Joan Garner
Der Mann, der zum Werwolf wurde Irrlicht Band 361
Julia war vor Schreck stehengeblieben, und ihre Füße b...
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Joan Garner
Der Mann, der zum Werwolf wurde Irrlicht Band 361
Julia war vor Schreck stehengeblieben, und ihre Füße begannen schon wieder langsam im naßkalten Moor zu versinken. Doch dann sah Julia das schreckliche Wesen. Augenblicklich war die Gefahr, die vom Moor ausging, vergessen. Denn vor ihr lauerte etwas weitaus Gefährlicheres. Ein grauer Werwolf! In geduckter Haltung löste er sich aus dem Dunkel des Gebüsches, wo er sich verborgen gehalten hatte. Den mächtigen Schädel hatte er lauernd und witternd gesenkt. Die rotglühenden Augen funkelten unheimlich. Verzweifelt kämpfte die junge Frau gegen die drohende Lähmung an. Ihre Angst war so übermächtig, daß sie unfähig war, auch nur einen Schritt zurückzuweichen. Das schreckliche Wolfswesen kam unaufhaltsam näher. Schon war es nur noch einige Schritte von Julia entfernt. Sie konnte die Pfoten des Tieres ganz deutlich sehen. Die blitzenden Krallen, die im Mondlicht wie Dolche glänzten…
Ihre fürchterlichen Augen glühten in der Dunkelheit. Das grauweiße Fell dampfte vor Schweiß. Julia glaubte, ihren hechelnden Atem zu hören, ihre Pfoten, die sich sachte in den feuchten Untergrund drückten, während sie immer näher schlichen. Wie angewurzelt stand Julia da. Ihre Angst vor den wolfsartigen Tieren war so groß, daß sie zu keiner Bewegung fähig war. Nur ihr Gehirn funktionierte einwandfrei, quälte sie mit entsetzlichen Gedanken und Vorstellungen. Was werden sie mit mir anstellen, wenn sie mich erreichen? dachte sie ganz unentwegt. Die wolfsartigen Tiere kamen näher, beobachteten Julia lauernd. Langsam bildeten sie einen Kreis um die junge Frau. Julia versuchte, den Blick von den grauenerregenden Tieren abzuwenden, aber es gelang ihr nicht. Wie hypnotisiert starrte sie die unheimlichen Wölfe an. Dann hatte sich der Kreis um Julia geschlossen. Die Tiere setzten sich auf ihre Hinterläufe, reckten ihre Hälse und warfen den mächtigen, kantigen Kopf in den Nacken. Und dann stimmten sie ein Geheul an. Es war grauenerregend. Julia konnte sich nicht daran erinnern, je einen so beängstigenden und bedrohlichen Laut vernommen zu haben. Sie heulen wie Wölfe, dachte Julia entsetzt, aber es sind keine Wölfe. Ihr Fell ist zotteliger, die Hälse sind kürzer und die Beine unnatürlich lang und haarlos. Es sind Werwölfe! schoß es Julia durch den Kopf. Und sie sind gekommen, um mich zu holen! Mit dieser schockierenden Erkenntnis erlangte Julia plötzlich ihre Bewegungsfähigkeit wieder. Sie spürte förmlich, wie das Leben in ihre Arme und Beine zurückflutete. Julia begann zu rennen. Aber es gab keinen Ausweg aus dem Kreis der Werwölfe. Wohin Julia auch ihre Schritte lenkte,
immer stand ihr eins der grauen Tiere im Weg und starrte sie mit funkelnden roten Augen an. Panik! Dieses Gefühl überkam Julia wie ein Fieberschauer. Wie verrückt wirbelte sie im Kreis herum, während die schrecklichen Tiere ihren Ring erbarmungslos enger zogen. Julia spürte, wie der Atem der Werwölfe über ihre nackte Haut strich, wie er selbst das Gewebe ihres Nachthemds durchdrang. Und dann streckten die Tiere ihre krallenbewehrten Klauen nach ihr aus. Sie berührten ihre Fußgelenke, zogen am Saum ihres Nachthemds. Mit weit aufgerissenen Augen und starr vor Schreck beobachtete Julia die Werwölfe. Aber dann konnte sie nicht mehr an sich halten. Sie stieß einen markerschütternden Schrei aus, der selbst das Hecheln der Tiere und ihr furchtbares Geheul noch übertönte… Schreiend fuhr Julia aus dem Schlaf. Noch begriff sie nicht, daß alles nur ein Traum gewesen war, und schlug in ihrer Angst wild um sich. Sie wußte nicht, wo sie sich befand – bis sie plötzlich ziemlich unsanft auf dem Boden neben ihrem Bett landete! Erschrocken blickte Julia sich um und bemerkte verwundert den flauschigen Teppich, mit dem ihr Schlafzimmer ausgelegt war. Langsam kam sie zu sich. Ein Alptraum! Es war nur ein Alptraum, dachte sie erleichtert. Aber die Erleichterung hielt nicht lange an. Sie wußte, daß es mehr als nur ein gewöhnlicher Alptraum gewesen war. Immer wieder durchlebte sie diese Hölle. Und wie jedesmal, nachdem Julia aus einem Werwolftraum erwacht war, fragte sie sich, wie weit sie noch vom Wahnsinn entfernt war. Julia schüttelte die trüben Gedanken ab und befreite sich aus der Bettdecke. Es hatte keinen Sinn, sich unnötig zu beunruhigen. Sie mußte lernen, mit diesen Träumen zu leben, das jedenfalls hatte Joe Villach, ihr Therapeut, ihr geraten.
Bei dem Gedanken an den jungen Joe Villach verflog ein Großteil der Angst, die sie aus dem Alptraum mit in die Wirklichkeit hinübergenommen hatte. Julia schaute sich in ihrem Zimmer um. Die vertraute Umgebung übte eine beruhigende Wirkung auf sie aus. Die weißen Seidenvorhänge vor dem geöffneten Fenster bauschten sich im kühlen Wind. Ein heller Schimmer, der durch den Stoff drang, verriet Julia, daß der Morgen bereits angebrochen war. Der Lärm der Straße drang gedämpft zu ihr herauf. Julia trat an das Fenster und öffnete den Vorhang einen Spaltbreit. Sie wohnte im fünfzehnten Stock eines Wohnhauses. Von hier bot sich ihr ein herrlicher Ausblick auf das Häusermeer von New York. Auf den Straßen herrschte die übliche Betriebsamkeit. Menschen hasteten zu den U-BahnSchächten oder überquerten in großen Gruppen die Kreuzungen. Die allmorgendliche Blechlawine aus gelben Taxis und großen Limousinen schob sich durch die Straßen. Julia atmete tief durch. Die Wirklichkeit hatte sie wieder! Doch dann begann sie zu frösteln. Der kalte Wind, der durch die Fensteröffnung drang, ließ sie erzittern. Sie trat vom Fenster zurück und streifte ihr schweißdurchtränktes Nachthemd ab. Dann ging sie ins Badezimmer. Auch für sie würde heute ein normaler Tag beginnen. Und sie war froh darüber. Denn der Alltag würde ihr dabei helfen, die Schrecken der Nacht zu vergessen. Kurz betrachtete sie sich im Spiegel. Sie fand, daß sie fürchterlich aussah. Das lange rotbraune Haar hing ihr in Strähnen vom Kopf herab. Ihr Gesicht war so blaß, als habe sie gerade ein Gespenst gesehen, und unter ihren Augen lagen tiefe Schatten. Julia versuchte ein Lächeln, was ihr aber kläglich mißlang. Sie mußte wohl ein wenig Geduld haben und ganz einfach abwarten, bis sich ihre Laune besserte.
Viele ihrer Kolleginnen behaupteten, daß man ihr ihre irische Abstammung deutlich ansah. Aber Julia fand, daß es unsinnig war, aufgrund der äußeren Erscheinung eines Menschen auf seine Abstammung schließen zu wollen. Trotzdem fühlte sie sich jedesmal geschmeichelt, wenn jemand ihr sagte, sie würde aussehen wie eine typische Irin, denn Julia Kildare liebte ihre Heimat, die sie bisher nur von den wenigen Reisen kannte, die ihre Eltern vor langer Zeit mit ihr unternommen hatten. Julia begab sich unter die Dusche, und während sie das heiße Wasser über ihren Körper rieseln ließ, faßte sie einen Entschluß. Sie würde sich heute einen Termin bei Joe Villach, ihrem Therapeuten, geben lassen. Er hatte sie darum gebeten, ihn gleich darüber in Kenntnis zu setzen, wenn der Werwolftraum sie wieder heimsuchte. Nachdem Julia sich für den Tag frisch gemacht hatte, bereitete sie sich ein Frühstück zu. Kurz dachte sie darüber nach, wie schön es jetzt gewesen wäre, einen geliebten Menschen an ihrer Seite zu haben. Einen Menschen, dem sie vertrauen konnte, mit dem sie die Freuden und Leiden des Lebens teilen konnte. Aber bisher war Julia solch ein Mensch noch nicht begegnet. Unwillkürlich mußte sie an Joe Villach denken. Er war so ein Mensch, dem sie vertrauen konnte. Aber ob sie ihn liebte, wußte sie nicht so genau. Er war ihr Therapeut. Sie bezahlte ihn dafür, daß er ihr zuhörte und gute Ratschläge erteilte. Und es war nicht gerade wenig, was er verlangte. Julia seufzte auf. Sie war froh, daß es Menschen wie Joe Villach gab. Schließlich zog sie das drahtlose Telefon zu sich heran und rief die Praxis von Joe Villach an. Nach kurzer Zeit wurde der Hörer abgenommen. Villachs Sekretärin war am Apparat. Julia ließ sich einen Termin für den Abend geben. Dann legte sie wieder auf und widmete sich ihrem Frühstück.
Die Aussicht, sich bald alles, was sie bedrückte, von der Seele reden zu können, beruhigte sie.
*
Die Anwaltskanzlei, in der Julia Kildare als Sekretärin arbeitete, befand sich in einem Hochhaus in der Lexington Avenne. Die McRowland-Kanzlei war eine angesehene Institution mit vielen Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen. Die Bezahlung war gut und das Arbeitsklima hervorragend. Aber dies war für Julia nicht ausschlaggebend gewesen, als sie sich vor drei Jahren für diesen Job beworben hatte. Am wichtigsten war ihr, daß sie auf dem Weg zur Kanzlei nicht den Central Park durchqueren oder auch nur an ihm vorbeifahren mußte. Denn dieser Park inmitten von Manhattan hatte für Julia eine diabolische Ausstrahlung. Schon wenn sie nur die hohe Mauer sah, die den Park von der Straße trennte, bekam sie ein merkwürdiges Gefühl im Magen. Angst schnürte ihr dann die Kehle zu, und sie wurde nervös und unkonzentriert. Julia wußte genau, worauf dies zurückzuführen war. Es hatte sie viele Sitzungen bei Joe Villach gekostet, bis sie sich eingestehen konnte, daß es der schreckliche Tod ihrer Eltern gewesen war, der diesen Abscheu vor dem großen, schönen Park inmitten der Hochhäuser in ihr hervorgerufen hatte. Als Julia an diesem Tag vor ihrem Schreibtisch in der Anwaltskanzlei saß, mußte sie an den Tod ihrer Eltern denken. Vor ihrem inneren Auge sah sie die leblosen Körper ihrer Eltern. Sie lagen nebeneinander im Schnee, um sie herum die Büsche und Bäume des Central Parks. Jeder wußte, wie schön der Central Park in einer mondhellen Winternacht sein konnte, wenn das bleiche Licht des Mondes
die Eiskristalle glitzern ließ – aber jeder wußte auch, wie gefährlich der Park nachts war! Deshalb wurde er von jedem gemieden. Julias Eltern hatten dies auch gewußt. Aber nach einem Theaterbesuch hatten sie der Versuchung nicht widerstehen können. Sie waren romantisch gestimmt und hatten sich an die wilde Landschaft ihrer Heimat erinnert. In Irland waren sie oft zu zweit über die nächtlichen, mondbeschienenen Ebenen des Hochmoores gewandert. Dort hatten sie ihre Liebe zueinander entdeckt. Und einen Hauch dieser Erinnerung wollten sie nun im mondhellen Central Park wieder aufleben lassen. Doch dieser Wunsch wurde ihnen zum Verhängnis! Die berittene Parkpolizei entdeckte die Leichen am anderen Morgen. Da die Opfer nicht bestohlen worden waren, fanden die Polizisten schnell heraus, um wen es sich handelte, und konnten Julia verständigen. Als die junge Frau den Tatort erreichte, lagen ihre Eltern noch an der Stelle, an der sie ermordet worden waren. Die Beamten von der Spurensicherung waren noch damit beschäftigt, ihre Aufnahmen zu machen und die Gegend nach verdächtigen Spuren abzusuchen. Julia stand einfach nur da und starrte auf die leblosen Körper ihrer Eltern. Sie lagen dicht beieinander und machten einen so friedlichen Eindruck. Die Worte des Polizeibeamten, der Julia mit belegter Stimme schilderte, was wahrscheinlich passiert war, hörte sie kaum. Erst später, in einer der zahllosen Sitzungen bei Joe Villach, waren ihr die Worte des Polizisten wieder zu Bewußtsein gekommen. »Es waren vermutlich Junkies, die sich nachts in dem Park herumgetrieben haben«, sagte der Detective. »Sie müssen mit Stoff vollgepumpt gewesen sein, als ihnen Ihre Eltern über den Weg liefen. Sie haben kurzen Prozeß mit ihnen gemacht. Zwei
Kugeln. Jede ein Volltreffer. Ihre Eltern waren auf der Stelle tot!« Aber an jenem Morgen starrte Julia nur fassungslos auf ihre geliebten Eltern. Sie lagen da wie zwei Gestalten aus einem Märchen. Julia konnte nicht glauben, daß sie tot waren. Sicherlich schliefen sie nur, waren durch einen unbegreiflichen Zauber in einen todesähnlichen Schlaf versetzt worden. Aber dann sah Julia etwas, das ihr alle Illusionen von einem märchenhaften Schlaf raubte. Da waren Spuren im Schnee! Abdrücke von Pfoten! Bei dem Versuch, sich vorzustellen, wie die Tiere ausgesehen haben könnten, die diese riesigen Fußspuren hinterlassen hatten, stöhnte Julia unwillkürlich auf. Sofort war der Detective bei ihr und stützte die junge Frau. »Soll ich Sie nach Hause bringen lassen?« fragte er besorgt. Aber statt eine Antwort zu geben, deutete Julia nur auf die Spuren im Schnee, die die Körper ihrer Eltern wie einen Kreis umgaben. »Was… ist das?« stammelte sie entsetzt. »Ach das!« stieß der Polizist mit rauher Stimme hervor. Er fühlte sich offensichtlich nicht wohl in seiner Haut. »Das sind nur die Fußspuren von streunenden Hunden«, erklärte der Detective und bemühte sich um einen beiläufigen Tonfall, was ihm jedoch nicht gelang. »In New York gibt es unzählige wilde Hunde. Sie werden von ihren Besitzern ausgesetzt, wenn die sie nicht mehr haben wollen. Wahrscheinlich wurden sie von dem Geruch des Blutes angelockt…« Zu weiteren Erklärungen kam der Detective nicht mehr, denn nun hatte er alle Hände voll damit zu tun, die bewußtlose Julia vom Tatort zu entfernen… »Kildare! Miß Kildare, ist Ihnen nicht gut?« Die Stimme des Mannes drang wie von fern in Julias Bewußtsein. Sie sah von ihrem Schreibtisch auf und starrte den Anwalt mit tränenverschleiertem Blick an.
Der Mann wich erschrocken einen Schritt zurück, als er Julias Gesichtsausdruck bemerkte. »Soll ich einen Arzt rufen?« fragte er besorgt. Julia beeilte sich, die Tränen mit einem Taschentuch fortzuwischen. »Es geht schon wieder«, behauptete sie schließlich. Aber der Blick, mit dem der Anwalt sie bedachte, verriet Julia, daß er davon nicht überzeugt war. Der Mann zuckte verlegen mit den Schultern, händigte Julia dann aber eine Mappe mit Formularen aus und entfernte sich kopfschüttelnd. Julia stürzte sich auf die Arbeit, als gelte es, einen besonders dringenden Fall schnell und gewissenhaft zu erledigen. Und es gelang ihr tatsächlich, die schrecklichen Erinnerungen an den Tod ihrer Eltern abzuschütteln. Es war nun schon vier Jahre her. Julia war damals gerade erst achtzehn Jahre alt gewesen. Aber wenn die Erinnerungen sie heimsuchten, kam es ihr stets vor, als sei das alles erst gestern passiert. Als Julia am Abend die Praxis von Dr. Joe Villach betrat, wurde sie bereits erwartet. Die Sekretärin war schon nach Hause gegangen, und so hatte Julia den jungen Mann ganz für sich allein. »Hallo, Julia«, begrüßte Joe Villach seine Patientin. Er erhob sich hinter seinem schweren Schreibtisch und trat mit ausgebreiteten Armen auf Julia zu. Joe Villach war eine stattliche Erscheinung. Sein Gesicht drückte Aufrichtigkeit und Vertrauenswürdigkeit aus. Das gewellte blonde Haar des jungen Mannes wirkte immer ein wenig ungebändigt, die schmale Nase, die ein wenig nach oben zeigte, gab ihm einen forschen, fröhlichen Ausdruck. Seine blauen Augen waren kühl, ohne dabei abweisend zu wirken. Und die weichen Gesichtszüge verrieten, daß er auch eine empfängliche, sensible Seite hatte.
Die beiden umarmten sich kurz und gaben sich einen Kuß auf die Wange. Julia genoß die Nähe des Mannes, und sie war froh, daß die Sekretärin schon gegangen war. Denn vor ihr hätte Joe Villach diese Vertrautheit nicht offen gezeigt. »Ich bin froh, dich zu sehen«, gestand Julia. »Ich hatte einen scheußlichen Tag!« »Und deine Nacht scheint auch nicht besonders gewesen zu sein!« bemerkte Joe Villach und spielte dabei auf den Werwolftraum an. Julia nickte nur und ließ sich von Joe in das Sprechzimmer führen. Bereitwillig legte sie sich auf die bequeme Couch und streifte die Schuhe von ihren Füßen. Anfangs hatte es ihr Schwierigkeiten bereitet, sich auf die Couch zu legen. Sie war sich ein wenig albern und dumm vorgekommen und hielt diese Art von Therapie für antiquiert. Aber inzwischen wußte sie das äußerst bequeme Möbelstück zu schätzen. Sie entspannte sich sofort und schloß die Augen. Joe Villach rückte sich einen Sessel zurecht und setzte sich neben sie. »Du hast also wieder von den Werwölfen geträumt«, stellte er fest. Seine Stimme klang in Julias Ohren vertraut und warm. Sie spürte, wie die Anspannung des Tages aus ihrem Körper wich. »Ja«, antwortete sie. »Und es war wieder ein äußerst realer und bedrohlicher Traum.« »Wir wollen heute einmal versuchen herauszufinden, was dich an den Werwölfen am meisten ängstigt«, kündigte Joe Villach an. »Fühlst du dich bereit dazu, noch einmal in deinen Traum zurückzukehren?« Julia nickte schwach. Ihr war die Vorstellung, sich genau an den Alptraum erinnern zu müssen, nicht sehr angenehm. Aber
sie vertraute ihrem Therapeuten und wußte, daß sie bei Joe Villach in guten Händen war. Behutsam versetzte der Psychologe Julia in einen hypnoseähnlichen Schlaf. Mit ruhiger Stimme sprach er besänftigend auf die junge Frau ein, führte sie in ihren Alptraum zurück. Geschickt verstand er es, mit gezielten Fragen die Traumszene wieder vor Julias Augen erstehen zu lassen. Zuerst war es nur schwarz wie die Nacht vor Julias innerem Auge. Aber dann schälten sich die Konturen einer bizarren Moorlandschaft aus der Dunkelheit. Der Boden war dicht mit weichem Moos und Gräsern bewachsen. Alles wirkte so unberührt. Aber dann kamen sie! Graue, pelzige Gestalten, die sich auf allen vieren vorwärts bewegten. Aus ihren Nüstern drang dampfender Atem. Sie sahen auf den ersten Blick aus wie Wölfe. Aber je näher die Tiere kamen, desto genauer war ihre massige Gestalt zu erkennen. Sie waren groß, ihre Beine übernatürlich lang. Der Schädel war kantig, und die rotglühenden Augen waren von einer Boshaftigkeit beseelt, die Julia das Blut in den Adern gefrieren ließ. Die junge Frau wurde unruhig. »Es ist nur ein Traum«, redete Joe Villach beruhigend auf sie ein. »Du hast nichts zu befürchten!« Daraufhin beruhigte sich Julia wieder ein wenig. Ihr Atem wurde ruhiger, und fast teilnahmslos konnte sie mit ansehen, wie die Werwölfe ausscherten und einen Kreis um sie zogen. Doch plötzlich drang die Stimme des Therapeuten wieder an ihr Ohr. Sie klang emotionslos und kühl. »Schau dir die Wesen genau an«, sagte er. »Sie können dir nichts anhaben, denn sie existieren nur in deinem Kopf. Also kannst du sie auch ruhig ansehen.« Julia tat, was Joe Villach ihr riet. Aber es kostete sie einige Überwindung, die grauenhaften Wesen genauer anzusehen.
