Burt Frederick
Cholera an Bord
„ Gelobt sei der Herr in seiner unermeßlichen Güte!"
Kapitän Arnos Toolan gab seine...
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Burt Frederick
Cholera an Bord
„ Gelobt sei der Herr in seiner unermeßlichen Güte!"
Kapitän Arnos Toolan gab seiner Stimme einen markigen Klang und breitete die Arme
aus. Dadurch sah er aus wie ein rundlicher, pausbackiger Engel, allerdings
reichlich groß geraten. Wie er da hinter der Querbalustrade des Achterdecks auf den
Zehenspitzen wippte, konnte man ihn sich leicht als Posaunenengel vorstellen.
Man brauchte nicht viel Enbildungskraft dazu, um ihn als schwergewichtigen Engel
himmlischen Gestaden entgegenschweben zu sehen.
„Lasset uns diesen Tag mit Lobpreisen beginnen!" Toolan reckte die wurstförmigen
Arme noch ein Stück höher. Die Offiziere und die selbsternannten Hirten
hatten hinter ihm einen Halbkreis gebildet. Sie nickten und murmelten beifällig.
Kate Flanagan sah und hörte nichts davon. Sie beachtete auch ihren Mann nicht,
neben dem sie auf der Kuhl der „Explorer" hockte - inmitten all der Leute,
die froh waren, endlich wieder die Sonne zu sehen.
Kate hatte nur Augen für dieses Bild von einem Mann...
Die Hauptpersonen des Romans: Kate Flanagan -als ihr Mann an der Cholera stirbt, ist sie keineswegs vollerTrauer. Laura Stacey - die junge, hübsche Londonerin widmet sich hingebungsvoll der Krankenpflege. Hannibal Gould - der frömmelnde Puritaner entwickelt einen teuflischen Plan, sich der Kranken zu entledigen. Amos Toolan - der Kapitän der „Explorer" preist zwar bei jeder Gelegehneit die unendliche Güte des Herrn, aber ein reines Gemüt hat er keineswegs. Batuti - der Riese aus Gambia fährt für eine Weile mit dem Kutscher und Bob Grey auf der „Explorer", aber das ist für keinen von ihnen ein Vergnügen. Philip Hasard Killigrew - der Seewolf kann in letzter Minute verhindern, daß bei den Auswanderern eine Panik ausbricht.
1. Sie wollte ihn haben. Sie mußte ihn haben. Das Dumme war nur, daß er einer anderen gehörte. Die beiden wa ren das vollkommenste Paar, das sie je gesehen hatte. Sie wirkten wie für einander geschaffen. Der Neid mußte es ihnen lassen. Er war kaum mehr als zwanzig Jahre alt, hochgewachsen und kraft voll gebaut. Sein blondes Haar leuch tete im Licht der Sonne und bildete einen aufregenden Kontrast zu der Bräune seines kühnen, scharfge schnittenen Gesichts. Das Mädchen war gleichfalls blond. Seidig schimmernd fiel ihr Haar bis über die Schultern und gab ihrem schlanken Körper eine Art von Beto nung, die jeden Mann in Faszination versetzen mußte. Nein, wohl nicht jeden. „Lobet den Herrn!" brüllte Toolan so unvermittelt und lautstark, daß die meisten an Bord zusammenzuck ten. „Ja, ich sage euch, lobet den Herrn! In seinem unergründlichen Ratschluß hat er uns eine schwere
Prüfung auferlegt. Aber wir haben diese Prüfung bestanden, meine Freunde! Die Stürme liegen hinter uns! Vor uns liegt das Licht! Ihr seht es! Der Herr ist mit uns!" Ein vielstimmig gemurmeltes „Amen" war die Reaktion. Mit einem unwilligen Seitenblick streifte Kate Flanagan unterdessen ihren Angetrauten, der rechts neben ihr saß. Sie hatten das Glück gehabt, eine Taurolle zu erwischen, nicht weit vom Großmast entfernt. Hugh Flanagan war nur mittelgroß und untersetzt. Wenn er saß, fiel seine unmögliche Figur am meisten auf. Die Hüften waren breiter als die Schultern. Es war, als throne ein viel zu kleiner Oberkörper auf einem wul stigen Ring aus Knochen und Fleisch. Sein Gesicht, immer noch mit dem Ausdruck eines ahnungslosen dum men Jungen, der begriffstutzig in die Welt blickt, hatte jene rosige Farbe, die so typisch war für einen Bauern, der die meiste Zeit seines Lebens im Freien verbrachte - auf irgendeinem verdammten, nach Jauche stinken den Acker. Seine Augen waren klein
5 und graublau wie die eines borstigen alten Ebers. „Höret nun die Epistel, aus der wir die Leitgedanken für diesen wunder schönen Junitag im Jahre des Herrn 1598 entnehmen!" Toolan trompetete wie ein Fanfarenengel. Kate grinste mitleidig hinter vorge haltener Hand. Dieser komische Typ von einem Kapitän war bestimmt auch nicht gerade ein Frauenheld. Ih ren Mann nannte sie jedenfalls in Ge danken nur ihren Trottel. Er hatte keinen Blick für die schö nen Dinge des Lebens. Seine Vorzüge, wenn man sie überhaupt so nennen wollte, lagen woanders. Er wußte, wann der richtige Zeitpunkt war, ein Feld zu bestellen. Er konnte mit den Ackergäulen so gut umgehen, daß man fast glaubte, sie verstünden, was er sagte. Und er konnte selbst arbei ten wie ein Pferd. Er war der Mann für Virginia. Er konnte etwas aufbau en. Aber die Schönheit einer Laura Stacey erkennen? Kate ließ ihre innere Stimme laut los und bitter lachen. Was, zum Teu fel, sollte man von einem Kerl erwar ten, der nicht einmal die körperlichen Vorzüge seiner Ehefrau zu würdigen wußte? Hatten sich in Devonshire nicht alle aufrechten Burschen nach ihr umgedreht und ihr mit glitzern den Augen nachgestarrt? Sie hatte nur über die Dorfstraße zu stolzieren brauchen, um sich ihrer Bewunderer sicher zu sein. Mächtig gut hatte sich sich vorstellen können, was in den Köpfen der Kerle vor sich gegangen war, wenn sie den Busen vorgereckt und die Hüften hatte schwingen lassen.
Ihr Vater hätte sich wirklich einen Besseren aussuchen können als den Trottel, an den er sie als Eheweib buchstäblich verschachert hatte. Und was hatte es genutzt? Nicht das ge ringste! Der Landlord hatte wieder einmal etwas von seinem Grundeigentum verkaufen müssen, weil ihm für seine Völlerei und seine rauschenden Feste das Geld ausging. Zufällig hatte es sich dabei um das Land gehandelt, das Hugh Flanagan als Pächter beak kert hatte. Kate hatte keine gute Erinnerung an ihren Vater, jetzt schon gar nicht mehr - und das, obwohl sie eigentlich viel von dem Grundsatz hielt, über Tote nichts Schlechtes zu reden. Sie hätte sich gewünscht, an einen herr schaftlichen Haushalt in London ver mittelt zu werden. Dienstmädchen sollten hin und wie der Gelegenheit haben, jungen Lords oder sonstigen adligen Gentlemen den Kopf zu verdrehen. Aber ihr Va ter hatte eben keine Phantasie gehabt und nur bis zum nächsten Farmhof tor gedacht. Das Ergebnis mußte sie nun ausbaden. Mit ihrem Trottel saß sie auf einem Schiff, das zwei Wochen nach der Ab reise aus London bereits hoffnungs los verdreckt war. Um sie herum war nichts als Wasser - dieser elende At lantik, der wohl niemals ein Ende nehmen würde. Es dauerte bestimmt noch endlose Wochen, bis sie die Neue Welt erreichten. Wenn überhaupt. Oben, auf dem Achterdeck, trat Hannibal Gould, einer der Hirten, vor und baute sich mit einem aufgeschla
6 genen Folianten neben dem Posau Edward Witherspoon und Wilbur Mathis. Alles Puritaner von der ver nenengel auf. Hirten wurden die acht Kerle von bissensten Sorte. Kate Flanagan hatte von zuviel Re den meisten deshalb genannt, weil sie sich selbstherrlich dazu aufge ligiosität immer Abstand gehalten. schwungen hatten, gemeinsam mit Vielleicht gerade deshalb, weil ihr Toolan für das Seelenheil der Passa Trottel ein treuer Anhänger des Puri giere zu sorgen. Gould war ein gro tanismus war. Das reinste Schaf ßer, knochig gebauter Mann mit wie der düstere Hannibal und seine buschigen schwarzen Augenbrauen, Freunde es sich wünschten. Laura und Michael hatten einen die ihm ein bedrohliches Aussehen günstigen Platz an der Backbordver gaben. Verdammt, es gab keinen Grund, schanzung erwischt. Wie es aussah, warum sie nicht ausprobieren sollte, hockten sie ebenfalls auf einer Tau ob sie einer Laura Stacey nicht min rolle, da sie über die Köpfe der ande ren hinwegblicken konnten. Mit dem destens ebenbürtig war. Laura Stacey war das blonde Mäd Rücken lehnten sie am Schanzkleid. Dadurch ergab sich zwangsläufig, chen. Ihr Verlobter hieß Michael An daß ihre Blicke leicht abschweifen derson. Kate hatte unauffällig herumge konnten, um die hundertköpfige fragt. Sie wußte schon eine Menge Schar der Passagiere zu betrachten. über die beiden. Beider Eltern waren Manch einer sah elend aus, hatte sich Nachbarn in London gewesen. Wäh während der Stürme fast die Galle rend einer der gefürchteten Pest-Epi aus dem Hals gewürgt und tagelang demien in der Themse-Stadt waren nichts essen können. sie elendiglich zugrunde gegangen. Andere wiederum waren das pralle Michael und Laura, die sich von Leben. Kate Flanagan fühlte sich so. klein auf kannten, hatten beschlos Ihre Sinne vibrierten. Sie brauchte sen, gemeinsam ihr Glück in der diesen Michael nur anzusehen, um Neuen Welt zu versuchen, nachdem richtiggehend verrückt zu werden. die meisten ihrer Geschwister schon Sie fragt sich, ob sie gepflegt genug vor ihnen die Reise über den Atlantik aussah - soweit es unter den erbärm gewagt hatten. lichen Umständen an Bord möglich Hannibal, der düstere Hirte, räus war. Ihr dunkles Haar war mit Si perte sich vernehmlich. Jeder an cherheit zersaust und strähnig. Bord wußte inzwischen, daß das ein Sie blickte unauffällig an sich hin Befehl war. Der Befehl, ab sofort kei unter. Die einfache Leinenbluse, so nen Mucks mehr von sich zu geben. wollte es der Zufall, war in den Wir Jene, die hinter ihm standen und ren des Geschehens leicht eingeris sich mit ihm für das geistliche Leben sen. Genug, um ein aufregendes De an Bord der „Explorer" verantwort kollete entstehen zu lassen. lich fühlten, waren Rufus Fachtham, Es zeigte so viel von ihren Brüsten, Alvin Merriweather, Lionel Renfrow, daß ein erfahrener Mann ohne große Henry Barrister, Gordon Jameson, Mühe ihre üppigen Formen erkennen
7 konnte. Was aber wohl keiner ahnte, war die Tatsache, daß sie schon drei ßig Jahre alt war. Jeder mußte sie für mindestens fünf Jahre jünger halten. Hannibal Gould ließ seine Stimme dröhnen: „Es begab sich aber, daß sie das Land der Verheißung suchten. Der Herr hatte ihnen den Weg ge zeigt, aber sie verschlossen ihre Au gen vor seinen Geboten. Da verwirrte er ihren Geist, und er schickte ihnen furchtbare Ungeheuer, denen er sie auslieferte. Es war der Höllen schlund, der sich vor ihnen auftat, und erst, als die Ungläubigsten unter ihnen hinabgefahren waren, besann sich der Herr auf die wirklichen und wahrhaftigen Seelen, die ihm zu die nen willens waren . . . " Kate bemerkte Michaels Blick. Sie ließ jene Glut in ihren Augen entste hen, mit der sie früher das halbe Dorf verrückt gestimmt hatte. Ihr entging nicht, wie er sie anstarrte und leicht errötete, als ihm klar wurde, was sie mitgekriegt hatte. Er hatte auf dieses Dekollete ge stiert! Kate lächelte, und er wandte ruck artig den Kopf in eine andere Rich tung. Verstohlen sah er Laura von der Seite an, wohl um sich zu verge wissern, ob sie etwas gemerkt hatte oder nicht. Kate Flanagan war sich sicher, ih ren ersten Pluspunkt verbucht zu ha ben. Was ihre Oberweite betraf, war sie Laura Stacey auf jeden Fall um mehrere Zoll überlegen. „Hämmert es in eure Schädel!" schrie der düstere Hannibal. „Prägt es euch sehr gut ein! Euer Leben wird davon abhängen, wie folgsam ihr auf dem vorgezeichneten Weg bleibt!"
Kate zuckte ungewollt zusammen und ärgerte sich über den frommen Schreihals, weil er ihre angenehmen Gedankenbahnen störte. Die meisten Leute in der Umgebung, einschließ lich ihres Trottels, hingen mit ihren Augen an den Lippen dieses neun malklugen Predigers. Was er da als sogenannte Epistel vorgetragen hatte, stammte natürlich aus seiner eigenen Feder. Aber wel ches von den dummen Schafen merkte das schon! Hauptsache, es klang richtig schön biblisch, dann wurde es auch so aufgefaßt, wie es ge dacht war. Es gelang Kate noch zweimal, Blicke von Michael Anderson aufzu schnappen, von denen seine blonde Laura nichts gewahr wurde. Kate hatte ein Gefühl, das sie mindestens als himmelhoch jauchzend einstufte. Sie hörte dem Brüllen und Trompe ten der frommen Kerle auf dem Ach terdeck nicht mehr zu. Am Rand ihres Blickfelds sah sie ihren Trottel, der in andächtiges Lau schen versunken war und die schwie ligen Hände über dem Bauch gefaltet hatte. Er widerte sie an, zumal sie im Hintergrund, in Verlängerung der Blickachse, diesen wunderhübschen blonden Jungen sah. Auf einmal spürte sie das Verlan gen, frei zu sein. Ihre Gedanken wan derten in eine andere Richtung. Bei Sturm, das hatte sie nun hinlänglich erfahren müssen, bestand leicht die Gefahr, daß jemand über Bord ging vorausgesetzt, er hielt sich an Deck auf. Aber konnte ein Mann nicht auch unter anderen Voraussetzungen über Bord gehen? Bei einem ganz gewöhn
8 lichen Spaziergang vielleicht, wenn er sich unvorsichtig zu weit über die Verschanzung beugte, um den Rumpf des Schiffes zu beobachten, wie er die Fluten teilte. Dann brauchte man nur die Beine des Unglückseligen zu pak ken, und schon war es passiert. Das Problem bestand allerdings in den möglichen Zeugen. Tagsüber er schien ein solches Vorhaben als na hezu ausgeschlossen. Bei hundert Passagieren war die Wahrscheinlich keit, beobachtet zu werden, zu groß. Und nachts war es eben schwierig, sich unerlaubt an Deck zu schleichen. Außerdem: Wie würde ein phanta sieloser Mensch wie Hugh Flanagan reagieren, wenn ihn sein Eheweib mitten in der Nacht weckte und ihn flüsternd fragte, ob er mit ihr die Ro mantik einer Mondnacht auf dem At lantik genießen wolle? Erstens wußte er sowieso nicht, was Romantik war, und zweitens würde er kaum begrei fen, was so zauberhaft daran sein sollte, bei Mondenschein über eins der oberen Schiffsdecks zu wandeln. Nein, nein, die Möglichkeit, den Trottel über Bord gehen zu lassen, kam wahrscheinlich überhaupt nicht in Betracht. Bestenfalls dann, wenn sich keine andere Methode als prakti kabel erwies. Kate erschrak über sich selbst, vor allem darüber, daß sie regelrecht Mordpläne zu entwickeln begann. Doch wenn sie ihn so von der Seite ansah, mit seinem halb offenen Mund und den andächtigen Schweinsäug lein, dann empfand sie ihre Gedan ken wiederum als gerechtfertigt. Sie würde Zeit haben, darüber nachzudenken, wie ein Mann auf ei nem Segelschiff ins Jenseits zu beför
dem war. Ebenso würde sie Zeit ha ben, sich zu überlegen, wie sie Mi chael Anderson noch intensiver an sich lockte.
Philip Hasard Killigrew trat an die Heckbalustrade der Schebecke und suchte mit dem Spektiv die östliche Kimm ab, die sich im hellen Tages licht als deutlich erkennbare Linie abzeichnete. Nicht minder deutlich waren die Mastspitzen. Die kleine Karavelle, die ihnen seit London folgte, war mittlerweile ein vertrauter Anblick geworden. Selbst die Stürme der ver gangenen Tage hatten die Kerle nicht zum Aufgeben zwingen können. Sie waren mindestens so hartnäckig wie Bluthunde. Die Erfahrungen aus den Atlantiküberquerungen zurücklie gender Monate und Jahre gaben ihrer Gier Nahrung. So ein Konvoi von mehreren Aus wandererschiffen geriet durch die Naturgewalten meist in größte Schwierigkeiten. Oft wurden Ver bände im Sturm auseinandergetrie ben. Dann brauchte man sich nur auf ein einzelnes, möglichst noch manö vrierfähig treibendes Schiff zu stür zen. Es entsprach der Niedertracht die ser Kerle, daß sie imstande waren, Menschen auszurauben, die alle Brücken hinter sich abgebrochen hat ten und auf ein neues Leben in einer ungewissen Umgebung hofften. Hasard hatte sie kurz nach dem An keraufgehen zur Rede gestellt. Aber sie hatten ihm hohnlachend erklärt, daß sie hinsegeln könnten, wo sie
9 wollten. Sie seien ihm keine Rechen Betrachtungsweise anstecken las schaft schuldig, und ebensowenig sen." Hasard spielte auf Ben Brigh habe er das Recht, ihnen einen be tens Neigung an, einer Sache erst ein stimmten Kurs vorzuschreiben. mal mit viel Skepsis und Mißtrauen Wenn ihr Kurs auch der seine sei, so zu begegnen. Dan schüttelte energisch den Kopf. handele es sich dabei eben um einen „Sieh es dir an." Er deutete auf die reinen Zufall. prallstehenden Segel. „Dieser Nord Dieser „reine Zufall" würde noch ost ist ein falscher Hund. Ich spür's in eine Menge Verdruß bereiten, da gab allen Knochen. Er beschert uns eine es keinen Zweifel. Sonnenglut, daß man denken könnte, „Sie verstehen ihr Handwerk", wir segeln im Hochsommer auf dem sagte Dan O'Flynn, der neben den Mittelmeer. Das ist nicht normal. Ich Seewolf getreten war. „Daß sie uns sehe unsere Segel schon als schlaffe im Sturm nicht aus den Augen verlo ren haben, ist schon eine Leistung." Lappen." „Und du kannst von uns allen am Hasard nickte und ließ das Spektiv sinken. „Behalten wir sie also minde besten sehen", sagte Hasard augen stens genausogut im Auge wie sie zwinkernd. „Daran gibt's leider uns." Er schob das Spektiv zusam nichts zu deuteln." Dan mußte lachen. Es stimmte, er men. „Was hältst du vom Wetter?" Dan bewegte unsicher den Kopf hatte die schärfsten Augen von allen von einer Seite zur anderen. „Eigent Arwenacks. Das zweite Gesicht, wie lich müßtest du meinen Old Man fra es sein Vater gelegentlich für sich in gen, ob sich in seinem Holzbein was Anspruch nahm, hatte er deswegen aber noch lange nicht. rührt." „Und wenn ich dich frage?" entgeg Er wollte es Hasard auseinander nete der Seewolf und grinste. „In dei setzen, wurde aber daran gehindert, ner Funktion als Navigator und Wet da Ben Bringhton ihn und den See terfrosch?" wolf mit einem Zischlaut auf das Ge Dan setzte eine gewichtige Miene schehen an Deck hinwies. auf. „In Ordnung. Also, ich halte es Hasard und Dan wandten sich nach für trügerisch. Es ist viel zu schön, vorn. um wahr zu sein." Die drei Passagiere lustwandelten. „Wir haben Juni, Dan." „Richtig. Aber das will überhaupt nichts heißen. Hatten wir nicht einen 2. Mai, der nur ein besserer April war?" „Was läßt sich deiner Meinung Sir William Godfrey, Frank Daven nach daraus folgern?" port und Alec Morris ignorierten die „Nach dem Sturm werden wir das Blicke der Männer, nachdem sie ihre Unterdeckskammern verlassen hat genaue Gegenteil kriegen." ten und sich mit offenen Brokatjak „Flaute?" ken schlendernd in Richtung Vor „Ich bin sicher." „Mir scheint, du hast dich von Bens schiff bewegten.
