Herbert Cerutti
China – wo das Pulver erfunden wurde Naturwissenschaft, Medizin und Technik in China scanned by AnyBody...
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Herbert Cerutti
China – wo das Pulver erfunden wurde Naturwissenschaft, Medizin und Technik in China scanned by AnyBody corrected by Yfffi Berichte über wissenschaftlichtechnische Entwicklungen in China: Unter anderem über Weltraumtechnik, Computertechnik, Erdbebenforschung, Umweltforschung, biologischen Landbau, traditionelle Medizin, moderne Spitzenmedizin. ISBN 3-423-10837-1 Umschlaggestaltung: Celestino Piatti Umschlagfoto: Josef Kaufmann Mit Beiträgen von Richard Altorfer, Werner Hadorn, Reto Locher, Felix Weber Mit 11 Abbildungen 1987, Deutscher Taschenbuch Verlag
Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!!
Das Buch Sicherlich sind jedem Cape Canaveral und Baikonur als »Weltraumbahnhöfe« zweier Großmächte bekannt – aber Weinan? Nennt man Giseh oder Troja, denkt man einerseits sofort an die Stätten großartiger Baukunst und andererseits an die aufregende Geschichte der Ausgrabungen – aber bei Lintong? Silicon Valley ist gebräuchlich als Synonym einer High-Tech-Industrieregion – aber Haidan? Unsere Medien verbreiten zwar Nachrichten über China in beachtlicher Fülle, hauptsächlich allerdings aus dem Bereich der Politik. Was aber geschieht im Reich der Mitte in wissenschaftlich-technischer Hinsicht? Welche Erfolge konnte die chinesische Raumfahrt feiern? (Das Hauptkontrollzentrum befindet sich in Weinan.) Wie gehen die chinesischen Archäologen beim spektakulärsten Ausgrabungsprojekt des neuen China vor, bei der Freilegung, Restauration und wissenschaftlichen Deutung der inzwischen weltbekannten »Terrakotta-Armee« aus 8 000 lebensgroßen Kriegerfiguren und Pferden, die 1974 bei Lintong entdeckt wurde? Entsteht in Haidan, in der nordwestlichen Vorstadt Pekings, mit seinen Forschungslaboratorien und Universitätsinstituten ein Zentrum für Elektronik? Um solche Wissenslücken wenigstens teilweise zu schließen, reiste eine Gruppe Schweizer Wissenschaftsjournalisten nach China, um sich dort bei Forschern und Technikern aus erster Hand zu informieren. Daraus entstand ein »Reisebericht« über Technikgeschichte, Glanzleistungen des alten China, über Architektur, Medizin, Landwirtschaft und Geophysik. Das Buch läßt dabei auch das nicht außer acht, was die moderne Entwicklung in China begleitet: Bauboom, Umweltverschmutzung oder Bodenerosion.
Der Autor Herbert Cerutti, geboren 1943 in Nesslau, Kanton St. Gallen, studierte an den Universitäten Zürich und Bern Experimentalphysik; Dissertation über Sonnenwind-Messungen während der Mondlandeunternehmungen der NASA. Seit 1975 ist er Wissenschaftsredakteur der ›Neuen Zürcher Zeitung‹ für die Themenbereiche Naturwissenschaften, Medizin und Technik.
Inhalt Vorwort....................................................................................................5 Technische Glanzleistungen im alten China Sorgfältige Experimente statt grauer Theorie ..................................................................................8 Warum kein chinesischer Newton? Hypothesen zum historischen Entwicklungsstopp.................................................................................23 Geduldige Archäologen Frühe Kunstwerke dokumentieren vergangene Technik ..................................................................................................26 Der erste Seismograph Ein Gerät von staatspolitischer Bedeutung .......33 Von der Schwierigkeit, Erdbeben vorherzusagen 150 000 Amateure leisten seismologische Basisarbeit.........................................................36 Kopfstand der Academia Sinica Zu Besuch am Geophysikalischen Institut in Peking....................................................................................53 Die verkehrte Feuerlanze Wie die Rakete erfunden wurde....................57 Der lange Marsch ins All Chinesischer Fernmeldesatellit seit 1984 in Betrieb ...................................................................................................59 »Nächste Woche wird sich die Sonne verfinstern« Zum Wissenschaftsjournalismus in China .....................................................70 Computer »made in China« Entwicklungsanstrengungen im High-TechBereich...................................................................................................75 »Je größer, desto besser« Kritische Stimmen zum Bauboom in China..83 Dicke Luft und trübe Wasser Gravierende Umweltverschmutzung begleitet Chinas Entwicklung ................................................................87 Chinas Bäume wachsen nicht in den Himmel Aufforstungskampagnen mit unterschiedlichem Erfolg.................................................................96 Ungewisse Zukunft für den Panda Zu Besuch im Naturreservat Wolong .............................................................................................................101 Biologischer Landbau aus Tradition Ertragssteigerung durch Agrochemie und vermehrte Bewässerung ...........................................112 Trickreicher Umgang mit Wasser Dujiangyan-Wasserkontrollanlage seit 2200 Jahren in Betrieb .........................................................................122 Medizinischer Alltag in China Zu Besuch in einem Landkrankenhaus .............................................................................................................126 Hilfe für Verbrennungsopfer Revolutionäres Behandlungskonzept in Schanghai.............................................................................................131 Anhang.................................................................................................139
Vorwort
China ist für den Westen seit gut zehn Jahren Mode geworden. Politiker, Fachexperten, Journalisten und in rasch wachsender Zahl Touristen reisen hinter den Bambusvorhang, um China aus erster Hand zu erfahren. Unsere Medien verbreiten Chinainformationen in beachtlicher Fülle und berichten im Detail über das neue »Verantwortungssystem«, Reformen in Industrie und Landwirtschaft sowie Verschiebungen im politischen Bereich. Was aber passiert im Reich der Mitte in wissenschaftlichtechnischer Hinsicht? Besteht etwa die Medizin dieses Milliardenvolkes nur aus Akupunktur, Kräutern und Barfußdoktoren? Können Chinas Bauern auch heute noch die Nahrung für das Riesenvolk nur mit Fäkalien und liebevoller Handarbeit produzieren? Und wenn man selbst im kleinsten Winkel unserer industrialisierten Welt glaubt, ohne Computer ließe sich die Gesellschaft nicht mehr organisieren, wie steht es damit in dieser Nation von der Größe Europas? Seit Jahren bemüht sich China intensiv um den Ausbau seiner Industrien. Was aber läuft dort auf dem Sektor Umweltschutz? Um diese Wissenslücken wenigstens teilweise zu schließen, hatte der Schweizer Klub der Wissenschaftsjournalisten 1983 beschlossen, selber nach China zu reisen und sich dort direkt bei den chinesischen Forschern und Technikern zu informieren. Natürlich war von vornherein klar, daß ein solches Unternehmen nur sehr bruchstückhaft sein würde und manches in China angetroffene Thema nachher noch mittels Fachliteratur vertieft und mit Aussagen westlicher Experten verglichen werden mußte. Nach eingehender Diskussion im Kollegenkreis kristallisierte sich schließlich ein dreiwöchiges –5–
»Wunschprogramm«, das wir der Botschaft der Volksrepublik China in Bern vorlegten. Mehr als ein Jahr spielten wir nun schriftliches Pingpong mit zahlreichen Stellen im fernen Peking, wobei uns Herr Wang Xijing von der chinesischen Botschaft mit Rat und Tat zur Seite stand. Im Februar 1985 war unser Reisewunsch schließlich akzeptiert; am 17. Mai flogen wir nach Chinas Hauptstadt ab – allerdings mit etwas zwiespältigem Gefühl, denn chinesischer »Tradition« entsprechend hatte man uns zwar mitgeteilt, unser Programm »nach Möglichkeit« einhalten zu wollen, eine eigentliche Zusicherung war indes nicht zu erhalten. Was wir dann in den drei Wochen erlebten, übertraf unser aller Erwartungen. Die gewünschten Programmpunkte wurden bis ins Detail erfüllt, ja sogar erst an Ort und Stelle auftauchende Zusatzwünsche fanden fast ausnahmslos eine Verwirklichung. Dies alles war weitgehend das Verdienst unserer Betreuerin von der All-China Journalists’ Association, Frau Dai Yuzhang. Das große Verständnis von Lao Dai für ihre westlichen Journalistenkollegen ließ sogar Türen öffnen, die für westliche Besucher »ungeeignet« waren, wie wir aus Gestik und Tonfall lokaler Begleiter erahnen konnten. Ebenfalls wertvolle Hilfe leistete Frau Shi Qiao Ying als Dolmetscherin. Man konnte mit Xiao Shi manchmal schon Mitleid haben, wenn sie die deutschen Wörter für die verschiedensten Fachgebiete finden mußte und obendrein laufend den Tücken des spezifisch chinesischen Umgangs mit großen Zahlen ausgesetzt war. Ein Dank auch den Kollegen der lokalen Journalistenverbände in Peking, Xi’an, Chengdu, Guilin und Schanghai, die an den einzelnen Etappenorten jeweils unseren Aufenthalt organisierten. So war es also möglich, trotz der relativ kurzen Zeit einen erstaunlich vielfältigen Blick auf Chinas Welt der Wissenschaft und Technik zu werfen. Für uns Schweizer Journalisten befinden sich jetzt an den Stellen, wo bisher lediglich anonymes –6–
China lag, lebhafte Städte, grün schimmernde Landschaften, Forscher mit ihren Erfolgen und Sorgen. Und daß unsere Erlebnisse bereits intensiven Niederschlag in den Medien und insbesondere auch in diesem Buch gefunden haben, ist Zeichen des tiefen Eindrucks, den China in uns allen hinterlassen hat. Zürich, im Oktober 1985 Herbert Cerutti
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Technische Glanzleistungen im alten China Sorgfältige Experimente statt grauer Theorie
Geographen am kaiserlichen Hof in China machten sich Gedanken um die Abweichung der magnetischen von der geographischen Nordrichtung, als man in Europa nicht einmal wußte, daß es ein Erdmagnetfeld gab. Chinesische Astronomen verfolgten den Lauf der Gestirne mit Instrumenten, die dank äquatorialer Montierung und einem präzisen Uhrwerk die Himmelsobjekte automatisch im Visier behielten – zu einer Zeit, als unsere Gelehrten noch die Erde als ruhendes Zentrum in einem komplizierten System sich bewegender Himmelssphären aus Kristall betrachteten. Und während Rüstungen und Zaumzeug für die Kreuzzüge in mühsamer Handarbeit einzeln geschmiedet wurden, produzierten Chinas Eisengießereien Landwirtschaftsgeräte und Waffen bereits in Großserien. Selbst so modern anmutende Erkenntnisse wie physikalische Feldtheorien, die Vorhersage von Hochwasserkatastrophen, der biologische Pflanzenschutz haben ihre Vorläufer im alten China. Man kann die wissenschaftlichtechnischen Höhepunkte des alten China jedoch nicht präsentieren, ohne wenigstens kurz auf den hervorragenden Vermittler solcher Informationen hinzuweisen: Joseph Needham. Es ist jetzt 50 Jahre her, daß sich der junge Biochemiker Needham an der englischen Cambridge-Universität für die chinesische Kultur zu interessieren begann. Anlaß war der Kontakt mit einer Gruppe chinesischer Doktoranden, die ihren englischen Kollegen etwa mit der Frage in Verlegenheit brachten, warum moderne Wissenschaft in Europa entstand und –8–
nicht in China. Nur wenig später, während des Zweiten Weltkriegs, arbeitete Needham dann als wissenschaftlicher Berater an der britischen Botschaft in Chongqing, wo der Entschluß reifte, ein Buch über Chinas Geschichte der Wissenschaft und Technik zu schreiben. Zurück in Cambridge, zweifelten die dortigen Professoren der Sinologie, ob zum Thema überhaupt wesentlich Gewichtigeres als Kunsthandwerk oder einfache Technik für den Alltag zu finden sei. Mittlerweile mit der chinesischen Schrift und Sprache gut vertraut geworden, vergrub sich Needham ins Studium alter Bücher und nahm Kontakt auf mit chinesischen Gelehrten. Und was ursprünglich ein bescheidenes Buch ergeben sollte, ist jetzt in fünf Jahrzehnten zu einer monumentalen Dokumentation früher Genialität der Chinesen geworden. Bereits erschienen in der Reihe ›Science and Civilisation in China‹ (Cambridge University Press) sind elf Bände. Bis Ende der achtziger Jahre sollen es schließlich zehn weitere Bände werden. In internationaler Zusammenarbeit sind heute gegen zwanzig Fachexperten an dieser gewaltigen wissenschaftshistorischen Bestandsaufnahme beteiligt, und Needham selber ist trotz seiner 85 Jahren immer noch die treibende Kraft des Projekts. Heute existiert außer der Needham-Buchreihe noch zahlreiche weitere Literatur zum Thema, und auch Chinas Wissenschaftler interessieren sich intensiv für die Leistungen ihrer Vorfahren. Der folgende Querschnitt kann nur einen sehr rudimentären Überblick der Wissenschaft und Technik im alten China geben. Die genaue Beobachtung des Geschehens am Firmament ist älteste chinesische Tradition. So wurde nicht nur das Erscheinen des Halleyschen Kometen im Jahre 467 v. Chr., sondern auch sein erneutes Auftauchen um 240, 164 und 67 v. Chr. registriert. Auch die älteste Beobachtung einer Supernova, die Geburt des Crab-Nebels im Jahre 1054 n. Chr., ist chinesischen Astronomen zu verdanken. Anders als im frühen Europa war Astronomie aber nicht das Hobby interessierter Einzelgänger, sondern von –9–
höchster Stelle veranlaßte Staatsaffäre. Am kaiserlichen Hof gab es ein eigenes Amt für Himmelskunde, auf der kaiserlichen Sternwarte hielten Nacht für Nacht mindestens fünf Astronomen Wache und teilten sich die lückenlose Beobachtung der vier Himmelsrichtungen sowie des Zenits. Zur Verfügung standen beispielsweise auf der Pekinger Sternwarte des 13. Jahrhunderts 17 verschiedene Beobachtungsinstrumente aus Bronze. Jede außergewöhnliche Erscheinung wurde sorgfältig notiert und dem Kaiser mitgeteilt. Solche gezielte Kontinuität unter direkter Schirmherrschaft des Herrschers verschaffte der Nachwelt eine Informationsbasis, wie sie in der Geschichte der Astronomie einmalig ist. So finden wir alte Aufzeichnungen über Kometen, Novae, Meteoren, Sonnenflecken, aber auch Bemerkungen über atmosphärische Ereignisse wie außergewöhnliche Wolken, Nebel, Halos und so weiter. Dieser Einbezug der mehr »irdischen« Himmelserscheinungen war die logische Konsequenz der chinesischen Auffassung, daß zwischen Himmel und Erde eine enge Wechselbeziehung bestehe und deshalb auch lokale Phänomene sorgfältigste Beobachtung verdienten. Solche Auffassung war nicht zuletzt auch Ausdruck der chinesischen Überzeugung, in der Natur würden physikalische Fernwirkungen existieren, was sich etwa in den Gezeiten der Ozeane, aber auch im Phänomen des Magnetismus äußere. – Fürwahr ein Naturverständnis, wie es in den Feldtheorien der modernen Physik eine verblüffende Bestätigung gefunden hat. Tiefere Motivation zur lückenlosen Überwachung des Geschehens am Himmel war im alten China aber die Überzeugung, der Kaiser sei der auserwählte »Sohn der Himmelsmacht«, und außergewöhnliche Erscheinungen am Firmament stellten gewissermaßen kritische Anmerkungen zur Politik und Lebensweise des Kaisers dar. Als Bestätigung seines guten himmlischen Einvernehmens war es nun für den Herrscher von großer Wichtigkeit, eindrucksvolle astronomische –10–
Geschehnisse, etwa eine Sonnenfinsternis, dem Volk exakt voraussagen zu können. Die Angst um seinen Kopf dürfte den Oberhofastronomen hier zu Höchstleistungen angespornt haben. Die staatlich organisierte genaue Beobachtung des Naturgeschehens beschränkte sich nicht auf die Atmosphäre und die Gestirne. Denn ebenso interessiert wie an der Vorhersage einer allfälligen Sonnenfinsternis waren Kaiser und Verwaltung am möglichst frühzeitigen Erfassen ungewöhnlicher Naturvorgänge auf der Erde. Schon früh haben die Wissenschaftler gemerkt, daß die häufigen Hochwasserkatastrophen im Unterlauf der großen Flüsse mit anhaltenden Regenfällen in den fernen Bergregionen zusammenhängen. Regenmesser am Rande der Gebirgsketten, Wasserstandsmesser entlang der Wasserläufe, ja sogar Schneemeßgeräte zur Prognose späterer Schmelzwassermengen bildeten ein höchst effizientes Instrumentarium zur Früherfassung hydrologischen Geschehens. Die per Meldekette übermittelten Hinweise großer Regenfälle, beispielsweise in Tibet, gaben der Zentralregierung schließlich jenen Zeitvorsprung, der es erlaubte, neuralgische Stellen im umfangreichen mittelchinesischen Damm- und Kanalsystem zusätzlich zu sichern und eine entsprechende Katastrophendisposition in Gang zu setzen. Die Beschäftigung mit den Gestirnen war außerdem Grundlage der kaiserlichen Agrarpolitik: Die genaue Festlegung der Wintersonnenwende und die darauf basierende Bestimmung des Zeitpunktes der Aussaat waren ein Akt von staatspolitischer Bedeutung. Bereits im 3. Jahrhundert v. Chr. kannte China schon einen Kalender zu 360 Tagen, und jeder Kaiser bemühte sich, den Kalender seines Vorgängers zu verbessern. Äußere Zeichen solchen Wettbewerbs sind etwa die Gnomons, turmartige Gebilde, welche durch ihren Schattenwurf die unterschiedliche Höhe der Mittagssonne im Jahresablauf registrierten und somit als »natürlicher« Kalender fungierten. –11–
Benützte man diese Methode schon im 7. vorchristlichen Jahrhundert, erlaubte im 13. Jahrhundert ein gegen 15 Meter hoher Gnomon mit einer Meßstrecke von über 40 Metern Sonnenstandsbestimmungen höchster Präzision. Das zu jener Zeit von Guo Shoujing ermittelte Jahr zu 365,2424 Tagen weicht weniger als ein Tausendstelpromille vom heute bekannten Wert ab!
Rekonstruktion des astronomischen Uhrenturms von Su Song nach historischen Beschreibungen.
Solide astronomische Kenntnisse, aber insbesondere die logistischen Möglichkeiten einer gut organisierten Zentralmacht erlaubten in China auch Großforschungsvorhaben, wie sie der –12–
Westen erst in jüngerer Zeit kennt. So verließen im Jahre 723 n. Chr., ganze Scharen von Astronomen ihre Observatorien, um während dreier Jahre Sonnenschattenmessungen entlang eines Meridianbogens durchzuführen, der über 2 500 Kilometer von der Mongolei bis nach Vietnam verlief. Die Resultate lieferten neue Erkenntnisse über die Form der Erde, die im Widerspruch zur bisherigen Auffassung standen. Im Gegensatz etwa zum Drama um Galilei zögerten die Wissenschaftler und der Herrscher in China aber nicht, die durch die neuen Daten diskreditierte frühere Meinung über Bord zu werfen. Die eingangs erwähnte automatisierte Nachführung optischer Beobachtungsinstrumente und noch weit mehr der von Su Song im Jahre 1088 konstruierte legendäre Uhrenturm sind frühe Zeugen hochentwickelter Uhrmacherkunst. Angetrieben durch ein Wasserrad, präsentierte jener Uhrenturm astronomische Abläufe in großer Mannigfaltigkeit und mit hoher Präzision. Inkorporiert in dieses Wunderwerk waren mechanische Hilfsmittel, etwa der Kettenantrieb, die erst viel später in anderen Zivilisationen auftauchten. Ebenfalls von den Chinesen erfunden wurde eine Art von Hemmung, eine für den genauen Gang mechanischer Uhren unerläßliche Regulierung des Räderwerkes. Wer angesichts der frühen mechanischen Spitzenleistungen der chinesischen Techniker nun aber glaubt, solches sei wohl das Ergebnis mehr oder weniger beharrlichen Versuchens gewesen, wird von den Historikern anders belehrt. Der Errichtung des Uhrenturms lag eine detaillierte theoretische Studie zugrunde, die sämtliche mechanischen Elemente von ihrer physikalischen Grundlage her ausarbeitete. Um 1100 n. Chr. produzierten Chinas Eisengießereien schätzungsweise 150 000 Tonnen Eisen und Stahl pro Jahr, Quantitäten, wie sie Europa erst im 18. Jahrhundert erreichte. Ausgangspunkt der Schwerindustrie in China war (wie auch in anderen Zivilisationen) die Herstellung von Bronze – um 1500 –13–
v. Chr. beispielsweise das Gießen von Glocken. Das folgende Eisenzeitalter hatte in Europa zwar früher als in China begonnen. Die Temperaturen der Schmelzöfen in Europa
Dieses Bild aus einer chinesischen Enzyklopädie des 17. Jahrhunderts zeigt die Serienproduktion von Pfannen aus Gußeisen. Im Hintergrund ist der Schmelzofen mit seinem Kolbengebläse erkennbar.
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erreichten aber bis ins Mittelalter kaum 950° C, weshalb das so gewonnene Eisen eine pastenartige Metallmasse blieb und erst nach mühsamer Bearbeitung auf dem Amboß von der Schlacke getrennt werden konnte. Anders in China. Das aus der Töpfereibranche stammende Knowhow der Erzeugung von Ofentemperaturen bis 1 400 Grad erlaubte den Chinesen schon sehr früh auch das Gießen von Eisen, was die unmittelbare Produktion fertiger Geräte für den Ackerbau, Eisenteile für Karren, Hausgeräte, Pferdegeschirr (der Steigbügel ist eine chinesische Erfindung) sowie Waffen erlaubte. Die effiziente Eisengußproduktion war im 5. vorchristlichen Jahrhundert in China Auftakt zu einer ökonomischen Revolution. Das damals ebenfalls kreierte Metallgeld aus Gußeisen war äußeres Zeichen dieses wirtschaftlichen Aufschwungs. Und schon im 3. Jahrhunden v.Chr. florierten beispielsweise in Sichuan Gießereien mit rund tausend Beschäftigten. Rohes Gußeisen hat nun allerdings in der Regel einen Kohlenstoffgehalt wesentlich über 3 Prozent, was das Gußstück sehr unelastisch und daher bruchanfällig macht. Schmiedeeisen andererseits ist so kohlenstoffarm (unter 0,2 Prozent), daß es zwar gut verformbar ist, die Elastizität aber ebenfalls zu wünschen übrig läßt. Ideal wäre nun ein Eisenprodukt mit einem Kohlenstoffgehalt in der Region von 0,3 bis 1,7 Prozent, heute als Stahl bezeichnet. Die Chinesen entwickelten schließlich ein raffiniertes Verfahren, das kohlenstoffarme Schmiedeeisen mit kohlenstoffreichem Gußeisen schichtweise einer weiteren Temperaturbehandlung auszusetzen, was eine Diffusion des Kohlenstoffs innerhalb des Metall-Sandwiches bewirkte und als Endprodukt einen Stahl guter Qualität ergab. Der Pferdefuß dieser frühen Industrialisierung im Reich der Mitte soll nicht verschwiegen werden. Der enorme Brennholzbedarf für die Gießereien und für die damals ebenfalls schon florierenden Ziegelwerke war wesentlich schuld daran, –15–
daß der Norden Chinas innerhalb weniger Jahrhunderte fast komplett abgeholzt wurde. Als Ausweg aus dem Energiedilemma fand China schließlich die Nutzung der Kohle – was wiederum eine industrielle Revolution auslöste. Dieses ökonomische Wechselbad von Krise und Aufschwung fand im 13. Jahrhundert unter der Song-Dynastie dann allerdings durch den Mongoleneinfall ein jähes Ende. Als interessant erscheinende Begleiterscheinung der Eisenproduktion ist noch die Weiterentwicklung damit verknüpfter Maschinentechnik erwähnenswert. Während in der europäischen Metallindustrie die frühesten Maschinen hydraulische Hammerwerke zum Schmieden des Roheisens waren, entwickelten die Chinesen ihre zur Sauerstoffversorgung der Öfen nötigen Gebläse zu großer Vollendung. Bald standen äußerst effiziente Kolbengebläse mit Doppelwirkung zur Verfügung, welche unter anderem auch ein mechanisches Element für die Konversion von Drehbewegung in eine Längsbewegung enthielten. Was sehr viel später eine der technischen Grundlagen für die Dampfmaschinen Europas bildete. Vom Eisen führt der Faden der Technikgeschichte geradewegs zu Chinas Tiefbaukunst. Eine Weiterentwicklung tibetischer Hängestege aus geflochtenen Pflanzenseilen, überspannten schon früh imposante Kettenbrücken die fürchterlichsten Abgründe. Tief beeindruckt von dieser effizienten Brückentechnik, berichteten Europäer im 17. Jahrhundert in zahlreichen Publikationen über die hängenden Wunderwerke Chinas, was im 19. Jahrhundert in Europa einen wahren Nachahmungsboom auslöste. Kettenbrücken waren indes für Chinas Ingenieure nicht die einzige Lösung. Je nach topographischer Voraussetzung und verkehrstechnischem Pflichtenheft entschied man sich für die jeweils optimale Brückenvariante. Daß solchen Entwicklungen größte Bedeutung zukommen mußte, erhellt etwa der Umstand, –16–
daß das bevölkerungsreiche Tiefland des Riesenreichs von mehreren großen Wasserläufen durchzogen ist und künstliche Transport- und Bewässerungskanäle zusätzliche Hürden darstellen. Eine verkehrstechnische Erschließung und die rasche Übermittlung wichtiger Informationen waren also nur über eine Großzahl von Brücken möglich. Insbesondere die SongDynastie vor rund tausend Jahren forcierte die technische Innovation mit allen Mitteln und errichtete in einer wahren Bauwut mehr Brücken im alten China als alle andern Dynastien zusammen. Noch heute imponieren in ihrer perfekten Harmonie von Nützlichkeit und Schönheit Chinas Flachbogenbrücken aus Stein. Die aus dem 7. Jahrhundert n. Chr. stammende »Brücke des sicheren Übergangs« bei Zhaoxian ist nicht nur eine der ältesten existierenden Brücken der Welt, sondern findet an Kühnheit und Eleganz kaum einen historischen Konkurrenten. Ihr Bogen bildet das Segment eines Kreises, dessen Radius 27,7 Meter beträgt, die Höhe des Bogens über der Brückengrundlinie mißt aber lediglich 7,2 Meter. Und die seitlichen Entlastungsbögen dieser Brücke, welche nicht nur das Bauwerk optisch leichter erscheinen lassen, sondern außerdem bei Hochwasser weniger Angriffsfläche bieten, haben Brückenbauer bis auf den heutigen Tag inspiriert. Flachbogenbrücken tauchten in Europa dann erst am Ende des 13. Jahrhunderts auf. Und was auch den modernen Tiefbauingenieur erstaunen sollte: Aus dem 12. Jahrhundert ist eine chinesische Flachbogenbrücke bekannt, die ein Verhältnis von Bogenlänge zu Bogenhöhe hat, wie es heute nur mittels vorgespannten Betons realisierbar ist. Für die breiten Flußmündungen in Südchina wiederum entwickelten die Techniker eine weitere Variante. Aus Holz oder Stein gefertigte Balkenbrücken schwangen sich von Fundament zu Fundament und überbrückten bereits im 12. Jahrhundert beispielsweise auf 331 Pfeilern eine Strecke von zwei Kilometern. Hier bestand die Schwierigkeit vor allem im –17–
sichern Verankern der zahlreichen Brückenpfeiler im schlammigen Flußgrund. Der Trick: Mit Hilfe von wasserdichten Bauverschalungen aus Bambus und Holz schafften sich die Brückenbauer für jeden vorgesehenen Pfeiler einen trockenen Baugrund. Die Qualität solcher Pfeiler war schließlich derart gut, daß selbst jahrhundertelanges Nagen der Fluten ihnen nichts anhaben konnte. Angesichts solcher tiefbautechnischer Glanzleistungen erscheint es geradezu als kulturgeschichtliche Beleidigung, daß aus dem Blickwinkel des Westens nicht die geschilderte Brückenkunst, sondern die zwar niedlichen, aber technisch völlig anspruchslosen »chinesischen Brücklein« der Gartenanlagen bewundert werden. Man kann Chinas frühe technische Blütezeit und die damalige intensive Mehrung und gezielte Verbreitung des wissenschaftlichtechnischen Knowhows nicht verstehen ohne das Wissen um den Träger der Software: das bedruckte Papier. Um 200 n. Chr. aus der Rinde des Maulbeerbaumes und weitere 200 Jahre später vorwiegend aus Bambus gefertigt, stellte Papier für die Chinesen einen relativ leicht herstellbaren und damit kostengünstigen »Datenträger« dar. Dank dem schnellwachsenden Ausgangsmaterial konnte insbesondere die mit dem damaligen Ausbau der zahllosen Beamtentätigkeiten steil ansteigende Papiernachfrage leicht befriedigt werden. Diese Erfindung war so zukunftsweisend, daß selbst die technisch ausgereiften Papiermaschinen von heute im Grunde noch immer nach dem ursprünglichen chinesischen Rezept arbeiten: Einweichen der Faserstoffe, Trennen der Fasern und Bildung eines Faserbreis, Verdünnen des Faserbreis, Blattbildung durch Verfilzung, Trocknen und Glätten des Blattes. Oft mischten die Chinesen dem Faserbrei auch Farben bei, was etwa der Regierung die deutliche Kennzeichnung verschiedener Klassen von Datenträgern erlaubte: blaues Papier für die kaiserlichen Dekrete, gelbes für Berichte an den –18–
Hofstaat, weißes schließlich für die kaiserliche Geschichtsschreibung. Ein Beimischen weiterer Zutaten wie Alaun und Wachs lieferte die verschieden dicken und unterschiedlich festen Papierqualitäten. Dies eröffnete dem Papier zahlreiche Anwendungen außerhalb der Mal- und Schreibstuben: Laternen, Opfergaben, Spielzeug, ja sogar Papiertaschentücher. Die Veröffentlichung der unzähligen Dekrete, aber auch die Dokumentation und Verbreitung des technischen Wissens machten natürlich die Suche nach einem effizienten Verfahren zur Produktion textgleicher Schriftstücke zur vordringlichen Aufgabe. Im 8. Jahrhundert entwickelten die Chinesen den Blockdruck (Holztafeldruck), ab dem 11. Jahrhundert verfügten die Drucker sogar über bewegliche Lettern aus gebranntem Ton oder Porzellan. Wegen der enormen Vielfalt chinesischer Schriftzeichen und nicht zuletzt aus ästhetischen Gründen blieb aber der Blockdruck vorherrschend. Nach Europa kam das Papier über die Seidenstraße: erst in die arabischen Länder und über das arabische Spanien im 12. Jahrhundert nach Frankreich. Mittel- und Nordeuropa interessierten sich für die Papierherstellung allerdings nicht vor dem 15. Jahrhundert. Dies mag wohl am damals noch sehr weit verbreiteten Analphabetismus, vor allem aber am Umstand gelegen haben, daß sich zum Schreiben mit dem Federkiel Pergament wesentlich besser eignete als Papier. Die Verfügbarkeit von Papier erlaubte Gutenberg dann um 1440, mittels Metalllettern den Buchdruck zu entwickeln, was das Startsignal für die enorme Verbreitung des Papiers in Europa war. Mittlerweile hatten Papier und Druckkunst in China bereits wahre Publikationsorgien ausgelöst. Lexika, wissenschaftliche Textsammlungen, technische Abhandlungen, aber auch populäre Literatur und astronomische Kalender für jedermann waren Spitzenreiter des Buchhandels. Und bald schon bereicherten mehrfarbig gedruckte Illustrationen die Buchproduktion. –19–
Um 1024 kam dann in China das erste Papiergeld in den Umlauf: Unter anderem ein sehr bequemes Mittel zur kaiserlichen Budgetsanierung, weshalb die per Notenpresse induzierte Inflation ebenfalls als chinesische Erfindung
Frühe Bombe aus Gußeisen. Chemische Bestandteile waren außer Schwarzpulver auch getrockneter Urin, Fäkalien und Knoblauchsaft. Zur Erhöhung der Gefährlichkeit wurden Eisensplitter und Porzellanscherben sowie Gift- und Tränengase beigegeben.