Die Bedrohung, die von ihnen auszugehen schien, konnte sie fast körperlich spüren. »Und nun sage mir, was dich am meisten an diesen Kreaturen ängstigt!« Unwillkürlich richtete sich ihre Aufmerksamkeit auf die großen Pfoten der Werwölfe. Die krallenbewehrten Klauen gruben sich tief in das weiche Moor. Hinterließen im Moos und im Gras deutliche Spuren. »Es sind ihre Spuren!« stieß Julia mit belegter Stimme hervor. »Ihre Pfoten hinterlassen deutliche Abdrücke. Moorwasser sammelt sich in ihnen, und der Mond spiegelt sich darin. Das Moor ist so weich, wie frisch gefallener Schnee. Die Spuren verlaufen kreisförmig um mich herum…« Ihre Stimme wurde immer lauter und eindringlicher. »Jetzt stampfen sie im Moor herum. Es gibt immer mehr Abdrücke. Das spiegelnde Mondlicht blendet mich. Und die Werwölfe kommen immer näher. Ich kann schon ihren Atem auf meiner nackten Haut spüren!« Mit einem Aufschrei warf sich Julia auf der Couch hin und her. Ihre Augen waren geschlossen, doch ihr Gesicht drückte unendliche Qualen aus. Joe Villach sprang erschrocken auf. Er ergriff Julia bei den Schultern und hielt sie fest, damit die junge Frau nicht von der Couch rutschte. »Komm zu dir!« rief er eindringlich. »Es ist nur ein Traum! Und jetzt mußt du aufwachen. Ich befehle es dir!« Schlagartig kam Julia wieder zu sich. Ihr Körper zitterte vor Anspannung. Schweißperlen standen auf ihrer Stirn. »Es ist gut«, sagte Joe Villach einfühlsam, als er Julias ängstlichen Blick bemerkte. »Sie sind fort. Du bist in Sicherheit!«
Es dauerte noch ein paar Minuten, ehe Julia sich wieder völlig gefaßt hatte. Aber schließlich erhob sie sich von der Couch und setzte sich auf einen Ledersessel. »Ich fürchte, ich bin ein sehr schwieriger Fall«, stellte sie mit einem unsicheren Lächeln fest. »Habe ich mich sehr danebenbenommen?« Joe Villach winkte ab. »Dafür bist du ja hier«, beschwichtigte er ihr schlechtes Gewissen. »Du kannst dich hier geben, wie dir zumute ist. Und du kannst mir glauben, daß ich im Laufe meines Berufslebens schon viele sonderbare Dinge erlebt habe. Eine Horde Werwölfe ist da noch relativ harmlos!« Julia sah Joe dankbar an. Sie wußte, daß der junge Therapeut noch nicht so viel Erfahrung gesammelt haben konnte, wie er behauptete. Dafür war er einfach noch nicht lange genug im Geschäft. Aber sie rechnete es Joe hoch an, daß er versuchte, ihre Verlegenheit abzubauen. Julia kramte eine Zigarette aus ihrer Handtasche. Als sie sie anstecken wollte, bemerkte sie, wie sehr ihre Hände noch zitterten. Joe Villach war an das Fenster getreten und schaute nachdenklich hinaus. Für einen Augenblick herrschte Stille im Raum. Doch dann wandte sich der Therapeut wieder zu Julia um. »Ich muß zugeben, daß mich die Heftigkeit deiner Träume überrascht«, sagte er. »Du hast das weiche Moor mit frisch gefallenem Schnee verglichen. Ich glaube, das ist ein entscheidender Hinweis. Die Fußspuren, die du damals im Central Park bei den Leichen deiner Eltern gesehen hast, hatten streunende Hunde im Schnee hinterlassen. Diese Spuren müssen damals einen starken Eindruck auf dich gemacht haben. Du hast sie als bedrohlich empfunden und sie irgendwie mit dem Tod deiner Eltern in Beziehung gebracht. Und nun sind diese harmlosen Hundespuren im Laufe der Jahre zum
Inbegriff für Gefahr für dich geworden. Und deine Phantasie hat die streunenden Hunde zu grauenhaften Werwölfen mutieren lassen.« Joe Villach hielt einen Augenblick inne, um das Gesagte wirken zu lassen. Dann fuhr er fort: »Ich bin davon überzeugt, daß dich dieser Traum immer dann aufsucht, wenn du dich durch irgend etwas bedroht siehst. Gibt es momentan irgend etwas, was dich bedrückt, was dir angst macht?« Julia überlegte einen Moment. Aber sosehr sie sich auch anstrengte, ihr fiel nichts ein. Ihr Leben verlief so wie immer. Sie ging zur Arbeit, hatte dort ihre Freunde. Und abends kehrte sie wieder in ihr Apartment zurück. Es gab nichts, was sie dabei als bedrohlich empfunden hätte. Zwar hatte sie immer wieder mit einem Gefühl der Einsamkeit zu kämpfen, wenn sie am Abend in ihre verlassene Wohnung heimkehrte. Sie sehnte sich sehr nach einem Lebenspartner, einem Mann, den sie lieben konnte und der für sie da war. Aber sie war nicht bereit, diese Sehnsucht Joe Villach einzugestehen. Außerdem glaubte sie nicht, daß ihre Einsamkeit die grausamen Werwolfträume hervorrief! Julia zuckte ratlos mit den Schultern. »Mir fällt im Augenblick nichts ein«, gestand sie. »Mein Leben verläuft harmonisch.« »Nun gut«, erwiderte ihr Gegenüber. »Das sollte auch für heute genügen. Wir sind ein gutes Stück vorangekommen. Ich bin mir sicher, daß wir deinen Traum bald entschlüsseln können.« Julia erhob sich. Die Therapiestunde war zu Ende. Die junge Frau streifte ihre Schuhe wieder über und ließ sich von Joe Villach zur Tür geleiten. In wenigen Minuten würde sie wieder in ihrem einsamen Apartment sein. Allein mit sich und ihren Alpträumen… Am nächsten Morgen fühlte sich Julia frisch und ausgeruht.
Die Alpträume hatten sie diese Nacht nicht wieder gequält. Sie war zuversichtlich und unternehmungslustig. Julia dachte auf dem Weg zur Anwaltskanzlei an die Worte von Joe Villach. Mit seiner Vermutung, die Hundespuren im Schnee des Central Parks und die der Werwölfe in ihren Alpträumen stünden in einer Beziehung zueinander, hatte er mit Sicherheit recht. In der jungen Frau keimte die Hoffnung auf, daß sich die Alpträume verflüchtigen würden, sobald sie ihre Ursachen erkannt hatte. Der Tag verlief völlig normal. Julia fand sogar den Mut, sich für den Abend mit einigen ihrer Kollegen zu einem Kinobesuch zu verabreden. Seit dem Tod ihrer Eltern lebte Julia sehr zurückgezogen. Sie scheute den Kontakt mit anderen Leuten, weil sie immer befürchten mußte, ihre persönlichen Probleme würden eine Freundschaft erdrücken. Und wenn Julia doch einmal etwas unternahm, vergewisserte sie sich immer vorher, daß sie dabei dem Central Park nicht zu nahe kamen. Doch an diesem Tag war ihr selbst das egal. Sie hatte ihre Angst in der Kinovorstellung einfach vergessen. Und erst als sie mit den Kolleginnen und Kollegen in ausgelassener Stimmung durch die Straßen von Manhattan schlenderte, auf der Suche nach einem geeigneten Restaurant, bemerkte sie plötzlich, daß sie sich auf der Fifth Avenue Richtung Norden bewegten. Unweigerlich mußten sie dabei auf den Südteil des Central Parks stoßen! Julia wurde unruhig. Aber sie verstand es geschickt, ihre Gefühle vor ihren Freunden zu verbergen. Unauffällig schlug sie vor, in die nächste Seitenstraße einzubiegen, um dort nach einem Restaurant Ausschau zu halten. Aber die Gesellschaft hörte nicht auf Julia. Man hatte sich auf ein Lokal in der Nähe des Plaza Hotels geeinigt. Es war eine
teure Gegend, aber davon ließen sich Julias Kolleginnen und Kollegen an diesem Abend nicht stören. Und während sie die Fifth Avenue weiter hinaufgingen, unterhielten sie sich ungezwungen über den Film, den sie im Kino gesehen hatten. Nur Julia mochte sich an dem Gespräch nicht beteiligen. Die Angst schnürte ihr plötzlich die Kehle zu, denn hinter dem prächtigen Gebäude des Plaza Hotels tauchte im Schein der Straßenlumpen die graue unansehnliche Mauer auf – die Mauer, die den Central Park umgab! Julia schluckte. Unwillkürlich wurden ihre Schritte langsamer. Ihr kam es so vor, als hätte ihr jemand Bleigewichte um die Fußknöchel gebunden. Seit dem Tod ihrer Eltern hatte sie den Central Park nicht mehr gesehen! Plötzlich spürte sie eine Hand auf ihrer Schulter. Julia zuckte erschrocken zusammen. »Was ist mit dir?« hörte sie die besorgte Stimme von Natalie Perlworth, die eine enge Mitarbeiterin von ihr war. »Ach, nichts«, wehrte Julia verlegen ab. »Ich bin nur schon ein wenig müde.« An Natalies Seite fühlte Julia sich schon ein wenig sicherer. Verstohlen blickte sie immer wieder zu der grauen Mauer auf der anderen Straßenseite hinüber. Und dann hatten ihre Kollegen endlich ein Restaurant nach ihrem Geschmack gefunden. Es lag in einem dieser sündhaft teuren Apartmenthäuser, wo zu wohnen sich nur Stars oder Wirtschaftsbosse leisten konnten. Und zu allem Überfluß befand sich dieses Restaurant auch noch im fünften Stock des Hochhauses – mit Ausblick auf den nächtlichen Central Park! Der livrierte Kellner des Restaurants wies der fröhlichen Gesellschaft einen Tisch an einem der großen Panoramafenster zu. Die leicht getönten Scheiben reichten von der Decke bis hinab zum Fußboden.
»Ein herrlicher Ausblick!« rief Natalie aus, und sie beeilte sich, für sich und Julia einen Platz direkt am Fenster zu ergattern. Julia ließ alles willenlos über sich ergehen. Sie focht in ihrem Inneren einen verzweifelten Kampf. Und sie wußte nicht, ob sie gleich losschreien oder Hals über Kopf davonrennen würde. Aber Julia riß sich zusammen. Sie bemühte sich, nicht aus dem Fenster zu schauen, obwohl die Versuchung groß war. Statt dessen konzentrierte sie sich auf die Speisekarte oder versuchte sich am Gespräch der anderen zu beteiligen. Eine Zeitlang hielt Julia diese Anstrengung durch. Sie glaubte schon, den Abend ohne peinliche Szene überstehen zu können, da stieß Natalie plötzlich einen entsetzten Laut aus. »Oh, schaut nur, diese armen Hunde!« rief sie mit übertriebenem Mitleid in der Stimme aus. Mit ihrer schlanken Hand deutete sie auf das Panoramafenster. »Es ist eine ganze Horde. Seht nur, was sie dort treiben!« Die Aufmerksamkeit der ganzen Gesellschaft richtete sich nun auf den Central Park. Auch Julia konnte nicht umhin, ihren Kopf in diese Richtung zu wenden. Es war wie ein Reflex. Sie versuchte sich noch dagegen zu wehren, aber wie unter einem fremden Zwang richtete sich ihr Blick auf den Park… Es war wie ein Schock. Der Park lag in all seiner nächtlichen Schönheit unter ihr ausgebreitet. Die Parkbeleuchtung riß hier und da eine Baumgruppe, Sträucher oder Rasenflächen aus der Dunkelheit. Sogar ein Teil des verästelten Sees war zu erkennen. »Die armen Tiere«, drang die Stimme eines Kollegen an Julias Ohr. »Sie werden von ihren Besitzern ausgesetzt, wenn sie ihnen zu lästig werden. Eine Schande ist das!« Und nun sah Julia auch, was ihre Kollegen so aufregte. Es war ein Rudel freilaufender Hunde, die sich geschmeidig über
eine der Rasenflächen bewegten. Ihre Köpfe hielten sie gesenkt, die Schultern waren nach vorn geneigt. Es war ersichtlich, daß sich unter den Hunden ein Konflikt anbahnte. Der Großteil des Rudels bildete einen Kreis. In der Mitte aber standen sich zwei kräftige Hunde mit grauem Fell gegenüber. »Sie kämpfen um die Vorherrschaft im Rudel«, kommentierte einer der Anwesenden. »Wenn sie frei herumlaufen, nehmen sie wieder die tierischen Angewohnheiten an. Es ist erschreckend!« Und plötzlich gingen die beiden Kontrahenten aufeinander los. Mit gefletschten Zähnen griffen sie an. Julia hätte ihren Blick am liebsten wieder abgewandt, aber sie konnte es einfach nicht. Sie war unfähig, sich zu rühren. Die Kommentare der Menschen, die vom Restaurant aus den Kampf beobachteten, wurden immer erregter. Viele zeigten sich über das grausame Verhalten der ehemaligen Haustiere geschockt. Aber es sind doch gar keine Hunde! schrie etwas in Julia. Sieht es denn niemand? Es sind Werwölfe. Große graue Werwölfe! Julia begann zu zittern. Die Gabel, die sie in der Hand gehalten hatte, glitt ihr aus den Fingern. Klirrend fiel sie auf den Teller. Vor Schreck stieß Julia auch noch ein Glas Rotwein um. Das lenkte die Aufmerksamkeit ihrer Kolleginnen und Kollegen wieder auf den Tisch. Entsetzt sahen sie Julia an, die mit schreckgeweiteten Augen aus dem Fenster starrte. Ihre Hände zitterten, und ihre Lippen bebten. »Julia, was hast du?« fragte Natalie besorgt. Aber ihre Worte drangen nicht mehr bis zu Julias Bewußtsein vor. Ihr ganzes Denken war nur von einem einzigen Gedanken erfüllt: Die Werwölfe sind zurückgekommen!
Natalie berührte ihre Kollegin an der Schulter, aber Julia blieb unansprechbar. Wie hypnotisiert beobachtete sie den Kampf der Hunde, und ihr Gesicht war vor Grauen verzerrt, als hätte sie den leibhaftigen Tod vor sich. Inzwischen hatte die Auseinandersetzung unten im Park ihren Höhepunkt erreicht. Einer der beiden Hunde war unterlegen. Er lag mit dem Rücken auf dem Boden. Sein Gegner stand hechelnd über ihm. Und während der Unterlegene in einer unterwürfigen Geste dem Sieger seine Kehle darbot, schnappte der künftige Anführer des Rudels einmal kurz danach. Doch dann ließ er von dem Verlierer ab, der sich schnell unter das Rudel mischte. Der Sieger aber stimmte ein triumphierendes Geheul an. Zwar drang von diesen Lauten nichts bis in das Restaurant, da die dreifach verglasten Fenster jedes Geräusch, das von der Straße heraufdrang, schluckten. Aber Julia konnte an dem weit aufgerissenen Maul, an dem Kopf, den das Tier in den Nacken geworfen hatte, erkennen, daß es aus Leibeskräften seinen Sieg in den nächtlichen Himmel schrie. Dann war das Rudel plötzlich wieder verschwunden. Julia blinzelte verwirrt und schüttelte benommen den Kopf. Als sie sich vom Fenster abwandte, bemerkte sie, daß ihre Kolleginnen und Kollegen sie besorgt, aber auch leicht irritiert musterten. Julia sah sich um und mußte mit wachsendem Unbehagen feststellen, daß auch all die anderen Gäste sie verstohlen beobachteten. Eine peinliche Stille war entstanden. Einige ihrer Tischnachbarn begannen verlegen in ihrem Essen herumzustochern. Unsicher wandte sich Julia an Natalie. Sie konnte sich nicht daran erinnern, irgend etwas getan zu haben, was dieses sonderbare Verhalten der anderen rechtfertigte.