10 „Ein herrlicher Tag", sagte Sir Wil liam schwärmerisch. „Und diese rauhe Atlantikluft, verbunden mit den wundervoll wärmenden Sonnen strahlen! Einfach himmlisch!" Er verdrehte verzückt die Augen. „Laßt es uns genießen, Freunde. Nach den furchtbaren Strapazen der letzten Tage haben wir es weiß Gott ver dient." Davenport und Morris musterten ihn argwöhnisch von der Seite. „Alter Schluckspecht", sagte Mor ris respektlos. „Mit was hast du schon wieder gegurgelt, als wir nicht dabei waren?" „Paß bloß auf", fügte Davenport feixend hinzu. „Die Sonne läßt dir glatt den Absinth unter der Schädel decke kochen." Sir William schüttelte sich in gut gespieltem Ekel. „Absinth! Ich hoffe, den Tag nicht erleben zu müssen, an dem ich mich herablassen müßte, so ein Zeug zu trinken. Im übrigen, Gentlemen, halte ich Ihre Anspielung für unverfroren. Ich bin völlig nüch tern und im Vollbesitz meiner geisti gen Kräfte." Davenport und Morris wechselten einen Blick. Der gute Sir William hatte diesen bewußten Tag fast täg lich erlebt - in London. Allerdings war er dann stets nicht mehr im Voll besitz der erwähnten Kräfte gewesen, so daß er den mangels Geld georder ten Fusel schlicht vergessen hatte. Sie erreichten das Vorschiff und waren allein. Die Mannschaft des Seewolfs ging ihnen sowieso meist aus dem Weg. Für die Gentlemen war das noch lange kein Grund, darüber nachzudenken, ob ihr Verhalten mög licherweise die Ursache dafür sein
könne, daß die Männer an Bord den Kontakt mit ihnen mieden, solange es nur irgendwie ging. Sie fühlten sich nach wie vor als die wichtigsten Personen auf der Sche becke, wurden ihrer Meinung nach aber nicht so respektvoll behandelt, wie es ihrem gesellschaftlichen Sta tus entsprochen hätte. Alles, was sie versucht hatten, um sich Killigrew gegenüber durchzusetzen, war zweck los gewesen. Er verließ sich einfach darauf, daß er bei der Königin einen Stein im Brett hatte. Leider konnte er sich tat sächlich darauf verlassen. Obwohl sie, die hochwohlgeborenen Gentle men, ebenfalls im Auftrag der Köni gin reisten, schien Killigrews Wort schwerer zu wiegen. Sie hatten es nicht geschafft, sich gegen ihn durch zusetzen. Und das, obwohl sie alle nur erdenklichen Register gezogen hat ten. Sie hatten sich mit dem beklagens werten Schicksal abgefunden, für die Dauer der Reise nach Virginia als normale Menschen behandelt zu wer den. Dabei hatte die Königin sie be auftragt, den weiteren Aufbau der jungen Kolonie zu leiten. Eine bedeu tende Aufgabe, durchaus ihrem Rang und ihren Fähigkeiten entsprechend. Natürlich war es ihre höchstpersön liche eigene Sache, wenn sie beab sichtigten, sich in der Neuen Welt ein wenig nach Gold umzusehen. Und wenn aus dem „ein wenig" die Haupt sache wurde, ging das letztlich auch niemanden etwas an. Eine Weile blickten sie schweigend auf die schäumende Bugsee hinunter. Die Brise, die über sie hinwegstrich, war lau und wie ein wohltuendes
11 Streicheln. Die Sonnenstrahlen hat ten eine beinahe sengende Kraft. Nach dem vorangegangenen Wüten der Naturgewalten war es gleichbe deutend mit einer unendlichen Ent spannung. „Du bist also stocknüchtern", stellte Frank Davenport mit einem Seitenblick auf Sir William fest. „Um so mehr wundert es mich dann, daß du auf einmal gegen alle Regeln der Vernunft verstoßen willst." Alec Morris wußte augenblicklich, von was Davenport sprach. „Ich finde, wir sollten uns wenigstens auf die andere Seite begeben, wo wir den Schatten des Segels für uns haben wenn wir uns schon im Freien aufhal ten müssen." Sir William Godfrey blickte seine adligen Gefährten mit überlegener Miene an. „Gentlemen", sagte er tadelnd, „wie mir scheint, habt ihr euch in London vor allem dem Saufen, dem Fressen und der Hurerei gewidmet. An die Mehrung eures Wissens habt ihr offenbar nicht im mindesten ge dacht." Davenport und Morris starrten ihn an. „Und du willst uns erzählen, du hät test heute morgen nicht mit Absinth gegurgelt?" prustete Morris los. „Los, hauch mich mal an!" Sir William strich sich über die leuchtend rote Säufernase und ver zog pikiert das Gesicht. „In eurer Unwissenheit seid ihr auch noch unverschämt", entgegnete er. „Das hätte ich nicht von euch er wartet." „Wieso sprichst du in der Mehr zahl!" protestierte Davenport. „Ich
bin ja bereit, dazuzulernen. Im Ge gensatz zu gewissen anderen Leuten, die sich ausschließlich dafür interes sieren, was sich unter Weiberröcken verbirgt." Morris tat, als suchte er nach einem Handschuh, den er ihm hinwerfen konnte. Davenport verzog das Ge sicht in gespielter Angst. „Was seid ihr nur für ahnungslose Engel", sagte Sir William kopfschüt telnd. „Habt ihr wenigstens den Na men Mortensen schon mal gehört? Doktor Jeffrey Mortensen?" Morris und Davenport vergaßen ihre vorgetäuschten Duellabsichten und zogen wissend die Augenbrauen in die Höhe. „Wer hätte von ihm wohl noch nicht gehört", sagte Morris. „Die La dys sind ja ganz begeistert von seinen neuen Heilmethoden." „Und was er sonst noch für Metho den haben mag", fügte Davenport grinsend hinzu. „Natürlich kennt ihr euch in der Damenwelt aus." Sir William nickte. „Ein paar Wochen länger in London, und ihr hättet alles darüber gewußt, womit er die Ladys beglückt." „Jede Einzelheit", sagte Davenport. „Worauf du dich verlassen kannst", bekräftigte Morris. Beide wußten, daß Sir William die besten Chancen bei den Ladys stets zu verpassen pflegte, da er allabend lich bereits zu früher Stunde vom Al kohol umnebelt war. „Aber Mortensens wirklich wichti gen Erkenntnisse", sagte Sir William, „hätten euch sicherlich erst dann in teressiert, wenn jeder in eurer Umge bung sich danach richtete." „Dann laß endlich hören, was für
12 Erkenntnisse das sind", verlangte Da venport. „Ganz einfach. Frische Luft und Sonne sind Balsam für den menschli chen Körper. Doktor Mortensen geht in seinen Thesen so weit, daß er sagt, am besten wäre es, sich unverhüllt der Luft und der Sonne auszusetzen." Morris und Davenport kriegten se kundenlang den Mund nicht wieder zu. Sie starrten Godfrey an, als hätte er nun endgültig den Verstand verlo ren. Ein beklagenswertes Opfer der Sauferei. „Frische Luft!" rief Davenport kopfschüttelnd. „So ein hirnver brannter Unsinn! Was kann man sich da alles wegholen - von der Erkältung bis zur Lungenentzündung!" „Doch nicht im Sommer", wider sprach Sir William. „Ah, ich weiß", entgegnete Morris in plötzlicher Erleuchtung. „Völlig klar, warum der Quacksalber das empfiehlt. Hüllenlos! Da hat er die Gelegenheit, seine verehrten Ladys nackt zu betrachten. Ohne daß es ihn die vorherige Mühe kostet, sie dazu zu bewegen, sich auszuziehen." Davenport nickte, und beide ki cherten. „Ihr Narren", knurrte Sir William. „Erstens wäre das nicht in jedem Fall ein erfreulicher Anblick. Und zwei tens zieht sich eine Lady jedem Arzt gegenüber ohne große Umstände aus. Das ist eine völlig natürliche Sache. Mir scheint, ich bin von uns dreien derjenige, der sein Gehirn noch am besten zu gebrauchen versteht." Die beiden jüngeren Männer zogen lange Gesichter. „Also gut", brummte Frank Daven port. „Dann laß mal hören, was für
Argumente du hast - Doktor Morten sen hat. Sich der frischen Luft länger auszusetzen als von der Haustür bis zur Kutsche. Unfaßbar! Mir wird jetzt schon ganz merkwürdig, weil wir hier so lange im Freien stehen." Alec Morris nickte zustimmend. „Gut, gut", sagte Sir William. „Dann geht zurück in eure Kammer. Würde euch das besser gefallen?" „Das weißt du genau", erwiderte Morris. „Du weißt verdammt genau, daß es nicht so ist. Da drin ist es so stickig, daß man kaum Luft kriegt." „Seht ihr. Und hier? Wie ist es hier? Ist es nicht befreiend, einmal richtig durchatmen zu können?" Er reckte die Brust vor, bog die Arme zurück und pumpte demonstrativ die Seeluft in sich hinein. Dazu ließ er einen woh ligen Laut hören, als hätte er gerade einen besonders guten Tropfen ge nossen. „Na ja", entgegnete Frank Daven port zweifelnd. „Für eine Weile ist es wohl nicht schlecht. Aber über einen längeren Zeitraum muß es schädlich sein." „Eben nicht!" ereiferte sich Sir Wil liam. „Das ist unser Irrglaube, den Doktor Mortensen anprangert. Er weiß, über was er spricht. Er hat lange Jahre auf dem Land gearbeitet und mit anderen Ärzten gesprochen, die dort das niedere Volk behandel ten. Diese einfachen Leute, so sagt Doktor Mortensen, sind durchweg kerngesund. Und zwar um so mehr, je ausgiebiger sie sich im Freien aufhal ten." „Eine Behauptung", sagte Alec Morris wegwerfend. „Wie wollte er das belegen?" „Er hat genaue Aufzeichnungen
13 über einen Zeitraum von mehr als zehn Jahren geführt. Ich habe seinen Vortrag darüber gehört, Freunde. Man kann sich dem nicht entziehen. Es ist wirklich gesund, an der fri schen Luft zu sein." „Aber was wird mit der Haut?" rief Davenport. „Die verbrennt doch durch die Sonne!" „Seht euch die Kerle hier an Deck an", sagte Sir William mit einer aus ladenden Handbewegung. „Sieht ei ner von denen verbrannt aus?" „Allerdings", entgegnete Alec Mor ris feixend. „Wenn ich den schwarzen Riesenkerl betrachte..." Sir William holte aus und tat, als wollte er ihm eine Ohrfeige verset zen. „Stellt euch nicht dümmer als ihr seid. Ihr wißt genau, wovon ich rede. Sowohl die frische Luft als auch die Sonne sind das Geheimrezept für Ge sundheit und ein langes Leben. Es schadet überhaupt nichts, wenn man eine gebräunte Haut bekommt. Im Gegenteil. So eine Hautfarbe zeugt davon, daß es einem durch und durch gutgeht. Ihr könnt es mir glauben. Und wenn nicht, ist es auch egal. Dann bleibe ich eben allein hier drau ßen." Frank Davenport und Alec Morris sahen sich an. „Was meinst du, Alec?" fragte Da venport. „Sollte man es riskieren? Ich denke so ein Arzt ist ein gelehrter Mann." „Aber warum findet er als einziger eine derartige Verrücktheit heraus?" „Irgendeiner muß immer den An fang setzen." „In Ordnung, ich bin dabei", sagte Morris und tat, als hätte er sich schweren Herzens zu dem Entschluß
durchringen müssen. „Aber müssen wir uns dann die Beine in den Bauch stehen?" Sir William Godfrey lächelte voller Stolz darüber, daß er die beiden über zeugt hatte. „Das laßt nur meine Sorge sein", sagte er väterlich. „Ich werde mich um etwas Angemessenes für uns kümmern."
Hasard und die anderen wußten so fort, daß ihnen eine neue Unverfro renheit bevorstand. Als der älteste der drei Gentlemen sich umdrehte und zielstrebig nach achtern schritt, rechneten sie mit allem Vorstellbaren und Unvorstellbaren. Sir William Godfrey hatte die rote Nase erhoben, die Hände auf dem Rücken und tat, als schwebe er durch einen leeren Raum. Nichts an seiner Umgebung interessierte ihn, am aller wenigsten nahm er das spöttische Grinsen der Männer um Edwin Car berry wahr. Nur Sir John konnte wieder einmal nicht an sich halten. Sein Kreischen hallte weit über das Wasser hinaus und war vermutlich sogar auf den Pil gerschiffen zu hören. „Rrrrrrrrübenschwein!" Sir William, der die Flegeleien des karmesinroten Papageis bereits zur Genüge kannte, tat, als hätte er nichts gehört. Sir John stieß sich von der Schulter des Profos ab und flog einen elegan ten Bogen über dem Kopf des da hinschreitenden Hochwohlgebore nen. Als dieser auch jetzt nicht rea gierte, geriet Sir John in offenkun
14 dige Verwirrung. Es wurde in dem Moment deutlich, in dem er sich auf der Backbordverschanzung nieder ließ und zu kreischen begann. „Stinkratte! Bilgenstiefel! Himmel, Fisch und Zwiebel-Arsch!" Der Rest war ein verworrener Silbensalat, mehr Krächzen als klare Aussprache. Carberry und der Rest der Arwe nacks starrten den roten Vogel ent geistert an. Endlich reagierte auch Sir William. Er blieb stehen, drehte sich um und sprach in aller Ruhe, als antworte er einem menschlichen Wesen: „Nimm dich in acht, du häßliches Vogelvieh! Eines schönen Tages wachst du auf, bist gerupft und steckst bis zum Hals in einem Kochtopf. Aber wahrschein lich bist du viel zu zäh und zu . . . " Er verstummte, denn ein heiseres Knur ren war plötzlich zu hören. Plymmie, die bei den Zwillingen ne ben einer Taurolle lag, hatte den Kopf erhoben. Ihr Nackenhaar war gesträubt. Die Augen der Wolfshün din funkelten den Hochwohlgebore nen an. Er wandte sich ab und beachtete weder Papagei noch Hündin, ge schweige denn den Schimpansen Ar wenack, der sich im Kreis der Män ner laut keckernd auf den Brustka sten schlug. In angemessenem Drei-Schritt-Ab stand blieb Godfrey vor dem Seewolf stehen. „Sir Hasard! Ich erlaube mir, an Sie in Ihrer Eigenschaft als Kapi tän dieses Schiffes einen formellen Antrag zu richten - verbunden mit der Bitte um möglichst sofortige Erle digung." Ben Brighton, Dan O'Flynn und Don Juan de Alcazar strengten sich
mächtig an, um nicht im voraus zu grinsen. „Lassen Sie hören", forderte der Seewolf und registrierte als Plus punkt für den alten Säufer und Aben teurer, daß er immerhin nicht mehr versuchte, Anordnungen zu treffen. Anscheinend war er gewillt, sich an das zu halten, was Hasard ihm und den beiden anderen eingebleut hatte. Wünsche durften sie äußern. „Die Gentlemen Davenport, Morris und ich haben beschlossen, uns an der frischen Luft und im Sonnen schein zu erholen. Wir nehmen an, daß das Vorschiff der geeignete Ort dafür ist." „Sind Sie krank?" entgegnete Ha sard verdutzt. „Nein, warum?" „Weil mir Ihr Vorhaben absonder lich erscheint. Gelinde ausgedrückt." „Oh, ich verstehe." Sir William hob in seiner alten Blasiertheit die linke Augenbraue und lächelte wohlwol lend. „Sie können das natürlich nicht wissen. Aber ich will Sie gern über die Erkenntnisse des Doktor Morten sen aufklären." Er ließ einen Kurz vortrag über das folgen, was er be reits seinen beiden Mit-Passagieren auseinandergesetzt hatte. Ben, Dan und Don Juan mußten sich abwenden, um nicht loszuwie hern. Auch die Arwenacks hatten Mühe, ihre Heiterkeit zu verbergen. Schließlich wollten sie hören, wie es weiterging. Zusammenstauchen konnte man den sehr Ehrenwerten immer noch, falls er zu unverschämt werden sollte. „Verstehe", sagte Hasard und nickte Godfrey zu. „Gegen Ihr Ge sundheitsbewußtsein ist ja nun wirk
15 lich nichts einzuwenden. Sie können sich natürlich auf dem Vorschiff auf halten, solange Sie wollen." „Sehen Sie, Sir Hasard", erwiderte Sir William gedehnt, „damit kämen wir zum eigentlichen Punkt unseres Anliegens. Selbstverständlich ist es Mister Davenport, Mister Morris und mir nicht zuzumuten, daß wir die ganze Zeit stehen. Ich bitte Sie des halb, Ihren Schiffszimmermann an zuweisen, uns drei Sitz- beziehungs weise Liegegelegenheiten zu bauen, die sich passabel polstern lassen. Wir wären mit verhältnismäßig einfa chen Möbelstücken zufrieden, die dann der Einfachheit halber an Ort und Stelle belassen werden könnten." Dem Seewolf und den anderen ver schlug es die Sprache. Mehrere Se kunden lang konnte Hasard den Mann mit der roten Nase nur ungläu big ansehen. Dann gelangte er zu der Überzeugung, daß Godfrey ebenso unbelehrbar war wie die beiden ande ren adligen Affen. Es war absolut sinnlos, ihnen ir gend etwas erklären zu wollen. Wahr scheinlich begriffen sie nicht einmal dann, wenn sie mit der Nase ins Fett gestoßen wurden. Also blieb nur, sie kurz und bündig abzufertigen. „Antrag abgelehnt", sagte Hasard daher. „Sonst noch etwas?" Sir William schien sich ein Stück in die Höhe zu schrauben. „Wie bitte?" tönte er. „Ihr Antrag ist abgelehnt. Was ist daran so schwer zu verstehen?" Ha sard mußte sich trotz allem anstren gen, ernst zu bleiben. „Aber - aber . . . " Godfrey suchte nach Worten und rang gleichzeitig nach Luft.
„Wenn Ihre Beine Sie nicht mehr tragen", sagte Hasard kühl, „bleiben Ihnen bestenfalls die Taurollen zum Ausruhen. Andere Sitz- oder Liegege legenheiten gibt es an Deck nicht. Un ser Gespräch ist damit beendet." „Aber - a b e r . . . " Hasard kümmerte sich nicht mehr um den Mann. Er wandte sich nach Steuerbord, um sich mittels Spektiv zu vergewissern, wie es an Bord der „Discoverer" aussah. Kapitän Robert Granville hatte bislang die meisten Probleme bereitet. Zur Zeit schien es auf seiner Galeone allerdings fried lich zuzugehen. Die „Explorer" se gelte an Backbord voraus, die „Pil grim" an Backbord querab. Sir William Godfrey brauchte noch eine Weile, bis er begriffen hatte, daß er für den Seewolf und die Männer auf dem Achterdeck Luft war. Sie be gannen, sich mit navigatorischen Fra gen zu beschäftigen, ohne ihn weiter zu beachten. Sir William schlurfte mit hängen den Schultern wieder nach vorn von den Arwenacks mit spöttischem Lächeln begleitet und von Davenport und Morris mit schadenfrohem Grin sen empfangen.
3. Im Batteriedeck der „Explorer" waren schon vor Sonnenaufgang die Stückpforten auf beiden Seiten geöff net worden. Die Luft war daher er träglich, als die Passagiere nach der Morgenandacht mit Kapitän Amos Toolan und den acht Hirten in ihr Lo gis zurückkehrten. Ein ständiger Aufenthalt auf den
16 „Hör endlich auf damit, Hugh Fla oberen Decks war den Auswanderern nicht gestattet, da sie sonst die Crew nagan!" Sie funkelte ihn an. „Ich in ihrer Arbeit behinderten. Toolan habe dir gesagt, daß es in der Neuen erlaubte Ausflüge auf die Kuhl oder Welt anders wird. Du hast nicht mehr die Back nur umschichtig in kleine mit mir herumzukommandieren, denn da sind alle Menschen gleich. ren Gruppen. Die betreffenden Passagiere hat Und die Neue Welt fängt für mich ten sich jeweils zu Beginn ihres hier, auf dem Schiff, bereits an - ob Decksspaziergangs bei ihm zu mel es dir nun paßt oder nicht." den und ein Gebet mit ihm zu spre Sie richtete sich auf und entwich chen. seiner groben Faust, die nach ihrem Der Logisplatz Kate und Hugh Fla Fußknöchel greifen wollte. Trium nagans befand sich an Steuerbord, phierend kichernd lehnte sie sich an etwa mittschiffs, zwischen zwei Ge den Bronzeleib der Kanone. Der schützen. Die Zugluft aus den beiden Wind, der durch die offene Stück Stückpforten strömte an ihnen vor pforte hereinwehte, wühlte in ihrem bei. Trotz des Gemurmels der Leute dunklen Haar und spielte mit den ein konnten sie das Rauschen der Fluten gerissenen Kragenteilen ihrer Lei und das Singen des Windes in Wan nenbluse. ten und Pardunen hören. Sie genoß diesen kräftigen Wind Kate hatte ein paarmal den Hals ge auf ihrer Haut ebenso, wie sie es ge reckt und zu ihrem großen Erstaunen noß, ihren Trottel schäumen zu se entdeckt, daß Michael Anderson al hen. Sein Bauerngesicht war wutver lein auf seinem Platz saß, schräg ge zerrt, als er zu ihr aufblickte. Er sah genüber, an Backbord. Was, in aller ganz danach aus, als würde er sich je Welt, bedeutete das? Wo steckte den Moment auf sie stürzen. Laura, das hübsche Kind? Sie mußte Nur die Blicke der Leute hielten ihn es herausfinden. davon ab. Einige dieser Blicke waren „Mit der nächsten Gruppe gehe ich spöttisch. Frauen tuschelten hinter an Deck", entschied sie und bestä vorgehaltener Hand. An Bord eines tigte damit eigentlich mehr sich Auswandererschiffes war man für selbst, als daß sie ihren Trottel zu in jede Abwechslung dankbar. Und ein formieren gedachte. aufwühlendes Geschehen wie ein „Wieso?" fragte er dennoch. „Wir Streit zwischen Mann und Frau war waren doch gerade oben." „Muß ich alles und jedes begrün geradezu ein Leckerbissen für jene den?" zischte sie. „Bin ich deine Leib Küche, in der Klatsch und Tratsch brodelten. eigene?" „Nein, aber meine Frau." Mit einem Gefühl innerer Wärme „Für dich scheint das kein großer nahm Kate indessen zur Notiz, daß Unterschied zu sein." vor allem jener aufmerksam gewor „Rede nicht solchen Unsinn. Ein den war, dem ihr ganzes Interesse Mann und seine Frau gehören zusam galt. Der blonde Junge blickte her men." über, und es hatte den Anschein, als
17 ob er ihr Äußeres zum ersten Male be wußt in sich aufnahm. Kate reckte ihren Busen unmerk lich etwas weiter vor und fuhr sich mit einer fließenden Handbewegung durch das Haar. Sie hätte sich eins dieser feinen Kleidungsstücke ge wünscht, mit denen vornehme Ladys ihre körperlichen Vorzüge betonten. Andererseits, so sagte sie sich inner lich grinsend, war alles, was sie vor zuweisen hatte, echt und unver fälscht. „Weib, ich warne dich", sagte Hugh Flanagan mit einem bösartig drohen den Unterton. „Lange forderst du mich nicht mehr derart heraus. Dann passiert was!" Der männliche Teil der Zuschauer nickte beifällig. Die meisten stellten sich bereits genüßlich vor, wie er sie vor aller Augen über das Knie legte und ihr den prachtvollen Hintern ver sohlte. Die Zuschauerinnen schienen ge mischte Gefühle zu hegen. Neid glomm in den Augen jener, die nie er fahren hatten, was es hieß, hübsch und begehrenswert zu sein. Andere, die sich mit den Reizen einer Kate Flanagan durchaus messen konnten, blickten zornig zu dem ungehobelten Kerl, der sie offenbar so niederträch tig behandelte. Kate verschaffte sich einen wir kungsvollen Abgang. „Ach, laß mich doch in Ruhe", sagte sie unwillig und entwischte ein zwei tes Mal seiner zupackenden Schwie lenfaust. Aus den Augenwinkeln heraus sah sie, wie ihr Trottel sich in seine Ecke zurücksinken ließ. Typisch für ihn, nach kurzem Bemühen aufzugeben.
