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Patricia McCormick hat zunächst als freie Mitarbeiterin für verschiedene Zeitungen und Zeitschriften gearbeitet. Dann studierte sie Kreatives Schreiben und ist seitdem als Autorin tätig. Sie lebt mit ihrem Mann und ihren zwei Kindern in New York. In der Fischer Schatzinsel sind von ihr außerdem >Eine Sache unter Brüdern< (gebunden) und >Verkauft< (gebunden) erschienen. Cut Die 15‐jährige Callie spricht mit niemandem. Auch nicht mit ihrer Therapeutin in der psychiatrischen Klinik, in die ihre Eltern und ihr Arzt sie geschickt haben, weil sie sich selbst verletzt. Doch dann kommt Amanda in ihre Gruppe und lockt sie mit ihrer provokanten Art aus der Reserve. Ganz allmählich öffnet sich Callie und beginnt, sich mit den Ursachen für ihr Verhalten auseinander zu setzen.
Patricia McCormick
Cut Bericht einer Selbstverletzung
Aus dem Amerikanischen von Alexandra Ernst
Fischer Taschenbuch Verlag
generation www.fischergeneration.de Zu diesem und vielen weiteren Schatzinsel‐Titeln können Sie unter www.lehrer.fischerverlage.de Unterrichtsmaterialien herunterladen
5. Auflage: Oktober 2008 Deutsche Erstausgabe Veröffentlicht im Fischer Taschenbuch Verlag, einem Unternehmen der S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main, März 2004 Die amerikanische Originalausgabe erschien 2000 unter dem Titel >Cut< bei Front Street Inc., Ashville, USA © Patricia McCormick, 2000 First published in the United States under the title >Cut< by Front Street, Inc. Für die deutschsprachige Ausgabe: © 2003 Fischer Taschenbuch Verlag in der S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main Satz: Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin Druck und Bindung: CPI ‐ Clausen & Bosse, Leck Printed in Germany ISBN 978‐3‐596‐80461‐0 Nach den Regeln der neuen Rechtschreibung
Für Meaghan
Eins Du sagst, dass ich das Reden übernehmen muss. Du beugst dich vor und stellst ein Kästchen mit Papiertaschentüchern vor mich. Bei der Bewegung stöhnt dein schwarzer Ledersessel auf wie ein Lebewesen. Wie die Kuh, die er einmal war, bevor jemand kam, die Kuh schlachtete und daraus einen Ledersessel machte, der jetzt im Büro eines Irrenarztes in einer Klapsmühle steht. Du kreuzt deine Beine und deine Strumpfhose knistert. »Kannst du dich noch erinnern, wie es anfing?«, fragst du. Ich kann mich genau erinnern. Es war während des letzten Querfeldeinlaufs, ziemlich genau an der Fünfkilometer‐Marke. Alle waren an mir vorbeigelaufen, genau wie in der Woche davor und in der Woche davor. Alle ‐ bis auf ein Mädchen aus einer anderen Mannschaft. Wir waren die Einzigen, die auf dieser letzten Strecke noch übrig geblieben waren, jenem Teil, der sich durch den Wald windet und hinter der Schule endet. Unsere Schatten bewegten sich schräg über den Boden. Langsam glitten sie ineinander, dann ließ ihr Schatten den meinen hinter sich. Die Sohlen ihrer Laufschuhe schwebten vor mir auf und nieder, immer abwechselnd, erst der eine Schuh, dann der andere. Gitterartig zogen sich Gebirgskämme und Täler über die Unterseite der Schuhe und in der Mitte stand kopfüber der Name der Sportfirma. Meine Schritte passten sich ihren an. Meine Füße traten dorthin, wo ihre gerade noch gelaufen waren. Sie bog um eine Kurve. Ich bog um eine Kurve. Sie atmete, ich atmete. Dann war sie weg. Ich konnte sie mir nicht einmal mehr vorstellen. Es war, als ob sie nie existiert hätte. Aber wirklich Angst machte mir, dass ich nicht mehr wusste, wann ich aufgehört hatte sie zu sehen. Und in dem Moment wurde mir klar, dass, wenn ich sie nicht sehen konnte, mich auch niemand sah. Vom Ziel drangen undeutliche Geräusche zu mir herüber: Jemand blies in eine Trillerpfeife. Leiser Applaus, gedämpft durch die Handschuhe. Ich rannte immer noch, aber jetzt abseits der Bahn. Ich entfernte mich von der Ziellinie, lief an den Wagen auf dem Parkplatz vorbei, am Fahnenmast und auch an dem Banner, auf dem Hoch leben die Löwen! stand. Ich ließ Restaurants hinter mir, Reparaturwerkstätten und Videotheken. Häuser
und den Park. Bis ich mich plötzlich am Rande unseres Wohngebietes be‐ fand. Es wurde allmählich dunkel und ich verlangsamte mein Tempo. Ich ging an den Häusern mit gelben Fenstervierecken entlang, hinter denen Mütter das Abendessen vorbereiteten, an Häusern mit blauen Fenstervierecken, wo Kinder vor dem Fernseher saßen. Schließlich kam ich zu unserem Haus. Die Einfahrt war leer. Es brannte kein Licht. Ich schloss auf, ging hinein und knipste das Licht an. Die Helligkeit explodierte förmlich um mich herum. Die Küche glitt schräg nach unten und richtete sich dann wieder auf. Ich lehnte mich gegen den Türrahmen. »Ich bin zu Hause«, sagte ich in die Menschenleere. Das Zimmer schob sich nach links, dann nach rechts und hielt schließlich in der Mitte wieder an. Ich packte den Rand des Esstischs und versuchte mich zu erinnern, ob wir aufgehört hatten an ihm zu essen, weil er mit allem möglichen Zeug übersät war, oder ob er mit allem möglichen Zeug übersät war, weil wir aufgehört hatten hier zu essen. Auf dem Tisch lagen eine Rolle Füllwatte, eine Tube Klebstoff, ein Zierdeckchen und ein Katalog für Bastelzubehör. Neben dem Katalog lag ein spezielles Papiermesser, auf dessen Griff Exacto stand. Es war schmal, so wie ein Füller, und hatte eine dünne, dreieckige Schneide. Ich nahm es in die Hand und drückte die scharfe Kante gegen das Deckchen. Die kleinen Fäden wurden wie von Zauberhand durchtrennt. Ich zog die Schneide durch einen Streifen Geschenkband, der auf dem Tisch lag, und das Band rollte sich in zwei Hälften zusammen und fiel zu Boden, ohne das geringste Geräusch. Dann legte ich die Klinge auf die Haut meiner Handinnenfläche. Ein Kitzeln zog sich über meine Kopfhaut. Der Fußboden kippte mir entgegen und mein Körper kreiselte ins Nirgendwo. Dann schwebte ich plötzlich unter der Decke und blickte herab, wartete, was als Nächstes geschehen würde. Und was geschah, war eine vollkommen gerade Linie roten Bluts, die unter der Klinge des Messers erblühte. Die Linie wuchs zu einer lang gezogenen, dicken Blase an, eine köstlich scharlachrote Blase, die größer und immer größer wurde. Ich schaute aus der Vogelperspektive zu, wartete geduldig, um zu sehen, wie groß sie werden würde, bevor sie zerplatzte. Als es schließlich geschah, war ich überwältigt. Zufrieden, endlich. Dann erschöpft. Aber davon erzähle ich dir natürlich nicht. Ich sage überhaupt nichts. Ich umklammere lediglich meine Ellenbogen und presse sie mit den Händen
fest an die Seite. Mein Geist spielt die Bilder ab, wie ein Videorekorder, den man auf schnellen Vorlauf gestellt hat. Ein Videofilm ohne Ton. Schließlich seufzt du, stehst auf und sagst: »Das ist alles für heute.« Zweimal am Tag haben wir Gruppe. Die Gruppentherapie ist laut einer Broschüre, die man im Sekretariat bekommt, »die Basis der Behandlungsphilosophie« hier auf dem Idiotenhügel. Das Haus heißt in Wirklichkeit »Bergidylle«, obwohl es hier gar keine Berge gibt. Meine Zimmergenossin Sydney, die für alles und jeden Spitznamen erfindet, kam auf die Idee mit dem Idiotenhügel. Mich nennt sie nur S.T., die Abkürzung für Schweigetherapie. Wir sind hier übrigens »Gäste« und die Gründe, aus denen wir hier sind, werden vor allem nicht »Probleme« genannt. Die meisten der Mädchen hier sind magersüchtig. Das sind die Gäste mit Ernährungsschwierigkeiten. Es gibt auch ein paar Drogenabhängige, die Gäste mit Suchtgefährdung. Der Rest von uns, so wie ich, ist ein zusammengewürfelter Haufen Irrer. Wir sind die Gäste mit Verhaltensauffälligkeiten. Die Krankenschwestern heißen nur Helferinnen, und selbst dieser Ort hier wird nicht als das bezeichnet, was er ist – eine Klapsmühle –, sondern als Therapieeinrichtung. In der Gruppe gibt es keine feste Sitzordnung, aber die Leute setzen sich meistens entsprechend ihren Problemen zusammen. Die Gäste mit Ernäh‐ rungsschwierigkeiten – Tara, ein spindeldürres Mädchen, das immer eine Baseballmütze trägt, um die Stelle an ihrem Kopf zu verdecken, wo ihr die Haare ausfallen; Becca, genauso dünn, die nach einem Herzinfarkt direkt aus dem Krankenhaus hierher kam und weiße Kindersöckchen trägt, die um ihre Fußgelenke schlackern; und schließlich Debbie, ein ungeheuer übergewichtiges Mädchen, das angeblich schon am längsten hier ist – die drei also sitzen in orangefarbenen Plastikstühlen links neben Claire, der Gruppentherapeutin. Die Gäste mit Suchtgefährdung – Sydney, die behauptet, dass sie von jeder Droge abhängig ist, die sie jemals ausprobiert hat, und Tiffany, die völlig normal wirkt, die aber zwischen dem Gefängnis und dem Idiotenhügel wählen musste, weil sie Crack genommen hatte – sitzen gemeinsam auf der anderen Seite, rechts von Claire. Ich sitze alleine. Ich suche mir den Stuhl aus, der am weitesten von Claire entfernt und ganz nah am Fenster steht. Das Fenster wird übrigens niemals geöffnet, auch wenn es im Zimmer vierzig Grad heiß ist.