»Was ist geschehen?« fragte sie. Sie mußte sich räuspern und verstand nicht, warum ihre Stimmbänder so rauh waren. Natalie sah Julia besorgt an. »Erinnerst du dich denn nicht mehr?« fragte sie leise. »Du hast geschrien. So entsetzlich geschrien, daß mir eine Gänsehaut über den Rücken gekrochen ist!« Julia bemerkte, wie ihr die Röte ins Gesicht schoß. Nun war es doch geschehen. Sie hatte sich vor ihren Freunden lächerlich gemacht. Ihr Problem mit den Alpträumen hatte sich nun zum erstenmal in der Öffentlichkeit bemerkbar gemacht. Julia entschuldigte sich und erhob sich abrupt. So schnell wie möglich wollte sie diesen Ort verlassen. Natalie bot ihrer Kollegin an, sie zu begleiten, aber Julia lehnte energisch ab. Wenige Minuten später saß sie in einem Taxi und ließ sich nach Hause fahren. In ihrem Apartment angekommen, warf sie sich aufs Bett und ließ ihren Tränen freien Lauf. Wie soll das nur weitergehen? dachte sie verzweifelt. Wenn ich nicht bald eine Lösung für mein Problem finde, werde ich noch wahnsinnig… Zu ihrer eigenen Überraschung blieb Julia in dieser Nacht von ihrem Alptraum verschont. Den ganzen Morgen über zermarterte sie sich das Gehirn darüber, wie sie den Vorfall im Restaurant vor ihren Kolleginnen und Kollegen rechtfertigen konnte. Aber ihr fiel keine passende Ausrede ein, als daß der Schreianfall auf Überarbeitung und Schlaflosigkeit zurückzuführen sei. Bevor sie zur Arbeit ging, versuchte sie, Joe Villach zu erreichen. Aber außer seiner Sekretärin war niemand in der Praxis. Also machte Julia sich mit gemischten Gefühlen auf den Weg zur Anwaltskanzlei. Schon als sie das große Büro in dem Hochhaus betrat, spürte sie die Blicke der Mitarbeiter auf sich ruhen. Getuschelte
Worte drangen an ihr Ohr. Und kaum hatte sie hinter ihrem Schreibtisch Platz genommen, wurde sie auch schon von McRowland persönlich in sein Büro gerufen. Mr. McRowland war der Gründer der Kanzlei. Die Fünfzig hatte er bereits überschritten. Aber sein gebräuntes energisches Gesicht und die zwar silbergrauen, aber kräftigen Haare verrieten, daß McRowland sich junger fühlte, als er war. Julia nahm auf einem Besucherstuhl Platz. Sie ahnte, warum McRowland sie in sein Büro zitiert hatte. »Mir sind da ein paar unangenehme Dinge über Sie zu Ohren gekommen«, kam der Anwalt gleich zur Sache. »Sie wissen, daß wir nur angesehene Gesellschaften und Klienten vertreten. Sie zählen auf den reibungslosen Verlauf unserer Arbeit. Und ich möchte nicht, daß der Eindruck entsteht, wir würden unsere Mitarbeiterinnen an den Rand ihrer Leistungsfähigkeit zwingen!« McRowland legte eine Pause ein und sah Julia durchdringend an. Aber die junge Frau senkte den Blick und schwieg. Sie war nicht bereit, ihrem Vorgesetzten ihre Probleme zu erklären. »Wenn Sie sich nicht gut fühlen, rate ich Ihnen, Urlaub zu nehmen«, fuhr McRowland schließlich fort. »Ich denke, es liegt auch in Ihrem Interesse. Ich weiß Ihre Arbeit wirklich zu schätzen. Aber eine unausgeglichene Julia Kildare ist für unsere Kanzlei noch schädlicher als selbst ein verlorener Prozeß!« Julia sah wieder auf und schaute in das freundlich lächelnde Gesicht ihres Gegenübers. »Ich werde mir Ihre Worte zu Herzen nehmen«, sagte sie. »Und wenn ich der Meinung bin, es nicht mehr zu schaffen, werde ich meinen Urlaub bei Ihnen einreichen.« Mit diesen Worten erhob sie sich. Mehr konnte sie in dieser Situation nicht sagen. Schließlich konnte sie McRowland schlecht erzählen, daß es für sie noch schlimmer werden
würde, wenn sie nicht mehr arbeiten konnte. Die Arbeit lenkte sie von ihren Problemen ab. Von Problemen, mit denen sie langsam nicht mehr fertig wurde… Drei Tage verstrichen, ohne daß irgend etwas Nennenswertes passierte. Was Julia am meisten beruhigte, war die Tatsache, daß sich die Alpträume nicht wiederholten. Sonst war sie immer mehrere Wochen hintereinander davon heimgesucht worden, aber diesmal war es anders. Sie hatte nur eine einzige Nacht von den Werwölfen geträumt und seitdem nicht wieder! Julia schöpfte allmählich Hoffnung, das Problem könnte sich ganz von allein erledigt haben. Und dem Vorfall im Restaurant maß sie nicht mehr allzuviel Bedeutung bei. Sie glaubte schließlich selber, Opfer ihrer überspannten Nerven geworden zu sein. Julia bekam nach drei Tagen einen Termin bei Joe Villach. Aber die Sitzung brachte nicht viele neue Erkenntnisse über ihren Zustand. Joe bekräftigte nur noch einmal seine Theorie über den Zusammenhang zwischen dem Tod ihrer Eltern und dem Werwolftraum. Die Lage verschärfte sich erst wieder, als am vierten Tag ein Brief eintraf. Julia leerte den Briefkasten immer vor dem Frühstück. Gewöhnlich war außer Werbeprospekten und Schreiben von der Bank oder der Telefongesellschaft nichts darin. Um so überraschter war sie, als sie zwischen einem Stapel Postwurfsendungen einen Brief aus Irland entdeckte. Ungelesen warf sie die Werbung in den Behälter für das Altpapier. Dann machte sie es sich an dem Frühstückstisch gemütlich und riß voller Ungeduld das Kuvert auf. Der Absender verriet, daß es sich um den Brief eines irischen Notariats handelte. Julia runzelte die Stirn, denn sie konnte sich nicht erklären, was ein irischer Notar von ihr wollte.
In dem Kuvert befanden sich mehrere Bogen. Einer war mit Schreibmaschine geschrieben und trug denselben Absender wie der Briefumschlag. Die drei anderen Bogen aber waren mit einer zittrig wirkenden Handschrift vollgeschrieben. Unterzeichnet war das ganze von einem gewissen Gerrit Eire. Julia breitete den Schreibmaschinenbogen zwischen den Brötchen und dem Kaffeebecher aus und begann zu lesen. Ihre Hände begannen vor Aufregung zu beben, als sie Wort für Wort in sich aufnahm. In der für Notare üblichen distanzierten und bürokratischen Sprache wurde Julia mitgeteilt, daß ihr als Alleinerbin die Hinterlassenschaft einer Tante dritten Grades zugesprochen wurde. Es handelte sich dabei um eine alte Burgruine samt Einrichtung und ein bescheidenes Bankvermögen. Das Anwesen befand sich in der Grafschaft Sligo, die zur Provinz Connacht gehört. Julia dachte angestrengt nach. So weit sie wußte, hatten ihre Eltern nie von dieser Tante gesprochen. Auch während der wenigen Male, die sie mit ihren Eltern nach Irland gefahren war, war nie die Rede von irgendwelchen Verwandten gewesen. Julia las den kleinen Anhang, den der Notar an den offiziellen Teil des Schreibens angefügt hatte: Anbei finden Sie einen Brief des Verwalters der alten Burg. Er hat mich dringend gebeten, Ihnen seine Zeilen zukommen zu lassen. Da er ein alter Mann ist, der sein ganzes Leben lang in den Diensten Ihrer Tante stand, habe ich ihm diese Bitte nicht verweigern können. Ich bitte Sie also höflichst, den Brief von Gerrit Eire wohlwollend zur Kenntnis zu nehmen! Julia faltete die Bogen wieder zusammen. Ihr würde keine Zeit mehr bleiben, den Brief des Verwalters zu lesen. Der Brief des Notars hatte sie aufgehalten, und sie wollte nicht zu spät in die Kanzlei kommen.
Also legte sie den Brief neben ihrem Bett auf den Nachttisch. Heute abend würde sie genügend Zeit haben, den handgeschriebenen Brief zu lesen! In der Kanzlei wartete viel Arbeit auf Julia Kildare. Eine besonders verzwickte Verhandlung mußte vorbereitet werden. Julia durfte keine Fehler begehen, mußte jede Kleinigkeit prüfen, ob sie sich zugunsten des Klienten einsetzen ließ. Über diese Arbeit vergaß Julia den Brief beinahe. Nur ab und zu, wenn sie etwas Zeit hatte, dachte sie mit Freuden an die unverhoffte Erbschaft. Aber so richtig anfreunden konnte sie sich mit diesem Gedanken noch nicht. Auch wußte sie nicht, was sie mit der Erbschaft überhaupt anfangen sollte. Dann war es endlich soweit. Nach Büroschluß ließ sie sich mit einem Taxi nach Hause fahren. Ihre Ungeduld war so groß, daß sie für die zeitraubende Fahrt mit der Metro keine Ruhe mehr hatte. Als sie ihr Apartment dann endlich erreicht hatte, schlüpfte sie schnell unter die Dusche, machte sich in der Mikrowelle ein Menü warm und begab sich dann, nur mit einem Morgenmantel bekleidet, in ihr Schlafzimmer. Die beschriebenen Briefbogen lagen unverändert auf ihrem Nachttisch. Und während Julia die kleine Mahlzeit zu sich nahm, las sie noch einmal den Brief des Notars durch. Es bestand kein Zweifel. Sie hatte eine alte Burg in Irland, ihrer Heimat, geerbt! Julia hätte in diesem Moment ihre Freude am liebsten mit jemandem geteilt. Aber sie wußte nicht, mit wem. Wieder einmal wurde ihr schmerzlich bewußt, daß sie keine richtigen Freunde hatte. Also widmete sie sich dem Brief von Gerrit Eire, dem Verwalter der Burg. Es dauerte eine Weile, ehe sie sich in die fahrige Handschrift des alten Mannes eingelesen hatte. Aber dann konnte sie den Text flüssig lesen.
Gerrit Eire schilderte in eindringlicher Weise den Zustand der alten Burg. Er sprach davon, daß Julia sich keine falschen Hoffnungen über ihre Erbschaft machen sollte. Die Burg wäre in einem äußerst vernachlässigten Zustand. Renovierungsarbeiten waren dringend erforderlich. Renovierungsarbeiten, deren Kosten in keiner Weise durch das zu vermutende Barvermögen der Tante gedeckt werden könnten. Dann berichtete er über verschiedene Legenden, die sich um die Burg rankten. Die Erbauer der Burg waren hartherzige und raffgierige Adlige gewesen. Sie hatten Raubzüge durch ganz Irland unternommen und dabei reiche Beute gemacht. Auch mit den Bauern waren sie auf grausame Weise umgegangen, hatten sie ausgenommen und sie der Armut total preisgegeben. Der schlechte Ruf der Erbauer hatte sich über die Jahrhunderte hinweg unlösbar mit der Burg verbunden. Das Geschlecht der Erbauer war freilich schon lange ausgestorben. Sie hatten im Moor das grausame Ende gefunden, das sie verdienten. Die Bauern hatten sich eines Nachts zusammengetan und die ganze verdorbene Sippe ins Moor getrieben, wo sie jämmerlich ertrank. Die Geister der Burgherren sollten angeblich noch immer dort ihr Unwesen treiben. Diesen Geschichten war es Eires Angaben nach auch zu verdanken, daß sich die Burg bei den Anwohnern einen schlechten Ruf bewahrt hatte. Man mied den Kontakt mit den Eigentümern, wo immer man konnte. Ein bedauerlicher Umstand, den Julias Tante oft zu spüren bekam. Nur ab und zu verirrte sich mal ein Neugieriger in die alten Gemäuer, denn einer Legende nach sollte irgendwo in der alten Burg ein unermeßlicher Schatz liegen. Es sollte sich den Erzählungen nach um die kostbarsten Gegenstände aus den Beutezügen der Erbauer handeln. Nur hatte diesen Schatz bisher niemand gefunden.
Julia schaute von dem sonderbaren Brief des alten Verwalters auf. Sie überlegte, was sie von alledem halten sollte. Die unbekannte Tante tat ihr plötzlich leid. Sie mußte ein einsames, entbehrungsreiches Leben geführt haben. Ähnlich wie sie selbst. Nur daß Julia noch das brodelnde Leben einer Großstadt um sich hatte, die Tante aber nur die öde Moorlandschaft von Sligo. Julia spürte, wie ihr bei der Vorstellung, wie einsam diese Tante hatte leben müssen, eine Gänsehaut über den Rücken kroch. Sie zog ihren Morgenmantel über der Brust zusammen und schlüpfte unter die dünne Decke. Doch dann widmete sie sich wieder dem Brief. Der Verwalter bat Julia zum Schluß, sich die Mühe zu machen und nach Sligo zu reisen, um sich selbst ein Bild von der alten Burg zu machen. Und er bot sich an, sich so lange zur Verfügung zu halten, bis Julia eingetroffen war und eine Entscheidung über das weitere Schicksal der Burg gefällt hatte. Natürlich war diese Gefälligkeit nicht ganz uneigennützig, wie Gerrit Eire unverblümt zugab. Er war ein alter Mann, der nicht so leicht eine neue Anstellung finden würde. Außerdem war es sehr unwahrscheinlich, daß ihn überhaupt jemand einstellen würde. Denn jemanden, der sein ganzes Leben lang in einer verfluchten Burg gedient hatte, würde man nirgendwo anders gerne dulden. Damit war der Brief zu Ende. Julia legte die Bogen auf den Nachttisch und löschte die Lampe. Durch die dünnen Vorhänge sickerte trübe das Mondlicht und, das Zucken einer Neonreklame. Julia überlegte, wie sie mit der Burg verfahren sollte. Sie verfügte nicht über genügend Geld, um eine Renovierung bezahlen zu können. Außerdem hatte sie nicht vor, in eine verrufene Burg zu ziehen, um dort das gleiche Schicksal zu erleiden wie ihre unbekannte Tante.
Julia versuchte sich vorzustellen, wie es wäre, in einem Hochmoor zu leben, um sich herum nichts als modriges Wasser, Tümpel, Moos und Gräser. Wieder begann Julia zu frösteln. Sie zog sich die Decke bis über die Schultern und schloß die Augen. Bald darauf war sie eingeschlafen…
*
Julia hatte noch nicht lange geschlafen, als sie plötzlich abrupt aufschreckte. Gehetzt schaute sie sich um. Irgend etwas hatte sie geweckt! Aber noch konnte sie nicht erkennen, was es gewesen war. Es herrschte eine undurchdringliche Dunkelheit um sie herum. Ihr war kalt, und in der Luft lag ein sonderbarer Geruch. In diesem Augenblick riß die schwarze Wolkendecke auf, und der Vollmond kam zum Vorschein. Die bleichen Strahlen huschten gespenstisch über Moose und Gräser. Julia begriff nicht, was geschehen war. Sie wollte sich aufrichten, aber ihre Hände versanken in einer weichen, kalten Masse. Angewidert schaute Julia auf ihre Hände. Das Moor hatte sie bis zu den Ellenbogen verschluckt! Mit einem schrillen Aufschrei befreite sie ihre Hände wieder aus dem nassen Moor. Vorsichtig erhob sie sich, immer darauf bedacht, keine unnötige Bewegung zu machen, denn der Untergrund war schlammig, und Julia spürte, daß sie nur durch eine dünne Schicht aus Wurzelgeflecht und verfilztem Moos getragen wurde. Darunter befand sich das unauslotbare Moor! Julia schaute mit wachsendem Unbehagen an sich hinab. Sie trug immer noch den weißen Morgenmantel, mit dem sie ins
Bett gegangen war. Nur hatte sich der plüschige Stoff bereits mit braunem Moorwasser vollgesogen. Naß und schwer hing das Kleidungsstück an ihr herab. Doch plötzlich wurde ihre Aufmerksamkeit auf etwas anderes gelenkt. Ihr nasser Morgenmantel war sofort vergessen. Es war ein Geräusch, das Julia zusammenfahren ließ. Ein allzu vertrautes, aber gefährliches Geräusch. Das Knurren eines Wolfes! Julia wandte sich entsetzt um. Und dann sah sie die Tiere! Sie schlichen geduckt durch das hohe Gras. Ihr graues Fell schimmerte feucht im Mondlicht. Die roten Augen glühten wie Kohlen. Da schoben sich plötzlich die Wolken wieder vor den Mond. Es wurde finster um die junge Frau herum. Nur diese entsetzlichen rotglühenden Augenpaare funkelten in der Dunkelheit. Und sie kamen immer näher! Julia zitterte am ganzen Körper. Aber diesmal schaffte sie es irgendwie, die lähmende Angst zu überwinden. Sie wirbelte herum und rannte blind drauflos. Das Moor gab unter ihren nackten Füßen nach. Bei jedem Schritt sank sie bis zu den Knöcheln in das feuchte Moos ein. Aber Julia war das egal. Sie wollte nur fort von hier. Fort von den häßlichen Wolfsgestalten. Aber die Werwölfe waren nicht gewillt, Julia so einfach entkommen zu lassen. Sie stimmten ein schauriges Geheul an und nahmen die Verfolgung auf. Kurz darauf konnte Julia den hechelnden Atem der Tiere hören. Und wie es sich anhörte, waren sie schon verdammt nah! Julia verdoppelte ihre Anstrengungen. Sie rannte nun noch schneller, achtete nicht auf das brackige Wasser, das ihr um die Beine schlug. Plötzlich vernahm sie ein unterdrücktes Knurren.
Julia wandte den Kopf zur Seite und sah den Werwolf, der in geschmeidigen, kraftvollen Sätzen neben ihr herlief. Es schien ihm keine Mühe zu bereiten, mit Julia Schritt zu halten. Und in diesem Moment begriff Julia, was die Wölfe im Schilde führten. Sie spielen nur mit mir! schoß es ihr durch den Kopf. Sie spielen mit mir, so wie eine Katze mit ihrer Beute spielt, ehe sie sie verschlingt! Nun hatten auch die anderen Werwölfe Julia eingeholt. Die junge Frau wollte voller Panik die Richtung ändern, aber sie mußte feststellen, daß sie bereits eingekreist war. Einen Augenblick war sie unachtsam gewesen. Ein Grasbüschel, das sich aus dem Moor erhob, hatte sie übersehen. Julia stolperte und fiel der Länge nach hin. Sofort begann sie im Moor zu versinken. Ihre Arme, die sie instinktiv ausgestreckt hatte, um den Fall abzufangen, versanken bis zu den Schultern im kalten Wasser. Dann spürte sie, wie auch die Beine, die Hüfte und auch der Bauch die dünne Decke aus Wurzelgeflecht durchstießen und sie in den undefinierbaren Brei aus Wasser und vermoderten Pflanzenresten eindrang. Julia schrie aus Leibeskräften. Aber nicht lange, denn schon drang etwas von dem übelriechenden Wasser in ihren Mund und erstickte den Schrei. Noch einmal gelang es ihr, den Kopf anzuheben. Der Mond schien gerade durch ein großes Wolkenloch und tauchte die unheimlichen Wölfe in ein fahles Licht. Sie standen in einem engen Kreis um ihr Opfer herum. Sahen seelenruhig zu, wie Julia um ihr Leben rang. Ihre Lefzen waren dabei sonderbar verzerrt. Julia kam es so vor, als würden die Tiere lächeln. Es war ein schadenfrohes, zufriedenes Lächeln. Dieses Bild stand Julia noch vor Augen, als das Moor sie vollständig in sich aufnahm. Julia wollte strampeln und sich mit Schwimmbewegungen wieder an die Oberfläche bringen,
aber das Moor um sie herum war zäh wie Brotteig. Die Bewegungen fielen ihr schwer, forderten mehr Kraft, als sie noch besaß. Und dann hatte sie plötzlich das Gefühl, ersticken zu müssen. Sie riß den Mund weit auf, aber alles, was in ihre Lungen drang, war eiskaltes, brackiges Wasser!