Das zeigte schon, wieviel Wert er ihr beimaß. Wesentlich mehr Energie hätte er aufgewendet, um beispiels weise ein Schwein einzufangen, das ihm weglief. Während sie mit hoch erhobenem Haupt die enge Gasse entlangschritt, die zwischen den am Boden Hocken den frei war, widmete sie ihre Gedan ken einer erfreulicheren Tatsache. Michael blickte ihr nach. Teufel auch, es mußte denn doch mehr als beiläufige Neugier sein, die ihn dazu bewegte. Ihr Herz schlug schneller. Sollte es ihr schon gelun gen sein, Verlangen in ihm zu wek ken? Sie stellte sich vor, wie ein Poet be schreiben würde, was sie empfand. So ein Mann von außergewöhnlichem Geist würde sie vielleicht als voll er blühte Rose bezeichnen, zumindest aber als reife Frau von vollkomme ner Schönheit. Und er, der blonde Jüngling, war der Inbegriff des stol zen Mannestums - all dessen, wonach die erblühte Rose sich sehnte. Eine rauhe Stimme riß sie aus ihren beglückenden Gedanken. „Ho, ho, wohin so eilig, hübsche Madam?" Der vierschrötige Decksmann, der beim Steuerbordniedergang Wache hielt, linste ungeniert in ihren Blusenaus schnitt. „Nur ein bißchen an Deck", ant wortete sie mit verführerischem Au genaufschlag. „Ich kann's hier unten nicht mehr aushalten. Der Alte geht mir auf den Geist." „Das ist aber noch kein Grund", entgegnete der Decksmann und grin ste anzüglich. „Du bist noch lange nicht an der Reihe, hübsche Madam. Erst mal sind die da drüben an Back
18 bord dran." Er deutete mit einer Kopfbewegung zur anderen Seite, wo sich eine Gruppe von Auswanderern bereits erhoben hatte und auf die Er laubnis wartete, sich an Deck die Bei ne vertreten zu dürfen. Kate schob sich ein Stück näher an den Kerl heran und senkte ihren Blick tiefer in seine Triefaugen. „Du wirst doch wohl eine Aus nahme machen können", wisperte sie mit rauher Stimme. „Es soll dein Schaden nicht sein." „Du meinst..." Er schluckte, sein Adamsapfel bewegte sich heftig auf und ab. „Du meinst - ich - wir könnten..." „Aber ja, mein Süßer." Sie ließ ihre Stimme säuseln. „Bei Nacht gibt es so unendlich viele Möglichkeiten, nicht wahr? Man muß sie nur zu nutzen wissen. Wer hätte die Gelegenheit dazu, wenn nicht du als Mitglied der Mannschaft?" „Klar, völlig klar." Der Vierschrö tige räusperte sich heiser, und in sei nen Augen leuchtete die Vorfreude. „Ich komme drauf zurück, Madam, kannst dich drauf verlassen." „Das tue ich", versicherte sie au genzwinkernd. „Ich verlasse mich wirklich auf dein Wort. Himmel, ei nen Kerl wie dich läßt man sich doch nicht entgehen!" Er bedeutete ihr mit einer Handbe wegung, sich der Backbordgruppe an zuschließen. Keiner der Leute wagte zu murren, denn sie wußten, daß sie sich den Anordnungen der Seeleute zu beugen hatten. Bei Widerspruch mußten sie damit rechnen, daß ihnen die Erlaubnis zum Decksspaziergang augenblicklich entzogen wurde. Es war herrlich warm, als Kate Fla
nagan mit den anderen zur Kuhl auf enterte. Weisungsgemäß meldeten sie sich bei Kapitän Toolan, indem sie beim Steuerbordniedergang Aufstel lung nahmen und warteten, bis er zum Gebet bereit war. Kate beobachtete, wie ihr der dick liche Kerl während seiner frommen Sprüche in die Bluse peilte. Dann endlich waren sie entlassen und konnten sich eine halbe Stunde lang frei an Deck bewegen. Kate verbrauchte die Zeit damit, mit den Seeleuten zu schäkern, un auffällig herumzuhorchen und sich aufmerksam umzusehen. Als die Zeit allmählich ablief, gelang es ihr, sich mit zwei Kerlen zwischen Beiboote und Back zurückzuziehen, wo man sie vom Achterdeck aus nicht sehen konnte. Indem sie den begierigen Burschen Versprechungen gab, die sie niemals einhalten würde, konnte sie problemlos abwarten, bis ihre Gruppe ordnungsgemäß wieder un ter Deck ging. Wenn der Vierschrö tige unten im Batteriedeck keinen Alarm schlug, mußte ihr Plan gelin gen.
Es klappte. Keiner der Decksleute hatte ein Interesse daran, sie zu ver raten. So schaffte sie es, die dritte und auch noch die vierte Gruppe der Decksspaziergänger abzuwarten. Laura Stacey, so hatte sie durch beiläufige Erkundigungen erfahren, hatte sich freiwillig als Helferin des Schiffsarztes gemeldet, dieses versof fenen Genies namens Victor Drury. Eine selbstlose junge Lady also, die schöne Laura.
19 Natürlich mußte sie sich vor ihrem Die übrigen Hirten hielten sich an der Bräutigam dadurch wichtigtun, daß Heckbalustrade auf und beobachte sie diese aufopfernde Tätigkeit über ten die See. Kate fand nichts an diesem ewig nahm. So etwas beeindruckte immer, vor allem einen jungen, noch unerfah gleichen Bild der endlosen Was serwüste mit den vier Segelschiffen, renen Mann. Kate Flanagans Gedanken waren die am Ende nichts weiter waren als von Mißgunst geprägt, während sie Spielzeuge, mit denen die Naturge sich den blonden Engel in der Kran walten anstellten, was ihnen beliebte. Sie wartete, bis sich die Gruppe kenkammer vorstellte. Ihre sanftmü tige Hilfsbereitschaft würde sich her verteilte. Ungefähr zwanzig Leute umsprechen. Und dann würden sich Männer, Frauen und Kinder - waren vor allem die Kerle reihenweise mit es, die sich nun in Richtung Vorschiff irgendwelchen Wehwehchen zur Be bewegten. Kate suchte sich einen gün stigen Moment aus, in dem genügend handlung melden. Damit würde es der Kleinen zu Gedränge herrschte. Sie schaffte es, gleich auch gelingen, ihren Verlobten sich unbemerkt zur Backbordver eifersüchtig zu stimmen. Außerdem schanzung zu begeben. Den brabbelnden Kerl wurde sie brauchte sie sich bei schlechtem Wet ter nicht im ungelüfteten Batterie los, als der Decksälteste ihn mit ei deck aufzuhalten. Sie schlug wahr nem barschen Befehl an irgendeine haftig gleich mehrere Fliegen mit ei Arbeit scheuchte. Kate blickte einen Moment scheinbar interessiert auf ner Klappe. Nach und nach enterten die Aus die See hinaus. Dann drehte sie sich wanderer auf, die die vierte Gruppe um und schob die Ellenbogen nach der Decksspaziergänger bildeten. hinten auf das Schanzkleid. Gleich nachdem sie aus der Luke auf Diese gelassen wirkende Haltung tauchten, formierten sie sich zum Be ermöglichte es ihr zugleich, ihre kör ten vor dem Achterdecksniedergang. perlichen Vorzüge so deutlich wie Kate stockte der Atem, als sie den möglich hervorzutun. blonden Haarschopf im Sonnenlicht Ihr Herz begann zu hämmern, als leuchten sah. sie sah, daß Michael zu denen ge hörte, die auf der Backbordseite der Michael! Fast hätte sie laut seinen Namen ge Kuhl nach vorn schlenderten. Die rufen. Sie dachte nicht mehr an den Frauen warfen ihr empörte Blicke zu, Schiffsarzt und seine Helferin, und wagten aber nicht, ein großes Gezeter das Gebrabbel des Seemanns neben zu beginnen. ihr, der ausdauernd versuchte, sie für Die Männer schienen indessen eine nächtliche Verabredung in der nichts daran zu finden, daß sich die Segellast zu gewinnen, hörte sie so rassige Frau des bäurischen Flana wieso nur mit halbem Ohr. gan einen verlängerten Decksaufent Die Gruppe betete gemeinsam mit halt erschlichen hatte. Kate nickte ih Amos Toolan, und auch der finstere nen allen freundlich lächelnd zu und Hannibal Gould gesellte sich dazu. fragte sich, ob Michael auf dem Weg
20 zur Krankenkammer war, um zu se hen, was seine Laura so trieb. Kate beschloß, daß sie sich schon ein wenig herausfordernd verhalten mußte, wenn sie bei ihm etwas errei chen wollte. Bei seiner mutmaßlichen Unerfahrenheit war nicht zu erwar ten, daß er sich an sie heranwagte. Überdies war sie eine verheiratete Frau. Ahnungslos wie er war, würde er das als unüberwindbares Hinder nis betrachten. Ein glücklicher Zufall wollte es, daß er sich von den anderen etwas ab gesondert hatte. Ihre Blicke trafen sich. Kate meinte, in seinen Augen eben jenes Interesse zu lesen, das sie schon vorher festzustellen geglaubt hatte. „Sei gegrüßt, Michael", sagte sie und lächelte keck. Er verharrte reflexartig und ver dutzt. „Sie kennen meinen Namen, Madam?" „Warum denn nicht? Ist es nicht na türlich, daß man sich über jemanden erkundigt, der einem gefällt? Ich heiße Kate, und du solltest mich nicht so förmlich anreden, mein großer blonder Held." Er runzelte die Stirn. „Ich will nicht eingebildet sein, Madam, aber ich habe den Eindruck, als hätten Sie auf mich gewartet. Waren Sie nicht schon bei der ersten Gruppe, die an Deck ge gangen ist?" Es versetzte ihr einen Stich, daß er ihr Angebot, sie mit Vornamen anzu reden, einfach ignorierte. Sie schrieb es jedoch seiner Unerfahrenheit zu, seiner Unsicherheit. „Du hast richtig beobachtet", erwi derte sie und versuchte es mit einem ihrer Augenaufschläge, von denen sie
wußte, daß so mancher Mann halb von Sinnen dadurch geworden war. „Und was folgerst du daraus?" „Ich weiß es nicht." Sie lachte und bog den Kopf nach hinten, so daß der Wind tiefer in ihr Haar greifen konnte. „Du liebe Güte, Michael, ich kann mir nicht vorstel len, daß du so schwer von Begriff bist! Ich habe dir gestanden, daß du mir gefällst. Daraus kannst du ge trost folgern, daß ich verrückt nach dir bin." Sie senkte die Stimme und beugte sich vor. „Ich bin ehrlich, Mi chael. Ich will dich haben, und du kannst mich haben - mit Haut und Haaren." Er starrte sie an und wirkte fas sungslos. „Das kann nicht Ihr Ernst sein", entfuhr es ihm. „Warum denn nicht? Das Leben ist viel zu kurz, als daß man sich mit langwierigem Vorgeplänkel aufhal ten sollte. Willst du etwa zögern? Ge falle ich dir nicht?" „Sie sind verheiratet, Madam." Seine Stimme wurde einen Grad här ter. „Mit einem Trottel." „Das kann ich nicht beurteilen." „Du brauchst es auch nicht. Du kannst es getrost mir überlassen." „Madam, Sie täuschen sich in mir. Die Person Ihres Ehemannes interes siert mich nicht - nur die Tatsache, daß Sie eine verheiratete Frau sind. Sie irren sich, wenn Sie glauben, daß ich mich mit Ihnen einlassen werde. Sicherlich sind Sie eine begehrens werte Frau, aber..." „Du gibst also zu", unterbrach sie ihn, „daß du mich angestarrt hast. Re
21 gelrecht mit Blicken ausgezogen hast du mich." Ein beinahe mitleidiges Lächeln huschte über sein Gesicht. Er wurde sofort wieder ernst. „Nein", sagte er energisch und schüttelte den Kopf. „Sie irren sich gewaltig, Madam. Vielleicht haben Sie sich gewünscht, daß es so gewe sen wäre. Nach allem, was ich gerade eben von Ihnen gehört habe, könnte ich es mir sogar denken. Ich habe Sie angesehen, weil Sie mir auffielen. Ihre aufreizenden Posen sind näm lich wirklich auffallend. Man kann den Eindruck gewinnen, als wollten Sie es mit jedem hier an Bord treiben - und, als wollten Sie vor allem Ihren Mann demütigen. Ich will Sie nicht beleidigen, Madam, aber wenn Sie schon so direkt mit mir reden, will ich auch meine Meinung nicht verheimli chen. Im übrigen bin ich verlobt und würde mich niemals mit einer ande ren Frau einlassen." Sie erbleichte. „Ist das dein Ernst?" flüsterte sie. „Ich biete mich dir an, und du lehnst mein Angebot ab?" „Ich habe Sie nicht um Ihr Angebot gebeten", erwiderte er ruhig. „Mir ist so etwas überhaupt noch nicht pas siert. Ich möchte Sie bitten, mich in Ruhe zu lassen." Sie öffnete den Mund und brachte es nicht fertig, ihn wieder zu schlie ßen. Ungläubig blickte sie dem hochgewachsenen jungen Mann nach, wie er sich einfach abwandte und sie stehenließ. Sie hatte das Gefühl, als sei ihr der Boden unter den Füßen weggezogen worden. Es war die schlimmste Demütigung ihres Lebens, daran gab es nicht den
geringsten Zweifel. So erniedrigend hatte sie noch kein Mann behandelt. Sie sah das Grinsen der Decksleute und wünschte sich ein Loch, um darin zu versinken. Sie wollte einen Fluch hinter dem unverschämten Kerl her schreien und brachte doch keinen Laut hervor. Tief in ihrem Innern erwachte das Verlangen nach Rache. Es war wie eine kleine Flamme, die rasch Nah rung fand und sich rasend schnell vergrößerte. Die Flamme wurde zur Glut, die sie innerlich aufzufressen schien. Sie zwang sich, nicht loszurennen, ihn anzuspringen und ihm die Kehle zuzudrücken. Diesen unbändigen Wunsch zu unterdrücken, kostete sie eine solche Anstrengung, daß sie zu zittern begann. Sie drehte sich um und lief zu der Luke beim Achterdecksniedergang. Die vielen Blicke, die sie im Batterie deck empfingen, trafen sie bis ins Mark. Sie hastete auf ihren Platz zwi schen den beiden Geschützen zu. Hugh war nicht anwesend. Sie zog die Beine an, legte das Kinn auf die Knie und blickte zu Boden. Sie er tappte sich bei dem Gedanken, daß Hugh ihr in diesem Moment fehlte. Er war wenigstens zuverlässig. Ein zu verlässiger Trottel. Auf einmal haßte sie sich dafür, daß sie ihn immer so genannt hatte. Sie hob den Kopf und versuchte, ihn zu finden. Nach einer Weile entdeckte sie ihn, weit entfernt an Backbord. Er hockte mit anderen Kerlen zu sammen, in ein Würfelspiel vertieft. Er schien nicht das geringste Interes se daran zu haben, nach ihr zu schauen. Kate wollte hinübergehen
22 und ihn holen. Aber sie wußte, daß sie sich lächerlich machen würde. Sie fühlte sich unendlich einsam und von aller Welt verlassen.
4. „Nimm es von der humorvollen Seite", sagte Laura und blickte lä chelnd zu Michael auf. „Kaum läßt man dich allein, stellen dir die liebes hungrigen Ladys an Bord nach. Ich werde wohl ein paar Bekannte be auftragen müssen, damit sie auf dich aufpassen." „Doch eifersüchtig?" entgegnete er lächelnd. „Natürlich." Sie sah sich um. Es war niemand in unmittelbarer Nähe. Sie hatte sich mit Michael in den Win kel neben dem offenen Schott der Krankenkammer zurückgezogen. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und küßte ihn. „Du wirst ab sofort keine Minute mehr unbeobachtet sein. Ich habe genügend Kontakt mit Leuten, die ich um einen kleinen Gefallen bit ten kann." „Du lieber Himmel!" Er stöhnte in gespielter Vezweiflung. „Das kann ja heiter werden. Auf was habe ich mich nur mit dir eingelassen." Er zwin kerte ihr zu. „Eine Frau wie Kate Fla nagan ist wahrscheinlich doch gefälli ger im Umgang. Vielleicht sollte ich ihr Angebot annehmen." „Untersteh dich!" Er nahm ihr Gesicht in beide Hände und küßte sie zärtlich auf den Mund. „Laß uns aufhören, darüber zu scherzen", sagte er dann. „Ich glaube, diese Kate Flanagan ist eine sehr un angenehme Zeitgenossin. Du hättest
sie sehen müssen, wie sie reagierte, als ich ihr einen Korb gab." „Na und? Damit mußte sie doch rechnen." „Das hat sie aber nicht. Ich glaube, sie ist nachtragend." „Hast du Angst, daß sie dir die Au gen auskratzt?" „So ungefähr." „Ich glaube, ich kann dich wirklich nicht allein lassen." Laura lachte leise. „Nicht böse sein, Michael. Aber ich kann die Sache wirklich nicht ernst nehmen." Er seufzte. „Vielleicht hast du recht. Hoffen wir, daß ihr Mann eifer süchtig genug ist, um sie unter Kon trolle zu halten." Laura nickte und lächelte. „So ge fällst du mir schon besser. Ich denke, ich muß jetzt wieder . . . " Ein Ruf aus dem Halbdunkel der Krankenkammer unterbrach sie. „Miß Stacey! Bitte kommen Sie!" „Sofort, Sir! Bin schon unterwegs", erwiderte sie, indem sie den Kopf zur Seite wandte. Dann verabschiedete sie sich von Michael mit einem letz ten, gehauchten Kuß. Ein unbekannter Geruch wehte ihr aus der Krankenkammer entgegen. Sie kniff die Augen zusammen, um sich rascher an das schlechte Licht zu gewöhnen. Der Mann, den sie schon hatte eintreten sehen, lag noch auf dem Untersuchungstisch. Seine Frau stand am Kopfende. Ihr Gesichtsaus druck traf Laura tief im Inneren. Es war ein Ausdruck von grausamem Schmerz. Victor Drury wandte sich zu ihr um. Der Schiffsarzt, klein und rund lich, wirkte so ernüchtert wie selten zuvor. In seinem sonst stets ver
23 schmitzten Gesicht mit dem asch nie zum besten. Er war immer grauen Schnauzbart und dem dünnen schwächlich und anfällig für Krank Haar stand ungewöhnlicher Ernst. heiten. Alle haben ihm abgeraten, „Tut mir leid, Miß Stacey, aber ich aber er mußte seinen Kopf durchset zen. Er war besessen von dem Gedan brauche dringend Ihre Hilfe." „Was ist mit ihm?" fragte sie stirn ken, in der Neuen Welt ein neues Le runzelnd und trat an den Untersu ben anzufangen. Er war auch über zeugt davon, daß er von dem Klima chungstisch. Der Mann war kreidebleich und in Virginia widerstandsfähiger und mager. Die Augen blickten stumpf gesünder werden würde. Und aus dem Schatten tiefer Höhlen, die jetzt..." Sie schlug die Hand vor den bleiche Gesichtshaut glänzte Mund und konnte nicht weiterspre chen. schweißnaß. Doktor Drury wandte sich seiner „Er kann nichts bei sich behalten", sagte die Frau. Sie sah verhärmt aus. Helferin zu. „Ich brauche eine Schüs sel mit Essig. Wir müssen ihm das Ge „Schon seit drei Tagen nicht." Doktor Drury trat neben Laura und sicht damit einreiben." „Ja, Sir." Laura eilte los, um das blickte auf den Kranken. „Der Ge ruch, über den Sie sich gewundert ha Gewünschte aus der Kombüse zu ho ben, stammt von der Medizin, die ich len. ihm verabreicht habe. Eine Dosis Bit Ihre Gedanken überschlugen sich. tersalz, vermischt mit Rizinusöl." Sie wagte nicht, den Köchen etwas zu Laura drehte sich um und sah den sagen, obwohl Doktor Drury ja nicht Arzt fassungslos an. „Davon habe ich vorhatte, die Erkrankung des Mister gehört. Das bedeutet, daß . . . " Sie Gibbs wie ein Geheimnis zu wahren. So oder so mußte eine Panik an Bord stockte. „Sie können es getrost ausspre ausbrechen. Es war nur eine Frage chen, Miß Stacey. Ich habe das Ehe des Zeitpunkts. Vielleicht ließ es sich paar Gibbs aufgeklärt. Mister Gibbs ein wenig hinauszögern. hat Cholera. Seine Frau muß darüber Denn Cholera galt als unheilbar. informiert sein, damit sie sich ent Soviel wußte Laura. Die Mittel, die sprechend verhalten kann. In einem von den Ärzten angewendet wurden, so ernsten Fall hat es keinen Sinn, konnten den Erkrankten nur Linde daß man sich etwas vorgaukelt. Es rung bringen, keine wirksame Hilfe. müssen Maßnahmen ergriffen wer Über Cholera-Epidemien in London den." wurden schlimme Dinge berichtet. Die Frau schluchzte leise. Noch furchtbarer sollte es aber zuge „Ich war von Anfang an gegen die hen, wenn eine solche Epidemie auf Reise", sagte sie mit erstickter ein Auswandererschiff übergriff. Die Stimme, immer wieder von Schluch entsetzlichsten Tragödien sollten sich zen unterbrochen. „Ronald hat in an Bord von solchen Schiffen abge London als Kontorist in einem Han spielt haben. delshaus gearbeitet, müssen Sie wis Laura trug die Schüssel mit Essig sen. Mit seiner Gesundheit stand es in die Krankenkammer. Ihr entgin
24 gen nicht die Blicke, die ihr auf dem kurzen Weg folgten. Decksleute und entliche Passagiere blieben stehen und beobachteten sie stumm. Sicher lich wußte der eine oder andere, zu was man in der Krankenkammer Es sig in einer Schüssel brauchte. Sie stellte die Schüssel neben das Krankenlager, legte Tücher bereit und begann nach Anleitung von Dok tor Drury, das Gesicht des reglosen Mannes abzureiben. Ronald Gibbs reagierte nicht ein mal auf den beißenden Geruch des Essigs, der ihm in die Nase drang. Sein Blick blieb stumpf und aus druckslos, und wenn da nicht ein gele gentliches Zucken seiner Gesichts muskeln gewesen wäre, hätte man ihn bereits für tot halten kön nen. „Das genügt", sagte Victor Drury nach einigen Minuten. „Sie bleiben bitte noch hier, Missis Gibbs. Miß Stacey wird sich um Sie und Ihren Mann kümmern, bis ich zurück bin. Ich muß dem Kapitän Meldung erstatten. Es sind Maßnahmen zu er greifen." Laura blickte dem rundlichen klei nen Mann nach, den sie nie so ernst gesehen hatte. Victor Drury war alles andere als ein Kind von Traurigkeit. Es hieß, daß er die Flasche mehr liebe als die Menschen, denen er durch seine tä tige Hilfe Linderung und Heilung zu verschaffen hatte. Doch nun wurde er wirklich gefordert und hatte die viel leicht schwierigste Aufgabe seines Lebens vor sich.