bezeichnet werden kann. Bald nistete sich auf dem Geldmarkt auch ein spezialisierter Zweig der Unterwelt ein, wie folgender Text auf einer Banknote der Ming-Dynastie dokumentiert: »Wer Banknoten fälscht oder gefälscht in Umlauf bringt, wird enthauptet. Wer einen Fälscher anzeigt und verhaftet, erhält 250 Tals Silber zur Belohnung sowie das gesamte Vermögen des Verbrechers.« –20–
Und um bei den garstigen Seiten der altchinesischen Kultur zu bleiben: Trotz hartnäckiger Kolportage durch gewisse Kritiker des europäischen Wissenschaftsbetriebs stimmt es nicht, daß die Technologen des Westens jedwede neue Erfindung umgehend für militärische Zwecke mißbrauchten, während die alten Chinesen beispielsweise ihr pyrotechnisches Knowhow lediglich zur friedlichen Unterhaltung von Kaiser und Volk eingesetzt hätten. Um das 9. Jahrhundert mischten taoistische Mönche im Rahmen systematischer alchemistischer Versuche auch Holzkohle, Salpeter und Schwefel. Was sie dann mit dieser Substanz erlebten, veranlaßte die Frühchemiker zu einer schriftlichen Warnung an allfällige Nachahmer, die Finger von solchem Zeug zu lassen, da sonst Hände und Gesicht verbrennen, ja sogar Häuser in Flammen aufgehen könnten. Die chinesischen Mönche hatten das Schwarzpulver erfunden. Kein Jahrhundert später findet die »chemisches Feuer« genannte Rezeptur bereits militärische Verwendung als Zündsubstanz für Flammenwerfer, eine raffinierte Kriegswaffe, die brennendes Petrol unter Verwendung einer Handpumpe viele Meter weit dem Feind entgegenspritzte. Und bereits im Jahre 1000 verfügten die kaiserlichen Kampftruppen über schwarzpulvergefüllte Bomben und Granaten, die etwa mittels großer Schleudern Richtung Gegner geschickt wurden. Durch Erhöhung des Nitratanteils brachten Chinas Rüstungsspezialisten im 13. Jahrhundert wesentlich mehr Sauerstoff in die bisher etwas lahme Pulvermischung, wodurch eine Armee jetzt über viel brisantere und entsprechend wirkungsvollere Bomben verfügte. In die Luft gejagte Festungsmauern und aufgesprengte Stadttore demonstrierten den feindlichen Mongolen solchen militärischen Fortschritt erbarmungslos. Und Bambus, die Grundsubstanz der so edlen Papierkunst? Mit langsam brennender Schwarzpulvermischung gefüllte –21–
Bambusröhren wurden an langen Speeren befestigt und dem Feind als »Feuerlanze« minutenlang vor die Nase gehalten. Sukzessive griff man zu immer größeren Bambuskalibern, und die Soldaten des 12. Jahrhunderts verfügten über fußbreite Rohre, montiert auf einem Holzgerüst und manchmal mit Rädern für raschen Stellungsbezug versehen. Die Beimischung von Metallabfällen und Glasscherben in das fauchende Pulver der Feuerspeier machte diese Waffe schließlich zu einer Art »Bambusartillerie«. Erst der Entwicklungsschritt vom Bambusrohr zum Rohr aus Bronze oder Eisen ungefähr im 14. Jahrhundert erlaubte dann die Verwendung brisanterer Treibmittel und damit das eigentliche Artillerieschießen mit Kugeln und hohem Mündungsdruck. Soweit also die Geschichte der »friedlichen Verwendung des Schwarzpulvers« im alten China. Herbert Cerutti
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Warum kein chinesischer Newton? Hypothesen zum historischen Entwicklungsstopp
Angesichts der wissenschaftlich-technischen Leistungen des alten China stellt sich unweigerlich die Frage, warum dort schließlich nicht auch etwas Ähnliches entstanden ist wie im Europa der Renaissance: die Geburt moderner Wissenschaft. Wie im vorhergehenden Beitrag über Chinas technische Tradition geschildert, war diese Frage Ausgangspunkt der Forschertätigkeit des Engländers Needham. Um es vorwegzunehmen: Trotz lebenslangem Studium chinesischer Quellen weiß Needham auch heute noch keine befriedigende Antwort. Etliche Aspekte des modernen Wissenschaftsbetriebs sind im alten China zwar durchaus vorhanden gewesen. So sind insbesondere Forschung und Entwicklung in großem Stil vom Staat gefördert worden. Und entgegen etwa den Bräuchen im frühen Europa klebten Chinas Forscher nicht an wissenschaftlichen Dogmen, sondern waren meist rasch bereit, in der Praxis gewonnene Erfahrungen grauer Theorie vorzuziehen. Die kontinuierliche Wissensvermehrung im Schöße großer Forscherteams an den kaiserlichen Höfen, die ausgeprägte Beobachtungsliebe und die kooperative Arbeitsweise des einzelnen Forschers, aber auch die gezielte Talentsuche im Rahmen der Selektionsverfahren für Chinas Beamtennachwuchs – alles ebenfalls Markenzeichen moderner Forschung. Gewisse Wissenschaftshistoriker glauben, des Rätsels Lösung liege in einem andern Zeitbegriff der Chinesen. Denn die alten –23–
Chinesen hätten, gestützt auf ihre Beobachtungen des Naturgeschehens – etwa die biologischen Kreisläufe, die Gezeiten des Meeres, der Lauf der Gestirne –, eher einem zyklischen Zeitbegriff gehuldigt. Anders die Intelligenzia im Europa der Renaissance. Ihr Glauben an eine streng lineare und ständig fortschreitende Zeit war gewissermaßen Bedingung sine qua non zur Entwicklung des modernen Forschungsstils, welcher durch gezielte experimentelle Prüfung vorausberechneter Abläufe, durch die Wiederholbarkeit experimenteller Ergebnisse, durch das Konzept der Kausalität charakterisiert ist. Needham zeigt nun aber in seinem Werk, daß auch im alten China die Auffassung einer linearen Zeit dominierte, der Zeitbegriff also nicht die Erklärung für die verpaßte Fortentwicklung liefert. Ohne die Deutungsversuche anderer Fachleute generell abzulehnen, liefert Jean-Pierre Voiret, Ingenieur und Sinologe aus Thalwil (Zürich), eine zusätzliche Hypothese für Chinas wissenschaftlichen Dornröschenschlaf: Mitten in die technische Hochblüte der Song-Zeit im 13. Jahrhundert platzte die Invasion der Mongolen. Zwar widerstand Chinas Herrscherdynastie dank hochentwickelter Kriegstechnik jahrzehntelang dem Sturm aus dem Norden. Nach dreißigjährigem Ringen lag aber Chinas Macht am Boden. Und das Land hatte von seinen 110 Millionen Einwohnern 50 Millionen verloren! Dieser gigantische Aderlaß von fast 50 Prozent der Population betraf wohl nicht nur niedriges Volk, sondern auch in erheblichem Maße die Gebildeten, also unter anderem Wissenschaftler und Techniker. Ebenfalls teilweise ruiniert waren Wirtschaft und Verwaltungsstruktur des Reiches. Und da China dann während der nächsten hundert Jahre von Analphabeten beherrscht wurde, dürfte das Klima für ein Gedeihen der Wissenschaften mehr als frostig gewesen sein. Zwar hielten sich am Hofe der Mongolenherrscher etliche technisch und handwerklich versierte Gastarbeiter aus Europa, Persien und den arabischen Ländern –24–
auf. Deren Rückreise Richtung Westen nach dem kläglichen Ende der Mongolenherrschaft im 14. Jahrhundert dürfte eine Weiterführung nennenswerter wissenschaftlicher Arbeit in China endgültig unmöglich gemacht haben. Voiret ist der Meinung, daß nicht zuletzt dieser Brain drain aus China zurück nach Europa das Phänomen der Renaissance nicht unwesentlich mitbestimmt haben dürfte. Und ein letzter Erklärungsversuch soll schließlich in unsere Zeit führen. Chinas traditionelles Interesse am Geschehen in der Natur ist geprägt von einer ganzheitlichen Betrachtungsweise. Ziel der Erforschung des Naturgeschehens als auch die praktische Arbeit sowohl des Arztes wie des Bauern war stets die Suche nach dem natürlichen Gleichgewicht, das Berücksichtigen der vermuteten Interdependenzen der unterschiedlichsten Naturphänomene. Der aufmerksame Leser wird gemerkt haben, daß solche altchinesische Auffassung modernsten Tendenzen unserer Gesellschaft entspricht. Partikuläres, zergliederndes Denken und Forschen der Neuzeit kann zwar auf viele Erfolge hinweisen; die schließlich zutage getretene Komplexität, etwa der Umwelt oder des menschlichen Körpers mit seiner Psyche, hat diesem Forschungsstil aber deutliche Grenzen gesetzt. Seien es jetzt philosophische Gründe oder die Folge politischer Umwälzungen: Das Ausbleiben einer Entwicklung in Richtung moderner Wissenschaft hat China allenfalls manchen Irrweg erspart. Daß aber der heute in China überall feststellbare Hunger nach modernem Wissen, die Zielstrebigkeit, mit der technisches Knowhow aus westlichen Industrienationen importiert wird, dem Reich der Mitte schließlich doch noch gewisse Sackgassen unseres »Fortschritts« bescheren (etwa auf dem Umweltsektor), scheint sich bereits abzuzeichnen. Herbert Cerutti
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Geduldige Archäologen Frühe Kunstwerke dokumentieren vergangene Technik
In der weiten Talebene des Gelben Flusses, 35 Kilometer östlich der Provinzhauptstadt Xi’an, bohrten im März 1974 Bauern nach Wasser. Was sie schließlich fanden, ist die wohl spektakulärste archäologische Entdeckung des neuen China: eine riesige unterirdische Anlage mit über 8 000 Kriegerfiguren und Pferden aus Ton in voller Lebensgröße. Die geschichtliche Zuordnung des Fundes war nicht schwierig, denn die stumme Streitmacht befindet sich in unmittelbarer Umgebung des Grabhügels von Qin Shihuang Di, dem »Ersten Kaiser von China«. Dieser von 259 bis 210 v. Chr. lebende Herrscher hatte mit zahlreichen militärischen Aktionen die einzelnen Feudalstaaten Chinas erobert und sich schließlich selber zum Kaiser ernannt. Zum Schutz des Reiches gegen die Attacken der Steppenvölker des Nordens ließ er bereits bestehende Schutzwälle zur berühmten Großen Mauer verbinden; rigorose Reformen, wie die Vereinheitlichung der Maße, Gewichte, Währungen, ja sogar der Spurbreite der Wagen, erleichterten das Verwalten des Riesenreiches. Zeitgenössische Quellen beschreiben eine überwältigende Prachtentfaltung im kaiserlichen Lebensbereich – aber auch eine krankhafte Todesangst des Qin-Herrschers. Dieser Furcht entsprang wohl die Idee, sein künftiges Grab von einer naturgetreu nachgebildeten und mit echten Waffen versehenen Armee »schützen« zu lassen. Die Entdeckung der Tonfiguren von höchster handwerklicher und gestalterischer Qualität hat nicht nur die früher gering –26–
eingeschätzte Kunst der Qin-Dynastie mit einem Schlag rehabilitiert, aus den Kunstwerken sind außerdem gewichtige Hinweise zur Technik im alten China ersichtlich. Über die bisherigen Erkenntnisse, aber auch die noch offenen Fragen der Restauration haben uns die chinesischen Archäologen an Ort und Stelle informiert. Blickt man in der heute das Ausgrabungsfeld überspannenden riesigen Stahlrohrhalle erstmals über den Rand des vordersten Grabens, traut man seinen Augen nicht: Schulter an Schulter stehen hier in einer Reihe 70 Soldaten und dahinter gleich nochmals zwei solche Reihen. Hinter den drei Reihen öffnen sich neun Korridore, jeder 200 Meter lang und mit vier Kriegerkolonnen dicht belegt. Im vorderen Teil der Korridore stehen vierspännige Streitwagen. Die langen Flanken der Phalanx sind durch eine Doppelreihe kampfbereiter Bogenschützen verstärkt. 1976 entdeckten die Archäologen dicht neben dem ursprünglichen Grabungssektor eine zweite Anlage. Sondierungen an ausgewählten Orten förderten hier folgende Kriegervarianten zutage: gepanzerte Offiziere, Kavalleristen, die ein Schlachtroß am Zügel führen, unbewaffnete und offenbar auf den Nahkampf mit nackter Faust gedrillte Elitesoldaten, deren Pose an die in China heute noch praktizierte Kunst des Schattenboxens erinnert. Und ein Jahr später war man auch den Generälen auf der Spur. Ein dritter Grabungssektor gab eine Kommandozentrale frei, in der 68 hohe Offiziere und Militärberater in eher lockerer Aufstellung versammelt sind. So steht also noch heute in der chinesischen Tiefebene die stumme Version jener Armee, wie sie vor 2200 Jahren in dieser Zusammensetzung und Aufstellung den Qin-Kaiser beschützt hatte. Kleidung und Haartracht der Tonsoldaten sind derart exakt modelliert, daß kleinste Details vergangener Kriegsausrüstung und Mode ersichtlich sind; an den Schuhen kniender Soldaten lassen sich sogar im Bereich der Ferse und Zehen andere Sohlenprofile erkennen als in der –27–
Sohlenmitte. Und gleichsam als Krönung solcher Perfektion trägt jeder Krieger individuelle Gesichtszüge. Es wird vermutet, Soldaten und Offiziere aus des Kaisers richtiger Armee hätten Modell gestanden. Interessieren nun den Kunstsachverständigen die stilistischen Merkmale, wird der Militärhistoriker von der gut dotierten Kavallerie fasziniert, die ihre verhältnismäßig kleinen Pferde noch ohne Steigbügel ritt. Die nach zweitausendjährigem Schlaf wiedererwachte Reiterschaft des Qin-Kaisers ist die handfeste Bestätigung für die schon lange gehegte Vermutung, der kaiserliche Sieg über die Reitervölker des Nordens sei nur mit einer schlagkräftigen Kavallerie möglich gewesen. Bewunderung weckten aber nicht nur die künstlerischen und historischen Aspekte des Terrakotta-Heeres. Die Untersuchung des Tonmaterials deutet auf relativ hohe Brenntemperaturen, was eine sehr fortgeschrittene Brenntechnik erfordert. Die einzelnen Figuren wurden vermutlich aus serienmäßig in Formen gepreßten Teilstücken zusammengefügt und vor dem Brennen sorgfältig überarbeitet. Die individuell modellierten Gesichtszüge, der Bart und die Haartracht sind als separate Tonschicht nachträglich aufgetragen. Schon allein von den Dimensionen her waren die Pferde eine spezielle handwerkliche Knacknuß. Und alle Figuren besaßen einst eine bunte, erst nach dem Brennen applizierte Bemalung aus mineralischen Pigmenten, die noch in Spuren sichtbar ist. So präsent die Tonarmee heute ist, so rätselhaft ist immer noch, wie derart große Tonplastiken gebrannt worden sind. Unbekannt ist auch, wo die gewaltigen Öfen standen und woher das Tonmaterial stammte. Sicher waren Hunderttausende von Künstlern, Technikern und Handlangern an diesem monumentalen kaiserlichen Auftrag beteiligt. Im Ausgrabungsgebiet sind denn auch zahlreiche, meist achtlos verscharrte menschliche Skelette gefunden worden. Die Überlegung der Archäologen, ein solches Riesenprojekt müsse –28–
zwangsläufig auch viel Ausschuß produziert haben, läßt hoffen, daß das historische Produktionszentrum mit seinen Brennöfen früher oder später ebenfalls gefunden wird. Diese technisch hochinteressante Stätte dürfte nicht weit von der Tonarmee weg sein, denn ein langer Transport der fertigen Figuren wäre wohl zu problematisch gewesen. Bewunderung erweckt auch die Arbeit der Archäologen. Eine beachtliche Aufgabe war bereits das fachmännische Freilegen des insgesamt 20 000 Quadratmeter großen Grabungsfeldes. Archivaufnahmen der einzelnen Grabungssektoren offenbaren vollends die Leistung der chinesischen Spezialisten: die vorgefundenen Skulpturen lagen fast alle in Scherben, und nur wenige Tonkörper und -köpfe ließen sich einigermaßen intakt ausgraben. Der Grund für diese Zerstörung liegt über 2000 Jahre zurück. Schon kurz nach dem Tod des Qin-Herrschers hatten seine Nachfolger die in einer massiven Holzhalle einige Meter unter dem Boden versteckte Tonarmee entdeckt, die meisten Wertgegenstände und Waffen geraubt und den unterirdischen Holzbau angezündet. Die Feuersbrunst brachte die Anlage schließlich zum Einsturz; übrig blieb eine geschlagene und zerschlagene Armee. In zehnjähriger Sisyphusarbeit haben die Chinesen bisher 800 Terrakotta-Figuren restauriert. Wegweiser im gigantischen Puzzle waren, außer der örtlichen Lage der Scherben, die wenigen unzerbrochenen Figuren. Zur Zeit sind mit Restauration und weiteren Grabungen 20 Archäologen und zahlreiche Hilfskräfte beschäftigt. Die bei unserem Besuch angetroffenen Fachleute schienen recht jung. Liu Yung Hui, der 1954 geborene Vizedirektor der Qin-Ausgrabung, sagte, daß derzeit an der Universität Xi’an weitere 80 Archäologen ausgebildet werden. Trotz steigender Fachkraft rechnet der Grabungsleiter aber mit noch mindestens 20 Arbeitsjahren. Das für westliche Begriffe eher gemächliche Tempo eines doch so bedeutenden –29–
archäologischen Projekts ist nicht zuletzt die Folge des in China eher spät erwachten staatlichen Interesses an der frühen Vergangenheit. Der Aufbau der nötigen Fachkompetenz und das Heranbilden des wissenschaftlichen Nachwuchses brauchen nun halt ihre Zeit. Auch finanziell stehen für diese »rückwärts gerichtete« Aufgabe nur beschränkte Mittel zur Verfügung. Bliebe die Zuwendung an Geld und Geist aus fremden Landen. Wiederholt haben westliche Staaten sowie UnoOrganisationen China personelle und finanzielle Hilfe für archäologische Projekte angeboten. So verlockend solche Unterstützung auch sei, China habe bisher sämtliche Angebote abgelehnt, meint mit gewissem Stolz unser Gesprächspartner. Und das erst späte archäologische Erwachen Chinas habe immerhin den Vorteil, daß die Nation nicht das traurige Schicksal anderer Entwicklungsländer teile, deren schönste Schätze jetzt in ausländischen Museen stehen. Vor diesem nationalen Hintergrund wird nun auch eher verständlich, was etwa in einem Land wie den USA völlig undenkbar wäre. Einen Kilometer westlich der TerrakottaArmee schwingt sich sanft aus der Ebene ein 50 Meter hoher Hügel empor. Er beherbergt mit größter Wahrscheinlichkeit einen noch imposanteren Schatz als die Tonarmee: das Mausoleum des Kaisers Qin Shihuang Di. Historische Aufzeichnungen aus einer Zeit nur 100 Jahre nach dem Tod des Qin-Herrschers schildern im Detail eine unglaubliche Pracht der Grabstätte: kostbare Gefäße und Edelsteine, Modelle von Palästen und Städten, die Flüsse des Landes sogar in Quecksilber nachgebildet. Zur Vernichtung späterer Eindringlinge sollen Armbrüste mit Selbstauslösung installiert worden sein. Zwar ist ungewiß, ob die Grabkammer trotz Schutzmaßnahmen nicht doch von Räubern heimgesucht wurde. Die entdeckte Terrakotta-Armee läßt aber vermuten, daß auch ein geplündertes kaiserliches Mausoleum immer noch sehr ergiebig wäre. –30–
Da liegt nun also die potentielle archäologische Sensation seit Jahrzehnten vor den Augen der chinesischen Fachleute, ohne daß sie der Versuchung erliegen, schleunigst Hand anzulegen. »Wir wollen erst genügend fachliche Kompetenz und Kapazität aufbauen, bevor wir uns an diese große Aufgabe wagen. Auf einige Jahre mehr oder weniger darf es dabei nicht ankommen«, lautet der für westliche Ohren eher ungewohnte Kommentar. Und mit der gleichen Begründung haben die chinesischen Archäologen die zwei nachträglich entdeckten Sektoren der Tonarmee nach der Sondierungsphase wieder zugeschüttet, um sich vorläufig auf die Rekonstruktion und Konservierung des großen Hauptsektors konzentrieren zu können. Das westliche Staunen wird noch größer, wenn der Zuhörer erfährt, daß in der weiteren Umgebung von Xi'an noch Dutzende von historisch dokumentierten Grabstätten früherer Herrscher und ihrer Familien liegen, die allesamt noch der wissenschaftlichen Erforschung harren. Trotz der bewußten Selbstbeschränkung haben die Archäologen in Xi'an unlängst eine weitere Trouvaille gemacht. 1980 entdeckten sie westlich des Grabhügels von Qin Shihuang Di zwei Bronzemodelle im Maßstab l:2 von kaiserlichen Kutschen mit Kutscher und je vier Pferden. Die beiden Modelle waren durch die Jahrtausende im Boden stark in Mitleidenschaft gezogen. Nach zweijährige Arbeit ist nun eines der Gespanne der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Das nach der sehr sorgfältigen Restaurierung heute wieder prächtig dastehende Kunstwerk vermittelt ein äußerst ästhetisches, aber auch höchst informatives Bild altchinesischer Tradition und Technik. 3,1 Meter lang und 1,6 Meter hoch, ist das 1200 Kilogramm schwere Modell in einem freistehenden Glaskasten ausgestellt. In ruhiger Haltung sind die vier Pferde nebeneinander vor einen zweirädrigen Wagen gespannt. Der geschlossene Wagen trägt ein gewölbtes, weit ausladendes Dach von nur 2 bis 4 Millimetern Dicke, das die damaligen –31–
Bronzespezialisten in einem Stück gegossen hatten. Vorne und auf beiden Seiten finden sich im Wagenkasten feingelochte Bronzefenster, die sich am Modell öffnen und schließen lassen. Die Türe befindet sich an der Wagenhinterseite; ein spezieller Schließmechanismus erlaubt lediglich ein Öffnen vom Wageninnern her. Der Wagenkasten liegt gefedert auf der Achse, und die Räder drehen sich auch am Modell. Auf einer Bank an der Wagenfront sitzt mit angedeutetem Lächeln der schnurrbärtige Kutscher und hält mit beiden Händen die Zügel. Von großem historischem Interesse ist nun die Art und Weise, wie die vier Pferde mit ihrem Zaumzeug aus Silber und Gold eingespannt sind. Die beiden Innenpferde sind über ein gemeinsames Joch und mit einem Kummet an eine Mitteldeichsel geschirrt. Die ohne Deichsel geschirrten Außenpferde sind über Zügel direkt mit dem Wagen verbunden. Spezielle Spangen sorgen für den nötigen seitlichen Abstand der Pferde. Die Trensen der Außenpferde sind seitlich stark verlängert, um auch gegenüber fremden Pferden Distanz zu wahren. Wie die Fachleute in Xi’an uns versicherten, lassen sich dank den Bronzemodellen manche Fragen betreffend früherer Quadriga-Technik nun zuverlässig beantworten. Herbert Cerutti
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Der erste Seismograph Ein Gerät von staatspolitischer Bedeutung
Eine Möglichkeit, Erdbeben vorauszusagen, kannten die alten Chinesen zwar nicht. Was aber die kaiserlichen Regierungen bereits anstrebten, war eine möglichst rasche Information über Erdbebenkatastrophen. Denn solche brachten den betroffenen Regionen nicht nur organisatorische Probleme, sondern bedeuteten für die Lokalbehörden nicht selten die Konfrontation mit sozialer Unrast. Zu merken, daß die Erde bebt, ist in einem kleinen Land, wo bei jedem Beben fast überall die Tassen wackeln, kein Problem. Wie aber konnte der Kaiser Chinas in der Hauptstadt unverzüglich merken, daß sich in einer weitentfernten Präfektur eine solche Katastrophe ereignete? Die Entwicklung des ersten Seismographen der Welt läßt sich genau datieren. In den historischen Aufzeichnungen der HanDynastie läßt sich noch heute nachlesen: »Im ersten Jahr der Yangjia-Herrschaft (132 n. Chr.) hat Zhang Heng eine ›Wetterfahne für Erdbeben‹ erfunden. Dieser Apparat bestand aus einem feingeformten Bronzegefäß, einem Weinkrug ähnlich, mit einem Durchmesser von 8 cm, einem gewölbten Deckel und einer reichverzierten Außenseite. Innen hatte es in der Mitte eine Säule, die sich seitwärts in acht Richtungen verschieben konnte und dabei einen Öffnungs- und Schließmechanismus betätigte. Außen am Gefäß hatte es acht Drachenköpfe, jeder mit einer Kugel zwischen den Zähnen, während unten acht Kröten mit weitgeöffnetem Maul bereitsaßen, die Kugeln aufzufangen. Wenn die Erde bebte, begann der Mechanismus, der die Drachen betätigte, auszuschlagen, so daß ein Drachenkopf eine –33–
Kugel ausspie und diese ins Krötenmaul darunter fiel. Der dabei entstehende Ton erregte die Aufmerksamkeit des Aufsehers. Auch wenn der Mechanismus des Drachens ausgelöst worden war, regten sich die sieben anderen Köpfe nicht, und so ließ sich
Der erste Seismograph der Welt, wie er im Jahr 1936 von Wang Zhenduo rekonstruiert worden ist. Ein Klinkenmechanismus hinter jedem Drachenkopf verhindert ein Zurückschwingen des Pendels und dadurch ein Verwischen der ursprünglichen Richtungsinformation durch nachfolgende Erschütterungen. So genial ein solcher Seismograph gewesen sein mag, war er im 9. Jahrhundert jedoch –34–
bereits wieder verschwunden.
durch den Platz des betätigten Drachens die Richtung feststellen, wo das Erdbeben stattgefunden hatte. Eines Tages fiel einer Kröte die Kugel ins Maul, ohne daß jemand am Ort eine Erschütterung gespürt hätte. Alle Beamten waren ob dieser scheinbar ohne Ursache hervorgebrachten merkwürdigen Wirkung erstaunt. Doch kam einige Tage später eine Botschaft mit der Nachricht von einem Erdbeben in Longxi. Danach waren alle von der geheimnisvollen Wirkung des Instrumentes überzeugt.« Nachzutragen wäre, daß jenes Longxi rund 670 Kilometer vom Standort des Seismographen in der damaligen Hauptstadt Luoyang entfernt war. Eine meßtechnische Meisterleistung also, wie sie die Erdbebenforschung erst in unserer Zeit wieder erreichte. Herbert Cerutti
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Von der Schwierigkeit, Erdbeben vorherzusagen 150000 Amateure leisten seismologische Basisarbeit
Haicheng ist eine kleinere Stadt in der Provinz Liaoning, 500 Kilometer nordöstlich von Peking. Am Nachmittag des 4. Februar 1975 forderten die Stadtbehörden die Bevölkerung auf, aus den Häusern und Fabriken ins Freie zu gehen und dort zu warten. Gegen Abend wurden auf einem großen Platz Filme gezeigt. Mitten im zweiten Film, um 19 Uhr 36, verloren die Zuschauer den Boden unter den Füßen: ein gewaltiges Erdbeben von der Magnitude 7,3 packte die Stadt. Nebst ausgedehnten Schäden an den Gebäuden waren auch 1 000 Tote zu beklagen. Fachleute schätzen, daß ohne Evakuation aber gegen 100 000 Leute hätten sterben müssen. Sei es beim direkten Gespräch mit den Wissenschaftlern des State Seismological Bureau, des nationalen seismologischen Forschungszentrums in Peking, oder beim Studium internationaler Fachliteratur: Haicheng segelt wie ein Flaggschiff durch jede Diskussion. Zum erstenmal war es hier den Seismologen gelungen, ein großes Erdbeben sowohl örtlich wie zeitlich ziemlich genau vorherzusagen. Wie war es zu dieser Leistung gekommen? China hat eine sehr bewegte seismologische Vergangenheit. Erdbeben gehören zum Reich der Mitte, soweit die Chroniken zurückreichen. Aus der Zeit der Han-Dynastie (vor rund 2000 Jahren) sind Dutzende größerer Beben dokumentiert, und die damalige Hauptstadt Chang’an wurde innerhalb weniger Jahre –36–
sogar fünfmal heimgesucht. In jene Epoche fällt denn auch die Erfindung des Seismographen. Und konnten sie die Naturgewalt schon nicht beherrschen, setzten die frühen Chinesen ihr doch eine »sanfte Verteidigung« entgegen: Die tragenden Elemente größerer Bauten bestanden bereits vor 3000 Jahren aus Holzsäulen und Balken, wobei nach Möglichkeit der Stamm in seiner gewachsenen, runden und damit erdbebenfesten Form belassen wurde. Trotz solchen Vorkehrungen verursachten große Beben immer wieder enorme Opfer. Der traurige Rekord dürften jene über 800 000 Menschen sein, welche im Jahre 1556 in Hua Xian, nahe der heutigen Stadt Xi’an (Provinz Shaanxi), ihr Leben verloren. Ohne auf die komplexe Geologie Chinas im Detail einzugehen, soll doch die tektonische Grundlage der seismischen Unrast skizziert werden. Weltweit gesehen ereignen sich Erdbeben fast ausschließlich dort, wo ozeanische und kontinentale Platten aufeinanderstoßen. Nicht so in China. Zwar findet sich in der Gegend der Insel Taiwan, wo die philippinische Platte unter die eurasische taucht, lehrbuchmäßig eine Zone hoher seismischer Aktivität. Die umfangreiche Erdbebenzone aber, welche sich vom Rande des Himalajas bis in den Nordosten Chinas erstreckt, liegt fast vollständig innerhalb der eurasischen Platte. Den Grund für dieses »unorthodoxe« seismische Verhalten sehen die Geologen im enormen Kompressionsdruck, den die indische Platte in ihrer nordöstlich gerichteten Driftbewegung auf Eurasien ausübt. Dieser Angriff auf die Südwestflanke Chinas läßt nun nicht nur den Himalaja in den Himmel wachsen, sondern versucht auch den Westen und Norden Chinas am südöstlichen Teil vorbeizudrücken, weshalb sich quer über den chinesischen Festlandkern eine Straße tektonischer Brüche zieht (siehe Karte S. 37). Und entlang diesen geologischen Schwachstellen breitet sich –37–
denn auch der seismologische Schrecken aus: von Kunming bis Lanzhou, dann in östlicher Richtung bis in die Gegend von Xi’an, von dort in einem nördlichen Ast über Taiyuan bis nach Peking und einem südlichen entlang dem Westrand der nordchinesischen Tiefebene bis in die Provinz Liaoning. Im Gegensatz zu den Rändern von Kontinentalschollen sind diese Bruchlinien aber nicht sehr tiefreichend, weshalb sich Erdbeben in China in den oberen 20 Kilometern der Erdkruste ereignen, was das seismologische Geschehen für die Erdbewohner eher gefährlicher macht. Stark erdbebengefährdet sind außerdem das Himalaja-Gebiet und die nördlich angrenzenden Hochlandregionen, während der Südosten und der äußerste Nordosten Chinas fast erdbebenfrei sind. Eröffnet worden ist das Zeitalter der chinesischen Erdbebenprognosen im März 1966 durch zwei verheerende Beben der Magnitude 6,8 und 7,2 in Xingtai, einer Stadt 350 Kilometer südwestlich von Peking. Zwar kamen die Hauptbeben unerwartet, wie gewohnt. Die in der Gegend noch während Jahren auftretenden Nachbeben zeigten dem aufmerksamen Beobachter indes eine seismische Signatur, die erstmals Hoffnung für die Möglichkeit von Erdbebenvorhersagen aufkeimen ließ. Wohl am eindrücklichsten war die Beobachtung, daß Tage bis Stunden vor einem großen Nachbeben die Gegend des künftigen Epizentrums fast immer von einer Serie kleinerer Beben erschüttert wurde. Dieser Unrast folgte dann eine kurze Periode seismischer Ruhe, worauf dann das stärkere Nachbeben einsetzte. Die Aussicht, mittels solcher ein Erdbeben ankündigender Phänomene ein Frühwarnsystem entwickeln zu können, brachte praktisch aus dem Stand die seismologische Forschung in China auf Hochtouren. Beobachtungsstationen wurden an allen Ecken und Enden gegründet, Instrumente gebastelt und die Bevölkerung jeder Stufe ermuntert, im landesweiten Forschungswettbewerb mitzumachen. Neun Jahre später war es dann soweit. Das Erfolgsstück »Haicheng« konnte –38–
über die Bühne gehen. Bereits 1970 war der südliche Teil der Provinz Liaoning unter verstärkte seismologische Beobachtung gestellt worden. Einen ersten Hinweis auf ein künftiges Beben in jener Gegend sahen die Forscher im Umstand, daß sich von Xingtai aus nach 1966 die Epizentren weiterer Erdbeben sukzessive in nordöstliche Richtung bis an die Bohai-Bucht verschoben hatten. Auf der anderen Seite der Bucht, in der Nähe von Jin Xian, liegt eine ausgeprägte Bruchlinie. Dort installierten die Seismologen 1971 eine 920 Meter lange Nivellierlinie und vermaßen eine Reihe von Niveaupunkten täglich. Gegen Ende 1973 kam unvermittelt Leben in die bisher ruhige Erdoberfläche. Mit einer Niveaudifferenz von mehreren Millimetern pro Jahr neigte sich die Meßstrecke sukzessive gegen Nordwesten. An mehreren Orten der Region waren auch Druckmesser in Bohrlöcher versenkt worden. In einer Meßstelle, 50 Kilometer von Haicheng entfernt, zeigte sich ab Mitte 1974 ein kontinuierlicher Druckanstieg. Und da sich außerdem im südlichen Teil der Provinz die monatliche Häufigkeit kleinerer Beben seit Mitte 1973 verfünffacht hatte, informierten die Behörden im November 1974 erstmals die Öffentlichkeit, ein größeres Beben könnte sich möglicherweise »in der näheren Zukunft im Räume Yingkou-Jin Xian« ereignen. Auch wurden jetzt Aufklärungskampagnen zum Erdbebenphänomen lanciert und die Leute aufgefordert, »ungewöhnliche Naturerscheinungen« umgehend zu melden. Berichte über sogenannte makroskopische Anomalien trafen denn auch in immer größerer Zahl bei den Observatorien und den Regierungsstellen ein: Schlangen erwachten aus dem Winterschlaf und verließen ihren Unterschlupf, verstörte Ratten ließen sich von Hand fangen, Wasserquellen begannen zu versiegen. Um die Jahreswende 1974/75 zeigten die geophysikalischen Meßreihen ein neues Verhalten. Das seit Monaten beobachtete Kippen der Nivellierstrecke änderte plötzlich die Richtung, und –39–
der Druck in den Bohrlöchern begann ebenso unvermittelt wieder zu sinken. Am 1. Februar erfolgten erste kleine Beben zwischen Yingkou und Haicheng, worauf viele Tiere (zum Beispiel Hausschweine) panikartiges Verhalten zeigten. Dies bewog die Provinzbehörden, vorsorgliche Sicherheitsmaßnahmen in Fabriken, Elektrizitätswerken sowie bei den Verkehrsbetrieben einzuleiten. Am 3. Februar 1975 stieg die Rate der Mikrobeben rasch an, am nächsten Morgen wurden bereits 60 Erschütterungen pro Stunde registriert. Ebenfalls an diesem Morgen sackte das elektrische Erdpotential an diversen Meßstellen auf den halben Wert. Um die Mittagszeit aber verschwanden die Mikrobeben plötzlich, das Erdpotential erreichte ebenso rasch wieder den gewohnten Wert, und aus vorher versiegten Quellen schoß das Wasser meterhoch. Das plötzliche Verschwinden der Mikrobeben kannten die Fachleute aber von früher als »seismische Ruhe vor dem Sturm«, was die Behörden bewog, um 14 Uhr dieses 4. Februar Evakuierungen in der Region anzuordnen. Nur Stunden später ereignete sich das eingangs geschilderte Haicheng-Erdbeben.