*
Julia schlug wie verrückt um sich. Das Atmen fiel ihr schwer, denn die dünne Bettdecke hatte sich um ihren Kopf gelegt. Auch ihre Arme und Beine hatten sich hoffnungslos in der Decke verheddert. Als Julia bemerkte, daß sie sich in ihrem Apartment in New York befand, wurde sie schlagartig ruhiger. Sie befreite sich von der Bettdecke und atmete mehrmals tief durch. Die kühle Luft tat ihren Lungen wohl. Und die Erkenntnis, daß alles nur ein Traum gewesen war, stimmte sie erleichtert. Aber wie immer nach diesen Träumen, so hielt auch diesmal die Erleichterung nicht sehr lange an. Es wird immer schlimmer, dachte Julia besorgt. Die Träume werden von Mal zu Mal realistischer! Mit Schaudern mußte Julia daran denken, wie täuschend echt ihr das Moor vorgekommen war. Sie hatte die Wurzelgeflechte unter ihren Füßen gespürt, das brackige Wasser darunter. Es war alles so gewesen, als hätte sie ihren Untergang im Moor wirklich erlebt. Julia fröstelte. Sie erhob sich und schloß das Fenster. Dann ertappte sie sich dabei, wie sie den Morgenmantel, in dem sie eingeschlafen war, nach braunen Wasserflecken absuchte. Aber natürlich war nichts dergleichen zu bemerken. Der
Morgenmantel war schneeweiß und nur über der Brust ein wenig feucht: Angstschweiß! Julia streifte den Morgenmantel ab und begab sich unter die Dusche. Danach fühlte sie sich wieder einigermaßen frisch. Als sie sich dann aber ins Bett legte, konnte sie lange nicht wieder einschlafen. Gedanken quälten sie. Gedanken, die sie nicht ordnen konnte, die sie beängstigten. Morgen muß ich mir wieder einen Termin bei Joe Villach geben lassen, dachte Julia resigniert. Sie hatte sich schon so darauf gefreut, dem Psychologen mitzuteilen, daß sich ihr Zustand gebessert hatte. Aber nun war genau das Gegenteil eingetreten. Der Alptraum war grausamer gewesen als alle zuvor. Julia hatte ihren eigenen Tod geträumt! Joe Villach saß auf dem Sessel neben der Couch. Julia hatte die Augen geschlossen und berichtete über ihren Tag. Sie hatte bei McRowland nun doch ihren Urlaub eingereicht. Der alte Anwalt hatte ihr den Urlaub ohne Murren eingeräumt. Er besaß genug Menschenkenntnis, um zu erkennen, daß Julia Kildare den Urlaub mehr als nötig hatte. »Nun habe ich also vier Wochen Urlaub«, erklärte Julia in diesem Moment. »Ich habe gleich meinen ganzen Jahresurlaub genommen. Ich fühle mich richtig elend. So schlimm war es noch nie!« Joe Villach nickte mitfühlend und tätschelte Julias Hand. »Wir werden das schon wieder in den Griff bekommen«, versuchte er Julia aufzumuntern. Aber Julia seufzte nur tief. Viel Hoffnung hatte sie nicht. »Vielleicht bringen mich meine Alpträume eines Tages um«, sagte sie stockend. »Gestern nacht habe ich die Bettdecke so fest um mich gezogen, daß ich schon Atembeschwerden bekommen habe!«
»Das werden wir schon zu verhindern wissen«, behauptete der Psychologe zuversichtlich. »Zuerst erzählst du mir einmal genau, was vorgefallen ist.« Julia versuchte sich zu entspannen und berichtete dem jungen Mann mit müder Stimme, was in der letzten Zeit alles vorgefallen war. Sie fing mit dem Vorfall in dem Restaurant an, erzählte vom Central Park und den vermeintlichen Werwölfen. Joe Villach hörte ruhig zu. Ab und zu machte er sich ein paar Notizen auf seinem Schreibblock. Aber er unterbrach Julia kein einziges Mal. Dann schilderte die junge Frau ihren letzten Alptraum. Joe Villachs Miene verfinsterte sich ein wenig. »Ich muß zugeben, daß mir so ein furchterregender, realistischer Alptraum, der immer wiederkehrt, bisher noch nicht untergekommen ist«, gestand der Psychologe, als Julia ihre Erzählung beendet hatte. »Soll das heißen, ich bin unheilbar?« fragte sie ängstlich. »Keineswegs«, beeilte Joe Villach sich zu erwidern. »Ich habe lediglich festgestellt, daß du ein interessantes Phänomen bist.« Joe Villach sah die Frau dabei so sonderbar an, daß Julia nicht sicher war, wie sie diese Bemerkung verstehen sollte. »Wie dem auch sei«, wechselte der Psychologe rasch das Thema. »Wir werden deinen Werwölfen schon auf die Spur kommen. Letztes Mal haben wir ja schon festgestellt, daß der Tod deiner Eltern dabei eine wichtige Rolle spielt. Vielleicht sollten wir uns heute einmal auf die Bedeutung des Moores konzentrieren!« Joe Villach erhob sich und trat ans Fenster. »Welche Assoziationen kommen dir bei dieser Moorlandschaft?« fragte er. Julia war überrascht. Diese Frage hatte sie sich bisher noch nie gestellt. Sie überlegte kurz.
»Das ganze erinnert mich an Irland, meine Heimat«, antwortete sie schließlich. »Ich war einige Male mit meinen Eltern dort. Die weiten Moorlandschaften haben mich damals tief beeindruckt. Wenn ich an Irland denke, sehe ich immer diese grünen, nassen Wiesen vor mir.« »Aha«, sagte Joe Villach ruhig. »Kannst du dich daran erinnern, was du mit deinen Eltern in Irland unternommen hast?« »Wir haben unsere Ferien dort verlebt. Meine Eltern fanden es wohl wichtig, daß ich das Herkunftsland meiner Familie kennenlernte.« »Gab es Verwandte, die ihr besucht habt?« Julia stutzte. Schlagartig fiel ihr der Brief des irischen Notars wieder ein. Ohne es zu wollen, sagte sie: »Es gab eine Tante dritten Grades. Sie ist vor kurzem gestorben. Stell dir vor, ich habe eine Burg geerbt. Sie liegt in der Grafschaft Sligo, die für ihre Hochmoore bekannt ist.« Joe Villach wandte sich interessiert um. »Ich habe bis gestern nicht gewußt, daß ich eine Tante dritten Grades hatte«, fuhr Julia fort. »Meine Eltern haben mir nie etwas darüber erzählt. Wahrscheinlich ist sie die Tochter eines Stiefbruders meines Vaters. Ich weiß über die verwandtschaftlichen Verhältnisse meiner Vorfahren so gut wie nichts. Ich habe mir nie vorstellen können, wozu eine aufgeklärte New Yorkerin über weit entfernte Verwandte Bescheid wissen muß. Aber nun bereue ich es ein wenig, so wenig über meine Familie zu wissen.« »Hört sich interessant an«, sagte Joe Villach und trat wieder an die Couch heran. »Wahrscheinlich hat dein Unterbewußtsein die Erinnerungsbilder deiner Kindheit zu einer Bedrohung umgeformt. Was vorher saftige grüne Moorwiesen waren, sind in deinen Alpträumen Landschaften aus heimtückischen, mörderischen Mooren geworden.«
Julia merkte, daß sie sich auf Joe Villachs Worte nicht konzentrieren konnte. Seine Erklärung klang plausibel, aber irgend etwas sagte ihr, daß er damit nicht den Kern traf. »Was wirst du in dieser Erbschaftsangelegenheit unternehmen?« fragte der Psychologe übergangslos. Julia war verwirrt. So eine Frage hatte sie von Joe nicht erwartet. Sie zuckte mit den Schultern. »Ich bin mir noch unsicher«, sagte sie der Wahrheit entsprechend. »Es gibt da ein paar Dinge, die mich beunruhigen.« »Was denn zum Beispiel?« »Der Brief eines gewissen Gerrit Eire, des Verwalters der Burg. Er schrieb mir einen sehr eindringlichen Brief und berichtete von sonderbaren Legenden, die sich über die Jahrhunderte um das alte Gemäuer gesponnen haben. Von einem unermeßlichen Schatz ist dort die Rede. Er soll irgendwo in der Burg vergraben sein. Nur konnte ihn bisher noch niemand finden.« Julia lachte trocken auf. Sie ließ keinen Zweifel daran, daß sie diesen Legenden keine besondere Bedeutung beimaß. »Kann ich diesen Brief einmal lesen?« fragte Joe Villach. Julia runzelte die Stirn. »Wozu?« wollte sie etwas irritiert wissen. »Es kann sein«, erklärte der Psychologe »daß dieser Brief den heftigen Alptraum bei dir ausgelöst hat!« Das erschien Julia plausibel. Sie erhob sich und holte den Brief aus der Handtasche. Sie hatte die Briefe mitgenommen, um sich immer wieder von ihrer Echtheit überzeugen zu können. Denn immer noch schien es ihr sehr unwahrscheinlich, daß sie tatsächlich in den Genuß einer Erbschaft kommen sollte. Joe nahm die Briefbogen entgegen und setzte sich an seinen Schreibtisch. Dort vertiefte er sich sofort in das Schreiben.
Julia setzte sich auf die Couch und beobachtete Joe Villach, wie er die Briefe las. Das Gesicht des Psychologen wirkte entspannt. Sein Mund war zu einem kaum wahrnehmbaren Lächeln verzogen. Die blonden Haare waren etwas zerzaust, wie immer. Julia fragte sich, ob sie mehr für Joe empfand, als sie für ihren Therapeuten hätte empfinden dürfen. Er war ihr nicht unsympathisch. Seine Anwesenheit übte eine beruhigende Wirkung auf sie aus. Trotzdem glaubte Julia, daß mehr dazu gehörte, eine Partnerschaft einzugehen. Aber irgend etwas Besonderes war zwischen ihnen, da war sich Julia ganz sicher. Und während sie Joe beobachtete, fragte sie sich plötzlich, ob nicht vielleicht er derjenige war, der sich von ihr mehr versprach, als sie bereit war zu geben. Plötzlich wurde Joe unruhig. Julia war etwas erstaunt, denn so hatte sie den jungen Psychologen bisher noch nie erlebt. »Äußerst interessant«, sagte er wieder. Dann sah er von den Briefen auf und blickte Julia direkt in die Augen. »Es ist ein glücklicher Zufall. Eine Fügung«, fuhr er fort. »Ich glaube, wir haben hier den Schlüssel zu deiner Genesung in den Händen!« Julia sah den Psychologen verständnislos an. »Was willst du damit andeuten?« fragte sie. »Diese Burg in Sligo«, erklärte er. »Sie liegt doch im Hochmoor, sagtest du.« »Ja«, bestätigte Julia. »Ich halte es für eine ausgezeichnete Idee, wenn du der Bitte dieses Gerrit Eire nachkommst und nach Irland reist. Du hast vier Wochen Urlaub. Noch günstigere Voraussetzungen wirst du nie wieder vorfinden. Du kannst zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen. Du kümmerst dich um die Erbschaftsangelegenheiten, und gleichzeitig hast du die Chance, deine Alpträume in den Griff zu bekommen…«
Joe Villach redete wie ein Wasserfall. Er schien von seinem Vorschlag selber sehr begeistert zu sein. Aber Julia mußte seinen Eifer bremsen und unterbrach den jungen Mann. »Wie soll ich das verstehen?« fragte sie leicht verwirrt. »Du meinst, eine Reise nach Irland könnte meine Alpträume beenden?« »Ganz so einfach wird es nicht sein«, lenkte der Psychologe ein. Er wirkte plötzlich nachdenklich. Doch dann hieb er mit der Faust auf den Tisch. »Natürlich wirst du es allein nicht schaffen«, sagte er. »Jemand, der dich gut kennt, muß dich begleiten. Es bedarf großen Fingerspitzengefühls, um die negativen Bilder aus deinen Alpträumen wieder ins Positive umzukehren. Ich würde mich daher bereit erklären, dich nach Irland zu begleiten!« Julia sah Joe Villach ungläubig an. Doch ehe sie etwas erwidern konnte, fuhr Joe auch schon fort: »Du brauchst dir wegen des Honorars keine Gedanken zu machen. Ich werde keinerlei finanzielle Ansprüche stellen, denn ich muß zugeben, daß mich dein Fall sehr berührt und interessiert. Du weißt ja selbst, daß ich noch nicht allzu viele Erfahrungen besitze. Deine Alpträume stellen für mich eine Art Herausforderung dar. Und ich bin davon überzeugt, daß ich sie beenden kann!« Julia konnte kaum glauben, was sie soeben gehört hatte. Sie war sich plötzlich sicher, daß Joe Villach mehr für sie empfand, als er offen zugeben mochte. Jedenfalls glaubte sie dies aus seinen Worten herausgehört zu haben. Aber Julia hatte auch noch etwas anderes herausgehört. Sie wußte nicht, ob sie sich darüber freuen sollte, für Joe so eine Art Versuchskaninchen zu sein. Aber die Aussicht, die schrecklichen Alpträume endlich loszuwerden, gab schließlich den Ausschlag. Julia erklärte sich damit einverstanden, zusammen mit Joe Villach nach Irland zu reisen, um ihre
Erbschaft in Augenschein zu nehmen. Vielleicht erhielt sie im Land ihrer Väter ja tatsächlich Antworten auf ihre Fragen…
*
Die PAN-AM-Maschine landete in den frühen Morgenstunden auf dem Flughafen von Dublin. Es war ein feuchter, kalter Tag. Eine graue Wolkendecke hing tief am Himmel und ließ die irische Stadt grau und trist wirken. Nachdem Julia Kildare und Joe Villach ihr Gepäck durch den Zoll gebracht hatten, ließen sie sich mit einem Taxi zum Hauptbahnhof von Dublin fahren. Mit einem Fernzug fuhren sie dann in nordwestlicher Richtung quer über die irische Insel. Die Fahrt nahm einige Stunden in Anspruch. Stunden, die die beiden damit verbrachten, über andere Dinge zu reden als die psychischen Probleme von Julia. Als der Zug dann endlich in Sligo, der Hauptstadt der gleichnamigen Grafschaft, einrollte, war es schon später Nachmittag. Ein Leihauto stand für die beiden bereit. Zum Inventar gehörte auch eine Karte der näheren Umgebung. Joe Villach verstaute das Gepäck im Kofferraum des Wagens, während Julia sich auf den Beifahrersitz setzte und die Karte studierte. »Wir müssen die Straße Richtung Drumcliff nehmen«, sagte Julia, als Joe sich hinter das Steuer setzte. »Die Burg liegt etwa fünfzehn Kilometer von der Stadt Sligo entfernt.« Joe startete den Wagen und fuhr los. Die kleine Stadt hatten sie schnell hinter sich gelassen. Es war windiger geworden. Die düsteren Wolken wirkten zerrissen. In der Luft lag der Geruch des nahen Meeres.
Julia schaute erwartungsvoll aus dem Fenster. Eine weite grüne Landschaft breitete sich vor ihnen aus. Das hohe Gras der Moore wogte im kalten Wind hin und her. Blumen und Kräuter wucherten im dichten Gestrüpp. Sträucher erhoben sich wie grüne Buckel aus den nassen Wiesen. »Eine herrliche Landschaft«, seufzte Julia. Sie konnte sich noch genau daran erinnern, wie sie vor langer Zeit mit ihren Eltern durch eine ähnliche Gegend gefahren war. »Sie ist gewöhnungsbedürftig«, stellte Joe lakonisch fest. Julia musterte ihren Begleiter mit einem flüchtigen Seitenblick. Unwillkürlich mußte sie lächeln. Für einen Menschen, der in einer Großstadt wie New York aufgewachsen war, mußten die rauhe Landschaft und das unwirtliche Klima von Irland auf den ersten Blick unattraktiv und abweisend wirken.
*
Anders erging es aber Julia. Sie fühlte, wie sich ihr Gemüt bei dem vertrauten Anblick beruhigte. Sie empfand eine stille Freude, die sie sehr glücklich machte. »Ich glaube, da vorne haben wir deine Burg ja schon«, sagte der Psychologe in diesem Moment und riß Julia aus ihren Überlegungen. Die junge Frau schaute in die Richtung, in die Joe wies. Julia hielt unwillkürlich den Atem an. Vor ihnen lag ein kleines Wäldchen aus hohen alten Kiefern, und dahinter konnte Julia die Burg erkennen. Die Mauern aus hellen Feldsteinen leuchteten fahl zwischen den dunklen Bäumen hervor. Schon auf den ersten Blick war zu erkennen, daß viele der Mauern eingestürzt waren. Aber
auch einen Turm und einige kleinere Gebäude, die offensichtlich in gutem Zustand waren, konnte Julia ausmachen. Joe Villach lenkte den Wagen von der Straße auf einen holprigen Weg. Bald befanden sie sich zwischen den alten Kiefern. Und dann ließ Joe den Wagen vor der alten Ruine ausrollen. »Da wären wir«, sagte Joe nicht gerade begeistert. Aber Julia ließ sich dadurch nicht beirren. Sie stieg aus und schritt auf ein kleineres Gebäude aus Felssteinen zu. Eine Lampe leuchtete über der großen Holztür. Gerrit Eire, der Verwalter, erwartete sie sicher schon. Julia hätte ihm telegrafiert, daß sie kommen würde. Sie hatte dem alten Mann zugesichert, daß er seine Stellung in der Burg so lange behalten dürfe, bis sie eine endgültige Entscheidung getroffen hatte. Seinen Lohn würde sie aus dem geerbten Vermögen der Tante bezahlen. Julia klopfte an. Wenige Augenblicke später wurde die schwere Tür geöffnet. Sie quietschte in den Angeln, und Julia bekam unwillkürlich eine Gänsehaut. »Miß Julia Kildare?« fragte der Mann in der Türöffnung. Er war ein gebeugt gehender Mann in einer zerschlissenen Wolljacke und einer braunen Kordhose. Seine Haut wirkte ledern und gegerbt. Das rauhe Klima von Irland hatte eine ganze Landschaft von Runzeln und Falten auf sein Gesicht gezeichnet. Von seiner einstigen Haarpracht war nur noch ein dünner Kranz von undefinierbarer Farbe geblieben. Aber seine Augen leuchteten hell und listig unter den buschigen Brauen hervor. Julia wurde sich plötzlich bewußt, daß sie den Mann aufmerksam musterte. Sie gab sich einen Ruck und streckte ihm die Hand zur Begrüßung hin.
»Ja, ich bin Julia Kildare. Und das ist mein Begleiter Joe Villach.« Mit diesen Worten deutete sie auf Joe, der neben sie getreten war. »Und Sie müssen Gerrit Eire sein. Ich hoffe, Sie haben mein Telegramm erhalten!« »Hab’ ich, hab’ ich!« stieß der Alte hervor und trat einen Schritt zur Seite. Julia und Joe betraten das Haus. Drinnen herrschte eine angenehme Wärme, und es roch verführerisch nach Essen. Gerrit Eire führte die künftige Burgbesitzerin in einen großen Raum. In einem Kamin prasselte ein Feuer. Der Raum war vollgestellt mit alten Möbeln, Bücherregalen und Glasschränken. In der Mitte stand ein großer runder Tisch, um den ein paar alte Stühle gruppiert waren, deren Polsterung verriet, daß sie schon etliche Jahre auf dem Buckel hatten. »Hier pflegte Ihre selige Tante immer zu speisen«, erläuterte der alte Eire und deutete mit einladender Geste auf die Stühle. »Sie werden hungrig sein«, fuhr er fort. »Von New York bis nach Sligo ist es ja eine halbe Weltreise.« Julia war angenehm überrascht. Sie wollte nicht unhöflich sein und nahm daher Platz. Joe folgte achselzuckend ihrem Beispiel. Kurz darauf verschwand Eire durch eine Tür, um das Essen aufzutragen. Der alte Mann hatte sich viel Mühe gegeben. Julia und Joe schmeckte das Essen hervorragend. Gerrit Eire wich die ganze Zeit nicht von ihrer Seite. Er schien etwas befangen zu sein und erkundigte sich alle paar Minuten, ob das Essen auch nach ihrem Geschmack ausgefallen sei. Als Julia sich während des Essens einmal genauer in dem Raum umsah, entdeckte sie an einer Wand mehrere ausgestopfte Tierköpfe. Auch der eines grauen Wolfes befand sich darunter.
Gerrit Eire, dem Julias verschreckter Gesichtsausdruck aufgefallen sein mußte, beeilte sich, ein paar Erklärungen abzugeben. »Was Sie dort sehen, gehört wie alles in dieser Burg zu der Geschichte der Erbauer. Ich habe in meinem Brief ja bereits angedeutet, daß sich viele sonderbare Geschichten um diesen Ort ranken. Der Wolfskopf, den Sie soeben bemerkten, zum Beispiel ist die Jagdtrophäe eines Erbauers. Damals soll angeblich ein Werwolf in dieser Gegend sein Unwesen getrieben haben. Als dem Erbauer diese Geschichte zu Ohren kam, beschloß er sofort, diese äußerst seltene Kreatur in seinen Besitz zu bringen. Er zog aus und hetzte nächtelang hinter dem Werwolf her. In einem Zweikampf soll er dann schließlich den Werwolf erledigt haben. Und was Sie dort an der Wand sehen, ist der Kopf des bedauerlichen Wesens!« Julia schluckte. Das Essen schmeckte ihr plötzlich nicht mehr. Und bevor der alte Eire in seiner Schilderung fortfahren konnte, erhob sich Joe von seinem Stuhl und bedankte sich für das hervorragende Essen. »Wir sind müde von der Reise«, sagte er. »Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie uns unsere Zimmer zeigen würden.« Eire war einverstanden, obwohl ihm anzusehen war, daß er gerne noch ein paar weitere Anekdoten von sich gegeben hätte.