Amos Toolan winkte Hannibal Gould zu sich heran, nachdem Doktor Drury auf dem Achterdeck erschie nen war und ihm leise mitgeteilt hatte, daß er ihn wegen einer äußerst dringlichen Angelegenheit unter vier Augen sprechen müsse. „Sechs Augen", sagte Toolan und schloß das Schott des Kapitänssalons hinter sich. „Mister Gould muß als Leiter unserer verehrten Hirten über alles informiert sein. Es sei denn, es handelt sich um rein seemännische Einzelheiten, die für seelsorgerische Gesichtspunkte nicht von Belang sind." Drury folgte der Aufforderung Toolans und setzte sich. Auch der Ka pitän rückte sich einen Stuhl zurecht. Schnaufend ließ er sich nieder. Ledig lich der finstere Oberhirte blieb ste hen. Gould legte die Hände auf den Rücken und blickte durch eins der Bleiglasfenster, obwohl es nur ein verschwommenes Bild von der See zeichnete. „Nun?" fragte Toolan und griff nach einer mit Rotwein gefüllten Ka raffe. Auch Gläser standen in Halte rungen in der Mitte des Tisches. „Trinken wir erst einmal einen Schluck. Dann redet es sich besser, was, Victor?" Drury konnte nicht ablehnen. Er prostete dem Kapitän zu und ließ den kostbaren spanischen Tropfen im Mund zergehen. Hannibal Gould drehte sich um und beobachtete die beiden Männer voller Mißvergnügen. Wenn es sich nicht um den Kapitän und den Schiffsarzt gehandelt hätte, wäre er weniger still geblieben. Mit einem heiligen Donnerwetter hätte er ihnen vor Augen gehalten, daß Alko
25 hol Teufelszeug sei und jeden anstän heilen könnte, der davon befallen ist." Toolan preßte die Lippen aufeinan digen Menschen in Verdammnis stürze. Aber über gewisse Grenzen, der und schwieg. „Ich muß die anderen benachrichti die durch den Rang eines Mannes ge geben waren, mochte sich auch ein gen", sagte Gould mit knarrender Hannibal Gould nicht hinwegsetzen. Stimme. „Wir werden beten. Mit aller Victor Drury stellte sein Glas ab Inbrunst werden wir den Herrn bit und wischte sich mit dem Handrük ten, diesen Kelch an uns vorüberge ken über die Lippen. Der Ernst in sei hen zu lassen. Ich bin sicher, er wird nen Augen ließ Toolan die Stirn run uns erhören. Es wird bei diesem einen zeln. Und dann klangen Drurys Fall von Cholera bleiben. Vielleicht erkrankt noch die Frau, weil sie mit Worte durch den Raum. ihrem Mann ja unmittelbar zusam „Wir haben die Cholera an Bord." men war. Aber das ist dann auch al Amos Toolan saß wie vom Donner les. Der Herr wird uns davor be gerührt. wahren, daß die teuflische Krankheit Hannibal Gould erstarrte. Zum um sich greift. Ich bin sicher, es wird ersten Male wirkte sein sonst mas an Bord unseres Schiffes kein Gottes kenhaft düsteres Gesicht menschlich urteil geben." Mit langen Schritten - mit einem Ausdruck des Entset eilte er hinaus und ließ das Schott zens. krachend hinter sich zufallen. „Der Herr sei uns gnädig", hauchte „Ich wäre nicht so sicher", mur Toolan. Er beugte sich vor und sah melte Drury dumpf. „Ich glaube, be den Schiffsarzt eindringlich an. „Bist ten nutzt jetzt auch nichts mehr. du wirklich sicher, Victor? Ich meine, Wenn die Krankheit erst mal ausge es gibt doch eine Menge Krankheiten brochen i s t . . . " mit ähnlichen Erscheinungsbildern." „So etwas darfst du nicht sagen!" Drury nickte. „Daran können wir rief Toolan bestürzt. „Sag es vor al uns nicht klammern, Amos. Ich habe lem nicht in Gegenwart von Gould während meiner Tätigkeit damals in oder den anderen. Ich bin ja an deine London eine Cholera-Epidemie mit lästerlichen Äußerungen gewöhnt, erlebt. Der erkrankte Mister Gibbs ist aber bei den Hirten würdest du dich ein absolut eindeutiger Fall. Er befin in ein sehr schlechtes Licht setzen. det sich bereits im Endstadium. Seine Wenn du keine Medizin hast, die hilft, Frau hatte Angst, es früher zu mel dann mußt du dich einfach auf unsere den. Sie hatte gehofft, er würde von Gebete verlassen." allein gesunden." „Ich habe verstanden", erwiderte „Verdammt. Dann hat dieses ver Drury grinsend und leerte sein Glas fluchte Weib die Schuld, wenn . . . " mit einem Zug. „Bevor du losmar „Nein", unterbrach ihn der Arzt. schierst und mit den Hirten deine „Sie hätte nichts ändern können. frommen Wünsche zum Himmel Nicht das geringste. Die Ursache der schickst, solltest du zumindest dazu Krankheit ist ebenso unbekannt wie beitragen, daß wir etwas Wirksames jegliches Mittel, das einen Menschen unternehmen."
26 „Was meinst du damit?" „Der Kranke und seine Frau müs sen von den gesunden Passagieren abgesondert werden. Desgleichen alle weiteren Kranken. Ich brauche zusätzliche Helfer, denn es müssen ab sofort sämtliche Leute an Bord über wacht werden. Auch die Mannschaft, auch die Offiziere." Toolan schlug erschrocken die Hände zusammen. „Um Himmels wil len, muß das sein? Ich meine, wir von der Schiffsführung haben doch kei nerlei Berührung mit den Auswande rern. Da können wir doch auch gar nicht..." Drury unterbrach ihn mit einem Kopf schütteln. „Du irrst dich, Arnos. Ob Berührung oder nicht - die Ge fahr, daß sich die Krankheit ausbrei tet, besteht in jedem Fall." Toolan preßte die Lippen aufeinan der und hieb mit der Faust auf den Tisch. „Verdammt, es muß doch aber auch möglich sein, daß es nicht so schlimm wird! Mußt du denn immer alles in den schwärzesten Farben aus malen?" „Du weißt, daß das sonst nicht meine Art ist, Arnos. Aber in diesem Fall kann man gar nicht schwarz ge nug sehen. Also! Wohin lagern wir die Kranken aus?" Amos Toolan holte schnaufend Luft und rieb sich angestrengt das Kinn. „Wir werden in der Segellast Platz schaffen", sagte er schließlich. „Es gibt da noch ein paar Stauräume, in denen wir einen Teil des Tuchs unter bringen können. Ich werde Decks leute einteilen, die das erledigen. Sonst kann ich von der Mannschaft niemanden erübrigen. Du wirst dir
die Helfer unter den gesunden Aus wanderern aussuchen müssen." „Nichts dagegen einzuwenden", entgegnete Victor Drury. „Veranlasse bitte, daß die Segellast so schnell wie möglich zur Verfügung steht. Ich möchte das Ehepaar Gibbs nicht zu den anderen Leuten zurückbringen. Und dann können wir nur noch hof fen, daß der Platz ausreicht, um alle Kranken unterzubringen." „Himmel!" entgegnete Toolan und stöhnte. „Nun fang doch nicht schon wieder mit deiner Schwarzseherei an! Du kannst dich darauf verlassen, daß alles prompt erledigt wird. Was ist im übrigen mit Killigrew? Müssen wir ihn schon verständigen? Ich will keinen Ärger, verstehst du?" „Wir können noch ein paar Stun den abwarten", entgegnete Drury. „Wenn sich Gibbs' Zustand dann nicht gebessert hat, sind wir aller dings zur Meldung des Falles ver pflichtet."
Sir William Godfrey hockte einsam und verlassen auf einer Taurolle. Hasard und seine Gefährten konn ten sich mächtig gut vorstellen, in was für eine Klemme der Rotnasige geraten war, nachdem er den beiden anderen hatte mitteilen müssen, daß aus den gewünschten Sitz- und Liege möbeln nichts werden würde. Schließlich war er es gewesen, der die heilsame Wirkung der frischen Luft angepriesen hatte. Deshalb hatte er auf dem Vorschiff ausharren müssen, als Davenport und Morris sich feixend unter Deck verzogen hat ten.
27 „Bestimmt hat er längst die Nase voll von der Sonne", sagte Dan O'Flynn lächelnd. „Und seine Nase wird langsam dun kelblau", entgegnete der Seewolf la chend. „Ein wirklich bedauernswertes Opfer seiner eigenen Unverfroren heit", sagte Don Juan de Alcazar. „Nichts, womit wir uns belasten müßten", erklärte Ben Brighton. „Das Wohlergehen unserer Gentle men wäre nun wirklich das letzte, über das ich mir den Kopf zerbrechen würde." Wie zum Hinweis auf das wirklich wichtige Thema entstanden mehrere klatschende Schläge, die sich von achtern nach vorn fortsetzten. Als die Männer nach oben blickten, füllten sich die Lateinersegel wieder mit Wind, wirkten dabei aber wie wider willige Wesen, die ein von Trägheit bestimmtes Eigenleben entwickel ten. Hasard hob das Spektiv ans Auge und beobachtete die Galeonen, die wie die Schebecke - platt vor dem Wind segelten, um das letzte bißchen an Vortrieb herauszuholen. Das Großsegel der „Discoverer" schlug unregelmäßige Wellenlinien. Ähnli che Bewegungen waren gleich darauf auch im Focksegel zu bemerken. Und auf der „Explorer" und der „Pilgrim" sah es nicht besser aus. Der Wind hatte in den letzten Stun den immer spürbarer nachgelassen. Nichts deutete jetzt noch darauf hin, daß er sich wieder zu einem handigen Gesellen entwickeln würde. Sonne und blauer Himmel lieferten dazu ein glanzvolles Trugbild. „Noch bevor es Abend wird, haben
wir die schönste Flaute", prophezeite Dan O'Flynn. „Kein Widerspruch", sagte Ben Brighton und nickte. Der Seewolf ließ das Spektiv sin ken und sah die Männer an. „Optimismus scheint in dem Punkt wirklich nicht angebracht zu sein", sagte er. „Der Atlantik fällt eben von einem Extrem ins andere", erklärte Don Juan. „Es sollte mich nicht wundern, wenn wir in zwei oder drei Tagen wie der den schönsten Sturm haben." Hasard und die anderen nickten. Don Juan hatte recht. Auf dem nörd lichen Atlantik war einfach alles möglich. Nicht einmal auf die Jahres zeit konnte man sich verlassen. Stürme blieben nicht auf Herbst oder Winter beschränkt, und Kalmen hiel ten sich auch nicht an die Andeutung eines Zeitplans. „Die Flaute würde trotz allem einen kleinen Vorteil haben", sagte der See wolf. „Wir könnten auf den Galeonen in aller Ruhe nach dem Rechten se hen." Die Männer blickten zu den Pilger schiffen, die in unveränderter Forma tion segelten. Auf den oberen Decks war nichts Auffälliges zu beobachten. Die Dinge schienen ihren geordneten Gang zu gehen. Nach den Stürmen, die sie heil überstanden hatten, wa ren die Auswanderer nun mit Sicher heit froh, sich ausruhen zu können.
5. Der neue Tag hatte längst begon nen. Mattes Licht kroch durch die of fenen Stückpforten der „Explorer".
28 Kate Flanagan blinzelte und ver suchte, die Schlaftrunkenheit abzu schütteln. Gähnend setzte sie sich auf und lehnte sich mit dem Rücken ge gen die Planken. Die Stille drang als erstes in ihr Bewußtsein. Da war kein Rauschen von Wasser, kein Gurgeln oder Klatschen von Wellenkämmen. Es hatte sich also nichts geändert. Seit dem gestrigen späten Nachmit tag herrschte Windstille. Das andere, das schwerwiegende Geschehen wurde in Kates Erinne rung wach. Sie erschauerte ungewollt und zog sich fröstelnd die Decke bis unter das Kinn. Die Cholera war ausgebrochen. Wie ein Lauffeuer hatte sich herumge sprochen, daß das Ehepaar Gibbs in die Segellast umquartiert worden war. Wie schlimm es um Ronald Gibbs stand, wußte niemand genau. Jene, die ihren Logisplatz in seiner Nähe hatten, spielten das Stadium der Krankheit herunter. Natürlich waren sie daran interessiert, den Grad der eigenen Gefährdung so niedrig wie möglich einzustufen. Wegen der Ansteckungsgefahr würden sie als erste überprüft wer den. Und wer konnte schon wissen, wie hoch der Alkoholpegel Doktor Drurys gerade war! Der Bursche brachte es fertig, jemanden für infi ziert zu erklären, der kerngesund war. Andere, die weit genug vom Schlaf platz des Ehepaars Gibbs entfernt waren, wollten gesehen haben, daß der arme Kerl schon im Sterben gele gen hätte, als man ihn von der Kran kenkammer hinunter in die Segellast gebracht hatte. So wie die Gerüchte auseinander
klafften, war praktisch alles denkbar. Ronald Gibbs konnte todkrank oder auf dem Weg der Besserung sein. Die wildesten Mutmaßungen wurden an gestellt. Aber immer schwang darin die Hoffnung mit, daß man nicht selbst auch schon angesteckt sein möge. Je der hatte Angst davor, daß er die töd liche Krankheit vielleicht schon in sich hatte und es nur noch nicht wußte. Die schwärzesten Ahnungen gingen dahin, daß die „Explorer" ein Toten schiff werden würde. Kate Flanagan stellte fest, daß ihre Gedanken wieder in geordneten Bah nen funktionierten. Sie hatte hervor ragend geschlafen, was daran gelegen haben mochte, daß die Stückpforten auch in der Nacht geöffnet geblieben waren. Die meisten Auswanderer schliefen noch, einschließlich ihres Trottels. Sie musterte ihn mit einem nach denklichen Seitenblick. Er hatte sie wie ein Stück Dreck behandelt. Zwar hatte er sie nicht geschlagen, aber seine Geringschätzigkeit war schwe rer zu ertragen gewesen. Irgendwie mußte er davon gehört haben, wie sie bei Michael Anderson abgeblitzt war. Himmel, wenn der Trottel nun auch an Cholera erkrankte! Dann würden sich alle Probleme für sie auf einen Schlag wie von selbst lösen. Sie brauchte ihn nicht über Bord zu sto ßen, und sie brauchte sich auch nicht mehr den Kopf darüber zu zerbre chen, welche anderen Möglichkeiten es auf einer Galeone noch gab, einen Menschen vom Leben zum Tod zu be fördern. Die einzige Schwierigkeit bestand
29 darin, den Trottel dazu zu bringen, daß er sich ansteckte. Wodurch die Krankheit übertragen wurde, wußte kein Mensch. Bestenfalls war be kannt, daß man in der Nähe eines an Cholera Erkrankten äußerst gefähr det war. Nun, sie mußte sich eben et was einfallen lassen. Und Michael Anderson? Sollte man auch ihm die Krankheit an den Hals wünschen? Nein! Ein an derer Gedanke durchzuckte Kate, und sie empfand darüber eine solche hämische Freude, daß sie am liebsten einen Triumphschrei ausgestoßen hätte. Laura Stacey würde an Cholera er kranken. Hölle und Teufel, bei ihr war es sogar am besten denkbar, da sie als Drurys Gehilfin ja unmittelbar mit den Kranken in Berührung ge riet. Bestimmt hatte sie auch Ronald Gibbs in irgendeiner Weise anfassen müssen. Die Sache mit der Schüssel Essig aus der Kombüse war schließlich auch bekannt geworden. Cholera kranken wurde mit Essig das Gesicht eingerieben. Kein Zweifel, daß die süße kleine Laura das in ihrer aufop fernden Art bei Mister Gibbs besorgt hatte. Aber sie brauchte nicht einmal wirklich erkrankt zu sein. Kate Flanagan spähte in die Rich tung, in der das junge Paar unter sei nen Decken lag. Kate kicherte lautlos hinter der hohlen Hand. Nein, ver dammt, es genügte, wenn sie ein ent sprechendes Gerücht in Umlauf setzte. He, schon gehört, Decksmann? Doktor Drurys Helferin hat es auch erwischt. Was, das schöne blonde
Mädchen? Haargenau! Die selbstlose Laura Stacey. Jetzt muß das arme Ding einen so hohen Preis für seine Hilfsbereitschaft zahlen. Wer hätte das gedacht! Gewünscht hätte es ihr jedenfalls keiner. Ja, so würde es klappen. Haargenau so. Michael, dieser eingebildete Hun desohn, würde den Schreck seines Le bens erleiden. Ein schönes Stück Rache war das. Vielleicht noch nicht die ganz große Rache, aber schon ein wirklich schönes Stück. Nach und nach setzte Gemurmel ein. Die Leute erwachten, rieben sich die Augen, gähnten ungeniert. Bald darauf ertönte durch eine der Luken das barsche Kommando „Alles an Deck - zur Morgenandacht!" Bewegung entstand. Jene, die schon hellwach waren, eilten als erste los, um sich die besten Plätze zu si chern. Wer am weitesten von Toolan und den Hirten entfernt saß, brauchte sich beim Beten nicht so sehr anzustrengen. Es genügte, die Lippen zu bewegen. Manchmal war nicht einmal das notwendig. Während sie sich den Leuten an schloß, die zum Niedergang hindrän gelten, stellte Kate Flanagan erstaunt fest, daß Michael Anderson allein un ter seiner Decke auftauchte. Laura, das holde Mädchen, mußte also schon mitten in der Nacht aufgestanden sein. Der Grund konnte nur sein, daß Doktor Drury ihre Dienste so unge wöhnlich früh in Anspruch nahm. Aber warum? Kate grübelte über die mögliche Antwort nicht nach. Sie hatte das sichere Gefühl, daß sie sehr bald erfahren würde, was sich abge spielt hatte. Auf jeden Fall lag etwas Außergewöhnliches in der Luft. Das
30 spürte sie mit allen Fasern ihrer Sinne. Lauras Abwesenheit war ein gün stiger Umstand. „Schon mitgekriegt?" flüsterte sie, indem sie den beiden älteren Män nern vor ihr auf die Schulter tippte. „Was?" entgegnete der eine. Da es mittlerweile nur noch langsam voran ging, konnten sich beide umdrehen. Alter schützt vor Torheit nicht, dachte Kate grinsend, als sie sah, wie die Blicke der beiden wie von selbst in ihren Blusenausschnitt wanderten. „Die Cholera greift weiter um sich", wisperte Kate mit Verschwö rermiene. „Habt ihr gesehen, daß die kleine Laura verschwunden ist?" Die Männer setzten bestürzte Mie nen auf. „Sicher muß sie Doktor Drury behilflich sein." „So früh?" Kate schüttelte den Kopf. „Kann ich mir überhaupt nicht vorstellen. Habt ihr noch nie davon gehört, daß es Ärzte und Helfer bei Cholera sehr schnell erwischen kann? Ist doch klar! Die sind am meisten ge fährdet." Die beiden nickten beeindruckt. Sorgenvoll wandten sie sich nach vorn, und Kate beobachtete zufrie den, wie sie die Geschichte im Flü sterton weitergaben. Selbst wenn Laura Stacey nachher gesehen wurde, wie sie Drury assi stierte, würde etwas von dem Ge rücht hängenbleiben. Hinter vorge haltener Hand würden die Leute wei tertuscheln. Daß Laura sich doch an gesteckt hatte, war immer noch mög lich. Eben diesen Verdacht würde auch Michael Anderson nicht abschütteln können. Der Stachel der Ungewißheit
würde in ihm bohren. Möglicher weise würde es dazu führen, daß er von Laura Abstand nahm - aus Angst, selbst krank zu werden. Was war ihm wichtiger - die Liebe zu ihr oder sein eigenes Leben? Kate malte sich eine hochinteres sante Zukunft aus. Das Wunschbild leuchtete in den schillerndsten Far ben: Hugh Flanagan, in eine Persen ning gerollt, versank für immer in den kühlen grauen Fluten des Atlan tik. Michael Anderson, der bedauerns werte, irrte allein und hilflos über die Decks. Laura hatte sich in die Segel last zu den anderen Kranken verkro chen, weil sie nun wirklich an Cho lera erkranken wollte, da Michael sie verstoßen hatte. Ohne ihn wollte sie nicht mehr leben. Was lag also näher, als sich auf diese praktikable Weise das Leben zu nehmen? Und schließlich, zu guter Letzt, ließ sich Michael von ihren, Kates, Armen umfangen. Sie würde neue Kraft in ihm wachsen lassen, und dann trug er sie auf seinen starken Armen fort, in eine glückliche Zukunft. Für einen Moment schloß sie die Augen und seufzte tief. Dann flüsterte sie auch dem Decks mann bei der Luke zu, daß sie gehört habe, die hübsche blonde Helferin Doktor Drurys sei nun auch schon an Cholera erkrankt. Beruhigt ließ Kate Flanagan sich kurz darauf an Back bord, neben den fest verzurrten Bei booten, nieder. Kapitän Amos Toolan und die acht Hirten erschienen erst, als alle Aus wanderer und Mannschaftsmitglider an Deck versammelt waren. Die Offi ziere nahmen vor der Heckgalerie
31 Aufstellung, von wo sie die gesamte Szenerie überblicken konnten. Das Gemurmel der Versammelten ver stummte. Toolan hob beide Arme, als wolle er den Himmel umarmen. Dazu schloß er die Augen und gab sich ein weltent rücktes Aussehen. Dann ließ er die Arme sinken und faltete die Hände über dem Bauch. Langsam öffnete er wieder die Augen, als nehme er die Zuhörer erst jetzt bewußt war. „Lasset uns beten", sagte er mit dumpfer Stimme. Nichts erinnerte in diesem Moment an sein gewohntes lautstarkes Lobpreisen. „Lasset uns beten für die arme Seele, die in dieser zurückliegenden Nacht von uns ge gangen ist. Ronald Gibbs lautete der Name des armen Mannes, und der Herr wird sich seiner Seele gütig an nehmen, davon dürfen wir alle über zeugt sein. Unsere Gedanken sind bei der armen Ehefrau des Verstorbenen, und unsere Aufgabe wird es in den nächsten Tagen und Wochen sein, ihr Trost zu spenden, damit sie die schwere Prüfung besteht, die ihr der Herr auferlegt hat. Leisten wir nun gemeinsam Fürbitte für unseren lie ben Verstorbenen, der nicht das Ge lobte Land erreichte, das er sich er träumt hatte. Doch dafür wird er in um so herrlicheren Gestaden lust wandeln, denn der Eingang in das himmlische Reich ist ihm sicher." Kate Flanagan saß wie erstarrt, während die Auswanderer murmelnd das Gebet nachsprachen, das abwech selnd von Amos Toolan, Hannibal Gould und den anderen Puritanern vorgetragen wurde. Kate konnte nicht glauben, was sie gehört hatte. Es gab den ersten Chole
ra-Toten an Bord der „Explorer". Wie betäubt verfolgte sie die weitere Pro zedur, die von den frommen Männern auf dem Achterdeck abgewickelt wurde. Nach einiger Zeit erschienen vier Decksleute, die den Leichnam auf ei ner Planke auf die Kuhl beförderten. Ihnen folgten Doktor Drury und Laura Stacey, die die verhärmt aussehende Witwe in die Mitte genommen hatten und fürsorglich stützten. Das Gesicht der Frau war bleich und tränenüberströmt. Mit Sicher heit war auch sie längst an Cholera erkrankt. Während der Bestattungszeremo nie versuchte Kate Flanagan, sich in Erinnerung zu rufen, wo das Ehepaar Gibbs seinen Platz im Batteriedeck gehabt hatte. Hugh, ihr Trottel, war des öfteren unterwegs gewesen und hatte sich an den verschiedensten Stellen zum Würfelspiel niedergelassen. Viel leicht auch in der Nähe von Ronald Gibbs? Oder in der Nähe eines ande ren Kerls, der mit Gibbs Berührung gehabt hatte? Eine teuflische kleine Hoffnungs flamme begann in ihrem Bewußtsein zu flackern. Dann, als Kapitän Toolan seinen letzten Segen gegeben hatte, rauschte der Leichnam abwärts, schlug klat schend auf die Wasseroberfläche und versank sehr schnell. Die Witwe schrie auf und fiel in Ohnmacht. Mit ihren Kräften, so registrierte Kate Flanagan, schien es nicht zum besten zu stehen. Der Kreis der Ge fährdeten erweiterte sich demzufolge mit großer Wahrscheinlichkeit. Doktor Drury und seine Helferin
32 brachten die Frau in die Kranken kammer. Kate beobachtete das blonde Mädchen genau, vermochte aber noch keine Anzeichen der Krankheit zu erkennen. Es spielte keine Rolle. Sie hatte den Nährboden für das Gerücht bereitet. Alle hatten gesehen, wie der erste Tote der See übergeben worden war. Und alle hatten Laura mit Drury und der Frau gesehen. Die Wahrschein lichkeit, daß das Mädchen ebenfalls erkrankt war, ließ sich nicht mehr von der Hand weisen. Nach einem letzten Gebet löste Ka pitän Toolan die morgendliche Ver sammlung auf. Die Menschen wirk ten niedergeschlagen, als sie in ihr Logis zurückkehrten, um auf die karge Morgenmahlzeit zu warten. Die meisten hatten den Kopf eingezogen, als spürten sie bereits körperlich die Bedrohung, die sich über ihnen zu sammenballte.