Als Claire heute fragt, wer anfangen möchte, beschließe ich, die Reihenfolge der Autos auf dem Parkplatz auswendig zu lernen. Braun, weiß, weiß, blau, beige. Braun, weiß, weiß, blau, beige. »Also gut, Mädels«, sagt Claire. »Wer möchte anfangen?« Claire legt ihre Finger zu einer Art Zelt zusammen und wartet. Ich lehne mich auf meinem Sitz zurück, wie üblich im toten Winkel, sodass sie mich nicht sehen kann. Tara zupft an ihren Haaren. Debbie glättet ihr Sweatshirt über ihrem Bauch und Becca gleitet von ihrem Stuhl hinunter und lässt sich zu Debbies Füßen auf dem Teppich nieder. Sie sitzt im Schneidersitz, wie eine Pfadfinderin. Niemand antwortet. Debbie schmatzt auf ihrem zuckerfreien Kaugummi herum. Tiffany, die aus irgendeinem Grund eine Handtasche über der Schulter hängen hat, spielt mit dem Verschluss. »Na, kommt schon«, sagt Claire. »Gestern war Besuchstag. Ihr habt doch bestimmt etwas zu erzählen.« Ich füge meiner Liste ein paar weitere Autos hinzu: Braun, weiß, weiß, blau, beige, grün, rot. Braun, weiß, weiß, blau, beige, grün, rot. »Okay, okay«, seufzt Debbie schließlich, als ob wir sie angefleht hätten etwas zu sagen. »Dann mach ich halt den Anfang.« Vereinzelt kommt Bewegung in die Gruppe. Tiffany rollt mit den Augen. Tara, die so schwach ist, weil sie nichts isst, und die oft während der Gruppentherapie einschläft, lehnt ihren Kopf gegen die Wand. Ihre Augenlider sinken nach unten. »Es war schrecklich«, sagt Debbie. »Nicht für mich. Aber für die arme Becca.« Sie tätschelt leicht Beccas Schulter. »Wartet nur ab, bis ich euch erzähle, was ...« Tiffany seufzt und ihr enormer Busen hebt und senkt sich. »Nicht für dich, Debbie? Und warum habe ich dich dann gestern bei der Helferin gesehen, wo du um eine Begleitung zum Süßigkeitenautomaten gebeten hast?« Debbie wird rot. »Warum redest du immer nur über die Probleme anderer Leute?«, fragt Tiffany. »Was ist mit deinen eigenen? Wie ist der Besuchstag für dich gelaufen, Debbie?« Debbie schaut sie abschätzend an. »Ganz okay.« »Wirklich?«, fragt Sydney. Ihre Stimme klingt nicht sarkastisch, sondern ehrlich fragend. »Wirklich«, antwortet Debbie. »So 'n Scheiß!«, ruft Tiffany. Kleine Speicheltröpfchen fliegen ihr dabei aus dem Mund. Solche Kraftausdrücke kann Debbie auf den Tod nicht ausstehen. So etwas bringt sie regelmäßig auf die Palme.
»Debbie«, sagt Claire mit ernstem Gesicht. »Wie fühlst du dich angesichts dessen, was Tiffany sagt?« Debbie zuckt mit den Schultern. »Ist mir egal.« Sydney deutet mit ihrem zitternden Zeigefinger auf Debbie. »Das stimmt nicht«, sagt sie. »Du bist doch stinksauer. Warum gibst du's nicht zu, Debbie?« Wir alle warten. »Na ja, mir wäre es lieber, wenn sie nicht fluchen würde«, erklärt Debbie und schaut dabei in Claires Richtung. »Warum siehst du mich nicht an?«, fragt Tiffany. »Warum sagst du nicht: Tiffany, ich mag es nicht, wenn du >Scheiß< sagst. Könntest du bitte dein vorlautes Mundwerk beherrschen ?« Tara prustet. Sydney versucht ein Kichern zu unterdrücken. Debbies Mund verzieht sich zu einem schmalen Lächeln, dann beginnt ihr Kinn zu zittern. Ich wische mir die Handflächen an meinen Jeans ab. »Ich weiß, dass ihr mich alle nicht leiden könnt, weil ich nicht so bin wie ihr«, sagt sie. Die Anstrengung, die Tränen zu unterdrücken, lässt ihr Gesicht rot anlaufen. »Ich mag dich«, sagt Becca und verrenkt sich den Hals, um Debbie anzuschauen. »Ich weiß nicht, was ihr vorhabt, aber ich will so bald wie möglich hier rauskommen«, sagt Debbie. »Ich habe keine Lust, mein ganzes Leben lang hier herumzusitzen und Leuten zuzuhören, die über ihre verkorkste Kindheit jammern.« Tiffany breitet die Arme aus und richtet die Handflächen zur Decke, ein stummes Zeichen für »Ich geb's auf.« »Möchte irgendjemand sonst noch etwas dazu sagen?«, fragt Claire. Ich sitze ganz still. Claire beobachtet unsere Körpersprache mit Argusaugen und interpretiert sie auf ihre eigene Art. Wenn man an den Nägeln knabbert, bedeutet das, man möchte reden. Wenn man sich vorbeugt, möchte man reden. Und wenn man sich zurücklehnt, möchte man ebenfalls reden. Ich mache keine Bewegung. Sydney räuspert sich. »Mir macht es nichts aus, über meinen Besuchstag zu sprechen«, sagt sie. Wir alle atmen erleichtert auf. »Meine Mutter hat ständig Mundspray benutzt, aber man konnte trotzdem riechen, dass sie ein paar Gläser gekippt hat, bevor sie gekommen ist. Mein Vater hat die ganze Zeit mit seinem Handy telefoniert und meine Schwester hat ihre Mathe‐Hausaufgaben gemacht.« Ohne Vorwarnung schießt mir die Formel zur Umrechnung von Fahrenheit in Celsius durch den Kopf. Ich versuche auszurechnen, wie viel Grad Celsius 110 Grad Fahrenheit entsprechen.
»Ein Besuchstag bei mir«, fährt Sydney fort und tippt mit dem Finger auf ihren Kuli, als würde sie Asche von einer Zigarette abstippen, »entspricht ganz ihren Vorstellungen von einem netten Familienausflug.« Gelächter, ein bisschen zu schrill. »Wie hast du dich gefühlt, als sie da waren?«, fragt Claire. »Prima.« Das Lächeln auf Sydneys Gesicht wird ein bisschen welk. »Es ist genauso wie zu Hause.« Das ist ein Witz. Keiner lacht. Sydney betrachtet unsere Gesichter. »Wisst ihr, ich habe mir eine Taktik zurechtgelegt: Warum soll man irgendetwas erwarten? Wenn man sich keine Hoffnungen macht, wird man auch nicht enttäuscht.« Tara hebt ihre Hand. »Warst du's?« Sydney versteht nicht, was sie meint. »War ich was?« »Enttäuscht.« Sydney schaut immer noch ratlos drein. »Ich hoffe, du verstehst mich nicht falsch«, sagt Tara, »aber vor ein paar Minuten noch hast du Debbie vorgeworfen, sie würde so tun, als ob sie nicht sauer wäre. Na ja, ich glaube, du bist auch sauer. Auf deine Mom, deinen Dad und auf deine Schwester.« Tara lässt sich wieder gegen ihre Stuhllehne fallen. Allein schon das Reden ermüdet sie. »Ich bin nicht sauer auf meine Schwester«, erklärt Sydney. »Es ist nicht ihre Schuld. Was würdest du denn dazu sagen, wenn du deine Samstagnachmittage mit einem Haufen Irrer verbringen müsstest?« Sie schlägt die Hände vor den Mund. »Das war nicht böse gemeint. Ich meine, wir sind ständig mit Irren zusammen, aber das ist ja auch was anderes. Wir sind ja selbst Irre.« Vereinzeltes Gelächter. Sydney fährt fort. »Meine Mom ist mir egal. Was will man schon erwarten? Sie schaut doch nur auf die Uhr und wartet darauf, dass die nächste Kneipe aufmacht. Das ist eine Tatsache. Aber mein Dad ...« Ich löse meine Arme, die ich vor der Brust gekreuzt hatte, lege sie andersherum übereinander und fasse mich wieder an den Ellenbogen. Das war ein Fehler. Claire bemerkt es sofort. Glücklicherweise redet Sydney weiter. »Ich weiß nicht. Er kann mit dieser ganzen Sache nicht besonders gut umgehen ...« Sydney knetet den Saum ihres Pullovers. Ihre Hände zittern jetzt. Sie lacht, jedenfalls versucht sie es. Dann, ohne Vorwarnung, weint sie. »Ich bin nicht sauer«, sagt sie. »Ich bin ... ich bin nur ... ich weiß auch nicht – enttäuscht.«
Ich presse meine Arme gegen meine Brust und bin von Sydneys Ausbruch peinlich berührt, genauso wie es mir im Kindergarten ging, wenn jemand in die Hose machte. Ich hasse Gruppentherapie. Irgendwann wird hier jeder zum schniefenden Nervenbündel. Wie erbärmlich. »Wenigstens sind sie gekommen«, wirft Tiffany ein. »Mein Dad ist gar nicht erst aufgetaucht.« Ein Bild bahnt sich uneingeladen den Weg in mein Gehirn. Es ist ein Bild meines Vaters, der am Besuchstag über den Parkplatz auf das Gebäude zukommt. Seine Hände stecken in seinen Jackentaschen und er hat den Kopf gesenkt, um sein Gesicht vor dem Wind zu schützen. Ich klopfe gegen das Fenster im Eingangsbereich. Er schaut auf und ich sehe, dass er eine Brille trägt, eine rote Nase hat und überhaupt nicht mein Vater ist. Er ist der Vater von jemand anderem. Ich konzentriere mich wieder auf die Autos auf dem Parkplatz. »Wie fühlst du dich dabei?«, fragt Claire Tiffany. »Scheiß auf ihn. Das fühle ich.« Wieder verschränke ich meine Arme neu. Claire stürzt sich regelrecht auf mich. »Callie?« Beim Klang meines Namens übermannt mich eine Hitzewelle. Ich kneife leicht meine Augen zusammen, als wäre ich von etwas, das ich auf dem Parkplatz sehe, völlig gefangen genommen. Dabei denke ich braun, weiß, weiß, blau, beige. Ich komme aus dem Rhythmus und muss nochmal von vorne anfangen. »Callie?« Claire gibt nicht auf. »Möchtest du uns von deinem Besuchstag gestern erzählen?« Eine Fliege hat sich in den Zwischenraum zwischen Fliegengitter und Fensterscheibe verirrt. Jedes Mal, wenn sie gegen das Fenster fliegt, scheint sie irgendwie überrascht zu sein. Aber sie taumelt nur ein kleines Stück zurück und prallt dann wieder gegen das Glas. »Callie?« Ich lasse einen Vorhang aus Haaren vor meine Augen fallen und warte ab. Nach eine Weile fängt ein anderes Mädchen aus der Gruppe wieder an zu reden. Ich höre nicht, was sie sagt. Alles, was ich hören kann, ist das Zzzzzz‐zzzzzzzt der Fliege, die unermüdlich gegen die Fensterscheibe anrennt. Als sich die Gruppe auflöst, fangen die Mädchen an, miteinander zu schwatzen. Ich halte mich abseits, gehe hinter ihnen her, dann den Flur entlang bis zu dem Schreibtisch, an dem eine der Helferinnen sitzt. Dort hängt eine Tafel, ein schwarzes Brett, auf dem die Namen der Gäste