*
Julias Zimmer war ein schlichter kleiner Raum im zweiten Stock des alten Feldsteinhauses. Es gab nur ein einfaches Bett, einen Bauernschrank und einen antik wirkenden Waschtisch. In einer Ecke stand ein alter Ofen, den Gerrit Eire vorsorglich beheizt hatte.
Von ihrem Fenster aus konnte Julia auf einen Teil der verfallenen Burg schauen. Aber in der Dunkelheit war außer ein paar scharf umrissenen Schatten nichts zu erkennen. Julia war zu müde und erschöpft, um noch über irgend etwas nachdenken zu können. Sie war nur froh, Joe Villach in ihrer Nähe zu wissen. Der Psychologe hatte das Zimmer bekommen, das direkt an das ihrige angrenzte. Julia zog sich aus und streifte sich das warme Nachthemd über, das sie vorsorglich mitgenommen hatte. Und während sie unter die dicke Daunendecke schlüpfte, dachte sie darüber nach, was sie wohl getan hätte, wenn Joe den eifrigen Eire nicht in seinen schauerlichen Geschichten unterbrochen hätte. »Ausgerechnet Werwölfe«, murmelte Julia und kuschelte sich in das weiche Bett. Kurz darauf schlief sie ein. Und auch in dieser Nacht wurde sie von ihren Alpträumen verschont. Julia verbrachte eine ruhige und angenehme Nacht. Am nächsten Morgen hatte sie sogar das Gefühl, etwas sehr Angenehmes geträumt zu haben. Und wenn sie sich recht erinnerte, hatte Joe Villach in dem Traum eine nicht unwichtige Rolle gespielt…
*
Julia fühlte sich beschwingt und voller Zuversicht, als sie am Morgen ihr Zimmer verließ. Kurz blieb sie vor Joes Zimmertür stehen und lauschte, aber kein Laut war zu vernehmen. Julia zuckte mit den Schultern und ging zu der schmalen Stiege, die in die Tiefe führte. Die Stufen waren aus demselben Material gefertigt wie die gesamte Burg: aus roh behauenen Feldsteinen.
Die Treppe hatte den Vorteil, daß ihre Stufen nicht knarrten. Und so bemerkte Joe auch nicht, daß Julia herunterkam. Der Psychologe hatte seinen klassischen Dreiteiler gegen bequemere Kleidung vertauscht. Er trug jetzt Jeans, ein Baumwollhemd und eine gefütterte Jacke. Joe war gerade in ein Gespräch mit einer dunkelhaarigen Frau vertieft. Die beiden standen auf dem Flur und lachten ausgelassen. Ganz nah standen sie beieinander, und sie schienen sich wirklich prächtig zu verstehen. Julia versetzte dieser Anblick einen leichten Stich ins Herz. Aber schließlich riß sie sich zusammen und trat auf die beiden zu. »Guten Morgen, Joe«, grüßte sie und bemühte sich, dabei so unbefangen wie möglich zu klingen. Joe wandte sich jetzt ganz überrascht um. »Julia, ich habe dich ja gar nicht kommen hören!« Aber Julia beachtete den Psychologen nicht, sondern richtete ihre Aufmerksamkeit auf die junge Frau. Sie war eine äußerst attraktive Erscheinung, wie Julia ganz neidlos zugeben mußte. Das fast schwarze Haar fiel ihr locker bis auf die Schultern. Ihr Gesicht war ebenmäßig und von einer gesunden Bräune. Auf der geraden, schmalen Nase saß eine leicht getönte Sonnenbrille, so daß Julia ihre Augen nicht genau erkennen konnte. Die Frau trug eine schwarze Lederjacke und ein auffälliges silbernes Armband. »Entschuldigen Sie, daß ich hier so unangemeldet hereinplatze«, meinte die junge Frau mit heller, für Julias Geschmack ein wenig zu verführerisch klingender Stimme. Sie trat auf Julia zu und streckte ihr die Hand hin. »Mein Name ist Violet Ross. Ich bin Studentin für irische Geschichte an der Universität in Dublin. Ich beschäftige mich mit alten Burgen und ihren Legenden.«
»Für ein paar fadenscheinige Legenden haben Sie aber eine weite Reise auf sich genommen«, konnte sich Julia nicht verkneifen zu bemerken. Aber im selben Augenblick bereute sie ihre Worte auch schon, denn Joe bedachte sie mit einem strengen, vorwurfsvollen Blick. »Ich will eine Diplomarbeit über die irischen Legenden schreiben«, rechtfertigte sich Violet Ross schnippisch. »Und für diesen Zweck ist mir kein Weg zu weit.« Julia lächelte verlegen. »Wie kann ich Ihnen helfen?« fragte sie versöhnlich. »Ich würde mich hier gerne ein wenig umsehen«, erwiderte die Frau mit den dunklen Haaren. »Mir ist zu Ohren gekommen, daß diese Burg einen ausnehmend schlechten Ruf genießt. Ich möchte herausfinden, wie das alles mit den Legenden, die sich um die Burg spinnen, zusammenhängt.« »Von mir aus«, willigte Julia ein. »Schauen Sie sich ruhig um. Aber ich habe leider keine Zeit, Sie durch die Burg zu führen. Das wird Gerrit Eire viel besser können, denn die Burg gehört mir erst seit ein paar Tagen.« Violet Ross zog verwundert ihre schönen Augenbrauen hoch. Aber ehe sie etwas fragen konnte, hatte sich Julia schon von ihr abgewandt. »Ich habe Hunger«, sagte sie zu Joe. »Begleitest du mich zum Frühstück?« »Nein, danke«, lehnte er ungerührt ab. »Ich habe schon einen Kaffee getrunken. Mehr bekomme ich am Morgen doch nicht hinunter.« Etwas zu abrupt wandte sich Julia ab und begab sich in den großen Raum, wo der alte Eire schon mit dem Frühstück auf sie wartete. Es ärgerte sie, daß Joe offen zeigte, wie gut ihm die junge Studentin gefiel. Am liebsten hätte sie ihm auf der Stelle die Meinung gesagt, doch sie wußte, das sich das nicht
gehörte, und so versuchte sie sich auf das Frühstück zu konzentrieren.
*
Julia steuerte den Leihwagen über die holprige Straße. Sie war auf dem Weg nach Sligo, wo sie eine Verabredung mit dem Notar hatte. Es gab noch ein paar behördliche Dinge zu regeln. Zum Beispiel mußte eine Vollmacht für das Konto ihrer Tante erstellt werden. Julia versuchte ihren Ärger hinunterzuschlucken. Joe Villach hatte es abgelehnt, sie auf der Fahrt zu begleiten. »Ich werde mich ein wenig mit der Landschaft anfreunden«, hatte er gesagt. »Über die Formalitäten weißt du doch sowieso besser Bescheid als ich, schließlich arbeitest du in einer Anwaltskanzlei. Ich wüßte nicht, was ich in Sligo verloren hätte. Ich würde mich nur langweilen!« Zähneknirschend hatte Julia akzeptieren müssen. Und wenn nicht Violet Ross die ganze Zeit über im Hintergrund gestanden und dort offensichtlich auf Joe gewartet hätte, hätte Julia der ganzen Szene auch gar nicht so viel Bedeutung beigemessen. Reiß dich zusammen, dachte Julia, während sie den Leihwagen Richtung Sligo lenkte. Schließlich ist nichts zwischen uns beiden. Joe ist mein Therapeut und nicht mein Geliebter! Aber Julias Laune besserte sich durch dieses stumme Zureden auch nicht. Sie war enttäuscht, daß Joe sich gleich an die erstbeste Frau heranmachte und Julia einfach links liegen ließ.
Doch dann verdrängte Julia die unangenehmen Gedanken. Sie mußte sich voll und ganz auf das vor ihr liegende Gespräch mit dem Notar konzentrieren.
*
Als Julia Stunden später zur alten Burg zurückkehrte, fehlte von Joe Villach und Violet Ross jede Spur. Julia lief in das Feldsteinhaus, wo Gerrit Eire in der Küche herumhantierte. »Haben Sie meinen Begleiter irgendwo gesehen?« wollte sie wissen. Eire sah von seiner Arbeit auf und musterte Julia mit einem undefinierbaren Blick. »Ihre Tante hat sich immer einen Spaß mit den Neugierigen gemacht«, meinte er. »Meistens sind sie nur aus einem einzigen Grund hierhergekommen, auch wenn sie es nie zugeben wollten. Ihre Tante ließ diese Leute immer in den Ruinen herumirren. Jedesmal schaute sie dann ganz zufällig vorbei und genoß es jedesmal, wenn die Fremden rasch verstohlen ein paar Steine an ihre alten Plätze zurücklegten oder eine frisch ausgehobene Grube vor den Blicken Ihrer Tante verbergen wollten.« Julia verstand nicht, worauf der alte Eire hinaus wollte. »Was haben denn all diese Leute gesucht?« wollte sie wissen. »Ich habe Ihnen doch von dem Schatz erzählt, der angeblich seit Jahrhunderten irgendwo in den Ruinen der Burg vergraben liegen soll…« »Sie meinen, diese Leute sind nur gekommen, um nach dem Schatz zu suchen?« platzte Julia heraus. »Ja, aber bisher hat ihn niemand gefunden.«
Julia schüttelte den Kopf. Sie verstand nicht, was diese Geschichte mit ihrer Frage nach Joe und Violet zu tun hatte. Sie fragte den alten Eire erneut, erhielt aber keine Antwort mehr. Schließlich verließ sie kopfschüttelnd die Küche. Sie wurde aus dem alten Mann einfach nicht schlau. Joe Villach und Violet Ross blieben den ganzen Tag fort. Julia ertappte sich dabei, wie sie unruhig wurde und hoffte, Joe würde bald wieder zurückkommen. Aber sie schalt sich einen Narren. Joe war ein freier Mann. Er konnte tun und lassen, was er wollte. Da es ein schöner Tag war, faßte Julia den Entschluß, sich in aller Ruhe in den Ruinen umzuschauen. Sie suchte erneut Gerrit Eire auf und fragte ihn, ob er sie durch die Ruinen führen würde. »Selbstverständlich«, sagte Eire und verschwand sogleich in seiner kleinen Kammer, um sich passende Kleidung überzuziehen. Dann gingen sie hinaus. Als erstes zeigte Eire der jungen Frau die Ruinen der Burgmauer. Sie zogen sich kreisförmig um die ganze Anlage herum. Aber stellenweise war von dem robusten Bauwerk nur noch eine Handvoll Steine übrig, die unter dem wuchernden Moos und dem Efeu nur noch andeutungsweise zu erkennen waren. Geduldig hörte Julia den Erläuterungen des Alten zu. Sie hoffte dabei nur, daß er nicht wieder auf den Werwolf zu sprechen kam. Dann führte Eire Julia zu dem großen Turm. Von außen sah er noch sehr gut erhalten aus, nur wenige Dachschindeln schienen zu fehlen. Doch als Eire Julia durch eine Öffnung in der Mauer dirigierte, mußte sie feststellen, daß das Innere des
Turmes völlig ausgehöhlt war. Von der Wendeltreppe und den einzelnen Stockwerken war nichts mehr zu sehen. Eire deutete mit einer vielsagenden Geste auf den Boden. Die schweren Felsblöcke, mit denen der Boden einst bedeckt gewesen war, waren zur Seite geräumt worden. Der Boden darunter war aufgewühlt und wies tiefe Kuhlen auf. »Das Werk der Schatzgräber«, kommentierte Gerrit Eire und schüttelte dabei mißbilligend den Kopf. »Das ganze Bauwerk steht unter Denkmalschutz. Es dürfen keine baulichen Änderungen vorgenommen werden, die das Bild der ursprünglichen Architektur zerstören. Aber dieser Umstand scheint diesen Barbaren gleichgültig zu sein. Wenn sie irgendwo Kostbarkeiten wittern, ist ihnen alles andere egal!« Julia mußte unwillkürlich über den Eifer lächeln, mit dem der alte Eire über die Schatzjäger schimpfte. Im Laufe seines Lebens mußte ihm viel Sonderbares untergekommen sein. Die Führung ging weiter. Julia besichtigte die Überreste der Stallungen und des Hauptgebäudes. Das Hauptgebäude war sehr baufällig, da die Tante nicht über genügend Mittel verfügt hatte, den großen Bau zu sanieren. Aus diesem Grund, so erklärte Eire, war die Tante auch irgendwann in das kleinere Gesindehaus gezogen. Für die Instandsetzung des kleineren Hauses hatte das Geld gerade eben gereicht. Eire hielt Julia zurück, als sie das Hauptgebäude betreten wollte. »Es ist gefährlich, dort hineinzugehen«, warnte er. »Die Balken sind morsch. Es besteht Einsturzgefahr!« Julia war sichtlich erschrocken. »Wenn das der Fall ist, muß dieses Gebäude abgesperrt werden«, meinte sie und deutete dabei auf frische Spuren auf dem Boden. Wie es aussah, waren vor kurzem irgendwelche Menschen in den Bau eingedrungen. »Ich möchte es nicht verantworten müssen, wenn sich einer dieser verrückten Schatzsucher in den Ruinen verletzt.«
Julia nahm sich vor, ein Schild aufzustellen und das Gebäude durch ein Absperrband abzuriegeln. Damit war die Führung beendet. Julia und Gerrit Eire kehrten in das kleine Steinhaus zurück. Der Verwalter braute ihnen einen starken Kaffee. Draußen begann der Abend bereits zu dämmern. Unwillkürlich wanderten Julias Gedanken wieder zu Joe und Violet Ross. Ob die beiden zusammen sind? fragte sie sich. Der alte Eire riß Julia jedoch gleich darauf aus ihren trüben Gedanken. Er wollte von der jungen Frau wissen, ob sie sich bereits Gedanken über die Zukunft der Burg gemacht hatte. Im Laufe des Gesprächs mit Eire vergaß Julia Joe und Violet völlig. Sie diskutierte mit dem Verwalter alle Möglichkeiten, wie mit dem alten Gemäuer in Zukunft zu verfahren sei. Um so überraschter war Julia, als Joe und Violet unverhofft in der Küche auftauchten. »Hier bist du also«, sagte der Psychologe unbefangen. »Ich habe mich schon gewundert, wo du steckst.« Julia schaute die beiden an und mußte sich eingestehen, daß sie wieder diesen leichten Stich ins Herz verspürte, als sie den glücklichen, fast ein wenig entrückten Gesichtsausdruck von Joe Villach bemerkte. So sieht nur jemand aus, der sich gerade frisch verliebt hat, dachte Julia bekümmert. Doch dann fiel ihr Blick auf Violet Ross. Sie lehnte lässig am Türpfosten und sah gleichgültig in den Raum. Julia spürte das Verlangen, Joe zu fragen, wo er die ganze Zeit gewesen war. Aber sie unterdrückte den Impuls, schließlich ging es sie nichts an. »Es ist schon spät«, sagte Joe in diesem Moment mit einem bedauernden Lächeln. »Violet hat in der Nähe noch kein freies Zimmer finden können. Und da sie wegen ihrer Nachforschungen noch ein paar Tage in der Gegend zu tun hat,
hielt ich es für eine gute Idee, sie ebenfalls in der Burg unterzubringen. Wir haben doch noch ein freies Zimmer!« Julia glaubte ihren Ohren nicht trauen zu dürfen. War Joe wirklich so abgestumpft, daß er nicht bemerkte, was er ihr mit dieser Bitte antat? Julia schluckte den Kloß hinunter, der sich in ihrer Kehle zu bilden drohte. »Meinetwegen«, hörte sie sich zu ihrem großen Erstaunen sagen. Dann wandte sie sich an Eire. »Bitte seien Sie so nett, und richten Sie für Mrs. Ross ein Zimmer her.« »Miß Ross«, berichtigte Violet mit süffisantem Lächeln. »Ich bin nicht verheiratet!« Julia hielt es in der Küche plötzlich nicht mehr aus. Sie gab vor, müde zu sein, und zog sich auf ihr Zimmer zurück. Julia hatte es sich auf ihrem schmalen Bett so bequem wie möglich gemacht. Im Ofen brannte ein behagliches Feuer. Eire verstand es auf meisterhafte Weise, eine wohnliche Wärme mit diesen antiquierten Heizgeräten zu schaffen. Julia las in einem Buch. Sie hatte es noch in New York gekauft, wo es derzeit auf der Bestsellerliste ganz oben plaziert war. Die spannende Handlung des Romans ermöglichte es Julia, ihre Alltagssorgen für einen Moment zu vergessen. Aber plötzlich klopfte es an der Tür. Julia schrak hoch. »Herein!« rief sie schließlich. Sie glaubte, daß es der alte Eire war, der noch ein paar Kohlen im Ofen nachlegen wollte. Aber es war nicht Eire, der die Tür öffnete. Es war Joe Villach. Und er war allein. Julia legte das Buch beiseite und erhob sich. Fragend schaute sie den jungen Mann an. »Ich wollte nur mal kurz nachfragen, wie es dir geht«, meinte Joe und blieb unschlüssig in der offenen Tür stehen. »Komm doch herein«, sagte Julia aufmunternd. Sie freute sich, daß Joe ihr einen Besuch abstattete. »Danke der Nachfrage. Mir geht es ganz gut.«
Julia hatte gehofft, Joe würde anhand ihrer Worte erraten, daß es ihr doch nicht so gut ging. Aber der Psychologe erwiderte nichts. Statt dessen kam er einen Schritt auf Julia zu. Ganz langsam brachte er die rechte Hand, die er die ganze Zeit über hinter dem Rücken verborgen gehalten hatte, zum Vorschein und hielt Julia ein Geschenk hin. »Eine kleine Aufmerksamkeit, weil ich dich heute allein gelassen habe!« Julia nahm das hübsch verpackte Päckchen freudestrählend entgegen und bedankte sich aufrichtig. Aber bevor sie mit Joe ein Gespräch beginnen konnte, wandte er sich auch schon wieder ab und ging zur Tür. Das enttäuschte Gesicht von Julia schien er gar nicht wahrzunehmen. »Falls dich deine Alpträume wieder quälen sollten, laß es mich wissen«, sagte er nur. »Ich nehme an, du hast im Moment genug mit den Erbschaftsangelegenheiten um die Ohren. Du wirst mich also vorläufig nicht brauchen. Später werde ich mich dann wieder um dich kümmern.« Nach diesen Worten verließ er abrupt das Zimmer und schloß die Tür hinter sich. Julia starrte noch lange auf die verschlossene Tür. So unaufmerksam und abweisend hatte sie Joe Villach bisher noch nie erlebt. Aber ich kenne ihn ja auch nur aus meinen Therapiestunden, dachte Julia. Vielleicht ist er privat ganz anders, als er sich bei seiner Arbeit gibt? Julia zuckte resigniert mit den Schultern. Sie riß das Geschenkpapier von der Schachtel. Es waren Pralinen. Ein typisches Verlegenheitsgeschenk, wie Julia fand. Die junge Frau machte es sich wieder auf ihrem Bett bequem. Sie nahm das Buch zur Hand und naschte während des Lesens von den Pralinen.
Irgendwann schlief sie dann ein, und die bizarre Traumwelt, die sie schon so gut kannte, nahm sie erneut gefangen.