Edwin Carberry, Ferris Tucker, Luke Morgan, der Kutscher, Batuti und Bob Grey hatten das Beiboot der Schebecke bemannt. Die Ausrüstung des Kutschers, in zwei Kisten ver packt, stand zwischen den Duchten. Hasard enterte zu den Männern ab und nahm den Platz auf der Achter ducht ein. Die Männer stießen das Boot von der Bordwand ab und brachten es mit zügigen Riemenschlägen auf Kurs. Das Wasser war glatt wie ein Spiegel. Die vier Schiffe lagen auf ihren Posi tionen, als seien sie durch langadrige Wurzeln mit dem Meeresgrund ver wachsen. Treibanker waren vorsorg
lich ausgebracht worden, nachdem die Galeonen und die Schebecke end gültig ihre Fahrt verloren hatten. Hasard hatte die Kapitäne zu einer Lagebesprechung an Bord seines Dreimasters gerufen. Amos Toolan hatte die für alle bestürzende Mel dung erstattet, daß an Bord der „Ex plorer" die Cholera ausgebrochen sei. Zu jenem Zeitpunkt war der er krankte Mister Gibbs allerdings noch am Leben gewesen. Toolan und seine frommen Mit streiter hatten den Toten der See übergeben, ohne dies vorher in ir gendeiner Weise anzukündigen. Ha sard konnte ihm allerdings nichts vorwerfen, denn über das Verhalten in einem solchen Fall gab es keine Ab sprache. Und natürlich hatte Toolan als Kapitän an Bord seines Schiffes die Entscheidungsgewalt. Die Karavelle der Verfolger war mit bloßem Auge nicht mehr zu se hen. Nur mit Hilfe des Spektivs konnte man die Mastspitzen erken nen. Fraglos war den Kerlen die Flaute ziemlich gleichgültig, denn sie schie nen vorerst nicht zu beabsichtigen, sich dem Konvoi zu nähern. Ihre Stunde schlug dann, wenn sie etwa nach einem Sturm ein schon waid wundes Opfer reißen konnten. Der Seewolf würde alles daransetzen, in einem solchen Moment zur Stelle zu sein. An Bord der „Discoverer" und der „Pilgrim" waren sämtliche Decks leute und auch die jüngeren und kräf tigsten der Auswanderer mit all den kleinen Arbeiten beschäftigt, die nun in Angriff genommen werden konn ten. Vom Segeltuch, das noch geflickt
Von G L , Straße , 7900 Ulm 10, einer langjährigen Leserin, erhielten wir zum Jahresbeginn ein Lob. Sie schrieb: Liebe Seewölfe-Redaktion! Ich lese die Serie seit dem 13. Heft (Schwarze Fracht) und ha be seitdem keines ausgelassen - also schon seit über zehn Jahren. Ich fand den 600. Seewolf einfach toll!! Es war schön zu erfahren, aus welchem Grund Philip Hasard Killigrew den Entschluß faß te, nach Plymouth zu gehen, wo er in der Bloody Mary mit Dan O'Flynn auf die ,,Ma rygold" von Francis Drake gepreßt wurde. Ich finde diese Serie schön und wünsche mir, daß sie noch lange besteht. Mit freundlichen Grüßen - G L Sehr herzlichen Dank für Ihr Lob, Frau L , vor allem, weil Sie es ohne Wenn und Aber aussprechen - und das nach über zehn Jahren des Bestehens der SW-Serie, wobei wir zugeben, daß wir es nicht allen Lesern immer recht machen konnten. Aber alles in allem haben wir ja wohl doch den richtigen Kurs steuern können. Auch D K , straße , 5000 Köln 80, spendet Lob und ist im gewis sen Sinne „Altleser". Liebe Seewölfe-Redaktion! Ich möchte Euch zu dieser Serie gratulieren. Ich lese sie jetzt seit ungefähr neun Jahren. Es gibt zwar wie überall auch Schwächeperioden, doch hebt sie sich wohltuend von anderer Heftlitera tur ab. Ich schreibe Euch aber auch, weil ich meine Hefte (145-604) - ohne 149,169 und 194, plus 62, 75, 77, 79,80,90,127und 133 - leider aus Platzmangel verkaufen muß. Ich ziehe auf grund meines Studiums von Köln nach München und habe da leider nicht genug Platz. Ich stelle mir als Verkaufspreis DM 1- pro Heft vor oder DM 350,- für alle Hefte.
Ich werde die Serie aber weiterhin lesen und
wünsche Euch viel Glück damit für die Zu
kunft.
Mit freundlichen Grüßen -D K
Ein Verkaufsangebot hat auch M K Straße , 8014 Neubiberg, Tel.: 089/ Liebe Seewölfe-Redaktion! Ich möchte aus Platzgründen meine SW-Sammlung ver kaufen, und zwar ca. 200 Stück von Band 209 bis 583 zum Pauschalpreis von DM 200, einschließllich 9 Sammelbänden (3er und 5er). Abnehmer bitte möglichst im Groß raum München zwecks Selbstabholung oder persönlichen Bringens von mir, da mir Ver schicken per Vorauszahlung oder Nachnah me zu riskant ist. Mit einem herzlichen Ar wenack grüßt Euch -M K Ferner verkauft für DM 120,- plus Nach nahmegebühr D B , weg , 8758 Goldbach, Tel.: 06021/ , folgende 257 SW-Hefte: Nr. 1-35, 37-52, 54-93, 9 5 108,110,119,208,210,232,233,244,250-254, 256,265-268,272,279,402-406,409,412,419, 424,425,427,430,438,439,441,444-447,449 472,474-479,482-487,489-495,497-517,520, 521, 523-536, 538-548, 550-553, 555-567, 569-570,572,576, 578, 579 und 581. Ein feines Angebot, nur fehlen die 300er Nummern, da hat Herr B offenbar „pausiert", stieg dann aber bei den 400er Nummern wieder ein. Uns würde schon in teressieren, warum das so ist, denn so „schlecht" waren die Nummern 300 bis 400 ja wohl nicht. Oder? Schade, daß wir dar über nie etwas erfahren. Aber vielleicht schreibt uns Herr B noch einmal und klärt uns auf. Mit herzlichen Grüßen Ihre SEEWÖLFE-Redaktion und die SEEWÖLFE-Autoren
Auf den beiden vorigen Seiten stellen wir unseren Lesern verschiedene Ankertypen vor, wie sie um die Jahrhundertwende und später in der Schiffahrt üblich waren (und sind). A ist ein gewöhnlicher Buganker (Stockanker), wie er noch auf den Segelschiffen benutzt wurde. Dabei ist interessant, daß der Ankerstock (2) aus Hartholz gefertigt war - im Gegensatz zu den späteren Anker
stöcken aus Eisen. Vermutlich setzte sich der eiserne Ankerstock erst
zu Anfang unseres Jahrhunderts endgültig durch.
Die Nummern bedeuten: 1 Ankerring oder auch Roring - hier wurde
die Ankertrosse angesteckt bzw. später die Ankerkette angeschäkelt, 2
Ankerstock, 3 eiserne Ankerstockbänder, 4 Ankerschaft, 5 Ankerhals,
6 Ankerkreuz, 7 Ankerarme, 8 Ankerflügel oder Ankerhände oder An kerflunken und 9 Ankerspitzen.
B ist ein sogenannter Patent-Buganker - hier ist der Ankerstock bereits
aus Eisen. Die Nummern bedeuten: 1 Ankerschäkel, 2 Ankerstock, 3
Ankerstocknüsse, 4 Ankerstocksplint, 5 Ankerschaft, 6 Ankerflunken,
7 Fischschäkel (zum Ausbrechen oder Fischen des Ankers) und 8 An
kerkreuz.
C, D und E sind stocklose Buganker verschiedenen Patents.
F ist ein eiserner Stockanker, wie er auf kleineren Fahrzeugen gefahren
wurde und auch heute zum Teil noch anzutreffen ist.
G ist der sogenannte Warpanker, den man einsetzt, wenn man ein Fahr
zeug verwarpt, das heißt verholt oder abbringt. In diesem Fall wird der
Warpanker, der kleiner als ein gewöhnlicher Anker ist, mit einem Bei
boot weit genug ausgefahren und die Trosse vom Schiff aus mit dem
Spill herangeholt, so daß sich das Schiff auf den neuen Platz zubewegt.
H ist ein sogenannter Draggen, ein stockloser, meist vierarmiger kleiner
Anker, der insbesondere zum Suchen von über Bord gegangenen Ge
genständen oder zum Aufnehmen von Kabeln, Ketten usw. verwendet
wird.
37 werden mußte, bis zum gründlichen Reinigen der Decks gab es eine Menge Tätigkeiten, denen man sich mit Ausdauer und Hingabe widmete. Carberry und die anderen nahmen die Riemen ein, und Hasard ließ die Jolle an Backbord der „Explorer" längsseits gleiten. Die „Discoverer" lag gut fünfhundert Yards Backbord voraus, die „Pilgrim" etwa dreihun dert Yards querab. Achteraus schloß die Schebecke den Kreis in etwas ge ringerer Entfernung. Carberry vertäute die Jolle an der Jakobsleiter. Dann enterten die Män ner auf, wobei sie die Ausrüstungski sten des Kutschers weiterreichten und an Bord wuchteten. Hasard begab sich gemeinsam mit dem Kutscher auf das Achterdeck, während die anderen auf der Kuhl warteten. Kapitän Toolan und die acht Puritaner blickten dem Seewolf und seinem Begleiter mit düsteren Mienen entgegen. „Wir wollten nicht eigenmächtig handeln", sagte Toolan statt einer Be grüßung. „Aber Sie wissen sicherlich, daß ein an Cholera Gestorbener so fort beseitigt werden muß. Die Prü fungen, die uns der Herr auferlegt, werden immer schwerer. Über Nacht hat die Zahl der Erkrankungen sprunghaft zugenommen. Zehn Fälle sind es auf einmal." Hasard wechselt einen Blick mit dem Kutscher. Der dunkelblonde, et was hager wirkende Mann ließ keine Reaktion erkennen, aber der Ernst in seinen Augen verdeutlichte, daß er imstande war, die Situation mit all ih ren Konsequenzen einzuschätzen. „Wir müssen alles Erforderliche tun", sagte der Seewolf. „Ihr Schiff
steht ab sofort unter Quarantäne, Mi ster Toolan. Ich stelle Ihnen meinen Feldscher, den Kutscher, zur Verfü gung. Außerdem zwei Helfer, Mister Batuti und Bob Grey." Toolan und die acht Hirten blickten verdutzt. Hannibal Gould trat einen Schritt vor. „Natürlich sind wir für die Hilfe dankbar", sagte er mit dunkler Stimme. „Aber, mit Verlaub, halten Sie unseren Doktor Drury für unfä hig? Ich meine, er ist ein studierter Mann, und Ihr sogenannter Feldscher dürfte demzufolge nichts Wesentli ches zur Behandlung der Kranken beizutragen haben." Der Kutscher schluckte die unver hohlene Beleidigung, ohne mit der Wimper zu zucken. Hasard lächelte kühl. „Mir sind über Ihren Doktor Drury andere Dinge bekannt, die nicht gerade auf Zuverlässigkeit schließen lassen. In unser aller Interesse brauche ich des halb einen verläßlichen Mann an Bord der ,Explorer'. Was die fachli che Qualifikation des Kutschers an belangt, so dürfte er jedem studierten Arzt mindestens ebenbürtig sein. Ich bin in der Lage, das besser zu beurtei len als Sie." Gould und seine frommen Mitstrei ter schwiegen betreten. Auch Amos Toolan hatte nichts zu erwidern. Der Seewolf verzichtete darauf, ihnen Einzelheiten über das Fachwissen des Kutschers zu erklären. Es gab keinen Grund, sich für sei nen Einsatz an Bord der „Explorer" zu rechtfertigen. Allein seine Fähig keiten zählten, und die hatte er in den Jahren seiner Tätigkeit als Kutscher bei Sir Anthony Freemont, dem Arzt
38 in Plymouth, erworben. Eine bessere Ausbildung konnte es kaum geben, und in all den Jahren an Bord hatte der ernste, oft verschlossen wirkende Mann mehr als einmal bewiesen, was er zu leisten imstande war. Der Kutscher verzichtete seiner seits auf eine Stellungnahme. Wie der Seewolf war er der Meinung, daß Ta ten zählten, nicht wohlgesetzte Worte. „Sehen wir uns die Kranken an", entschied Hasard. „Wie Sie wünschen, Sir Hasard", sagte Kapitän Toolan mit einer stei fen Verbeugung. „Ich gebe Ihnen ei nen Decksmann an die Hand, der Sie hinführen wird." Der Seewolf verzichtete darauf, Toolan selbst um Begleitung zu bit ten. Der dickliche Mann gehörte nicht unbedingt zu jenen, die bereit waren, eine Verantwortung mit allen sich daraus ergebenden Folgen zu über nehmen. Toolan zog sich feige zu rück, in der Hoffnung, sich auf diese Weise vor Ansteckung schützen zu können. Gemeinsam mit Batuti und Bob Grey enterten Hasard und der Kut scher in die leergeräumte Segellast ab, wo die zehn Kranken unterge bracht waren. Doktor Drury stellte den Männern seine hübsche Assisten tin Laura Stacey und die beiden ande ren Helfer vor. „Ich fürchte", sagte der Schiffsarzt, „noch bevor dieser Tag zu Ende geht, werden wir das Dutzend voll haben." Mit dem Unterarm wischte er sich den Schweiß von der Stirn. „Jeden falls bin ich dankbar für die Unter stützung." Er legte dem Kutscher die Hand auf die Schulter. „Fangen wir
also gleich an, unsere Erfahrungen auszutauschen, Mister . . . " „Man nennt mich nur den Kut scher." Doktor Drury stellte keine weiteren Fragen. Mit einer Handbewegung deutete er zu Laura und den beiden Männern, die im Schein von Ölfun zeln damit beschäftigt waren, den Kranken das Gesicht abzureiben. „Ich verwende Rizinusöl mit Bitter salz", erklärte Drury. „Die Essigbe handlung ist eigentlich nur zur Linde rung gedacht." Der Kutscher nickte. „Ich habe Opiumtinktur dabei. Jeweils fünf unddreißig Tropfen, nach dem Es sigbalsam verabreicht, sollten gut wirken." Doktor Drury zog die Brauen hoch. „Interessant! Davon habe ich noch nie etwas gehört. Nun, Sie werden mehr auf der Welt herumgekommen sein als ich. Aber was ist mit der Suchtgefahr, wenn die Behandlung über einen längeren Zeitraum geht?" „Es dürfte das geringere Risiko sein", erwiderte der Kutscher. „Wie sich vermuten läßt, stammt die Re zeptur aus Asien. Es heißt dort auch, daß der menschliche Körper durch die Cholera-Erkrankung so stark an Flüssigkeit verliert, daß er letztlich daran zugrunde geht. Deshalb sollten die Patienten möglichst viel trinken. Ob dadurch in jedem Fall eine Wir kung erzielt wird, ist allerdings nicht sicher." Doktor Drury nickte. „Verstehe. Fangen wir gleich an. Zu zweit hat man mehr Mut, stimmt's?" Der Kutscher lächelte erfreut - was bei ihm selten genug geschah. Batuti und Bob öffneten die Kisten,
39 die sie für den Kutscher mitgebracht hatten. Hasard kehrte unterdessen zu Car berry, Ferris und Luke zurück und in formierte sie mit knappen Worten über die Lage. Sie enterten ins Boot ab und sahen auch auf der „Discove rer" und der „Pilgrim" nach dem Rechten. Dort gab es keine schwer wiegende Krankheitsfälle. Aber die Besorgnis wegen der Cholera an Bord der „Explorer" war groß.
6. Kurz nachdem der Seewolf und seine Gefährten von Bord gegangen waren, ordnete Hannibal Gould eine sofortige Zusammenkunft in der Of fiziersmesse an. Teilnehmer waren neben den Puritanern und Kapitän Toolan auch die Offiziere. Gould hatte entschieden, daß sie eingeweiht werden mußten, wenn man die beab sichtigte Aktion erfolgreich durch führen wollte. Der Finstere ergriff das Wort, nach dem er sich vergewissert hatte, daß Schotten und Fenster der Messe ge schlossen waren. „Gentlemen", sagte er und blickte bedeutungsvoll in die Runde. „Ich habe mir erlaubt, einen Plan zu ent wickeln, an dem wir alle gleicherma ßen interessiert sein sollten. Da es sich nicht um eine Maßnahme der Schiffsführung handelt, erlaube ich mir weiterhin, das Wort zu überneh men. Hat jemand etwas dagegen ein zuwenden?" Niemand wagte sich zu melden. „Nur weiter, Mister Gould", sagte Toolan unterwürfig. „Sie sind der
richtige Mann, die Dinge hier an Bord in den Griff zu kriegen. Ich weiß, wie man ein Schiff sicher durch einen Sturm führt. Aber wie man mit einem Gottesurteil fertig wird, gehört nicht zu meinen starken Seiten. Viel mehr als beten kann ich leider nicht." Er lachte gekünstelt. Gould nickte mit unbewegter Miene, als handele es sich um eine selbstverständliche Anerkennung, die ihm gezollt wurde. „Die Zahl der Kranken hat sich in besorgniserregendem Maße gestei gert", fuhr er fort. „Deshalb muß ernsthaft gehandelt werden. Wir kön nen uns keine Barmherzigkeit mehr leisten. Es geht jetzt einzig und allein darum, daß die Gesunden an Bord ge sund bleiben." „Wir haben jetzt ja zwei Medizi ner", warf Alvin Merriweather spöt tisch ein. „Da müßte es doch wohl ge lingen." „Ich fürchte, darauf können wir lange warten", entgegnete Gould är gerlich. „Nein, meine Freunde, es gibt nur einen Ausweg, und mag er sich noch so hart anhören. Dem Herrn ge fällt es, verschlungene Wege zu ge hen, wenn es nicht anders möglich ist, das Ziel in seinem Sinne zu errei chen." „Heraus damit!" rief Edward Wi therspoon. „Laß endlich hören, Han nibal! Du hast doch bestimmt wie der etwas verblüffend Einfaches im Kopf. Etwas, das keinem anderen ein gefallen ist. Habe ich recht?" Diesmal lächelte Gould geschmei chelt. „Allerdings", erwiderte er. „Wir werfen alle Kranken über Bord!" Hätte er ein Kilogramm Schwarz
40 pulver gezündet, wäre die Wirkung ähnlich gewesen. Toolan, die Puritaner und die Offi ziere saßen wie vom Donner gerührt. Entgeistert starrten sie Gould an, und nicht weniger von ihnen hatten Mühe, den Mund wieder zuzukriegen. „Ich gebe zu", sagte Gould lä chelnd, „daß man sich mit dem Plan erst anfreunden muß. Aber je mehr man darüber nachdenkt, desto ein leuchtender wird es einem. Wir ha ben keine bessere Möglichkeit, uns vor der mörderischen Krankheit zu schützen. Aber es ist unser gutes Recht. Gibt der Herr nicht auch in der Natur alle Rechte dem Stärkeren? Tötet nicht der Wolf das schwächere und kranke Getier?" Erstes beifälliges Gemurmel war zu vernehmen. „Ich muß zugeben", sagte Arnos Toolan gedehnt, „daß der Plan wirk lich verblüffend einfach ist. Er muß einem nur erst m a l einfallen. Ich bin auch der Meinung, daß wir jegliches Recht haben, so zu handeln, wie Mi ster Gould das vorgeschlagen hat. Oder hat irgendeiner etwas dagegen einzuwenden?" Er blickte zu seinen Offizieren hinüber. Keiner hob die Hand. Hannibal Gould nickte gönnerhaft. „Ich nehme an, es gibt auch sonst kei nen Widerspruch. Fangen wir also an, die Details zu erörtern. Ich meine, trotz aller Legitimation, die wir für uns beanspruchen können, sollten wir die Maßnahme nachts und mög lichst unbemerkt durchführen. Das heißt, wir müßten entsprechende Vorbereitungen treffen." „Dazu müßten die Kranken verlegt werden", entgegnete Toolan. „Aus
der Segellast können wir sie jeden falls nicht heraufschaffen, ohne daß sämtliche Auswanderer rebellisch werden. Ich schlage daher vor, daß wir sie im Laufe des Tages auf die Back verlegen - nicht zuletzt auch wegen der frischen Luft und so." „Dazu müßten wir aber erst Doktor Drury und seine famosen Helfer überzeugen, daß die Kranken wirk lich frische Luft brauchen", sagte Gould. Toolan rieb sich das Kinn. „Ich müßte vorsichtshalber einen Grund erfinden, warum die Segellast für an dere Zwecke gebraucht wird." „Warum nicht für ihren eigentli chen Zweck?" rief der Zweite Offi zier. „Man könnte feststellen, daß das Tuch in dem Stauraum, wo es jetzt liegt, feucht und damit spakig wird. Und intaktes Tuch ist ja wohl wichti ger als alles andere." „Sehr gut!" lobte Toolan. „Haarge nau so wird es funktionieren. Ich denke aber, wir brauchen einige Mannschaftsmitglieder, die für uns arbeiten. Wir wollen die Aktion doch sicher nicht selbst erledigen." Er blickte Gould an. Der Finstere schüttelte den Kopf. „Wenn wir uns einig sind, dürfte es nicht schwerfallen, in der Crew ein paar zuverlässige Leute zu finden." „Noch etwas!" rief Wilbur Mathis. „Wenn wir die Kranken beseitigen, sollten wir auch diejenigen nicht ver gessen, die im Verdacht stehen, er krankt zu sein. Ich denke da beispiels weise an Laura Stacey, Drurys Helfe rin, von der es heißt, daß sie sich längst angesteckt habe. Die anderen Helfer müßte man dann zwangsläu fig auch in Betracht ziehen."
