regendach an der Spitze und benutzte den Bambusgriff dazu, die am Heck geteilte Plane wie einen Vorhang aufzuziehen. »Was halte ich denn davon, Mister Parker?« erkundigte sich Agatha Simpson überrascht, als sie die gefesselten und geknebelten Männer auf der Ladefläche entdeckte. »Mylady dürften von der Annahme ausgehen, daß es sich bei den Herren um Opfer der sogenannten Piraten handelt, die vermutlich gerade an dieser Stelle ausgesetzt werden sollten«, gab der Butler zur Antwort. »Darauf wollte ich Sie auch schon aufmerksam machen, Mister 47
Parker«, behauptete die ältere Dame postwendend, derweil Parker sich anschickte, die Gefangenen von Stricken und Knebeln zu befreien. »Demnach muß es sich bei den Rüpeln, die ich gerade überwältigt habe, um Mitglieder der Piratenbande handeln«, schloß die passionierte Detektivin messerscharf. »Eine Annahme, der kaum zu widersprechen sein dürfte, Mylady«, ließ der Butler sich vernehmen, während er die letzten Knoten löste. »Mensch, haben wir Schwein gehabt«, freute sich der ältere der beiden Männer, ein hagerer Mittvierziger mit Nickelbrille und Borstenfrisur. »Ich dachte schon, die wollten uns umlegen.« »Solche Angst hab ich noch nie in meinem Leben ausgestanden«, bekannte sein Begleiter, ein junger Mann mit blondem Bartflaum im pausbäckigen Gesicht. »Darf man die Hoffnung äußern, daß Sie wenigstens körperlich unversehrt sind?« wollte Parker wissen. »Mein Schädel brummt höllisch«, erwiderte der Brillenträger. »Aber sonst ist alles okay.« »Mir geht’s genauso«, ergänzte der Pausbäckige. »Die Schurken müssen uns mit Chloroform oder ähnlichem Zeug betäubt haben.« »Möglicherweise können Sie sich dennoch erinnern, wo der Überfall auf Sie verübt wurde«, mutmaßte der Butler. »Klar, auf dem Rastplatz bei Darlington«, gab der Mann mit der Nickelbrille Auskunft. »Wir hatten gerade eine Pause eingelegt und wollten zwei Stunden schlafen.« »Eine Mitteilung, die man mit außerordentlichem Interesse zur Kenntnis nimmt«, äußerte Parker und warf seiner Herrin einen bedeutsamen Blick zu. »Warum ist, das interessant?« wollte der jüngere Mann wissen. »Ein ähnlicher Überfall wurde am gestrigen Abend dort ver48
übt«, teilte der Butler mit. »Vermutlich handelte es sich um Mitglieder ein und derselben Bande.« »Das ist ja ein starkes Stück«, kommentierte der Bebrillte. »Und die Polizei schläft den Schlaf des Gerechten.« »Aber für Kontrollen haben sie Zeit«, klagte der Pausbäckige. »Nur wenn man die Bobbies mal wirklich braucht, sind sie nicht in der Nähe.« »Darf man Ihre Äußerung gegebenenfalls so verstehen, daß Sie auf dem Rastplatz bei Darlington von der Polizei kontrollierte und nach Ihrer Ladung befragt wurden?« hakte Parker sofort nach. »Stimmt. Wieso?« »Sofern es sich bei den Herren überhaupt um Angehörige der Polizei handelte, dürften sie von den ›Piraten‹ bestochen worden sein«, entgegnete der Butler. »Falls man sich nicht gründlich täuscht, dienen die Kontrollen dem einzigen Zweck, den Lastwagen mit der wertvollsten Ladung zu ermitteln.« »Mann, Sie haben ja den totalen Durchblick«, staunte der Pausbäckige. »Sind Sie etwa von Scotland Yard?« »Papperlapapp, junger Mann«, übernahm Mylady die Antwort. Ein drohender Unterton war nicht zu überhören. »Oder Privatdetektiv?« forschte der Mann weiter. »Mister Parker ist mein Butler«, stellte Lady Agatha mit majestätischer Gebärde klar. »Ich bin die Privatdetektivin Agatha Simpson. Was Mister Parker eben referiert hat, ist das Ergebnis meiner Ermittlungen.« »Simpson? Nie gehört«, entschlüpfte es dem Hageren. Zu seinem Glück ging die leichtfertige Bemerkung in der Turbulenz der folgenden Sekunden unter. *
49
Der Bullige hatte sich unbemerkt von seiner Bauchlandung erholt, war auf die Füße gesprungen und machte Anstalten, sich von hinten auf den Butler zu stürzen. »Vorsicht!« schrie der Pausbäckige. Doch dieser Warnung hätte es nicht bedurft. Josuah Parker hatte die Schritte schon vernommen und wandte sich blitzschnell um. In der stolzen Haltung eines gefeierten Matadors sah er dem Angreifer entgegen und ließ seinen schwarzen Universal-Regenschirm in die Horizontale wippen. Für den Bulligen war es zum Bremsen zu spät, als er den unangenehmen Druck in der Magengrube verspürte. Röchelnd knickte der Mann in der Hüfte ein und gab unartikulierte Laute von sich, während die Schirmspitze eingehend das sensible Verdauungsorgan inspizierte. Mit kalkweißem Gesicht fiel der »Pirat« auf die Knie und verabschiedete sich schon nach wenigen Sekunden wieder von der Bühne. Dafür hielt sein Komplize, den der Schrei des Pausbäckigen aus dem Schlummer gerissen hatte, seinen Auftritt für gekommen. Federnd sprang er auf die Füße und nahm unverzüglich Kurs auf den Butler. In der Hand des Mannes blitzte der kalte Stahl eines Messers. Doch Lady Agatha, an deren Fülle der Weg des Angreifers vorbeiführte, war auf dem Posten. Der Pompadour jagte auf halbkreisförmiger Bahn seinem Ziel zu. Myladys sogenannter Glücksbringer traf den bedauernswerten Brillenträger, der dem Messerhelden reaktionsschnell nachspurtete. Parker, der das Unheil kommen sah, verhinderte jedoch das Schlimmste. Wie ein schwarzer Vogel glitt sein Bowler dem Hageren entgegen und schaffte die Landung auf dessen Kopf – Sekundenbruchteile vor dem Pompadour. 50
Der Mann hatte später einige Mühe, sich der ungewohnten Kopfbedeckung zu entledigen. Das tat seiner Dankbarkeit gegenüber dem Butler aber keinen Abbruch. Zunächst mußte Parker sich jedoch selbst in Sicherheit bringen. Mit einem raschen Schritt zur Seite ließ er den Messerstecher ins Leere laufen. Oder besser gesagt fliegen. Mit der Eleganz eines durchtrainierten Turmspringers hob der Angreifer vom Boden ab, als der bleigefüllte Bambusgriff von Parkers Universalschirm sich um seine Knöchel ringelte. Formvollendet schloß er seine sportliche Darbietung mit einer perfekten Rolle vorwärts ab, die jedoch unter lautem Platschen im Straßengraben endete. Willenlos ließ sich der verhinderte Messerheld, dem die Waffe verständlicherweise abhanden gekommen war, vor Mylady führen, die ihn mit grimmigen Blicken maß. »Stellen Sie meine Fragen, Mister Parker«, verlangte die Detektivin. »Darf Mylady davon ausgehen, daß Sie sich zur Bande der ›Piraten‹ zählen?« richtete der Butler das Wort an sein etwas unkonzentriert wirkendes Gegenüber. »Was für Piraten?« spielte der Mann den Ahnungslosen. »Möglicherweise ist dies geeignet, Ihr Erinnerungsvermögen zu aktivieren«, sagte Parker gleichmütig und zog den Revolver aus der Tasche. »Nein, nein«, wimmerte der Gangster unverzüglich. »Tun Sie bloß das Ding weg. Ich hab panische Angst vor Pistolen.« »Dieses Gefühl dürfte Ihnen aber nur zeitweise zu schaffen machen, falls man sich nicht sehr irrt«, entgegnete der Butler kühl. »Gegebenenfalls darf man Sie mit gewissem Nachdruck daran erinnern, daß Sie vor einer Viertelstunde im Begriff waren, diese Waffe auf meine bescheidene Wenigkeit zu richten.« 51
»Das ist was anderes«, behauptete der Mann. »Aber wenn ich in das kleine, schwarze Loch sehen muß, wird mir immer ganz übel. Ehrlich.« »Eine Reaktion, die man nur als verständlich bezeichnen kann und muß«, gab Parker seinem Gegenüber recht. »Auch Mylady und meine Wenigkeit mißbilligen den Gebrauch von Feuerwaffen. Keinesfalls sind sie geeignet, eine Gesprächsatmospähre herbeizuführen, falls der Hinweis gestattet ist.« »Sind Sie nun ein ›Pirat‹ oder nicht?« fuhr Agatha Simpson ungeduldig dazwischen. »Meine Zeit ist kostbar, junger Mann.« »Ja«, gestand der Gangster knapp. »Und wer ist Ihr Chef?« wollte die Detektivin weiter wissen. »Weiß ich nicht«, behauptete ihr Gegenüber. »Den kennt niemand von uns.« »Darf man unter Umständen die Vermutung äußern, daß der fragliche Herr sich gelegentlich in einer bestimmten Lokalität in Harrogate aufhält?« übernahm Parker wieder das Ruder. »Sie meinen Phil Bronsons Pub?« platzte der Mann heraus und biß sich im nächsten Moment auf die Lippen. »Na gut«, brummte er. »Was soll’s Sie wissen sowieso schon das meiste.« »Wovon Sie auf jeden Fall ausgehen sollten«, bestätigte der Butler. »Dennoch darf man Sie höflich um Beantwortung der Frage bitten.« »Ich hab den Boß noch nie gesehen. Weder bei Phil noch anderswo«, beteuerte der Ganove. »Jedenfalls nicht bewußt. Ich sagte doch schon, daß niemand ihn kennt.« »Dann geht Mylady vermutlich nicht fehl in der Annahme, daß der Inhaber des Lokals als Kontaktperson zwischen dem anonymen Chef und seinen Mitarbeitern fungiert«, bohrte Parker weiter. »Ich dachte, das wüßten Sie«, entgegnete der geständige Mann. 52
»Natürlich wußte ich das«, warf die ältere Dame schlagfertig ein. »Mister Parker sollte nur prüfen, ob Sie die Wahrheit sagen.« »Lügen kann ich doch überhaupt nicht«, konterte der Ganove mit dreistem Grinsen. »Jedenfalls nicht in meiner Gegenwart, junger Mann«, ergänzte Mylady selbstbewußt. »Habe ich noch Fragen, Mister Parker?« »Weitergehende Informationen dürften Mylady sich von einer eingehenden Unterredung mit Mister Phil Bronson erhoffen«, gab der Butler zur Antwort. »Dann fahre ich jetzt zum nächsten Einsatzort«, entschied die passionierte Detektivin, verabschiedete sich mit hoheitsvollem Kopfnicken und steuerte das hochbeinige Monstrum an. »Dürfte man Sie gegebenenfalls um eine kleine Gefälligkeit bitten?« wandte Parker sich an die rechtmäßige Besatzung des Lastwagens. »Klar. Es darf ruhig auch ‘ne große sein«, versicherten beide wie aus einem Mund. »Mylady und meine Wenigkeit wären Ihnen sehr verbunden, wenn Sie die beiden ›Piraten‹ bis zur nächsten Stadt auf der Ladefläche Ihres Fahrzeuges befördern könnten«, wurde der Butler konkret. »Die Beamten der Polizeistation dürften sich hocherfreut zeigen, die Bekanntschaft der erwähnten Herren machen zu können.« »Nichts lieber als das«, stimmten die Lastwagenfahrer zu. Parker schränkte vorsichtshalber die Bewegungsfreiheit der »Piraten« mit Handschellen aus speziell gehärtetem Stahl ein. Der Hagere und der Pausbäckige verfrachteten die Gangster auf die Ladefläche. Daß sie dabei besonders zartfühlend zu Werke gingen, konnte man allerdings nicht behaupten. »Man erlaubt sich, eine unbehelligte Fahrt zu wünschen«, sagte der Butler, nachdem die beiden sich überschwenglich bedankt 53