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Erdbebenzonen in China und Orte einiger großer Beben.
Freude und Stolz über die erfolgreiche Prognose dauerten genau 540 Tage: Am 28. Juli 1976 packten zwei Erdstöße von der Magnitude 7,8 und 7,1 das Industriezentrum Tangshan, 150 Kilometer östlich von Peking. Im Gegensatz zu Haicheng war keine öffentliche Warnung erfolgt. Bilder der Millionenstadt Tangshan unmittelbar nach der Katastrophe erinnern an Aufnahmen aus Hiroshima; 80 Prozent der Gebäude lagen in Trümmern; Dämme in der Umgebung waren geborsten, und Teile der Stadt waren überschwemmt. Über die Zahl der Toten herrschte in der Weltöffentlichkeit jahrelang Unklarheit; das State Seismological Bureau nennt heute 240 000. Mitbetroffen, wenn auch in wesentlich geringerem Maße, war auch die Hauptstadt Peking, und die Nachbeben in der weiteren Region zwangen während Wochen 30 Millionen Menschen zum Aufenthalt in Notunterkünften und Zelten. Ausländische Beobachter, die sich zufälligerweise in der Erdbebengegend –41–
aufhielten, waren indes beeindruckt von der Ruhe und Disziplin, mit welcher die Bevölkerung auf die Katastrophe reagierte. Sowohl der Zivilschutz wie die medizinische Betreuung und die Versorgung mit Lebensmitteln sollen sehr gut funktioniert haben. Keine Selbstverständlichkeit, wenn man etwa Berichte aus Süditalien kennt, wo nach dem Erdbeben von 1980 tagelang ein heilloses organisatorisches Durcheinander herrschte, eingetroffene Hilfsgüter in großer Zahl »verschwanden«, ja sogar Kinder gestohlen wurden. So gefaßt das chinesische Volk die Katastrophe von Tangshan auch ertrug, die Frage brannte in aller Herzen: Warum war in Tangshan nicht möglich, was in Haicheng so erfolgreich praktiziert worden war? Heute scheint selbst unter den chinesischen Seismologen immer noch kein Konsens betreffend die Umstände jenes Versagens zu bestehen. Während die einen meinen, es seien dem Tangshan-Erdbeben keine deutlichen geophysikalischen Anzeichen vorangegangen, sagen andere, es hätten sehr wohl klare Indikationen bestanden, die man aber falsch interpretiert habe. Und man hört sogar die Meinung, die damals in Peking einflußreiche »Viererbande« habe die Wissenschaftler geringgeschätzt und Informationen aus jenen Kreisen bewußt ignoriert. Die umfangreichen Daten, die der Japaner Rikitake publizierte (siehe Literaturverzeichnis), wirken wenigstens teilweise klärend. Terrestrische Niveauänderungen, ein Absinken des elektrischen Erdwiderstandes wie auch ein starkes Ansteigen des Radongehaltes im Grundwasser erfolgten Monate vor dem Erdbeben, und zwei Wochen vor der Katastrophe akzentuierten sich diese Anomalien. Verdächtige Vorbeben erfolgten indes keine. In den Tagen unmittelbar vor dem Beben wurden schließlich Hunderte von Fällen ungewöhnlichen Verhaltens von Wasserquellen, Brunnen und Tieren gemeldet. Da sich die gemessenen Anomalien wie auch die Amateurmeldungen aber über eine Hunderte von Kilometern –42–
weite und sehr dicht besiedelte Region erstreckten, dürften, trotz deutlichen Anzeichen, die Verantwortlichen vermutlich von einem Befehl zu so weiträumiger Evakuierung zurückgeschreckt sein. Gerade an diesem Beispiel zeigt sich in aller Deutlichkeit die Crux heutiger Erdbebenprognosen: Treten in einer traditionellen Erdbebenzone in einer bestimmten Region während längerer Zeit keine Beben auf (seismischer Gap), lassen sich aus der geographischen Ausdehnung der Zone sowohl Ort wie Magnitude eines künftigen Bebens grob abschätzen. Wann ein solches Erdbeben aber auftreten wird, bleibt vorderhand meist äußerst vage. Evakuierungen in dichtbesiedelten Gebieten können deshalb kaum zeitlich gezielt vorgenommen werden, was etwa die Frage aufwirft, wer für den wirtschaftlichen Ausfall längerer Evakuierungsperioden und für falsche Alarme geradestehen soll. Mag diese sozioökonomische Frage in einem sozialistisch regierten Land allenfalls zweitrangig sein, käme ihr in westlichen Industrienationen im Rahmen der Erdbebenprognostik größte Wichtigkeit zu. Sie ist indes noch völlig ungelöst und scheint verdrängt zu werden. Und daß ein falscher Alarm sehr handfeste wirtschaftliche Probleme bringen kann, weiß auch China inzwischen recht genau. Rund 150 Kilometer vor der Küste bei Schanghai ereignete sich 1984 ein mittleres Beben. Es war 11 Uhr abends, als die Bewohner Schanghais dieses Zittern spürten. Am nächsten Tag waren die Fabriken leer. In einer Blitzstudie evaluierten Fachleute und Behörden die Situation und konnten noch gleichentags der Bevölkerung versichern, es bestehe für Schanghai keine Erdbebengefahr. Trotz diesem effizienten Krisenmanagement erwuchsen aber allein aus jenem verlorenen Arbeitstag Kosten von 200 Millionen Yuan (ungefähr gleich viel Mark)!
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War die Häufigkeit der Mikrobeben einige Tage vor dem HaichengErdbeben sukzessive angestiegen, erfolgte knapp einen halben Tag vor der Katastrophe ein abruptes Verstummen der seismischen Aktivität.
Die Radonkonzentration im Grundwasser (hier in Langfang, 130 Kilometer vom Epizentrum) zeigte Tage vor dem Tangshan-Erdbeben auffällige Variationen (das Beben der Magnitude 7,8 ist mit einem Pfeil markiert).
So deprimierend der Mißerfolg von Tangshan auch gewesen sein mag, die Erdbebenforschung in China ist durch jene Erfahrung erst recht angespornt worden. Heute beschäftigen sich –44–
allein im Pekinger State Seismological Bureau (SSB) gegen 2 000 Mitarbeiter mit der Beobachtung, der Analyse und der Vorhersage von Erdbeben. Zur raschen Datengewinnung werden in stark erdbebengefährdeten Gebieten seismographische Meßstellen telemetrisch betrieben und die Daten im Echtzeitverfahren per Computer ausgewertet. Große Rechner werden außerdem zur Simulation von Erdbeben eingesetzt. Das SSB kümmert sich ferner um bauliche Fragen und erläßt beispielsweise Spezifikationen für große Bauten in erdbebengefährdeten Gebieten. So wird für 47 Städte bei Neubauten eine antiseismische Bauweise empfohlen, alte Gebäude werden nach Möglichkeit verstärkt. Und zur Bauplanung jedes neuen Staudamms oder Kraftwerks gehört heute eine seismische Studie. Um die Schwachstellen des chinesischen Festlandes noch besser kennenzulernen, wird auch in historischen Dokumenten nach Aufzeichnungen früherer Erdbeben gesucht. Unter den Seismologen des SSB scheint zur Zeit ein prinzipielles Umdenken stattzufinden. Konzentrierten sich die bisherigen Aktivitäten fast ausschließlich auf die Erfassung möglichst vieler geophysikalischer Indikatoren, will man nun erkannt haben, daß die steigende Zahl solcher Parameter die Sicht auf das eigentliche Geschehen oft eher vernebelt statt klärt. Vermehrt will man deshalb auch die den Erdbeben zugrunde liegenden physikalischen Vorgänge studieren, die Tektonik der Bruchzonen genauer untersuchen, mit seismischen Echoverfahren tieferhegende Strukturen erforschen oder mittels Satellitenfernerkundung neue Erkenntnisse über die großräumigeren geologischen Verhältnisse gewinnen. Und hatte man nach der Tangshan-Katastrophe noch sämtliche ausländische Hilfe konsequent abgelehnt, besteht heute eine wissenschaftliche Zusammenarbeit mit Japan, den USA, Frankreich, Belgien, Deutschland und Korea. Auch Seismologen aus der Schweiz waren in China auf Besuch. –45–
Dürfte sich also das Forschungsschwergewicht am SSB künftig vermehrt in Richtung theoretischer Arbeit verschieben, bleibt für die große Gilde der chinesischen Seismologen trotzdem nach wie vor die kontinuierliche Überwachung der über ganz China verteilten geophysikalischen Instrumente und darauf basierend das Ausarbeiten von Erdbebenprognosen die Hauptaufgabe. Auf Provinzebene existieren mehrere eigenständige Zentren für Erdbebenvorhersage; die Zentren besonders gefährdeter Provinzen wie Liaoning, Yunnan und Sichuan beschäftigen etliche hundert Mitarbeiter. Und über das ganze Land verstreut gibt es über 300 seismologische Observatorien, die meist mit etwa zehn Mitarbeitern geophysikalische Beobachtungen ausführen. Tritt in einer Region ungewöhnlich starke seismische Aktivität auf, werden die lokalen Beobachtungsposten umgehend durch mobile Stationen verstärkt. Insgesamt dürften in China heute über 10 000 Leute direkt mit Erdbebenüberwachung und -vorhersage beschäftigt sein. Schier unglaublich ist das landesweite Engagement, wenn man erfährt, daß in Fabriken, auf Bauernhöfen und in Schulen noch zusätzliche 150 000 Chinesen als Amateure die Arbeit der Fachleute unterstützen. Die Tätigkeit solcher Barfußseismologen verdient nähere Betrachtung. Wohl ähnlich begeistert, aber gerade in umgekehrter Richtung wie unsere Hobbyastronomen blicken die chinesischen Amateurseismologen mit einem mehr oder weniger brauchbaren Instrumentenpark auf ihr Forschungsobjekt. Sehr beliebt ist das Registrieren des elektrischen Erdpotentials. Mittels zweier im Boden in einem Abstand von beispielsweise 50 Metern vergrabener Elektroden läßt sich die Messung leicht durchführen, und sowohl Amateure wie Fachleute sind vom Wert dieser Methode für die Erdbebenvorhersage überzeugt. In ähnlicher Weise wird der elektrische Widerstand der oberen Erdschicht gemessen: Über eine Distanz von einigen hundert Metern wird bei einer Spannung von 220 Volt ein Strom von 1 –46–
Ampere durch das Erdreich geschickt. Ein Abfall des Widerstandes um etliche Prozent kann Anzeichen für ein Beben in den nächsten Tagen oder Stunden sein. So wenig man solche Phänomene zur Zeit noch versteht, ist ein Zusammenhang elektrischer Potentialänderungen mit physikalischen Druckänderungen im Gestein – etwa über den piezoelektrischen Effekt durchaus plausibel. Beliebt sind auch geomagnetische Messungen. Ist das Registrieren kleinerer Schwankungen des erdmagnetischen Feldes eher den Instrumenten der Fachleute vorbehalten, sind Amateure äußerst interessiert an Schwankungen der Abweichung der Magnetnadel von der geographischen Nordrichtung (Deklination). Über die Aussagekraft solcher Schwankungen sind sich die Fachleute vorläufig aber nicht einig. Weit verbreitet in China sind ferner Radonmessungen. Plötzliche Anreicherungen im Grundwasser mit diesem aus dem radioaktiven Zerfall von natürlichem Uran und Thorium im Boden gebildeten Edelgas werden auch von der internationalen Fachwelt als aussagekräftiges Anzeichen für drohende Erdbeben gewertet. Die populärsten Meßgeräte der Amateure sind indes die eigenen Augen, Ohren und die Nase. Die Augen: Bereits längere Zeit vor Erdbeben wird oftmals ein Versiegen oder plötzliches Sprudeln von Quellen beobachtet. Nur Sekunden vor dem Schock werden nicht selten Lichtblitze in Bodennähe wahrgenommen, und bereits Tage vor einem Erdstoß sollen sich etliche Meter über dem Boden auch schon Feuerbälle gezeigt haben. Die Ohren: Das Auftauchen der geschilderten Feuerbälle sei oftmals von explosionsartigem Knall begleitet; in der Nähe wild gewordener Wasserquellen sind starke Geräusche gehört worden. Und schließlich die Nase: Immer wieder treffen Berichte in den Zentralen ein, kurz vor Erdbeben hätte ein Gestank nach Schwefel und Knoblauch die Luft erfüllt. Über dieses an Ufo-Geschichten erinnernde Repertoire mag –47–
manch kritischer Geist lächeln. Ähnliche Berichte liegen jedoch von Erdbebengegenden rund um die Welt vor. Sind ungewöhnliches Verhalten von Wasserquellen durch Druckeinwirkungen auf den Grundwasserspiegel, aber auch durch plötzliche Riß- oder Porenbildung im Gestein leicht erklärbar, gibt es auch für die Feuerbälle und den Gestank plausible Gründe. Methan, Schwefeldioxid und andere Gase können durch tektonische Veränderungen aus ihren natürlichen Depots freigesetzt werden und sich entzünden. »Blitze« lassen sich auch als Folge hoher elektrischer Felder in der Erdkruste erklären. Wie plausibel solche Erscheinungen auch sein mögen, die für eine allfällige Erdbebenwarnung zuständigen Stellen in China sehen sich von der landesweiten Flut solcher Meldungen überfordert. Meist treffen die Meldungen ohnehin erst nach einem größeren Beben ein, haben also höchstens noch statistischen Wert. Aber auch jenen Amateurmeldungen, die vor einem Beben die Erdbebenzentralen erreichen, wohnt in starkem Maß eine subjektive Komponente inne. Denn angesichts »verdächtiger« Naturerscheinungen denkt der eifrige Beobachter nur selten daran, daß Grundwasser auch aus hydrologischen Gründen das Niveau ändern, daß Lichterscheinungen am Himmel sehr banale Ursachen haben können. Daß hier künftig vermehrt Spreu vom Weizen getrennt werden muß, sind sich die chinesischen Seismologen wohl bewußt. Aber auch die Flut der mit viel meßtechnischem Aufwand ermittelten geophysikalischen Parameter wird am State Seismological Bureau zur Zeit einer kritischen Beurteilung unterzogen. Insbesondere stellt sich die Frage, welche der gemessenen Anomalien in der Tat Vorboten von Erdbeben sind und welche lediglich normale tektonische Vorgänge manifestieren. Bereits genügend klar herauskristallisiert hat sich aus dem reichen Datenmaterial früherer Beben, daß für eine kurzfristige Erdbebenwarnung weniger die sukzessiv –48–
einsetzende Änderung als die plötzliche Renormalisierung des Parameters signifikant ist. Die tektonische Erklärung (DilatanzHypothese) für dieses Verhalten scheint heute weitgehend akzeptiert: Unter der steigenden Belastung tritt im Gestein durch Riß– und Porenbildung eine plötzliche Entspannung ein, was die Meßwerte wieder normalisiert, die jetzt mikroskopisch geschwächte Erdkruste aber endgültig den tektonischen Kräften ausliefert. Fernziel der Forschung ist eine kleinere Zahl meßtechnisch erfaßbarer geophysikalischer Parameter, die relativ zuverlässig Erdbeben ankündigen. Daß auch dann – ähnlich dem besten Wetterdienst – immer noch Fehlprognosen möglich sein werden, dessen sind sich die Pekinger Fachleute bewußt. Und so skeptisch man mancher Meldung aus dem Heer der Amateurbeobachter begegnet, die umfangreiche Zusammenarbeit zwischen Fachleuten und Laien möchte man auf alle Fälle weiterpflegen. Denn wie trügerisch auch unsere Sinne sein mögen, die neuere Forschung hat auf manchem Gebiet gezeigt, daß Lebewesen selbst subtilste physikalische und chemische Vorgänge mit erstaunlicher Empfindlichkeit wahrnehmen können.
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Wie eine chinesische Fachpublikation aus dem Jahre 1977 das Verhalten von Tieren vor einem Erdbeben darstellt.
Erst sehr umstritten, heute aber mit wissenschaftlichem Respekt behandelt sind deshalb auch Beobachtungen von ungewöhnlichem Verhalten bei Tieren. Wie keine anderes Land hat China hier einen reichen Erfahrungsschatz. Es gibt wohl kein größeres Beben, dem nicht zahlreiche entsprechende Beobachtungen zugeordnet werden können. Natürlich besteht auch hier eine große subjektive Fehlerquelle. Andererseits sollte man nicht vergessen, daß insbesondere der Bauer, der mit Tieren jahrein, jahraus in sehr engem Kontakt lebt, durchaus zu unterscheiden weiß, ob beispielsweise eine Sau in sehr ungewöhnlicher Weise durch die Hofstatt stürmt oder lediglich umherrennt, weil sie Lust nach dem Eber hat. Eine umfangreiche Studie des amerikanischen Standford Research Institute hat solchen Beobachtungen zwar »Unzuverlässigkeit« nachgewiesen, aber schließlich doch gewissen Tierarten attestiert, sie könnten das Herannahen von Erdbeben »vermutlich tatsächlich empfinden«. Als sensorische –50–
Möglichkeiten werden etwa durch schwache Vorbeben verursachte niederfrequente Geräusche genannt, bei Fischen auch ein Reagieren auf elektrische Feldänderungen. Ebenfalls dürften manche Tiere freigesetzte Gase schon in sehr kleinen Konzentrationen wahrnehmen. Für die chinesischen Wissenschaftler ist das Ob hier kaum noch eine Frage. Diskutiert werden aber das Wie und das Wann. Als geeignete Warntiere kommen Fische, Schlangen, Vögel, Ratten sowie Schweine und Pferde in Frage. Eine Analyse zeitlich genau rekonstruierbarer Meldungen durch Rikitake ergab eine Häufung ungewöhnlichen tierischen Verhaltens einen halben Tag sowie zwei bis drei Stunden vor dem Beben. Zur Klärung der Frage, welche geophysikalischen Anomalien das Tierverhalten beeinflussen könnten, ist jetzt am Pekinger Institut für Biophysik der Academia Sinica ein experimentelles Forschungsprogramm gestartet worden. Untersucht wird beispielsweise die Reaktion von Schlangen, Fischen und Tauben auf Temperaturänderungen, elektromagnetische Felder sowie Mikrovibrationen. Auf unser großes Interesse für diese Experimente reagierte der Vizedirektor des SSB jedoch mit der ausdrücklichen Warnung, die Bedeutung solcher Arbeiten nicht überzubewerten, da sie auch in China lediglich eines von vielen Teilchen im Puzzle der Erdbebendiagnostik seien. Wie gut oder wie schlecht ist nun gesamthaft gesehen die Erdbebenvorhersage in China? Rikitake liefert in seinem Buch eine detaillierte Liste von 15 Erdbeben, bei denen eine relativ vage Vorhersage im Zeitraum von Jahren bis Wochen vor dem Beben erfolgte. In 29 Fällen gelang eine detaillierte Vorhersage Minuten bis wenige Tage vor dem Ereignis, wobei nur in einem Teil der Fälle vorsorgliche Maßnahmen eingeleitet worden sind. Ein Großteil dieser gelungenen Vorhersagen erfolgte in den katastrophalen Erdbebenjahren 1975 und 1976 (außer in Haicheng und Tangshan gab es noch gewaltige Beben in Songpan-Pingwu bei Chengdu sowie Longling). Die Zeit ab –51–
1977 bis heute war in China dann seismisch relativ ruhig. Es bestand also in den vergangenen Jahren keine Gelegenheit, einen allfälligen Fortschritt am Ernstfall zu verifizieren. Daß die intensive praktische Beschäftigung mit dem Thema und auch die jetzt verstärkte Bearbeitung theoretischer Fragen im Falle künftiger Erdbebenzeiten den Schutz verbessern werden, möchte man China von Herzen wünschen. Herbert Cerutti
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Kopfstand der Academia Sinica Zu Besuch am Geophysikalischen Institut in Peking
Professor Chen Zongji, Direktor des Geophysikalischen Instituts der Chinesischen Akademie der Wissenschaften (Academia Sinica), empfängt uns in sehr weltmännischer Manier. In westlichem Straßenanzug und Krawatte, bullig in einem großen Sessel zurückgelehnt, erzählt er in gutem Englisch (mit gelegentlichen Exkursen auf Deutsch) von seiner Arbeit und Karriere. Ein Überseechinese aus Indonesien, studierte er erst an der Technischen Hochschule im holländischen Delft Bodenmechanik, um sich 1955 für eine wissenschaftliche Tätigkeit in China zu entscheiden. Obschon Mitglied des Volkskongresses, mußte er sich während der Kulturrevolution in den Jahren nach 1966 als »autoritärer Bourgeois« beschimpfen lassen und den Schreibstift mit dem WC-Besen vertauschen. Mitte der siebziger Jahre aber wurde das Land sowohl von großen Erdbeben als auch von den Erschütterungen der politischen Umwälzungen nach dem Tode von Tschou Enlai und Mao Tsetung erschüttert. Rasch holte man jetzt den verstoßenen Professor ins Pekinger Geophysikalische Institut, damit er am wissenschaftlichen Wettlauf zur Verbesserung der Erdbebenprognosen mitwirke. Unterdessen ist Chen Zongji zum Direktor des Instituts avanciert. »Ich verdiene 360 Yuan im Monat, einen der höchsten Löhne in China«, meint er stolz. Da dies umgerechnet aber lediglich knapp 500 Mark sind, ist man erst etwas erstaunt. Wie relativ solche Salärangaben sind, wird einem bewußt, wenn man den Professor von seinem Auto mit Chauffeur, der Villa, seinen internationalen Reisen erzählen –53–
hört. Die Beschäftigung mit dem Phänomen Erdbeben hat neben zahlreichen theoretischen Ergebnissen jetzt auch eine Maschine hervorgebracht, der der ganze Stolz des Professors gilt. Das Verhalten des Gesteins unter hohen Drücken, wie sie etwa infolge tektonischer Kräfte auftreten, kann mit diesem Ungetüm nun an 5 mal 5 mal 10 Zentimeter großen Gesteinsproben in drei Dimensionen direkt gemessen werden. Vollautomatisch und servokontrolliert werden während Monaten die Proben bei Temperaturen bis zu 600 Grad Celsius und 10 000 Atmosphären Druck untersucht. Aus dem Verhalten der Gesteine unter diesen enormen Streßbedingungen hofft man Wichtiges zum Auslösemechanismus und zur Ausbreitung von Erdbeben zu erfahren. Bereits hat man an unter hohem Druck stehenden Gesteinsproben jene von der Dilatanz-Hypothese postulierten plötzlichen Strukturänderungen nachweisen können. So erfolgreich die Arbeiten zum Erdbebenproblem gewesen sein mögen, hat das Institut seit ein paar Jahren eine grundlegende Umorientierung erfahren. Im Rahmen einer generellen Verschiebung des chinesischen Forschungsschwergewichts zu mehr wirtschaftlich orientierten Problemen beschäftigt sich das Geophysikalische Institut mit seinen 150 Forschern und 300 zusätzlichen Mitarbeitern vorwiegend mit der Suche nach Bodenschätzen. Mittels magnetotellurischer Messungen am oberen Erdmantel will man beispielsweise heiße Gesteinsformationen in einigen Kilometern Tiefe aufspüren und somit möglichen geothermischen Energiereservoirs auf die Spur kommen. Solche Suche konzentriert sich momentan auf die Provinz Fujian (auf dem Festland gegenüber Taiwan), wo man in 12 Kilometern Tiefe bereits Temperaturen bis 600 Grad Celsius geortet hat. Auch sind in dieser ökonomisch wichtigen, aber bisher an Bodenschätzen armen Zone unlängst Eisen, Wolfram, Mangan und Bauxit gefunden worden. Im Erdbebengebiet von Sichuan –54–
und Yunnan wird anderseits intensiv an einzelnen tektonischen Bruchlinien geforscht. Nicht nur sollen damit Erdbebenprozesse besser verstanden werden, die Bruchzonen enthalten oftmals auch bedeutende mineralische Vorkommen. In Dukou und Xichang (zwischen Kunming und Chengdu) ist man beispielsweise auf größere Vorkommen von Eisen, Zinn, Zink, Molybdän, Titan, Vanadium, Kupfer, Platin, Gold und Uran gestoßen. Und nach wie vor ein Lieblingskind geologischer Prospektionen ist das Erdöl. Forschungsschwerpunkt ist hier die nordwestliche Provinz Xinjiang. Bereits Lieferant namhafter Ölmengen, will man diese Region zusätzlich nutzen. Eine spezifisch chinesische Methode zur Erdölprospektion ist laut Chen Zongji die Messung des geoelektrischen Widerstandes mittels elektrischer Pulse: Normalerweise sind Kapillaren im Erdreich mit diversen Ionen besetzt. Dringt nun Öldampf in diese Kapillaren, werden die Ionen neutralisiert, was sich als verändertes Erdpotential nachweisen läßt. Die Methode soll bis zwei Kilometer Tiefe brauchbar sein. Diese neuen Forschungstätigkeiten spielen sich in einem radikal geänderten akademischen Umfeld ab. Haben früher die politischen Behörden sowohl die finanziellen Aspekte der Institute als auch deren Forschungsprogramm bis ins Detail diktiert und sogar dem einzelnen Forscher seinen Arbeitsplatz zugewiesen, sind mittlerweile den Instituten umfassende Kompetenzen übertragen worden. Das Pekinger Geophysikalische Institut beispielsweise war als Glied der Tausende von Einzelinstituten umfassenden Academia Sinica sehr eng an die Kandare der Zentralregierung genommen, was bewirkte, daß die Motivation des forschenden Rädchens und damit die Effizienz wie auch das Umsetzen von theoretischen Resultaten in die Praxis herzlich klein waren. Vor wenigen Jahren ist dieses zentralistische System gleichsam auf den Kopf gestellt worden. Chef der jeweiligen –55–
Forschungstätigkeit ist jetzt der Institutsdirektor. Er entscheidet über die Verwendung des vom Staate global gewährten Budgets, bestimmt die Forschungsthemen, engagiert oder entläßt Mitarbeiter. Verantwortlich ist er jetzt nur noch direkt dem Präsidenten der Akademie. Glaubt ein Institutsdirektor, zusätzliche Gelder zu benötigen, kann er ein entsprechendes Gesuch an chinesische Gremien zur Forschungsförderung (ähnlich dem Nationalfond in der Schweiz) stellen. Für ökonomisch orientierte Projekte, etwa die Suche nach Bodenschätzen, steht nun auch die Möglichkeit offen, bei einzelnen Provinzbehörden um Kredite nachzusuchen oder sogar in der Industrie Geld aufzutreiben. Und um die Qualität von Forschungsbegehren zu evaluieren, will auch China künftig mit Expertengutachten (peer review) operieren. Das hier geschilderte neue »Verantwortungssystem« wird laut einem Artikel im amerikanischen Wissenschaftsmagazin ›Science‹ (3. Mai 1985) bereits an einigen hundert der 9 000 Institute der Academia Sinica mit Erfolg angewendet. Und das Zentralkomitee scheint überzeugt, dank dieser Reform des wissenschaftlichen Betriebs die wissenschaftlichen und technischen Erfolge rasch in praktische Anwendungen umzusetzen, die schließlich die Wissenschaft des Landes in neue Höhen katapultieren würden. Wie schnell der Ozeandampfer der chinesischen Forschung mit seiner Millionenmannschaft aber den Kurs ändern kann und ob allenfalls ein künftiges politischwirtschaftliches Klima wieder Frost auf die Forschungslandschaft legen wird, bleibt offen. Der Direktor des Geophysikalischen Instituts ist von seinen neuen Möglichkeiten indes sichtlich begeistert. Und die Vielfalt seiner jetzigen Projekte zeigt, daß er die Chance auch zu nutzen weiß. Herbert Cerutti
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Die verkehrte Feuerlanze Wie die Rakete erfunden wurde
Laut einer Chronik aus der Zeit der Song-Dynastie (12. Jahrhundert) soll die Kaiserin den neuesten Partyspaß gar nicht lustig gefunden haben: Mit Schwarzpulver und Nitrat gefüllte Bambusröhrchen zischten als »Erdratzen« den hohen Damen um die Füßchen. Es läßt sich nur spekulieren, ob es diese zivile Feuerwerksvariante war, welche die Militärs schließlich auf die Idee brachte, eine altbewährte Waffe neu zu nutzen. Schon seit der Jahrtausendwende hatte die Feuerlanze den Feinden Schrecken eingejagt: an langen Speeren befestigte Bambusröhren spien die Flammen einer langsam brennenden Schwarzpulvermischung dem Gegner minutenlang ins Gesicht. Im frühen 13. Jahrhundert tauchte dann eine neue Waffenversion auf. Lanzen und Pfeile trugen jetzt das feuerspeiende Bambusröhrchen umgekehrt montiert auf dem Rücken. Anstatt lediglich Flammen zu spucken, flog nun die gesamte Waffe nach dem Rückstoßprinzip ins feindliche Lager – die Rakete war geboren. Im Vordergrund des militärischen Nutzens jener frühen Raketen stand wohl die Möglichkeit, mit dem brennenden Projektil am Zielort Häuser und Zelte in Brand zu stecken. Die Idee scheint erfolgreich gewesen zu sein. Im 14. Jahrhundert gab es in China bereits zweistufige Raketen mit selbständigem Zünden der zweiten Stufe nach Ausbrennen der ersten und Seitenflügeln zur aerodynamischen Stabilisierung. Der Clou dieser Waffe lag aber in der Spitze: am Ende der Flugbahn löste sich vom Raketenkopf ein ganzer Schwarm raketengetriebener Pfeile, was feindliche Truppenansammlungen ziemlich durcheinandergebracht haben dürfte. Die Idee solcher Raketenschwärme fand auch eine –57–
Raketenbestückter Pfeil, wie er in einem chinesischen Militärfachbuch des 17. Jahrhunderts abgebildet ist.