*
Der Wind strich kalt über ihren Rücken. Sie fühlte weiches Moos und zerdrücktes Gras unter ihrem Körper. Die Feuchtigkeit drang durch ihr Nachthemd. Schlagartig war Julia auf den Füßen. Um sie herum herrschte ein merkwürdiges Zwielicht. Es war der Mond, dessen Licht sich in den feuchten Wiesen gespenstisch widerspiegelte. Ich habe wieder einen Alptraum! schoß es Julia durch den Kopf. Fröstelnd schlang sie die Arme um den Körper, um sich vor dem kalten Wind zu schützen. Aber viel richtete sie dadurch nicht aus. Ihre Füße versanken langsam im Moor. Das kalte Wasser begann schon an ihren Fesseln hinaufzukriechen. Ich muß mich bewegen, dachte Julia voller Entsetzen, sonst versinke ich im Moor! Unsicher setzte sie einen Fuß vor den anderen. Das Moor gab jedesmal ein schmatzendes Geräusch von sich. Aber noch ein anderes Geräusch drang an ihre Ohren. Ein Geräusch, das ihr augenblicklich eine Gänsehaut über den Rücken jagte. Denn sie hörte das gefährliche Knurren eines Tieres! Gehetzt schaute Julia sich um. Der Mond strahlte hell genug. Sein Licht wurde durch keine Wolke gedämpft. Und so konnte Julia ihre Umgebung gut erkennen. Es sieht alles genauso aus wie in der Realität, dachte Julia mit wachsender Angst. Die Büsche, das kniehohe Gras und die Moosflächen – genauso sah auch das Moor in Sligo aus!
Julia schaute sich erneut wachsam um. Sie hoffte, irgendwo ein Haus oder vielleicht sogar die alte Burg ausmachen zu können. Doch weit und breit erstreckte sich nur das öde, einsame Moor. Aber Julia war nicht allein. Das rief ihr das Knurren wieder ins Bewußtsein, das in diesem Moment schaurig anschwoll. Und diesmal konnte Julia auch hören, aus welcher Richtung es kam. Vorsichtig schaute Julia in die Richtung. Dort befand sich ein besonders üppiges Gebüsch. Der Wind rüttelte an den Zweigen und ließ die Blätter erzittern. Julia kniff die Augen zusammen. Sie war vor Schreck stehengeblieben, und ihre Füße begannen schon wieder langsam im naßkalten Moor zu versinken. Doch dann sah Julia das schreckliche Wesen. Augenblicklich war die Gefahr, die vom Moor ausging, vergessen. Denn vor ihr lauerte etwas weitaus Gefährlicheres. Ein grauer Werwolf! In geduckter Haltung löste er sich aus dem Dunkel des Gebüsches, wo er sich verborgen gehalten hatte. Den mächtigen Schädel hatte er lauernd und witternd gesenkt. Die rotglühenden Augen funkelten unheimlich. Verzweifelt kämpfte die junge Frau gegen die drohende Lähmung an. Ihre Angst war so übermächtig, daß sie unfähig war, auch nur einen Schritt zurückzuweichen. Das schreckliche Wolfswesen kam unaufhaltsam näher. Schon war es nur noch einige Schritte von Julia entfernt. Sie konnte die Pfoten des Tieres ganz deutlich sehen. Die blitzenden Krallen, die im Mondlicht wie Dolche glänzten. Plötzlich bahnte sich Julias Angst einen Weg durch ihre Kehle. Ein markdurchdringender Schrei löste sich tief aus ihrem Inneren. Und dieser Schrei hatte eine erlösende Wirkung. Julia konnte sich plötzlich wieder bewegen!
Aber auch bei dem Werwolf blieb dieser Schrei nicht ohne Wirkung. Julia kam es so vor, als würde er in seiner geschmeidigen Bewegung einen Augenblick verharren. Julia nutzte die Chance und ergriff sofort die Flucht. Dabei schaute sie sich gehetzt nach allen Seiten um. Aber wie es aussah, wurde sie in diesem Traum nur von einem einzigen Werwolf verfolgt. Wasser und Matsch spritzen um ihre Füße, als Julia ihre Flucht fortsetzte. Sie rannte blind drauflos. Nur weg von dem grauenerregenden Biest! Nur einmal schaute sie sich um und sah, wie ihr das grauhaarige Wesen in langen Sätzen folgte. Schnell wandte sie ihren Blick wieder von dem grauenhaften Anblick ab. Julia wollte verhindern, daß sie das Entsetzen und die Todesangst erneut lähmten, denn dann war es um sie geschehen. Julia holte alles aus ihrem Körper heraus. Schon begannen ihre Lungen von der ungewohnten Anstrengung zu schmerzen. Aber sie versuchte diesen Schmerz zu ignorieren und setzte ihre Flucht tapfer fort. Doch dann geschah das Unvermeidliche. Julias Füße wurden immer schwerer. Ihre Muskeln schmerzten unerträglich, und die Beine begannen vor Anstrengung zu zittern. In diesem Moment verfing sich ihr rechter Fuß in einem dichten Wurzelgeflecht. Mit einem Aufschrei stürzte die junge Frau zu Boden und landete in einer Pfütze eiskalten Wassers. Augenblicklich begann Julias Körper im Moor zu versinken. Aber dies war nicht ihre einzige Sorge. Julia versuchte sich aufzurichten. Sie schaffte es, sich umzuschauen – und stellte erstaunt fest, daß von dem Werwolf nichts mehr zu sehen war! Ungläubig beobachtete Julia ihre Umgebung. Aber an dieser Stelle des Moores gab es keine Büsche. Das Gras war nur
einige Zentimeter hoch. Weit und breit gab es kein Versteck für ein Tier von der Größe eines Werwolfes! Ich habe es geschafft! dachte Julia triumphierend. Ich bin dem Werwolf entkommen. Julias Freude währte jedoch nicht lange, denn sie mußte feststellen, daß sie noch mit einem weiteren Problem zu kämpfen hatte: dem Moor! Ihre Beine waren schon bis zu den Waden im Morast versunken. Julia kämpfte ihre Arme frei und griff nach einigen Grasbüscheln in ihrer Nähe. Jetzt nur keine unvorsichtige Bewegung! hämmerte sie sich ein. Sie wollte nicht noch einmal im Moor versinken. Denn obwohl sie wußte, daß alles nur ein Traum war, sträubte sie sich doch mit all ihrer verbliebenen Kraft dagegen, den eigenen Tod ein zweites Mal mitzuerleben. Was hätte Julia alles gegeben, um aus diesem schrecklichen Alptraum zu erwachen! Mit aller Kraft zog sie an den Grasbüscheln und betete, daß die Wurzeln ihr Gewicht halten würden. Stück für Stück zog sie ihren Unterleib auf diese Weise aus dem Morast heraus. Sie griff nach anderen Grasbüscheln und konnte sich schließlich aus dem Loch befreien…
*
Keuchend und frierend blieb Julia im Gras liegen, hoffte, daß sie nun endlich erwachen würde. Aber nichts dergleichen geschah. Statt dessen bemerkte sie, daß der Morgen sich als undeutlicher Schimmer am Horizont abzuzeichnen begann.
Julia stockte der Atem. Fassungslos ergriff sie einige Gräser, riß sie ab und nahm den frischen Geruch in sich auf. Träume ich, oder träume ich nicht? fragte sie sich, ohne zu begreifen, wie ungeheuerlich dieser Gedanke war. Sie beschloß, die klassische Probe zu machen, und kniff sich selber in den Arm. Der Schmerz war deutlich spürbar! Benommen richtete Julia sich auf. Die Sterne verblaßten schon, und ein heller Streifen am Horizont verriet, wo die Sonne in wenigen Minuten aufgehen würde. Die Landschaft um Julia herum schälte sich allmählich aus der Dunkelheit. Und dann sah die junge Frau die hohen, kahlen Kiefern und dazwischen die Burg! Wie in Trance ging sie auf das verfallene Gebäude zu, das nur dreihundert Meter von ihr entfernt zwischen den alten Bäumen stand. Ich muß es in der Dunkelheit übersehen haben, dachte Julia, während sie zwischen den Bäumen hindurchtaumelte. Sie wußte später nicht mehr, wie sie es geschafft hatte, das kleine Gesindehaus zu erreichen, die Treppen hinaufzusteigen und sich in ihr Bett zu legen.
*
»Julia, Julia, wach auf!« drang eine männliche Stimme an Julias Ohr. Julia konnte den Klang der Stimme nicht einordnen. Wie durch eine dicke Watteschicht sickerten die Worte allmählich in ihr Bewußtsein.
Blinzelnd schlug sie die Augen auf. Das Sonnenlicht, das durch das kleine Fenster hereindrang, blendete sie. Vor ihr sah sie den dunklen Schatten eines Mannes. »Julia, was ist mit dir?« hörte sie die Stimme wieder. Sie klang jetzt vertraut und weckte Erinnerungen in der jungen Frau. »Gerrit Eire hat mir erzählt, du wärst heute in aller Frühe nur mit einem Nachthemd bekleidet in die Burg gekommen. Was hat das alles zu bedeuten?« »Joe!« stieß Julia erfreut aus, als sie den Mann vor ihrem Bett endlich erkannte. »Ich hatte einen gräßlichen Traum!« Augenblicklich kehrte die Erinnerung an die Nacht zurück. Julia hatte plötzlich das Bild vor Augen, wie sie voller Angst vor dem Werwolf durch das gefährliche Moor flüchtete. Und sie erinnerte sich auch daran, wie sie sich tatsächlich im Moor wiederfand, als sie glaubte, endlich erwacht zu sein. Schlagartig war Julia hellwach. Ruckartig richtete sie sich in ihrem Bett auf. Zu ihrem Erstaunen mußte sie feststellen, daß sie völlig nackt war. Rasch sah sie sich in dem kleinen Zimmer um und entdeckte auf einem Holzstuhl ihr Nachthemd. Verschmutzt und naß hing es da. Lehmspuren und die grünen Flecken, die das frische Gras darauf zurückgelassen hatte, waren deutlich voneinander zu unterscheiden. Also habe ich es doch nicht nur geträumt! dachte sie voller Sorge. Ich war wirklich heute nacht im Moor! Hilfesuchend sah sie zu Joe Villach auf, der geduldig an ihrem Bett stand und die junge Frau aus zusammengekniffenen Augen musterte. Die Sorge war ihm deutlich ins Gesicht geschrieben. »Julia, was ist heute nacht vorgefallen?« fragte er eindringlich. Aber Julia schüttelte nur verwirrt den Kopf. Verliere ich jetzt den Verstand? dachte sie voller Angst. Kann ich nicht mehr zwischen Phantasie und Wirklichkeit unterscheiden?
»Ich werde Gerrit Eire Bescheid sagen, daß er dir ein warmes Frühstück zubereitet«, sagte Joe in diesem Augenblick. »Ich schlage vor, du machst dich erst einmal frisch. Dann treffen wir uns unten im großen Saal.« Julia nickte und bedeutete ihm, daß sie einverstanden war. Dann zog Joe sich aus ihrem Zimmer zurück. Stöhnend kletterte Julia aus ihrem Bett. Sie fühlte sich zerschlagen und matt. Ihre Muskeln schmerzten. Sie hatte das Gefühl, jede Faser ihres Körpers zu spüren. Und dann sah Julia an sich hinab. Wenn sie noch Zweifel an den Vorkommnissen der Nacht gehabt hatte, jetzt waren sie endgültig zunichte gemacht. Julia blickte auf ihre schlammverkrusteten Füße, auf die Beine und den Bauch. Überall hatte das Moorloch, in das sie gefallen war, seine Spuren hinterlassen. Julia nahm den Kessel mit heißem Wasser von dem Ofen und goß das Wasser in die Waschschüssel. Dann begann sie sich von den Spuren der Nacht zu reinigen.
*
In dem großen Zimmer wartete Joe schon auf sie. Gerrit Eire holte aus der Küche das Frühstück und stellte es vor Julia auf den Tisch. Gleich als sie hereingekommen war, war ihr aufgefallen, daß der ausgestopfte Wolfskopf fehlte. Julia vermutete, daß Joe veranlaßt hatte, daß diese Trophäe beseitigt wurde, damit Julia nicht noch zusätzlich durch diesen Anblick belastet wurde. Im Hintergrund hielt sich Violet Ross auf. Sie blätterte in einem alten Folianten, den sie aus einem der vielen Bücherschränke genommen hatte. Offenbar war sie auf der Suche nach alten Legenden.
Julia versuchte die junge Irin zu ignorieren. Sie widmete sich dem Frühstück, das sie mit Heißhunger verschlang. »Und nun erzähle mir, was gestern nacht vorgefallen ist«, forderte Joe Villach Julia auf, nachdem sie das Frühstück beendet hatte. Aber Julia war nicht gewillt, ihre Probleme vor all den anderen Leuten zu besprechen. Sie ärgerte sich wieder einmal über den Psychologen. In letzter Zeit ließ er es wirklich an der nötigen Feinfühligkeit fehlen. »Wenn wir allein sind«, sagte Julia und deutete mit dem Kopf in Violets Richtung. »Natürlich«, versicherte Joe hastig. »Wie konnte ich das nur vergessen?« Dann wandte er sich an Violet und Eire: »Würdet ihr uns für einen Augenblick allein lassen?« Die beiden verließen den Raum, und so waren Julia und Joe endlich allein. »Ich hatte wieder einen dieser Werwolfsträume«, berichtete Julia nach einer Weile des Schweigens. »Aber diesmal verlief er ganz anders. Und als ich erwachte, fand ich mich tatsächlich im Moor wieder!« Joe runzelte besorgt die Stirn. »Das mußt du mir alles ganz genau schildern«, forderte er sie auf. Julia atmete einmal tief durch. Und dann begann sie, Joe bis in das kleinste Detail von ihrem gräßlichen Traum zu berichten. Als sie mit ihrer Erzählung zum Ende gekommen war, seufzte Joe niedergeschlagen. »Ich hatte geglaubt, hier in Irland würde alles viel besser werden«, sagte er enttäuscht. »Aber wie es aussieht, wirkt sich die Landschaft nur nachteilig auf deine Psyche aus. Dein Zustand hat sich drastisch verschlechtert. Wie es aussieht, bist du vergangene Nacht geschlafwandelt. Dein Traum muß so
intensiv gewesen sein, daß er dich ins Moor hinausgetrieben hat.« Julia nickte. Joes Erklärung klang plausibel. Während sie von dem Werwolf geträumt hatte, mußte sie, ohne es zu merken, das Bett verlassen haben. Und ihre Schritte hatten sie direkt ins Moor hineingelenkt. »Was soll ich nur tun?« fragte Julia verzweifelt. »Vielleicht ist es besser, wenn du sofort wieder abreist«, schlug Joe Villach vor. Julia überlegte einen Augenblick. Joe hatte recht. Unter diesen Umständen war es gefährlich, noch länger in der Burg zu bleiben. Aber auf der anderen Seite gab es noch viel zu erledigen. Sie würde wohl oder übel noch einen Tag bleiben müssen. Julia teilte Joe ihren Entschluß mit. Aber der Psychologe sah Julia skeptisch an. »Ich weiß nicht, ob das eine gute Idee ist«, gab er zu bedenken. »Ich werde mich beeilen und wirklich nur das Nötigste in die Wege leiten«, versprach Julia. »Dann können wir zurück nach New York fliegen.« Joe zog überrascht die Augenbrauen hoch. »Ich fürchte, du mußt allein fliegen«, sagte er ohne Bedauern in der Stimme. »Ich für meinen Teil werde den Rest meines Urlaubs in Irland verbringen. Irgendwie habe ich dieses Land und seine urige Landschaft so richtig liebgewonnen!« Und besonders Violet Ross, dachte Julia erbittert. Aber die junge Frau ließ sich von ihrer Enttäuschung nichts anmerken. Joe hatte während des kurzen Aufenthalts in Irland sein wahres Gesicht gezeigt. Julia war sich inzwischen im klaren darüber, daß ihre aufkeimende Liebe, die sie für den Psychologen empfunden hatte, ohne jede Zukunft gewesen war. »Wie du willst«, sagte Julia nur und erhob sich. »Ich werde jetzt nach Sligo fahren, um dort ein paar Dinge zu besorgen.
Und ich glaube, es hat keinen Sinn, dich zu fragen, ob du mich begleiten willst.« Joe sah Julia mit undefinierbarem Gesichtsausdruck an. »Ich wüßte nicht, was ich in Sligo zu suchen hätte«, erklärte er. »Ich bin froh, der Großstadt für ein paar Wochen zu entkommen. Eine Stadt wie Sligo hat bestimmt nichts Reizvolles an sich.« Julia verließ wortlos den Raum und ging in die Küche. Sie fragte den alten Eire, ob sie ihm aus der Stadt etwas mitbringen sollte. »Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mich mitnehmen könnten«, sagte Eire. Julia nickte, und fünf Minuten später saßen sie in dem Leihwagen.
*
Die Fahrt verlief größtenteils schweigsam. Julia unternahm mehrere Versuche, ein Gespräch in Gang zu bringen, aber der alte Eire schien an diesem Tag nicht besonders gesprächig zu sein. Nur einmal äußerte er sich darüber, wie unpassend er es finde, wenn Gegenstände, die schon seit Jahrzehnten an ihrem Platz waren, plötzlich fortgenommen wurden. Eire spielte dabei offensichtlich auf den ausgestopften Wolfskopf an. Aber Julia hatte keine Lust, sich darüber zu äußern. Sie war nur froh, daß der Kopf nicht mehr in dem Saal hing und der gruselige Anblick ihr erspart blieb. Es war bereits Mittag vorüber, als die beiden wieder in die Burg zurückkehrten. Von Joe und Violet fehlte wieder jede Spur. Aber Julia hatte auch nichts anderes erwartet. Sie lud die
Sachen aus, die sie besorgt hatte. Dann machte sie sich an die dringlichen Arbeiten. Julia hatte in der Stadt ein Schild aus Emaille anfertigen lassen. Betreten verboten, Einsturzgefahr! stand darauf. Mit einer Rolle Absperrband und dem Schild machte sie sich auf den Weg zum verfallenen Hauptgebäude. Da Gerrit Eire sich in die Küche zurückgezogen hatte, mußte Julia das Schild allein anbringen. Aber sie war handwerklich nicht ungeschickt, und so bereitete es ihr keine Mühe, das Emailleschild neben dem Haupteingang zu befestigen. Dann schlug sie ein paar Pflöcke in den Boden und band das Absperrseil daran fest. Zufrieden trat sie ein paar Schritte zurück und betrachtete ihr Werk. Jetzt würde sich bestimmt niemand mehr in das alte Bauwerk wagen! Julia wollte sich schon abwenden, als sie plötzlich glaubte, ein Geräusch vernommen zu haben. Es kam direkt aus dem baufälligen Hauptgebäude! Julia stutzte und trat zögernd auf den Haupteingang zu. Mit angehaltenem Atem lauschte sie in die Dunkelheit. Wahrscheinlich gibt es dort Ratten, dachte Julia angewidert. Doch da wiederholte sich das Geräusch. Es war ein Poltern, als ob jemand einen schweren Stein beiseite rollte. So ein Geräusch kann nicht bloß von ein paar Ratten herrühren, dachte Julia mit wachsendem Unbehagen. Und ohne genauer darüber nachzudenken, welches Risiko sie einging, betrat sie das alte Gemäuer. Es roch feucht und muffig in dem alten Gebäude. Und als Julias Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten, konnte sie zwischen den Ritzen der Steine Moosflechten und Schimmelpilz ausmachen. Vorsichtig setzte sie einen Fuß vor den anderen. Dabei bedachte sie die Balkendecken mit einem skeptischen Blick.