hatten und in ihr Fahrzeug geklettert waren. * »Dieser Abstecher, zum Warenlager der Piraten ist doch reine Zeitverschwendung, Mister Parker«, behauptete Agatha Simpson, als der Butler wenig später in das verlassene Industrierevier einbog. Gleich darauf wurde der Detektivin jedoch klar, das es hier mehr zu tun gab als nur eine langweilige Inventur. Geistesgegenwärtig schaltete Parker die Beleuchtung seines altertümlich wirkenden Gefährts aus, als er von weitem das hektische Treiben auf dem düsteren Gelände gewahrte. Ein halbes Dutzend Männer waren mit Gabelstaplern und Sackkarren an der Arbeit. »Höchste Zeit, daß ich dem Gesindel das Handwerk lege, Mister Parker«, kommentierte die ältere Dame. »Da wird ja schon wieder Diebesgut angeliefert.« »Myladys Aufmerksamkeit dürfte kaum entgangen sein, daß die Herren keineswegs mit Ent- sondern mit Beladen beschäftigt sind«, machte der Butler seine Herrin höflich auf den kleinen Irrtum aufmerksam. »Und was schließe ich daraus, Mister Parker?« wollte Lady Agatha wissen. »Mylady dürften der Annahme zuneigen, daß die ›Piraten‹ ihr Lager in aller Eile räumen und auflösen wollen, um einem möglichen Zugriff zuvorzukommen«, antwortete Parker. »Abgesehen von ihrem beträchtlichen Wert dürften die Warenbestände als belastendes Material gelten, falls der Hinweis genehm ist.« »Die Schurken haben also Lunte gerochen«, konstatierte Mylady grimmig. »Den Piraten dürfte kaum entgangen sein, daß der mit Whisky beladene Lastwagen von Mister Marvin Fields nicht am Bestim54
mungsort eintraf, sondern von der Polizei sichergestellt wurde«, merkte der Butler an. »Aber daß ich ihnen auf die Schliche gekommen bin und inzwischen den entscheidenden Schlag vorbereitete, ist den Piraten noch nicht aufgegangen«, erwiderte die Detektivin fröhlich. »Dank meiner Ermittlungsmethoden werden die Lümmel die Schlinge um den Hals erst spüren, wenn es schon zu spät ist, Mister Parker.« »Was eindeutig zu hoffen ist, Mylady.« »Ich denke, ich werde einen Überraschungsangriff führen und die Schurken im Handstreich überwältigen, Mister Parker«, entschied Agatha Simpson, während der Butler sein hochbeiniges Monstrum in sicherer Entfernung vom Geschehen am dunklen Straßenrand abstellte. »Möglicherweise haben Mylady bedacht, daß es sich um mindestens sechs Männer handelt, die mit Schußwaffen ausgerüstet sein dürften«, wandte Parker vorsichtig ein. »Insofern könnte ein offen vorgetragener Angriff unkalkulierbare Risiken einschließen, auch wenn er überraschend kommt.« »Richtig, Mister Parker«, stimmte die Detektivin umgehend zu. »Ich wollte nur prüfen, ob Sie auch mitdenken.« »Darum ist meine Wenigkeit ständig bemüht, Mylady«, versicherte der Butler. »Dann unterbreiten Sie mir ein paar hübsche Vorschläge, Mister Parker«, forderte Mylady ihn auf. »Mylady dürften dies vorziehen, die »Piraten« aus der Distanz in einen kampfunfähigen Zustand zu versetzen«, kam Parker dem Verlangen nach. »Das ist genau die Taktik, die ich für diesen Einsatz entwickelt habe«, behauptete Agatha Simpson erwartungsgemäß. »Die Details überlasse ich selbstverständlich Ihnen, Mister Parker.« »Man dankt für den ausgesprochen ehrenvollen Auftrag und 55
wird alles daransetzen, Mylady auf keinen Fall zu enttäuschen«, versprach der Butler. Anschließend verließ er seinen Platz hinter dem Lenkrad und assistierte diskret seiner Herrin, die einige Mühe hatte, ihre Fülle aus dem Fond des Wagens nach draußen zu hieven. Mit ungebetenen Besuchern schienen die »Piraten« zur Nachtzeit in dieser verlassenen Gegend nicht zu rechnen. Wachposten waren nirgendwo aufgestellt, wie Parker beim Näherkommen registrierte. Unbemerkt erreichte das Paar aus Shepherd’s Market die Einfahrt zum spärlich beleuchteten Fabrikhof. Ein Mauervorsprung bot ausreichenden Sichtschutz und konnte im Ernstfall als Kugelfang dienen. Gelassen zog der Butler seine Gabelschleuder aus einer der Außentaschen seines schwarzen Covercoats. Dabei handelte es sich im Prinzip um eine Zwille, wie auch böse Buben sie zur verbotenen Jagd auf Vögel benutzen. Parkers Spezialanfertigung war den primitiven Schleudern an Reichweite und Treffsicherheit jedoch haushoch überlegen. Sorgfältig plazierte der Butler eine hartgebrannte Tonmurmel in der Lederschlaufe und strammte die starken Gummistränge. Kurz und konzentriert visierte er sein erstes Ziel an, bevor der tönerne Gruß lautlos auf die Reise ging. Sekunden später zuckte einer der Männer, der abseits der Rampe an einem streikenden Gabelstapler hantierte, zusammen, als hätte er unversehens eine Hochspannungsleitung angefaßt. Instinktiv griff der »Pirat« nach der heftig schmerzenden Stelle am Hinterkopf, die die kleine Kugel sich zum Landeplatz erwählt hatte. Mit schwindenden Sinnen schickte er sich an, seine Kollegen durch eine Pirouette zu erfreuen, die aber mißglückte. Da alle anderen mit ihrer Arbeit beschäftigt waren und seiner Darbie56
tung keinerlei Beachtung schenkten, gab er sein Bemühen aber schon nach wenigen Augenblicken frustriert auf. Keiner der Ganoven bemerkte, wie ihr Komplize in den Knien einknickte und sich neben dem Gabelstapler zu einem Nickerchen ausstreckte. »… da waren’s nur noch fünf«, kam der älteren Dame plötzlich das deutsche Kinderlied von den zehn kleinen Negerlein in den Sinn. »Fünf kleine Negerlein, die tranken einmal Bier…«, fuhr sie heiter fort, während Parker die Gabelschleuder erneut lud und die nächste Murmel in Marsch setzte. »Einer hat zu viel getrunken, da waren’s nur noch vier«, trällerte die Detektivin fröhlich vor sich hin, als einer der »Piraten« die Arme in die Luft warf und samt vollgepackter Sackkarre von der Rampe kippte. »Weiter so, Mister Parker!« feuerte sie den Butler an und klatschte übermütig in die Hände. »Gleich sind es nur noch drei.« Auf der Verladerampe brach inzwischen Unruhe aus. Das verbliebene Piratenquartett ließ Arbeit Arbeit sein und scharte sich um den abgestürzten Karrenschieber, der nur noch undeutliche Lebenszeichen von sich gab. Erst als der nächste aus der Runde einen Schrei ausstieß und unter bemerkenswerten Verrenkungen zusammensackte, fiel bei den Gangstern der Groschen. Wie die Wiesel huschten die noch einsatzfähigen Drei über den Hof, rissen langläufige Automatics aus den Schulterhalftern und gingen hinter den Lastwagen in Deckung. Gerade hielt Parker die vierte Tonmurmel zwischen Daumen und Zeigefinger der schwarz behandschuhten Rechten, als das Brummen eines schweren Dieselmotors ihn aufhorchen ließ. Von der Durchgangsstraße her näherte sich ein Lastwagen. 57
Josuah Parker und Agatha Simpson reagierten blitzschnell und verschwanden hinter einem Stapel morscher Holzkisten. Sekundenbruchteile später hätten die Scheinwerfer des heranrollenden Gefährts das skurrile Paar erfaßt… * Unverzüglich ließ der Butler die Tonmurmel wieder in die Tasche gleiten und legte eine kleine Plastikkapsel in die Schlaufe der Gabelzwille. Er hatte bemerkt, daß das Fahrerfenster des Lastwagens geöffnet war und erblickte in diesem Umstand die willkommene Chance, die unverhoffte Verstärkung der Gegner außer Gefecht zu setzen. Von den starken Gummisträngen angetrieben, schoß das weiße Bällchen wie ein winziger Kugelblitz davon, als der Lkw gerade die Einfahrt passierte. Auf den ersten Blick erinnerte die Kapsel an einen Pingpongball. Erst bei näherem Hinsehen gewahrte man die Vielzahl feiner Löcher, mit denen die Oberfläche perforiert war. Knistern von splitterndem Glas wurde hörbar, als die Kugel ihren Flug mit einem Aufprall am Lenkrad des Lastwagens beendete. Anschließend rollte sie unter den Fahrersitz. Dort verband sich die glasklare Flüssigkeit aus der zerbrochenen Ampulle auf eine Weise mit dem Luftsauerstoff, die man nur als heftig bezeichnen konnte. Zischend strömte das betäubende Gas, das bei dieser Verbindung entstand, durch die winzigen Löcher des Pingpongbällchens und füllte im Nu die Fahrerkabine. Wie schnell dieses hochwirksame, aber in punkto Gesundheit unbedenkliche Betäubungsmittel wirkte, wurde überdeutlich, als der Lastwagen schon nach wenigen Metern Fahrt in beängstigende Schlingerbewegungen geriet. Fahrer und Beifahrer, die 58
von quälenden Hustenanfällen geschüttelt wurden, waren offensichtlich mit der Bedienung von Lenkrad, Gaspedal und Bremse überfordert. In wildem Slalom donnerte das schwere Gefährt über den Hof und nahm unübersehbar Kurs auf die beiden anderen Laster an der Rampe. Augenblicklich ergriff die ›Piraten‹, die hinter den Fahrzeugen Deckung gesucht hatten, panische Angst. Hysterische Schreie ausstoßend, brachten sie sich vor dem heranrasenden Verderben in Sicherheit. Allerdings gerieten sie dadurch wieder ins Schußfeld des Butlers, der gelassen die Gelegenheit wahrnahm, das Trio auf ein Duo zu reduzieren. In diesem Augenblick hatte der führerlose Lastwagen seinen Bestimmungsort erreicht. Krachend bohrte sich die wuchtige Schnauze in die Flanke des ersten Hindernisses und warf es zur Seite wie einen leeren Pappkarton. Zersplitterte Bretter, Fetzen der Plane und Kartons, die offensichtlich mit Flaschen gefüllt waren, flogen nach allen Seiten und verwandelten die Umgebung in ein Trümmerfeld. Doch noch war die Amokfahrt nicht beendet. Erst der zweite Lastwagen schaffte es, das außer Kontrolle geratene Ungetüm zu stoppen. Allerdings kippte der vierrädrige Prellblock dabei auf die Seite und entledigte sich abrupt seiner Ladung, die aus hochwertigem, aber nicht ganz bruchsicher verpacktem Porzellan zu bestehen schien. Das Klirren und Scheppern war allerdings nur undeutlich zu vernehmen, da es von einem anhaltenden Hupton überlagert wurde. Offenbar war der Fahrer endlich in erlösenden Schlummer gefallen und hatte sein müdes Haupt auf den entsprechenden Knopf gebettet. Die Hupe hupte unablässig… 59