terrestrische Variante. Mit einer einzigen Zündschnur konnten im Mehrfachraketenwerfer bis zu fünfzig Kleinraketen verschossen werden. Für raschen Stellungsbezug montierte man die Raketenwerfer auf Schubkarren – jeweils vier Werfer pro Karren – und ließ so ganze Batterien von Mehrfachwerfern auffahren. Wie genial auch die chinesischen Raketentechnik gewesen sein mag, die Entwicklung der Artillerie mit ihrer viel größeren Präzision und Geschoßkraft ließ Raketen für die Armeen im Westen lange Zeit uninteressant erscheinen. Erst die Kriegsführung auf immer größere Distanzen brachte der garstigen »verkehrten Feuerlanze« dann die weltweite Renaissance. Herbert Cerutti
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Der lange Marsch ins All Chinesischer Fernmeldesatellit seit 1984 in Betrieb
Wer chinesische Raumfahrtexperten über die Raumfahrttechnologie im Reich der Mitte befragt, wird mit Stolz auf die Leistungen der frühen Chinesen verwiesen: Schon um das Jahr 1500 wollte sich der wagemutige Gelehrte Wan Hu ins Weltall schießen lassen. Er band zu diesem Zweck 47 Raketen an einen Stuhl, setzte sich darauf und ließ die Raketen zünden. »Leider waren Entwurf und Technik noch zu primitiv«, meint heute Chen Shouchen, Ingenieur im Ministerium für Raumfahrtindustrie in Peking. »Nach der Explosion war nichts mehr zu sehen als eine Wolke aus Pulverdampf und fliegenden Bruchstücken. Auch Wan Hus Körper wurde nicht mehr gefunden.« Die Anfänge der modernen chinesischen Weltraumeroberung reichen ins Jahr 1957 zurück. Mit einem erheblichen Rückstand auf die USA und die UdSSR (die in jenem Jahr den ersten Sputnik auf eine Umlaufbahn beförderte) startete Maos Volksrepublik ein Programm zur Entwicklung von Versuchsraketen und errichtete die ersten Forschungsinstitute und Raumfahrtfabriken. Die erste chinesische Rakete wurde dann 1960 erfolgreich gestartet. Es sollte allerdings noch zehn Jahre dauern, bis China auch seinen ersten, selbstgebauten Satelliten ins Weltall schicken konnte. Am 24. April 1970 war es soweit – viele Chinesen erinnern sich heute noch mit Begeisterung an die Melodie »Der Osten ist rot«, die ein Musikgenerator an Bord von Dong Fang Hong-1 zur Erde sandte. Dieser Versuchssatellit, der auch wissenschaftliche –59–
Daten an die Bodenstationen gefunkt haben soll, war 173 Kilogramm schwer und umkreiste die Erde in einer Höhe von 440 Kilometern. Im Vergleich zu den ersten Satelliten anderer Länder ist Dong Fang Hong-1 nicht nur mit einer leistungsfähigeren Trägerrakete abgeschossen worden, sondern soll auch bezüglich der Verfolgungs-, Übertragungs- und Temperaturkontrolltechnik mehr geboten haben. Bedeutsamer als der effektive wissenschaftliche Wert dieser Operation war indessen wohl die Tatsache, daß China mit diesem Start als damals fünftes Land der Welt den Nachweis einer eigenen Raumfahrttechnologie erbracht hatte. Weder die 81,6 Tonnen schwere Trägerrakete noch der Satellit oder die Bodeneinrichtungen waren auf russische oder amerikanische Unterstützung angewiesen. Ein zweiter Satellit wurde schon ein Jahr später, am l. März 1971, gestartet. Er wog 220 Kilogramm und arbeitete 7 Jahre lang – länger als ursprünglich geplant. Über die genaue Zweckbestimmung dieses und der nun in regelmäßigem Rhythmus folgenden chinesischen Weltraumkörper drangen damals wenig Informationen in den Westen. Die Tatsache, daß die Umlaufbahnen in der Regel über die chinesischsowjetische Grenze verliefen, ließ russische und amerikanische Experten vermuten, es handle sich in erster Linie um militärische Aufklärungssatelliten. Innerhalb von vierzehn Jahren schickte China nun insgesamt 14 Satelliten erfolgreich ins All. Am 26. November 1975 glückte erstmals auch eine weiche Landung in der Provinz Sichuan. Später wurden noch vier weitere Satelliten auf die Erde zurückgeholt. Einer dieser Satelliten hatte – ähnlich wie Sputnik 2 – auch einen Hund an Bord. Anders als die russische Laika, die nach fünf Tagen an Sauerstoffmangel zugrunde ging, überlebte indessen der chinesische Weltraumpassagier das Abenteuer, wie zum mindesten ein Film nahelegt, der heute den Besuchern der chinesischen Akademie für Weltraumtechnologie in Peking vorgeführt wird. –60–
Am 18. Mai 1980 schafften es die Chinesen erstmals, eine Langstrecken-Trägerrakete in ein vorgesehenes Gebiet im Südpazifik abzuschießen. Im selben Jahr noch wurde auch eine Trägerrakete von einem U-Boot aus abgefeuert. Die Tatsache, daß diese Erfolge von den Chinesen immer wieder als Meilensteine ihrer Raumfahrtgeschichte genannt werden, ist sicher auch ein Hinweis auf den engen Zusammenhang zwischen chinesischer Weltraumfahrt und Bemühungen auf dem Rüstungssektor. Die ersten chinesischen Raketen waren denn auch Varianten strategischer Nuklearwaffen. Auch die chinesischen Anstrengungen im Bereich der Infrarotphotographie dürften in erster Linie militärisch motiviert gewesen sein. Verteidigungspolitische Überlegungen waren vermutlich auch mit ein Grund dafür, daß die Entwicklung der Weltraumtechnik während der Stürme der Kulturrevolution nicht stehenblieb. Trotz einem immer wieder kolportierten Ausspruch von Tschou Enlai Mitte der sechziger Jahre, wonach es in einem Entwicklungsland wichtigere Dinge gebe als die Weltraumfahrt. Wie Wei Desen, Vizepräsident der chinesischen Akademie für Weltraumtechnologie, anläßlich unseres Besuches in Peking betonte, war es allerdings auch Tschou Enlai, der sich während der Kulturrevolution immer wieder für die Weltraumforschung einsetzte. 1978 wurde der Weltraumforschung von der nationalen Wissenschaftskonferenz als Bereich »Himmelskörper und Raumfahrterprobungen« hohe Priorität eingeräumt. Seither scheinen die chinesischen Weltraumaktivitäten entscheidend intensiviert worden zu sein. Am 20. September 1981 buchten die chinesischen Raumfahrttechniker einen weiteren Erfolg. Sie setzten erstmals drei Satelliten mit einer einzigen Trägerrakete auf eine erdnahe Umlaufbahn. Damit näherte sich die Aufbau- und Versuchsphase ihrem Ende. Vergleicht man die Ergebnisse der chinesischen Weltraumtechnik dieser ersten Generation mit den –61–
Leistungen der Amerikaner und Russen, nehmen sich die Errungenschaften der Volksrepublik China zwar relativ bescheiden aus. Weder gelang China die Konstruktion eines bemannten Raumschiffs noch die Entwicklung von Raketen mit der Nutzlastkapazität der Apollo- oder Sojus-Träger. Auch erreichten Chinas Satelliten bloß relativ erdnahe Umlaufbahnen, und Sonden zu ändern Himmelskörpern scheint das Reich der Mitte bisher überhaupt nicht gestartet zu haben. Bedenkt man indessen, daß China nach wie vor zu den Entwicklungsländern gehört, sind die Erfolge dennoch erstaunlich. Zu diesem Ergebnis kamen auch jene Expertendelegationen aus Europa und Amerika, die in den Jahren 1979 und 1980 erstmals Gelegenheit erhielten, die chinesischen Raumfahrtstätten zu besichtigen und sich ein konkretes Bild vom Stand des Erreichten zu machen. Die 19köpfige Expertengruppe der Nasa, die im Januar 1980 während 17 Tagen in China weilte, konstatierte zwar Mängel im Bereich des Systems Engineering und des ProgrammManagements: »They don’t know how to put it all together«, hieß es im entsprechenden Nasa-Bericht. Probleme hatten die Chinesen auch mit dem Gewicht ihrer Nutzlast und mit der Energieversorgung von Satelliten. Sonst aber zeigten sich die Amerikaner überrascht und beeindruckt vom Stand der chinesischen Raumfahrttechnologie. Eine gut etablierte Raumfahrtindustrie beschäftigt heute nach Angaben von Wei Desen rund 8 000 Mitarbeiter. Die verschiedenen Einheiten umfassen neben der Zentrale in Peking eine Testanlage für Satelliten, weiter ein Kontrollinstitut für Steuerungstechnik, ein Institut für Spacecraft Systems Engineering, ein Forschungsinstitut für Radiotechnologie in Xi’an, ein Forschungsinstitut für Wettersatelliten in Schanghai, ein Institut für Weltraum- und Tieftemperaturforschung in Lanzhou, eine Fabrik für Fernsteuerung in Schanghai sowie eine weitere Fabrik für Bodenstationen und Telemetrie in der Provinz –62–
Shaanxi. In Schanghai befindet sich auch die Raketenfabrik. Heute verfügt China neben dem Hauptkontrollzentrum in Weinan (Provinz Shaanxi) und neben zwei Kontrollschiffen, die den Funkkontakt mit Satelliten rund um die Uhr und den Erdball sicherstellen, auch über eine leistungsfähige Satellitentechnologie. So scheinen insbesondere die Grundprobleme der Elektronik, der Energieversorgung und der weltraumspezifischen Materialien gelöst, und Kameras mit hoher Auflösung für die elektronische Übertragung von Aufnahmen zur Erde sind ebenfalls entwickelt worden. Ein Netz von Empfangsstationen in den 29 Provinzen ermöglicht seit 1980 auch den Kontakt zu amerikanischen und japanischen Wettersatelliten. Die Satellitenbeobachtung hat auf dem zivilen Sektor die Entdeckung von Chrom- und Eisenerzlagern in der Inneren Mongolei erlaubt, die Kartographierung von Tibet verbessert, Energieressourcen offengelegt und die Taifunwarnung optimiert. Auch ließen sich auf diesem Wege die Strömungsgesetze des Flußschlamms in der Nordchinesischen Provinz Hebei erforschen, was schließlich ein Regulieren der Bohai-Bucht ermöglichte. Satelliten sind weiter genutzt worden für die Anlage von Eisenbahnlinien und die Erstellung geologischer Karten. Sogar die chinesische Archäologie hat sich die Weltraumfahrt zunutze gemacht und unlängst anhand von Satellitenaufnahmen einen ehemaligen kaiserlichen Garten aus der Qing-Dynastie (1644 bis 1911) rekonstruiert. Auch die Raketentechnologie – das unabdingbare Element für eine eigenständige Raumfahrtindustrie – hat in China Fortschritte zu verzeichnen. Um 1978 wurde der zwei Tonnen schwere Satellit China 7 ins All geschickt – die zweistufige Trägerrakete hätte also beispielsweise auch eine MercuryKapsel auf eine Umlaufbahn befördern können. Am 8. April 1984 hat China erfolgreich den ersten experimentellen Fernmeldesatelliten auf eine geostationäre –63–
Umlaufbahn in 35 800 Kilometer Höhe geschickt. Der 910 Kilogramm schwere STW-1 befindet sich über dem Äquator auf 125 Grad östlicher Länge und schickte während vier Wochen scharfe Bilder von Pandas und dem Pekinger Himmelstempel auf die Erde zurück. Gegenwärtig ist dieser Satellit allerdings nicht mehr für TV-Zwecke in Betrieb; es gibt westliche Experten, die vermuten, daß er nun in erster Linie die Kommunikationsprobleme der weit verstreuten chinesischen Armee-Einheiten lösen helfen soll. Nach chinesischen Angaben dient er auch der Telegramm-, Daten- und Faksimileübertragung und kann außerdem Telefonverbindungen herstellen. Die Lancierung eines geostationären Satelliten legt den Schluß nahe, daß China die Defizite, welche die Nasa-Experten noch 1980 konstatiert hatten, weitgehend eliminiert hat. Die geostationäre Plazierung eines Satelliten verlangt nämlich eine ausgereifte Steuerungstechnologie, muß doch ein solcher Satellit erst einmal auf eine Umlaufbahn in der Äquatorialebene gebracht und anschließend mit einem eigenen Motor auf den erdsynchronen Orbit befördert werden. Um dieses Ziel zu erreichen, haben die Chinesen eine zweite Abschußrampe gebaut. Die erste, die sich am Westrand der Großen Mauer bei Jiuquan in der nordwestchinesischen Provinz Gansu befindet, liegt für geostationäre Satelliten zu weit nördlich. Die neue Basis ist deshalb in der mittelchinesischen Provinz Sichuan auf etwa 31 Grad nördlicher Breite errichtet worden – möglicherweise noch ohne eigenes Kontrollzentrum, wurde der Flug vom STW-1 doch von einer Bodenstation in Xinjiang aus gesteuert. Photos des Fernmeldesatelliten zeigen ein zylinderförmiges, an die drei Meter hohes Gebilde mit einem Sonnenzellenmantel, einem Booster am einen Ende und einem Ring mit kleinen Antriebsdüsen in der Mitte. Dies legt die Vermutung nahe, daß der Satellit noch nicht dem neusten Stand der in allen drei Achsen stabilisierten europäischen und amerikanischen –64–
Satelliten entspricht. China arbeitet gegenwärtig auf der Basis eines Dreistufenplans an der Einführung eines permanenten SatellitenFernmeldesystems. Für die unmittelbare Zukunft ist die Miete eines Transponders bei einem Satelliten der Intelsat-V-Reihe vorgesehen. China (demnächst 40. Vollmitglied der IntelsatOrganisation) hat die Intelsat-Kanäle des über dem Indischen Ozean stationierten Exemplars auf den l. August 1985 hin gemietet. Daß Chinas Raumfahrtwesen nun also auch fremde Hilfe beansprucht, ist sicher zum einen eine direkte Auswirkung der chinesischen Reformpolitik, bei der die Öffnung zur Welt eine große Rolle spielt. Der Druck zur Beschleunigung des Satellitenprogramms ist aber auch aus der wichtigen Rolle des Fernsehens zu begründen. Das Reich der Mitte befindet sich gegenwärtig in der möglicherweise folgenreichsten Medienrevolution unseres Jahrhunderts: Ein Viertel der Menschheit wartet in China darauf, innerhalb weniger Jahre mit mehreren Fernsehprogrammen versorgt zu werden. Waren Fernsehapparate noch vor wenigen Jahren in China ein ausgesprochener Luxusgegenstand, stehen sie heute bereits in vielen Haushalten, selbst bei ärmeren Leuten und in so entlegenen Provinzen wie dem fernen Xinjiang im Nordwesten. (Tagsüber meist von einem gestickten Samtdeckchen versteckt, wird der Apparat am Abend vom Familienoberhaupt feierlich enthüllt und für das Programm freigegeben.) 1984 produzierte China 9,7 Millionen Empfangsgeräte, darunter über eine Million Farbfernseher (PAL-System). Mit einer fast fünfzigprozentigen Wachstumsrate gehört die TV-Apparatebranche zu den BoomIndustrien der Volksrepublik. Diese Großproduktion scheint aber der Nachfrage nicht zu genügen, denn in den Warenhäusern stehen auch Geräte japanischer Herkunft zum Verkauf. Das chinesische Fernsehen arbeitet heute bereits in 91 Fernsehstudios mit 455 Sendestationen und über 9 000 Umsetzern sowie zahllosen Mikrowellen–65–
Richtstrahlverbindungen. Neben der Übertragung des nationalen Programms werden auch eigene Provinz- und Stadtprogramme gesendet, so daß der Zuschauer in den größeren Agglomerationen bereits bis zu drei Kanäle zur Auswahl hat. 67 Prozent der bewohnten Landfläche sind heute in China fürs Fernsehen erschlossen. Die Regierung unterstützt die Verbreitung des elektronischen Bildmediums nicht nur aus kommerziellen Gründen und im Zuge ihrer Öffnungspolitik (deren Folge unter anderem auch die vielen Werbespots sind). Das Fernsehen spielt insbesondere auch als Bildungsfaktor eine Rolle. Mehr als eine Million Studenten schrieben sich allein 1984 für die TV-Fortbildungskurse der zentralen Radio- und Fernsehuniversität ein. Die Erziehungsbehörden rechnen damit, daß sich schon 1987 doppelt so viele Studenten per Fernsehschirm ausbilden werden wie an den traditionellen Bildungsstätten! Wohl aus Zeitgründen hat China schon vor Jahren auch den Kauf ausländischer Satelliten ins Auge gefaßt sowie 1979 bei der Nasa Optionen für den Transport zweier Fernmeldesatelliten getätigt. Die technischen Schwierigkeiten mit dem Space Shuttle verzögerten allerdings die Verwirklichung dieser Pläne. Inzwischen ist bekanntgeworden, daß China nicht nur bei der Nasa, sondern auch auf der Ariane zwei Frachtplätze für Satellitenstarts gebucht hat. Am internationalen Fernsehsymposium in Montreux vom Juni 1985 gab China auch Einzelheiten über das Pflichtenheft der beiden Kommunikationssatelliten bekannt. Danach möchten die Chinesen einen Himmelskörper auf eine geostationäre Position 92 Grad östlich setzen, der sowohl für den Empfang per Gemeinschaftsantenne wie auch für den Individualempfang dienen kann. Die zwei Satelliten (von denen einer als Reservesatellit gedacht ist) sollen im Mikrowellenbereich des sogenannten Ku-Bandes arbeiten, das heißt, auf einer Erde–66–
Satellit-Frequenz von 14,5 – 14,8 Gigahertz und einer SatellitErde-Frequenz von 11,7 – 12,2 Gigahertz. Der Vorteil des KuBandes liegt darin, daß es weniger große Antennen braucht und eine bessere Bündelung des Sendestrahls ermöglicht als tiefere Frequenzen. Neben zwei Farbfernsehkanälen soll der Satellit überdies vier Radioprogramme (eines davon in Stereo) verbreiten. Die chinesischen Kommunikationsbehörden haben Europäer und Amerikaner auch eingeladen, Offerten für die Produktion der zwei Rundfunksatelliten einzureichen. Dabei eilte es den Chinesen anfänglich sehr, und die Anbieter hatten lediglich drei Monate Zeit, um ihre Angebote zu formulieren. Eine erste Verhandlungsrunde ist im Juni 1985 aber ohne Zuschlag abgeschlossen worden. China spielt offensichtlich drei Anbieter geschickt gegeneinander aus, um einen vorteilhaften Preis einhandeln zu können: auf der einen Seite die Radio Corporation of America (RCA), auf der andern zwei europäische Konsortien, nämlich die französische Matra-Alcatel-Thomson-Gruppe sowie ein Dreigestirn unter der Federführung von Messerschmitt-BölkowBlohm (MBB), der sich die französische Aerospatiale und Ford angeschlossen haben. Wer das Rennen machen wird, ist noch völlig offen. Wie Verhandlungsführer Wei Desen uns gegenüber erklärte, schlägt das Herz vieler chinesischer Experten eher für die Europäer. Offensichtlich wollen die gewieften chinesischen Satellitenhändler aber Europäer und Amerikaner gegeneinander ausspielen, um einen möglichst guten Preis einhandeln zu können. Der Verkäufer des Satelliten wird aller Voraussicht nach auch den Zuschlag für die Lancierung erhalten. Mit andern Worten: Ein RCA-Satellit dürfte per Space Shuttle, ein europäisches Relais indessen mit der Ariane in den Weltraum befördert werden. Wei Desen: »Wir entscheiden uns zuerst für den Satelliten, davon hängt die Wahl der Trägerrakete ab.« Rein von –67–
der Leistungsfähigkeit her gesehen, wäre ein Start dieses Umfangs auch mit einer chinesischen Rakete möglich. Im Februar 1985 kündigte der Leiter einer chinesischen RaumfahrtExpertendelegation anläßlich eines Besuchs in England an, China sei bereit, Trägerraketen für die Lancierung von Satelliten auf dem Weltmarkt anzubieten. Der erfolgreiche Abschluß des geostationären Satelliten vom April 1984 beweist in der Tat, daß China auf dem Bereich der Trägerrakete heute mit der Arianespace und der Nasa konkurrenzfähig ist. Bereits zirkuliert unter Raumfahrtexperten auch ein vom chinesischen Weltraumfahrtsministerium herausgegebener Prospekt, in dem China 4 Typen von Weltraumraketen sowie eine ganze Palette von Dienstleistungen anbietet. Der Prospekt offeriert neben Satellitenstarts unter anderem auch Steuerungsund Recovery-Systeme, Bodenstationen sowie astronautische Software und Umweltschutzprogramme. Die Weltraumraketen, die den sinnigen Namen »Langer Marsch« tragen, sind aus den Trägerraketen für nukleare Sprengkörper weiterentwickelt worden. Die zweistufige »Langer Marsch 2« (CZ-2), die seit 1974 chinesische Satelliten ins All schoß, kann in ihrer Leistungsfähigkeit etwa mit der amerikanischen Titan 2 verglichen werden. Die stärkste Rakete, die bereits mindestens zweimal erfolgreich gestartet wurde, trägt die Typenbezeichnung CZ-3 und kann Lasten von bis zu 4 Tonnen auf eine erdnahe Umlaufbahn befördern oder einen Satelliten von 900 Kilogramm in eine Übergangsbahn mit einem Apogäum bei 35 800 Kilometern tragen. Diese Rakete ist 43,25 Meter lang, mißt 3,35 Meter im Durchmesser und besitzt ein Startgewicht von 202 Tonnen. Die oberste Stufe der CZ-3 wird mit dem (eher schwer handhabbaren) Gemisch von flüssigem Wasserstoff und flüssigem Sauerstoff betrieben. Die Präsenz der Chinesen auf dem internationalen Weltraummarkt und die Verhandlungen um den geplanten –68–
Rundfunksatelliten zeigen, daß China nicht mehr nur auf die eigene Kraft vertrauen, sondern auch ausländisches Knowhow nutzen will. Nach Aussage von Wei Desen geht es beim Kauf der beiden Satelliten denn auch nicht nur um die Beschleunigung der chinesischen Fernsehprojekte. China will bei dieser Gelegenheit außerdem technisches Wissen sowie westliche Erfahrungen im Bereich des Satelliten-Marketing miterwerben. Diesem Ziel dienen auch die bereits über 40 einzelnen Raumfahrtabkommen, die China mit ändern Nationen abgeschlossen hat, sowie der Austausch von Ingenieuren, der zur Zeit in vollem Gange ist. So halfen chinesische Raumfahrtexperten bei der Endmontage eines Satelliten bei MBB mit, und drei Fernmeldespezialisten stehen bei Alcatel-Thomson in Ausbildung. Von bemannter Raumfahrt allerdings spricht man in China derzeit kaum. Noch im Jahre 1980 hatte Peking zwar gemeldet, es wolle nun auch Menschen in den Weltraum schicken. In einer Schanghaier Zeitung erschienen sogar Bilder, die chinesische Astronauten beim Training von Schwerelosigkeitszuständen zeigten. Von Chinesen im Weltraum ist heute nicht mehr die Rede. »Wir sind ein Entwicklungsland, bemannte Raumfahrt ist sehr teuer, uns fehlen die finanziellen Mittel dazu«, erklärte uns Wei Desen. Bemannte Raumfahrt sei immerhin ein längerfristiges Ziel. Als »eigenen« Astronauten haben die Chinesen deshalb wohl ersatzweise jenen Sino-Amerikaner gefeiert, der auf einem der Space-Shuttle-Flüge dabeigewesen war. Werner Hadorn
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»Nächste Woche wird sich die Sonne verfinstern« Zum Wissenschaftsjournalismus in China
Was erfährt das chinesische Volk über die Arbeit seiner acht Millionen Wissenschaftler und Techniker? Wie werden dort wissenschaftliche Themen dem Laien nähergebracht? Wissenschaftsjournalisten in Peking haben uns aus ihrem Berufsalltag erzählt. In China gibt es über 160 Zeitungen und Zeitschriften, die mit einer Gesamtauflage von 20 Millionen spezifisch über Wissenschaft und Technik berichten. Auch die Tagespresse befaßt sich mit wissenschaftlichen Themen, und selbst die Parteizeitung ›Renmin Ribao‹ hat ihren Wissenschaftsredakteur. Allein in Peking arbeiten 500 Wissenschaftsjournalisten. Die äußerliche Vielfalt unserer Gesprächsrunde – vom strengen Mao-Look bis zu den Turnschuhen mit zwei Streifen – findet ihr Spiegelbild in den vorgelegten Presseerzeugnissen. Während ›Beijing Kejibao‹, eine populärwissenschaftliche Wochenzeitung, auf einigen grauen Zeitungsseiten daherkommt, präsentiert sich ›New Technology International‹ als vierfarbiges Hochglanzmagazin mit seitenweisen Anzeigen für Digitaluhren. Dazwischen liegt etwa die Zeitschrift ›Modernization‹, die auf dem Titelbild zwar einen Personal Computer in Farbe zeigt, im Innern aber eher bescheidene Züge trägt. Und vielfältig wie die Aufmachung ist auch die Skala der präsentierten Themen: von der Spezialzeitschrift für Radioamateure (Auflage über l Million), der Fachzeitschrift für –70–
Weltraumfahrt und einer chinesischen Ausgabe aus ›Scientific American‹ bis zu Heftchen mit Ratschlägen für Kaninchenzüchter, Empfehlungen für den Blumenfreund, ja sogar Sciencefiction. In weit stärkerem Maße als bei uns scheinen Chinas populärwissenschaftliche Publikationen aber direkt in den Dienst der landesweiten Weiterbildung gestellt. So wird etwa dem Leiter eines kleineren Industriebetriebes erklärt, wie er die Kohle rationeller nutzen könnte, oder dem Bauern werden produktionstechnische Details für seinen neuen Start zum »selbstverantwortlichen« Unternehmer geliefert. Und ebenfalls im Kontrast zu unserer Medienlandschaft: Dem chinesischen Mann von der Straße wird immer wieder nahegebracht, wie die Wissenschaftler zum Wohle des Volkes schwer arbeiteten und deshalb Respekt verdienten. Wie arbeitet nun der Wissenschaftsjournalist? Seine Hauptquelle sind die Wissenschaftler selber. Oft schreibt der Forscher direkt für die Presse, oder der Journalist wird an einem der Institute über neue Ergebnisse orientiert. Auch stehen dem Journalisten zahlreiche Fachpublikationen zur Verfügung, wobei sich schon aus sprachlichen Gründen die Auswahl vorwiegend auf einheimische Schriften beschränkt. Wissenschaftliche Neuigkeiten aus dem Ausland finden den Weg in die chinesischen Medien meist nur als mehr oder weniger knappe Agenturmeldung. Die Frage nach allfälligen Problemen der wissenschaftsjournalistischen Tätigkeit offenbarte indes eine internationale Wesensverwandtschaft: zu viel Angebot an wissenschaftlichen Journalen sowie die Schwierigkeit, das Fachchinesisch der Forscher zu verstehen. Und wie kamen die Kollegen in Peking zu ihrer Stelle? Am Ende einer Fachausbildung – 90 Prozent der chinesischen Wissenschaftsjournalisten sind Akademiker – äußert der journalistisch Interessierte »offiziell« seinen Wunsch. Je nach Bedarf teilt dann der Staat dem Bewerber eine Stelle in einer Redaktion zu oder vertröstet ihn mit einer anderen Aufgabe. Der –71–
Begriff des »freien« Journalisten aber – bei uns eine wertvolle Ergänzung der Redaktionen – hat die chinesischen Kollegen äußerst verwirrt. »Wer trägt dann die Verantwortung, wenn auf solchem Wege etwas Falsches in die Medien gerät?« lautete etwa der Einwand. Womit erstaunlich präzise ein wunder Punkt getroffen war. Den Pekinger Kollegen würde es auch nie einfallen, irgend etwas gegen den Willen eines Wissenschaftlers zu publizieren, und für das Wort »Enthüllungsjournalismus« existiert vermutlich kein chinesisches Schriftzeichen. Keine Schriftzeichen gibt es aber auch für manchen Begriff der neueren westlichen Forschung, und es mutet seltsam an, wenn man inmitten der unvertrauten Schrift plötzlich Gebilde wie »PC«, »IBM« oder »DNA« auftauchen sieht. Daß hier ein ungelöstes Problem des westöstlichen Wissenstransfers liegt, sei nur am Rande vermerkt. Es gibt Stimmen, die prophezeien, daß im wissenschaftlichtechnischen Verkehr die traditionelle Schrift dem chinesischen Drang nach Fortschritt schließlich zum Opfer fallen werde.
Blättert man in chinesischen Zeitschriften, trifft man immer wieder auf Anzeichen technischer Fortschrittsgläubigkeit, wie sie bei uns in den fünfziger Jahren populär war.