stehen und die Art der Behandlung, die sie nach der Gruppentherapie erwartet. Tiffany muss in die »Wutbewältigung«, Tara in die Entspannungstherapie. Sydney und Tiffany sollen sich beide auf der Krankenstation melden, wegen eines Urintests – um sicherzugehen, dass sie nichts einnehmen. Becca, Tara und Debbie müssen ebenfalls hin – um festzustellen, ob sie etwas einnehmen: Vitamine und Nahrungszusätze für Tara und Becca, Herztropfen für Becca, Beruhigungsmittel für Debbie. Danach geht Debbie in den Sportraum, wo sie auf dem Laufband Fett abtrainieren soll. Tara und Becca dagegen machen einen gemütlichen Spaziergang im Park, damit sie nicht in Versuchung kommen, das Laufband zu benutzen. Neben meinem Namen steht nichts. Von mir wird nicht verlangt, dass ich irgendwohin gehe. Ich husche um die Ecke, bevor jemand merkt, dass ich auf die Tafel geschaut habe. Kürzlich habe ich nämlich gehört, wie Debbie, die ständig um den Tisch der Helferin herumschleicht, zu Becca gesagt hat, dass die Leute im Idiotenhügel immer noch versuchen herauszukriegen, was mit mir los ist. Wenn man sich auf Stufe Eins befindet (in der automatisch jeder neue Gast landet oder aber ein Gast, der sich »unangemessen« verhält), darf man ohne Aufsicht nirgendwo hingehen. Die Leute auf Stufe Zwei, die man erreicht, wenn man zehn Punkte für »angemessenes Verhalten« gesammelt hat, können sich im Gemeinschaftsraum aufhalten oder allein zu ihren Verabredungen gehen, brauchen aber immer noch eine Begleitung in die Waschküche oder zu den Süßigkeitenautomaten. Diejenigen, die es auf Stufe Drei geschafft haben und bald entlassen wer‐ den, so wie Debbie, sind die Begleitung für die anderen Gäste. Aber selbst Dreierkandidaten mit Ernährungsschwierigkeiten dürfen nicht ohne Helfe‐ rin oder jemand anderen, der sich auf Stufe Drei befindet, zum Süßigkeitenautomaten. Es ist ganz schön kompliziert hier auf dem Idiotenhügel, wenn ihr mich fragt. Auf Stufe Eins hat man es am leichtes‐ ten. Da ich zu den Stufe‐Eins‐Gästen gehöre, darf ich nirgends allein hingehen, außer in den Arbeitsraum, der von einer Helferin namens Cynthia beaufsichtigt wird. Cynthia sitzt vorne auf dem Lehrerpodest und ist in ein Buch mit Multiple‐Choice‐Aufgaben vertieft. Das Gute am Arbeitsraum ist, dass ich hier allein bin und dass es ruhig ist. Überall hängen Schilder, die uns höflich darauf aufmerksam machen, dass wir das Bedürfnis der
anderen Gäste nach Ruhe respektieren sollen. Dies ist der einzige Raum, in dem mein Verhalten nicht als unangemessen betrachtet wird. Die Wände sind mit einer Korkschicht verkleidet, auf der andere Gäste alle möglichen Kritzeleien hinterlassen haben. Ich habe schon viel Zeit damit verbracht, ihre Botschaften zu lesen – Namen und Kommentare wie Diese Klapsmühle ist der letzte Dreck oder Mrs Bryant ist eine blöde Kuh. (Mrs Bryant ist entweder die Dame, die im Sekretariat arbeitet, oder diejenige, die den Idiotenhügel leitet. Ich bin mir nicht sicher.) Meistens lausche ich nur dem Rascheln des Papiers, wenn Cynthia die Seiten ihres Arbeitsbuchs umblättert. Ich setze mich auf meinen Lieblingsplatz ganz hinten im Raum, in einer Ecke weit weg von Cynthia, und tue so, als würde ich mich mit meinen Matheaufgaben beschäftigen, die ich von meiner Schule gefaxt bekommen habe. In Wirklichkeit beobachte ich den Hund, der neben dem Geräteschuppen wohnt. Alles, was er tut, ist schlafen und hin‐ und herlaufen. Meistens schläft er, aber im Moment marschiert er vor seiner Hundehütte auf und ab. Wütend bellt er einen Lastwagen an, der die Einfahrt hinaufkommt. Er trottet so lange, bis seine Kette straff gespannt ist, bellt, dreht sich dann um und trottet zurück. Dann dreht er sich wieder um und macht dasselbe noch einmal. Er ist schon so oft hin‐ und hergelaufen, dass er vor seiner Hütte einen kleinen Trampelpfad ausgetreten hat. Ich sitze da und beobachte den Staub, den er aufwirbelt, während er hin‐ und herläuft. Hin und her, hin und her. Niemand beachtet ihn. Nach einer Weile stehe ich auf und setze mich an einen Tisch an der Wand. Ellen, ein Stufe‐Drei‐Gast aus einer anderen Gruppe, erscheint im Türrahmen, pünktlich wie immer, um mich zur Einzeltherapie zu begleiten. Ellen ist ein sehr scheues Mädchen mit unreiner Haut und der Angewohnheit, ihr Kinn in ihrem Rollkragen zu verstecken. Sie taucht jeden Tag zur selben Zeit vor dem Arbeitsraum auf und wartet so lange, bis ich sie bemerke. Die Art, wie sie ihr Kinn auf die Brust drückt und die Hände in den Hosentaschen vergräbt, macht einen so ungemütlichen Eindruck, dass ich immer sofort aufstehe und mit ihr gehe. Es stört mich gar nicht, wenn Ellen mich begleitet. Ich finde es ganz schön, auf das Quietschen unserer Turnschuhe zu lauschen, wenn wir gemeinsam durch den Flur gehen. Bei Ellen muss ich keine Angst haben, dass sie versucht, mich zum Reden zu bringen. Irgendwie habe ich das Gefühl, dass es Ellen ebenfalls nichts ausmacht, denn wenn wir in dem kleinen
Warteraum vor deinem Büro ankommen, bleibt sie manchmal noch ein Weilchen, obwohl sie das gar nicht müsste. Wenn sie gegangen ist, bin ich mit dem kleinen Plastik‐UFO auf dem Boden vor deinem Büro allein. Mrs Bryant, die mich an meinem ersten Tag hier herumgeführt hat und die ich seitdem nicht mehr gesehen habe, erklärte mir, dass das UFO – das aussieht wie ein Papierhut mit einem Motor im Innern – eine Maschine ist, die ein so genanntes weißes Rauschen von sich gibt. Sie meinte, dass alle Therapeuten so ein Gerät vor der Tür stehen hätten, damit die Leute im Flur nicht hören können, was drinnen im Büro gesprochen wird. (Allerdings können die UFOs weder das Weinen noch das Schreien übertönen.) Da ich nicht rede (und auch weder weine noch schreie), könntest du das UFO während unserer Sitzungen genauso gut ausschalten. Auf diese Weise könnte man im Idiotenhügel ein bisschen Strom sparen. Ich überlege mir, ob ich dir das vorschlagen soll, aber dann müsste ich ja reden, was wiederum dazu führen würde, dass das UFO eingeschaltet bleiben muss. Du öffnest deine Tür und bittest mich herein. Ich spiele mit dem Gedanken, mich auf die Couch zu legen. Es wäre bestimmt nett, ein kleines Nickerchen zu halten. Doch stattdessen setze ich mich auf meinen üblichen Platz in die Ecke, die am weitesten von dir entfernt ist. Von dir und deinem Stuhl aus totem Kuhleder. Du setzt dich hin und fragst nach meinem Besuchstag. »Wie war es für dich?« Ich betrachte deine Schuhe. Sie sind schwarz, klein und zierlich, wie Hexenschuhe, mit silbernen Schnallen. »Was war es für ein Gefühl, deine Familie wieder zu sehen?« Deine Schuhe sehen aus, als seien sie aus nebelzartem Gewebe gemacht, als seien sie zu zerbrechlich, um in der wirklichen Welt getragen zu werden. »Gibt es irgendetwas, was du mir sagen möchtest?« Ich überlege, ob ich etwas völlig Dämliches antworten soll. Etwas, das so unglaublich normal ist, dass du endlich aufgibst und mich in Ruhe lässt. Vielleicht sollte ich dir erzählen, dass meine Mom ihren guten Wollmantel getragen hat, den sie normalerweise nur in die Kirche und zu Arztbesuchen anzieht. Oder dass sie müde aussah, wie die Leute auf den »Vorher«‐Bildern in der Kosmetikwerbung, die auf den »Nachher«‐Bildern plötzlich so strahlend schön sind. Oder dass sie anfing ihre Stirn zu reiben, sobald sie den Besucherraum betrat. Sam sah ängstlich und aufgeregt zugleich aus. Er schien mir auch dünner als je zuvor. Obwohl er ein übergroßes rotes Sweatshirt trug, sah man deutlich die Beule auf der Höhe seiner Hemdbrusttasche, wo sein Inhalator steckte. Er ließ es zu, dass ich ihn umarmte und schob mir dann
eine Karte zu. »Die hab ich für dich gemacht«, sagte er. Auf der Karte waren lauter Bilder von Katzen zu sehen. Tanzende Katzen, seilspringende Katzen. Katzen, die Tee tranken, und Katzen, die Basketball spielten. Für einen Drittklässler kann Sam schon sehr gut malen, würde ich zu dir sagen, in einer ruhigen, völlig beherrschten Stimme. Aber seine Rechtschreibung ist echt mies. Auf der Karte, die ich unter meiner Ma‐ tratze versteckt habe, steht: »Hofentlich geht es dir bald beser.« Sie ist mit »Sam und Linus« unterzeichnet. Linus ist unsere Katze, würde ich dir erklären. Du würdest nachdenklich nicken und ich würde dir erzählen, dass Linus jetzt nicht mehr im Haus leben darf, sondern draußen bleiben muss, weil der Arzt meint, dass sie eine der Ursachen für Sams Krankheit sei. Ich würde dir verraten, dass wir sie Linus genannt haben, obwohl sie ein Mädchen ist, weil sie immer eine Socke in ihrem Maul herumgeschleppt hat, als sie noch ein Katzenbaby war. Es sah aus wie eine Schmusedecke, deshalb haben wir ihr den Namen Linus gegeben, würde ich zu dir sagen. Du würdest lächeln. Wir würden noch ein bisschen gemütlich beisammen sitzen und über belangloses Zeug plaudern. Aber Tatsache ist, dass ich nicht plaudere, weder über Belangloses noch über irgendetwas sonst. Es war ein komisches Gefühl, kein Wort zu Sam zu sagen, als er mir die Karte gab. Ich strich ihm stattdessen über den Kopf. Dann fing meine Mom an zu schniefen und so konnte ich ein bisschen auf Distanz gehen, indem ich ihr vom Kaffeetisch ein Papiertaschentuch holte. Das gefällt mir hier am Idiotenhügel, würde ich zu dir sagen. Hier gibt es überall Ta‐ schentücher. Ich führte meine Mom und Sam zu einem Sofa im Besuchsraum. Sam schaute sich um, wobei sein Mund offen stand, als würde er fernsehen. »Warum wird der Laden hier Bergidylle genannt?« Ich glaube, er wartete darauf, dass ich ihm antworten würde, aber ich war zu beschäftigt, an einem losen Faden am Sofapolster zu ziehen. Ich stellte mir vor, wie sich die ganze Couch auflösen und wir drei mit dem Hintern auf dem Boden landen würden, mitten in einem riesigen Fadenknäuel. Meine Mom rieb ihre Schläfen. »Es ist nur ein Name, Sam, sowie Pennbrock Manor, wo Großmutter wohnte«, sagte sie schließlich. »Wo Großmutter starb, meinst du«, verbesserte Sam sie. »Nun ...« Sie schaute an Sam vorbei und ließ ihren Blick durch das Besuchszimmer wandern. Sie versuchte herauszufinden, was die anderen Familien taten. »Dort hat's gestunken«, erklärte Sam.