Die beiden ›Piraten‹, die als letzte noch auf den Beinen waren, scherte das wenig. Jedenfalls trafen sie keine Anstalten, den nervtötenden Lärm zu beenden, und blieben verschwunden. »Die feigen Lümmel haben sich irgendwo verkrochen oder sind längst über alle Berge«, mutmaßte Lady Agatha. »Sie haben eingesehen, daß sie gegen mich keine Chance haben.« »Was man mit allen Nachdruck unterstreichen möchte, Mylady«, sagte Parker mit einer tiefen Verbeugung. »Darf man im übrigen um Aufklärung darüber bitten, wie Mylady weiter vorzugehen gedenken?« »War da nicht noch irgendeine zwielichtige Spelunke, die ich unter die Lupe nehmen wollte, Mister Parker?« kramte die ältere Dame mit allen Zeichen der Anstrengung in ihrem manchmal etwas störrischen Gedächtnis. »Mylady dürften den Pub von Mister Phil Bronson in Harrogate meinen«, half der Butler ihr höflich auf die Sprünge. »Richtig, der Name Ronson lag mir auf der Zunge, Mister Parker«, nickte Agatha Simpson eifrig. »Aber vorher werde ich mir doch einen persönlichen Eindruck von dem Beutelager der ›Piraten‹ verschaffen, wenn ich schon mal hier bin.« »Gelegenheit zu eingehender Besichtigung dürfte sich auch zu einem späteren Zeitpunkt noch ergeben, falls der Hinweis gestattet ist«, wandte Parker vorsichtig ein. »Fraglos dürften Mylady in Betracht ziehen, daß die entkommenen ›Piraten‹ unverzüglich ihren Auftraggeber in Kenntnis setzen.« »Na und, Mister Parker?« »Mylady dürften mit dem kurzfristigen Eintreffen von Verstärkung rechnen.« »Nicht so ängstlich, Mister Parker! Mit dem Rest der Piratenbande werde ich auch noch fertig.« »Überdies dürfte eine überraschende Festnahme des Bandenchefs auf erhebliche Schwierigkeiten stoßen, Mylady.« 60
»Ach, die paar Minuten!« schob die passionierte Detektivin die Bedenken ihres Butlers beiseite und nahm forschen Kurs auf die Laderampe. Josuah Parker folgte ihr unverzüglich und ließ den geschulten Blick aufmerksam über Hof und Gebäude gleiten. Nirgendwo regte sich etwas Verdächtiges. Ob das »Piraten«-Duo wirklich das Weite gesucht hatte? * »Keine üble Ware, Mister Parker.« Mit begehrlichen Blicken stand Agatha Simpson vor einem Rollständer, auf dem in dichter Folge drei Dutzend Pelzmäntel hingen. Jedes einzelne Stück war ein Vermögen wert. »Der gefällt mir besonders gut, Mister Parker. Den möchte ich anprobieren.« Die ältere Dame zeigte auf einen wallenden Traum aus schneeweißem Hermelin. »Wie Mylady wünschen«, reagierte der Butler mit unbewegter Miene und griff… nicht nach dem Mantel, sondern nach einem Pfosten des Ständers. Mit der schwarz behandschuhten Rechten versetzte er dem rollenden Stahlrohrgestell einen derartigen Schubs, daß Mylady erschreckt aufschrie, als der schwere Ständer samt Pelzen an ihr vorbei auf die Rampe schoß. Im nächsten Augenblick stieß noch jemand einen Schrei aus. Es war einer der verbliebenen »Piraten«, der sich mit der Waffe in der Hand angepirscht hatte. Dank Parkers schneller Reaktion kam der Gangster jedoch nicht mehr dazu, seine langläufige Automatic einzusetzen. Der unaufhaltsam rollende Ständer fegte ihn mühelos von der Rampe. Gleichzeitig waren eilige Schritte zu hören, die sich rasch entfernten. Das mußte der Zweite im Bund sein, der nun wirklich 61
eingesehen hatte, daß ihm gegen Agatha Simpson keine Chance blieb. Parker begab sich zwar umgehend auf die Rampe und zog im Gehen schon die Gabelschleuder heraus, aber der Gangster war entkommen. Dafür machte der Butler sich auf die Suche nach dem Komplizen und fand ihn begraben unter einem Berg edler Pelze. Der Mann wehrte sich nur schwach, als die Handschellen aus Spezial-Stahl klickten. Während Mylady sich weiter in den Warenbeständen der »Piraten« umsah, als wäre nichts geschehen, und dabei gelegentlich entzückte Rufe ausstieß, schritt Parker zum hochbeinigen Monstrum hinüber und plünderte seinen Vorrat an Handschellen. Immerhin galt es, noch weitere sechs Gangster wirksam in ihrer Bewegungsfreiheit einzuschränken… * Als Parker Mylady endlich auf diskrete Weise den Abgang schmackhaft gemacht hatte, waren aus den fünf Minuten, von denen sie gesprochen hatte, schon fast zwanzig geworden. Sobald die Detektivin im gepolsterten Fond Platz genommen hatte, startete er sein schwarzes Gefährt und legte ein scharfes Tempo vor. Ein Auto hatte der entkommene »Pirat« für seine Flucht offenbar nicht zur Verfügung gehabt. Eine Gelegenheit zum Telefonieren schien es in weitem Umkreis auch nicht zu geben. Vielleicht gab es noch eine Chance, Phil Bronsons Pub zu erreichen, bevor die Alarmmeldung dort einlief. »Ich hätte mir wenigstens ein paar hübsche Andenken mitnehmen sollen, Mister Parker«, sagte die ältere Dame, die mit ihren Gedanken ganz woanders war. »Wenn erst die Polizei da herumschnüffelt und alles peinlich genau notiert…« 62
»Darf man in aller Bescheidenheit fragen, wie Mylady die Bezahlung zu regeln gedachten?« erkundigte sich der Butler über die Sprechanlage, die Fond und Fahrerplatz verband. »Bezahlung?« wiederholte die sparsame Dame irritiert »Wie meinen Sie das, Mister Parker?« »Eine Mitnahme ohne Bezahlung dürfte zu gewissen Mißdeutungen Anlaß geben, falls der Hinweis erlaubt ist.« »Wer wird sich denn über Kleinigkeiten aufregen, Mister Parker?« »Falls man nicht sehr irrt, dürften die rechtmäßigen Eigentümer Besitzansprüche auf die gestohlene Ware anmelden, Mylady.« »Hätte ich die ›Piraten‹ nicht zur Strecke gebracht, hätten die Leute ihre Ware sowieso nie wiedergesehen, Mister Parker«, breitete Agatha Simpson ihre persönliche Sicht der Dinge aus. »Da können sie doch froh sein, wenn sie wenigstens den größten Teil zurückbekommen.« »Eine Einschätzung, die von der Polizei und von den Gerichten im Ernstfall nicht unbedingt geteilt werden dürfte, Mylady.« »Den Anspruch auf eine Belohnung können mir weder Polizei noch Gericht streitig machen«, erwiderte die resolute Dame. »Eine Feststellung, der man keinesfalls widersprechen möchte, Mylady. Anläßlich seines Besuches machte Mister McWarden übrigens beiläufig eine entsprechende Andeutung, sofern die Mitteilung genehm ist.« »Was für eine Andeutung?« schnappte Lady Agatha sofort zu. »Mister McWarden sprach davon, daß die Arbeitsgemeinschaft der Transportversicherungsunternehmen eine Belohnung von fünftausend Pfund für die Aufklärung der Überfallserie ausgelobt habe.« »Fünftausend Pfund?« Nachdenklich malte Parkers Herrin die Zahl mit dem Finger an die Trennscheibe aus Panzerglas. »Viel63
leicht sollte ich die Ermittlungen eine Weile ruhen lassen, um den Preis in die Höhe zu treiben.« »Fraglos haben Mylady bedacht, daß die ›Piraten‹ sich in der Zwischenzeit ins Ausland absetzen könnten.« »Selbstverständlich habe ich das bedacht, Mister Parker«, gab die ältere Dame eilig zurück. »Es sollte ja nur ein Scherz sein.« Rechts und links der Straße tauchten die Außenbezirke von Harrogate auf. Parker schaltete das Sprechfunkgerät ein und betätigte die Ruftaste. »Hallo, Parker?« war gleich darauf Mike Randers Stimme zu hören. »Darf man sich nach Ihrem und Miß Porters wertem Befinden erkundigen, Sir?« meldete sich der Butler auf seine höfliche Art. »Ein bißchen langweilig, aber sonst geht’s, Parker«, gab der Anwalt zurück. »Wir haben die Kneipe aus schätzungsweise hundert Meter Entfernung im Blick. Vorübergehend war ich auch mal drin und habe ein Bier getrunken. Die Gäste sind nicht von der feinsten Art, aber Bemerkenswertes ist mir nicht aufgefallen.« »Eine Nachricht, die man mit einer gewissen Erleichterung zur Kenntnis nimmt, Sir.« »Wieso, Parker?« wollte Rander wissen und ließ sich in knappen Sätzen das turbulente Geschehen rund um die Lagerhallen der »Piraten« schildern. Mit besonderem Interesse nahm er die Mitteilung von der Flucht des letzten Ganoven auf. »Wenn der Kneipier nicht schon gewarnt ist, müssen wir in den nächsten Minuten damit rechnen, Parker«, folgerte der Anwalt aus dem Tatbestand. »Soll ich schon mal reingehen und die aktuelle Lage sondieren?« »Diese Mühe dürfte sich erübrigen, da Mylady in wenigen Minuten eintreffen wird, um die geplante Unterredung mit Mister Bronson zu führen«, erwiderte Parker. »Deshalb würde 64
meine Wenigkeit Sie höflich bitten, auf Ihrem Posten auszuharren, bis konkrete Ereignisse ein Eingreifen Ihrerseits angeraten erscheinen lassen, Sir.« »Okay, Parker«, versprach Rander. »Kathy und ich werden weiterhin die Augen offenhalten.« Bevor der Butler die Verbindung wieder unterbrach, ließ er sich von seinem Gesprächspartner noch den genauen Weg durch die Stadt schildern. »Bis zum Ziel dürften es nur noch wenige hundert Meter sein, Mylady«, meldete er anschließend seiner Herrin, die den perlenbestickten Pompadour umgehend in erwartungsvolle Schwingung versetzte. * Phil Bronsons Kneipe, die unter dem Namen ›Golden Pub‹ firmierte, hatte ihre goldenen Zeiten längst hinter sich. Von außen machte das Etablissement einen mindestens ebenso heruntergekommenen Eindruck wie die trostlosen Wohn- und Geschäftshäuser der Umgebung. Höflich lüftete Parker seine Melone, als das hochbeinige Monstrum an Randers geschickt geparktem Austin vorbeirollte. Anschließend stellte er seinen Privatwagen in einer düsteren Seitenstraße ab und half Mylady beim Aussteigen. »Hoffentlich leistet der Lümmel tüchtigen Widerstand, Mister Parker«, äußerte die unternehmungslustige Dame, während man im Schein spärlich verteilter Straßenlampen zum Lokal schritt. »Ich kann diese Waschlappen nicht leiden, die schon das Hasenpanier ergreifen, wenn ich nur auf der Bildfläche erscheine.« »Was eindeutig für Myladys Mut und Tatkraft spricht«, ließ der Butler sich vernehmen und entlockte damit der älteren Dame ein geschmeicheltes Lächeln. 65