41 „Ein äußerst wichtiger Gedanke", zu geben, das mörderische Vorhaben sagte Hannibal Gould mit lobend er in die Tat umzusetzen. hobenem Zeigefinger. „Hat jemand dagegen etwas einzuwenden?" Auch diesmal regte sich nicht der In der Zeit der Mittagsruhe war es geringste Widerspruch. im Batteriedeck der „Explorer" wie „In Ordnung", sagte Gould. „Dann der völlig still geworden. sind wir uns also einig. Mister Too Als sie erwachte, hatte Kate Flana lan, Sie sorgen dafür, daß die Kran gan Mühe, in die Wirklichkeit zurück ken verlegt werden. Die Gentlemen zufinden. Die verworrensten Träume Offiziere kümmern sich um geeignete hatten sie beglückt. Immer wieder Crewmitglieder. Dann geht es nur hatte sie in diesen Träumen alle Hin noch darum, daß wir in der Nacht ei dernisse auf dem Weg zu Michael An nen Moment erwischen, in dem auch derson überwunden. Immer wieder die bewußten Personen anwesend war sie von seinen starken Armen sind, die sich möglicherweise ange aufgenommen worden. steckt haben." Schlaftrunken setzte sie sich auf. „Richtig", sagte Toolan. „Außer Die meisten Passagiere schliefen dem müssen die Männer aus der noch tief und fest. Nur wenige Crew die richtige Ausrüstung bei sich Schnarcher waren darunter. Trotz haben. Fesseln und Knebel für die der geöffneten Stückpforten war die Kranken. Zusätzlich für jeden einzel Luft heiß und stickig, da sich ja kein nen, der über Bord geht, mindestens Windhauch mehr regte. einen großen Stein als Ballast. Davon Mit zufriedenem Lächeln sah Kate, haben wir genug in der Bilge. Die daß Michael wieder allein unter sei schweren Brocken müssen nur unauf ner Decke lag. Laura hatte immer we fällig nach oben geschafft wer niger Zeit für ihn. Ihre Tätigkeit als den." Krankenpflegerin würde sich hof Hannibal Gould winkte ab. „An fentlich als Pferdefuß für sie erwei solchen Kleinigkeiten dürfte die sen und dazu beitragen, daß Michael Sache nicht scheitern. Ich schlage sich - wie beabsichtigt - von ihr ent vor, daß wir den beteiligten Männern fremdete. jeweils eine kleine Belohnung zahlen. Sie blickte zur Seite. Ihr Trottel Das wird in ihren einfältigen Hirnen schlief noch. Wie üblich. Sie wollte mehr Eindruck hervorrufen als die sich wieder abwenden, als sie unver Aussicht, gesund zu bleiben." mittelt stutzte. „Ich bin dafür", erklärte Toolan so Hughs Gesicht war schweißüber fort. „Es wird sie schließlich auch ei strömt, das bäurisch Rosige seiner nige Überwindung kosten, die Kran Haut hatte sich in eine erschreckende ken überhaupt anzufassen." Blässe verwandelt. Auch mit diesem Vorschlag Goulds Kate glaubte, ihren Augen nicht zu waren alle Anwesenden einverstan trauen. War das möglich? Konnte es den. Es schien kein Hindernis mehr wirklich zutreffen? Was sie herbeige
42 sehnt hätte, sollte geschehen sein? Einfach so? Sie konnte es nicht fas sen. Es hatte ihn erwischt! Teufel auch, es hatte ihn wirklich erwischt! Unwillkürlich blickte sie zu der Stelle, an der sie Michael Andersons blonden Haarschopf sah. Wir sind uns ein Stück nähergelangt, dachte sie. Mein Junge, jetzt sind wir uns schon ziemlich nahe. Es kann nur noch besser werden. Aus einem Impuls heraus wollte sie ihren Trottel wachrütteln, um festzu stellen, wie weit die Krankheit bei ihm fortgeschritten war. Aber sie wi derstand der Versuchung. Schließlich mußte sie ihn nicht unnötig berühren. Es reichte, daß sie neben ihm geschla fen hatte. Erschrocken sprang sie auf und ließ die Decke von sich abfallen. Jäh wurde ihr bewußt, daß sie die ganze Zeit über in seiner unmittelbaren Nähe gewesen war. Wie lange mochte es her sein, daß er sich angesteckt hatte? Wie lange war es ihm gelun gen, die Erkrankung zu verheimli chen? Ein Schauer lief ihr über den Rük ken. Sie mußte weg von ihm, so schnell wie möglich. Sie durfte sich nicht noch mehr in Gefahr bringen. Und sie mußte auch dafür sorgen, daß die Gefahr von den übrigen Pas sagieren abgewendet wurde. Sie war verpflichtet, den Fall zu melden. Deshalb verließ sie das Batterie deck, so schnell sie konnte. Dem See mann, der oben bei der Luke Wache hielt, sagte sie nur, daß sie dringend den Kapitän sprechen müsse. Sie er fuhr, daß sie sich an Mister Hannibal Gould wenden müsse, da Kapitän
Toolan seine Mittagsruhe noch nicht beendet habe. Der Finstere empfing sie auf dem Achterdeck. Ohne eine innere Re gung erkennen zu lassen, hörte er sich an, was sie zu sagen hatte. Dann er klärte er, daß er unverzüglich das Notwendige veranlassen werde. Er genehmigte Kate den Aufenthalt an Deck, bis ihr kranker Ehemann fort geschafft und der Logisplatz im Bat teriedeck gereinigt worden sei. Sie bedankte sich hocherfreut. Sie hatte den Eindruck, daß dieser Han nibal Gould ein Mann der Tat war. Daß er auch bei ihr nicht widerstehen konnte, seinen Blick auf Wander schaft gehen zu lassen, notierte sie in ihrem Gedächtnis als einen günstigen Umstand. Vielleicht war es eines Ta ges erforderlich, ihn durch gewisse Beweise von Zuneigung für sich ein zunehmen. Sie schlenderte über die Kuhl und war in der richtigen Stimmung für frivole Wortwechsel mit den Decks leuten.
Als erstes wurde jeglicher Aufent halt auf der Back verboten. Dann rückte ein Reinigungskommando an, bestehend aus zehn Decksleuten. Im Handumdrehen schrubbten sie die Planken der Back blitzblank. In der Sonnenwärme trocknete das Holz rasch. Dann wurden Krankenlager mit Strohsäcken und Decken herge richtet. Hugh Flanagan war der erste, der in das neue Krankenrevier verlegt wurde. Man hatte ihn nicht erst in die Segellast gebracht, denn dort unten
43 wurde bereits aufgeklart. Flanagan lag regungslos und mit wachsblei chem Gesicht. Die Männer, die ihn auf einen Strohsack betteten und zudeckten, hatten es eilig, sich von ihm zu entfer nen. Der Mann sah zum Fürchten aus, schlimmer als die anderen Kranken, die bisher geborgen worden waren. Es mußte ihn ungeheuer schwer er wischt haben. Vielleicht war es ihm auch gelungen, seine Krankheit über mehrere Stunden zu verheimlichen. Dann ging es Schlag auf Schlag. Das Kommando, das von Kapitän Toolan eingeteilt worden war, beför derte die Kranken aus der Tiefe der Segellast ans Tageslicht. Die Zahl der Patienten war auf achtzehn ange wachsen. Doktor Drury und der Kutscher hatten nicht widersprechen können, als Toolans Befehl ergangen war, die Segellast zu räumen. Es gab kein Ar gument gegen die Verlegung der Kranken auf die Back. Der Kutscher und der Schiffsarzt sahen aufmerksam zu, wie die hilf losen Menschen auf ihre Lager gebet tet und anschließend von den Helfern versorgt wurden. Laura Stacey und die beiden Män ner von der „Explorer" hatten immer mehr damit zu tun, die schweißglän zenden Gesichter der Kranken mit Essig abzureiben. Batuti und Bob Grey hatten sich unterdessen darauf spezialisiert, im Handumdrehen fünfunddreißig Tropfen Opiumtinktur abzumessen und sie den Kranken einzutrichtern. „Diese Opiumgeschichte scheint wirklich zu helfen'', sagte Victor Drury anerkennend. „Der Zustand
der Leute hat sich jedenfalls nicht verschlechtert - abgesehen von Mis ses Gibbs.'' „Und von diesem Mann." Der Kut - scher deutete auf Hugh Flanagan. „Wie schlimm es mit ihm aussieht, dürfte zu spät erkannt worden sein. Ob wir ihm noch helfen können, ist fraglich. Im übrigen meine ich, daß durchaus die unterschiedlichen Medi kamente zusammen den Erfolg be wirken - wenn es denn einer ist. Ich kann nicht behaupten, daß es allein die Opiumtinktur bewirkt." „Sie sind ein bescheidener Mensch", entgegnete Doktor Drury. „Und Bescheidenheit ist bekanntlich eine Zier." Ein Lächeln umspielte die Mund winkel des Kutschers. Er hatte festge stellt, daß man mit Drury hervorra gend zusammenarbeiten konnte entgegen allen Vorurteilen, die gegen ihn gehegt wurden. Vielleicht war es so, daß er nur richtig gefordert wer den mußte, um sein Bestes zu geben. Alle Kranken waren an ihrem Platz. Laura und die männlichen Hel fer ordneten Ausrüstung und Medi kamente. Seeleute beseitigten unter dessen die benutzten Krankenlager in der Segellast. Das Ganze wurde in eine große Persenning gerollt, mit Steinen beschwert und gut ver schnürt in die See versenkt. „Wir brauchen dringend frische Tü cher", wandte sich Laura an Doktor Drury und den Kutscher. Sie wischte sich eine Strähne ihres blonden Haars aus der Stirn. „Ich fürchte, wenn es noch mehr Kranke werden, reichen unsere Vorräte bald nicht mehr." „Ich werde mich darum kümmern",
44 versprach Doktor Drury. „Aber Sie, meine Liebe, ruhen sich jetzt erst ein mal aus. Sie haben genug geschuftet, und wir haben frische Unterstützung durch die Gentlemen von der Sche becke." Laura lächelte dankbar und wollte abwehren. Doch sie kam nicht mehr dazu, etwas zu sagen. Eine Gruppe von Decksleuten hatte sich vor dem Steuerbordniedergang zur Back versammelt. Einer von ih nen enterte auf, verharrte jedoch auf halber Höhe. „Doktor Drury!" rief er. Sein Ton war mehr als anmaßend. „Ja, was gibt es?" fragte der Schiffsarzt. „Doktor, wir verlangen, daß hier wirklich Ordnung geschaffen wird. Es heißt, daß gewisse Leute, die sich längst angesteckt haben, ihre Krank heit verheimlichen. Dazu gehört zum Bauspiel Ihre feine Helferin, Miß Sta cey!" Laura erbleichte und wandte sich zornig um. „Ich habe mich nicht angesteckt!" rief sie energisch. „Und wenn ich die geringsten Anzeichen an mir entdek ken würde, würde ich es sofort sa gen." „Da sind wir uns aber nicht so si cher", widersprach der Decksmann. „Und mit den anderen Helfern dürfte es auch nicht besser aussehen. Außer dem muß unter Deck kontrolliert werden, wie viele heimliche Kranke es da außerdem noch gibt." „Hören Sie!" rief Doktor Drury energisch. „Gehen Sie zurück an Ihre Arbeit, und mischen Sie sich nicht in Angelegenheiten ein, von denen Sie nichts verstehen. Wir wollen uns
doch nicht gegenseitig verrückt ma chen!' Der Wortführer der Decksleute blieb beharrlich. „Wenn Sie sich nicht darum kümmern, müssen wir selbst etwas unternehmen. Wir wer den die Heimlichtuer schon ausson dern, verlassen Sie sich drauf! Und wir kriegen auch heraus, wer krank ist und wer nicht." „Keinen Schritt weiter!" sagte Drury scharf, als der Decksmann auch die letzten Stufen des Nieder gangs hinter sich bringen wollte. Von unten drängten die anderen nach. Von allen Seiten tauchten auf der Kuhl jetzt weitere Seeleute auf, die entschlossen genug aussahen, sich dem Wortführer anzuschließen. Der Kutscher wechselte einen Blick mit Batuti und Bob Grey. Der hünen hafte Gambianeger schloß die Kiste, deren Inhalt er geordnet hatte, und richtete sich auf. Er nickte und ging gelassen durch die Reihen der Kran ken. Bob Grey folgte ihm mit einem Schritt Abstand. Der Wortführer, ein stämmiger Bursche mit rötlichem Haar, war schon fast oben. Hinter ihm waren be reits die Köpfe der anderen zu sehen. Wie es der Zufall wollte, hatten sich vom Achterdeck all jene verzogen, die sich dort sonst üblicherweise auf hielten: Kapitän Toolan, seine Offi ziere und die barmherzigen Hirten. „Verschwindet", sagte Batuti und blieb breitbeinig stehen. Er legte die Hände in die Hüften. Bob Grey baute sich einen Yard seitlich versetzt hinter ihm auf. Die beiden Krankenpfleger, die aus den Reihen der Crew stammten, hielten sich zurück.
46 Batuti und Bob konnten ihnen nicht übelnehmen, daß sie zögerten, gegen ihre eigenen Gefährten vorzu gehen - auch wenn diese offenbar den Verstand verloren hatten. Der Wortführer verharrte, doch er benahm sich grimmig und herausfor dernd. „Willst du uns aufhalten, schwar zer Bastard?" schrie er. „Da bist du aber an die Falschen geraten!" Batuti handelte blitzschnell. Seine Bewegung war nicht einmal im An satz zu erkennen. Der Schreier brachte keine Reaktion mehr zu stande. Bevor er zurückweichen konnte, hatte ihn der schwarze Her kules an den Oberarmen gepackt. Für den Mann entstand das Gefühl, als würden ihm die Arme durch den Brustkorb gepreßt. Er brüllte vor Schmerzen. Im nächsten Moment zappelte er wie ein Käfer. Batuti hob ihn mühelos hoch. Die Kerle auf dem Niedergang sperrten vor Entsetzen den Mund auf. Doch es war auch für sie zu spät. Batuti schleuderte ihnen den Wort führer entgegen, dessen Gebrüll sich im Krachen und Poltern des Men schenknäuels vervielfältigte. Nur mit unendlicher Mühe gelang es den Ker len, ihr Gewirr von Armen und Bei nen zu entflechten und sich aufzurap peln. Mehrere hielten sich den Kopf. Es dauerte lange, bis sie wieder sicher auf beiden Beinen standen und wie geprügelte Hunde davonschlichen. Bob Grey hatte sich vorsorglich oberhalb des Backbordniedergangs aufgebaut. Aber er blieb tatenlos. Keiner riskierte dort den Vorstoß. „Wagt so etwas nicht noch einmal!" rief Batuti den Decksleuten nach und
entblößte drohend seine perlweißen Zähne. „Das nächstemal bleibt es nicht bei ein paar Beulen!" „Daß du einem dauernd alle Arbeit abnehmen mußt", maulte Bob Grey. Der Gambianeger drehte sich um und klopfte ihm auf die Schulter. „Freu dich nicht zu früh. Ich glaube, unsere Freunde werden so bald nicht aufgeben." Er deutete mit einer Kopf bewegung nach achtern. Die Kerle hatten sich in der Nähe des Großmasts gesammelt und steck ten tuschelnd die Köpfe zusammen. Von Zeit zu Zeit schickten sie böse Blicke herüber. Laura bedankte sich mit einem Händedruck bei Batuti. Auch Doktor Drury und die beiden anderen Helfer nickten ihm anerkennend zu. „Ich finde, wir sollten den Vorfall dem Kapitän melden", sagte der Kut scher. Batuti winkte ab. „Überflüssig. Erstens wird er es sowieso gleich er fahren, und zweitens bin ich sicher, daß er in keinem Fall etwas unter nimmt." Der schwarze Herkules sollte recht behalten. Während sie sich wieder um die Versorgung der Kranken kümmerten, kehrten Toolen und die Barmherzigen nach und nach auf das Achterdeck zurück. Die Decksleute erstatteten Bericht, doch nichts geschah. Weder Toolan noch einer der anderen bequemte sich herüber, um auf der Back um eine Stellungnahme zu bitten. In den darauffolgenden Stunden entwickelte sich das Geschehen so lähmend, wie es der Windstille ent sprach. Während eines Decksspazier gangs traf sich Laura kurz mit ihrem
47 Verlobten. Doch schon nach wenigen Minuten nahm sie ihre Arbeit auf dem Vordeck wieder auf. Kate Flanagan hatte Michael nicht mehr behelligt. Indessen schien sie auch nicht das geringste Interesse am Zustand ihres Mannes zu haben, denn sie tauchte kein einziges Mal auf, um nach ihm zu fragen. In den späten Nachmittagsstunden nahm das Verhängnis seinen Lauf. Zuerst starb Misses Gibbs. Sie hatte den ganzen Tag über keinen Laut der Klage von sich gegeben. Den Helfern war es so erschienen, als ob sie den Tod herbeigesehnt habe. Sie war ohne Hoffnung gewesen. Ohne ihren Mann hatte sie sich in der Neuen Welt keine Zukunft vorstellen können. Zweifellos hatte sich sich ge wünscht, ihm zu folgen. Kaum eine halbe Stunde verging, und auch Hugh Flanagan schloß für immer die Augen. Selbst als sie be nachrichtigt wurde, ließ sich Kate nicht blicken. Beide Leichen wurden in aller Eile der See übergeben. Nicht einmal während der Zeremonie, die diesmal Hannibal Gould leitete, war die Witwe Flanagan unter den Men schen an Deck zu sehen. Gould schickte die Auswanderer nach der Bestattung der Toten wie der ins Batteriedeck. Überhaupt hatte es den Anschein, als ob der Fin stere Teile der Entscheidungsgewalt auf der „Explorer" von Arnos Toolan übernommen hätte.
7. Vor Einbruch der Dunkelheit hatte es sich schon abgezeichnet: Nebel bil
dete sich über der Wasseroberfläche, stieg höher und höher und vereinte sich mit dem Dunkelblau des Ster nenhimmels, das sich nun in ein tri stes Schwarz-Grau verfärbte. Bald waren die Deckslaternen der anderen Schiffe nicht mehr zu erken nen. Für Besatzung und Passagiere jedes einzelnen Schiffs entstand der Eindruck, von einem Mantel aus Watte umhüllt zu werden. Es dauerte nicht lange, und die Sicht reichte nicht einmal mehr vom Achterdeck bis zum Vorschiff. Die Lichtkreise der Bordlaternen wurden zu gelben Kugeln, in deren Zentrum es blakte und flackerte. Kein Windhauch störte die Flammen unter ihrem Glas, doch sie schienen unter der hohen Luftfeuchtigkeit zu leiden wie die Menschen. Die Sicht weite schrumpfte auf weniger als zehn Yards. Vier Laternen brannten auf der Back und spendeten ausreichende Helligkeit für die Helfer, damit sie alle Kranken unter Kontrolle halten konnten. Es waren keine neuen hinzu gekommen. Die vereinigte Behand lungsmethode Doktor Drurys und des Kutschers hatte bei den sechzehn noch Lebenden offenbar dauerhaft gute Ergebnisse bewirkt. Drury und seine beiden Männer hatten sich vereinbarungsgemäß zur Ruhe begeben und würden um Mit ternacht wieder zur Stelle sein, um den Kutscher, Batuti, Bob Grey und Laura Stacey abzulösen. Die Kranken waren versorgt. Die milde Luft tat ihnen allem Anschein nach gut. Tiefe und regelmäßige Atemzüge zeigten an, daß die meisten unter ihren Decken fest schliefen.
48 Als Michael Anderson auf dem Nie wäre es, wenn einer von uns aben dergang an Backbord aufgetaucht tert? Ich könnte mich beispielsweise war, hatten die Männer Laura gewis unter den Beibooten verkriechen und sermaßen beurlaubt, ihr allerdings den Burschen dann in den Rücken auferlegt, sich nicht so weit zu entfer fallen, wenn sie auf die Back losge nen, daß sie nicht mehr zu sehen sein hen." „Keine schlechte Idee", erwiderte würde. Laura und Michael waren zuverläs Batuti. „Einverstanden. Zieh los." Noch im selben Atemzug, als Bob sig, sie blieben unterhalb des Nieder gangs. Batuti und Bob Grey, die die sich schon abwandte, hielt Batuti ihn Umgebung mit wachen Augen und unvermittelt am Ärmel fest. Der Ohren unter Kontrolle hielten, konn drahtige blonde Engländer verharrte ten hören, wie die beiden dort unten augenblicklich, ohne einen Ton zu sa gen. Nur der gedämpfte Wortwechsel leise miteinander redeten. von Laura und Michael war noch zu Der Kutscher unternahm einen er vernehmen. neuten Rundgang, kniete neben je Es blieb keine Zeit mehr, die beiden dem einzelnen Kranken nieder und verschaffte sich Gewißheit über den zu warnen. Batuti konnte Bob nicht einmal mehr sagen, daß er ein leises Zustand des Betreffenden. Batuti und Bob hatten sich an der Schlurfen gehört hatte - ein so unbe achteren Querbalustrade der Back deutendes Geräusch, daß er norma aufgebaut - keineswegs aus Neugier, lerweise kaum darauf geachtet hätte. um Laura und Michael bei ihrer Die Gestalten schnellten aus der Zweisamkeit zu beobachten. Die Bei grauen Watte hervor - auf beiden boote konnten die beiden Arwenacks Seiten. Sie waren fast lautlos, denn gerade noch klar erkennen. Vom sie trugen keine Stiefel und hatten Großmast, geschweige denn von den sich Lappen um die Füße gewickelt. achteren Niedergängen und dem Ach Batuti und Bob reagierten sofort. terdeck waren nicht einmal die Um Während der Engländer zum Steuer risse zu sehen. bordniedergang eilte, erreichte der „Mir würde es besser gefallen, Gambianeger mit zwei, drei federn wenn wir die Lampen löschen", flü den Sätzen den Niedergang an Back sterte Bob Grey. „Bestimmt sehen bord. Er hörte Lauras Angstschrei, wir besser, wenn uns das Licht nicht dann ein wütendes Keuchen und blendet." Scharren von Schritten. Einen Kerl, „Unmöglich", entgegnete Batuti der schon die Hälfte des Niedergangs ebenso leise. „Ich bin sicher, daß die überwunden hatte, fegte er mit einem Kerle für diese Nacht irgend etwas eisenharten Fausthieb zurück. planen. Wenn wir kein Licht haben, Im nächsten Moment sah er Laura, werden sie uns nicht in die Falle ge wie sie von zwei Burschen gepackt hen. Sie würden sofort mißtraurisch wurde. Ein dritter hielt ihr den Mund werden." zu und erstickte ihren Schrei zu ei „Ich weiß. Außerdem braucht der nem Gurgeln. Zwei weitere Kerle hat Kutscher seine Lampen. Und wie ten sich auf Michael geworfen und
49 rammten ihn mit brutalen Hieben ge gen das Kombüsenschott. Batuti sprang - mit beiden Stiefeln auf die Schultern eines vierschröti gen Bullen, der eben zum Aufentern ansetzte. Aus den Augenwinkeln her aus sah er, daß an Steuerbord der Kutscher in den Kampf eingriff. Bob hatte die Heranstürmenden wirksam daran gehindert, zur Plattform der Kranken aufzuentern. Der Vierschrötige grunzte. Der An prall von oben ließ ihn in die Knie ge hen. Batuti wußte, daß er sich beeilen mußte. Denn die Kerle, die Laura zu verschleppen versuchten, waren schon auf der Höhe der Beiboote. Ihre Taktik war klar. Sie würden versuchen, sich so schnell wie mög lich aus dem Kampf getümmel zu ent fernen, um das Mädchen in sichere Gefangenschaft zu bringen. Batuti prallte mit dem Rücken ge gen die Stufen des Niedergangs, als der Vierschrötige sich mühsam schwankend auf den Beinen hielt. Geistesgegenwärtig packte Batuti die Seitenholme, zog die Beine an und ließ die Muskeln explodieren. Der neuerliche Stoß trieb den Kerl vom Niedergang weg. Er brüllte vor Wut und torkelte rückwärts. Er stolperte über jenen, den Batuti zuvor zurück getrieben hatte. Laura sträubte sich verzweifelt ge gen ihre Gegner. Michael hatte es mittlerweile mit drei Gegnern zu tun, die vergeblich versuchten, ihn zu Boden zu zwingen. Den ersten, der auf ihn losgegangen war, hatte er auf die Planken ge schickt. Doch gegen die drei, die ihn jetzt mit Hieben bearbeiteten, hatte er immer weniger Chancen.