Die Balken waren teilweise schon regelrecht vermodert. In der Decke fehlten ein paar Dielenbretter, so daß Julia in das darüberliegende Stockwerk sehen konnte. Julia ging weiter. Dabei trat sie auf ein morsches Brett, das vor langer Zeit von der Decke heruntergefallen sein mußte. Es gab ein häßliches Geräusch, und Julia zuckte erschrocken zusammen. Einige Sekunden blieb sie regungslos stehen und lauschte. Aber die sonderbaren Geräusche, die sie gehört hatte, wiederholten sich nicht. Julia wollte sich gerade anschicken, das Gebäude wieder zu verlassen, als ihr Blick plötzlich in eine der hinteren Ecken fiel. Dort klaffte im Boden eine tiefe Kuhle. Zögernd ging Julia auf das Loch im Boden zu. Der Haufen aufgeworfener Erde neben dem großen Loch wirkte frisch. Diese Grube mußte erst vor kurzem entstanden sein! Julia beugte sich vor, um besser in das Loch schauen zu können. Aber die Dunkelheit verhinderte, daß sie Einzelheiten erkennen konnte. Plötzlich fielen ihr wieder die frischen Fußspuren ein, die ihr tags zuvor aufgefallen waren. »Schatzgräber«, murmelte Julia und schüttelte den Kopf. Diese Leute waren sehr leichtsinnig, wenn sie in einem baufälligen Gebäude anfingen, einen Tunnel zu graben oder eine Grube auszuheben. Es war höchste Zeit gewesen, ein Schild aufzustellen und das Bauwerk abzusperren. Plötzlich hörte Julia Schritte hinter sich. Erschrocken wirbelte sie herum. Im Eingang erkannte sie die Umrisse des alten Eire. »Sie sollten wirklich nicht hier sein«, sagte er mit strengem Unterton. »Ich weiß«, erwiderte Julia. »Aber ich habe mir eingebildet, ein Geräusch zu hören!«
»Noch ein Grund mehr, dieses Bauwerk zu meiden«, meinte Eire. »Es sind die Balken, die unter der Last des Alters knacken und ächzen«, behauptete er. »Lange werden sie die Stockwerke nicht mehr tragen können. Und dann stürzt hier alles ein!« Julia äußerte ihren Verdacht, daß sich vor kurzem Schatzgräber im Hauptgebäude aufgehalten haben mußten. Aber der alte Eire zuckte nur gleichgültig mit den Schultern. »Das Essen ist fertig. Sie werden hungrig sein!« sagte er nur. »Vielen Dank«, erwiderte Julia und verließ das Hauptgebäude wieder. Da Joe Villach immer noch nicht aufgetaucht war, nahm Julia sich vor, allein ins Moor hinauszugehen. Schon während des Essens hatte sie sich bei Eire darüber informiert, auf was sie zu achten hatte, wenn sie sich im Moor bewegte. Eire fühlte sich durch diese Frage geschmeichelt. Und er hätte Julia wohl noch bis in den Abend hinein mit seinen Ratschlägen und Anekdoten unterhalten, wenn sie ihn nicht gebremst hätte. Nun hatte sie den Kiefernwald hinter sich gelassen. Vor ihr breitete sich das endlos wirkende Hochmoor von Sligo aus. Julia hatte den Weg eingeschlagen, den sie am Morgen vom Moor kommend genommen hatte. Sie versuchte sich so genau wie möglich daran zu erinnern, wo sie aus ihrem schrecklichen Alptraum erwacht war. Sie brauchte nicht lange zu suchen. Schon nach kurzer Zeit stand sie vor einem Moorloch, das deutliche Spuren eines verzweifelten Überlebenskampfes aufwies. Ich muß, während ich schlafgewandelt bin, in dieses Loch gefallen sein, dachte Julia voller Unbehagen. Sie hatte noch einmal Glück gehabt, daß sie sich aus dem Loch hatte befreien können.
Julia sah sich aufmerksam um. Am Tag wirkte die Gegend nicht ganz so düster und unheimlich wie in ihrem Traum. Aber sie war überrascht, wie genau ihr Gehirn die Moorlandschaft im Traum nachgebildet hatte. Sie konnte sogar annähernd feststellen, aus welcher Richtung sie gekommen war, als sie vor dem Werwolf floh. Unwillkürlich setzte sie sich in diese Richtung in Bewegung. Dank der ausführlichen Beschreibungen des alten Eire wußte sie, daß in dieser Richtung das Meer lag. Dazwischen gab es kein Haus und keine Ortschaft mehr. Julia zog den dicken Mantel enger um die Schultern und schritt mutig aus. Wenn Joe ihr schon nicht dabei half, ihren Träumen auf die Spur zu kommen, so wollte sie es doch zumindest allein versuchen. Sie wäre sich äußerst töricht vorgekommen, wenn sie einfach so nach New York zurückgeflogen wäre, ohne vorher auch nur einen Versuch unternommen zu haben, ihre Alpträume besser zu verstehen. Zuversichtlich setzte sie ihren Weg fort – doch im selben Atemzug wünschte sie sich, nicht so neugierig gewesen zu sein! Denn sie entdeckte Spuren im Moor. Spuren, die ihr eine Gänsehaut über den Rücken jagten…
*
Es bestand kein Zweifel. Was Julia da zwischen den Grasbüscheln entdeckte, waren eindeutig die Spuren eines Wolfes oder eines großen Hundes. Es mußte allerdings ein sehr großer Hund gewesen sein, der solch mächtige Spuren hinterließ. Die Fährte war tief in das Moor hineingedrückt. Julia schluckte. Nur mühsam konnte sie den Impuls unterdrücken, Hals über Kopf davonzurennen.
Es müssen die Spuren eines Hundes sein! versuchte Julia sich einzureden, während sie wie unter einem Zwang die Tierspuren verfolgte. Doch dann stieß sie plötzlich auf weitere Spuren. Die Abdrücke nackter Menschenfüße. Der Größe nach zu urteilen, mußten die Spuren von einem Kind oder einer Frau herrühren. Unwillkürlich zog Julia sich einen Stiefel aus, streifte den Strumpf vom Fuß und setzte den nackten Fuß in den Abdruck. Ihr Fuß paßte haargenau in den Abdruck. Julia taumelte einen Schritt zurück. Sie konnte nicht fassen, was sie entdeckt hatte. Schnell zog sie ihren Stiefel wieder an und machte sich daran, die Spuren weiter zu verfolgen. Nachdem Julia eine Strecke gegangen war, bemerkte sie eine kleine Ruine inmitten dieser verwilderten Landschaft. Julia stutzte. War dies das Versteck des Werwolfs? Der jungen Frau erschien dies alles plötzlich sehr unwahrscheinlich. Wieso sollte ihr Alptraum Wirklichkeit geworden sein? Je länger sie darüber nachdachte, desto zweifelhafter wurde ihr jetzt die ganze Angelegenheit. Trotzdem war Julia etwas mulmig zumute, als sie auf die Ruine zuging. Es mußte sich um eine alte Kirchenruine handeln. Von dem Gebäude selbst stand nur noch die Hälfte der groben Mauern aus grauen Feldsteinen. Das Dach war teilweise eingestürzt. Nur die verwitterten Grabsteine und Steinkreuze verrieten noch, daß es sich bei dem Gebäude einmal um eine Kirche gehandelt haben mußte. Julias Schritte wurden langsamer, fast ehrfürchtig. Sie schaute sich aufmerksam um. Aber nirgendwo war der Abdruck einer Wolfspfote oder eines großen Hundes zu sehen. Vorsichtig näherte sie sich dem Gebäude und verharrte einen Augenblick vor der Türöffnung. Einige verwitterte Holzreste zeugten davon, daß hier einmal eine Tür gewesen sein mußte.
Schummriges Licht fiel durch das undichte Dach. Undeutlich konnte Julia erkennen, daß über dem Boden Steine und Holzplatten verstreut lagen. Julia zuckte mit den Schultern und wandte sich ab. Hier befindet sich mit Sicherheit kein Hinweis auf das Geheimnis der Wolfsspuren, dachte sie. Doch im selben Augenblick wurde die junge Frau von hinten gepackt. Ein schwerer Körper prallte gegen sie und riß sie zu Boden. Sie hörte jemanden keuchen, und dann spürte sie, wie sich etwas Kaltes gegen ihre Schläfe preßte. Noch ehe Julia aufschreien konnte, legte sich eine starke Hand auf ihre Lippen. »Wer hat Sie geschickt?« drang die unterdrückte Stimme eines Mannes an ihr Ohr…
*
Mit weit aufgerissenen Augen starrte Julia in das Gesicht des Mannes. Er war braungebrannt. Die schwarzen Haare wirkten unordentlich. Aber Julia konnte erkennen, daß sie vor kurzem noch sehr gepflegt und elegant gewirkt haben mußten. Die braunen Augen funkelten geheimnisvoll, aber momentan waren diese eher sympathischen Augen durch einen Ausdruck lauernden Mißtrauens entstellt. Der Mann schaute Julia direkt in die Augen, und die junge Frau mußte verwirrt feststellen, daß sie das Gefühl hatte, als würden diese braunen Augen ihr bis auf den Grund ihrer Seele schauen. Ein Umstand, den sie nicht als unangenehm empfand, denn diese Augen waren ebenfalls wie Fenster, durch die hindurch Julia bis tief in das Innere des Mannes zu schauen glaubte.
Und plötzlich wußte Julia, daß sie von diesem Mann nichts zu befürchten hatte. Der Unbekannte schien zu demselben Ergebnis gekommen zu sein. Er nahm den Lauf der Pistole von Julias Schläfe. »Sie tun mir weh«, sagte Julia, als der Mann seine Hand von ihrem Mund genommen hatte. Der Fremde wirkte plötzlich verlegen. Er sicherte seine Waffe und verstaute sie unter seinem Gürtel. Dann half er Julia wieder auf die Beine. »Haben Sie sich verletzt?« fragte er besorgt. Julia schüttelte den Kopf. »Sie haben mir nur einen höllischen Schrecken eingejagt«, meinte sie vorwurfsvoll. Argwöhnisch musterte sie den Mann. Er mußte ungefähr in ihrem Alter sein. Seine Kleidung war unauffällig, wirkte aber ebenfalls, wie der ganze Mann, etwas verdreckt und vernachlässigt. »Entschuldigen Sie«, sagte der Fremde nun mit einem Lächeln. »Ich hielt Sie anfangs für eine Terroristin der IRA. Aber Sie tragen ja nicht einmal eine Waffe!« Julia mußte plötzlich loslachen. Der Mann empfand ihr Lachen wahrscheinlich als unpassend, aber Julia war das in diesem Augenblick egal. Die Anspannung war plötzlich von ihr gewichen, und es tat der jungen Frau gut, ihren Gefühlen freien Lauf zu lassen. »Warum lachen Sie?« fragte ihr Gegenüber verwirrt. »Die IRA ist mir auf den Fersen. Ich mußte mich in dieser gottverlassenen Gegend vor diesen verrückten Verbrechern verstecken!« Julia hörte abrupt auf zu lachen. Sie hatte schon viel über die grausamen Kämpfer der IRA gehört, die einen heillosen Krieg gegen ihre irischen Brüder und Schwestern und die Engländer führten.
»Warum ist man denn hinter Ihnen her?« wollte Julia interessiert wissen. Sie hatte die Wolfsspuren völlig vergessen. Der unbekannte Mann hatte eine ganz sonderbare Wirkung auf sie. Sie konnte es sich nicht erklären, aber auf irgendeine undefinierbare Weise fühlte sie sich von diesem etwas verwahrlost aussehenden Mann angezogen. Der Mann sah sich rasch um. Dann ergriff er Julia am Arm und zog sie in die Ruine. Julia folgte ihm willig. Und als sich ihre Augen an das schummrige Licht in der Ruine gewöhnt hatten, sah sie, daß in einer Ecke ein Schlafsack lag. Daneben befanden sich ein Kocher und ein Seesack, in dem sich wohl die übrige Kleidung des Mannes befand. »Bitte, setzen Sie sich«, sagte der Mann und deutete auf seinen Schlafsack. Er schien froh zu sein, sich endlich mit einem Menschen über seine Situation unterhalten zu können. »Leider kann ich Ihnen nicht mehr Komfort bieten. Auf meine Flucht konnte ich nur das Nötigste mitnehmen!« sagte er entschuldigend. Julia setzte sich, und der Mann schenkte ihr heißen Tee aus einer Thermoskanne ein. »Bis vor kurzem war ich selbst noch Mitglied in der IRA«, erklärte er. »Ich habe aber nie einen Hehl daraus gemacht, daß ich die brutale Vorgehensweise der Gruppe nicht gutheißen konnte. Ich bin zwar der Meinung, daß die Katholiken und die Protestanten in Irland die gleichen Rechte zugesprochen bekommen müssen, aber für dieses Ziel Menschen zu ermorden, halte ich für verabscheuungswürdig. Als ich hörte, daß die britische Regierung und die IRA in Verhandlungen getreten sind, um den Frieden herbeizuführen, war ich voller Begeisterung. Aber ich hatte mich geirrt. Nur die wenigsten der IRA-Aktivisten befürworten den Dialog mit der britischen Regierung. Als ich dies bemerkte, wollte ich aus der IRA
austreten, doch es war bereits zu spät für eine Umkehr. Nach Meinung einiger IRA-Aktivisten wußte ich schon zu viel über die Organisation, um einfach aussteigen zu können. Sie wollten mich fester an ihre Gruppe binden, indem sie mich zwangen, mich an einem Anschlag zu beteiligen. Da habe ich die erste Gelegenheit zur Flucht ergriffen. Seit zwei Wochen irre ich nun schon im Land umher. Gestern habe ich diese Kirchenruine im Moor entdeckt und schon geglaubt, hier wäre ich vor einer Entdeckung sicher. Aber heute taucht hier eine junge Frau auf und macht all meine Hoffnungen zunichte.« Julia zuckte bedauernd mit den Schultern. »Ich habe auch nicht damit gerechnet, einen Flüchtling im Moor zu entdecken, als ich diesen sonderbaren Fußspuren folgte…« Julia hielt erschrocken inne, als sie sich plötzlich wieder bewußt wurde, warum sie sich eigentlich im Moor von Sligo aufhielt. Ihr Gegenüber hatte sie aufmerksam beobachtet. »Sie sind nicht von hier, stimmt’s?« stellte er fest. »Sie sprechen wie eine Amerikanerin!« »Ich bin aus New York«, bestätigte Julia. »Aber meine Eltern kamen beide aus Irland.« Sie überlegte einen Augenblick. »Ich heiße übrigens Julia Kildare«, stellte sie sich dann vor. Der Mann ergriff ihre Hand und schüttelte sie. »Entschuldigen Sie meine Unaufmerksamkeit«, sagte er. »Sie müssen wirklich denken, es mit einem Verrückten zu tun zu haben. Mein Name ist Martin Somerville. Ich stamme aus Dublin, wo ich vor kurzem noch als Computerfachmann in einer angesehenen Firma tätig war. Aber das ist nun vorbei. Ich werde nie wieder nach Dublin zurückkehren können!« »Das tut mir leid«, erwiderte Julia aufrichtig. Martin Somerville zuckte mit den Schultern. »Was hat Sie denn in diese gottverlassene Gegend geführt?« wollte er schließlich wissen.
Julia atmete einmal tief durch und erzählte dem Mann dann von ihrer unerwarteten Erbschaft. Das Kapitel mit Joe Villach und ihren Alpträumen sparte sie zunächst jedoch aus. Nun mußte auch Martin lachen. »Es gibt schon merkwürdige Zufälle, die zwei Menschen zusammenführen können«, sagte er. Einen Moment verfielen die beiden in Schweigen. Sie saßen einfach nur da und tauschten verlegene Blicke. Doch dann fielen Julia wieder die sonderbaren Spuren im Moor ein. »Ist Ihnen vergangene Nacht irgend etwas Sonderbares aufgefallen?« fragte sie übergangslos. Martin sah sie verwundert an. »Ich habe geschlafen wie ein Stein«, gab er zu. Julia dachte einen Augenblick nach. »Wissen Sie, ob es in dieser Gegend Wölfe oder große Hunde gibt?« Martin Somerville lachte. »Nein, Wölfe gibt es hier nicht«, meinte er. »Und ein großer Hund ist mir im Moor auch nicht aufgefallen. Ich glaube auch kaum, daß das Hochmoor von Sligo ein bevorzugter Platz für Leute ist, die ihre Hunde ausführen wollen.« Julia mußte lächeln. »Gibt es irgend etwas, das Sie beunruhigt?« fragte Martin. »Vielleicht kann ich Ihnen helfen und den Schrecken, den ich Ihnen eingejagt habe, wiedergutmachen?« Julia wollte erst ablehnen. Als Martin jedoch keine Ruhe gab, willigte sie schließlich ein. Sie erzählte ihm nun doch von ihren Alpträumen und führte ihn schließlich zu den Wolfsspuren. Auch auf die Spuren der nackten Füße machte sie ihn aufmerksam. »Das ist mehr als sonderbar«, gab Martin zu. Er hockte sich nieder und betrachtete die Spuren eingehender.
»Dies sind eindeutig nicht die Spuren von einem Hund«, sagte er voller Überzeugung. »Aber für Wolfsspuren halte ich sie ebenfalls nicht!« Julia spürte, wie die Angst langsam wieder von ihr Besitz zu ergreifen drohte. »Glauben Sie, daß es ein Werwolf gewesen sein könnte?« fragte sie ängstlich. Martin Somerville sah Julia mit zusammengekniffenen Augen an. »Es gibt keine Werwölfe«, stellte er trocken fest. »Sie existieren nur in Märchen und Sagen…« »Oder in Alpträumen«, ergänzte Julia traurig. Martin erhob sich und legte einen Arm um Julias Schultern. »Ich kann mir vorstellen, wie Ihnen zumute ist«, sagte er einfühlsam. »Aber Sie dürfen sich nicht verrückt machen lassen. Ich bin mir sicher, daß es für alles eine vernünftige Erklärung gibt!« Julia schmiegte sich in Martins Arm. Zu gerne hätte sie dem jungen Mann geglaubt. Aber die Ereignisse der Nacht ließen einige Zweifel offen. Julia versuchte ihre Gedanken abzuschalten. Sie genoß die Nähe des Mannes, von dem sie vor ein paar Stunden noch nicht einmal gewußt hatte, daß es ihn gab. »Sie müssen jetzt in Ihre Burg zurückkehren«, ließ sich Martin nach einer Weile vernehmen. »Es wird bald dunkel. Man wird sich bestimmt Sorgen um Sie machen.« Julia sah zum Himmel auf und stellte fest, daß Martin recht hatte. Dunkle Wolken zogen am Horizont auf und schickten sich an, die bereits tiefstehende Sonne zu verdunkeln. »Warum kommen Sie nicht einfach mit?« schlug Julia vor. »Sie können doch nicht die ganze Nacht in diesen Ruinen verbringen!«
»Ich würde Sie gerne begleiten«, erwiderte Martin. »Aber das Risiko ist zu groß. Jemand könnte mich erkennen. Die IRA hat überall ihre Spitzel.« Julia zuckte bedauernd mit den Schultern. »Dann werde ich jetzt wohl gehen müssen«, sagte sie. Aber Martin hielt sie noch einmal zurück. »Sie müssen mir versprechen, niemandem von unserer Begegnung zu erzählen«, bat er eindringlich. Julia nickte, und Martin fuhr ihr mit einer Hand durch das rotbraune Haar. »Ich wünschte, wir hätten uns unter anderen Bedingungen kennengelernt«, sagte er etwas traurig. »Unter anderen Bedingungen hätten wir uns nie kennengelernt«, erwiderte Julia. »Sie würden in Dublin sitzen und ich in New York. Und niemand wüßte um die Existenz des anderen!« Martin lächelte belustigt. »Ich hoffe, wir sehen uns einmal wieder«, sagte er und drückte Julia einen flüchtigen Kuß auf den Mund. Dann wandte er sich ab und verschwand in der Kirchenruine. Schweren Herzens machte Julia sich auf den Heimweg. Ihre Gedanken kreisten dabei unaufhörlich um Martin Somerville und den Werwolf…
*
»Wo warst du bloß die ganze Zeit?« fragte Joe Villach mit unverkennbarer Gereiztheit. »Wir haben uns schon Sorgen gemacht!« Julia wollte schon erwidern, daß sie ihn ja auch nicht fragte, wo er sich die ganze Zeit herumtrieb. Aber sie fühlte sich zu
müde für eine Auseinandersetzung und zuckte einfach nur mit den Schultern. »Es tut mir leid, wenn du dir Sorgen gemacht hast«, erwiderte sie. Mit einem flüchtigen Blick registrierte sie, daß sich Violet Ross ebenfalls in dem großen Saal aufhielt. Julia nickte ihr grüßend zu und widmete sich dann der warmen Mahlzeit, die der alte Eire für sie bereitgehalten hatte. Joe Villach setzte sich neben sie an den Tisch. »Wenn du morgen schon abreisen willst, kann ich mich ja weiter um die alte Burg kümmern«, schlug er vor. Julia sah ihn verwundert an. Sie hatte ganz vergessen, daß sie ja so schnell wie möglich hatte abreisen wollen. Aber dann war sie Martin Somerville begegnet! »Ich weiß nicht, ob ich morgen schon abreisen werde«, sagte sie deshalb. »Ich weiß überhaupt noch nicht, wann ich abreisen werde!« Joe Villach sah Julia besorgt an. »Ich halte es den Umständen entsprechend allerdings für sehr angebracht, daß du, so schnell es geht, nach. New York zurückkehrst!« sagte er eindringlich. »Dein Zustand könnte sich noch mehr verschlechtern!« Julia dachte an die sonderbaren Fußspuren im Moor. Sie dachte daran, daß sich Joe Villach mit all seinen Hypothesen und Vermutungen vielleicht geirrt hatte. Aber sie schwieg. Sie fühlte sich unendlich müde und hatte das Bedürfnis, mit ihren Gefühlen und Gedanken allein zu sein. »Ich gehe jetzt auf mein Zimmer«, sagte sie deshalb und erhob sich. Sie bedankte sich bei Gerrit Eire für das hervorragende Essen und verabschiedete sich bei Joe und Violet mit einem müden Winken. Dann ging sie auf ihr Zimmer. Sie machte sich an dem einfachen Badezuber frisch, schlüpfte in ein neues Nachthemd und begab sich noch einmal ans Fenster.