»Nun, Sam, dies hier ist etwas anderes«, sagte meine Mom. »Hier ist es doch wunderschön.« »Aber was genau ist es denn? Und warum ist Cal überhaupt hier?« »Sprich bitte etwas leiser«, sagte sie. »Das habe ich dir doch gesagt. Sie fühlt sich nicht wohl.« »Sie sieht aber gar nicht krank aus.« »Ssschh!«, wies sie ihn zurecht. »Lasst uns in der Zeit, die wir miteinander verbringen können, über etwas Angenehmes reden, ja?« Sie faltete das Papiertaschentuch in ihrem Schoß zusammen und wandte sich dann an mich. »Wie ist deine Zimmergenossin? Ist sie nett?« Ich stand auf, stellte mich an das Fenster und blickte suchend über den Parkplatz. Wo war mein Dad? Ich sah einen Mann auf das Gebäude zukommen und klopfte an die Scheibe. Er hob seinen Kopf und ich erkannte, dass es nicht mein Vater war. Die automatische Schiebetür glitt zur Seite, der Mann kam herein und nahm Tara in den Arm. »Wenn du nach Dad Ausschau hältst – der kommt nicht«, meinte Sam. Meine Mom schnäuzte sich die Nase. Ich starrte weiter aus dem Fenster. Ich erwartete nicht, unser Auto auf dem Parkplatz zu sehen, denn meine Mutter fährt inzwischen nirgends mehr selbst hin. Sie hat Angst vor Lastwagen oder vor der Möglichkeit, die richtige Autobahnausfahrt zu verpassen. Sie fürchtet sich auch vor Konservierungsmitteln, besonders vor solchen, die »E soundso« heißen, vor Kindesentführern im Supermarkt, vor Blei im Trinkwasser und natürlich vor Staubmilben, Tierhaaren, Schimmel, Sporen, Pollen und vor allem anderen, was bei Sam einen Asthma‐Anfall auslösen könnte. Ich weiß nicht genau, was ich da draußen auf dem Parkplatz zu sehen hoffte. Aber ich schaute weiter hin. »Mommy«, sagte Sam. »Kann ich etwas Süßes haben?« Er deutete auf den Süßigkeitenautomaten. Meine Mom nickte und mir schoss durch den Kopf, dass Sam einfach da hinüberlaufen und sich einen Schokoriegel kaufen konnte, ohne auf jemanden zu warten, der ihn begleitete. Meine Mutter gab ihm ein paar Münzen und er hüpfte davon. Ja, wirklich, er hüpfte zum Süßigkeitenautomaten. »Daddy macht ein paar Überstunden«, flüsterte mir meine Mutter zu, als Sam außer Hörweite war. »Er versucht ein bisschen zusätzliches Geld zu verdienen.« Sie faltete ihr Taschentuch zu einem ordentlichen Quadrat, dann zu einem kleineren und schließlich noch einmal zu einem winzigen Viereck. Allein vom Zuschauen wurde mir schon schwindelig.
»Wir haben einen Brief von der Krankenkasse bekommen.« Sie sprach so leise, dass ich mich vorbeugen musste, um sie zu verstehen. »Sie sagen, dass sie für ... für deine Behandlung hier nicht aufkommen wollen.« Der Besucherraum löste sich von seinem Fundament, schwebte einen Moment lang frei herum und senkte sich dann wieder herab. Ich betrachtete meine Mom. Hatte sie etwas bemerkt? »Sie sagen, dass sie nichts bezahlen wollen, weil du diese Sache, du weißt schon, deine Verletzungen, weil du sie dir selbst zufügst. Für etwas, an dem man selbst die Schuld trägt, zahlt die Krankenkasse nichts.« Wieder hob sich der Raum in die Höhe, dann rutschte der Boden zur Seite und ich war plötzlich oben an der Decke und sah auf ein Theaterstück herab. Die Schauspielerin, die meine Mutter darstellte, redete immer noch, und diejenige, die mich selbst verkörperte, spielte mit einem Stück Faden. Hinter der Bühne fiel klappernd ein Schokoriegel in den Auswurf des Süßigkeitenautomaten. Ich versuchte mich auf das zu konzentrieren, was meine Mutter sagte. Irgendetwas über Freunde, die sie beim Einkaufen getroffen hatte. »Ich habe ihnen erzählt, dass du nicht ganz auf dem Posten bist«, sagte sie. Das Taschentuch, nur noch ein kaum sichtbarer Gegenstand mit vier Ecken, schob sich wieder in mein Blickfeld. »Kommst du mit deinen Hausaufgaben zurecht?« Der Mund der Mutter bewegte sich, aber die Schauspielerin, die meine Rolle übernommen hatte, ging einfach weg, lief durch den Irrgarten aus Sofas und Sesseln und Tischen und noch mehr Sofas, bis sie schließlich die Toilette erreichte, die normalerweise für Besucher reserviert ist. Dort rieb ich die Innenseite meines Handgelenks an den Zacken des Hand‐ tuchspenders. Es war, als würde mein ganzer Körper nur aus dieser einen einzigen Stelle bestehen, die darum flehte gekratzt, geritzt und eingeschnitten zu werden. Irgendetwas, das Linderung brachte. Ich spürte einen Stich, sah glänzende Blutperlen. Jetzt ging es mir wieder gut. Ich zog meinen Ärmel herab, presste meine Wange einen Moment lang gegen die kühle Kachelwand und ging schließlich in den Besucherraum zurück, als ob nichts geschehen wäre. Doch der Raum war fast leer. Ich hatte geglaubt, dass ich nur ein paar Minuten in der Toilette verbracht hätte, aber sowohl meine Mutter und Sam als auch die meisten anderen Besucher waren gegangen. Ich ging wieder durch das Labyrinth aus Sofas und Tischen und zwang mich dabei, mich zu konzentrieren, ruhig zu bleiben, damit ich nicht anfangen würde zu rennen. Schließlich fand ich Sam am anderen Ende des Flurs. Er saß alleine im Spielezimmer, in diesem dunklen, bibliotheksähnlichen Raum, wo Brett‐
und Kartenspiele aufbewahrt werden, die niemand spielen will. Das Spielezimmer ist mein Lieblingsplatz. Fast jeden Abend, wenn wir Freizeit haben, gehe ich hierher, um dem unechten Gelächter zu entkommen, das aus dem Fernseher im Gruppenraum dringt, dem gequälten Applaus aus dem Fernseher der Helferin und all dem Lärm von den Radios und den Haartrocknern in den Schlafsälen. Als ich jetzt hereinkam, drehte sich Sam zu mir um und grinste. Dabei blitzte mir sein neuer Schneidezahn entgegen, mit dem er aussah wie ein Kaninchen. »Cal! Schau mal, was die hier haben«, sagte er. »Vier gewinnt!« Vier gewinnt, ein Spiel, bei dem man runde Scheiben in einen Plastikständer werfen und vier davon in einer Reihe bekommen muss, ist unser Lieblingsspiel. Wir haben mit dem Spielen angefangen, als Sam das erste Mal krank wurde und nicht mehr draußen herumrennen durfte. Am Anfang habe ich ihn gewinnen lassen, weil er jünger war und außerdem krank. Mittlerweile schlägt er mich jedes Mal. Ich habe keine Ahnung, wie er das macht, aber Sam ist in der Lage, drei oder vier Möglichkeiten gleichzeitig zu sehen, wie er das Spiel gewinnen kann. Während ich mir Mühe gebe, seine Spielzüge abzublocken oder selbst vier Spielsteine in einer Reihe zu bekommen – meistens in einer senkrechten Linie von oben nach unten –, dauert es nicht lange, und Sam ruft: »Hab dich!« und deutet auf eine diagonale Reihe, die ich völlig übersehen hatte. »Hast du Lust zu spielen?«, fragte er jetzt. Ich sah mich um, um festzustellen, ob jemand in der Nähe war. Sicher, wollte ich sagen. Aber klar doch. Ich befahl mir zu sprechen, aber nichts geschah. Ich schickte einen Befehl nach dem anderen von meinem Gehirn zu meinem Mund. Nichts. Mir schoss der Gedanke durch den Kopf, dass die Stimmbänder eines Menschen möglicherweise einrosten, wenn sie lange Zeit nicht benutzt werden. Eine Weile starrte ich aus dem Fenster, als ob die Antwort da draußen zu finden wäre. Dann nickte ich. Sam nahm die gelben Steine, ich die roten. So war das schon immer. Wir müssen nicht einmal darüber reden. Das einzige Geräusch, das zu hören war, als wir an dem Kartentisch saßen und spielten, war das Klicken der runden Spielsteine, die in den Schacht fielen. Ich stellte mir vor, wie ich – ein bisschen von oben herab, typisch große Schwester – mit ihm schwatzen würde: über Linus, über Sams Eishockeykarten‐Sammlung. Aber allein der Gedanke an ein Gespräch erschöpfte mich.