Drüben, an Steuerbord, schlugen sich Bob und der Kutscher prächtig. Sie würden allein zurechtkommen. Batuti verpaßte dem Vierschröti gen eine kurze, aber wirksame Serie von Fausthieben, die selbst einen aus gewachsenen Stier in die Knie ge zwungen hätten. Der Mann streckte sich und begrub den anderen unter sich, der ohnehin zu benommen war, um sich wieder aufzurappeln. Mit zwei Riesenschritten erreichte der Gambianeger die drei Kerle, die mit Laura beträchtliche Last hatten. Batuti trat dem erstbesten in die Kniekehlen und fällte ihn mit einem brettharten Schlag, als er das Mäd chen unwillkürlich losließ. Die beiden anderen wollten ihre Messer ziehen. Batuti vereitelte ihre heimtückische Absicht mit gnadenlo ser Härte. Den einen rammte er mit dem Hinterkopf gegen die Planken des oberen Beiboots, den anderen schickte er mit weiteren Hieben auf die Planken. Er gab Laura ein rasches Zeichen. Sie begriff sofort, lief an den Be wußtlosen vorbei und hastete über den Niedergang zur Back hinauf. Michael Andersons Gegenwehr be gann zu erlahmen, als der schwarze Herkules zur Stelle war. Für die Kerle war es wie ein Wirbel von dröhnenden Paukenschlägen, die der schwarze Hüne über sie herein brechen ließ. Zwei von ihnen sackten unter seinen Hieben stumm an Deck. Als sich Michael am Kombüsenschott aufrichtete und mit neu erwachter Kraft den dritten von den Fußlappen heben wollte, blitzte in dessen Hand plötzlich ein Messer. „Achtung!" rief Batuti.
50 Michael schaffte es mit knapper scher und Michael folgten seinem Mühe, dem tödlichen Stoß auszuwei Beispiel. Das Klatschen ließ Bewegung auf chen. Mit einem dumpfen Laut dem Achterdeck entstehen. Zwei Sil bohrte sich der scharfe Stahl in das houetten erschienen an der vorderen Schottholz. Querbalustrade. Unverkennbar die Batuti packte den Messerschwinger dickliche Figur Toolans. Der andere an der Schulter und riß ihn herum. war Hannibal Gould. Ruckartig wollte der Mann die Arme Batuti beförderte den letzten Stein hochbringen, um sich von dem eisen harten Griff zu befreien. Aber Batuti nach Steuerbord und wandte sich den beiden zu. Im Laternenschein war die war darauf vorbereitet. Mit der freien Rechten drosch er Fassungslosigkeit auf ihren Gesich dem Kerl die Faust in den Magen. So tern zu erkennen. „So spät noch auf den Beinen, Gent daß ihm die Luft wegblieb und er alle bösen Absichten vergaß. Mit einem lemen?" sagte Batuti spöttisch. weiteren Hieb fegte er ihn auf die „Äh - wir haben die - die - Ge Planken. räusche gehört", stotterte Toolan. Michael Anderson trat mit leuch „Da mußten wir ja wohl nach dem tenden Augen auf ihn zu und ergriff Rechten sehen." stumm seine Rechte. Batuti nickte Gould hatte seine Selbstsicherheit nur. Laura beugte sich über die Quer wiedergewonnen. balustrade. Erleichterung glättete „Im übrigen sind wir Ihnen keine ihre Züge, als sie sah, daß ihr Verlob Rechenschaft schuldig, schwarzer ter unversehrt war. Mann", sagte er wütend. Mit ausge Unterdessen hatten auch Bob Grey strecktem Arm deutete er anklagend und der Kutscher ihren Teil be auf die Bewußtlosen. „Was hat das zu wältigt. Zufrieden standen die beiden bedeuten? Heraus mit der Sprache!" da und blickten auf fünf reglose Ge Batuti grinste, wodurch sein perl stalten hinunter. weißes Gebiß furchterregend aussah. Keine weiteren tauchten aus dem „Die Frage werden Sie wahrschein Nebel vom Achterschiff her auf. lich besser beantworten können, Mi Michael Anderson packte mit an, ster." als sie die Bewußtlosen hinter den Der Kutscher trat neben den Gam Großmast schleppten. Dort sahen sie bianeger. bereitliegende Persennings, Taue „Eins dürfen wir Ihnen jedenfalls und große Steine, die zum Ballast in versichern, Mister Gould", sagte er der Bilge gehört haben mußten. scharf. „Wir werden uns in dieser Auf einmal wurde ihnen klar, was Nacht nicht mehr ablösen lassen. Und die Kerle geplant hatten. Zwei Dut sollte noch einmal jemand wagen, zend Steine waren es - ausreichend uns auf der Back anzugreifen, dann für sechzehn Cholerakranke und eini schießen wir." ge unerwünschte Gesunde. Batuti sah den Kutscher erstaunt Wortlos begann Batuti, die Steine von der Seite an, denn so metallisch über Bord zu werfen. Bob, der Kut klirrend hatte seine Stimme noch nie
51 geklungen. Vielleicht war eben das der Grund, warum weder Gould noch Toolan antworteten. Die Männer von der Schebecke wandten sich ab und nahmen auch Michael mit zur Back. Er würde bis zum Morgen bei ihnen bleiben, damit Laura beruhigt war. Ohnehin wäre er im Batteriedeck zu sehr gefährdet ge wesen. Nicht zuletzt würde er eine wertvolle Hilfe sein, sollte ein weite rer Angriff stattfinden. Um Mitternacht erschienen Dok tor Drury und seine Helfer. Alle drei bestanden darauf, auf der Back zu bleiben und ebenfalls Wache zu hal ten. Doch es geschah nichts mehr. Den Kerlen schien die Lust vergangen zu sein, abermals zwei Dutzend halb zentnerschwere Steine aus der Bilge heraufzuholen.
Der Seewolf stieß das Schott zur Offiziersmesse der „Explorer" auf. Es krachte gegen die Innenwand. Die Männer, die am Tisch saßen, zuckten zusammen. „Sehr schreckhaft, die Gentlemen", stellte Hasard spöttisch fest. Er ging drei Schritte weit in den Raum, blieb breitbeinig stehen und stemmte die Hände auf die schmalen Hüften. Hinter ihm baute sich Ed Carberry und Ferris Tucker auf. Die beiden Riesenkerle legten demonstrativ die Pranken auf die Griffstücke ihrer doppelläufigen Pistolen. Und der sechsläufige Radschloß drehling, den Hasard am Gurt trug, zeigte deutlich, über welche Feuer kraft die drei Männer verfügten.
Doch weder Amos Toolan noch die barmherzigen Hirten oder die Offi ziere ließen auch nur die geringste Neigung erkennen, zu einer gewalttä tigen Erwiderung anzusetzen. „Ich habe den Kutscher und die an deren Männer befragt", sagte der Seewolf eisig, „und bin über das Ge schehen der vergangenen Nacht ge nau im Bilde. Kommen Sie mir also nicht mit irgendwelchen dummen Ausflüchten, Gentlemen. Sie haben Befehl gegeben, die Kranken über Bord werfen zu lassen - wie Vieh zu ersäufen! Ich will nicht erst fragen, wer von Ihnen diesen Befehl gegeben hat. Seien Sie froh, daß meine Män ner das Äußerste verhindert haben. Anderenfalls wären der oder die Be treffenden sofort standrechtlich exe kutiert worden. Darauf können Sie Gift nehmen!" Er ließ seine Worte nachklingen. Die Gesichter in der stummen Runde waren blaß geworden. Sogar Hannibal Gould hatte alle Selbstsi cherheit verloren. „Ich behalte mir vor, zu gegebener Zeit eine Untersuchung des Falles durchführen zu lassen", fuhr der See wolf fort. „Lassen Sie sich vorerst eins gesagt sein: Sollte es noch einen einzigen Zwischenfall geben, den Sie zu verantworten haben, werde ich die gesamte Schiffsführung des Amtes entheben. Wir haben auf den anderen Galeonen genügend Offiziere, die in der Lage sind, dieses Schiff zu über nehmen. Das wäre im Augenblick al les. Oder hat noch jemand etwas zu sagen?" Alle Blicke waren gesenkt, keiner durchbrach das betretene Schweigen. Hasard und seine Begleiter drehten
52 sich um und verließen die Messe. Auf der Kuhl stand noch immer die voll zählig angetretene Crew der „Explo rer". Es hatte an diesem Morgen noch keine Andacht für Passagiere und Be satzung gegeben. Ob es überhaupt eine geben würde, war höchst frag lich. Der Seewolf schritt die Front der Decksleute ab. Etliche von ihnen tru gen schwellende Beulen und sahen reichlich deprimiert aus. „Ihr seid gewarnt", sagte Hasard. „Ich erwarte nicht von euch, daß ihr verratet, wer euch diesen unge heuerlichen Befehl für die letzte Nacht erteilt hat. Derjenige, der re det, wäre wahrscheinlich seines Le bens nicht mehr sicher. Was ich aber von euch erwarte, ist, daß ihr nach denkt. Und zwar darüber, was es heißt, sich an Wehrlosen zu vergrei fen. Cholerakranke sind wehrlos. Versetzt euch in ihre Lage. Das dürfte euch eigentlich nicht schwerfallen. Denn wenn es das Schicksal will, seid ihr in der nächsten Stunde selber dran. Dann stellt euch vor, es er schiene jemand, der euch mit einem Stein in eine Persenning packt, ver schnürt und üher Bord wirft!" Er sah, wie die Männer schluckten. Manch einer biß sich auf die Unter lippe. Hasards Worte waren nicht ohne Wirkung geblieben. „Seid froh", sagte er, „daß es nicht zum Schlimmsten gekommen ist." Ohne eine weitere Silbe wandte er sich ab. Carberry und Ferris Tucker folgten ihm zur Pforte im Schanz kleid. Sie hatten für den Kutscher, Batuti und Bob Grey zusätzliche Pistolen
und Munition dagelassen. Für alle Fälle. 8. Ein Flammenmeer tobte. Das Feuer brüllte. Michael nahm ihre Hand. Bei de waren sie völlig nackt, als sie durch die rotglühende Hölle liefen. Dank seiner starken Hand passierte ihr nichts. Erschöpft, aber glücklich erreichten sie einen Strand im Son nenschein, an den ein paradiesischer Garten grenzte. Die herrlichsten Früchte leuchteten im hellen Licht. „Jetzt haben wir es geschafft", hörte Kate sich sagen. „Jetzt sind wir beide im Gelobten Land." Und sie sanken auf den weichen Sand. Als sie nach ihm greifen und seine starken Armmuskeln spüren wollte, war er plötzlich nicht mehr da. Sie griff ins Leere und keuchte vor An strengung. Erst nach langen Sekun den wurde ihr klar, daß sie aufge wacht war. Sie wollte nicht wahrha ben, daß der Traum keine Wirklich keit gewesen war. Aber die brütende Mittagshitze war kein Bestandteil des Geschehens, das sie gemeinsam mit Michael erlebt hatte. Ebensowenig das trübe Zwie licht und die bronzenen Leiber der Kanonen in ihren klobigen Holzlafet ten. Unvermittelt spürte Kate den salzigen Geschmack auf ihren Lip pen. Es kostete sie unendliche Mühe, die Hand zu heben und nach ihrem Gesicht zu tasten. Eisiger Schreck durchfuhr sie. Ihr Gesicht war schweißüber strömt.
54 Sie hörte ihren Herzschlag wie ein dumpfes Hämmern in einem Keller gewölbe. Es schwoll zu einem Rasen an und erfüllte sie wie betäubender Donner. Einen bangen Moment lang glaubte sie, daran ersticken zu müs sen. Sie öffnete den Mund und ver suchte, ihren Atem zu beruhigen. Mit weitaufgerissenen Augen trachtete sie danach, das Bild festzu halten, das sie sah - als könnte sie auf diese Weise das Leben festhalten, um das sie auf einmal fürchtete. Die Angst war über sie hergefallen wie ein drohendes schwarzes Riesentier. Keuchend lag sie auf dem Rücken und brachte nicht mehr die Energie auf, die Arme noch einmal zu bewe gen. Es gelang ihr, den Blick ein we nig nach links und ein wenig nach rechts zu wenden. Die mattschimmernde Bronze der Geschützrohre war noch immer da. Desgleichen das wuchtige Holz der Lafetten und darüber die mächtigen Balken und die Planken des oberen Decks. Die Wirklichkeit war nach wie vor vorhanden. Also lebte sie. Sie brauchte sich keine Sorgen zu bereiten. Gern hätte sie den Kopf gehoben, um zu sehen, ob Michael wieder an seinem Platz lag. Sie erinnerte sich, daß er fort ge wesen war. Auch die Geschehnisse der Nacht hatten sich herumgespro chen. Michael war bei Laura geblieben, um sie zu beschützen. Das war ein schwerer Schlag für Kate gewesen - nach der großen Freude, die sie über den Tod ihres Trottels empfunden hatte. Ein ent scheidender Schritt war getan - ein
wichtiger Schritt auf dem Weg, Mi chael für sich zu gewinnen. Und dann dieser Rückschlag! Das Gerücht, das sie in Umlauf ge setzt hatte, schien überhaupt nichts zu bewirken. Der verdammte Kerl war die ganze Nacht bei ihr geblieben, und es hatte ihn offenbar nicht im mindesten interessiert, ob sie krank war oder nicht. Schlimm. Kate wußte, was es be deutete. Er liebte Laura wirklich. Er liebte sie so sehr, daß er mit ihr ge meinsam in den Tod gehen würde. Aber sie war ein junges Ding, ver dammt noch mal. Sie hatte keine Chance gegen eine reife Frau, die wußte, wie man um einen Mann kämpfte. Abermals wurde Kate bewußt, daß sie gern nachgesehen hätte, ob Mi chael an seinem Platz lag. Der ver traute Anblick des blonden Haar schopfs, der unter der Decke hervor lugte, würde ihr guttun. Das wußte sie. Sie konnte den Kopf nicht heben. Abermals befiel sie der Schreck wie ein brüllendes Ungeheuer. Sie begann zu zittern. Krampfhaft strengte sie ihre Halsmuskeln an. Ohne Erfolg. Im nächsten Moment mußte sie die Au gen zusammenkneifen. Schweißtrop fen waren mit scharfem Brennen un ter die Lider gesickert. Ihr Atem ging schwer, sie hörte sich stöhnen. Erst jetzt spürte sie, daß ihr die Kleidung am Körper klebte. Sie brachte es auch nicht fertig, ein Bein anzuziehen oder noch einmal einen Arm zu bewegen. Sie war völlig ent kräftet, dabei hellwach und von einer Angst erfüllt, die in Panik auszuufern drohte.
55 Die Angst wollte nicht mehr wei chen. Ihr Atem wollte sich nicht mehr beruhigen. Sie wußte jetzt, es hatte sie erwischt. Der verfluchte Trottel hatte sie angesteckt. Dieser elende Bastard Flanagan hatte ihr die tödli che Krankheit verschafft. Welches andere Vermächtnis hätte der Misthund ihr auch zudenken kön nen! Sie hätte es wissen müssen. Hölle und Teufel, sie hätte wissen müssen, daß er sie mit ins Verderben reißen würde. Es war seine Art von Rache. Kate erschauerte bei dem Gedan ken, ihm im Jenseits begegnen zu müssen. Die plötzliche Kälte, die sie verspürte, schüttelte ihren Körper. Verzweifelt versuchte sie, die Au gen wieder zu öffnen. Es gelang ihr nicht, denn jedesmal sickerte neuer brennender Schweiß nach, den sie nicht wegwischen konnte. Die Dun kelheit, von der sie nun umgeben war, flößte ihr noch mehr Furcht ein. War es schon die Finsternis des Todes? Sie wußte nicht, wieviel Zeit ver gangen war, als sie Stimmen hörte. Nur ein Murmeln, aber von vielen Leuten. Sie spürte, daß sie angestarrt wurde. Daran änderte sich lange nichts. Bis sie unvermittelt wahr nahm, daß sich jemand über sie beugte. Ein weiches Tuch legte sich immer wieder tupfend auf ihr Ge sicht. Endlich konnte sie die Augen wieder öffnen. Ihr stockte der Atem. Es war Laura Stacey, die sich über sie beugte. Das Gesicht des blonden Mädchens war voller Sorge und Mit gefühl. Kate wollte den Mund aufrei ßen und sie anschreien, wollte ihr sa gen, daß sie zur Hölle fahren und sie
in Frieden lassen solle. Aber dieser sanfte Gesichtsausdruck hinderte sie daran. Sie brachte es nicht fertig. „Sie brauchen sich keine Sorgen zu bereiten, Missis Flanagan", sagte Laura leise. „Wir bringen Sie jetzt an Deck. Ich bin sicher, Sie sind nicht schwerwiegend erkrankt. Doktor Drury und der Kutscher haben eine hervorragende Medizin, die auch Ih nen helfen wird. Seien Sie also bitte unbesorgt. Es wird auch die ganze Zeit jemand das sein, der sich um Sie kümmert." Kate brachte nur ein Krächzen als Antwort hervor. Das war etwas, was sie nicht verstand. Warum begegnete ihr das Mädchen mit soviel Fürsorge? Es war nicht gespielt, das konnte man merken. Warum tat sie es, da sie doch allen Grund hatte, ihre Nebenbuhle rin zu hassen? Es konnte auch nicht daran liegen, daß Laura sie als Konkurrentin nicht ernst nahm. Männer waren wankel mütig, wenn man sie nur richtig an packte. Da bildete auch Michael An derson mit Sicherheit keine Aus nahme. Nichtsdestoweniger küm merte sich Laura Stacey so auf opfernd um sie, wie sie es auch bei den anderen Kranken tat. Kate staunte noch immer darüber, als sie wenig später auf einer Trage an Deck gebracht wurde. Lauras Ver halten war ihr so unbegreiflich, daß sie darüber beinahe jene grauenvolle Tatsache vergaß, die eigentlich im Vordergrund ihrer Gedanken stehen mußte. Die Cholera hatte sie erwischt.