»Leider ist der Rest für eine Detektivin reine Routinesache«, erklärte Mylady großspurig. »Nach dem bisherigen Erfolg dürften von den ›Piraten‹ ohnehin nur noch versprengte Reste übrig sein.« Daß die passionierte Detektivin mit dieser Einschätzung gründlich danebenlag, sollte sich schon bald herausstellen. »Man erlaubt sich, allerseits einen angenehmen Abend zu wünschen«, sagte Parker und lüftete andeutungsweise seine Kopfbedeckung. Wohl ein Dutzend Augenpaare fixierte argwöhnisch den schwarz gewandeten Butler, der seiner Herrin die verglaste Eingangstür aufhielt. Das Interieur des Lokals überraschte durch eine leidlich geschmackvolle und behagliche Einrichtung. Über den runden Marmortischen im Bistrostil hingen kugelförmige Lampen aus glasierter Keramik. Im offenen Kamin glommen ein paar dicke Scheite. Der Mann hinter der messingbeschlagenen Theke mochte knapp über vierzig sein. Die kleinen, stechend schwarzen Augen unter den buschigen Brauen wanderten unstet hin und her. Fast ebenso auffällig war das ausladende Riechorgan des Mannes, das unwillkürlich an den Schnabel eines Raubvogels erinnerte. Gemessen und würdevoll, als hätte er einen Ladestock verschluckt, schritt Parker auf den Unbekannten zu, dessen athletische Figur nur unvollständig zur Wirkung kam. »Darf man hoffen, Mister Phil Bronson persönlich gegenüberzustehen?« erkundigte er sich mit einer angedeuteten Verbeugung. Der Mann am Zapfhahn zog die Stirn kraus und musterte den Butler blitzschnell von Kopf bis Fuß. »Und wenn ich es wäre?« fragte er mißtrauisch. »Mylady hat weder Mühen noch Wege gescheut, um mit Mis66
ter Bronson ein eingehendes und hoffentlich klärendes Gespräch zu führen«, antwortete Parker. »Worüber will die alte Schachtel denn mit mir reden?« wollte Bronson belustigt wissen. »Über eine Organisation, die sich ›Piraten‹ nennt, Mister Bronson«, erwiderte Parker. Da Agatha Simpson die Beleidigung offenbar überhört hatte, nahm auch er sie nicht zur Kenntnis. »Über welche Piraten?« wiederholte Bronson in beiläufigem Ton, ohne das nervöse Zucken seiner Mundwinkel ganz unterdrücken zu können. »Nie gehört. Wer soll das sein?« In diesem Moment hielt draußen mit quietschenden Bremsen ein Auto. Sekunden später flog die Eingangstür auf, ein Mann stürmte ins Lokal. »Da… das sind sie!« stammelte er und blieb wie angewurzelt stehen. Fassungslos starrte er das Paar aus Shepherd’s Market an und rang heftig nach Atem. Weiterer Worte bedurfte es nicht. Phil Bronson und seine Gäste wußten schon, was sie zu tun hatten. Im Vertrauen auf tatkräftige Unterstützung warf sich der geflüchtete »Pirat« mit einem wütenden Aufschrei in Parkers Richtung. Dabei übersah der Mann jedoch völlig, daß der Butler ihm schon den altväterlich gebundenen Regenschirm wie einen Degen entgegenstreckte. Der unbesonnene Angreifer fauchte wie eine altersschwache Lokomotive und gab schlagartig alle Atemluft von sich, als die bleigefütterte Schirmspitze ungeniert auf seinem Solarplexus spazierenging. Japsend knickte er in der Hüfte ein, torkelte im Zickzack und warf sich der Detektivin zu Füßen, die ihn mit entrüstetem Blick bedachte. »Auf sie!« kommandierte Bronson hinter der Theke. Dabei hatte er nicht die geringste Veranlassung, seine Gäste anzufeuern. Die Saalschlacht war nämlich schon in vollem Gang. Stühle flogen mit Fäusten um die Wette. Flaschen klirrten. 67
»Endlich mal eine hübsche Abwechslung, Mister Parker«, urteilte die resolute Lady und ließ munter ihren »Glücksbringer« kreisen. Ein Zweizentnermann, der in die Bahn des perlenbestickten Handbeutels geraten war, riß gleich mehrere Tische um und ließ sich mit Anzeichen der Erschöpfung in den glimmenden Scheiten des Kaminfeuers nieder. Ehe der Mann den Irrtum bemerkte, stand seine Hose in hellen Flammen. Hysterisch kreischend wälzte er sich am Boden, um den Brand zu löschen. Parker kämpfte an mehreren Fronten gleichzeitig, ohne auch nur einen Moment seine würdevolle Haltung zu verlieren. Rechts fegte er einem anstürmenden Gegner mit dem bleigefüllten Bambusgriff seines schwarzen Universalschirmes die Beine unter dem Leib weg, links versetzte er einer der kugelrunden Keramiklampen einen Stoß und ließ sie dem nächsten Angreifer entgegenschwingen. »Welch herrliche Musik, Mister Parker!« freute sich Lady Agatha, als die Stirn des Ganoven der tönernen Kugel einen dunklen, vollen Glockenton entlockte. »Eine Feststellung, der man sich – mit Verlaub – nur anschließen kann, Mylady«, antwortete der Butler gelassen und griff rasch nach seinem Bowler. Im nächsten Augenblick schwirrte die schwarze Halbkugel davon und suchte sich unbeirrbar ihr Ziel. Sirrend strich die messerscharfe Stahlkrempe über eine Hand, die gerade eine großkalibrige Pistole entsichern wollte. Polternd fiel die Waffe zu Boden, während ihr Besitzer sich im Kriegstanz übte und ein waschechtes Indianergeheul produzierte. Wie aus dem Erdboden gewachsen, erschienen plötzlich auch Mike Rander und Kathy Porter auf der Bildfläche. Gelassen demonstrierte die zierliche junge Dame schulmäßige Schulter68
würfe am laufenden Band und teilte zwischendurch Handkantenschläge nach allen Seiten aus. Die knallharten rechten und linken Haken, mit denen der Anwalt in das Getümmel eingriff, taten ein übriges – Phil Bronson und seine Leute gerieten unübersehbar in die Defensive. »Finger weg!« rief Rander unvermittelt, als die Schlacht sich dem Ende zuneigte. Er hechtete mit einem gewagten Sprung über die Theke hinweg auf Bronson zu. Mehr oder weniger zufällig hatte der Anwalt bemerkt, wie der Kneipier zum Telefonhörer griff und die Nummernscheibe drehte. Phil Bronson stöhnte dumpf, als Randers harte Rechte seine Kinnlade massierte. Der Wirt landete in einem Gläserregal, das krachend und klirrend in sich zusammenbrach. Der Telefonhörer entglitt seiner Hand und hing baumelnd an der Schnur. Zum Telefonieren war Bronson nicht mehr gekommen. Aber die Verbindung hatte er noch herstellen können. Als der Anwalt das Ohr an die Muschel preßte, waren noch undeutliche Stimmen am anderen Ende der Leitung zu vernehmen. Im nächsten Moment knackte es. Wen immer Phil Bronson angerufen hatte – der Unbekannte hatte aufgelegt. Zweifellos war er Ohrenzeuge des turbulenten Geschehens geworden und würde seine Schlüsse daraus ziehen. * Minuten später hatten Parker und Rander Bronsons kampfmüde Gäste im Heizungskeller verstaut und die stählerne Feuerschutztür gewissenhaft abgeriegelt. Nur der Lokalinhaber selbst genoß die zweifelhafte Ehre, Lady Simpson für ein Verhör zur Verfügung stehen zu dürfen. Im karg eingerichteten Hinterzimmer hatte der Butler ihn auf einen Stuhl gesetzt und mit Handschellen an die Rückenlehne 69
gekettet. »Sorgen Sie dafür, daß der Rüpel mir unverzüglich Rede und Antwort steht, Mister Parker«, sagte die Detektivin ungeduldig, als Bronson leise wimmerte und keine Anstalten machte, die Augen zu öffnen. »Wie Mylady wünschen.« Parker zog ein Flasche aus der Tasche, das ein bewährtes Hausmittel enthielt. »Wo bin ich?« stöhnte der Gangster mit schwacher Stimme, als ihm der stechende Geruch des Riechsalzes in die Nase stieg. Zögernd schlug er die Augen auf und sah mit glasigem Blick in die Runde. »In sicherem Gewahrsam, junger Mann«, fuhr Agatha Simpson ihn an und baute sich in der Pose einer zürnenden Rachegöttin vor dem irritiert wirkenden Kneipier auf. »Alles, was mir noch fehlt, ist Ihr Geständnis.« »Schön und gut«, brummte Bronson und bewegte vorsichtig die lädierte Kinnlade. »Aber was für ein Geständnis denn?« »Geben Sie zu, da Sie der Chef der ›Piraten‹ sind, die unzählige Lastzüge geraubt und mir nach dem Leben getrachtet haben?« grollte Mylady und ließ nachdrücklich ihren Pompadour wippen. »Ich soll der Chef der ›Piraten‹ sein?« lachte Bronson bitter. »Da sind Sie aber ganz schön auf dem Holzweg, Madam.« »Darf man eine Erklärung erwarten, wie Sie die Äußerung verstanden wissen möchten, Mister Bronson?« schaltete der Butler sich ein. »Wenn ich wirklich Chef der ›Piraten‹ wäre, hätte ich es bestimmt nicht nötig, diese miese Kneipe zu betreiben«, erwiderte der Gastwirt. »Eine Feststellung, die nur schwer zu bestreiten sein dürfte«, räumte Parker ein. »Papperlapapp, Mister Parker«, fuhr Agatha Simpson dazwi70
schen. »Sie sind wieder mal viel zu leichtgläubig. Die Kneipe dient doch nur zur Tarnung.« »Ach was«, schüttelte Bronson den Kopf. »Ich kenne den Chef der Piraten ja nicht mal.« »Dennoch darf Mylady von der Annahme ausgehen, daß Sie über intensive Kontakte zu der genannten Organisation verfügen, Mister Bronson?« Der Lokalinhaber schwieg und schien krampfhaft nach Ausflüchten zu suchen. »Wer schweigt, scheint zuzustimmen, Mister Bronson«, meldete sich nun auch der Anwalt zu Wort. »Das sagten schon die alten Römer.« »Kann sein, daß ab und zu ein paar ›Piraten‹ bei mir ihr Bier trinken«, gestand der Gastwirt. »Aber niemand kann von mir verlangen, daß ich jeden Gast frage, womit er sein Geld verdient.« »Bedauerlicherweise sieht man sich genötigt, Sie mit den Aussagen diverser Bandenmitglieder zu konfrontieren, Mister Bronson«, übernahm Parker wieder den Ball. »Danach erscheint Ihre Rolle in einem gänzlich anderen Licht, falls die Anmerkung erlaubt ist.« »So?« tat Bronson ahnungslos. »Übereinstimmend wurde Mylady mitgeteilt, daß Sie als Mittelsmann zwischen Befehlshaber und Fußvolk fungieren, wenn man es mal so ausdrücken darf, Mister Bronson«, wurde der Butler deutlicher. »Das haben die Burschen Ihnen erzählt?« Zornröte huschte über Bronsons blasses Gesicht. »Wird’s bald?« drängelte Lady Agatha. »Wenn Sie sich nicht unverzüglich zu einem Geständnis bequemen, sehe ich mich leider gezwungen, meine Vernehmungsmethode drastisch zu verschärfen.« 71