Sam ließ eine runde Scheibe in den Plastikständer fallen und deutete auf eine Reihe aus vier gelben Steinen, die aus dem Nichts aufzutauchen schien. »Hab dich«, sagte er. »Willst du nochmal spielen?« Er wartete nicht ab, ob ich etwas sagen würde. »Okay«, antwortete er an meiner Statt. Da dämmerte es mir, dass Sam begriff, was los war. Irgendwie wusste er – auf die besondere, instinktive, kluge Art eines Achtjährigen –, dass ich nicht sprach. Also redete er für uns beide. Ich antwortete ihm, indem ich eine rote Scheibe in den mittleren Schacht fallen ließ. Das war mein üblicher Eröffnungszug. »Cal«, sagte er und schüttelte seinen Kopf. Er tat so, als sei er ein alter, weiser Mann, der es langsam satt hat, seiner dummen und begriffsstutzigen Schwester helfen zu müssen. »Du musst auch mal quer denken.« Ich sah ihn an, während er einen gelben Stein in die letzte Reihe warf. »Das heißt, dass man Dinge von verschiedenen Seiten betrachten soll«, erklärte er. »Mr Weiss behauptet, dass ich das gut kann.« Ich warf einen zweiten roten Stein auf den ersten und fragte mich, wer wohl Mr Weiss war. »Das ist mein Tutor.« Eine weitere gelbe Scheibe rutschte in den Schacht und blockierte meine angefangene Reihe. »Er kommt zu uns nach Hause.« Das bedeutete, dass Sam wieder zu krank war, um in die Schule zu gehen. Was gleichzeitig bedeutete, dass Mom sich noch mehr Sorgen und Dad noch mehr Überstunden machen musste. Dad würde noch mehr Zeit mit Arbeit verbringen oder damit, Kunden auszuführen oder Leute, von denen er hoffte, dass es eines Tages Kunden sein würden ‐ eine Hoffnung, die sich nie zu bewahrheiten schien. »Mach dir keine Sorgen«, sagte Sam. »Wir müssen dafür nichts bezahlen. Das macht die Schule.« Ich wusste nicht, wo ich meinen nächsten Spielstein platzieren sollte, daher versuchte ich, wieder eine neue Reihe anzufangen. »Hab dich!« Sam deutete auf eine diagonale Reihe aus gelben Steinen. »Quer denken, Cal.« Er baute das Spiel neu auf, damit wir noch einmal spielen konnten. »Mom ist losgezogen, um mit einer von ... von, du weißt schon, mit einer von deinen Lehrerinnen zu sprechen.« Die Art, wie er das sagte, so kindlich unschuldig, versetzte mir einen Stich. Er ließ einen gelben Spielstein in die letzte Reihe fallen. »Sie ist zu ihr gegangen, während du auf der Toilette warst.«
Ich warf meine rote Scheibe wieder in den mittleren Schacht. Ich hatte keine Kraft, um quer zu denken. Sam hob seinen Spielstein hoch und hielt mitten in der Bewegung inne. »Wann kommst du nach Hause, Cal? Niemand sagt mir etwas.« Wir saßen eine Zeit lang nur da. Ich weiß nicht, wie lange. Sams Gesichtsausdruck wandelte sich von hoffnungsvoll zu ernsthaft zu besorgt und schließlich zu etwas, was ich nicht genau deuten konnte. »Schon gut«, sagte er schließlich. »Es ist nur, weil Linus dich vermisst.« Ich schaue auf und umfasse dich mit meinem Blick – wie du dasitzt mit gekreuzten Beinen und deinem Notizblock auf dem Schoß. Ich verabscheue diesen Block, weil ich genau weiß, dass alles Mögliche und Unmögliche – wie zum Beispiel die Tatsache, dass mich dein Stuhl an eine tote Kuh erinnert – dort aufgeschrieben werden kann. Zum Beweis, dass ich verrückt bin. Was mich aber wirklich verrückt macht, ist deine Angewohnheit, jeden Tag, wenn ich zu dir komme, eine neue Seite aufzuschlagen und das Datum oben auf das Blatt Papier zu schreiben. Und jeden Tag, wenn ich wieder gehe und du mich zur Tür bringst, kann ich sehen, dass die Seite leer geblieben ist. Du setzt die Kappe auf deinen Stift und stehst auf. Offenbar ist meine Zeit um. Im Speisesaal herrscht ein feuchter Geruch nach gekochtem Gemüse, so ekelhaft, dass er bei jedem normalen Menschen Ernährungsschwierigkeiten auslösen könnte. Schlimmer noch als der Geruch ist allerdings der Lärm. Manchmal, wenn ich im Arbeitsraum oder im Spielezimmer sitze, kann ich mir einreden, dass ich in einem Internat bin, aber wenn all die Gäste der anderen Gruppen sich hier zum Essen versammeln, wenn sie durcheinander schreien, lachen, sich streiten und essen, gibt es keinen Zweifel: Dann weiß ich, dass ich mich in einer Klapsmühle befinde. Unsere Gruppe muss während der Mahlzeiten zusammen sitzen. Sydney stellt ihr Tablett auf dem leeren Platz neben mir ab. »Ich habe über die Essensphilosophie hier auf dem Idiotenhügel nachgedacht«, verkündet sie der Gruppe. Die Gäste mit Ernährungsschwierigkeiten beugen sich erwartungsvoll vor. Ich wickele meine Nudeln so lange um meine Gabel, bis sie herunterfallen. »Es gibt lediglich drei Nahrungsgruppen: Pasta, Püree und Pudding«, erklärt sie. »Die kochen hier nur Sachen, die mit ›P‹ anfangen.« Debbie seufzt.
»Nein, ernsthaft«, meint Sydney. »Ist euch das noch nicht aufgefallen?« »Pasta hängt mir langsam zum Hals raus«, wirft Tara ein. »Diese ganzen Kohlehydrate kotzen mich an.« »Stimmt«, meint Tiffany. »Das Zeug ist ekelhaft.« »Letzte Woche gab es Hühnchen«, widerspricht Debbie. »Ja, Debbie, das wissen wir«, antwortet Tiffany. »Und das war offensichtlich der Höhepunkt deines Lebens.« Weil man uns Gästen kein richtiges Essbesteck anvertraut, sind die Gerichte meistens so weich gekocht, dass man sie mit Plastiklöffeln essen kann. Aber letzten Donnerstag servierte man uns gebratenes Hühnchen, und Debbie, die der einzige Stufe‐Drei‐Gast in unserer Gruppe ist, hat an alle plumpe Plastikgabeln und ‐messer verteilt. Nachdem wir fertig waren, hat sie sie wieder eingesammelt. »Es ist fast so wie bei einem Picknick«, meinte sie. Sydney wechselt das Thema. »Schaut mal«, sagt sie und deutet quer durch den Raum. »Da ist das Gespenst.« Eine Frau mit einem grauen Zopf, der ihr bis zur Taille fällt, tanzt um das Salatbüffet herum. Sie trägt ein langes weißes Kleid und ihre Arme sind ausgestreckt, als würde sie einen unsichtbaren Tanzpartner festhalten. »Sie kommt aus dem Knaller«, sagt Sydney. »Dem was?«, fragt Tara. »Dem Knaller. Das ist der Teil des Gebäudes, in den sie die richtigen Irren einsperren.« »Du meinst doch wohl den Kanakov‐Flügel, oder?«, sagt Debbie. »Knaller«, beharrt Sydney. »Du musst nämlich einen echten Knall haben, um da reinzukommen.« Alle lachen. »Wenn du einmal drin bist, kommst du nie wieder raus.« Diesmal lacht keiner. Das Abendessen dauert nicht lange, weil derjenige, der zuerst zurück in den Gemeinschaftsraum kommt, sich sofort auf die Fernbedienung des Fernsehers stürzt. Heute allerdings scheint es zu einer Verzögerung zu kommen. Aus einigen Gesprächsfetzen entnehme ich, dass etwas Besonderes vorgeht. »Das ist toll«, sagt Debbie zu Becca. »Das machst du wirklich gut.« Becca verbirgt ihre Augen hinter ihren Wimpern und bricht einen Krümel von ihrem Keks ab. Dann legt sie den Krümel auf ihren Teller und schneidet ihn mit dem Plastikmesser in zwei Hälften.
»Du kannst den ganzen Keks essen, stimmt's?« Debbies Stimme ist laut, damit wir alle sie hören. Becca nickt gehorsam. »Aber ihr wisst doch«, sagt sie und stößt Debbies Arm mit ihrem dünnen, knochigen Ellenbogen an, »dass ich nichts essen kann, wenn ihr alle zuschaut.« »Okay, okay«, sagt Debbie eifrig. »Schaut jetzt alle mal weg.« Sydney streckt Becca ermutigend ihren erhobenen Daumen entgegen. Dann schauen alle betont in eine andere Richtung. Ich stoße meinen Stuhl zurück und betaste das Metallband, das rund um die Tischkante führt. Dabei starre ich nach unten auf die Füße der anderen. Der Lärm um mich herum, das Klappern des Geschirrs und die Stimmen der Leute, werden leiser und prallen dann wieder mit voller Lautstärke gegen mich. In dem Moment sehe ich, wie Becca ihren Keks von ihrem Teller in ihren Schoß gleiten lässt. Sie schlägt ihn in eine Serviette ein, quetscht ihn zusammen und steckt ihn in ihre Hosentasche. Nach einer Weile erklärt Becca, dass die anderen wieder herschauen können. Sie erntet bewundernde Ohs und Ahs. Dann ertönt der Dreiklang der Glocke und verkündet das Ende des Abendessens. Debbie schlägt vor, dass wir Becca heute Abend die Fernbedienung des Fernsehers überlassen sollen. Später, als die anderen Mädchen im Gemeinschaftsraum sitzen und sich eine Quizshow ansehen, verstecke ich mich in einer Nische in der Nähe des Schreibtisches, an dem die Aufsicht sitzt. In meinen Armen halte ich ein Bündel Wäsche und warte, bis die Luft rein ist. Ich muss ziemlich oft waschen, weil mir meine Mutter nur Schlafanzüge eingepackt hat, besser gesagt Nachthemden. Brandneue mit Gänseblümchen drauf und mit Bändern und Schleifen verziert. Ich warte, bis Rochelle, die die Aufsicht über die Waschräume hat, den Schreibtisch verlässt und ihren Posten auf dem orangefarbenen Plastikstuhl zwischen den Toiletten und den Duschen bezieht. Dann schiebe ich mich vorsichtig auf den Schreibtisch zu und hoffe, dass Ruby mich bemerkt. Rubys Haut schimmert samtig dunkel und ihr Haar ist silberfarben wie eine antike Teekanne. Aber das Besondere an Ruby sind ihre Schuhe: Sie trägt altmodische weiße Schuhe, wie sie früher alle Krankenschwestern hatten. Und anders als die restlichen Aufseherinnen, die sich anziehen, als würden sie in einem Büro arbeiten oder zum Einkaufen gehen, trägt Ruby in den Krankenschwesterschuhen dicke weiße Socken. In der ersten Nacht, die ich hier verbracht habe, konnte ich nur einschlafen, weil ich mich auf das
Quietschen ihrer Schuhe konzentriert habe, auf ihre Schritte, die ich ständig auf dem rutschigen Linoleumfußboden hörte, wenn sie ihre Runde machte. Ich kann nicht genau sagen, warum, aber irgendwie vertraue ich diesen Schuhen. Ruby hat sich hingesetzt und strickt an etwas Rosafarbenem, vielleicht einer Babydecke. Während ich ihre knotigen Finger beobachte, die im Rhythmus mit dem Zischen und dem Klicken der Nadeln über die Wolle fliegen, frage ich mich, was Ruby macht, wenn sie nicht im Idiotenhügel arbeitet. Vielleicht ist sie Großmutter oder Nachbarin. Sie lächelt, als sie mich bemerkt. »Brauchst du eine Begleitung in die Waschküche?«, fragt sie. Ich hefte meinen Blick weiterhin auf das pinkfarbene Ding, das zwischen ihren Stricknadeln Gestalt annimmt. »Aber klar doch«, antwortet sie an meiner Stelle. »Eine Sekunde, okay?« Sie wartet nicht auf eine Reaktion. »Okay«, sagt sie. Genauso wie Sam erwartet Ruby nicht von mir, dass ich etwas sage. Ihr macht es nichts aus, das Reden für uns beide zu übernehmen. Ich lehne mich gegen den Schreibtisch und beobachte, wie sie die Wolle um ihre Finger wickelt und noch einige Maschen strickt. Dann legt sie das Strickzeug auf den Tisch und stemmt ihren kurzen, kompakten Körper aus dem Stuhl. Ihre Schlüssel klimpern und sie sagt: »Okay, Liebes, lass uns gehen.« Ich versuche mir über den passenden Abstand zwischen uns klar zu werden, während wir den Flur entlanggehen. Am Anfang halte ich mich dicht an der Wand. Aber das erscheint mir falsch, daher rücke ich näher zu Ruby und passe meine Schritte den ihren an. Ich rempele sie an und weiche zur Seite aus. Nach dieser Kollision bleibe ich auf meinem Pfad an der Wand. Als wir die Treppe erreichen, hält mir Ruby die Tür auf und lässt sie hinter mir wieder zufallen. Jetzt befinden wir uns in unserer eigenen kleinen Welt, im Universum des Treppenhauses, wo der ganze Lärm aus den Schlafräumen – das Reden, die Musik und die Stimmen aus dem Fernseher – einfach nicht existiert. Sie bleibt einen Moment stehen und streckt ihre Hand aus. Auf der Handfläche liegt ein Karamellbonbon, genau die Sorte, die meine Großmutter immer in einer Dose in ihrem Wohnzimmer aufbewahrt hat. »Mach schon, nimm es«, sagt sie. »Das geht schon in Ordnung. Du bist ja keins von den Mädchen mit den Essstörungen, nicht wahr?« Sie drückt mir das Bonbon in die Hand. »So, hier.« »Außerdem«, fährt sie fort, »hat etwas Süßes dann und wann noch niemandem geschadet. Ich hab ja vielleicht keinen Doktortitel in