Versonnen schaute sie an den Gebäuden vorbei aufs Moor. Die Sonne war längst untergegangen. Nebelschwaden hatten sich gebildet und überzogen das Hochmoor mit ihrem bleichen Schleier. Dort irgendwo liegt jetzt Martin Somerville in seinem Schlafsack und friert, dachte Julia. Sie griff nach der Pralinenschachtel und naschte von den Süßigkeiten, die Joe Villach ihr geschenkt hatte. Ob ich Martin einmal wiedersehen werde? fragte sie sich, während sie eine Praline auf der Zunge zergehen ließ. Julia mußte sich eingestehen, daß sie sich nichts mehr wünschte, als den jungen Iren wiederzusehen. Sie wollte wieder seine Nähe spüren, seine Lippen, seine Hände… Julia merkte nicht mehr, wie sie einschlief. Sie schaffte es nicht einmal mehr bis zum Bett. Sie brach einfach vor dem Fenster zusammen und blieb auf dem harten Boden ruhig und gleichmäßig atmend liegen. Als Julia wieder zu sich kam, spürte sie den kalten Wind des Moores um sich herum. Nicht schon wieder! dachte sie schicksalsergeben und versuchte sich in der Dunkelheit zu orientieren. Das fahle Mondlicht, das durch die Nebelschwaden drang, verhinderte jedoch, daß Julia sich in dem Moor zurechtfand. Die junge Frau erhob sich frierend. Das dünne Nachthemd konnte sie nicht vor der nächtlichen Kälte schützen. Voller Panik schaute sie sich um. Wohin nur sollte sie sich wenden? Welche Richtung mußte sie einschlagen, um so rasch wie möglich wieder in die warme Burgruine zu gelangen? Julia wußte es nicht! Aber dieser Gedanke wurde in der nächsten Sekunde auch völlig nebensächlich. Denn Julia hörte wieder das schaurige Heulen des Werwolfes! Und dann sah sie ihn auch schon. Mit
langen Sätzen kam er aus einer Nebelbank direkt auf sie zugeschossen! Julia stieß einen markerschütternden Schrei aus. Abrupt wandte sie sich um und rannte davon. Die Erfahrungen der letzten Nacht nutzten Julia überhaupt nichts. Auch die Ratschläge des allen Eire, wie sie sich im Moor zu verhalten hatte, waren schlagartig vergessen. Julia rannte blind drauflos, ohne auf das Moor zu achten. Sie war außer sich vor Angst und wußte nicht, ob sie nun träumte oder nicht. Das wolfsartige Wesen jagte hinter ihr her, hetzte sie immer weiter in das tückische Moor hinein. Mit Entsetzen mußte Julia feststellen, daß der Werwolf sie bald eingeholt hatte. Ihre Angst bahnte sich einen Weg aus ihrem Inneren. Erst nach einer Weile bemerkte sie, daß sie einen Namen immer wieder rief. Martin! Aber dann hatte der Werwolf sie erreicht! Julia spürte, wie der schwere Körper auf ihrem Rücken landete, wie sie unter dem Gewicht zusammenbrach und der Länge nach hinschlug. Eine krallenbewehrte Pfote legte sich auf ihre Schulter, die andere drückte gegen ihren Kopf, preßte Julias Gesicht in den Schlamm. Augenblicklich blieb der jungen Frau die Luft weg. Brackiges Wasser drang in ihren Mund. Sie versuchte, mit dem Gesicht hochzukommen, aber der Werwolf drückte sie erbarmungslos ins Moor. Das ist das Ende! dachte Julia entsetzt. Jetzt gibt es kein Entrinnen mehr…
*
Plötzlich zerriß ein Schuß die Stille des Hochmoores. Der schwere Körper, der Julia erbarmungslos in das sumpfige Moor gepreßt hatte, sprang jetzt ganz plötzlich vom Rücken der Frau. Unter großer Anstrengung brachte Julia ihren Kopf wieder an die Oberfläche. Sie hustete und spuckte Wasser. Aber dann waren ihre Atemwege wieder frei, und sie bekam Luft. Gehetzt schaute sie sich um. Sie begriff nicht, was vorgefallen war. Doch dann sah sie das Wolfswesen. Eben verschwand es in einer Nebelschwade. Aber soweit Julia erkennen konnte, bewegte es sich aufrecht und auf zwei Beinen! Dann war der Werwolf verschwunden. Julia blieb keine Zeit, über das sonderbare Verhalten des Werwolfes nachzudenken. Sie versank immer mehr im Moor. Schon schaute nur noch ihr Kopf aus dem Wasserloch heraus. Der Werwolf ist fort, dachte Julia entsetzt, aber ich werde trotzdem sterben! Schon reichte ihr das Wasser bis zum Kinn. Es würde nur noch wenige Atemzüge dauern, bis sie ganz im Moor versunken war! Doch plötzlich hörte Julia eine Stimme. »Julia, wo bist du?« »Hier!« schrie Julia verzweifelt. »Martin, hier bin ich! Ich stecke in diesem verfluchten Wasserloch!« Sekunden später hatte Martin sie erreicht. Seine Gestalt tauchte plötzlich aus dem Nebel auf. »Nicht bewegen!« befahl er. »Ich hole dich da raus.« Julia betete, daß Martin dies nicht nur zu ihrer Beruhigung sagte, denn schon spürte sie, wie ihr das brackige Wasser in den Mund quoll.
Martin legte sich flach auf den Boden. Dann tauchte sein Arm tief in das Wasserloch ein. Er tastete suchend umher und bekam dann schließlich Julias Hand zu packen. Martin stemmte sein ganzes Gewicht gegen den schlammigen Untergrund. Tatsächlich gelang es ihm, Julia ganz langsam Stück für Stück aus dem Moorloch herauszuziehen. Schließlich lag Julia schwer atmend und vor Erschöpfung weinend in seinen Armen. »Du mußt dir sofort etwas überziehen«, mahnte Martin. »Du wirst dir bei der Kälte den Tod holen!« Julia versuchte aufzustehen, aber sie war zu schwach, um wieder auf die Beine zu kommen. Martin nahm die junge Frau kurzerhand auf seine starken Arme und trug sie davon. Es dauerte nicht lange, bis sie die Kirchenruine erreicht hatten. Martin holte aus seinem Seesack ein Hemd und eine Hose hervor. »Zieh dein nasses Nachthemd aus, und dann schlüpfe in die trockene Kleidung.« Julia gehorchte. Als sie fertig war, fühlte sie sich schon bedeutend wohler. »Hast du den Werwolf auch gesehen?« fragte sie unsicher. »Ja«, bestätigte Martin. »Als ich deine Schreie gehört habe, bin ich sofort ins Moor hinausgelaufen. Dann sah ich, wie dieser Kerl sich auf dich stürzte und deinen Kopf unter Wasser drückte. Ich mußte schnell handeln und habe einen Schuß auf ihn abgegeben. Ich wollte ihn nicht töten, aber anscheinend habe ich ihn verletzt. Auf jeden Fall ist er auf und davon.« Julia kam plötzlich ein furchtbarer Gedanke. »Martin«, sagte sie ängstlich, »träume ich jetzt, oder geschieht dies alles wirklich?«
»Wenn du träumst«, entgegnete Martin, »dann haben wir beide denselben verdammten Traum.« Mitleidig blickte er Julia an. »Du frierst«, stellte er fest. »Ich bringe dich jetzt in deine Burg. Und dann werden wir herausfinden, wer dir diesen üblen Streich gespielt hat!« »Du glaubst also nicht, daß es ein Werwolf war?« wunderte sich Julia. »Es gibt keine Werwölfe«, beharrte Martin. Er holte eine Taschenlampe aus seinem Seesack. »Es gibt nur Menschen, die sich als solche verkleiden!« Mit diesen Worten zog er Julia auf die Beine. »Gehen wir«, sagte er entschlossen. Martin schien sich in dem Moor sehr gut auszukennen. Zielstrebig führte er Julia durch das unwegsame Gelände. Sie waren noch nicht weit gekommen, da entdeckte Martin etwas zwischen einigen Grasbüscheln. Julia konnte nur etwas weiß schimmern sehen. Als sie jedoch genauer hinschaute, erkannte sie, daß es sich bei dem weißen Fleck um einen Wolfskopf handelte! Julia schrie auf und wich einen Schritt zurück. Martin aber hob den Wolfskopf auf und hielt ihn in die Höhe. »Hier haben wir also schon einen Teil deines Werwolfes«, sagte er und streckte Julia den Kopf entgegen. Es ist der ausgestopfte Wolfskopf aus dem Saal des Gesindehauses! dachte Julia schaudernd. Sie betrachtete das Stück genauer. Der Kopf war innen hohl. Zwei Schlitze waren hineingeschnitten worden, damit derjenige, der sich den Kopf aufsetzte, etwas sehen konnte. Martin warf den Wolfskopf zurück ins Moor. Dann zog er Julia weiter. Bald hatten sie die Kiefern erreicht. Wie drohende Schatten schälten sie sich aus dem Nebel heraus.
Julia blieb plötzlich stehen. Sie hatte ein unterdrücktes Stöhnen gehört. Martin schien es auch gehört zu haben, denn er zog Julia in die Richtung, aus der das Geräusch kam. Unter einem der Bäume fanden sie den Rest des Werwolfes. Es handelte sich um eine Hose und einen Pullover aus zotteligem grauem Fell. An den Enden baumelten breite Pfoten. Neben diesen Sachen fanden sie Gerrit Eire. Im Strahl der Taschenlampe konnten sie erkennen, daß er am Kopf blutete. Julia bekam einen Schreck. Steckt der alte Eire hinter der Geschichte mit dem Werwolf? fragte sie sich unwillkürlich. Aber aus irgendeinem Grunde zweifelte sie daran. Martin untersuchte den alten Mann. »Das ist keine Schußwunde«, stellte er schließlich fest. »Jemand hat ihm einen harten Schlag auf den Kopf versetzt. Er ist nicht unser Mann!« Erleichtert atmete Julia auf. Aber in diesem Moment öffnete der alte Eire die Augen. »Sie sind im Hauptgebäude«, stöhnte er. »Ihr müßt euch beeilen!« Julia wollte ihm noch ein paar Fragen stellen, aber Martin riß sie schon wieder schnell mit sich fort. Wenig später hatten sie die Burg erreicht. Das Leihauto parkte auf dem Parkplatz vor dem Hauptgebäude. Die Scheinwerfer waren angeschaltet und beleuchteten den Eingang des Hauptgebäudes. Verärgert registrierte Julia, daß jemand das Absperrband achtlos zerrissen hatte. Dann erst bemerkte sie den offenen Kofferraum des Leihwagens. Martin leuchtete mit seiner Taschenlampe hinein. Überrascht stöhnte Julia auf. In dem Kofferraum befanden sich goldene Pokale, mit Edelsteinen besetzte Ketten,
Armbänder und Ringe. Sogar prunkvoll verzierte, altertümliche Waffen waren darunter! Julia begriff nur langsam, was hier vor sich ging. Aber noch weigerte sie sich, ihre Schlußfolgerungen zu akzeptieren! »Unser Werwolf muß im Hauptgebäude sein«, sagte Martin in diesem Augenblick. Der Anblick der wertvollen Kostbarkeiten schien ihn nicht zu beeindrucken. Und ehe Julia es verhindern konnte, war Martin auch schon mit ein paar Sätzen ins Hauptgebäude eingedrungen. »Martin, warte!« rief sie und eilte hinterher. Jemand hatte in dem alten Gebäude eine Stehlampe aufgestellt. Ihr Strahl beleuchtete das Loch im Boden und den Hügel frisch aufgeworfener Erde. Als Julia Martin erreichte, bedeutete er ihr, daß sie sich ruhig verhalten sollte. Aus dem Loch waren Stimmen zu vernehmen. »Wir müssen uns beeilen!« hörte Julia eine eindringliche Stimme, die sie leider nur allzugut kannte. »Sie können jeden Moment hier auftauchen. Laß den Rest liegen. Das, was wir in unserem Kofferraum haben, reicht bis an unser Lebensende!« Julia preßte eine Hand auf ihren Mund. Es war eindeutig Joe Villachs Stimme, die da aus dem Loch drang. Und was er sagte, ließ sie nun keine Sekunde länger daran zweifeln, daß der Psychologe und Violet Ross die Schatzjäger waren. »Du hättest das Biest eben erledigen sollen«, antwortete eine Frauenstimme in diesem Moment, die Julia unschwer als die von Violet Ross identifizierte. »Ich gehe erst, wenn das letzte Stück Gold geborgen ist! Geh lieber nach oben und sorge dafür, daß wir nicht gestört werden!« Schritte waren zu hören. Kurz darauf erschien der Kopf von Joe Villach am Rande des Lochs. »Verdammt!« stieß er hervor, als er Julia und Martin sah. Aber zu mehr kam er nicht mehr, denn im nächsten Augenblick stürzte sich Martin auf ihn.
Die beiden Männer rangen wild miteinander. Julia sah, daß Joe Villach an der Schulter verletzt war. Blut hatte sein Hemd durchtränkt. Julia wußte, daß es von der Schußwunde herrührte, die Martin ihm verpaßt hatte, als er noch in der Verkleidung des Werwolfes steckte. Unendliche Traurigkeit überkam die junge Frau. Joe Villach, ihr Therapeut, hatte sie schändlich verraten. Er hatte sein Wissen um ihre Alpträume mißbraucht, um sie aus dem Weg zu räumen. Die Aussicht auf die unermeßlichen Reichtümer, die der Schatz ihm versprach, hatten ihn geblendet. Daß Violet Ross dabei eine nicht unbedeutende Rolle gespielt haben mußte, stand für Julia außer Frage. Julia hatte für einen Augenblick das Loch unbeobachtet gelassen. So war ihr nicht aufgefallen, daß Violet Ross hervorgekommen war. In ihrer Hand hielt sie einen Revolver. Der Lauf zielte auf die beiden kämpfenden Männer am Boden. »Vorsicht, sie hat einen Revolver!« stieß Julia noch eine Warnung aus. Aber da war es bereits zu spät! Ein Schuß peitschte durch die Ruine. Die Kugel verfehlte die Männer, die plötzlich in ihrem Kampf innehielten. Doch im nächsten Augenblick brach die Hölle los. Der Erschütterung des Schusses hatte den morschen Balken den Rest gegeben. Unter ohrenbetäubendem Krach stürzten die Stockwerke über den Menschen zusammen. Julia war vor Entsetzen wie gelähmt. Sie sah die Balken und Steine auf sich zustürzen. Doch plötzlich spürte sie, wie sie jemand um die Körpermitte packte und mit sich fortzog. Um sie herum war nur Staub und Lärm. Sie hustete und würgte und kam erst wieder einigermaßen zu sich, als Martin sie neben dem Leihwagen ablegte. »Wie geht es dir?« fragte er besorgt und strich ihr liebevoll einige Haarsträhnen aus dem Gesicht.
»Mir ist nichts geschehen«, entgegnete Julia. »Du hast mich in dieser Nacht ein zweites Mal gerettet!« »Ich werde dich immer wieder retten, wenn es nötig ist«, sagte Martin und gab ihr einen Kuß. Aber dann erhob er sich und eilte in das Gesindehaus. Von dort aus verständigte er die Polizei und die Feuerwehr. Violet Ross und Joe Villach konnten nur noch tot aus den Trümmern des Hauptgebäudes geborgen werden. Gerrit Eire hatte es nicht so schlimm erwischt. Die Platzwunde an seiner Stirn würde bald verheilt sein. In den folgenden Tagen leitete Julia alles für ihren Plan in die Wege. Sie hatte sich entschlossen, den Schatz, den Violet Ross und Joe Villach aus den Ruinen geborgen hatten, der irischen Regierung zu schenken. Es befanden sich viele kostbare und einzigartige Stücke unter der ehemaligen Beute der Burgerbauer. Julia hatte an ihre Schenkung nur drei Bedingungen geknüpft. Der Schatz sollte in der Burg ausgestellt werden, wo er gefunden worden war. Für die Sanierung des alten Gebäudes hatte die irische Regierung aufzukommen. Ebenso hatte die irische Regierung das Gehalt von Gerrit Eire zu stellen, der fortan als Museumswärter in der Burg tätig sein würde. Die zuständigen Behörden fanden sich nach wenigen Verhandlungen dazu bereit, Julias Bedingungen anzunehmen. Weiterhin wurde ihr zugesagt, daß man Martin Somerville in die Vereinigten Staaten auswandern lassen wollte. Er würde dort wegen der Verfolgung durch die IRA um Asyl bitten. Und so saß Julia am Ende ihres Urlaubs zusammen mit Martin Somerville in einer PAN-AM-Maschine mit dem Flugziel New York! »Die Umstände, die zwei Menschen zusammenführen, sind manchmal sehr sonderbar«, flüsterte Martin und legte zärtlich einen Arm um ihre Schultern.
Julia mußte unwillkürlich an Joe Villach und Violet Ross denken. Bei ihnen war die zufällige Bekanntschaft nicht so glücklich verlaufen wie bei ihr und Martin. Die Habgier der beiden hatte sie zerstört! Wie bei den Ermittlungen der Polizei herausgekommen war, waren die Pralinen, die Joe ihr geschenkt hatte, mit einem starken Schlafmittel versehen worden. Jedesmal, wenn Julia in tiefen Schlaf gefallen war, hatte Joe sie ins Moor hinausgebracht. Als sie wegen der Kälte dann erwacht war, hatte Joe sie in seinem Werwolfskostüm gejagt. Anfangs wollte er sie wohl nur erschrecken, um sie zu einer raschen Heimreise zu bewegen. Schließlich wollte er zusammen mit Violet ungestört den Schatz bergen. Als diese Taktik jedoch nicht aufging, muß Joe den Entschluß gefaßt haben, seine Patientin zu ermorden! Julia schüttelte die belastenden Gedanken ab. Sie war sich ganz sicher, daß ihre Alpträume nun an der Seite von Martin Somerville an Bedeutung verlieren würden. Vertrauensvoll schmiegte sie sich in die Arme des Iren und schloß dann erschöpft die Augen. Wenn sie ihr Gefühl nicht trog, erwartete sie beide eine glückliche, friedliche Zukunft…