»Ist doch alles maßlos übertrieben, Madam«, behauptete der Lokalbesitzer während seine kleinen, schwarzen Augen argwöhnisch dem perlenbestickten Pompadour folgten, der zudringlich vor seiner Nase wippte. »Hin und wieder gebe ich mal eine Nachricht weiter. Das ist alles.« »Und da wollen Sie noch bestreiten, daß Sie mit dem Chef der ›Piraten‹ in Verbindung stehen, Bronson?« hielt Rander dem Gastwirt vor. »Vermutlich wollen Sie uns gleich auch noch erzählen, daß es Ihre Schwiegermutter war, die Sie vorhin anzurufen versuchten?« »Was für einen Anruf meinen Sie?« fragte der Ganove mit deutlichen Anzeichen von Irritation. Erst allmählich dämmerte ihm die Erinnerung an den Versuch, der durch den energischen Einsatz des Anwalts ein vorzeitiges Ende gefunden hatte. »Wenn es nicht der Chef der ›Piraten‹ war, bei dem Sie Verstärkung anfordern wollten – wer dann?« wollte der Anwalt wissen. »Ricky Mailer«, antwortete Bronson knapp. »Möglicherweise darf man auf einen erklärenden Hinweis hoffen, wer dieser Mister Mailer ist?« ließ Parker sich vernehmen. »Ricky ist mein Kontaktmann«, gab sein Gegenüber Auskunft. »Nur er weiß, wer tatsächlich Chef der ›Piraten‹ ist.« »Nichts als Ausflüchte«, grollte die passionierte Detektivin. »Aber verlassen Sie sich drauf, junger Mann: Ich werde Ihre Angaben gnadenlos überprüfen. Und diesen Mister Sailor werde ich mir natürlich auch vorknöpfen.« »Mailer heißt der Mann«, korrigierte Bronson. »Nichts anderes habe ich gesagt«, fuhr Mylady ihm über den Mund. »Mein Namensgedächtnis ist über jeden Zweifel erhaben. Mister Parker, lassen Sie sich jetzt von Mister Ronson sagen, wo ich Mister Tailor finden kann«, ordnete die Detektivin an. »Nicht mehr nötig«, meldete Rander, der kurz in den Gastraum 72
hinübergegangen war. »Er ist schon da, wenn nicht alles täuscht.« * Hinter dem Türvorhang beobachtete der Anwalt, wie in scharfem Tempo drei schwarze Limousinen vorfuhren. Zwei der offensichtlich gepanzerten Fahrzeuge stoppten rechts und links des »Golden Pub« auf der anderen Straßenseite, das dritte bog auf wimmernden Pneus in die nächste Querstraße. Langsam wurden an den beiden Wagen, die Rander noch im Blick hatte, die Seitenfenster ein Stück gesenkt. Als die Läufe mehrerer Maschinenpistolen sichtbar wurden, zog der Anwalt es vor, seinen Spähposten zu verlassen und ins Hinterzimmer zurückzukehren. »Die Falle ist zugeschnappt«, teilte Rander trocken mit. Bestürzung schien diese Nachricht nicht auszulösen. Auf Josuah Parkers und Kathy Porters Gesicht zeigte sich überhaupt keine Reaktion. Phil Bronsons Miene spiegelte aus verständlichen Gründen eine gewisse Erleichterung wider. Mylady bekam sogar vor Eifer glühende Backen und rieb sich mit allen Anzeichen überschäumender Vorfreude die Hände. »Dann werde ich die Falle eben durchbrechen, mein Junge«, verkündete sie unternehmungslustig. »Ich werde die Lümmel genauso in die Knie zwingen wie ihre dreiundzwanzig Komplizen, die ich schon überwältigt habe.« Parker rechnete rasch im Kopf nach, kam aber selbst bei großzügigster Auslegung auf höchstens neun überwältigte »Piraten«. Es sei denn, Mylady hätte Phil Bronsons gesammelte Gästeschar komplett auf ihrem Konto verbucht. »Das Haus ist umstellt, Mylady«, wurde der Anwalt deutlicher. »Jeder Schritt vor die Tür käme einem glatten Selbstmord 73
gleich.« »Dann werde ich diese gewissenlosen Subjekte eben mit einer List besiegen«, wußte die passionierte Detektivin sofort Rat. »Mister Parker, Sie dürfen mir ein paar hübsche Vorschläge unterbreiten.« »Man wird sich nach Kräften bemühen, Mylady zufriedenzustellen und dabei auch die nötige Eile walten lassen«, versprach der Butler und wandte sich unverzüglich an Bronson. »Darf Mylady möglicherweise erwarten, daß dieses Gebäude über einen Hinterausgang verfügt, Mister Bronson?« erkundigte er sich. »Jetzt stecken Sie ganz schön in der Klemme, was?« höhnte der Gangster. »Suchen Sie sich doch Ihren Hinterausgang. Das ist Ihr Problem, nicht meins.« »Wenn Sie sich querlegen, zwingen Sie mich, ungemütlich zu werden, Bronson«, drohte Mike Rander und hielt dem Kneipier die geballte Faust unter die Nase. »Ja, das Haus hat einen Hinterausgang«, teilte Bronson prompt mit. Er verzog das Gesicht zu schadenfrohem Grinsen, ehe er fortfuhr: »Aber das wird Ihnen auch nicht helfen. Der Hinterausgang führt nur auf den Hof, und der ist von haushohen Mauern umgeben.« »Merken Sie denn nicht, daß es keinen Sinn hat, diesen abgefeimten Schurken zu fragen, Mister Parker?« schaltete Agatha Simpson sich ein. »Denken Sie sich doch einfach etwas anderes aus.« »Wie Mylady wünschen«, antwortete der Butler mit einer leichten Verneigung. »Es stimmt, was Bronson sagt. Vom Hof herunterzukommen, ist unmöglich«, meldete Kathy Porter, die in der Zwischenzeit den Hinterausgang gesucht und gefunden hatte. 74
»Möglicherweise dürfte Ihnen entgangen sein, daß Sie gleichfalls ›ganz schön in der Klemme stecken‹, wie Sie sich auszudrücken beliebten, Mister Bronson«, wandte Parker sich noch mal an den Inhaber. »Ich – wieso?« schien der Hakennasige verunsichert. »Wollen Sie mich etwa als Geisel benutzen?« »Eine Anregung, die zweifellos näherer Betrachtung wert sein dürfte, Mister Bronson«, bemerkte der Butler. »In der Tat, Mister Parker«, nickte Lady Agatha eifrig. »Genau das ist es, was ich anordnen wollte.« »Sind Sie sicher, daß den Herren dort draußen Ihr Leben soviel wert ist, daß sie dafür Mylady, Miß Porter, Mister Rander und meine Wenigkeit entkommen lassen, Mister Bronson?« fragte Parker unvermittelt. Der Ganove zuckte förmlich zusammen. Sein ohnehin blasses Gesicht nahm schlagartig die Farbe einer frisch gekalkten Wand an. »Nein«, sagte er leise. »Insofern dürfte es auch in Ihrem Interesse liegen, dieses Haus möglichst unbemerkt zu verlassen, Mister Bronson.« »Es gibt nur eine einzige Möglichkeit, hier wegzukommen«, teilte der Gastwirt nach kurzem Überlegen mit. »Und zwar durch den Kanal.« »Durch den Kanal?« empörte sich Agatha Simpson umgehend. »Das werden Sie einer Dame doch im Ernst nicht zumuten wollen, junger Mann. Schließlich bin ich keine Ratte.« »Das hat ja auch niemand behauptet, Mylady«, versuchte Kathy Porter, die aufgebrachte Detektivin zu besänftigen. »Aber ehe ich in einen stinkenden Kanal hinabsteige…« »… laufen Sie lieber draußen im Bleigewitter herum, Madam?« unterbrach Bronson. »Das ist doch nicht Ihr Ernst!« »Wo ist denn der Einstieg in den Kanal, Bronson?« fragte der 75
Anwalt, bei dem sich allmählich leichte Anzeichen von Nervosität bemerkbar machten. »Mitten auf dem Hof«, gab der Hausherr Auskunft. »Man muß nur den Deckel heben. An einer Seite sind Krampen, auf denen man nach unten steigen kann.« »Ist Ihnen zufällig bekannt, wohin der erwähnte Kanal führt, Mister Bronson?« wollte der Butler wissen. »Der nächste Schacht liegt hinter den Häusern an der anderen Straßenseite auf einem Garagenhof«, verriet sein Gegenüber. »Sie haben sich aber gut informiert«, schmunzelte Rander. »Ich bin eben ein vorsichtiger Mensch«, erwiderte Bronson. »Nicht vorsichtig genug für eine Kriminalistin, junger Mann«, setzte die ältere Dame in entschiedenem Ton hinzu. »Dann sehen wir uns den Kanal am besten gleich mal an«, drängte der Anwalt. »Wer weiß, wie lange die Burschen da draußen noch stillhalten.« * »Der Lümmel kommt natürlich mit«, entschied Mylady und zeigte auf Bronson. »Ist mir ehrlich gesagt auch lieber«, erwiderte der Ganove und erhob sich, das heißt, er versuchte es. Da seine Hände immer noch an der Lehne festgekettet waren, endete der Versuch mit einem Zwischenfall. Bronson verlor das Gleichgewicht und kippte samt Stuhl nach hinten. Das hölzerne Möbel löste sich bei diesem Vorgang in Einzelteile auf, und Parker blieb die Mühe erspart, den Lokalbesitzer von seinem Stuhl zu befreien. Wenig später hatten der Butler und der Anwalt den schweren Schachtdeckel gehoben und zur Seite geschleift. Nachdenklich kratzte Mike Rander sich am Kopf und verglich insgeheim den 76
Durchmesser der Öffnung mit Myladys eindrucksvollem Umfang. »Der Lümmel soll zuerst hinuntersteigen«, verlangte Agatha Simpson und blickte argwöhnisch in das schwarze Loch. »Kann ich nicht«, gab Bronson zurück. »Mit den Händen auf dem Rücken…« »Sie werden doch nicht erwarten, daß ich einem überführten Verbrecher die Handschellen abnehmen lasse, junger Mann«, grollte die passionierte Detektivin. »Auf derart plumpe Tricks falle ich nicht herein.« »Parker könnte Bronson und mich mit einem Paar Handschellen zusammenketten«, bot der Anwalt an. »Dann müßte es gehen.« »Ihr sinnreicher Vorschlag kommt einer entsprechenden Bitte meiner bescheidenen Wenigkeit zuvor, Sir«, bemerkte der Butler und wurde umgehend tätig. Sekunden später tauchte erst Rander in den Schacht, anschließend der auf Gedeih und Verderb mit ihm verbundene Phil Bronson. Josuah Parker reichte dem Anwalt seine kleine, aber leistungsfähige Bleistiftlampe hinunter, bevor er selbst in die Unterwelt hinabstieg. Mylady mußte allerdings erst ein mit Kölnisch Wasser getränktes Taschentuch gegen ihre empfindsame Nase pressen, das Kathy Porter ihr reichte. Danach ließ sie sich von ihrem Butler, der am Boden des Schachtes wartete, beim Abstieg helfen. Es waren bange Sekunden. Myladys Gesellschafterin biß sich vor Aufregung in die Lippe. Aber das Unternehmen gelang. Selbst die ansehnliche Hüftpartie der Detektivin paßte durch die gemauerte Röhre. Erleichtert folgte schließlich auch Kathy Porter in die Tiefe. Der Abwasserstollen, den man über den kurzen Einstiegs77