Psychologie, aber es gibt Dinge, die man einfach mit dem Herzen weiß.« Sie klopft sich auf die Stelle zwischen ihren Brüsten, als ob alles Wissen dort verstaut wäre. Als wir die Waschküche erreichen, schließt Ruby den Schrank auf, in dem das Waschmittel steht. Dann lehnt sie sich gegen die Wand und schaut mir zu, wie ich meine Jeans und meine Blusen in die Waschmaschine stopfe, das Waschpulver sorgfältig abmesse, etwas dazugebe und wieder etwas wegnehme, meine Kleidungsstücke wieder aus der Trommel nehme und neu angeordnet hineinlege – alles in der Hoffnung, dass Ruby mir noch mehr von den Wahrheiten erzählt, die in ihrem Herzen verborgen liegen. Aber sie schweigt. Alles, was ich höre, ist das Knistern von Papier, als sie ein Bonbon für sich selbst auswickelt. »Also gut, Liebes«, sagt sie, als ich den Deckel der Waschmaschine schließe. »Lass uns wieder nach oben gehen.« Auf dem Rückweg kommen wir an dem Schild vorbei, auf dem die Notausgänge markiert sind, einem Diagramm mit einem großen roten Pfeil, neben dem die Worte »Sie sind hier« stehen. Und ich frage mich, ob ich in der Lage wäre zu schreien, wenn der Idiotenhügel in Flammen stünde. Jede Nacht hört man Weinen. Da keiner der Räume Türen hat, dringt das Weinen – das Jammern, Seufzen und Schluchzen – bis auf den Flur. Manchmal liege ich im Bett und stelle mir einen Fluss aus Seufzen und Schluchzen vor, der vorbeifließt und auf den Türschwellen kleine Pfützen aus Traurigkeit hinterlässt. Als ich hierher kam, verbrachte ich viel Zeit damit, das Mädchen, das weinte, an ihrer Stimme und anhand der Richtung zu identifizieren, aus der die Geräusche drangen. Jemand in meiner Nähe miaut wie ein kleines Kätzchen. Das ist Tara, glaube ich. Jemand weiter den Flur hinunter beginnt sein Klagen mit abgehackten Schluchzern, die zuerst wie Gelächter klingen. Ich bin mir ziemlich sicher, dass es Debbie ist. Aber nach einer Weile begriff ich, dass ich dadurch nur noch schlechter einschlafen konnte. Also habe ich mir ein Spiel ausgedacht, das mich von den Klagelauten ablenkt. Es ist ganz einfach. Ich liege nur da und achte auf das Geräusch von Sydneys Atem. Sydney, die immer einschläft, sobald das Licht ausgeknipst wird, liegt meistens auf dem Rücken mit weit geöffnetem Mund. Wenn ich mich konzentriere, kann ich hören, wie sie den Atem mit einem leisen Ahh einsaugt und mit einem Hah wieder ausstößt. Und wenn ich alles andere aus meinem Kopf verbanne, kann ich sogar den genauen Zeitpunkt
bestimmen, wann das Einatmen zu Ende ist und die Luft ihre Lungen wieder verlässt. Nachdem Ellen mich heute zu deinem Büro gebracht hat, bleibt sie länger als gewöhnlich. Sie steht da und stupst mit der Spitze ihres einen Turnschuhs seitlich gegen die Spitze ihres anderen Turnschuhs. Ich kicke ebenfalls mit meinem Schuh gegen den anderen. Dann bemerke ich, dass wir dasselbe tun, und höre auf damit. Ellen hört auch auf. Sie nimmt ihre Hände aus den Hosentaschen, eine nach der anderen, und faltet sie vor dem Körper, als wolle sie beten. Langsam hebt sie ihr Kinn, bis sie schließlich wie nach einer Herkulesarbeit in mein Gesicht schaut. Dann lächelt sie. Auf Ellens fleckigem, rotem Gesicht scheint ein Lächeln fehl am Platz zu sein, als ob es etwas sei, was sie nicht sehr oft tut. Sie sieht aus, als würde sie das Lächeln üben. Und indem ich nicht wegschaue, versuche ich ihr zu zeigen, dass ich nichts dagegen habe, wenn sie es an mir erprobt. Dann ist sie weg und ich lausche dem Geräusch ihrer Turnschuhe, die zurück zur Station quietschen. Du beugst dich in deinem Kuhledersessel vor. Ich lehne mich zurück. »Ich habe eine Theorie«, sagst du. In diesem Moment beschließe ich, dass ich wissen will, wie viele Streifen sich auf deiner Tapete befinden. Beige, weiß. Beige, weiß, beige, weiß. »Es ist mehr ein Gefühl«, erklärst du. Beige, weiß. Beige, weiß. »Ich weiß nicht, warum du mit niemandem sprichst...« Die Streifen verschwimmen und ich kann kaum noch erkennen, wo das Beige aufhört und das Weiß beginnt. »Aber ich könnte mir vorstellen, dass es ungeheuer anstrengend ist, nicht zu reden.« Ich sehe mich selbst rennen, nach der Schule. Das war anstrengend, zumindest am Anfang. Aber nach dem ersten Kilometer überkam mich dieses weiße Rauschen, so ähnlich wie ein Blackout, nur dass bei mir alles weiß wurde. Die Bäume und die Straße waren auf einmal verschwunden. Ich sah sie nicht mehr. Ich wusste nicht, ob es kalt war, wusste nicht einmal, wohin ich lief. Es war so, als hätte jemand mit einem riesigen Radiergummi alles um mich herum ausgelöscht. Manchmal vergaß ich sogar, dass ich rannte, und plötzlich sah ich ein Gebäude oder eine Straße, die ich nicht kannte, und mir wurde bewusst, dass ich zu weit gelaufen war. Das weiße Rauschen verschwand. Ich drehte mich um und rannte
heim, obwohl ich nie genau wusste, ob ich es noch bis nach Hause schaffen würde. »Es muss dich viel Kraft kosten«, sagst du. Ich blinzle. »Nicht zu reden, meine ich. Es ist bestimmt unheimlich ermüdend.« Ich beobachte die winzigen Staubpartikel, die langsam durch einen Sonnenstrahl schweben, und plötzlich fühle ich mich tatsächlich müde. Etwas in mir sackt zusammen, als ob eine Naht geplatzt wäre. Aber mein Gehirn gibt sich nicht geschlagen. Meine Mutter ist diejenige, die müde wird. Meine Mutter – und Sam. Meine Mutter ist müde, weil sie alles mit antibakteriellem Reiniger putzen und spezielle Gerichte für Sam zubereiten muss. Sie ist müde, weil die Fussel aus den Lüftungsschlitzen und Luftbefeuchtern gepuhlt werden müssen, damit Sam nicht wieder einen seiner Asthma‐Anfälle bekommt. Sie ist so erschöpft, dass sie sich manchmal den ganzen Tag lang ausruhen muss. Und Sam wird oft allein vom Aufstehen und Anziehen so müde, dass er nicht zur Schule geht, sondern wieder ins Bett. Das bedeutet, dass ich mucksmäuschenstill sein muss, wenn ich aus der Schule komme, damit sie nicht gestört werden. Man weiß nie, wie lange es dauert. Manchmal zehn Minuten, manchmal zehn Stunden. In diesem Fall muss ich dann das Putzen und Pulen übernehmen. Aber es hilft alles nichts. Sam bekommt trotzdem seine Anfälle. Und dann muss er ins Krankenhaus, vielleicht für ein paar Stunden, vielleicht für ein paar Tage. Was wiederum heißt, dass meine Mutter rund um die Uhr bei ihm bleibt, bis sie schließlich so müde ist, dass sie nach Hause kommen muss. Und wieder bin ich es, die putzt, wischt und sauber macht. Ich darf also nicht müde werden. »... du bist hier in einer Situation, in der du die meisten Dinge nicht kontrollieren kannst.« Ich schaue auf und es dämmert mir, dass du wahrscheinlich die ganze Zeit auf mich eingeredet hast. »Fast alles, was hier geschieht und was du hier tust, wird nicht von dir bestimmt, sondern von anderen – wann du aufstehst, wie oft du zur Gruppentherapie gehst, wie oft du zu mir kommst. Stimmt doch, oder?« Mir wird klar, dass du über den Idiotenhügel erzählst, deshalb widme ich mich wieder den Streifen auf der Tapete. »Manchmal, wenn wir uns in Situationen befinden, in denen wir uns hilflos fühlen und keine Kontrolle mehr über die Dinge haben, tun wir Sachen, die eine Menge Kraft kosten, nur um uns zu beweisen, dass wir noch ein Zipfelchen Macht besitzen.« Die Streifen auf der Tapete fließen ineinander.
»Aber, Callie.« Deine Stimme ist so leise, dass ich mit dem Zählen aufhören muss, um zu verstehen, was du sagst. »Du hättest so viel mehr Macht ... wenn du nur reden würdest.« Normalerweise versuche ich morgens als Letzte ins Badezimmer zu gehen. Auf diese Weise bleibt es mir erspart, die Mädchen so zu sehen, wie man aussieht, wenn man geträumt hat – ganz weich und traurig. Aber nachdem ich an diesem Morgen an Rochelle, der Aufsicht, vorbeigegangen bin, sehe ich Tara in ihrem Nachthemd und ihrer Baseballmütze vor dem Waschbecken stehen. Sie schminkt sich. Ich ziehe mich zu dem Waschbecken am anderen Ende des Raums zurück und quetsche umständlich und in Zeitlupe Zahnpasta auf meine Zahnbürste. Nach einer Weile rücke ich ein Stückchen zur Seite und stelle mich genau in den richtigen Winkel, um Tara in all den Spiegeln zu sehen. Ein Dutzend Spiegelbilder von Tara in einer Reihe. Tara, die ihre Baseballmütze abzieht. Tara, die behutsam einen Kamm an ihren Kopf führt. Tara, die sorgsam Strähnen von dünnem, farblosem Haar um eine kahle Stelle frisiert. Etwas an diesem bloßen Flecken Haut auf ihrem Kopf dreht mir den Magen um, sodass ich mich abwenden muss. »Meinst du, wir kommen noch rechtzeitig zum Frühstück?« Ich fixiere die Wassersäule, die aus dem Hahn schießt. Aus den Augenwinkeln sehe ich, dass Tara ihre Baseballmütze wieder aufgesetzt hat. Sie redet mit mir. »Wir sollten uns beeilen«, sagt sie. »Debbie meint, heute gibt's Pfannkuchen.« Taras Stimme ist erstaunlich tief und fraulich, wenn man bedenkt, dass sie nur sechsundvierzig Kilo wiegt. Letzte Woche in der Gruppentherapie hat sie verkündet, das sei neuer Rekord für sie. Ein paar von den Mädchen haben geklatscht. Sie hat geweint. Ich drehe den Wasserhahn voll auf und starre auf den Schwall, als ob er lebenswichtig für mich wäre. Ich kann Tara nicht mehr sehen, aber ich spüre, dass sie nur wenige Meter von mir entfernt steht und mich anschaut. Plötzlich habe ich ein schlechtes Gewissen, dass ich meine Schweigetherapie jemandem zumute, der nur sechsundvierzig Kilo wiegt und eine Baseballmütze tragen muss, um kahle Stellen auf dem Kopf zu verbergen. Das Rauschen des Wassers wird lauter, dann leiser, dann wieder lauter. Tara geht auf die Tür zu, wo Rochelle auf ihrem orangefarbenen Plastikstuhl sitzt und eine Zeitschrift liest. »Willst du wirklich, dass wir dich ignorieren?« Taras Stimme ist nicht sarkastisch oder aggressiv, nur neugierig.