Auch die 300 Millionen Radioapparate Chinas tragen wissenschaftliche Erkenntnisse ins Volk. Noch mehr als bei den Zeitungen liegt hier die Chance, rasch und bis fast in jeden –72–
Winkel des Riesenreiches Informationen zu verbreiten. Und China hat seit der Gründung des staatlichen Radios im Jahre 1949 konsequent Wissenschaft und Technik über diesen Kanal propagiert. Momentan werden landesweit täglich fünfzehn Minuten (mit zwei Wiederholungen) zum Thema gesendet. Wöchentlich sind außerdem fünfzehn Minuten medizinischen und hygienischen Problemen gewidmet (ebenfalls mit zwei Wiederholungen). Das Niveau der Sendungen scheint eher tiefer als in den geschriebenen Medien angesetzt. Als Beispiele von behandelten Fragen wurden uns etwa genannt: Pflanzenpflege für jedermann, »Wie benutzt man elektrische Geräte?«, Kleiderpflege, Erkältungskrankheiten im Winter, Durchfallprophylaxe im Sommer. Zum Thema Familienplanung wird die Meinung der Partei, etwa die »Vorteile« der Ein-Kind-Familie, der späten Heirat, propagiert, während konkrete Empfehlungen zur Geburtenkontrolle Sache der »individuellen Beratung« seien. Scheint also das Schwergewicht der Sendungen auf Lebenshilfe und Gebrauchstechnik für den Alltag zu liegen, werden auch Weiterbildungsprogramme über diverse Wissensgebiete im Stile einer Volkshochschule ausgestrahlt. Bei außergewöhnlichen Ereignissen gibt es Sonderprogramme. Nach einem Beispiel aus jüngerer Zeit gefragt, berichtete der Direktor der wissenschaftlichen Programme am chinesischen Zentralradio von der Sonnenfinsternis des Jahres 1953. Es scheint damals von staatspolitischer Wichtigkeit gewesen zu sein, der chinesischen Bevölkerung die Sonnenfinsternis genau vorherzusagen (man ist an die alten Kaiser erinnert) und den Leuten zu versichern, die Sonne werde nicht vom Himmelshund gefressen. Erst seit etwa zehn Jahren sendet auch das chinesische Fernsehen spezielle Programme zu Wissenschaft und Technik. Eine Redaktion von fünfzehn Leuten betreut am Zentralfernsehen eine wöchentliche Sendung von fünfzehn –73–
Minuten, ein weiteres Programm ist der Hygiene gewidmet. Ähnlich wie beim Radio liegt das Schwergewicht bei Lebenshilfe und praktischen Ratschlägen für Haushalt und Industriebetriebe, etwa die Wiederverwertung von Altöl in der Fabrik, Autoreparaturen, »Wie unser Auge funktioniert«. Neben der Durchschnittskost existieren aber auch wissenschaftliche Sendungen speziell für Kinder (»Zwischen Himmel und Erde«) sowie Weiterbildung für Studenten und Erwachsene, beispielsweise zum Thema Mikrocomputer. Um schwierige Sachverhalte verständlich zu machen, benutzt man in den allgemeinen Programmen gerne Spielszenen. Wie die stundenlangen Bilder einer formelschreibenden Hand über die Mittagszeit am Pekinger Fernsehen aber demonstrierten, scheint man in den Fortbildungsprogrammen wenig didaktische Rücksichten zu nehmen. Zu den Einschaltquoten für wissenschaftliche Sendungen befragt, nannten die Pekinger Fernsehleute stolze 40 Prozent. Und über die Sorge unseres Kollegen vom Schweizer Fernsehen, daß nur sehr attraktiv gestaltete Wissenschaftssendungen seine Zuschauer davon abhalten würden, auf andere Kanäle umzuschalten, lächelte man in Peking. Was vermuten läßt, daß Lernbegierde bei den Chinesen noch wesentlich höher im Kurse steht als etwa bei unserer Jugend. Herbert Cerutti
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Computer »made in China« Entwicklungsanstrengungen im HighTech-Bereich
Computer gibt es seit 3000 Jahren – und eine Urform davon, der Abakus, stammt aus China. Findige Gelehrte erfanden die nützliche Rechenhilfe in der frühen Zhou-Dynastie (1100 v. Chr.). Mag sein, daß den Chinesen das Flair für solche technischen Pionierleistungen zeitweise abhanden kam. Heute jedoch ist man sich im Reich der Mitte bewußt, daß Technik – eigene oder importierte – für die Entwicklung des riesigen Landes nötig ist. Einer der Schlüssel zu fortgeschrittener Technologie ist der Computer – auch in China. Die ersten Elektronenrechner tauchten dort in den späten fünfziger Jahren auf. Die Röhrenmonster wurden 1965 von transistorisierten Computern abgelöst; von 1971 an setzten auch die chinesischen Computerbauer auf die Technik mit integrierten Schaltungen. Laut offiziellen statistischen Angaben hat China 1982 in eigenen Fabriken 243 Computer produziert; 1983 waren es bereits 414. Elektronische Taschenrechner waren 1982 in China rund 1,8 Millionen Stück und ein Jahr später 3,7 Millionen hergestellt worden. Daß diese Inlandproduktion dem Eigenbedarf bei weitem nicht genügt, spiegeln die Stückzahlen der importierten »elektronischen Rechner« wider: 1982 knapp 2,5 Millionen und 1983 1,9 Millionen. Trotz Steigerung der Inlandproduktion bei gleichzeitiger Reduktion der Importe in den beiden Jahren scheint die generelle Bedeutung der chinesischen Computerproduktion insofern mäßig zu sein, als den chinesischen Computerherstellern nach wie vor Infrastruktur und Kapital fehlen, um mit der rasanten weltweiten –75–
Entwicklung auf diesem Sektor mithalten zu können. Ins Vakuum springen dankbar die Ausländer – allen voran die Japaner. Aber auch amerikanische Firmen wittern das Geschäft des Jahrhunderts. So hat eine US-Delegation bei ihrem Besuch chinesischer Weltraumeinrichtungen zahlreiche amerikanische Computer fortgeschrittener Bauart vorgefunden, was nicht zuletzt Ausdruck der seit wenigen Jahren gelockerten amerikanischen Ausfuhrbestimmungen sein dürfte. Den Chinesen kann’s recht sein: sie bekommen die heißbegehrte Ware zu konkurrenzlos günstigen Preisen, denn sie verstehen es meisterhaft, die Konkurrenten gegeneinander auszuspielen. Raffinierte Importbestimmungen sorgen außerdem dafür, daß die ausländischen Fabrikate zumeist als »Bausatz« ins Land kommen. Der Zolltarif für schlüsselfertige Importgeräte ist nämlich so hoch, daß sich der Zusammenbau in China geradezu aufdrängt. Dies nun aber vermittelt Knowhow und schafft Arbeitsplätze. Als Wölklein am Himmel bleibt – abgesehen vom chronischen Devisenmangel – die High-Tech-Klausel der amerikanischen Regierung, die verhindern soll, daß die Chinesen die neuste US-Technologie kaufen können. So steht denn in der Abteilung für Computerwissenschaften der Universität Peking zum Bedauern von Informatikprofessor Hsu Chochun auch nicht der letzte Schrei der Technik, sondern eine Honeywell DPS 80 mit 64 Bildschirm-Terminals. Sie ersetzte 1984 den letzten chinesischen Computer der Uni. Die Fabrik, die, laut Chochun, den wenig leistungsfähigen und sehr störanfälligen Eigenbau vor fünf Jahren geliefert hatte, kauft jetzt die meisten Computerbauteile im Ausland und setzt sie nachher zu einem chinesischwestlichen Verschnitt zusammen. Eine ähnliche Strategie verfolgt die Shanghai Computer Factory »China versucht zwar, möglichst viel selber zu machen«, erklärt uns dort Wang Zhaofan von der Importabteilung. »Aber die Kosten sind hoch, und die Qualität –76–
läßt zu wünschen übrig. Was wir heute an inländischen Chips haben, entspricht etwa dem Stand eines Intel-8080-Prozessors. Vielleicht gibt es auch schon chinesische 32-Kilobit-Speicher. Unsere Firma kauft aber die meisten Chips in Japan.« Trotzdem scheinen die Chinesen die Eigenentwicklung von Computern nicht aufgegeben zu haben. 1983 brachte das Institut für Computertechnologie (IGT) der Academia Sinica das Modell 757 auf den Markt. Es handelt sich dabei um einen schnellen Vektorrechner, der bis zu 10 Millionen GleitkommaOperationen pro Sekunde schafft. Gemäß ICT-Angaben stammt die 4-Megabit-Anlage zu 99 Prozent aus chinesischer Produktion. Nach einem Bericht des amerikanischen Fachmagazins »Computer« ist das Modell 757 ein Musterbeispiel dafür, wie man mit veralteter Technologie Spitzenleistungen erreichen kann. Seit 1984 hat China auch den ersten eigenen Supercomputer. Die Maschine mit der Bezeichnung YH-1 (Über-Name »Galaxis«) wurde an der Wissenschaftlich-Technischen Hochschule für Landesverteidigung in Changsha (Provinz Hunan) entwickelt und gebaut. Dazu waren allerdings ganz besondere Anstrengungen nötig: »Die Fabrikation einwandfreier Präzisionsteile für ›Galaxis‹ erforderte die Fingerfertigkeiten und scharfen Augen eines Elfenbeinschnitzers«, schreibt der Fachjournalist Pan Yunfang im Magazin ›China im Aufbau‹. Der Aufwand scheint sich indes für die Chinesen in zweierlei Hinsicht gelohnt zu haben. Zum einen konnten sie damit beweisen, daß sie allen westlichen Ausfuhrsperren zum Trotz doch zu ihrem Supercomputer kamen. (Dazu Pan Yungfang: »Vielleicht belehrt das frohe Brummen unseres Großrechners die Ausländer jetzt eines besseren.«) Zum anderen ist die »Galaxis« natürlich ein sehr nützliches Instrument. Mit ihren 100 Millionen Operationen pro Sekunde ist sie prädestiniert für rechen intensive Einsätze bei der Wettervorhersage und in der Seismologie. Neben den Meteorologen und Erdölprospektoren –77–
interessieren sich auch Industriekreise für den Supercomputer: Eine Stahlfirma aus Anshan zum Beispiel hat damit eine Strategie für den sparsamsten Brennstoffverbrauch entwickelt. Um den Technologiezug richtig in Fahrt zu bringen, wollen chinesische Wissenschaftler nach einem Bericht der›Beijing Rundschau‹jetzt ein Zentrum für Elektronik aufbauen. Offen ist noch, wo diese neue Wirtschaftssonderzone entstehen soll. Ursprünglich in Frage kamen Shenzhen (in der Nähe von Hongkong) oder Schanghai. Nun zieht Haidian in der nordwestlichen Vorstadt Pekings die Aufmerksamkeit der Planer auf sich. Der wichtigste Vorteil Haidians sind seine akademischen Institutionen. Hier liegen 36 höhere Lehranstalten, unter ihnen die Universitäten von Peking und Qinghua, 80 Forschungszentren und Institute, die der chinesischen Akademie der Wissenschaften unterstehen, sowie Zhongguan, bekannt als die »Stadt der Wissenschaft«. Bis jetzt hat Haidian sein Potential offenbar nur schlecht genutzt. Viele Fabriken sind, laut ›Beijing Rundschau‹, hoffnungslos rückständig. Sun Jinglun, Direktor der Wissenschaftskommission Haidians, macht vor allem das bestehende Verwaltungssystem für den Mißerfolg verantwortlich: »Es behindert den Austausch zwischen Universitäten, Forschungszentren und Fabriken. Leider gibt es erst wenig Leute, die die Bedeutung der Zusammenarbeit von Forschung und Industrie eingesehen haben.« Das soll nun anders werden. Erste Ansätze dafür sind vorhanden: 40 Firmen arbeiten jetzt mit den Universitäten zusammen, und das 1984 gegründete Entwicklungsinstitut für neue Technologien liegt auf Erfolgskurs. Dieser privatwirtschaftlich orientierte Betrieb hat auf dem Gebiet der elektronischen Hardware bereits so viele neue Produkte und Techniken entwickelt, daß er in der kurzen Zeit Gewinne von über einer Million Yuan erzielte. Was die Chinesen auf dem Computersektor wirklich können, zeigt sich weniger auf dem Gebiet der Hardware als bei –78–
Spezialanwendungen. Paradebeispiel einer erstklassigen Computeranwendung ist das System, das Wissenschaftler und Ingenieure unter Leitung von Wang Xuan an der Universität Peking entwickelt haben, um das chinesische Zeitungswesen direkt vom Bleistift– ins Computerzeitalter zu katapultieren. Was bei uns als Fotosatz bekannt und bald in jedem Lokalblatt eingeführt ist, können die Chinesen nun nicht einfach telquel übernehmen. Schwierigkeiten bietet hier in erster Linie die Schrift. Seit mehr als zehn Jahren bemühen sich Fachleute, für die komplizierten Hanzi (die chinesischen Schriftzeichen) ein geeignetes computerisiertes Satzsystem zu entwickeln. Jetzt ist dies endlich gelungen. Das Hauptproblem war: Wie bringt man all die Zeichen in den Computer, und wie speichert man sie dort ab? Zeitungen benützen etwa 7 000 verschiedene Zeichen, die häufig vorkommen. Dazu kommen noch ein paar tausend seltene Zeichen für Spezialgebiete. All dies muß in sechs verschiedenen Schrifttypen und 16 Größen auf dem Computer abrufbar sein. Für eine anständige Druckqualität muß man jedes Zeichen auflösen in einer Matrix von 100 mal 100 Punkten. Dazu braucht es 100 mal 100 = 10 000 Bit Speicherplatz. Größere Zeichen, wie sie zum Beispiel in Titelschriften vorkommen, erfordern bis zu 432 mal 432 Punkte. Summa summarum ergibt das einen Speicherbedarf von 20 Gigabit (20 Milliarden Bit)! Technisch lassen sich zwar solche Gigaspeicher schon verwirklichen, aber in der Druckpraxis läßt sich damit nicht leben: Sie machen das Satzsystem nicht nur extrem teuer, sondern auch äußerst schwerfällig und langsam. Die Forscher mußten also eine Methode finden, um die Zeicheninformation drastisch zu reduzieren. Die ersten Versuche waren nicht sehr ermutigend: Je stärker die Information komprimiert wurde, desto schlechter war die resultierende Druckqualität. Schließlich gelang Wang Xuan und seinen Kollegen der Durchbruch: Statt 20 Milliarden Bit braucht ihr System lediglich 50 Millionen Bit, –79–
also 400mal weniger Speicherplatz. Die Einsparung war möglich, nachdem die Forscher ein spezielles Programm entwickelt hatten, das aus einer Rumpfinformation die gewünschten Hanzi-Zeichen reproduziert. Auch bei der Technik der Filmbelichtung ging das WangTeam eigene Wege. Statt einfach westliche Maschinen zu kopieren, die mit Elektronenstrahlen arbeiten, setzten die Chinesen gleich von Anfang an auf die modernere Lasertechnik. Den ersten Prototyp der Lichtsatzanlage bastelten sie bereits vor 10 Jahren aus einem Fernkopierer zusammen, den sie mit Lasern bestückten. Das System ist heute so ausgereift, daß es nun bei der Nachrichtenagentur Xinhua eingesetzt wird, wo es die alte Bleisatzmaschine ablöst. Den Input besorgen flinke Datentypistinnen, die mit einem Lichtgriffel das chinesische Keyboard bedienen. 4 000 chinesische und alphanumerische Zeichen kann man auf der Tastatur direkt eingeben; alle anderen Zeichen lassen sich leicht zusammensetzen. Die Filmbelichtung mit dem Laserstrahl ist nicht nur sehr schnell (60 bis 180 Zeichen pro Sekunde), sie liefert auch eine bisher kaum erreichte Zeichenqualität. Im Moment sind die Ingenieure dabei, den jetzt noch erforderlichen Minicomputer durch einen Micro zu ersetzen und einen hochauflösenden Bildschirm zu entwickeln, auf dem nicht nur Text eingegeben, sondern ganze Zeitungsseiten gestaltet werden können. Spezielle Programme sollen es zudem ermöglichen, auf dem Bildschirm mathematische und chemische Formeln zu schreiben. Spitzenleistungen wie die eben geschilderte kommen nicht von ungefähr – dahinter steckt ein gut ausgebautes Ausbildungssystem. Tatsächlich mißt China der Informatikausbildung große Bedeutung zu. Die Pekinger Universität hat zum Beispiel bereits seit 1978 eine eigene Informatikabteilung; vorher waren die Computerleute bei den Mathematikern und Physikern angesiedelt. Die Studentenzahlen zeigen einen starken Aufwärtstrend: Sie stiegen von 80 (davon –80–
14 Frauen) im Jahr 1978 auf gegenwärtig rund 400. Das Informatikstudium beginnt mit viel Mathematik – und wenig Computerkursen. Daß Studienanfänger den Computer nicht so oft sehen, hat freilich auch »logistische« Gründe: »Wir haben zuwenig Platz, zuwenig Material und zuwenig Techniker, um unsere Installationen in Schuß zu halten«, kritisiert Hsu Chochun die Situation an der Universität Peking. Die eingangs erwähnte Honeywell-Anlage müssen die Informatiker mit den Ingenieuren, Mathematikern und Physikern teilen. Daneben stehen ihnen aber noch eigene Computer (von Burroughs, Fortune und Digital Equipment) zur Verfügung. Schwerpunkt im zweiten Studienjahr ist das Programmieren in bekannten Sprachen wie ADA oder Pascal. Im dritten Jahr stehen dem Studenten drei Richtungen offen: Software, Computersysteme oder Theoretische Studien (zum Beispiel Kombinatorik oder Künstliche Intelligenz). Das vierte und letzte Studienjahr schließlich ist für ein großes Projekt reserviert, bei dem der angehende Informatiker seine Fähigkeiten zeigen soll. Nach dem Studienabschluß teilen sich die Wege: einige gehen ins Lehramt, andere in die Forschung. Viele landen im Computerzentrum eines Ministeriums, wo sie zwar modernere Anlagen als an der Universität, aber anscheinend langweiligere Arbeit antreffen. Glücklich ist, wer einen Vertrag mit der Industrie angeboten bekommt. Dieser garantiert die Finanzierung eines Nachdiplomstudiums im Austausch gegen Arbeit, die der Student später für die Firma leisten wird. Sehr beliebt ist bei den jungen Informatikern die Mitarbeit an Joint ventures mit dem Ausland. In den Sommerferien unterrichtet die Informatikabteilung der Universität Peking außerdem Arbeiter und Angestellte der Industrie. In sechswöchigen Kursen erhalten die Teilnehmer eine Einführung in die Welt der Computer und lernen, einfache Programme zu schreiben. Eine eher trockene Art von Computerunterricht erteilt auch das chinesische Fernsehen im –81–
Stile eines Telekolleg. Computer fast in jedem Ministerium, Computer in der Setzerei, Computer in der Forschung, japanische und amerikanische Personal Computer in den Elektronikläden der Großstädte: Wie reagieren die Chinesen auf diese Technik, die für sie sicher überraschender kam als für uns? »Natürlich gibt es auch bei uns Widerstände gegen die zunehmende Computerisierung«, räumt unser Gesprächspartner Chochun ein. »Allerdings sind wir bei der Büroautomatisierung noch lange nicht so weit, daß Arbeitsplätze auf dem Spiel stehen.« Auch in staatlichen Verwaltungsstellen scheint es Leute zu geben, die dem Computer nicht so recht über den Weg trauen. Chochun meint, daß dies vor allem auf mangelnde Kenntnisse zurückzuführen sei: »Viele wissen eben gar nicht, was der Computer kann oder nicht kann.« Felix Weber
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»Je größer, desto besser« Kritische Stimmen zum Bauboom in China
Besucht man heute chinesische Städte, überraschen die zahlreichen Großbaustellen mit ihren Kränen und den gewaltigen Baugruben, in denen ein Gewimmel von Arbeitern Backstein um Backstein zu Fundamenten fügt. Selbst spät in der Nacht geht das emsige Treiben im Lichte von Scheinwerfern weiter. Frühere Chinareisende bestätigen, daß solche Bauwut eher neueren Datums ist. Und fragt man die Dolmetscherin nach der künftigen Zweckbestimmung der einzelnen Bauvorhaben, erhält man zur Antwort: Wohnblock, Fabrik, Bahnhof und recht oft – neues Hotel. Es gehört zu den vielen Kontrasten Chinas, daß der staunende Zeuge solcher Bauhektik nur einige Schritte weiter auf längst vergessen geglaubtes Bauhandwerk stößt: Im Hof eines alten Tempels liegen als Ersatz für morsch gewordene Holzsäulen mächtige Stämme, welche Handwerker mit traditionellem Werkzeug bearbeiten. Auf einem Balken entdeckt man Zirkel, Winkel, eine Pechschnur zum Bezeichnen von Schnittlinien. Kein Kreischen von Motorsägen, keine heulenden Bohrmaschinen – nur das Klopfen der Axt, das Knirschen des Meißels, die Handsäge, welche sirrend ins Holz fährt. Was nun die neuzeitliche Bauerei für die Chinesen bedeutet, geben schlaglichtartig fünf Artikel wieder, die alle zwischen dem 28. Mai und dem 6. Juni 1985 in Chinas englischsprachiger Zeitung ›China Daily‹ erschienen sind. Auf nationaler Ebene beklagt sich beispielsweise der Präsident eines Forschungsinstitutes für Baufragen: Die allein –83–
1984 in große Bauprojekte investierten 200 Milliarden Yuan seien für Chinas Wirtschaft viel zu hoch, und die vorherrschende Tendenz »je größer, desto besser« beruhe auf dem Irrtum, große Projekte seien wirtschaftlicher als kleinere. Weniger um nationalökonomische Implikationen als um sein persönliches Wohlbefinden sorgt sich jener Artikelschreiber, der die Bauaktivität in der nördlichen Industrie- und Handelsmetropole Tianjin geißelt: Rund um die Uhr würden dort Baustellen betrieben, und der Lärm der Betonmischer und das Geschrei der Bauarbeiter hielten die Nachbarschaft nächtelang wach. Und sind die Bauten schließlich fertig, scheinen zusätzliche Sorgen die Genossen zu plagen. Allein in Peking sollen – trotz chronischer Wohnraumknappheit – Dutzende neuerstellter Wohnblöcke seit längerem leerstehen. Die Gründe: Die Baufirmen kümmern sich oftmals lediglich um die Konstruktion des Gebäudes, während die externe Versorgung mit Wasser, Strom, Gas und Telefon ändern überlassen werde. So passiere es immer wieder, daß ein Wohnblock zwar inklusive der sanitären und elektrischen Installationen im Hausinnern fertiggestellt sei, der dringend nötige »Rest unter Boden« aber erst auf Papier in irgendeiner Schublade existiere. Das nachträgliche Einrichten der Versorgungssysteme wird dann nicht selten nur ungenügend erledigt. Solche Schlamperei ist bei Hochhäusern besonders gravierend, wenn dort auch das Erstellen der nötigen Wasserpumpwerke, Transformerstationen und Gasverteiler verbummelt wurde. Grund für den verzögerten Bezug eines neuen Wohngebäudes können aber auch Baumängel sein. Einer der Zeitungsartikel berichtet von Rissen in Wänden und Decken, nicht richtig funktionierenden elektrischen Aufzügen, wackligen Fenstern und Türen, verkehrt herum montierten Türklinken. Wegen solcher Mängel werde oftmals lange gestritten, und die Reparatur lasse auf sich warten. Überraschen müssen schließlich –84–
den mit Chinas Bräuchen wenig Vertrauten die Hinweise auf das Problem der »Tributzahlungen«. Personalgruppen des Polizeipostens, der Einkaufsläden, der Schule im Quartier verlangen im neuen Wohnblock »ihren Anteil« an leeren Wohnungen. Weigert sich nun der Vermieter, solche Ansprüche zu befriedigen, werden die neuen Bewohner von den übergangenen Quartierstellen boykottiert und müssen wohl oder übel den mit Bann belegten Wohnblock wieder räumen! Gesamtwirtschaftliche wie soziologische Gedanken macht sich jener Artikelschreiber, dem das rapide Wachstum der chinesischen Städte Sorgen bereitet. So gab es 1984 in China 46 Städte mit über l Million Einwohnern, und weitere 66 Städte beherbergten zwischen 500 000 und l Million. Das fulminante Größerwerden der chinesischen Städte kann etwa an der Anzahl Millionenstädte zum Zeitpunkt der Gründung der Volksrepublik im Jahre 1949 ermessen werden: sechs. Daß solchem Wachstum der Ausbau der städtischen Infrastrukturen oft nicht folgen kann, ist nicht weiter verwunderlich. In der Sechsmillionenstadt Schanghai beispielsweise sollen in den letzten 30 Jahren lediglich 48 000 Telefonapparate neu installiert worden sein, weshalb heute in diesem Industrie- und Handelszentrum äußerst prekäre Kommunikationsverhältnisse herrschen. Umweltprobleme größten Ausmaßes sind weitere Folgen urbaner Wucherung. Was aber passiert, wenn dank fortschreitender »Modernisierung« der Landwirtschaft bis im Jahre 2000 voraussichtlich über 300 Millionen Landbewohner ihr ländliches Leben aufgeben und in die Städte ziehen werden? Um Chinas Bevölkerung Zustände wie etwa in Mexico City zu ersparen, möchte die Regierung die Gründung und das Wachstum von Kleinstädten mit höchstens 40 000 Einwohnern fördern. Was sicherlich gewisse logistische Probleme erleichtert. Betrachtet man indessen das mit jeder Art von Urbanisierung verknüpfte Bauvolumen, dürften die heutigen Schwierigkeiten der –85–
chinesischen Bauwirtschaft noch akzentuiert werden. Herbert Cerutti
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Dicke Luft und trübe Wasser Gravierende Umweltverschmutzung begleitet Chinas Entwicklung
Peking im Mai ist dunstig. Auf dem Bildschirm im Zentrum für Umweltüberwachung erscheinen die eben ermittelten Schadstoffkonzentrationen aus der Stadtmitte. Es ist 11.30 Uhr: Die Schwefeldioxidwerte liegen viermal, die Ozonwerte dreimal über dem schweizerischen Grenzwert (siehe Tabelle S. 79). Liang Xiyang Chef des Überwachungssystems, ruft die anderen neun Stationen, an denen die Pekinger Luftqualität gemessen wird, auf den Bildschirm. Am Schluß flimmern die Werte einer Außenstation, die über zwei Fahrstunden entfernt bei den MingGräbern liegt, über den Monitor. Der Schwefeldioxidgehalt der Luft ist dort zwar gering, die Ozonkonzentration aber ebenfalls besorgniserregend hoch (70 Mikrogramm pro Kubikmeter). Liang Xiyang ist stolzer Herr über modernste Computer- und Meßtechnik. Er ist einer der 156 Wissenschaftler am Zentrum für Umweltüberwachung. Seine automatisch arbeitenden Meßstationen liefern jede halbe Stunde die neuesten Mittelwerte von zehn verschiedenen Luftschadstoffen. Die Geräte laufen seit etwa 1984. Sie stammen aus den Vereinigten Staaten, wo Xiyang auch ausgebildet wurde. »Wir wollen die Meßgeräte nachbauen und testen jetzt in Peking ihre Funktionstüchtigkeit«, meint er. Aber wollen die Chinesen auch Konsequenzen aus den gemessenen Schadstoffkonzentrationen ziehen? Im Haushalt, zum Heizen und Kochen, und in der Industrie verbrennen die Chinesen vor allem Kohle, die zum großen Teil –87–
aus den Nordprovinzen Chinas stammt. Nur ein Fünftel ihres Energiebedarfs decken sie mit Erdöl und je ein Zwanzigstel mit Gas und mit Wasserkraft. Die chinesische Kohle ist zwar von guter Qualität, aber im Gegensatz zu den meisten anderen Ländern mit Kohlebergbau wird in China nur ein kleiner Teil der Kohle gewaschen und sortiert (17 Prozent). In den meisten Öfen brennt deshalb Rohkohle, die beträchtlich mehr Schadstoffe enthält und mehr Asche hinterläßt als gereinigte Kohle. Zudem nutzen die chinesischen Öfen die Verbrennungsenergie schlecht. Mehr als zwei Drittel der freigesetzten Energie verpufft durch den Kamin. Diese Verschwendung schlägt sich auch in der Abgasproduktion nieder: Wenn chinesische Öfen eine Tonne Kohle verbrennen, entstehen doppelt soviel Abgase wie beispielsweise bei japanischen Öfen. »Wir wissen, daß wir zuviel Schwefeldioxid in der Luft haben«, sagt Yong Yongzhi, Forschungsdirektorin des nationalen Umweltschutzbüros, bei einer Teestunde. »Wir wollen etwas dagegen tun, und wir wollen dabei auch vom Ausland lernen.« Aber was wollen und was können die chinesischen Umweltschutzexperten tun? Das Beispiel Staubbelastung zeigt den Handlungsspielraum. »Heute ist es bedeutend weniger staubig in Peking als früher«, beteuert Yong Yongzhi. Der Grund dafür liegt darin, daß die Stadtbewohner ihre Kohlenhaufen, die vor vielen Wohnhäusern liegen, abdecken müssen. Zudem werden mehr und mehr Wohnblöcke an Gasleitungen angeschlossen. Weniger staubig heißt in Peking aber, daß bloß noch siebenmal mehr anstatt neunmal mehr Staub pro Quadratmeter auf Peking als auf Zürich fällt. Wobei nicht aller Staub aus der Verbrennung von Kohle stammt. Die Winde aus dem Norden und Nordwesten bringen zusätzlich beträchtliche Mengen von Lößstaub in die Stadt. Dies ist indes nur zum Teil ein natürliches Phänomen, denn die vom Menschen verursachten Waldzerstörungen auf dem chinesischen –88–
Lößplateau vergrößern diese Staubmengen. Nicht viel anders sieht es in den übrigen Städten aus. Eine Studie aus dem Jahr 1979 zeigte, daß in allen 57 untersuchten Städten die Staubbelastung größer war, als die chinesische Regierung erlaubte. In 28 Städten überstieg die Staubbelastung die geltenden Grenzwerte sogar um mehr als das Dreifache. Alle Rekorde dürfte jedoch die Industriestadt Shenyang im Norden Chinas brechen, wo pro Jahr und Quadratkilometer rund 500 Tonnen Staub landen! Und die Folgen? Staub und Abgase vermindern die Sichtweite. Auf dem Rückweg vom Zentrum für Umweltüberwachung ins Stadtinnere, auf der schnurgeraden Ost-West-Verbindung, sehen wir kaum fünf Kilometer weit. Und gleichsam die Erfahrungen des Tages bestätigend, sinkt die Sonne am Abend schon eine Handbreit über dem Horizont in den braunen Dunst. Die Folgen der Luftverschmutzung erschöpfen sich aber nicht in trüben Sonnenuntergängen. Vier bis fünf Menschen pro 100 000 sterben in China an Lungenkrebs – in den Städten sind es 17 bis 31. In Peking stieg die Rate von Lungenkrebserkrankungen zwischen 1974 und 1978 um 30 Prozent. Ebenfalls schlecht geht es den Bäumen. Zwar wird die Schwefelsäure im Regen durch die alkalischen Lößpartikeln neutralisiert, so daß das Pekinger Regenwasser nicht sauer ist (pH zwischen 6 und 7). Aber die direkten Wirkungen der Schadgase und des Staubes sind unübersehbar. Alte Bäume gibt es in Peking kaum mehr. Und die wenigen in den ehemaligen Kaisergärten tragen viele dürre Äste oder sind so tot wie die Kaiserpaläste, vor denen sie stehen. Die neu gepflanzten sind schütter oder treiben gar nicht aus. Kiefern haben sich oft braun verfärbt. Und auf allen Blättern liegt eine graue Staubschicht. Diese hohe Staubfilterleistung der Bäume versuchen die Chinesen zu nutzen, indem sie ihre Städte mit Jungbäumen bepflanzen, wo immer es geht. Einen Teil der Staubreduktion in –89–
Peking führt die Umweltexpertin denn auch auf diese Pflanzaktionen zurück. Aber mit Bäumen gegen die Luftverschmutzung zu kämpfen genügt nicht. Seit 1980 gibt es ein nationales Umweltinstitut der Chinesischen Akademie der Wissenschaften in Peking, das als Zentrum der chinesischen Umweltforschung gilt. Ein weiteres derartiges Institut steht in Südchina. Ebenfalls zentral organisiert ist das Institut für Lärmbekämpfung in Peking, an das 1 400 Lärmmeßstellen im ganzen Land angeschlossen sind. Nebst diesen nationalen Instituten arbeiten eine ganze Reihe lokaler Umweltinstitute, die in Zukunft stärker unter die Kontrolle der Akademie gestellt werden sollen. All diese Forschungszentren und auch die Verankerung des Umweltschutzes in der Verfassung sowie das fortschrittliche Umweltschutzgesetz, das der fünfte Nationale Volkskongreß verabschiedet hat, nützen aber nichts, wenn der politische Wille zur Verbesserung der Luftqualität nicht vorhanden ist. Offenbar betrachten Chinas Spitzenpolitiker die Luftverschmutzung trotz Todesfällen und Baumsterben noch nicht als vordringliches Problem. Deng Xiaopings Devise von der Vervierfachung der Industrieproduktion bis zum Jahr 2000 ist zwar nicht mehr unangefochten, aber offiziell noch immer gültig. Die Erreichung dieses Ziels erfordert unter anderem die Fertigstellung der geplanten riesigen Kohlekraftwerke in den Provinzen Shaanxi und Jilin. Billige Schwefeldioxidfilter für solche Kraftwerke gibt es noch nicht auf dem Weltmarkt. Wenn Dengs Wirtschaftspläne in Erfüllung gehen, wird sich die Luftqualität Chinas in den nächsten Jahren nochmals drastisch verschlechtern. In anderen Bereichen der Umwelt sind Verschmutzung und Zerstörung heute bereits derart groß, daß die chinesische Führung aktiv werden muß: Beispiele dafür sind die Waldzerstörung und die Wasserverschmutzung. Daß diese beiden Probleme noch gravierender sind als die –90–
Luftverschmutzung, meint auch Vaclav Smil, Autor eines Aufsehen erregenden Buches über Chinas Umweltprobleme (siehe Literaturverzeichnis). Fünf Millionen Tonnen Abwasser produzieren die Einwohner Schanghais täglich – nur 200 000 Tonnen davon werden gereinigt. Die Abwasserkanäle der Stadt stammen noch aus den zwanziger und dreißiger Jahren und sind heute hoffnungslos überlastet. Der Suzhou- und der Huangpu-Fluß, aus dem die Stadt einen Großteil ihres Trinkwassers bezieht, mischen sich im Sommer, wenn viel Wasser für die Bewässerung der Felder oberhalb von Schanghai abgezweigt wird, im Verhältnis 1:1 mit den Abwässern. Daß dann zum Trinkbarmachen solchen Wassers Unmengen von Chlor nötig sind, riecht man leider in jeder Schanghaier Teetasse. Abhilfe schaffen soll jetzt ein Projekt, das durch einen australischen und einen Weltbankkredit ermöglicht wurde. Mit diesen Geldern wollen die Chinesen beide Flüsse reinigen und das aufbereitete Wasser direkt dem Jangtse zuführen; bis 1991 soll der Suzhou-Fluß, bis 1996 der Huangpu-Fluß saniert sein. In Peking sieht es nicht viel besser aus. »Zehn Prozent unserer Abwässer werden gereinigt«, äußert Chen Zijiu, Direktor des Pekinger Zentrums für Umweltüberwachung. Aber zehn Prozent von 1,8 Millionen Tonnen Abwasser pro Tag sind bedenklich wenig. Zudem wird bei dieser Reinigung vermutlich nur das Gröbste aus dem Abwasser gefischt, denn Chen Zijiu gibt freimütig zu, daß 28 von 32 Flüssen in Peking schlimm verschmutzt seien. Verschmutzt sind sie unter anderem mit Phenol und Zyanid, aber auch mit Arsen, Quecksilber und verschiedenen ändern Schwermetallen. Zum Trinkwasserproblem meinen Pekings Umweltschutzexperten: »Zwar gibt es Wasserreservoire außerhalb der Stadt mit unverschmutztem Wasser, doch bei der Einleitung in die Stadt vermischen sich Fäkalien mit dem zukünftigen Trinkwasser.« Die Hauptmenge des Pekinger Trinkwassers stammt indes aus –91–
80 bis 200 Metern Tiefe. Aber sogar dieses Wasser ist verschmutzt, und die Konzentrationen von Schwermetallen, Phenol, Zyanid und Nitrat übersteigen die gesetzlichen Grenzwerte um ein Mehrfaches. Zudem werden die unterirdischen Wasserreservoire übernutzt, weshalb die Grundwasserspiegel der Städte konstant sinken, in den Vorstädten im Südosten von Peking um über einen Meter pro Jahr. Bereits hat sich in den unterirdischen Aquifers um Peking eine riesige Lufthalle von 1000 Quadratkilometern Fläche gebildet, was auch schon zu Senken an der Oberfläche führte. So sacken einige Stellen im Osten der Stadt jährlich um 20 bis 30 Zentimeter in die Tiefe. Die gleichen Probleme bestehen in Xi’an, Taiyuan, Shenyang und einem halben Dutzend anderer Städte. Das Ministerium für Geologie, das 1980 die unterirdische Wassernutzung in ganz China untersucht hat, stellte deshalb fest, daß die Übernutzung von Grundwasser China vor ernsthafte Probleme stellen wird. Shanghai hat mittlerweilen die Grundwassernutzung eingeschränkt. Einen Teil des Problems versuchen die Pekinger zu lösen, indem sie mehr Oberflächenwasser säubern. Geplant ist eine neue zweistufige Kläranlage, die ab 1988 täglich eine halbe Million Tonnen Abwasser bewältigen wird. Nach Xi’an ist diese Art Fortschritt aber noch nicht gelangt; dort wird ein Fünftel des Abwassers gereinigt – in Absetzbecken. Weitere illustrative Beispiele von Wasserverschmutzung beschreibt Vaclav Smil. Nach Smil mußte die Regierung in Guilin 1979 drei Fabriken schließen, weil die Phenol-, Zyanidund Quecksilberkonzentrationen im berühmten Li-Fluß zu hoch waren. So hoch, daß die Kormoran-Fischer zu gewöhnlichen Fischern wurden, weil ihre nützlichen Vögel durch die Giftanreicherung verendeten. Sechs Jahre danach sitzen wieder einige wenige Kormorane an den Ufern des Li-Flusses. Smils Geschichte vom Ba-He-Fluß klingt grotesker: Der Ba He in Peking war in der neueren Zeit zum Kanal für ölhaltige –92–
Industrieabfälle geworden. Unachtsamte Bauern warfen nun im Dezember 1979, nachdem sie sich an einem kleinen Feuer aufgewärmt hatten, die noch glühenden Holzkohlen ins Wasser. Innerhalb weniger Minuten stand der Ba He in Flammen, ließ Hochspannungsleitungen schmelzen, zerstörte fünf stählerne Schleusen und löste die oberste Betonschicht von einer Brücke. Die Wasserverschmutzung verdirbt aber auch Gemüse und Getreide. In keinem anderen Land außer Ägypten steht eine so große Fläche unter künstlicher Bewässerung wie in China. Wenn von 78 untersuchten Flüssen 54 verschmutzt sind und darunter die 14 größten chinesischen Flüsse als ernsthaft vergiftet gelten, kann das nicht ohne Folgen für die Landwirte bleiben. Smil berichtet: »In Shenyang, wo verschmutztes Wasser wiederholt zur Bewässerung genutzt wurde, gab es zahlreiche Fälle, in denen einige Tonnen Gemüse nicht mehr eßbar waren, weil die Chromkonzentrationen im Kohl 5,2 Milligramm pro Kilogramm und im Spinat 6 Milligramm pro Kilogramm Fälle, in denen einige Tonnen Gemüse nicht mehr eßbar waren, weil die Chromkonzentrationen im Kohl 5,2 Milligramm pro Kilogramm und im Spinat 6 Milligramm pro Kilogramm betrugen. Ebenso enthielt der Reis dieser Gegend mehr als ein Milligramm Kadmium pro Kilogramm.« (Die
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In Peking gemessene Immissionswerte verglichen mit den gesetzlichen Grenzwerten in China und in der Schweiz.