schacht erreichte, erwies sich als tunnelartiges Gewölbe von beträchtlichem Durchmesser. Zu beiden Seiten der übelriechenden Brühe, die hier gurgelnd vorbeischoß, gab es gemauerte Podeste, die ein problemloses Fortkommen ermöglichten. »Romantisch ist das ja nicht gerade«, meinte Mike Rander, der zusammen mit Bronson voranschritt und den Weg ausleuchtete. »Iiih!« Kathy Porter schrie plötzlich auf. Eine Ratte war zwischen ihren Füßen hindurchgewuselt. »Unerhört, was Sie mir zumuten, Mister Parker«, beschwerte sich Lady Agatha und preßte das Taschentuch fester ins Gesicht. »Eine solche Flucht ist einfach unter meiner Würde.« »Darf man vermuten, daß Mylady nicht von Flucht, sondern von taktischem Rückzug zu sprechen beabsichtigten?« erwiderte der Butler gelassen. »Habe ich Flucht gesagt?« reagierte die ältere Dame überrascht. »Natürlich meinte ich einen taktischen Rückzug. Was verstehe ich eigentlich im konkreten Fall darunter, Mister Parker?« »Mylady dürften sich mit der Absicht tragen, kurzfristig den Kampf gegen die ›Piraten‹ fortzusetzen, falls man sich nicht gründlich täuscht.« »Ich werde den Schurken in den Rücken fallen und sie Mann für Mann überwältigen«, schwor Agatha Simpson grimmig. »Eine Ankündigung, die man nur mit ungeteiltem Beifall aufnehmen kann und muß, Mylady«, merkte Parker höflich an. Er hatte inzwischen den Universal-Regenschirm vom angewinkelten Unterarm genommen und aufgespannt, um Agatha Simpson vor der tropfenden Nässe zu schützen. »Hier ist der Schacht nach oben«, meldeten Rander und Bronson kurz darauf. Mit katzenhafter Geschmeidigkeit, die nicht zu seiner würdevollen Erscheinung zu passen schien, stieg der Butler über die Krampen nach oben. Geschützt durch den stahlverstärkten Bow78
ler, stemmte er sich mit dem Kopf gegen den Deckel und drückte ihn eine Handbreit in die Höhe. Draußen lag tatsächlich der Garagenhof, den Phil Bronson beschrieben hatte. * »Ihr könnt hier auf mich warten, Kinder«, entschied die passionierte Detektivin, nachdem sie unter beträchtlichem Schnaufen und mit Parkers diskreter Hilfe die Erdoberfläche wieder erreicht hatte. »Und paßt gut auf den Lümmel auf, damit er mir nicht entwischt.« »Sollen wir Sie nicht lieber begleiten, Mylady?« schlug der Anwalt vor. »Unsinn, mein Junge. Für euch ist das viel zu gefährlich«, schob Agatha Simpson das Angebot beiseite. »Diesen Einsatz stehe ich ganz allein durch. Nur Mister Parker darf mich begleiten. Es reicht, wenn ich auf ihn aufpassen muß.« »Viel Glück«, wünschten Mike Rander und Kathy Porter, während Mylady und der Butler über den düsteren Garagenhof zur Rückfront des angrenzenden Wohnhauses schritten. Vorher hatte Parker den Anwalt und den Kneipier getrennt, so daß Bronson seine Handschellen wieder für sich allein hatte. Das Gebäude, das zwischen dem Paar aus Shepherd’s Market und den geduldig wartenden Killerkommandos lag, war trotz seines trostlosen Zustandes bewohnt. Da die Uhr inzwischen weit nach Mitternacht zeigte, brannte jedoch nirgendwo mehr Licht. Die Kellertür, die den hinteren Zugang bildete, war abgeschlossen. Für Parker stellte der Schließmechanismus allerdings kein ernstzunehmendes Hindernis dar. Gelassen zog er sein Universalbesteck aus einer der uner79
gründlichen Innentaschen des schwarzen Covercoats. Auf den ersten Blick erinnerte das zierliche Werkzeug an das Besteck eines passionierten Pfeifenrauchers. In den Händen des Butlers entpuppte es sich aber als Passepartout, dem auch das komplizierteste Sicherheitsschloß auf die Dauer nicht gewachsen war. Bedächtig wählte Parker die passende Metallzunge und ließ sie geräuschlos ins Schlüsselloch gleiten. Ein, zwei Sekunden leistete der Mechanismus Widerstand, dann fügte er sich den Überredungskünsten des Butlers. Auf leisen Sohlen stiegen die Eindringlinge die Stufen vom stockfinsteren Keller zum Erdgeschoß empor. Das Treppenhaus war gleichfalls unbeleuchtet. Immerhin drang durch die Fenster schwacher Lichtschein von der Straße. »Wie hoch wollen Sie denn noch hinaus, Mister Parker?« mäkelte die ältere Dame, als der Butler unverdrossen auf der nach oben führenden Treppe weiterschritt. »Nicht mal einen Fahrstuhl gibt es in dieser Bruchbude«, schimpfte sie, als Parker im zweiten Obergeschoß endlich Halt machte und ihr die Gelegenheit zu einer willkommenen Verschnaufpause bot. Lautlos öffnete der Butler das Fenster zur Straße und sah hinaus. Unten standen noch immer die schwarzen Limousinen. Bislang hatten die Insassen sich nicht zum Sturm auf den Pub entschließen können. Deshalb nahm Parker sich vor, ihnen die Entscheidung zu erleichtern. Mit sicherem Griff förderte er aus der linken Außentasche des Covercoats die Gabelschleuder zutage. In der rechten fand sich ein sogenannter Knallfrosch, wie er beim Silvesterfeuerwerk üblich ist. Genau gegenüber, etwa auf gleicher Höhe, befand sich das Dach des »Golden Pub«. Eine dünne Rauchfahne ringelte sich 80
aus dem Schornstein in den Nachthimmel. Sorgfältig plazierte der Butler das fest verschnürte Päckchen in der ledernen Schlaufe der Zwille. Anschließend strammte er die starken Gummistränge und nahm Maß. Geräuschlos flog der Feuerwerkskörper davon, überquerte hoch über, den Köpfen der Killer die Straße und nahm Kurs auf Phil Bronsons Schornstein. »So schlecht haben Sie aber selten gezielt, Mister Parker«, kritisierte Agatha Simpson, als der Knallfrosch in den gemauerten Schlot tauchte und verschwand. »Nichts liegt meiner Wenigkeit ferner, als Mylady zu widersprechen«, erwiderte Parker in seiner höflichen Art. »Der gewünschte Effekt dürfte jedoch trotz geringfügiger Abweichungen von der berechneten Flugbahn nicht lange auf sich warten lassen, falls der Hinweis erlaubt ist.« Der Butler hatte nicht zuviel versprochen. Krachen und Blitzen, das aus dem Gastraum nach draußen drang, signalisierte unmißverständlich, daß der Knallfrosch sein Ziel erreicht hatte und zwischen die glimmenden Scheite des offenen Kamins gefallen war. Die Gangster in den gepanzerten Limousinen mißdeuteten die harmlose Knallerei jedoch als Schußwechsel und hielten den Zeitpunkt zum Eingreifen für gekommen. Wie auf Kommando ratterten die Maschinenpistolen los und verwandelten die stille Straße schlagartig in ein lärmendes Inferno. Eine Salve nach der anderen peitschte durch die Nacht. Querschläger zogen jaulend ihre Bahn. Klirrend zerbrach die Verglasung der Eingangstür. Da erst fiel den übereifrigen Schützen auf, daß das Krachen und Blitzen im Pub längst aufgehört hatte. Ein schriller Pfiff ertönte. Fast gleichzeitig flogen die Türen beider Limousinen auf. Die Waffen im Anschlag, spurteten die Kil81
ler über die Fahrbahn und stürmten die menschenleere Kneipe. Parker, der der Aktion mit unbeteiligter Miene, aber wachen Auges gefolgt war, hatte seine Gabelschleuder erneut geladen. Diesmal hatte er sich für eine der perforierten Kapseln entschieden, die wie ein Tischtennisball aussahen. Gerade wollte er das Geschoß auf die Reise schicken, als auf quietschenden Reifen die dritte schwarze Limousine um die Ecke schoß. So wartete der Butler geduldig, bis auch deren Insassen im Laufschritt in der Gastwirtschaft verschwunden waren. Sekunden später glitt der kleine, weiße Flugkörper durch das zerschossene Oberlicht der Tür und landete ausgerechnet auf einem Handtuch, das auf dem Tresen lag. Als sich das erwartete Husten und Würgen nach wenigen Augenblicken trotzdem einstellte, ahnte nicht mal Parker, was geschehen war. Offensichtlich hatte das lange Warten selbst an den Nerven der abgebrühten Killer gezehrt. Die Männer, die sich verdutzt in einer verlassenen Gaststube fanden, waren überreizt und gestreßt. Diesem Umstand war es zu verdanken, daß einer der Pistolenschützen durch die hereinhuschende Kugel derart irritiert wurde, daß er instinktiv abdrückte und… traf. Der Schuß zerfetzte nicht nur die gläserne Ampulle, sondern gleich die ganze Kapsel. Die glasklare Flüssigkeit spritzte nach allen Seiten. Entsprechend stürmisch war die Reaktion, in der sie sich mit dem Sauerstoff der Luft verband. Im Handumdrehen füllte das betäubende Gas den ganzen Raum. »Hübsch, Mister Parker. So ähnlich habe ich es mir vorgestellt«, lobte Agatha Simpson und klatschte vor Freude in die Hände. Das Krächzen, und Keuchen, das dank der zerschossenen Tür82
scheibe auch für Mylady und ihren Butler deutlich zu vernehmen war, verebbte schon nach wenigen Sekunden. Im »Golden Pub« kehrte Ruhe ein. Nur der Vorhang an der Tür bewegte sich noch ein wenig, als einer der Männer mit schwindenden Sinnen kriechend den Ausgang erreichen wollte. Er gab sein Vorhaben jedoch an der Schwelle auf und widmete sich seufzend den verführerischen Träumen, die von ihm Besitz ergriffen. »Muß ich die Lümmel jetzt noch alle einsammeln, um sie der Polizei zu übergeben?« erkundigte sich die Detektivin, als man wieder treppab schritt. »Diese Mühe dürfte sich erübrigen, falls der Hinweis erlaubt ist, Mylady«, sagte Parker. Aus der Ferne war das Heulen mehrerer Polizeisirenen zu vernehmen. In etlichen Wohnungen und im Treppenhaus flammte Licht auf. »Man erlaubt sich, weiterhin einen angenehmen Abend zu wünschen«, sagte der Butler und lüftete höflich die schwarze Melone, als das skurrile Paar im Erdgeschoß einer hysterischen Greisin begegnete. Augenblicklich versagte der Frau die Stimme. Mit aufgerissenem Mund starrte sie den Fremden nach, bis diese im Keller verschwunden waren. * Fünf Minuten später jagte Parkers hochbeiniges Monstrum über nächtlich leere Straßen ins benachbarte Leeds, wo Ricky Mailer nach Bronsons Angaben ein Speditionsunternehmen führte, das aber vorwiegend der Tarnung seiner illegalen Aktivitäten diente. Der Lokalinhaber hatte im Fond neben Mylady Platz genommen, die ihn argwöhnisch im Auge behielt. Mike Rander und Kathy Porter folgten im dunkelblauen Austin des Anwalts mit 83