56 Es war Hannibal Gould, der das Schott der Kapitänskammer öffnete, nachdem Laura geklopft hatte. Amos Toolan saß am Tisch und blickte ihr entgegen. Der Kapitän der „Explo rer" erweckte einen nervösen und an gespannten Eindruck. „Sie wünschen mich zu sprechen, Sir?" sagte Laura Stacey. „Ja", antwortete Toolan knapp. „Treten Sie ein, setzen Sie sich." Laura zögerte. „Ich weiß nicht, was ausgerechnet ich . . . " Gould zerstreute ihre Bedenken mit einer Handbewegung und einem Lächeln, was bei ihm immerhin unge wohnt war. „Es handelt sich um nichts Unangenehmes, Miß Stacey. Keine Sorge also. Im Gegenteil, Kapi tän Toolan und meine Wenigkeit sind mit Ihrer Tätigkeit sehr zufrieden." „Eben deshalb habe ich Sie um diese Unterredung bitten lassen", sagte Toolan mild. Er wies auf den freien Stuhl an der anderen Seite des Tisches. Laura folgte der Aufforderung und setzte sich. Doch immer noch war et was an der Situation, das ihr wider strebte. „Ich werde auf der Back dringend gebraucht", sagte sie. „Doktor Drury und seine Männer haben sich zur Ruhe begeben, müssen Sie wissen'' Gould setzte sich an die Längsseite des Tisches. „Der Killigrewmann und seine Helfer werden es schon schaf fen. Zerbrechen Sie sich darüber um Himmels willen nicht den Kopf. Wir haben Sie hergebeten, Miß Stacey, um Sie zunächst um einen Lagebe richt zu bitten und Ihnen dann ein Angebot zu unterbreiten." „Aber - dazu wäre Doktor Drury
viel eher in der Lage. Oder der Kut scher." „Die beiden sind nicht so hübsch wie Sie", entgegnete Toolan mit an züglichem Grinsen. „Aber im Ernst", er beugte sich vor, „wir haben wirk lich unsere Gründe, warum wir mit Ihnen reden wollen." „Wir versprechen uns eine unpar teiische Einschätzung der Lage von Ihnen, Miß Stacey", erklärte Gould. „Weder Drury noch der Mann von der Schebecke würden uns die Wahr heit sagen, fürchte ich. Sie würden immer etwas beschönigen, weil sie ja meinen, es fiele letztlich auf ihre Be rufsehre zurück, wenn sie etwas Ne gatives eingestehen." „Das verstehe ich nicht", gestand Laura. „Sie meinen also, Doktor Drury und der Kutscher würden die Lage weniger dramatisch darstellen, als sie ist?" Die beiden Männer nickten. „Haargenau", sagte Arnos Toolan. „Deshalb meine Frage, Miß Stacey: Wie sieht es wirklich aus? Gibt es eine Chance, daß die Kranken geheilt werden? Müssen wir mit weiteren To desfällen rechnen?" Laura biß sich auf die Unterlippe. Eine vage Ahnung von dem, was ihre Antwort unter Umständen heraufbe schwören konnte, erwuchs in ihr. „Du meine Güte", sagte sie schließ lich. „Ich arbeite nur als Pflegerin. Wie soll ich beurteilen, ob die Chole rakranken geheilt werden? Nicht ein mal ein Arzt kann das beurteilen. So viel habe ich inzwischen gelernt." „Aber Sie haben einen Blick für die Dinge entwickelt", widersprach Han nibal Gould. „Oder wollen Sie uns er zählen, daß Sie nicht gemerkt hätten,
57 „Ich weiß es nicht", entgegnete wie es mit Hugh Flanagan und der Laura mit einem Anflug von Ver Gibbswitwe zu Ende ging?" zweiflung. „Doch, schon, aber . . . " „Natürlich wissen Sie das nicht völ „Na also", schnitt Gould ihr das Wort ab. „Dann seien Sie bitte so gut, lig genau", erklärte Gould in ein und sagen Sie uns, wie es im Augen schmeichelndem Ton. „Wir würden blick aussieht. Der Herr wird Sie für Sie auch niemals auf Ihr Urteil fest nageln. Nur, was Sie gesagt haben, Ihre Offenheit reich belohnen." bestätigt lediglich unsere Annahme. Laura preßte die Lippen aufeinan Und es bestärkt uns in unserem Ent der. Sie wußte, es hatte keinen Sinn, schluß." Er legte eine Pause ein, um den beiden etwas vorzuschwindeln. die Spannung zu steigern. Sie würden es so oder so erfahren, in „So ist es", bekräftigte Toolan. „Es dem sie einen der Druryhelfer befrag ten. Die Männer würden nicht riskie handelt sich um einen Entschluß, an dem wir Sie teilhaben lassen möch ren, die Antwort zu verweigern. „Nun, es ist so", sagte sie gedehnt, ten, Miß Stacey. Wir wollen Ihnen ge „daß wir einen schwerwiegenden Fall wissermaßen das Leben retten." dazubekommen haben. Kate Flana „Wie bitte?" flüsterte sie und gan, die Witwe des Verstorbenen. Bei blickte die Männer mit großen Augen ihr sind wir sicher, daß sie keine an. Chance hat. Nach allen Vergleichen, „Wir verlassen das Schiff", erklärte die wir mit den anderen Fällen gezo Gould. „Wir werden unsere Gesund gen haben, wird sie nicht überleben." heit nicht länger aufs Spiel setzen." Gould und Toolan sahen sich an „Und wir nehmen Sie mit", fügte und nickten, als hätten sie nichts an Toolan hinzu. „Na, ist das ein Ange deres erwartet. bot?" „Und die anderen?" fragte Toolan. Sie konnte die beiden nur noch an „Sechzehn sind es, nicht wahr?" starren. „Ja", erwiderte Laura. „Ihr Zu „Die Gentlemen Fachtham und stand hat sich nicht schwerwiegend Barrister sind ebenfalls dabei", er verschlechtert." klärte Gould weiter. „Sie warten be „Aber man kann auch nicht sagen, reits mit ihrem Boot auf uns. Die daß es wirklich besser geworden Situation ist günstig. Der Nebel hat wäre", sagte Gould rasch. „Habe ich sich zwar etwas gelichtet, aber wir recht?" haben immer noch eine reelle Laura nickte. „Ich müßte lügen, Chance, zu entwischen. Damit Sie wenn ich behaupten würde, es wäre nicht denken, wir würden uns einbil anders. Aber es besteht immerhin den, den Atlantik in einem Beiboot Hoffnung. Der Vorschlag des Kut überqueren zu können, werden wir schers, Opiumtinktur zu verabrei Ihnen auch den weiteren Plan verra chen, hat offenbar viel Gutes be ten. Gewiß haben Sie davon gehört, daß wir von einer Karavelle verfolgt wirkt." „Aber nicht genug", sagte Toolan werden. Es mögen zwar nicht die be mit düsterer Miene. sten Menschen sein, die auf jenem
58 Schiff segeln. Aber sie werden uns aufnehmen, und wir werden ihnen kraft höherer Intelligenz den rechten Weg weisen. Außerdem werden sie uns dankbar sein, daß wir sie vor dem Cholera-Schiff warnen." „Fassen wir also zusammen", sagte Toolan, ölig lächelnd. „Wir entrinnen der tödlichen Gefahr der Cholera, und wir bieten Ihnen die einmalige Chance, sich mit uns in Sicherheit zu bringen." Laura überwand ihre Fassungslo sigkeit. „Niemals", sagte sie entschlossen. „Niemals lasse ich die Kranken im Stich - und erst recht nicht meinen Verlobten. Ich denke nicht daran, mit Ihnen zu gehen und mich feige abzu setzen." Sie hatte inzwischen begrif fen, zu welchem Zweck die lüsternen Kerle sie bei sich haben wollten. An Bord der Halunken-Karavelle sollte sie zu einem willfährigen Werkzeug erniedrigt werden. „Ist das Ihr letztes Wort?" erkun digte sich Gould väterlich. „Haben Sie es sich wirklich gut überlegt?" „Ja", erwiderte Laura und stand auf. „Auf gar keinen Fall begleite ich Sie. Unter keinen Umständen!" „Sie haben an einen Umstand nicht gedacht", entgegnete Toolan höh nisch. Er hob die Rechte auf die Tischplatte. Eine Pistole lag in seiner Hand. Er richtete die Mündung auf Laura. „Wir werden Sie zwingen, Miß Stacey. Wenn Sie nicht gehorchen, müssen Sie leider sterben. Indem wir uns Ihnen offenbart haben, können wir nicht mehr zurück. Wir müßten ja wahre Einfaltspinsel sein, wenn wir Sie laufen ließen, damit Sie allen von unserem Plan erzählen."
Laura erbleichte. Jäh wurde ihr be wußt, daß es an den Worten des dick lichen Kerl nichts zu deuteln gab. Es war Ernst, bitterer Ernst. Mit dem fast schon hilflosen Ansatz einer Bewegung wollte sie zum Schott. Es war ein nicht ernst zu nehmender Fluchtversuch, den Gould ohnehin so fort vereitelte, indem er aufsprang und ihr den Weg versperrte. „Riskieren Sie das nicht noch ein mal", warnte Toolan und stand ebenfalls auf. Die Pistole hielt er un verwandt auf Laura gerichtet. „Wir gehen jetzt gemeinsam dort hinüber." Er deutete auf die Heckfenster und das Schott, das zur Heckgalerie hin ausführte. „Fachtham und Barrister warten sowieso schon lange genug." Mit knochiger Faust versetzte Gould dem Mädchen einen Stoß in den Rücken. „Vorwärts!" befahl er schroff. „Jetzt ist Schluß mit dem Gerede. Jetzt wird nur noch gehandelt, Miß Stacey. Und wir haben uns nun ein mal in den Kopf gesetzt, die Nähe Ih rer Schönheit auch weiterhin nicht missen zu wollen." Laura unterdrückte den Schmerz, den der derbe Stoß verursacht hatte. Sie wollte den beiden Kerlen nicht die Genugtuung geben, sie schreien oder auch nur stöhnen zu hören. Gould öffnete das Schott und schob sich vorsichtig auf die Heckgalerie hinaus, indem er nach Steuerbord spähte, wo in dreihundert Yards Ent fernung die „Pilgrim" lag. Das matte Licht der Hecklaterne fiel bis auf die Galerie. Laura vermochte die Sichtweite nicht abzuschätzen. Eindeutig schien aber, daß der Nebel weniger dicht
59 war als in der vorangegangenen Nacht. Goulds Vorsicht wurde erklär lich. Wenn sie von Bord der „Pil grim" oder der Schebecke gesehen wurden, war der Fluchtplan hinfällig. Toolan drückte ihr den Pistolen lauf in den Rücken und schob sie vor an, auf das offene Schott zu. Die Nachtluft war noch immer lau. Gould drehte sich kurz um und nickte. Das Zeichen dafür, daß die Luft rein zu sein schien. Lautlos glitt er auf der Galerie ein Stück nach Backbord, damit für Laura Stacey und Toolan der Weg frei wurde. Laura trat hinaus. Sie konnte in die Tiefe blicken. Neben dem mächtigen Ruderblatt lag das Beiboot. Fachtham und Barrister saßen auf den Duchten, die Köpfe emporspä hend in den Nacken gelegt. Zwei Taue waren nebeneinander an der Balustrade belegt. Toolan und Gould beabsichtigten ernsthaft, auf diese unbequeme Weise in das Boot abzuentern. Aber es gab keine andere Möglichkeit, wenn sie nicht bemerkt werden woll ten. Fachtham und Barrister mußten das Boot heimlich an Backbord aus gesetzt und dann lautlos nach achtern manövriert haben. „In Ordnung", sagte Gould, als auch Toolan ins Freie getreten war. „Wir helfen Ihnen natürlich hinunter, Miß Stacey. Keine Angst, es passiert schon nichts. Ich gehe als erster, Sie folgen mir, und ich passe auf, daß Sie nicht abstürzen. Natürlich wird Kapi tän Toolan Sie weiterhin bewachen. Verfallen Sie also um Himmels willen nicht auf dumme Gedanken." Der Finstere schwang sich über die
Balustrade, packte das eine Tau und ließ sich ein Stück abwärts sinken. „Keine Müdigkeit vortäuschen", sagte Toolan barsch. „Wir haben nicht bis in alle Ewigkeit Zeit." Laura konnte ein Zittern nicht ver bergen, als sie ebenfalls über die Ba lustrade stieg. Es geschah in dem Moment, als sie das zweite Tau ergriff. Schüsse krachten. Gould schrie einen Fluch. Laura schreckte zusammen. Auch die Män ner im Boot fluchten. Und Toolan kreischte vor Angst und zog sich mit einem Satz in die Sicherheit der Ka pitänskammer zurück. Geistesgegenwärtig packte Laura den Handlauf der Balustrade. Erst jetzt sah sie, daß die Sichtweite bis zur „Pilgrim" reichte. Dort war es auch, wo die Mündungsblitze auf zuckten. Laura zog sich hoch. Unten, nur wenige Yards vor dem Boot, stie gen kleine Fontänen aus der Wasser oberfläche. Hannibal Gould brüllte vor Wut. Ihm blieb keine andere Wahl. Er mußte sich schleunigst absacken las sen, denn wesentlich mehr Zeit hätte er gebraucht, um sich wieder auf die Galerie zu ziehen. Fachtham und Barrister hatten be reits die Riemen ausgebracht und versuchten, sich zur Backbordseite der „Explorer" in Sicherheit zu brin gen. Gould schrie ihnen zu, daß sie warten sollten, doch sie schienen ihn nicht hören zu wollen. In immer rascherer Folge peitsch ten jetzt die Schüsse von der „Pil grim". Die Entfernung zum Ruder blatt der „Explorer" war zu groß für einen gezielten Schuß. Doch die Mög
60 lichkeit von Zufallstreffern ließ sich bei einer hohen Schußfolge nicht aus schließen. Laura schwang sich über die Balu strade zurück auf die Galerie. Aus den Augenwinkeln heraus sah sie noch, daß auf der Schebecke Bewe gung entstanden war. Ein Boot wurde zu Wasser gelassen. Gould schien un terdessen das Beiboot der „Explorer" erreicht zu haben, denn er brüllte nicht mehr. Geduckt tauchte Laura in das of fene Schott der Kapitänskammer. Sie rechnete damit, in Toolans Pistolen mündung blicken zu müssen. Doch zu ihrem großen Erstaunen täuschte sie sich. Der Kapitän stand in der entfernte sten Ecke seiner Kammer. Die Waffe lag auf dem Boden, vor seinen Stiefel spitzen. Toolan sah das blonde Mäd chen an. Seinen starren Blick ver mochte sie nicht zu deuten. Sie wollte die Kammer durchque ren und sich endlich in Sicherheit bringen. „Es ist nichts geschehen", sagte Toolan unvermittelt. Sein Blick ver änderte sich nicht. „Haben Sie ver standen? Es ist nichts geschehen, überhaupt nichts!" Laura ließ ihn allein, und er rührte sich nicht. Sie hörte ihn noch reden, als sie schon draußen im Gang war und auf das Schott zur Kuhl zu strebte. „ . . . nichts geschehen. Überhaupt nichts geschehen..." Sie verstand. Seine plötzlichen Ge wissensbisse hatten ihn wie ein Schock getroffen. Im Grund viel leicht kein schlechter Mensch, hatte er sich von den Puritanern zu abstru
sen Gedankengängen verleiten las sen. Durch die Schüsse von Bord der „Pilgrim" war Amos Toolan schlag artig klargeworden, daß aus der Flucht niemals etwas werden konnte. Der Seewolf hatte über die „Explo rer" Quarantäne verhängt, und alle auch die Männer an Bord der beiden anderen Galeonen - hatten ein wa ches Auge darauf, daß sich niemand unerlaubt von Bord des CholeraSchiffes entfernte und die Krankheit womöglich weiterverbreitete. Laura lief auf die Kuhl hinaus und sah sich plötzlichem Gedränge gegen über. Decksleute und Passagiere ver suchten, die Backbordverschanzung zu erreichen. Das zweite Beiboot wurde abgefiert. Sie schlugen und stießen sich wahllos, um es zu errei chen. Schmerzensschreie waren zu hören. Die ersten sprangen über Bord. Mög lich auch, daß sie gestoßen wurden. Immer häufiger gellten Schreie. Es fehlte nicht viel, und sie würden sich gegenseitig zu Tode trampeln. Ein paar Sekunden lang beobach tete Laura das Geschehen voller Ent setzen. Dann rannte sie los. An Steuerbord war kaum jemand. Von Bord der „Pilgrim" wurde nicht mehr geschossen. Das Beiboot mit Facht ham, Barrister und Gould mußte an der Backbordseite der „Explorer" in Sicherheit sein. Langgezogene Schreie und klat schende Aufschläge kündeten davon, daß immer mehr Menschen dort an Backbord einfach ins Wasser spran gen. Die Panik hatte sie endgültig er faßt - veranlaßt durch den Fluchtver such des Kapitäns und der drei „Barmherzigen". Jeder mußte jetzt
61 glauben, daß die Situation an Bord des Schiffes aussichtslos geworden sei. Keuchend und außer Atem erreich te Laura die Back. Sie war froh, die vertrauten Gesichter zu sehen. Dok tor Drury und der Kutscher waren da, Batuti und Bob Grey und die Hel fer des Schiffsarztes. Und vor allem Michael. „O Michael!" rief sie aufatmend und sank ihm in die Arme, kaum daß sie über den Niedergang aufgeentert war. Er hielt sie fest und strich ihr über das Haar. Auf der Kuhl tobte der Tu mult weiter. Die Schreie wollten nicht enden. „Ich war drauf und dran, dich aus Toolans Kammer zu holen", sagte Mi chael grimmig. „Ich kann mir jetzt
vorstellen, was geschehen ist. Aber du kannst es mir später erzählen. Wir müssen uns um Kate Flanagan küm mern. Sofort." Laura sah ihn bestürzt und mit fra gender Miene an. Er nickte stumm. Das Bild hatte einen weichen grauen Hintergrund. Kate konnte nicht mehr erkennen, daß es der Ne bel war. Die Laternen, die die Back erhellten, waren für sie Flecken von milder Farbe. Einzig der Lärm, der an ihre Ohren drang, störte sie. „Warum laßt ihr mir nicht meinen Frieden", flüsterte sie. „Wozu dieses Getöse? Ich bin nicht so viel Aufhe bens wert, daß man einen solchen L ä r m . . . " Sie stockte, als sie die bei
62 den Gesichter sah, die sich voller Be sorgnis über sie beugten. Laura und Michael. Laura strich ihr mit zarter Hand über das Haar. Michael nickte ihr be ruhigend zu. „Der Lärm wird gleich vorüber sein", sagte er mit belegter Stimme. Kate brachte ein Lächeln zustande. „Du meinst, wenn es mit mir vorüber ist, nicht wahr?" „Nein." Er schüttelte den Kopf. „Die Leute an Bord spielen nur ein bißchen verrückt. Der Seewolf und seine Männer sind mit ihrem Boot schon zur Stelle. Gleich werden sie für Ordnung sorgen." „Aber warum?" hauchte Kate. „Was ist denn geschehen? Es ist also nicht wegen mir? Nicht, weil sie so wütend auf mich sind?" „Aber nein", sagte Laura. „Nie mand ist wütend auf dich, Kate." „Aber ihr beiden, ihr hättet am mei sten Grund dazu." „Wir sind alle Menschen", erwi derte Michael. „Und Menschen soll ten Menschen verstehen. Das ist es, was Laura und ich tun." „Ich weiß, ich habe es erfahren." Kates Stimme war nur noch schwach. „Ihr habt mich beschämt. Ich war ein schlechter Mensch, ich hatte böse Ge danken in mir. Aber durch euch habe ich meinen Frieden gefunden. Ich - ich habe - meinen Mann nicht geehrt - habe ihn niederträchtig be handelt. Nun - habe ich nur so wenig Zeit gehabt, um ihn - zu trauern. Ich war - ungerecht zu ihm. Ich möchte ihn um Verzeihung bitten - dort, wo wir uns vielleicht begegnen werden." „Du wirst ihm begegnen", sagte Laura sanft und strich ihr erneut
über das Haar. „Du wirst ihn sehen. Bestimmt freut er sich auf dich." „Ja? Meinst du wirklich?" Kates Gesicht erhellte sich noch einmal. Un vermittelt schien es in sich zusam menzufallen. „Ich bitte auch euch um Verzeih..." Ihre Stimme versiegte, bevor sie die letzte Silbe hervor brachte. Michael drückte ihr die Augen zu. Dann hob er den Kopf und sah seine Verlobte schweigend an. In Lauras Augen standen Tränen. „Sie war kein schlechter Mensch", flüsterte Laura mit erstickter Stimme. „Wir hätten es ihr sagen, es ihr mit auf den Weg geben müssen. Sie ist nur durch die Umstände ihres Lebens so geworden, daß sie ständig ihre eigenen Vorteile suchte." An der Seite der Toten nahm Mi chael seine Verlobte in die Arme und beruhigte sie mit behutsamen Wor ten. „Sie ist in Frieden gestorben, ohne Bitterkeit. Vor allem hat sie auch mit ihrem Mann Frieden ge schlossen. Das war wohl das Wichtig ste." Beide schwiegen. Erst jetzt wurde ihnen bewußt, daß das Geschrei an Backbord verstummt war.
Zwei große Laternen befanden sich an Stangen im Beiboot der Sche becke. Der Lichtschein fiel bis zur Bordwand der „Explorer" und er hellte deren beide Jollen, die restlos überfüllt waren, und die Köpfe jener, die ins Wasser gesprungen waren und sich nun mit heftigem Auf und Ab ih rer Beine an der Oberfläche hielten. Der Seewolf stand hoch aufgerich
63 tet vor der Achterducht seines Boo tes. Die Männer auf den Duchten hat ten die Riemen eingenommen. „Was hier geschehen ist", rief Ha sard schneidend, „ist ein klarer Ver stoß gegen meine Anordnung! Ihr alle kehrt augenblicklich an Bord zu rück - ohne Widerrede, ohne Wider stand. Diese eine Chance gebe ich euch. Im Fall, daß ihr gehorcht, geht ihr straffrei aus. Alle!" Er wartete auf eine Entgegnung. Doch nicht einmal einer der Barm herzigen wagte auch nur mit einer Silbe etwas einzuwenden. „Dann beeilt euch jetzt!" befahl der Seewolf. „Ihr habt eine Viertelstunde Zeit. In einer Stunde tretet ihr zum Vollzähligkeitsappell an Deck an!" Die Wassertretenden beeilten sich, den Befehl als erste auszuführen. Gleich darauf hielten auch die beiden Boote auf die Jakobsleiter zu.
Zwei Tage, nachdem Kate Flana gan der See übergeben worden war, meldeten sich der Kutscher und seine beiden Helfer an Bord der Schebecke zurück. „Die Lage hat sich normalisiert", sagte der Kutscher, nachdem er sich zu dem Seewolf auf das Achterdeck begeben hatte. „Die Cholera-Kranken sind noch nicht vollends geheilt, aber sie haben eine Chance, es zu überste hen. Doktor Drury schafft es jetzt al lein. Ich denke, es wird keine weite ren Zwischenfälle geben." „Und wie ist es mit Anzeichen von neuen Erkrankungen?" fragte der Seewolf. ,,.Ich habe mich gründlich vergewis
sert", erwiderte der Kutscher. „Es war nicht das geringste festzustellen. Das hat letztlich auch den Ausschlag dafür gegeben, daß die Leute ruhig geworden sind. Ich habe ihnen ge sagt, daß die sechzehn Kranken über den Berg sind. Doktor Drury hat es vor aller Augen und Ohren bestätigt. Ich denke, damit haben wir alles ge tan, was getan werden konnte." Hasard dankte dem ernsten Mann mit einem Nicken. „Mac Pellew ist froh, wenn er dich wieder in der Kom büse hat." Der Kutscher lächelte - wie so sel ten. Hasard wandte sich zur Lagebe sprechung mit Ben Brighton, Dan O'Flynn und Don Juan um. Schon vor etwa zwei Stunden hatten sie die ersten Anzeichen einer Luftbewe gung gespürt. Die Wolkenformatio nen, die sich an der östlichen Kimm gebildet hatten, ließen ebenfalls dar auf schließen, daß die Flaute in Kürze vorbei sein würde. Dort, wo noch immer die Karavelle der Verfolger lag, braute sich etwas zusammen. „Wir werden ein waches Auge auf Toolan und seine frommen Mitstrei ter haben müssen", sagte Ben Brigh ton mahnend. „Auf die anderen etwa nicht?" fragte Dan O'Flynn. „Auf die auch", erwiderte Ben. „Vor allem auf Granville." „Drinkwater scheint mir ein ver nünftiger Mann zu sein", bemerkte Don Juan. „Den Eindruck habe ich ebenfalls", sagte Hasard. „Wie auch immer - wir werden noch lange nicht aller Sorgen enthoben sein. Bis wir Virginia errei
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chen, kann es durchaus geschehen, daß wir noch ein paarmal die Hölle durchqueren müssen." Keiner der Männer vermochte zu widersprechen. Die Wahrscheinlich keit, daß sich Hasards Prophezeiung erfüllte, war ziemlich groß. Tatsächlich regte sich am Spät nachmittag dieses Junitages anno 1598 der erste Windhauch, entwik
kelte sich rasch zu einer steten Brise aus Nordost und wuchs sich inner halb der nächsten Stunde zu einem handigen Ost-Nord-Ost aus. Die Segel der drei Galeonen und der Schebecke füllten sich und sahen bald darauf aus wie von einem Bild hauer gemeißelt. Die Schiffe nahmen Fahrt auf. Westwärts - nach Virginia . . .
Nächste Woche erscheint SEEWÖLFE Band 625
Keine Schonzeit für Ratten
von Fred McMason An diesem Morgen reichte Dan O'Flynn seinem Kapitän wortlos das Spektiv und zeigte zur „Discoverer" hinüber. Dabei schüttelte er nur stumm den Kopf. Hasard warf einen Blick hindurch und traute seinen Augen nicht. Quer über die Kuhl der Auswanderer-Galeo ne war eine Leine gespannt, an der aufgereiht etwas hing. Etliche Leute hatten sich drum herum versammelt und nahmen ihm vorübergehend die Sicht. Er konnte nicht genau er kennen, was an der Leine baumelte, denn immer mehr Siedler scharten sich darum. Es sah aus, als würde dort ein Markt abgehalten. „Ein Rattenmarkt", sagte Dan O'Flynn lako nisch. So war es dann auch. Kelvin Bascott, der feiste, glatzköpfige Koch der „Discoverer", hatte in der Nacht mit Fallen und Speckköder an die drei Dutzend Ratten gefangen und verhökerte sie jetzt an die ausgehungerten Siedler - zu Höchstpreisen, versteht sich...
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KAPTAIN STELZBEIN 2010
Printed in Germany. März 1988