Weltgesundheitsorganisation betrachtet ein halbes Milligramm Kadmium pro Woche für Erwachsene als noch tolerierbar.) Ebenso erschreckend waren 1980 die Quecksilberkonzentrationen in Bewässerungskanälen bei Xi’an: Sie lagen 440mal über dem chinesischen Grenzwert oder fünfmal über den Werten, wie sie die Japaner bei ihrer Umweltkatastrophe in der Minimata-Bucht registriert hatten! Chinas Umweltverschmutzung ist also erschreckend groß. Optimistisch stimmt immerhin die Tatsache, daß die meisten Fakten dieses Berichtes, wie die meisten Informationen, die Vaclav Smil in seinem Buch verarbeitet hat, aus chinesischen Quellen stammen. Dieses offene Diskutieren und Erforschen von Umweltproblemen scheint neu für China und konnte wohl erst nach 1978, dem Beginn der »Öffnung«, stattfinden. Seither gab es verschiedene Umwelttagungen; vier Fachmagazine für Ökologie wurden gegründet; China beteiligt sich heute an den großen Uno-Umweltprogrammen, und im Pekinger Umweltministerium wurde uns gesagt, daß heute sechs- bis siebentausend Ökologen in China arbeiten. –94–
Diese Ökologen publizieren zum Teil sehr kritische, allgemein verständlich geschriebene Artikel in großen chinesischen Tageszeitungen. So schrieb Liu Pei’en in der Zeitung ›Guangming ribao‹ im Jahre 1980: »Obwohl das Umweltschutzgesetz heute überall bekannt ist, gibt es keine Möglichkeit, es durchzusetzen, und in Wirklichkeit dient es nur als Propaganda.« Ähnlich mutige Aussagen konnte man auch 1985 in chinesischen Zeitungen lesen. Sie haben dazu beigetragen, daß die Umweltprobleme ins Bewußtsein der Öffentlichkeit und der Politiker gedrungen sind. Regierungsstellen haben denn auch, gestützt auf das Umweltschutzgesetz, bereits Bußen für besonders schmutzige Fabriken ausgesprochen (wobei der Sinn von staatlich verordneten Bußgeldern gegenüber Staatsbetrieben nicht ohne weiteres einleuchtet). Zudem strengt sich auch die Industrie, vor allem die Schwer- und Ölindustrie, an, ihre Abgas- und Abwassermengen zu vermindern. Wie wirksam diese Anstrengungen sind, wird sich aber erst in ein paar Jahren beurteilen lassen. »China ist gerade auf dem Gebiet des Umweltschutzes noch ein Entwicklungsland«, haben unsere chinesischen Gesprächspartner immer wieder betont. Ob es auch auf diesem Gebiet zu einem Vorbild für die Dritte (und sogar für die Erste) Welt werden kann oder ob es zum abschreckenden Beispiel für zu schnellen Fortschritt wird, ist noch offen. Reto Locher
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Chinas Bäume wachsen nicht in den Himmel Aufforstungskampagnen mit unterschiedlichem Erfolg
Die jungen Pappeln an den Straßenrändern von Peking erinnern an die Stangen, die in den verschneiten Alpen die Straßen markieren. Beide sind von derselben Größe, und beide sind kahl. Städter aus Peking haben die Pappeln wahrscheinlich im Jahr zuvor gepflanzt – Millionen von Chinesen pflanzen im ganzen Land Milliarden von Jungbäumen, jedes Jahr. »Aber erst am Ende des Jahrzehnts wird es möglich sein, den Erfolg dieser Pflanzaktionen zu beurteilen«, meint Vaclav Smil, Geograph an der Universität Manitoba, Kanada, und Autor eines Buches über die Umweltsituation in China (siehe Literaturverzeichnis). Sehr optimistisch sind weder er noch andere Forstexperten, die China besucht haben. Angesichts der enormen wirtschaftlichen und sozialen Probleme in Entwicklungsländern wären indes schon bescheidene forstwirtschaftliche Erfolge eine vorbildliche Leistung. Die chinesische Regierung möchte aber mehr als bloß Teilerfolge erzielen: Sie will, unter Mithilfe des ganzen Volkes, innerhalb von fünfzehn Jahren ein Fünftel des Landes mit Bäumen bepflanzt haben. Und zufriedengeben will sich China erst, wenn einmal ein Drittel des Landes von Wäldern bedeckt ist. Mit Stolz weisen die Chinesen auf die Vergrößerung ihrer Waldflächen seit der Gründung der Volksrepublik hin. Damals waren acht Prozent des Landes bewaldet, heute sind es nach offizieller Statistik zwölf Prozent. Von diesen zwölf Prozent sind aber lediglich etwa ein Drittel Wälder mit Kräutern, –96–
Büschen und geschlossenem Kronendach, also für die eigentliche Holzwirtschaft interessant. Die anderen zwei Drittel bestehen aus lichtem Sekundärwald oder sind frisch gepflanzt und deshalb noch zu jung, um genutzt zu werden. China ist damit ärmer an Wald als etwa Indien oder Brasilien. Entwaldete, kahle Hügel gehören allerdings schon seit Jahrhunderten zum Landschaftsbild Chinas. Die Feudalherrscher haben Wälder abgebrannt, um bedrohliche Tiere zu verjagen, um Felder anzulegen, Holz und Holzkohle zu gewinnen. Auch brauchten sie Edelhölzer für ihre Paläste und den Ruß aus verbrannten Föhren für die Tusche der Kalligraphen. Als Mao die Volksrepublik gründete, gab es nur noch in abgelegenen, dünn besiedelten Teilen des Landes Urwälder: Nadelwald (Föhren, Lärchen, Fichten und Tannen) in der Inneren Mongolei und am Rande der Nordostprovinzen Liaoning, Jilin und Heilongjiang, immergrüne, schnellwüchsige Wälder im Westen der Provinzen Sichuan und Yunnan und tropischen Regenwald im Südosten Tibets und auf der Insel Hainan. Seit 1949 hat sich daran aber nicht viel geändert. Und ob das 1979 erlassene Forstgesetz diese Waldarmut beseitigen hilft, ist unsicher. Zwar drohen die Gesetzgeber mit hohen Strafen, wenn jemand Bäume fällt, um Brennholz zu gewinnen, oder Wald rodet für Ackerbau oder Weidewirtschaft – aber bestraft werden kann nur, wer sich erwischen läßt. »Wie sollen wir illegales Abholzen kontrollieren?« meinte ein Mitarbeiter des WolongNationalparks im Westen Sichuans bei unserem Besuch und zeigte dabei auf eine Gruppe junger Lärchen, zwischen denen einzelne Baumstümpfe als Zeugen des Holzraubes standen. Und ehemals bewaldete Hügel sind weit hinauf mit Äckern bedeckt. So reiht sich im Schutzgebiet Hügel an Hügel, Berg an Berg, der eine mehr, der andere weniger bewaldet, 200 000 Hektar weit. Mit dem wenigen Personal des Nationalparks ist diese Fläche nicht zu überwachen. Und so sieht es, nach Vaclav Smil, auch in anderen Teilen Chinas aus. Die Provinz Sichuan verlor in den –97–
vergangenen dreißig Jahren ein Drittel ihrer Waldfläche, in der Provinz Yunnan war es fast die Hälfte, und auf der Insel Hainan gingen sogar zwei Drittel des tropischen Regenwaldes verloren. An anderen Orten, vor allem im Norden, sind Aufforstungen gelungen. Seit 1978 bauen die Chinesen an einer hölzernen chinesischen Mauer. Sie nennen sie »große grüne Mauer«, weil sie 7 000 Kilometer lang werden soll. Beginnend im Nordosten, wird sie sich durch das ganze Land hindurch bis in den Nordwesten ziehen. Cheng Guangwu, Assistenzdirektor des Aufforstungsbüros, gab kürzlich bekannt, daß bisher sieben Millionen Hektar mit Bäumen bepflanzt worden sind. 55 Prozent davon haben – bis jetzt – überlebt. Die chinesischen Forstleute bepflanzen die Gebiete schachbrettartig, um eine möglichst große Fläche mit möglichst geringem Aufwand abzudecken. Zuerst wollen sie das Lößplateau Nordchinas, auf dem 80 Millionen Chinesen leben, bewalden. Vom Flugzeug aus und sogar auf Satellitenbildern ist die Erosion der Lößlandschaft augenfällig. Gelbrote Schneisen fressen sich in die Hänge hinein, Schluchten fallen schroff in die Tiefe, die Landschaft wirkt zerstückelt, und der Gelbe Fluß saugt sich bereits hier, in seinem Einzugsgebiet, mit Schlamm voll. Gegen Erosion und Waldverlust arbeiten im ganzen Land nicht nur Forstleute, sondern alle Chinesen, die älter als elf Jahre sind. Jeweils am 12. März ist nationaler Baumpflanztag. An diesem Tag sind die Chinesen seit 1979 verpflichtet, vier bis sechs Jungbäume zu pflanzen. Nur so ist es möglich, die benötigten Milliarden von Bäumen in die Erde zu kriegen. Nach diesem Tag werden die Baumsprößlinge allerdings zum größten Teil sich selbst überlassen – was in einem Grenzgebiet zur Wüste, in stark verschmutzter Großstadtluft oder auf einem bereits kahlen Hügel für die zarten Jungpflanzen eine enorme Belastung ist. Verluste unter diesen Bäumchen sind deshalb sehr groß ... Aber am 12. März des nächsten Jahres stehen wieder ein –98–
paar hundert Millionen Chinesen bereit, um diese Verluste wettzumachen. Oft haben die Chinesen bei Pflanzaktionen auf weiten Flächen nur eine einzige Baumart gesetzt. Solche Monokulturen entstanden zum Teil sogar mit Bäumen, die nur schlecht an die lokalen Klima- und Bodenverhältnisse angepaßt waren. Vor allem diese Wälder leiden heute an Krankheiten und unter starkem Schädlingsbefall. Nach J. M. Franz von der Universität Frankfurt ist die integrierte Schädlingsbekämpfung im Wald bei den Chinesen erst im Ansatz vorhanden. Sie verlassen sich noch weitgehend auf chemische Schutzmaßnahmen. Seit kurzem werden aber auch Eiparasiten gegen Schadinsekten eingesetzt, Nistkästen für insektenfressende Vögel aufgehängt, die biologische Forschung gefördert, um bald mit Mikroorganismen und Viren großflächig gegen Schädlinge kämpfen zu können. Für Chinas Zukunft sind erfolgreiche Baumpflanzungen lebenswichtig. Die Regierung hat deshalb, nebst dem Projekt »Grüne Mauer«, die Bauern dazu aufgerufen, entlang ihren Feldern, entlang den Straßen, Bächen und Teichen und rund um die Häuser Bäume zu pflanzen. Seit 1980 gilt der Grundsatz: Wer’s pflanzt, dem gehört’s. Auf Fahrten durch ländliche Gebiete im Süden Chinas konnten wir denn auch beobachten, wie auf den schmalen Trennmauern zwischen den Reisfeldern Bäumchen (häufig Maulbeerbäume) wachsen. Ebenfalls entlang den Landstraßen stehen die anfangs erwähnten »Stangen«, und dort, wo früher nur Häuser standen, gedeiht jetzt ein kleiner Wald, meist aus Bambus, dessen Holz die Bauern nutzen können. Wenn 170 Millionen Bauern ihr »Recht auf Baumbesitz« ausnützen, entstehen schließlich 23 Millionen Hektar Wald, rechnet Smil vor. Er glaubt zwar nicht, daß die Chinesen das für die Jahrhundertwende gesteckte forstwirtschaftliche Ziel erreichen können. Wenn sich das Volk weiterhin so stark an Pflanzaktionen beteiligt und die seit 1958 vom Flugzeug aus betriebene Waldaussaat noch intensiviert –99–
würde, wäre im Jahre 2000 aber immerhin schätzungsweise ein Zehntel der Landfläche Chinas von gutem, nutzbringendem Wald bedeckt. Reto Locher
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Ungewisse Zukunft für den Panda Zu Besuch im Naturreservat Wolong
Von Chengdu, der Hauptstadt der Provinz Sichuan, führt westwärts die Landstraße in Richtung Tibet. Durchquert die Route erst stundenlang das Grün der Reisfelder, wird die Gegend unvermittelt gebirgig, und die leidlich gute Straße hat sich zum holprigen Abenteuer gewandelt. Entlang eines reißenden Flusses zwängt sich die Fahrspur immer tiefer in die bewaldete Kerbe eines Gebirgstals. Nach vier Schüttelstunden sind wir im Hauptquartier des Wolong-Reservates angelangt. Hatten wir den Bus in Chengdu noch bei lauem Maiwetter bestiegen, stehen wir jetzt auf 2 000 Meter Höhe schlotternd in Nebel und Regen, denn just vor ein paar Tagen hat hier der Monsun eingesetzt. Er wird die feuchten Luftmassen des Pazifiks bis im Herbst in die Täler der Ostflanke des Himalaja treiben und mit seinen reichlichen Niederschlägen in den Bergwäldern eine üppige Vegetation unterhalten. Ideale Verhältnisse für den Lokalhelden Ailuropoda melanoleuca, den Großen Panda. Menschengroß, 80 bis 120 Kilogramm schwer und mit sehr ausgefallenem schwarzweißem Gewand, ist der Panda zumindest als Kuscheltier jedem Kind bekannt. Und seit ihn der World Wildlife Fund als Markenzeichen gewählt, ist er gleichsam zur Inkarnation des Naturschutzgedankens geworden. So geläufig das Bild des chinesischen Pelztieres uns allen erscheint, wußte man über seine Natur bis vor kurzem noch herzlich wenig. Erst ein intensives Forschungsprogramm, das China in Zusammenarbeit mit dem WWF seit 1980 unterhält, gibt nach und nach Einblick in die Art und Lebensweise der –101–
eigentümlichen Kreatur. Erste Ergebnisse dieser internationalen Forschungsbemühungen sind in Buchform erschienen (siehe Literaturverzeichnis) und ergänzen auf wertvolle Weise das während unseres kurzen Besuches Gesehene und Gehörte. Chinesische Quellen erwähnen den Panda unter seinem traditionellen Namen Pi schon vor dreitausend Jahren, und Knochenfunde belegen dessen Verbreitung im gesamten Südosten Chinas seit Beginn der Eiszeit vor drei Millionen Jahren. Über die Vorfahren des Pandas herrscht allerdings Unklarheit. Auch streiten sich die Gelehrten, ob der Panda ein echter Bär ist oder zu einer Unterfamilie der Waschbären gehört. George Schaller, der wohl prominenteste Panda-Forscher, neigt aufgrund umfangreicher morphologischer und
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Die Panda–Reservate in China, l Foping, 2 Baishuaijiang, 3 Baihe, 4 Jiuzhaigou, 5 Wanglang, 6 Tangjiahe, 7 Xiaozhaizigou, 8 Fengtongzhai, 9 Wolong, 10 Labaihe, 11 und 12 Dafengding.
verhaltensbiologischer Untersuchungen zur Waschbärhypothese – was den zoologischen Nationalschatz Chinas zwangsläufig zum prähistorischen Auswanderer aus Amerika machen würde. Die taxonomische Unsicherheit spiegelt sich auch im Namen, den der Panda heute in China trägt: Daxiongmao, große Bärenkatze. Wie auch immer die Expertendiskussionen enden werden, bleibt der Panda eine zoologische Kuriosität. Zwar mit dem Verdauungssystem eines Raubtieres ausgestattet, hat er sich seit Urzeiten so ausschließlich auf den Konsum von Bambuspflanzen spezialisiert, daß ihm jetzt wegen dieser Leibspeise das Verderben droht. Im Westen bekannt geworden ist der »schwarz und weiße Bär« 1869 durch die Berichte des Missionars Pere Armand David. Ein Panda-Fell nach Hause zu bringen war dann während Jahrzehnten das Ziel westlicher Jäger und Museumslieferanten. Geradezu eine Panda-Hysterie brach schließlich aus, als 1936 eine Amerikanerin ein lebendes Panda-Junges in die USA brachte – worauf auch noch die Zoodirektoren nach Sichuan pilgerten. Als Maos Regierung im Jahre 1949 den Panda-Export unter Kontrolle brachte, hatten bereits über 70 der seltenen Tiere China tot oder lebendig verlassen. Anfang der sechziger Jahre erfolgte endlich ein Jagdverbot. Mittlerweile war den chinesischen Behörden bewußt geworden, daß ihr Nationaltier vom Aussterben bedroht war. Mehr noch als Jagd und Export hatte der Landhunger der stetig wachsenden Bevölkerung die Panda-Population drastisch schwinden lassen. Große Teile der bambusdurchsetzten Wälder waren zu Äckern umgewandelt, womit sich der Panda auf immer kleineren Lebensraum zurückgedrängt sah. Eingezwängt zwischen der Landwirtschaftszone mit einer –103–
Obergrenze auf 1 300 bis 2 500 Meter und der Bambuswaldgrenze auf 3 200 bis 3 500 Meter, findet man den Panda heute lediglich noch in sechs Einzelgebieten der Provinzen Shaanxi, Gansu und Sichuan am östlichen Rande der tibetischen Hochebene. Zwischen 1963 und 1979 hat China im verbliebenen Verbreitungsgebiet zwölf Panda-Reservate ausgeschieden. Mit einer Fläche von 6 000 Quadratkilometern umfassen diese Schutzzonen etwa 20 Prozent des gesamten Verbreitungsgebiets und beherbergen 60 Prozent der noch wildlebenden 1 100 Pandas. 70 weitere Tiere leben in chinesischen Zoos und staatlichen Tierpflegestationen, davon allein 20 im Pekinger Zoo. Wie schon die alten Kaiser haben Chinas neue Herrscher (trotz Schutzbestimmungen) bis vorletztes Jahr weiterhin Pandas als Zeichen der Freundschaft verschenkt. Von den seit 1957 auf diese Weise in ausländische Zoos gelangten 24 Tieren ist heute lediglich noch die Hälfte am Leben. So problematisch die Zoohaltung seltener Spezies ist, haben die Pflege- und Zuchtbemühungen der Tiergärten jedoch einiges zum Verständnis des Pandas beigetragen. 1963 erfolgte im Pekinger Zoo die erste Panda-Geburt. Bis Ende 1983 kamen in China gegen 40 Pandas in Gefangenschaft zur Welt, wovon allerdings nur ein kleiner Teil überlebte. 1978 gelang wiederum in Peking die erste künstliche Besamung. Von den bis 1982 künstlich gezeugten 22 Pandas haben immerhin 7 überlebt. Das im Qionglai-Gebirge liegende Wolong ist mit seinen 2 000 Quadratkilometern das größte Panda-Reservat. Die hier lebenden 150 Tiere müssen sich aber auf viel kleinerem Raum drängen, denn die Hälfte der Reservatsfläche ist Hochgebirge mit Gipfeln bis 6 000 Metern. Und in den tiefer liegenden Tälern des Reservats leben derzeit noch über 3 000 Angehörige der Yiund Qiang-Völker, den Tibetern verwandte chinesische Minderheiten, die mit ihrem Holzbedarf und der landwirtschaftlichen Nutzung selbst steiler Berghänge den –104–
Panda-Lebensraum zusätzlich einschränken. Die Regierung will die Hälfte dieser Bewohner umsiedeln und die frei gewordenen Flächen wieder mit Bäumen und Bambus bepflanzen. Ausreichende Versorgung mit Elektrizität sowie eine bessere Isolation der Häuser sollen den verbleibenden Siedlern ermöglichen, künftig auf das Schlagen von Holz im Reservat zu verzichten. Um den Panda intensiv in einer ungestörten Umgebung studieren zu können, hat das Internationale Forscherteam in einem abgelegenen Seitental des Wolong-Reservats das Beobachtungslager Wuyipeng eingerichtet. Da Wuyipeng nur zu Fuß erreichbar ist, muß unsere Gruppe schon früh am Morgen vom Hauptquartier aufbrechen. Kaum haben wir auf schwankendem Hängebrücklein den schäumenden Fluß des Haupttals gequert, windet sich die Wegspur steiler und steiler den Berghang hinauf. Erst säumen noch mit Mäuerchen gegen das Abrutschen gesicherte kleine Kartoffeläcker und Getreidefelder unseren Weg, bald steigen wir durch Birken, Lärchen, Erdbeeren und Farn in die Höhe. Die feuchte Kälte des Morgens hat sich zum schwülen Urwaldklima gewandelt, und einer nach dem andern entledigt sich des knöchellangen Wollmantels, den uns die chinesischen Gastgeber vorsorglich beim Aufbruch um die Schultern gelegt hatten. Daß wir nicht in einem Tessiner Bergwald wandern, merken wir, als am Wegrand die Blütenpracht mächtiger Rhododendronbüsche auftaucht. Nach 500 Höhenmetern mündet der steile Waldpfad unvermittelt in ein sanftes, nebelverhangenes Hochtal. Zwischen flechtenbedeckten Baumstämmen ragen jetzt bis zu vier Meter hohe Bambuspflanzen Stengel an Stengel empor – wir sind im Panda-Land angekommen. In den Zelten und Bretterhütten von Wuyipeng hausen zur Zeit ein Dutzend chinesischer und ausländischer Forscher, die meisten sind tagsüber irgendwo im Gebiet unterwegs. Soeben kommt ein Chinese von einer Inspektionstour zurück. In –105–
Plastiksäcken trägt er als wissenschaftliche Ausbeute etliche in Form und Farbe Avocados ähnelnde feuchte Strohklumpen: frischer Panda-Kot. So prosaisch dieses Forschungsobjekt sein mag, stellt es eine äußerst wertvolle Informationsquelle dar. Nicht nur lassen sich aufgrund der Kotfundorte das Wandern und das Bleiben von Pandas verfolgen, die Analyse des Kotinhaltes erlaubt detaillierte Aussagen darüber, welche der vielen Bambussorten ein Tier auswählte, welche Teile der Pflanze es gefressen hat und ob es allenfalls als Zusatznahrung noch anderes konsumierte. Die durchschnittliche Länge der im Kot verbliebenen Stengelabschnitte gibt sogar Auskunft über das ungefähre Alter des Bambusfressers: knapp 3 Zentimeter für Jungtiere, 3,5 Zentimeter für halbwüchsige und 4 Zentimeter für ausgewachsene Pandas. Und mengenmäßig gibt es von dem so interessanten PandaKot mehr als genug. Mit seinem relativ kurzen Verdauungstrakt und ohne die bei Pflanzenfressern übliche Fähigkeit, Zellulose zu verwerten, kann der Panda seinen Protein- und Energiebedarf lediglich aus dem Zellinhalt der gefressenen Bambuspflanzen decken. Deshalb verzehrt ein Panda gezwungenermaßen täglich bis zu 40 Kilogramm Bambus und säumt seinen Weg mit rund hundert Kotballen der so schlecht verdauten Nahrung. Schaller zitiert eine Beobachtung, wo ein Panda-Männchen sich während 24 Stunden an 3 500 Bambusstengeln gütlich tat und auf diese Weise eine 200 Meter lange kulinarische Gasse ins Bambusdickicht fraß. Die extrem niedrige Ausbeute der Nahrung zwingt das Tier, den größten Teil des Tages dem Fressen zu widmen. Tag und Nacht sitzt es zwischen den Bambuspflanzen, packt einen der Stengel, beißt ihn einige Zentimeter über dem Boden durch und konsumiert den Stengel mit einer Serie rascher Bisse. Hat der Panda die Ernte in Reichweite eingebracht, wandert er einige Meter weiter und beginnt erneut mit Fressen. Die dauernde Notwendigkeit, den Magen gefüllt zu halten, erlaubt dem Tier –106–
keine längeren Schlafperioden, geschweige denn einen Winterschlaf. Und in der spärlichen »Freizeit« hütet sich der Panda, durch viel Aktivität wertvolle Energie zu verbrauchen. Sein ruhiges Wesen ist also weniger Ausdruck der Gemütlichkeit als biologische Notwendigkeit. Trotzdem erlaubt sich der Panda von Zeit zu Zeit einen Purzelbaum, und ein besonders gut gelaunter Kerl ist auch schon auf dem Bauch einen verschneiten Abhang hinuntergerutscht. So gut sich auch der Panda im Laufe der Evolution an seine Nahrungspflanze anpaßte, spielt ihm der geliebte Bambus von Zeit zu Zeit einen bösen Streich. Normalerweise vermehrt sich der Bambus, indem die alte Pflanze im Frühjahr aus dem Rhizom junge Sprosse wachsen läßt (eine Delikatesse auch für den Panda). Zur genetischen Auffrischung entwickelt die Pflanze indes alle paar Jahrzehnte Blüten, samt ab und stirbt. Aus dem Samen wächst in etwa zehn Jahren eine neue Bambuspflanze heran. Solches Blühen findet in Bambusgebieten immer irgendwo statt; in der Regel sind gleichzeitig aber nur kleinere Teilgebiete betroffen und jeweils nur eine der zahlreichen Bambusarten. Während des blütebedingten jahrelangen Ausfalls einer lokalen Bambuspopulation können die dort lebenden Pandas also ohne weiteres auf andere Bambusanen ausweichen oder in den benachbarten Bambuswald wandern. Aus noch rätselhaften Gründen aber erfolgt ein- bis zweimal pro Jahrhundert über sehr weite Gebiete eine synchrone Bambusblüte. Aber selbst im Falle eines solchen Bambusmassensterbens ist zumeist nur eine Bambusart gleichzeitig betroffen, und solche periodische Ereignisse scheinen die Panda-Population früher nicht in große Bedrängnis gebracht zu haben. Mitte der siebziger Jahre ereignete sich jedoch die Katastrophe. Auf 40 Prozent der Fläche des Panda-Lebensraums der Min-Berge blühte die Bambusspezies Fargesia spathacea. Eine bestimmte Bambusspezies findet sich oftmals nur in einer –107–
ihr besonders zusagenden Höhe über Meer. Die fortschreitende Verdrängung des Bambus aus tieferen Lagen sowie die eher niedrigen Berge der Min-Region hatten bewirkt, daß in großen Teilen des Gebiets für Bambus nur noch das von Fargesia bevorzugte Höhenband zur Verfügung stand: der Panda saß in der ökologischen Falle. Verhungerten während der FargesiaBlüte in den Jahren 1974 bis 1976 in den Min-Bergen gegen 140 Pandas, war die 1983 im Wolong-Gebiet erfolgte Massenblüte von Sinarundinaria fangia.no. bisher weniger dramatisch. Obschon 90 Prozent dieser in Höhenlagen über 2 500 Metern wachsenden Bambusart gleichzeitig blühten, verfügt Wolong glücklicherweise in tieferen Reservatszonen über genügend große Bestände der alternativen Fargesia-Art. Trotzdem verhungerten etliche Tiere, und die Reservatbetreuer haben begonnen, schwache Tiere mit Porridge und Fleisch zu füttern. Langfristig lösen läßt sich das Bambusproblem nach Meinung der Wissenschaftler aber nur, wenn frühere Wald- und Bambusgebiete wieder aufgeforstet und mit einer Vielfalt von Bambusarten neu bepflanzt werden. Das 1983 in Sichuan von der einheimischen Bevölkerung begonnene Aussäen von Bambussamen ist ein Schritt in der richtigen Richtung. Das scheue Wesen und die sehr ruhige Lebensweise machen den Panda – trotz auffälliger Zeichnung – im dichten Bambus fast unauffindbar. Außer den Kotfunden geben im Winter auch Trittspuren wertvolle Hinweise. Will man indes den Tagesrhythmus des Tieres und sein Revierverhalten im Detail kennenlernen, braucht es exaktere Überwachungsmethoden. Seit 1981 sind deshalb acht Pandas in Fallen gelockt, medikamentös beruhigt, gemessen und gewogen und schließlich mit einem kleinen Radiosender mit individueller Kennung um den Hals wieder freigelassen worden. Kreuzpeilungen haben dann ein genaues Erfassen der Wanderungen des Einzeltiers erlaubt; ein ebenfalls im Halsband eingebauter Bewegungssensor meldete, ob das Tier ruhte oder aktiv war. Nicht verwunderlich, daß solch –108–