kurzem Abstand. »Diese Fahrt ist doch wieder die reinste Zeitvergeudung, Mister Parker«, kritisierte die ältere Dame. »Darf man sich erkundigen, wie Mylady diese Äußerung verständen wissen möchte?« fragte der Butler über die Sprechanlage. »Mister Taylor, der mich angeblich zum Chef der ›Piraten‹ führen soll, befindet sich doch garantiert samt seinen Mordschützen in Polizeigewahrsam«, führte Agatha Simpson aus. »Daß diese beamteten Schnüffelnasen mir ständig in die Ermittlungen pfuschen müssen!« »Ich möchte wetten, daß Ricky bei dem Einsatz nicht dabei war, Madam«, entgegnete Bronson. »Der ist vorsichtig und hält sich lieber im Hintergrund.« »Ihren Optimismus in Ehren, junger Mann«, meinte Lady Simpson unwirsch. »Sollte sich aber doch herausstellen, daß ich diese Fahrt für nichts und wieder nichts unternommen habe, hätte das ausgesprochen unangenehme Folgen für Sie.« Was immer Mylady mit dieser Ankündigung meinte – es blieb dem Kneipeninhaber erspart. Ricky Mailer war tatsächlich nicht mit zum »Golden Pub« gefahren, wie sich schon bald herausstellte. »Da ist die Einfahrt«, erklärte Bronson, nachdem er Parker und Mylady durch ein Gewirr von Straßen am nördlichen Stadtrand von Leeds geschleust hatte. Das Tor zum Ladehof der Spedition stand offen. Ganz so verlassen, wie es auf den ersten Blick wirkte, war das düstere Gelände jedoch nicht. »Mich würde nicht wundern, wenn Ricky schon erfahren hätte, daß der Einsatz seiner Leute in die Hose gegangen ist«, bemerkte Myladys Sitznachbar, während der Butler seinen Privatwagen gemächlich ausrollen ließ. 84
»Woher denn? Der Lümmel ist doch kein Hellseher«, entgegnete Agatha Simpson. »Er wird vergeblich versucht haben, seine Leute über Funk zu erreichen oder im Pub anzurufen«, mutmaßte Bronson. »Wenn er die richtigen Schlüsse gezogen hat, sitzt er längst in seinem Privatflugzeug und ist unterwegs nach Spanien oder sonstwohin.« Daß der »Piraten«-Wirt seinen Kontaktmann Mailer nicht falsch eingeschätzt hatte, zeigte sich schon in der nächsten Sekunde. Auf dem dunklen Hof dröhnte plötzlich der Motor einer schweren Limousine. Scheinwerfer flammten auf. Mit durchdrehenden Pneus setzte sich das Fahrzeug in Bewegung und nahm Kurs Richtung Ausfahrt. Geistesgegenwärtig gab Parker wieder Gas. Das hochbeinige Monstrum machte einen regelrechten Satz nach vorn und kam quer vor der Ausfahrt zum Stehen. »Platz da! Was soll der Unsinn?« brüllte der elegante Mittfünfziger, der wütend aus dem Daimler sprang. Gelassen senkte der Butler das Fenster. »Darf man die Hoffnung äußern, Mister Ricky Mailer vor sich zu haben?« erkundigte er sich höflich. Sein Gegenüber blieb die Antwort schuldig und langte statt dessen blitzschnell wie ein routinierter Profi in den Ausschnitt seines grauen Jacketts. Ehe er die schallgedämpfte Automatik für sich sprechen lassen konnte, war Parkers schwarze Melone jedoch schon unterwegs. Mailer jaulte wie ein Hund, der mit dem Schwanz in eine Drehtür geraten ist, als die scharfkantige Stahlkrempe nachdrücklich über sein Handgelenk strich. Anschließend hüpfte die steife Kopfbedeckung hoch und massierte auch noch das Kinn des Gangsters. 85
Mailers Waffe fiel zu Boden. Er selbst taumelte rückwärts und klammerte sich an der offenen Tür seines Luxusgefährts fest, um nicht zu Boden zu gehen. Als der Butler gleich darauf die Handschellen aus speziell gehärtetem Stahl klicken ließ, leistete der Gangster nur noch schwachen Widerstand. * »Das Spiel ist aus, junger Mann«, triumphierte Agatha Simpson wenig später. Josuah Parker und Mike Rander hatten den eleganten Gangster zur Vernehmung in eines der Büros gebracht, während der attraktiven Kathy Porter die Aufgabe zufiel, Phil Bronson in Schach zu halten. »Das einzige, was Ihnen jetzt noch zu mildernden Umständen verhelfen kann, ist ein umfassendes Geständnis«, fuhr die Detektivin herablassend fort. »Ihre Killerkommandos habe ich allesamt überwältigt und der Polizei ausgeliefert.« »Ich hab mir schon gedacht, daß die Sache schiefgelaufen ist«, erwiderte Mailer deprimiert. »Aber wie haben Sie hierher gefunden?« »Für eine Detektivin ist das eine Kleinigkeit, junger Mann«, prahlte Agatha Simpson. »Mir entgeht der hartgesottenste Gangster nicht.« »Mister Phil Bronson war so entgegenkommend, Mylady den Weg zu Ihnen zu weisen, Mister Mailer«, setzte Parker hinzu. »Phil?« Mailer wurde noch eine Spur bleicher und sackte sichtbar zusammen. »Sie sind also der Chef der Bande, die sich ›Die Piraten‹ nennt?« wollte die ältere Dame wissen. »Nein!« lautete Mailers Antwort wie aus der Pistole geschossen. »Unter diesen Umständen wäre Mylady Ihnen sehr verbunden, 86
wenn Sie sich bereitfinden könnten, Name und Anschrift der fraglichen Person preiszugeben, Mister Mailer«, nahm der Butler wieder das Wort. Phil Mailer rang mit sich, aber offenbar hatte er eingesehen, daß das ›Piraten‹-Spiel für ihn zu Ende war. »Chef der ›Piraten‹ ist eine Frau«, teilte er nach kurzem Zögern mit. »Sie heißt Loretta Henderson und wohnt nur ein paar Straßen von hier.« »Eine Mitteilung, die man mit einiger Überraschung zur Kenntnis nimmt, falls der Hinweis erlaubt ist«, äußerte Parker. »Loretta ist eine Frau, wie ich keine zweite kenne«, fuhr der Gangster fort. »Von der Konsequenz und Härte, mit der sie ihren Weg geht, kann sich der kaltblütigste Mafiaboß noch eine Scheibe abschneiden.« »Ist Ihnen zufällig bekannt, wie es der Dame gelang, diese für eine Frau doch recht ungewöhnliche Position zu erreichen?« wollte der Butler wissen. »Das ist eine etwas längere Geschichte«, erwiderte Mailer, erzählte sie dann aber doch. »Loretta war bis vor acht Jahren mit Eric Henderson verheiratet und wohnte in London«, berichtete Mailer. »Eric war Spezialist für Tresoreinbrüche. Nach seinem letzten Coup, der übrigens wie geschmiert lief, erhielt die Polizei einen anonymen Tip aus der Szene und stöberte ihn auf. Eric wurde auf der Flucht erschossen, sein Komplize konnte untertauchen.« »Und was geschah mit der Beute?« erkundigte sich Agatha Simpson. »Loretta wußte als einzige, wo der Zaster versteckt war«, gab Mailer Auskunft. »Bald nach Erics Tod kaufte sie sich den ersten Laden, und schon wenige Jahre später war sie Besitzerin einer ganzen Kaufhauskette.« »Eine durchaus legale Karriere, wenn man vom illegalen Cha87
rakter des Startkapitals mal absieht«, ließ Parker sich vernehmen. »Skrupel kannte Loretta nie«, fuhr Mailer fort. »Außerdem stieg ihr der Erfolg zu Kopf, so daß sie mit den Erträgen ihrer Kaufhäuser bald nicht mehr zufrieden war.« »Und dann?« fragte Mylady neugierig. »Sie hielt nach besonders günstigen Einkaufsmöglichkeiten Ausschau und verfiel dabei auf die Idee mit der ›Piraten‹Bande«, setzte der Gangster seinen Bericht fort. »Der ehemalige Komplize ihres Mannes mußte ihr helfen, die Idee zu verwirklichen.« »Möglicherweise darf man an dieser Stelle die Vermutung äußern, daß es sich bei dem erwähnten Komplizen um Sie handelte, Mister Mailer«, sagte der Butler seinem Gegenüber auf den Kopf zu, und der ehemalige Tresorknacker nickte. »Loretta hat mich die ganzen Jahre erpreßt«, brachte Mailer seinen Bericht zu Ende. »Ich habe sie gehaßt, aber was sollte ich machen? Mich vielleicht der Polizei stellen?« »Die Polizei wird sich ohnehin um Sie kümmern, sobald ich die Ermittlungen abgeschlossen und dieses kriminelle Frauenzimmer dingfest gemacht habe, junger Mann«, verkündete Lady Agatha ungerührt. »Ohne meine Hilfe kommen Sie an Loretta gar nicht heran«, entgegnete der Gangster. »Ihre Villa ist besser gesichert als die Bank von England.« »Darf man sich höflich erkundigen, welcher Art die erwähnten Sicherungseinrichtungen sind, Mister Mailer?« fragte Parker sofort. »Das ganze Grundstück ist von einer drei Meter hohen Mauer mit elektrisch geladenem Stacheldraht umgeben«, gab Mailer Auskunft. »Am linken Pfeiler des Tores ist ein Kästchen mit einer Tastatur angebracht. Dort muß man eine geheime Zahlen88
kombination eingeben, damit die Flügel sich überhaupt öffnen. Zusätzlich sorgen versteckt angebrachte Videokameras und Infrarotlicht-Schranken dafür, daß kein Fremder sich dem Haus nähern kann.« »In der Tat ein beeindruckender Aufwand, wenn man sich die Feststellung erlauben darf«, entgegnete der Butler. »Überdies muß Mylady vermutlich mit der Anwesenheit bewaffneter Leibwächter rechnen.« »Zwei sind ständig in ihrer Nähe«, bestätigte der Gangster. »Für mich ist das alles kein Problem«, ließ Mylady in ihrer unbekümmerten Art verlauten. »Mister Parker wird sich schon etwas Hübsches einfallen lassen.« »Falls Mylady keine Einwände erheben, sollte man gegebenenfalls Mister Mailer bitten, sich an der Aktion zu beteiligen«, schlug Parker vor. »Die Details überlasse ich Ihnen, Mister Parker«, erwiderte die passionierte Detektivin. »Hauptsache, ich habe ein bißchen Spaß und bekomme das abgefeimte Luder zu fassen.« »Wenn wir alle drei in meinem Wagen fahren und Sie sich auf den Rücksitzen verstecken, könnte ich Sie auf jeden Fall bis an die Haustür bringen«, bot Mailer bereitwillig an. »Wenn für mich das Spiel zu Ende ist, soll auch Loretta dran glauben.« »Ihr Vorschlag zeugt von einem erfreulichen Maß an Einsicht, Mister Mailer«, sagte der Butler. »Man sollte ihn unverzüglich in die Tat umsetzen, sofern der Hinweis erlaubt ist.« »Aber mit Handschellen kann ich natürlich nicht Auto fahren«, gab der elegante Gangster zu bedenken. »Eine Feststellung, die man nur als einleuchtend bezeichnen kann und muß«, räumte Parker ein. »Aus diesem Grund wird man Ihnen jetzt die gewohnte Bewegungsfreiheit zurückgeben. Allerdings sieht man sich bedauerlicherweise genötigt, statt dessen mit der Waffe in der Hand über Ihr Wohlverhalten zu 89