Ich verbringe endlos viel Zeit damit, mir meine Zähne zu putzen. Schließlich geht sie. Heute ist Wäschewechsel. Alle Gäste müssen sich vor der Wäschekammer anstellen und die schmutzigen Bettlaken und Handtücher abgeben, die gegen neue ausgetauscht werden. Während des Wäschewechsels bemüht sich jeder um »angemessenes Verhalten«, wahrscheinlich weil Doreen, die Aufsicht, die Sache sehr ernst nimmt. Jede Woche hängt sie handgeschriebene Schilder an die Wände, auf denen jede Menge Großbuchstaben und Ausrufezeichen prangen. Bitte stellt euch RECHTS von der Helferin auf!!!!, steht auf einem. Und auf einem anderen Bitte haltet eure Wäsche BEREIT!!! Ich stehe am Ende der Schlange – RECHTS von der Helferin – und halte meine Laken und Handtücher BEREIT. Sydney und Tara reihen sich hinter mir ein. Anhand des Zigarettengeruchs vermute ich, dass sie gerade von der Raucherveranda kommen, wo sich die meisten Mädchen während der Pausen zwischen den Sitzungen aufhalten. »Hallo, S. T.« Wärme steigt in meine Wangen auf. Ich fühle mich mies, weil ich nicht mit Sydney rede, die mich immer begrüßt, als ob ich ein ganz normaler Mensch wäre. Ich halte meinen Rücken gerade und warte ab. »Diese Schilder sind wirklich irre«, sagt Sydney nach einer Weile. Ich entspanne mich ein bisschen, da sie sich offensichtlich mit Tara unterhält. »Das da finde ich am besten.« Ich kann nicht anders – ich muss einfach zuhören. »Die Gäste werden höflich gebeten, am Ende ihres Aufenthalts die Matratzenschoner auf dem Zimmer zu belassen.« Sydney liest Doreens Schild mit einer tiefen, formell klingenden Stimme vor. »Als ob jeder, der hier endlich rausdarf, sich überlegen würde: ›Hmm, was für ein Andenken könnte ich mir denn aus dem Idiotenhügel mitnehmen? Oh, ich weiß – einen Matratzenschoner!‹« Ich stelle mir vor, wie Doreen sich mit einem Gast ein Tauziehen wegen eines Matratzenschoners liefert. Ich kann sie förmlich vor mir sehen, wie sie den Alarmknopf drückt und sich dann auf dem Boden hin und her wälzt, um dem Dieb ihren heiß geliebten Matratzenschoner zu entreißen. Ein Kichern kriecht meine Kehle empor. Ich schlucke. Jetzt ist vor meinem geistigen Auge eine regelrechte Prügelei im Gange: Gäste, Helfer und Psychologen treten, spucken, beißen und boxen, um die Matratzenschoner zu retten. Ich beiße mir auf die Innenseiten meiner Wangen. Ich presse meine Fingernägel in meine Handballen. Aber es nutzt
nichts. Ich mache einen Satz vorwärts, aus der Reihe heraus, und renne zum Treppenhaus. »Was machst du da?«, schreit mir Doreen hinterher. »Das verstößt gegen die Regeln!« Hinter mir schlägt die Tür zu und ich befinde mich in der kühlen, abgeschotteten Welt des Treppenhauses. Ich nehme zwei Stufen auf einmal und trete dabei so fest auf, wie ich kann, um das seltsame, er‐ stickte Geräusch zu übertönen, das bei dem Versuch, nicht zu lachen, aus meiner Kehle dringt. Die Helferin, die an diesem Abend im Spielezimmer die Aufsicht hat, habe ich noch nie gesehen. Sie ist jung, fröhlich und ganz offensichtlich neu hier. Sie begrüßt mich mit einem »Hallo« und fragt, ob ich Scrabble spielen will. »Oder wie wär's mit Trivial Pursuit?«, schlägt sie vor. »Darin bin ich wirklich gut.« Ich ziehe die Vier‐gewinnt‐Schachtel aus dem Stapel hervor und setze mich mit dem Rücken zu ihr hin. Dann fange ich an, gegen mich selbst zu spielen. Ich imitiere Sams Strategie vom Querdenken und stecke willkürlich Spielsteine in die Reihen, anstatt mit meinem üblichen Eröffnungszug zu beginnen und meine langweiligen, geraden Reihen zu bauen. Nach einer Weile steht die lächelnde junge Helferin auf und geht weg, um sich an ihrem Schreibtisch mit einer anderen Helferin zu unterhalten. Durch die Glasscheibe behält sie mich im Auge. Schon bald ist das Spielgestell ein einziges Chaos aus gelben und roten Spielscheiben. Überall gibt es blockierte Reihen und nirgends ist mehr eine Möglichkeit in Sicht, eine Linie aus vier gleichen Steinen zu bekommen. Ich starre auf das Spiel – als plötzlich ein Schatten auf den Tisch fällt. Du stehst neben mir, gekleidet in einen langen, blauen Mantel und einen Schal, mit einer Geldbörse und einem Schlüsselring in der Hand, bereit für den Heimweg. Ich richte mich auf und erwarte das Urteil, warte auf deine Erklärung, dass du mich verlässt, dass du gekündigt hast, dass du mich aufgibst. Aber du sagst nichts. Das Zimmer wird wärmer und wärmer und die Minuten dehnen sich aus, drehen sich um die eigene Achse und falten sich ineinander, so wie sie es auch in deinem Büro tun. Du aber stehst nur da, tippst dir mit deinem Zeigefinger auf die Oberlippe und betrachtest das Spiel. Ich beschließe, so zu tun, als ob es mir egal wäre, dass du da stehst. Ich nehme eine rote Spielscheibe in die Hand, halte sie einen Moment über den mittleren Schacht, obwohl mir klar ist, dass das ein dämlicher Spielzug wäre. Ich bewege meine Hand zur Seite, halte über einem
anderen Schacht an, prüfe die Möglichkeiten und erkenne, dass auch dieser Zug ein Fehler wäre. Schließlich lege ich den Spielstein wieder auf den Tisch, lehne mich zurück und verstecke mich hinter meinen Haaren. Du verlagerst dein Gewicht von einem Fuß auf den anderen und ich erhasche einen Hauch von Parfüm. Es ist ein kühler, vertrauter Duft, ähnlich wie die Lavendelsäckchen, die meine Großmutter immer genäht hat. Du nimmst den roten Spielstein auf und lässt ihn in einen Schacht am Rand fallen. Und plötzlich erscheint eine diagonale Reihe aus vier roten Scheiben – überraschend und augenfällig zugleich. »So«, sagst du. »Ich glaube, das war die Lücke, nach der du gesucht hast.« Einen Moment lang ruht deine Hand auf meiner Schulter und mit einem Mal fühle ich mich schläfrig, so wie heute Nachmittag in deinem Büro. Dann bist du weg. Ich spiele nicht weiter. Ich sitze einfach nur da, bis der letzte Hauch von Lavendel verschwunden ist. Am nächsten Tag, nachdem alle von der Raucherveranda hereingekommen sind und wir unsere übliche Sitzordnung in der Gruppentherapie eingenommen haben, verkündet Claire, dass wir einen Neuzugang bekommen. Sie bittet darum, dass jemand einen zusätzlichen Stuhl holt. »Stell ihn dorthin«, sagt sie zu Sydney, »neben CaIIie.« Ich sitze still. Ganz still. Die Tür öffnet sich knarrend und das neue Mädchen kommt herein. Sie ist winzig, hat schwarz gefärbte Haare, die sie mit einer Kleinmädchenspange zurückgesteckt hat, rot bemalte Lippen und die blasseste, weißeste Haut, die ich je gesehen habe. Sie trägt ausgefranste Jeans und ein Sweatshirt. Claire deutet auf den leeren Platz neben mir und bittet sie, sich hinzusetzen. Das Mädchen lässt sich in den Stuhl sinken, packt den Sitz mit beiden Händen und rutscht mit den Beinen hin und her, sodass ihre Füße über den Boden schaben, während sie versucht, es sich bequem zu machen. Ihr Stuhl stößt gegen meinen und es geht mir durch und durch. »Hups«, sagt sie. Claire fragt, ob irgendjemand aus der Gruppe die Vorstellung übernehmen will, aber es scheint so, als ob plötzlich alle schüchtern geworden sind. Daher nennt Claire selbst die Namen der Mädchen in der Runde, aber nicht den Grund, warum sie hier sind. Das neue Mädchen sagt ihren Namen so schnell, dass ich nicht richtig mitbekomme, ob sie Amanda oder Manda heißt. Dann, als niemand den Mund aufmacht, sagt sie: »Mensch, ist es heiß hier drin.«
Claire fragt Amanda/Manda, ob sie uns sagen möchte, warum sie hier im Idiotenhügel gelandet ist. Amanda/Manda zieht ihr Sweatshirt aus. Ich spüre jede ihrer Bewegungen durch meinen Stuhl hindurch. Die Gruppe atmet hörbar ein. Debbies Hand liegt auf ihrem Mund und die anderen Mädchen starren die Neue fassungslos an. Ihr Sweatshirt liegt auf dem Boden und sie sitzt da in ihrem dünnen weißen Unterhemd, die Arme weit ausgestreckt, damit jeder das Muster von Narben sehen kann, die sich kreuz und quer über ihre Haut ziehen: Narben, die in parallelen Geraden zu ihren Ellenbogen hinablaufen, sich überkreuzende Linien, stumpfe Winkel. Über ihren Handgelenken sind Worte eingeritzt. Das rosafarbene Gewebe auf einem Arm liest sich: »Das Leben«. Auf dem anderen Arm steht: »ist scheiße«. Ich ziehe meine Ärmel bis zu den Daumen hinab und umklammere den Stoff. »Ich gehöre eigentlich gar nicht hierher«, sagt sie. »Irgend so ein übereifriger Lehrer dachte, ich würde versuchen, mich umzubringen.« Eine kurze Unruhe kommt auf, dann herrscht wieder Stille. »Und, stimmt das nicht?«, fragt Sydney schließlich. »Quatsch, natürlich nicht«, versetzt Amanda/Manda. »Warum machst du es dann?« »Keine Ahnung«, erklärt sie. Und ohne zu zögern fährt sie fort: »Mangelndes Selbstwertgefühl. Übergroße Impulsivität. Unterdrückte Aggressionen. Stimmt's?« Dabei blickt sie in Claires Richtung. Claire gibt keine Antwort und Amanda/Manda wendet sich wieder Sydney zu. »Weißt du, ich verstehe einfach nicht, warum die Leute nicht kapieren, dass ich nichts anderes mache als jemand, der sich die Zunge piercen lässt. Oder die Lippe. Oder die Ohren, Herrgott nochmal! Es ist schließlich mein Körper.« Sie lässt ihren Blick durch die Runde wandern. Niemand rührt sich. »Es ist Körperschmuck. Genauso wie Tätowierungen.« Sie redet weiter, als wäre sie mitten in einer Unterhaltung und müsste den anderen erklären, wie die Dinge laufen. Gerade so, als wären wir die Neuen, nicht sie. »Immerhin noch besser, als sich die Fingernägel bis aufs Blut abzukauen. Ich meine, diese Irren essen doch tatsächlich ihr eigenes Fleisch! Die sind doch nicht besser als Kannibalen.« Tiffany, die an den Nägeln knabbert, bis tatsächlich das rohe Fleisch zu sehen ist, setzt sich auf ihre Hände. »Ich kapier einfach nicht, warum sich jeder so aufregt. Wir alle haben doch das Recht auf unsere eigenen Ausdrucksformen, oder nicht?«