intensiver Datenfluß die anonymen Tiere zu Persönlichkeiten werden ließ und die Forschungsobjekte liebevolle Namen wie Zhen-Zhen, Wie-Wei, Pi-Pi erhielten. Mittlerwellen sind nur noch zwei Sender in Betrieb. Mit einer Empfangsantenne ausgerüstet, führt uns Wang Wei, der junge Leiter der Beobachtungsstation, höchstpersönlich auf PandaPirsch. Entlang einem gefährlich glitschigen Bergpfad, von den Bäumen hängende Flechten wie Spinnweben im Gesicht, gewinnen wir weitere hundert Höhenmeter. Aufgrund der gestrigen Peilung weiß unser Führer ungefähr, wo sich HuaHua, ein etwa zwanzig Jahre altes Panda-Männchen, aufhalten dürfte. Auf einer Bergkuppe angelangt, verrät das starke Piepsen des Empfängers dem Fachmann, daß der gesuchte Panda höchstens noch hundert Meter von uns entfernt ist. Angestrengt suchen wir mit den Augen in der dichten Blätterwand unterhalb der Kuppe nach dem schwarzweißen Gesicht oder wenigstens dem Stummelschwanz von Hua-Hua. Vergeblich. Nicht einmal das Knacken von Bambus dringt zu uns. Wang Wei tröstet uns, daß selbst die Forscher der Station monatelang keinen PandaPelz zu Gesicht bekämen. Wieder zurück im Tal, sehen wir schließlich doch noch Pandas aus nächster Nähe. Im Forschungs- und Zuchtzentrum Hetauping des Reservats leben zur Zeit in geräumigen Einzelgehegen elf zu Zuchtzwecken gefangene oder krank aufgefundene Pandas. Ein Tierspital behandelt die kranken Tiere, Spezialisten befassen sich mit künstlicher Besamung, biochemischen Untersuchungen sowie mit Bambusforschung. Auge in Auge mit lebenden Pandas, sind wir jetzt von der Sanftmut dieser Tiere überzeugt. In seiner Beschreibung der Gefangennahme der Radio-Pandas berichtet Schaller zwar von aggressiven Tieren. Die meisten haben aber das doch sehr beängstigende Prozedere stoisch über sich ergehen lassen und ließen sich sogar im Fell kraulen oder die Pfote halten. So ruhig auch die »große Bärenkatze« ihr Leben im Bambus –109–
fristet, einmal im Jahr erwacht sie zu ungestümer Aktivität. In der Zeit zwischen März und Mai kommen die Weibchen für zwei bis drei Wochen in die Brunst und bringen jetzt das wohlgeordnete Panda-Leben in ziemliches Durcheinander. Plötzlich ertönt im sonst eher ruhigen Wald ein Bellen, Grunzen, Blöken, Schmatzen und Stöhnen, und die üblicherweise den direkten Kontakt meidenden Tiere suchen aufgeregt zueinander. Da die Männchen keine abgegrenzten Territorien kennen – die dauernde Verteidigung eines Territoriums wäre wohl zu anstrengend –, überlappt sich der etwa 6 Quadratkilometer große individuelle Lebensraum verschiedener Männchen stark, und ein brünstiges Weibchen ist alsbald von mehreren Männchen verfolgt. Jetzt beginnt das vielbegehrte Weibchen ein tagelanges Locken, Gewährenlassen oder auch scharfes Abweisen der Verehrer. Meist kommt das stärkste Männchen zuerst zum Zug, und die Ausdauer, mit der während Stunden dutzendemal kopuliert wird, hätte man dem phlegmatischen Tier kaum zugetraut. Und klettern Pandas sonst nur in großer Gefahr auf Bäume, werden solch luftige Plätze während der Brunst nicht selten für ungestörte Schäferstündchen benutzt oder dienen dem Weibchen als Rückzugsmöglichkeit im Falle allzu aufdringlicher Bewerber. Wenn dann das favorisierte Männchen seinen Trieb befriedigt hat, verschwindet es wieder ruhig im Bambus, und das Weibchen akzeptiert nun meist noch weitere Bewerber. Mit diesem Verhalten erspart sich die Spezies nicht nur kräfteraubende, längere Rivalenkämpfe, das »großzügige« Benehmen der Weibchen garantiert zudem eine relativ gute »Treffsicherheit« während der zwei bis sieben empfänglichen Tage des Östrus. Das subtile sexuelle Gruppenverhalten der Pandas in freier Wildbahn wie auch die relativ kurze Empfänglichkeit der Weibchen sind wohl der Grund für die nach wie vor schwierige Panda-Zucht. Nach einer Tragzeit von durchschnittlich 135 Tagen werden in einem hohlen Baum oder –110–
einer Felsnische meist zwei etwa rattengroße, noch blinde und völlig hilflose Junge geboren. Das zweite Junge dient aber lediglich als Reserve und wird bei gutem Verlauf der ersten Geburt unbeachtet liegengelassen und damit dem sicheren Tod ausgeliefert. Panda-Weibchen können gegen dreißig Jahre alt werden und im Verlaufe ihres Lebens fünf bis acht Junge aufziehen. Die relativ bescheidene Produktionsrate machte es den Pandas unmöglich, größere Populationsverluste rasch wieder auszugleichen. Es wäre wichtig, die heute geographisch stark aufgesplitterten Panda-Bestände zu möglichst großen Einheiten zusammenzuschließen. Dies wäre auch deshalb wichtig, weil bei zu kleinen Teilpopulationen die Gefahr übermäßiger Inzucht und damit ein Verlust an genetischer Breite zu befürchten ist. Fachleute schätzen die für Pandas notwendige Mindestzahl pro Verbreitungsgebiet auf über hundert; eine Zahl, die heute lediglich in zwei der zwölf chinesischen Reservate verwirklicht ist. Eine Möglichkeit, die Tierinseln zusammenzuschließen, wäre das Ausscheiden und Bepflanzen von Bambuskorridoren zwischen den einzelnen Gebieten. Ob sich diese aufwendige Lösung aber im heutigen China verwirklichen läßt, ist ungewiß. Vom gesellschaftlichen wie finanziellen Willen und Vermögen des Landes, die komplexe Palette der Panda-Probleme sehr bald zu lösen, hängt die Zukunft dieser so wunderlichen Kreatur auf Gedeih und Verderben ab. Herbert Cerutti
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Biologischer Landbau aus Tradition Ertragssteigerung durch Agrochemie und vermehrte Bewässerung
Wer im Frühjahr durch Chinas Tiefebenen fährt, bemerkt sehr viel grüne Flächen und ist an die Wiesen unseres Landes erinnert. Bei näherem Hinsehen entpuppt sich das Grün jedoch als junger Reis, Weizen, Gemüse – von Gras kaum eine Spur. In kleine bis kleinste Parzellen aufgeteilt, überziehen die Pflanzungen mosaikartig das weite Land, nur durch Trampelpfade und gelegentlich einen Kanal voneinander getrennt. Und anstatt unserer Kuhherden immer wieder Menschen, die tiefgebückt im Feld hantieren oder mit einer Bambusstange über der Schulter Lasten sachte wippend den schmalen Pfaden entlang tragen. Hie und da auch eine Schar Enten oder ein Wasserbüffel, höchst selten nur Hund und Katze. Chinas Bauern müssen heute ein Viertel der Menschheit ernähren – und dies mit nur 6 Prozent der Weltanbaufläche. Von den knapp 10 Millionen Quadratkilometern des Landes sind der größte Teil wüstenartige Hochebenen oder Bergketten, und für Landwirtschaft steht lediglich ein Zehntel der Fläche Chinas zur Verfügung. Daß diese gewaltige Ernährungsaufgabe seit Jahrtausenden gemeistert wird, ist vor allem zwei Dingen zuzuschreiben. China hat es fertiggebracht, die Wassermassen der riesigen Flüsse intensiv für Bewässerungszwecke zu nutzen. Und: Die Bewältigung der begrenzenden Faktoren Anbaufläche und Vegetationsperiode ist bei den chinesischen Bauern derart effizient, daß für die Ernährung eines Menschen wenige hundert Quadratmeter Land ausreichen, während in westlichen Ländern das Mehrfache benötigt wird. Einer vielköpfigen chinesischen –112–
Bauernfamilie stehen im Durchschnitt 0,3 bis 0,6 Hektar Ackerland zur Verfügung; der Schweizer Landwirt bewirtschaftet 10 Hektar, der deutsche etwa 16 Hektar. Solche fernöstliche Meisterschaft hat schon früh das Interesse westlicher Agronomen geweckt. So befaßte sich Mitte des 19. Jahrhunderts Justus von Liebig, ein Pionier moderner Agrochemie, ausführlich mit Ostasiens Landwirtschaft, und die Tatsache, daß Chinas Bauern ihre Böden über Jahrtausende fruchtbar halten können, ließ Liebig voller Bewunderung schreiben: »Die praktische Handlungsweise der deutschen Landwirte ist im Vergleich zur praktischen Tätigkeit der ältesten Ackerbaunation dasselbe, was die Handlungen eines Kindes gegenüber der Tätigkeit eines ausgereiften und erfahrenen Mannes ist.« Ähnlich beeindruckt von Chinas Bauern war F. H. King, Professor der Universität von Wisconsin. Im Auftrag der amerikanischen Regierung bereiste er im Jahre 1909 während mehrerer Monate China, Korea und Japan, und was er nachher den amerikanischen Farmern erzählte, ist noch heute eines der spannendsten Kapitel Agrogeschichte (siehe Literaturverzeichnis). Kings Reiseschilderungen erregten Aufsehen weit über Amerika hinaus. Ob sie aber ihr Zielpublikum erreichten, muß bezweifelt werden, denn zwei Jahrzehnte später präsentierte die Natur den Farmern Amerikas eine Rechnung, die weitgehend das Resultat hemmungsloser Übernutzung der Acker- und Grasflächen war: die Dürre- und Erosionskatastrophe der dreißiger Jahre im amerikanischen Mittleren Westen. Was der ostasiatische Bauer seit Jahrtausenden aus Rücksicht auf die Kraft des Bodens (aber auch im eigenen Interesse) praktiziert, ist jetzt im Westen unter dem Schlagwort »biologischer Landbau« zur Antithese unseres stark auf chemische Hilfsmittel angewiesenen »konventionellen« Landbaus geworden. Eine allzu vereinfachte Gegenüberstellung –113–
allerdings, denn der konventionelle Landbau setzt manche der ostasiatischen Ideen in ähnlicher Form ebenfalls ein, und andererseits kann der Bauer Ostasiens seine heutigen hohen Erträge nur erreichen, wenn auch er seiner Biowelt eine wackere Dosis Chemie beimischt. Trotzdem ist es sehr aufschlußreich, einige Prinzipien chinesischer Landwirtschaft, wie sie bereits King im Detail schilderte, aufzuzeigen. »Abfall«, wie er unsere Gesellschaft und Wirtschaft belastet, kennt der chinesische Bauer kaum. Was aus dem Boden geholt wird, kommt später wieder in nützlicher Form dorthin zurück. Denn nur solches zyklisches Denken und Handeln garantiert ein biologisches Gleichgewicht und erhält langfristig die Bodenfruchtbarkeit. Pflanzt der chinesische Bauer beispielsweise Raps, verwertet er ihn folgendermaßen: Die jungen Blätter und Schosse ergeben ein nahrhaftes und leicht verdauliches Gemüse, aus der reifen Pflanze drischt er den Samen, wobei aufgepaßt wird, daß die Stengel unverletzt bleiben, denn diese werden bündelweise als Brennmaterial verkauft. Der Samen wird geschrotet, das Öl ausgepreßt und als Lampenöl oder zum Kochen verwendet. Die Preßrückstände aber sind ein gesuchter Dünger und werden zu hohen Preisen gehandelt. Haben die Stengel ihre Funktion als Brennmaterial erfüllt, kommt die Asche wieder auf das Feld. Und ist die Karriere der grünen Pflanzenteile im Eßnapf vorbei, treffen deren Fasern und Mineralstoffe als Fäkalien ebenfalls wieder auf dem Äckerlein ein. Solche lückenlose Wiederverwertung hat King als eine der bedeutendsten Leistungen menschlicher Kultur bezeichnet, und deutlich gab er seinem Ärger über die »hochmoderne« Spülwasserkanalisation Ausdruck, die Jahr für Jahr Millionen von Tonnen an wertvollem Phosphor, Stickstoff und Kalium gedankenlos ins Meer schwemme. Und als Beispiel erwähnt er jenen chinesischen Unternehmer, der im Jahre 1908 an die Schanghaier Verwaltung 31 000 Dollar für das Recht bezahlte, –114–
die 70 000 Tonnen Exkremente der Stadtbevölkerung einsammeln zu dürfen. Noch heute liefern tagtäglich Schiffe und Lastwagen die Ausscheidungen der Schanghaier an die landwirtschaftlichen Produktionsbrigaden der Region. Es ist vor allem diese Wiederverwertung, die Chinas Großstädte bisher ohne Schwemmkanalisation und Abwasserreinigung auskommen ließ. (Ein System allerdings, das aufgrund veränderter privater und industrieller Gewohnheiten je länger, je weniger umweltgerecht ist.) Das Streben nach möglichst effizienter Verwertung organischer Abfälle machte den chinesischen Bauern zum Virtuosen der Kompostierung. So wird beispielsweise im Herbst Stallmist an die Ufer der Kanäle gebracht und dort lagenweise mit frisch aus dem Kanal geschöpftem Schlamm versetzt. Nach vier Monaten bringt man diesen Rohkompost in Gruben, wo bereits Feldabfälle lagern. Auf die gefüllten Gruben legt der Bauer im Frühjahr dann frisch geschnittenen Klee, wobei er wiederum mit Kanalschlamm Feuchtigkeit und organische Stoffe zumischt. Weitere 30 Tage genügen, um einen gut fermentierten Kompost zu erhalten. Glaubt der Bauer, daß seinem Feld in erster Linie Stickstoff mangelt, maßschneidert er einen Stickstoffdünger, indem er Kanalschlamm und Bohnenstauden kompostiert. Kanalschlamm wird auch in großen Mengen direkt auf die Felder geschöpft, was nicht nur die im Hochland vom Wasser weggetragenen Lößteilchen ans Land zurückbringt, sondern im ewigen Kampf gegen Überschwemmungen auch wertvolle neue Zentimeter über dem Wasserniveau schafft. Die landwirtschaftliche Wiederverwertung geht sogar so weit, daß aus Ziegelsteinen gefertigte Hausöfen, wenn sie unbrauchbar geworden sind, in pulverisierter Form als Dünger auf die Felder kommen, denn der Rauch des Ofenfeuers hat an den Ziegelsteinen wertvolle Mineralien abgelagert. Angesichts solch perfektionierter Wiederverwertung ist es nun mehr als –115–
beschämend zu sehen, wie im Grünen wohnende Bürger unserer Lande ihren Rasenschnitt durch die Kehrichtmänner abholen lassen und später ins Garten-Center fahren, um die vergeudete Biomasse für teures Geld durch Kunstdünger und Torfmull zu ersetzen. Der Chinese ist auch Meister in der Optimierung des verfügbaren Platzes und der Vegetationszeit. Die darauf basierende Praxis prägt mehr als irgend etwas anderes das Bild des chinesischen Landbaus. Auf einem Feld sind zur gleichen Zeit fast immer zwei bis drei verschiedene Pflanzenarten streifenweise angebaut oder auch über die ganze Fläche vermischt. Ein solches Miteinander erweitert im Falle verschieden tief wurzelnder Pflanzen die Ackerfläche gewissermaßen in die dritte Dimension. Und sät der Bauer Baumwolle zwischen die Weizenhalme, schon einige Wochen vor der Weizenernte, ergibt sich ein wertvoller Zeitgewinn. Ein Nebeneinander von Getreide und Leguminosen bedeutet eine verbesserte Stickstoffversorgung, das Mischen von Pflanzenarten macht die Kulturen außerdem weniger anfällig auf Pilzkrankheiten und Schädlinge. Es ist nun leicht verständlich, daß eine so auf Effizienz getrimmte Landwirtschaft den verschwenderischen Anbau von Futtergetreide zur Produktion von Schlachtvieh kaum kennt. Tiere werden nur gezüchtet, wo es für sie einen sinnvollen Platz in einer biologischen Verwertungskette gibt. Über die entsprechende Rolle des Schweines in der chinesischen Gesellschaft ist schon manche Hymne gesungen worden. Am Beispiel der in Kanälen und Teichen gehaltenen und für die Ernährung der Chinesen sehr wichtigen Fische sei eine weitere Verwertungskette zitiert: Wasserhyazinthen dienen als Schweinefutter, der Schweinekot ernährt Enten, den Entenkot fressen die Fische, und deren Ausscheidungen kommen im Schlamm auf die Felder. Die mit maximaler Ausbeute betriebene Landwirtschaft hat –116–
ihren Preis: menschliche Arbeitskraft. Der Transport der immensen Kompostmengen über die schmalen Kanalpfade, die Aussaat, die Pflege und die Ernte der zeitlich und örtlich durchmischten Kulturen, das Sammeln selbst der kleinsten Kothäufchen geschehen noch heute weitgehend von Hand und wären mit Maschinen auch kaum in dieser schonenden Weise durchführbar. Physisch möglich macht diese gewaltige Arbeitsleistung die Riesenzahl verfügbarer Arbeitskräfte: Heute leben immer noch 80 Prozent der chinesischen Bevölkerung in bäuerlichen Haushalten, und es stehen der Landwirtschaft insgesamt 600 Millionen Arbeitskräfte zur Verfügung. Auf tiefere Ursache für das manuelle Engagement der Chinesen hat Erich Fromm hingewiesen: »Sie lieben die Arbeit um ihrer selbst willen ... bei der Arbeit freuen sie sich an der Arbeit und beeilen sich nicht, sie zu beenden.« Im Gegensatz zu westlichem Denken, wo sehr viel Intelligenz investiert wird, um die arbeitenden Menschen durch Maschinen zu »entlasten«, scheint die chinesische Seele gar nicht an einer Befreiung von Arbeit interessiert. (Was eine weitere Erklärung für das viel diskutierte Phänomen des Fehlens einer neuzeitlichen chinesischen Technikblüte sein könnte.) Chinas Bauern haben auch moderne biologische Ideen in die Praxis umgesetzt. Ein Lieblingskind ist das Biogas. Insbesondere im Süden des Landes, etwa im landwirtschaftlich stark genutzten Tiefland von Sichuan, findet das bei anaerober Vergärung organischer Abfälle entstehende brennbare Gemisch aus Methan, Kohlendioxid, Schwefelwasserstoff und Stickstoff bereits weite Verwendung. 1980 soll es in China 7 Millionen Biogasanlagen (mit einem Inhalt von 8 bis 10 Kubikmetern) für Kochen und Beleuchtung, 50 000 größere Anlagen für den Betrieb von Maschinen sowie 1 000 kleine Biogaskraftwerke zur Elektrizitätserzeugung gegeben haben. Die Leiterin des Umweltschutzministeriums in Peking sagte uns, daß heute 30 Millionen Chinesen diese biologische Energiequelle benützen. –117–
Biogas scheint für China auch in wirtschaftlicher Hinsicht eine interessante Alternative zu sein. Für die Installation von Kleinanlagen (8 Kubikmeter Inhalt) Ende der siebziger Jahre in einem Dorf bei Chengdu werden in der Literatur folgende Werte genannt: 200 Yuan (etwa 240 Mark) Materialkosten, 20 Arbeitstage für den Bau der Grube mit Ausgleichbecken und Jaucheauslauf sowie 5 Arbeitstage für das Installieren des Kochbrenners und der Gaslampe. Eine vom Schweizerischen Nationalfonds unterstützte wissenschaftliche Großuntersuchung kam jedoch unlängst zum Schluß, Biogas sei auch bei optimal in den landwirtschaftlichen Betrieb integrierten Anlagen nur selten wirtschaftlich. Was nicht verwundert, wenn man die pro Anlage budgetierten Investitionskosten kennt: 60 000 Franken (etwa 72 000 Mark). Ebenfalls sehr interessiert ist China an biologischem Pflanzenschutz, beispielsweise der Bekämpfung von Schadinsekten durch Freilassen von nützlichen Insekten. Den jüngsten Erfolg in diesem weltweiten Bemühen haben im Frühjahr 1985 Schweizer Forscher den Medien mitgeteilt: Im Labor züchtet man große Mengen von Schlupfwespen (Trichogramma), läßt die Tierchen in Maisfeldern frei, worauf sie ihre Eier in die Eier des Maiszünslers legen und damit die Entwicklung dieses schädlichen Nachtfalters blockieren. Die Methode ist relativ kostengünstig, wirksam und in höchstem Maße umweltfreundlich. Bei unserem Besuch in einem Landwirtschaftsbetrieb vor den Toren Schanghais konnten wir erfahren, daß genau diese Methode in China weitverbreitete Praxis ist. Trichogrammen verwenden die Chinesen seit mehr als zehn Jahren, unterhalten zur Produktion der Nützlinge in vielen Volkskommunen spezielle Labors und haben schon 1974 den Einsatz dieser Eiparasiten auch auf andere Pflanzenschädlinge, zum Beispiel Zuckerrohrbohrer und Reisblattroller, ausgedehnt. Solche Pioniertätigkeit hat uralte Wurzeln: Bereits im 4. –118–
Jahrhundert kauften in Südchina Bauern Raubameisennester und legten diese zur Bekämpfung von Schadinsekten auf die Zitrusbäume. In neuerer Zeit entwickelte Strategien sind der Einsatz der Schlupfwespe Anastatus gegen Schadwanzen in Litschiplantagen, die Ansiedlung von Raubmilben zur Unterdrückung der Roten Zitrusspinnmilbe, die Verwendung von Goldaugen und Marienkäfer gegen Blattläuse an Baumwolle und anderen Kulturen. Auch der Einsatz spezifischer Krankheitserreger gegen Schadinsekten, also eine mikrobiologische Schädlingsbekämpfung, findet in China (wie auch in Europa und Amerika) Interesse. Bereits in größerem Umfang angewendet wird der Pilz Beauveria bassiana gegen schädliche Raupen in Maisfeldern, aber auch gegen Zikaden in Kieferwäldern, wobei man Behälter mit dem Pilzmaterial mittels mörserähnlicher Geräte direkt in die Baumkronen schießt. Die Bakterienart Bacillus thuringiensis züchtet man industriell in 10 000 Liter großen Fermentern und setzt diese biologische Waffe etwa gegen Kohlschaben, Kohlweißlinge, Maiszünsler und Reisstengelbohrer ein. Seit wenigen Jahren produziert China auch insektenpathogene Viren, beispielsweise KernpolyederViren gegen Baumwollschädlinge. Oft einfacher als der offene Kampf zwischen Nutzungen und Schädlingen ist das Locken. Werden Ölfunzeln schon lange als Lichtfallen eingesetzt, verwendet man heute immer häufiger auch elektrische Fanglampen. Zum Ködern von Insekten in Weizenfeldern hält die von uns besuchte Schanghaier Kommune außerdem einen vorzüglichen Sweet-and-Sour-Cocktail bereit: vier Teile Essig, drei Teile Zucker, ein Teil Wasser sowie ein guter Schuß Schnaps. Der letzte Schrei im Lockgeschäft sind Sexualpheromone. Aber anstelle der bei uns praktizierten synthetischen Nachbildung dieser natürlichen Lockstoffe zwacken unermüdliche chinesische Hände gefangenen Weibchen der schädlichen Insektenart die Hinterteile ab und –119–
bestücken damit die Fallen. Die Lobeshymne auf den biologischen Landbau darf indes nicht darüber hinwegtäuschen, daß auch China heute beträchtliche Mengen an Pestiziden und Kunstdünger braucht. Die offizielle chinesische Statistik spricht hier eine deutliche Sprache: Hat 1957 der Kunstdüngerverbrauch noch bei knapp 400 000 Tonnen gelegen, war er bis 1983 bereits auf 17 Millionen Tonnen pro Jahr geklettert. Knapp 14 Millionen Tonnen (vor allem Harnstoff) produzierte China in seinen 3 700 Düngerfabriken selber; der Rest wurde aus Japan, den USA und Europa importiert. Der Anteil an Kunstdünger am gesamten Düngerverbrauch dürfte in China etwa bei 30 Prozent liegen. Obschon die gesäte Fläche für Getreide von 134 Millionen Hektar im Jahre 1957 auf 114 Millionen Hektar für 1983 abnahm, steigerte sich die Gesamtproduktion im gleichen Zeitraum von 195 Millionen Tonnen auf 387 Millionen Tonnen, was einer Verbesserung des Hektarertrags von l,5 Tonnen auf 3,4 Tonnen entspricht. Der eindrücklichen Ertragssteigerung lagen außer vermehrtem Kunstdüngereinsatz auch neue Getreidesorten, vor allem aber die enorme Ausdehnung der künstlich bewässerten Ackerfläche von 27 auf 45 Millionen Hektar zugrunde, was seinerseits nur durch massiven Ausbau der maschinellen Pumpenkapazität möglich war. Daß bei solchermaßen gesteigerter Produktion selbst die fleißigsten Hände nicht mehr genügen, zeigt auch die Anzahl der Landmaschinen: Traktoren gab es in China 1983 fast 900 000 Stück, von den relativ kostengünstigen und dem kleinparzelligen Gebiet gut angepaßten einachsigen Handtraktoren sogar 2,8 Millionen. Chemische Pestizide produzierte China im Jahr 1983 gut 330 000 Tonnen, wobei noch beträchtliche Mengen importiert wurden. Nach Meinung westlicher Fachleute besteht Chinas Eigenproduktion aber mehrheitlich aus »veralteten« Produkten. So ist China (zusammen mit Indien) noch der letzte –120–
Großproduzent von DDT, und wenn auch das Mittel in China offiziell nur noch zur Malariabekämpfung zugelassen ist, dürften doch erhebliche Mengen ihren Weg auf die Felder finden. Auch in der Handhabung der giftigen Mittel stellen westliche Beobachter auf Chinas Feldern immer wieder erstaunliche Sorglosigkeit fest, und laut chinesischer Quellen fordern Pestizide sogar Todesfälle. Zum Thema Chemie in der Landwirtschaft konnten wir in der Schanghaier Kommune recht unterschiedliche Ansichten finden: Während die Expertin für Schädlingsbekämpfung sich künftig noch vermehrt chemischer Mittel bedienen möchte, meinte der Leiter der Kommune: »Je mehr Chemie wir brauchen, desto mehr Schädlinge scheint es zu haben.« Tröstlich aus der Sicht des biologischen Landbaus stimmt immerhin die Tatsache, daß 1983 die chinesische Pestizidproduktion fast 40 Prozent tiefer lag als 1978. Auch setzen Chinas Bauern konsequent erst dann Pestizide ein, wenn die sorgfältige Überwachung der Kulturen einen Schädlingsbefall nachgewiesen hat. Und: Chemische Unkrautvertilger sind selbst im modernen China weitgehend unbekannt, denn die Bauersleute reißen Unkraut wie eh und je mit den Händen aus und lassen sich dabei von ihren Enten wacker helfen. Zurückhaltung im Einsatz von Agrochemie hat außer ökologischen aber auch wirtschaftliche Vorteile, und es dürften nicht zuletzt finanzielle Erwägungen sein, die der Chemie in Chinas Landwirtschaft auch künftig Grenzen setzen werden. Für Bio-Freunde möglicherweise ein gar prosaischer Grund. Der Natur jedoch dürfte es einerlei sein, was auch immer ihr (zu viel) Chemie vom Leibe hält. Herbert Cerutti
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Trickreicher Umgang mit Wasser Dujiangyan-Wasserkontrollanlage seit 2200 Jahren in Betrieb
Sechzig Kilometer nordwestlich von Sichuans Hauptstadt Chengdu liegt das Städtchen Guan Xian. Hier erreicht der Gebirgsfluß Min das Tiefland von Sichuan, um schließlich im Süden der Provinz den gewaltigen Jangtse zu treffen. Auf einem Felsvorsprung am Rande des Städtchens erhebt sich ein Tempel. Von dessen Holzterrassen aus öffnet sich der Blick auf eines der faszinierendsten Beispiele altchinesischer Technik: das Wasserbauprojekt Dujiangyan. Mit diesem Werk hatten Li Bing und sein Sohn schon im dritten vorchristlichen Jahrhundert ein Waffe gegen Überschwemmungen und Dürre geschmiedet, der heute noch zentrale Bedeutung für Sichuans Wohlergehen zukommt Der Tempel ist denn auch zu Ehren von Li Bing errichtet, und ein Besuch dieser Stätte muß jeden Wasserbauingenieur mit Entzücken erfüllen. Die Anlage zu Kontrolle und Nutzung des ungestümen Flußwassers ist von seinen historischen Erbauern derart raffiniert geplant und solide ausgeführt worden, daß in den zwei Jahrtausenden lediglich Unterhaltsarbeiten, aber keine nennenswerten Änderungen des Konzepts nötig waren. Eine Leistung, die angesichts der Kurzlebigkeit gewisser Tiefbauprojekte unserer Zeit doch mächtigen Respekt verdient. Die Funktionsweise von Dujiangyan läßt sich wie folgt verstehen (siehe Skizze): Von Norden kommend, trifft der Min Fluß erst auf eine künstliche Insel, den sogenannten Fischmauldamm. Er teilt den Fluß in einen Inneren und einen Äußeren Kanal, wobei ein Schleusenwerk am Eingang des –122–
Äußeren Kanals bereits einen Teil des Flußwassers einem Bewässerungskanal zuführt und dem mittleren Flußteil nur diejenige Wassermenge überläßt, die man weder im
Das Dujiangyan-Wasserbauprojekt in der Provinz Sichuan.