wachen.« »Ich werde Ihnen schon nicht ausreißen«, versprach Ricky Mailer und musterte argwöhnisch die schallgedämpfte Automatic. Wenig später saß der Gangster am Steuer seines komfortablen Daimlers, Parker und Mylady belegten die Rücksitze. Kathy Porter und Mike Rander, die Phil Bronson mitgenommen hatten, schlossen sich an, sobald das Fahrzeug vom Hof rollte. * »Hier fängt Lorettas Grundstück schon an«, erläuterte Mailer nach kurzer Fahrt und deutete auf die mächtige Mauer, die parallel zur Straße verlief. »Die Einfahrt liegt hinter der nächsten Straßenecke.« Das Trio im dunkelblauen Austin blieb – wie verabredet – unauffällig im Hintergrund, als Mailers chromblitzende Limousine dem wuchtigen Stahltor entgegenrollte und stoppte. »Jetzt muß ich den Geheimcode eingeben«, kündigte der Daimlerlenker an und verließ den Wagen. Parker, der die Waffe des Gangsters in der Hand hielt, beobachtete aufmerksam, wie der Mann das Kästchen mit der Tastatur öffnete und eine sechsstellige Zahlenreihe tippte. Kaum war er hinter das Lenkrad zurückgekehrt, öffneten sich wie von Geisterhand die schweren Torflügel und gaben die Einfahrt in einen waldähnlichen Park mit uralten Baumriesen frei. »Bis jetzt scheint niemand Verdacht geschöpft zu haben«, bemerkte Mailer in zuversichtlichem Ton, wobei ein nervöses Vibrieren in seiner Stimme kaum zu überhören war. Mit einem Ruck setzte sich die Limousine in Bewegung, passierte das offenen Tor und nahm Kurs auf den Lichtschein, der zwischen den Bäumen schimmerte. »Jetzt wird’s ernst«, erklärte der Gangster wenig später und 90
tupfte sich mit dem Taschentuch den Schweiß von der Stirn. »Hank und Mike erwarten uns schon.« Auf der breiten Freitreppe der Henderson-Villa, die schon fast ein kleines Schloß war, standen zwei Hünen mit versteinerten Gesichtern und sahen dem nahenden Daimler entgegen. Beide hatten griffbereit die rechte Hand im Jackenausschnitt. Während Mailer gemächlich zur Treppe fuhr und Mylady sich so tief duckte, wie es eben ging, machte Parker seinen UniversalRegenschirm einsatzbereit. Mit routiniertem Griff löste er einen Sicherungshebel und klappte anschließend die bleigefüllte Spitze zur Seite weg. Dadurch wurde der hohle Schaft des altväterlichen Regendaches im Handumdrehen zu einem Lauf, aus dem der Butler kleine, gefiederte Pfeile verschießen konnte. Zwei dieser kaum stricknadelgroßen Geschosse warteten nur darauf, sich ihr Ziel suchen zu dürfen. Für den Antrieb sorgte eine Patrone mit komprimierter Kohlensäure, die unterhalb des Bambusgriffes angebracht war. »Ist Loretta zu Hause?« fragte Ricky Mailer beim Aussteigen und versuchte, seiner Stimme einen möglichst unbefangenen Klang zu geben. Im selben Moment ließ Parker durch das halbgeöffnete Seitenfenster den ersten Pfeil davonschwirren. Der links stehende Leibwächter stieß einen überraschten Schrei aus, als sich die nadelscharfe Spitze in seinen Oberschenkel bohrte. Verdutzt bückte der Mann an sich hinunter. Seine Augen weiteten sich vor Entsetzen, als er das gefiederte Geschoß erblickte, das noch leicht wippte. »Verdammt!« knurrte sein Kollege und wollte nach dem zierlichen Pfeil greifen, da erwischte es ihn auch schon. Zitternd blieb Parkers zweites Geschoß in der Schulter des Mannes stecken. Instinktiv warf Mailer sich zu Boden und suchte Schutz hinter 91
seinem Wagen, was sich jedoch als übertrieben erwies. Das hochwirksame Betäubungsmittel pflanzlicher Herkunft, mit dem der Butler die Pfeilspitzen präpariert hatte, wirkte so rasant, daß die überrumpelten Leibwächter nicht mehr dazu kamen, ihre Revolver aus den Schulterhalftern zu reißen. Beide verdrehten ungläubig die Augen und begannen zu torkeln wie Betrunkene. Auf einknickenden Knien stolperten sie mit unsicheren Schritten die Stufen abwärts und betteten sich zu einem entspannenden Nickerchen in ein Rosenbeet. »Der Lümmel soll vorangehen«, entschied Agatha Simpson und deutete auf Ricky Mailer, der sich aus dem Kies aufgerafft hatte. »Aber lassen Sie ihn nicht entwischen, Mister Parker.« »Muß das sein?« fragte der Gangster, dem offensichtlich nicht wohl in seiner Haut war. »Ich möchte Ihnen nicht raten, sich meinen Anordnungen zu widersetzen, junger Mann«, grollte die Detektivin und versetzte ihm einen Stups in den Rücken. Zögernd setzte Mailer sich in Bewegung und durchschritt die offene Haustür. Parker und Mylady folgten ihm auf dem Fuß. * Der weitläufige Wohnraum, in den Mailer das Paar aus Shepherd’s Market führte, war hell erleuchtet und mit allem erdenklichen Komfort eingerichtet. »Vielleicht ist sie oben«, mutmaßte der ortskundige Gangster, als er nirgends eine Spur von Loretta Henderson entdeckte. Er hatte sich getäuscht. »Hände hoch!« befahl eine metallisch klingende Stimme. Gleichzeitig trat die Besitzerin hinter dem bodenlangen Vorhang hervor, der ihr als Versteck gedient hatte. Loretta Henderson mußte einmal eine ausgesprochen hübsche 92
Frau gewesen sein. Inzwischen – Parker schätzte sie auf knapp über Fünfzig – zeigte ihr Haar graue Strähnen. Tiefe Falten verliehen ihrem Gesicht einen Zug von unmenschlicher Härte. »Ich wußte, daß du irgendwann einen Fehler machen würdest, Ricky«, sagte sie und setzte ein Lächeln auf das Mailer einen kalten Schauder über den Rücken jagte. Die Mündung des zierlichen Revolvers zeigte unmißverständlich auf ihren abtrünnigen Geschäftspartner. »O Gott!« stöhnte Agatha Simpson unvermittelt, wurde leichenblaß und sank in die Knie. Die überzeugend gespielte Ohnmacht der älteren Dame brachte die »Piraten«-Chefin für den Bruchteil einer Sekunde aus dem Konzept. Geistesgegenwärtig sah der Butler seine Chance und nutzte sie kaltblütig, um das Blatt zu wenden. Loretta Henderson schrie gequält auf und verzog das Gesicht zu einer schmerzlichen Grimasse, als die bleigefütterte Spitze des schwarzen Universal-Regenschirmes mit Nachdruck auf ihr Handgelenk tippte. Die Waffe fiel ihr aus der Hand und flog… ausgerechnet Ricky Mailer vor die Füße. Blitzschnell bückte sich der Gangster und betrachtete sich augenblicklich als Herr der Lage. »So, Loretta«, knurrte er .»Jetzt bist du dran, Mädchen. Jahre habe ich auf diesen Augenblick gewartet.« Parker, der in der Nähe der Tür stand, war jedoch fest entschlossen, diesem Fall von Selbstjustiz keinesfalls tatenlos zuzusehen. Ebenso gelassen wie unauffällig benutzte er seinen rechten Ellenbogen dazu, den Lichtschalter zu betätigen. Dumpfes Brüllen signalisierte Augenblicke später, daß Mailer schon wieder auf der Verliererseite stand. Der Butler hatte in der plötzlichen Dunkelheit den schwarzen 93
Universalschirm erneut eingesetzt und den bleigefüllten Bambusgriff mit schlafwandlerischer Sicherheit auf den Schädel des Gangsters gelegt. Torkelnd schoß Mailer im Zickzackkurs durch den finsteren Raum. Unter Poltern und Klirren fegte er zunächst eine ansehnliche Sammlung kostbarer Porzellanfiguren von der Anrichte, stolperte über eine chinesische Bodenvase und warf als krönenden Abschluß den Farbfernseher um, ehe er sich endgültig aus dem Geschehen verabschiedete. In diesem Lärm der Verwüstung ging der spitze Schrei, den Loretta Henderson beim Zusammenprall mit der Detektivin ausstieß, fast unter. Als Parker das Licht wieder anknipste, sah er sie gerade noch durch die halboffene Terrassentür entwischen. »Hinterher, Mister Parker!« rief Agatha Simpson, die sich geradezu schlagartig von ihrer Ohnmacht erholt hatte. »Meine Wenigkeit gibt sich der Eile hin, Mylady«, versicherte der Butler und nahm in würdevoller Haltung die Verfolgung auf. Trotz ihres nicht mehr ganz jugendlichen Alters schien die Bandenchefin körperlich durchaus auf der Höhe zu sein. Als Parker auf die Terrasse trat, hatte sie schon einen respektablen Vorsprung. Kurz entschlossen griff der Butler nach seinem Bowler und schickte ihn der Flüchtenden nach. Wie eine Frisbeescheibe schwirrte die Melone davon, legte sich leicht in die Kurve und glitt unaufhaltsam ihrem Ziel entgegen. Loretta Henderson lief, ohne sich umzusehen. Deshalb traf der Schmerz, den die stahlblechverstärkte Krempe in ihrem Nacken auslöste, sie ausgesprochen unvorbereitet. Wie unter einem plötzlichen Stromstoß zuckte die Frau zusammen und warf die Arme in die Luft. Dennoch rannte sie weiter. Aber von Schritt zu Schritt wurden ihre Bewegungen unsiche94
rer. Sie begann zu taumeln und knickte in den Knien ein. Mit letzter Kraft schleppte sie sich weiter, bis ein dichter Jasminstrauch sie Parkers Blicken entzog. Sekunden später war lautes Platschen und Spritzen zu hören. Hilferufe gellten durch die Nacht. Als der Butler am Ort des Geschehens eintraf, fand er die »Piraten«-Chefin in kopfloser Panik. Prustend und schnaufend paddelte sie in ihrem Swimmingpool. »Helfen Sie mir doch!« schrie sie. »Ein Verlangen, dem meine Wenigkeit unverzüglich nachkommen wird, Mistreß Henderson«, antwortete Parker und streckte ihr sein altväterlich gebundenes Regendach entgegen. Dankbar griff die Frau nach dem Bambusgriff und ließ sich von dem Butler an den Beckenrand ziehen. Triefend naß und erschöpft, wie sie war, ließ Loretta Henderson sich bereitwillig ins Haus führen, wo Lady Simpson schon ungeduldig wartete. »Einer Detektivin ist selbst der gerissenste Gangster nicht gewachsen«, stellte die ältere Dame tief befriedigt fest. »Nicht mal, wenn es sich um eine Frau handelt.« »Eine Feststellung, die man nur mit allem Nachdruck unterstreichen kann, Mylady«, pflichtete Parker seiner Herrin bei. »Dann können Sie jetzt die Polizei anrufen und dem guten McWarden mitteilen, daß ich ihm wieder mal die Kastanien aus dem Feuer geholt habe, Mister Parker«, fügte Agatha Simpson hinzu. »Wie Mylady wünschen«, gab der Butler mit höflicher Verbeugung zur Antwort. »Möglicherweise sollte man Mistreß Henderson erlauben, trockene Kleidung anzuziehen, bevor die Polizei hier eintrifft.« »Ich bin ja kein Unmensch«, meinte Lady Agatha. »Aber Sie telefonieren.«, Mister Parker. Ich werde dieses Frauenzimmer 95
beim Umziehen bewachen. Männer werden in gewissen Situationen nämlich schwach.« Josuah Parker verzog keine Miene. Sein glattes, ausdrucksloses Gesicht glich dem eines professionellen Pokerspielers. ENDE
96