Bewässerungskanal noch im Inneren Kanal wünscht. Dieser –123–
Innere Kanal ist nun die Hauptader des gesamten Bewässerungssystems. Um die durstigen Ackerflächen ohne Pumpwerke versorgen zu können, hatten die Wasserbaupioniere im Felsriegel vor der Stadt ein 20 Meter breite und etwa 15 Meter unter den Wasserspiegel reichende Schlucht gebrochen. Durch diesen Flaschenhals werden nun mitten durch die Stadt den weiter südlich gelegenen Feldern wohldosiert einige hundert Kubikmeter Wasser pro Sekunde zugeführt. Für die Feinverteilung des Wassers auf die rund um Chengdu gelegenen Ackerflächen dienen zahlreiche Schleusen, unter Ausnützung des 230 Meter hohen Gefälles zwischen Guan Xian und Chengdu. So weit der Sieg über die Dürre. Führt der Mir nun aber nach der Schneeschmelze oder während des sommerlichen Monsuns Hochwasser, wird möglichst viel Wasser durch die Hauptschleuse über den mittleren Flußteil abgeführt. Trotzdem dringen erhebliche Wassermengen in den Inneren Kanal und würden dem Stadtkanal und dem nachgeschalteten Bewässerungswerk Unheil bringen, wenn Li Bing für solche Fälle nicht ein raffiniertes Kurzschlußsystem vorgesehen hätte: Unmittelbar vor dem Flaschenhals ist ein Uferabschnitt des Inneren Kanals durch einen breiten Überlauf – konstruiert aus mit Bollensteinen gefüllten Bambusnetzen – ersetzt. Hält diese Schwelle bei Normalwasser den größten Teil des Wassers im Inneren Kanal, können Hochwassermengen ungehindert darüber hinweg in den Min-Fluß zurückfließen. Eine weniger offensichtliche Feinheit des Systems besteht darin, daß auch in hydrologischen Normalzeiten ein Großteil des im Inneren Kanal mitgeführten Sandes und Geschiebes schon vor Erreichen des Flaschenhalses abgelagert oder über die Schwelle weggetragen wird. Durch diese dynamische Separation erspart man dem Bewässerungssystem die problematischen gröberen Sedimente, ohne daß deswegen auf den nährstoffreichen Lößschlamm verzichtet werden muß. –124–
Die Dujiangyan-Wasserschaltstelle hatte noch im letzten Jahrhundert eine Ackerfläche von 200 000 Hektar bewässert. In der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts ist das Werk jedoch stark vernachlässigt worden, was größere Teile des Systems außer Funktion setzte. Im gewaltigen Bemühen der Volksrepublik um bessere Beherrschung und Nutzung von Chinas Wassermassen hat dann auch Dujiangyan seine Renaissance erlebt. Nicht nur ist in den letzten 30 Jahren die bewässerte Fläche sukzessive auf 600 000 Hektar erweitert worden, Tausende neugeschaffener Wasserspeicher ermöglichen eine viel effizientere Nutzung der anfallenden Wassermengen. So hat also jahrtausendealtes hydrotechnisches Knowhow einen wesentlichen Anteil am weltweit bewunderten chinesischen Sieg über den Hunger. Auch ist das heutige China weit weniger von ausgedehnten Überschwemmungen bedroht als zu frühern Zeiten. Trotzdem sind Überschwemmungen immer noch ein großes Problem, und selbst der mit dem Dujiangyan-System so erfolgreich gezähmte Min-Fluß kann wider Erwarten seine frühere wilde Natur zeigen: 1981 trat er, zusammen mit mehreren anderen Flüssen, über die Ufer und brachte 10 Millionen Einwohner im Sichuan-Becken in große Not. Mit weiteren Regulierungswerken, noch mehr Schutzdämmen sowie einem verstärkten Kampf gegen die Erosion in den Berggebieten will China deshalb seine Wasserbautradition unablässig weiterführen. Herbert Cerutti
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Medizinischer Alltag in China Zu Besuch in einem Landkrankenhaus
Das Gesundheitswesen Chinas ist einer breiten Öffentlichkeit im Westen vor allem unter den Stichworten Akupunktur und Barfußarzt bekannt. Über chinesische Erfolge in der Spitzenmedizin, wie die Behandlung schwerster Verbrennungen und das Replantieren abgetrennter Glieder, waren bisher fast nur Fachleute informiert. So spektakulär nun diese Glanzleistungen sein mögen, in der medizinischen Landschaft des Milliardenvolkes sind sie lediglich vereinzelte Wegmarken. Was Genosse Wang oder Genossin Song aber üblicherweise zum Arzt treibt, haben wir in Long Hua, einer Gemeinde vor den Toren der Stadt Schanghai, erfahren. Die Gemeinde Long Hua umfaßt fünftausend Familien mit 15 000 Personen – was darauf hindeutet, daß hier die Einkindfamilie bereits weitgehend realisiert ist. Der Gemeinde steht ein kleines Krankenhaus und jeder der zwölf Produktionsbrigaden eine Sanitätsstation zur Verfügung. Gegen eine Taxe von l bis 2 Yuan pro Jahr (l Yuan ist ungefähr l,20 Mark) wird das Gemeindemitglied gratis behandelt. Bei Spitalaufenthalt allerdings gehen je nach finanziellem Reichtum der Brigade 50 bis 90 Prozent der Kosten zu Lasten des Kranken beziehungsweise seiner Produktionsbrigade. Im Krankenhaus arbeiten zur Zeit 12 Ärzte nach den Methoden der chinesischen Medizin und 22 nach westlicher Lehre. Die beiden Richtungen lassen sich wie folgt charakterisieren: Während die westliche Medizin vorwiegend nach organischen Veränderungen sucht und deshalb etwa die Zusammensetzung des Blutes bestimmt, per Röntgenstrahlen –126–
das Körperinnere betrachtet oder Krankheitserreger aufspürt, interessiert sich die chinesische Medizin weit eher für die dynamischen und psychischen Eigenschaften des Körpers, möchte also Aussagen über den Gesamtorganismus und seine Funktionen machen. Die chinesische Heilpraxis scheint denn auch sehr erfolgreich im Beheben von Funktionsstörungen. Krankheit ist in den Augen des traditionellen Arztes ein Zustand körperlich-seelischen Ungleichgewichts. Seine diagnostischen Mittel sind genaues Anschauen, Abhorchen, Beschnuppern und Abtasten des Patienten, wobei selbst auf die Klangfarbe der Stimme und auf subtilste Eigenheiten des Pulses geachtet wird. Die Therapie hat dann das Wiederherstellen des »Gleichgewichtes« zum Ziel. Mittel hierzu sind unter anderem die Akupunktur und die ihr verwandte Akupressur; die spezifischen Punkte auf der Körperoberfläche werden etwa auch durch Wärmereize (Moxibustion) aktiviert. So exotisch solche Heiltechniken westlichen Schulmedizinern lange erschienen sind, die Entdeckung körpereigener Opiate (Endorphine) als chemische Botenstoffe im Rahmen der Schmerzempfindung sowie neuere Erkenntnisse über das Drüsensystem und immunologische Einsichten haben »westlich-rationales« Licht auf die fernöstliche Tradition geworfen. Auch ist selbst eingefleischten Vertretern chemisch-physikalischer Denkweise klargeworden, daß Ganzheitsmethoden bei Störungen des vegetativen Nervensystems, bei chronischen Schmerzen, bei Schlafstörungen oder Verdauungsproblemen einer rein symptomatischen Pharmakotherapie oftmals überlegen sind. Wie wirksam chinesische Medizin bei manchen Leiden auch sein mag, waren den chinesischen Ärzten aber schon früh auch die Grenzen ihrer Kunst bekannt: Eine Diskussion im 2. Jahrhundert über den Wert der Heilkunst schließt mit der Bemerkung, die Hälfte aller Beschwerden würden ohnehin von selber heilen! Es mag erstaunen, im Krankenhaus von Long Hua jetzt einen –127–
Teil der Ärzte chinesische, einen anderen Teil jedoch westliche Medizin praktizieren zu sehen. Die Chinesen haben aber gemerkt, daß man einer akuten Lungenentzündung am besten mit modernen Antibiotika und einem Blinddarm mit dem Skalpell zu Leibe rückt. Und so eindrücklich eine Anästhesie mit Akupunktur erscheint – wenn's stark pressiert, haben westliche Narkosemittel ihre Vorteile. Bei manchen Krankheitsbildern arbeiten heute »westliche« und »chinesische« Kollegen zusammen, indem etwa per Röntgen eine Diagnose gesichert wird, nachher aber die Behandlung mit chinesischer Medizin erfolgt. In der Regel steht es dem einzelnen Patienten frei, ob er sich westlich oder á la chinoise therapieren lassen will. Ein junger Mediziner der traditionellen Richtung hat uns von seiner Arbeit erzählt. Er behandelt zu 60 Prozent Rheumapatienten, wobei Akupunktur, Moxibustion, Schröpfen und Kräutermedizin zur Anwendung kommen. (Daß die große Zahl der Rheumakranken mit der Arbeit in den Reisfeldern zusammenhängt, läßt sich vermuten.) Häufig mit chinesischer Medizin behandelt werden außerdem Magenbeschwerden, Migräne und Ischias. Beim Bluthochdruck gelingt mittels Akupunktur eine Reduktion um 20 bis 40 Prozent, zur Konsolidierung des Erreichten werden dann »moderne« Medikamente eingesetzt. Relativ häufig mit Akupunktur behandelt unser chinesischer Arzt auch Bettnässen bei Kindern zwischen 6 und 14 Jahren, wobei wir nicht in Erfahrung bringen konnten, was wohl die Ursachen solchen »Leidens« sind. Die Information aber, daß selbst Malaria gut auf Akupunktur anspreche, stieß bei uns eher auf Verwunderung. Die weitere Erklärung, mit Akupunktur würde in solchen Fällen Durchfall induziert, was seinerseits die Erreger aus dem Körper schwemme, ist insofern nicht sehr überzeugend, als die Malariaerreger das Blut besiedeln. Plausibler scheint die Behandlung gewisser Darmkrankheiten mit Akupunktur, da hier –128–
das Einleiten von Durchfall in der Tat Mikroben aus dem Körper entfernt. Medizinalpflanzen, etwa solche mit einem hohen Gehalt an Bitterstoffen, können dann zusätzlich helfen, den lädierten Darm zu sanieren. Im oberen Stock des Spitals treffen wir schließlich eine Ärztin westlicher Richtung. Ihre häufigsten Fälle sind Erkältungen, chronische Bronchitis, Verdauungsprobleme. Auch einige Tuberkulosekranke gehören zu ihren Patienten. Kinder werden gegen Diphtherie, Keuchhusten, Starrkrampf, Hirnhautentzündung, Kinderlähmung und Tuberkulose geimpft. (Laut einer WHO-Zeitschrift erhält heute ein chinesisches Kind zwischen Geburt und zweitem Schuljahr 24 Impfungen.) Stark im Zunehmen seien Herzkrankheiten, vor allem bei älteren Leuten. Die Ärztin ist überzeugt, dies sei auf vermehrten Fleisch- und Fettkonsum zurückzuführen. Auch für die häufigen Erkrankungen der Atemwege weiß Frau Doktor die Erklärung: Luftverunreinigungen sowie der in China weitverbreitete Hang zur Zigarette. Ist der Zusammenhang mit dem Rauchen evident, muß man auch betreffend Luftverschmutzung zustimmen. Die Industrie verwendet große Mengen Kohle zum Heizen und zur Stromerzeugung, im Privathaushalt wird zum Heizen und Kochen ebenfalls Kohle verwendet. Selbst an sonnigen Tagen lag deshalb über Peking, Schanghai und anderen von uns besuchten Städten ein rotbräunlicher Dunstschleier, hing der Geruch von Kohle in der Luft. Daß jetzt die Regierung den Leuten mit großen Kampagnen das Spucken austreiben will, ist hygienisch zwar sinnvoll, bekämpft das Problem aber wohl nicht an seiner Wurzel. So interessant die Gespräche mit den Ärzten des Landkrankenhauses auch gewesen waren, »wegen der Zeit« mußte mancher Diskussionspunkt vage bleiben, wo genaueres Nachfragen vielleicht Klärung gebracht hätte. Zurück in Europa, haben weitere Quellen das rudimentäre und punktuelle Bild –129–
bestätigt. Im Vordergrund des Krankheitsgeschehens in China stehen in der Tat chronische Krankheiten der Atemwege, HerzKreislauf-Krankheiten und Rheumaleiden. Recht häufig sind außerdem psychische Krankheiten (vor allem Schizophrenie) und Krebs. An Krebs sterben landesweit zur Zeit 700 000 Menschen pro Jahr. Im mittleren und höheren Alter sind Krebsleiden sogar die häufigste Todesursache. Chinas »Krebslandschaft« zeichnet sich durch außerordentlich hohe Häufigkeiten bestimmter Krebsarten in gewissen Gegenden aus: Leberkrebs im Südosten Chinas und Speiseröhrenkrebs in der Provinz Henan. Während als Ursache dieser beiden Probleme vorwiegend spezifische Ernährungsgewohnheiten vermutet werden, scheint auch für die zur Zeit in China erschreckende Zunahme von Lungenkrebs die Sache relativ klar: von schätzungsweise 250 Millionen Chinesen werden jährlich 180 Milliarden Zigaretten konsumiert. Betrachtet man nun das Gesamtbild, sind sich die westlichen Experten einig, daß China innerhalb der Gruppe der ärmeren Länder eine Ausnahmeerscheinung ist: Vor allem dank enormen Anstrengungen auf den Gebieten der Hygiene und der Ernährung konnte die Lebenserwartung seit 1949 von 35 Jahren auf fast 70 Jahre gesteigert werden. Daß jetzt dieser Erfolg im Zuge der fortschreitenden Verbesserung des Lebensstandards von Zivilisationskrankheiten wieder teilweise zunichte gemacht wird, ist eine der Ironien moderner Entwicklung. Herbert Cerutti
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Hilfe für Verbrennungsopfer Revolutionäres Behandlungskonzept in Schanghai
Im Frühjahr 1958 wurde ein dreißigjähriger Mann ins Rui-JinHospital in Schanghai eingeliefert. Er war bei einem Explosionsunfall schwer verletzt worden, sein Körper glich einer verkohlten Masse. 90 Prozent seiner Körperoberfläche waren verbrannt, ein Viertel davon drittgradig. Der Patient war bei Bewußtsein und bat die Ärzte, alles zu tun, um ihn am Leben zu erhalten. Seinetwillen und für die Gesellschaft, die mitzugestalten er eben erst begonnen hatte. Diese kleine Geschichte, die auch das chinesische Lehrbuch ›Treatment of Burns‹ (siehe Literaturverzeichnis) einleitet, erzählt Shih Tsisiang, der Leiter der Verbrennungsabteilung des Rui-JinHospitals seinen interessierten Besuchern gern. Sie stand am Anfang einer Entwicklung, welche die chinesischen Verbrennungsspezialisten mit teils spektakulären Erfolgen an die Spitze der internationalen Forschung auf diesem Gebiet brachte. Spitzenmedizin in China? In einem Land, das bei uns in erster Linie seiner traditionellen Heilmethoden wegen berühmt geworden ist, das in weiten Teilen noch ein Entwicklungsland ist, eben erst dem Hunger entwachsen, technologisch auf fremde Hilfe angewiesen? Im Rui-Jin-Hospital befindet sich das größte und bekannteste der elf Verbrennungszentren Chinas. Es hat sich auf die Behandlung Schwerstverbrannter spezialisiert und ist seiner neuen Behandlungsmethoden wegen weltweit bekannt geworden. Wer in die chronisch überbelegte 50-Betten-Klinik –131–
aufgenommen wird, hat mindestens 30 Prozent seiner Körperoberfläche zweit- oder drittgradig verbrannt. Nicht selten sind gar über 90 Prozent der Haut durch Hitzeeinwirkung zerstört. Im Rahmen der üblichen Medizin eigentlich hoffnungslose Fälle. Im von Franzosen errichteten und lange Zeit von Jesuiten geführten ehemaligen Missionshospital erhalten aber auch solche Schwerstgeschädigte eine Chance. Hier wurde und wird Pionierarbeit geleistet – auch wenn man dem Gebäude weder von außen noch von innen seine führende Stellung in Sachen Verbrennungsbehandlung ansieht. Die Einrichtungen sind an westlichen Maßstäben gemessen bescheiden. Das Innere der Intensivstation ist grau, mit kahlen Wänden, bloßem Steinboden und weit offenen Fenstern. Die Behandlung schwerer Brandverletzungen beginnt noch am Unfallort. Unverzügliches Eintauchen verbrannter Körperteile in kaltes Wasser, wenn nötig – zum Beispiel bei Explosionsopfern – Unterstützung der Atmung, Ersatz von Blut, Stabilisierung des Kreislaufes, generell die Aufrechterhaltung der lebenswichtigen Funktionen, haben in dieser Phase Priorität. Die Überführung in ein Verbrennungszentrum erfolgt am besten innerhalb der ersten zwei Stunden. Für die chinesischen Mediziner bleibt diese Forderung angesichts des erst rudimentär ausgebauten Rettungsdienstes vorderhand allerdings noch Wunschgedanke. Das weitere Schicksal der Verbrennungsopfer hängt von vielen Faktoren ab. Die Qualität der Erstversorgung ist nur einer davon. Entscheidend für die Heilungschancen sind Ausdehnung und Tiefe der Verbrennungen. Der Anteil der verbrannten im Verhältnis zur gesunden Körperoberfläche wird anhand der Neunerregel bestimmt: Kopf und Nacken machen zusammen 9 Prozent der Körperoberfläche aus, beide Arme zusammen 18 (2 X 9), beide Beine inklusive Gesäß 46 (5 X 9 plus 1) und Rumpf inklusive Genitalregion 27 (3 X 9) Prozent. Bezüglich Verbrennungstiefe unterscheidet man drei –132–
Schweregrade. Grad I mit Rötung, leichter Schwellung und Schmerzhaftigkeit ist für den Ausgang unerheblich. Erstgradige Verbrennungen werden daher bei der Berechnung der verbrannten Körperoberfläche nicht berücksichtigt. Zweitgradige Verbrennungen reichen über die Epidermis hinaus bis in die unter der Epidermis liegende Dermis. Die beiden Schichten können sich voneinander lösen, es entstehen Blasen. Eher oberflächliche zweitgradige Verbrennungen heilen innerhalb von 10 bis 14 Tagen, tiefere innerhalb von 3 bis 4 Wochen. Verbrennungen dritten Grades umfassen die gesamte Hautdicke sowie einen variablen Anteil der Unterhaut, eventuell sogar Muskeln, Sehnen und Knochen. Ob eine Verbrennung von Grad II oder Grad III vorliegt, läßt sich von außen nicht immer mit Sicherheit entscheiden. Die chinesische Klassifikation der Verbrennungen umfaßt vier Schweregrade: leicht: weniger als 10 Prozent der Körperoberfläche zweitgradig verbrannt, mittelschwer: 11 bis 30 Prozent der Körperoberfläche betroffen und/oder drittgradige Verbrennungen von weniger als 10 Prozent, schwer: 31 bis 50 Prozent der Körperoberfläche und/oder 10 bis 20 Prozent drittgradig verbrannt, sehr schwer: insgesamt über 50 Prozent der Körperoberfläche und/oder über 20 Prozent drittgradig verbrannt. Viele der Patienten im Rui-Jin-Hospital weisen noch extremere Verbrennungen auf, die früher den sicheren Tod bedeuteten. Zu den initialen Hauptproblemen bei ausgedehnten Verbrennungen zählt der Verbrennungsschock. Literweise quillt eiweiß- und elektrolythaltige Plasmaflüssigkeit aus den hitzezerstörten Kapillargefäßen, penetriert ins abgestorbene Gewebe und geht so dem Körperkreislauf verloren. Das Blut dickt ein, es treten massive, teilweise groteske, lokalisierte oder generalisierte Ödeme auf, die Sauerstoffversorgung wichtiger Organe ist gefährdet – der Patient kann in einen tödlich –133–
endenden Schockzustand geraten. In dieser Phase – innerhalb der ersten 24 Stunden – müssen bis zu 10 Liter Flüssigkeit in Form von Elektrolytlösungen, Plasma oder Blut infundiert werden. Dieser Ersatz von Flüssigkeitsvolumen ist immer wieder eine heikle Angelegenheit, denn jedes Zuviel oder Zuwenig kann fatale Folgen haben. Die größte Gefahr für den Verbrennungspatienten geht von einer infizierten Wunde aus. Zwei Drittel aller Todesfälle nach Verbrennungen sind Folge einer Infektion. Das tote, verkohlte Gewebe ist eine ideale Brutstätte für Bakterien. Von keiner Hautbarriere abgehalten, dringen sie ein und verteilen sich über den Blutkreislauf im ganzen Körper. Dies ist der Beginn einer lebensgefährlichen Septikämie. Es droht, sofern es sich um Toxine produzierende gramnegative Bakterien handelt, ein tödlicher septischtoxischer Schock. Manchmal können Antibiotika den Patienten retten. Sicherer als die Therapie ist allerdings die Infektprophylaxe. Dazu gehören etwa die Immunisierung gegen den gefürchteten Erreger Pseudomonas aeruginosa sowie die Applikation desinfizierender, beispielsweise Silbersulfadiazin enthaltender Salben. Einen sprunghaften Rückgang der Todesfälle durch Septikämie und septischen Schock verzeichneten die chinesischen Mediziner aber erst seit der Einführung der nachfolgend beschriebenen Technik der frühzeitigen Schorfexzision mit anschließender Hautverpflanzung. Zweifellos verdienen die beschriebenen Allgemeinmaßnahmen große Aufmerksamkeit. Nur darf darob eines nicht vergessen werden: Ursache und Ursprung aller Symptome und Auswirkungen der sogenannten Verbrennungskrankeit ist die Brandwunde. Die Wunde optimal behandeln heißt die Verbrennungskrankheit optimal behandeln. Welche Methode der Wundbehandlung man wählt, hängt von mancherlei Umständen ab, vom Allgemeinzustand des Patienten, von Ausdehnung, Lokalisation und Tiefe der Wunde, –134–
von einer eventuell vorhandenen Infektion und nicht zuletzt von den personellen und apparativen Verfügbarkeiten. Prinzipiell gebührt nach chinesischer Meinung der offenen Behandlung der Vorzug gegenüber Wundverbänden. In einem Strom warmer Luft läßt man den Wundschorf trocknen und zu einem kompakten natürlichen Schutzschild gegen Krankheitserreger von außen werden. Was die chinesischen Forscher nicht erwähnen: Die Austrocknung verhindert möglicherweise die Resorption des in der Haut bei der Verbrennung entstandenen Verbrennungstoxins. Das Ende der sechziger Jahre von Basler Forschern nachgewiesene Verbrennungstoxin ist nach Ansicht namhafter Spezialisten ohnehin das alles entscheidende Agens. Biochemisch stellt es ein Polymerisationsprodukt von großen Eiweißmolekülen aus der Haut dar, das ausschließlich bei Temperaturen gegen hundert Grad Celsius entsteht. Das ist in der Regel etwa der Temperaturbereich, mit dem bei äußerer Hitzeeinwirkung in der Dermis zu rechnen ist. Die Verbrennungstoxine gelangen erst nach einigen Tagen in den Blutkreislauf, wenn die Kapillaren aus der Tiefe nach oben sprießen. Über die Blutbahn erreichen die in der Hitze geborenen Toxine alle Zellen des menschlichen Organismus und schädigen sie, indem sie sich an die Zellwände anlagern. Alle lokalen Maßnahmen, die sich in der Vergangenheit als lebensrettend herausgestellt haben, lassen sich möglicherweise auf das Prinzip der Elimination des Verbrennungstoxins zurückführen. Besonders betroffen wird der Verbrennungspatient vom Funktionsausfall der körpereigenen Abwehrzellen. Die Bakterien auf der Haut und im Blut können sich bei Darniederliegen des körpereigenen Schutzes ungehindert vermehren. Die chinesischen Arzte tragen oft einheimische Heilkräuter auf die Verbrennungswunden auf. Die schorffördernde Wirkung ebenso wie die antibakterielle Potenz –135–
der Kräutertinkturen und salben konnten eindeutig verifiziert werden. Solche Kräuter könnten aber auch auf andere Weise wirken: Viele der verwendeten Kräuter enthalten Tannine, also Gerbmittel. Von einem anderen Gerbmittel, Cernitrat (CefNOsjs), weiß man in der Zwischenzeit, daß es die Verbrennungstoxine irreversibel an sich zu binden und damit ihre Ausschwemmung in den Blutkreislauf zu verhindern vermag! Klassischerweise besteht das weitere Prozedere darin, die spontane Separation des Schorfs von seinem Untergrund abzuwarten. Das ist normalerweise nach zwei bis drei Wochen der Fall. Mit Schere, Skalpell oder CO2-Laser entfernen die Chirurgen daraufhin nach und nach den halb losen, halbwegs noch haftenden Schorf. Jeweils zwei bis drei Tage später erfolgt die Deckung des gesäuberten Areals mit Eigenhauttransplantaten. In den letzten Jahren gingen die chinesischen Mediziner bei drittgradigen Verbrennungen mehr und mehr dazu über, den Schorf lange vor seiner spontanen Loslösung zu exzidieren. Bereits wenige Tage nach dem Unfall wird ein erstes Mal operiert. Weitere Operationen folgen an den Tagen darauf, bis der ganze Körper von nekrotischem Gewebe befreit ist. Unmittelbar an die jeweils Stunden dauernden Schorfexzisionen schließt sich die Transplantation von Eigenhaut oder, falls diese nicht ausreicht, von menschlicher Leichenhaut, Schweinehaut oder künstlicher Haut an. Diese sogenannte Frühexzision ist keine neue Erfindung, sie wird an einigen Verbrennungszentren schon seit Jahren praktiziert. Ihr Vorteil liegt darin, daß mit dem nekrotischen Gewebe auch das potentiell tödliche Verbrennungstoxin entfernt wird. Zudem werden die Infektionsgefahr und die narbigen Gewebekontrakturen auf ein Minimum reduziert. Die über mehrere Tage verteilten Nekroseabtragungen stellen nicht nur für den Patienten eine schwere Belastung dar, auch die –136–
Anforderungen an die Operateure sind groß. Von ihrer Erfahrung, ihrer exakten Beurteilung des Gewebezustands, hängt der Erfolg ab. Bleibt nekrotisches Material zurück, steigen die Infektionsgefahr und das Risiko der Toxinresorption. Andererseits kann zu tiefes Exzidieren neue Schäden setzen. Bei Verbrennungen extremen Ausmaßes stellt sich im Anschluß an die Schorfabtragung immer wieder das Problem: Wie lassen sich Hautdefekte von über 50 Prozent der Körperoberfläche mit der wenigen unversehrt gebliebenen Haut des Patienten decken? In der überwiegenden Zahl der Fälle lassen sich mit Hilfe der 1964 von J. C. Tanner eingeführten Meshgraft-Technik aus den intakten Arealen – auch bei Schwerstverbrannten bleiben Kopfschwarte und Fußsohlen meistens unverletzt – genügend große Transplantatlappen herstellen. Aus den Spenderarealen werden mit einem speziellen Hautmesser 0,4 Millimeter dünne Lappen geschnitten. Diese werden anschließend mit nahe beieinander liegenden parallelen Schnitten von etwa l bis 2 Zentimeter Länge versehen. Das durchlöcherte Hautstück läßt sich auf diese Weise bis auf das Dreifache der ursprünglichen Fläche ausdehnen und transplantieren. Innerhalb von 10 Tagen werden die Zwischenräume des gitterförmigen Lappens von den Epithelbrücken aus vollständig überwachsen. Die Schanghaier Verbrennungsspezialisten entwickelten nun eine andere Methode. Die Intermingled Transplantation genannte Mischtransplantation von eigener und fremder Haut wurde 1982 von Shih Tsisiang erstmals in Genf präsentiert. Die Operationsteams bringen nach der beschriebenen Schorfexzision große, mit Hunderten von l Zentimeter langen, im Abstand von l Zentimeter voneinander angebrachten Schlitzchen versehene Fremdhaut- oder Schweinehautlappen auf den Wundboden auf. l bis 2 Tage später werden die Schlitzchen zu kleinen Fensterchen erweitert. In die Fensterchen werden in stundenlanger Fleißarbeit Läppchen von gesunder Haut des Patienten –137–
eingepaßt. Mehrere hundert bis tausend Öffnungen und entsprechend viele Eigenhautstückchen auf der Fläche eines einzelnen Beines bedeuten einen fast unglaublichen Aufwand. Doch dieser scheint sich zu lohnen. Die fremden Hauttransplantate müssen nicht wie bei anderen Formen von Fremdhauttransplantationen nach 4 bis 5 Tagen entfernt werden. Die Epidermis der winzigen Eigenhautläppchen infiltriert nämlich sukzessive den Raum zwischen Dermis und Epidermis der Fremdhaut, bis sich eine durchgehende Schicht gebildet hat. Die mit dem Granulationsgewebe aus der Tiefe nach oben dringenden Abwehrzellen bleiben dadurch von der fremden Epidermis getrennt. Eine Abstoßungsreaktion kommt praktisch nicht zustande. Die Fremdhaut überlebt l bis 2 Monate und fungiert in dieser Zeit als temporärer Hautersatz. Mittlerweilen hat sich darunter eine neue, wenn auch funktionell minderwertige Haut entwickelt. Die Verbrennungsforschung hat in den letzten Jahrzehnten wichtige Erkenntnisse gebracht. Bedeuteten früher Verbrennungen von mehr als 25 Prozent der Körperoberfläche fast immer den sicheren Tod, so gelingt es heute in Einzelfällen, sogar zu 98 Prozent Verbrannte am Leben zu erhalten. Wenn man den chinesischen Überlebensstatistiken glaubt, haben die neuentwickelten, äußerst zeit- und personalintensiven Techniken einen geradezu sensationellen Fortschritt gebracht. Rund die Hälfte aller Verbrennungsopfer mit Zerstörungen von 90 Prozent der Hautoberfläche überleben, und auch die kosmetischen und funktionellen Resultate sollen mit der Intermingled Transplantation befriedigend sein. Nachahmer in Deutschland und in den USA bestätigen im Prinzip die Erfolgsmeldungen. Ob sich die Schanghaier Methode angesichts ihres riesigen Aufwands bei uns durchsetzen wird, bleibt allerdings fraglich. Richard Altorfer –138–
Anhang
Literaturverzechnis Technische Glanzleistungen im alten China (Seite 9 bis 20) Joseph Needham: Science and Civilisation in China. Cambridge University Press, Cambridge, England. (Von 20 geplanten Bänden sind bis 1985 11 erschienen. Der Suhrkamp Verlag, Frankfurt, möchte die Needham-Serie in deutscher Übersetzung und geraffter Form publizieren; erschienen ist 1984 der erste Band: Wissenschaft und Zivilisation in China I.) Joseph Needham: Science in Traditional China. Harvard University Press, Cambridge, Massachusetts, 1981. (Dieses Buch basiert auf einer Vortragsreihe und gibt einen kurzen, aber sehr informativen Überblick.) Jean-Pierre Voiret u.a.: Technica Sinica. Swissair-Gazette, 9, 1983, Verlag A. Vetter, Zürich. (Artikel zum Thema Astronomie, Metallurgie, Papier und Druck, Brücken, Seide, Porzellan, Schiffahrt, Vorhersage von Naturkräften.) Von der Schwierigkeit, Erdbeben vorherzusagen (Seite 33 bis 46) Tsuneji Rikitake: Earthquake Forecasting and Warning. Center for Academic Publications, Tokyo 1982. (In Europa vertrieben durch Kluwer Academic Publishers Group, Dordrecht, Holland.) Dicke Luft und trübe Wasser (Seite 74 bis 80) Chinas Bäume wachsen nicht in den Himmel (Seite 81 bis 84) –139–
Vaclav Smil: The Bad Earth – Environmental Degradation in China. Sharpe, New York 1984. Ungewisse Zukunft für den Panda (Seite 85 bis 93) George B. Schaller, Hu Jinchu, Pan Wenshi, Zhu Jing: The Giant Pandas of Wolong. The University of Chicago Press, Chicago 1985. Biologischer Landbau aus Tradition (Seite 94 bis 101) F. H. King: 4 000 Jahre Landbau in China, Korea und Japan. Edition Siebeneicher, München 1984. A. J. Büchting und H. Inhetveen: Landwirtschaft im heutigen China. Verlag Boden und Gesundheit, Langenburg 1979. Hilfe für Verbrennungsopfer (Seite 110 bis 116) Treatment of Burns. Springer Verlag, Berlin 1982. Statistische Angaben Statistical Yearbook of China 1984. State Statistical Bureau, People's Republic of China. Published by Economic Information & Agency, Hong Kong, 1984.
Abbildungsnachweis Herbert Cerutti: 37, 103 Aus ›Science in Traditional China‹: 12, 19, 50 Aus ›Swissair Gazette, 9/1983‹: 14, 31 Aus ›Earthquake Forecasting and Warning‹: 39 Aus ›The Giant Panda of Wolong‹: 86
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