Ich reibe den Saum meines Ärmels zwischen meinen Fingern. In weiter Entfernung hört man das wütende Gebell eines Hundes. Amanda/Manda erzählt über einen Artikel, den sie in einer Zeitschrift gelesen hat. Ich drehe meinen Kopf ein winziges Stückchen zur Seite, um sie besser zu hören. »Wisst ihr, dass man früher Leute zur Ader gelassen hat?«, fragt sie. »Man hat ihnen Unmengen von Blut abgezapft, wenn sie krank waren. Das wirkt wie ein Endorphinstoß.« »Und ...« Alle Köpfe drehen sich zu Claires Stimme hin. »Fühlst du dich dann besser?« »Na klar.« Amanda/Manda rutscht auf ihrem Stuhl hin und her. »Es ist absolut toll. Man fühlt sich auf einmal wunderbar, egal wie mies man vorher drauf war. Fast wie ein Trip. Als ob man plötzlich spürt, dass man lebt.« »Und du willst es wieder tun, nicht wahr?«, fragt Claire. Meine Finger sind schon ganz taub, so fest zerdrücke ich den Stoff des Ärmels. »Ja. Na und?« »Lass es mich anders formulieren«, sagt Claire langsam. »Du musst es wieder tun.« Das neue Mädchen beugt sich vor. Ihre Augen schießen Blitze ab. »Blödsinn! Ich doch nicht!«, sagt sie. »Ich kann es kontrollieren. Ich hab immer alles im Griff.« Sie verschränkt ihre Arme vor ihrem Körper. Ihr Ellenbogen stößt gegen meinen. Ich mache einen Satz zur Seite. »Was ist mit dir, Callie?« Claires Stimme ist laut. »Kannst du es kontrollieren?« Es wird totenstill. Debbie vergisst sogar, schmatzend auf ihrem Kaugummi herumzukauen. Der Hund hört auf zu bellen. Irgendwo am anderen Ende des Flurs klingelt ein Telefon, einmal, zweimal, dreimal. Dann nimmt jemand ab und eine unsichtbare Stimme spricht in den Hörer. »Callie?« Ich spüre, wie sich das neue Mädchen zur Seite dreht und mich anschaut. Ich nicke. Und dann spüre ich, wie alle tief ausatmen. Den Rest der Sitzung verbringe ich damit, die Nähte auf meinen Turnschuhen zu betrachten. Ich hasse diese Amanda/Manda, ich hasse Claire, ich hasse diesen ganzen, verdammten Idiotenhügel. Denn jetzt weiß jeder, warum ich hier bin. Später sitze ich auf meinem Platz beim Abendessen, ganz am Ende des rechteckigen Tisches, und kaue jeden Bissen mindestens zwanzigmal
durch. Auf diese Weise brauche ich mit dem Essen genauso lange wie alle anderen, die dabei miteinander reden. Die anderen Mädchen haben sich abgewandt und diskutieren über irgendeine Unterschriftensammlung. Sydney sagt, sie will gebratenes Fleisch. Tara schlägt kalorienarmen Joghurt vor. Bei der Unterschriftensammlung scheint es sich also um das Essen zu drehen. Becca erklärt, sie will Croutons ohne Gluten, was immer das auch ist. »Wie wär's mit einer Eistheke?«, fragt Debbie. »So ähnlich wie ein Salatbüffet. Man kann sich so viel nehmen, wie man will.« »Aber sicher«, spottet Tiffany. »Das ist genau das, was du brauchst.« »Ich hab doch nur Spaß gemacht!«, sagt Debbie. »Was willst du denn?«, fragt eine Stimme, die ich nicht sofort erkenne. Es ist die Stimme des neuen Mädchens. Als ich hochschaue, sehe ich, dass sich alle Köpfe in meine Richtung gedreht haben. Zwei Reihen von Köpfen. Der Anblick erinnert mich plötzlich an ein Buch, das mir meine Großmutter geschenkt hat, als ich klein war. Es war die Geschichte von Madeline, einem kleinen französischen Mädchen, das mit zwölf anderen kleinen Mädchen in zwei geordneten Reihen lebte. Ich nehme meinen Plastiklöffel in die Hand und errichte damit einen Berg aus Kartoffelbrei auf meinem Teller. »Wir wissen nichts über sie«, erklärt Debbie. »Sie spricht nicht.« Ich glätte eine Seite des Berges zu einer Skiabfahrt und quetsche dann den ganzen Berg wieder flach. Die anderen Mädchen fahren mit ihrem Gespräch über die Unterschriftensammlung fort und ich beschließe, dass ich fertig bin mit dem Abendessen, dass es Zeit ist, mein Tablett auf das Fließband zu stellen, wo es zusammen mit all den anderen schmutzigen Tellern, Tassen und Essensresten durch ein Fenster fährt und in der Küche verschwindet. Ich stehe auf und versuche mich zwischen den Stühlen an unserem Tisch und denjenigen am Nebentisch hindurchzuzwängen. Der Zwischenraum ist eng und ich halte mein Tablett in die Höhe, damit ich niemanden anstoße. Ich komme ohne Probleme an Sydney und Tara vorbei. Als ich bei dem neuen Mädchen angelangt bin, schaukelt sie in ihrem Stuhl zurück und ich stoße mit dem Zeh gegen ihr Stuhlbein. Aus meinem Glas schwappt Milch und spritzt auf den Rücken ihres Sweatshirts. »Mensch!« Sie spuckt das Wort förmlich hervor. »Kannst du nicht aufpassen?« Sie wischt ihr Sweatshirt mit einer Papierserviette ab. Alle schauen mich an, sechs kranke Mädchen in zwei geordneten Reihen, und warten ab, was ich tun werde. Irgendwie gelingt
es mir, durch den Ozean aus Tischen und Stühlen und noch mehr Stühlen hindurchzunavigieren, bis ich schließlich vor dem Fließband stehe. Die Aufsicht im Speisesaal, eine korpulente Frau, die neben den Mülleimern sitzt und aufpasst, wie viel Essensreste die magersüchtigen Mädchen übrig lassen, wirft mir einen verärgerten Blick zu und widmet sich dann wieder ihrem Buch. Am anderen Ende des Saals fällt klirrend ein Teller zu Boden, begleitet von dem üblichen Applaus. Die Aufseherin steht auf, legt ihr Buch mit dem Rücken nach oben auf den Stuhl und holt einen Besen und eine Kehrschaufel, damit das Mädchen, das den Teller fallen gelassen hat, die Scherben aufkehren kann. Ich stehe vor dem blauen Mülleimer, auf dem Recycling steht, und betaste die Kante meines Aluminiumtellers. Ich weiß genau, dass mich niemand beachtet. Ich muss nur den Teller in zwei Hälften zerreißen, um eine schöne, scharfe Schneide zu bekommen. Das Geklapper des Geschirrs und die Gesprächsfetzen sinken zu einem leisen Rauschen ab, während ich die dünne, unglaublich leichte Aluminiumscheibe in meiner Jackentasche verschwinden lasse. Endlich bin ich ruhig, weil ich jetzt habe, was ich brauche, selbst wenn ich es nicht benutzen sollte. An diesem Abend wälzt sich Sydney fast eine Stunde lang im Bett hin und her und kämpft mit ihrer Bettdecke. Ich liege auf dem Rücken und zähle die Sekunden, bete, dass sie endlich einschlafen möge, damit ich dem leisen Geräusch ihres Ein‐ und Ausatmens lauschen kann – und selbst dabei einschlafe. Sie rollt sich auf die Seite und schaut in meine Richtung. »Callie?«, flüstert sie. Der Abstand zwischen unseren Betten beträgt höchstens fünfzig Zentimeter. Ich halte den Atem an und tue so, als würde ich schlafen. »Callie? Callie«, sagt sie. »Machst du es immer noch?« Ich liege sehr still. »Ich meine ... du weißt schon – schneidest du dich immer noch?« Auf dem Korridor höre ich das Quietschen von Rubys Schuhen. Sie macht ihre Runden, und der Lautstärke des Geräuschs nach zu urteilen, ist sie noch vier Türen weit entfernt. Ich versuche aus dieser Tatsache eine mathematische Gleichung zu machen: Wenn Rubys Schuhe alle 2,5 Sekunden quietschen und sie noch vier Türen weit weg ist, wie lange dauert es dann, bis sie unser Zimmer erreicht?
»Hör zu, Callie.« Sydney bläst hörbar die Luft aus ihren Lungen, genauso wie sie es tut, wenn sie in der Gruppentherapie eine imaginäre Zigarette raucht. »Es stört mich nicht, dass du nicht redest.« Nur noch ein paar Quietscher und Ruby steht vor unserer Tür. Sollte eines der Mädchen nicht schlafen, wenn Ruby in die Zimmer schaut, muss es Schlaftabletten nehmen. Alle fürchten sich vor diesen Tabletten, sogar die Gäste mit Suchtgefährdung. Sydney seufzt. »Nur ... na ja, nur bitte tu dir nicht weh.« Tränen, warm und unerwartet, brennen in meinen Augenwinkeln, aber ich weine nicht. Sam weint. Meine Mutter weint. Ich nicht. Ich rolle mich auf die Seite, als Ruby vorbeikommt. Vor unserer Tür hält sie einen Moment lang an – eine kurze Unterbrechung in dem stetigen Quietsch, Quietsch ihrer Schuhe. Dann geht sie weiter. Und nach einer Weile muss wohl Sydney doch eingeschlafen sein, denn endlich höre ich das regelmäßige Ahh – Hah ihres Atems. Als wir am nächsten Tag auf dem Weg in dein Büro sind, räuspert sich Ellen auf einmal. Sie legt die Hand über ihren Mund und erklärt dann, dass sie mir etwas sagen muss. Dies sei der letzte Tag, an dem sie mich begleitet. Ihre Stimme klingt klein und wackelig. »Ich werde entlassen«, sagt sie. »Morgen.« Sie lächelt ein einstudiertes Lächeln und plötzlich fällt mir einer von Dads Lieblingswitzen ein – ein besonders dämlicher: Vater, Mutter und Tochter Ellen fahren mit ihrem brandneuen Auto in Urlaub. Nach einer Stunde fragt die Kleine: »Papa, wie lange fahren wir noch?« Sagt der Vater: »Ellenlang.« »Kapiert ihr's?«, grinst dann mein Vater. »Ellenlang.« Die Zeit im Idiotenhügel wird mir ellenlang vorkommen, wenn sie weg ist. Ich würde Ellen das gerne sagen und ihr diesen Witz zum Abschiedsgeschenk machen. Aber dann ist sie weg und ich sitze neben dem UFO – allein, einsam und ellenlang, wie es mir scheint – und frage mich, wie sie es schaffen konnte entlassen zu werden, ohne dass man irgendeine Veränderung an ihr erkennt. Du runzelst deine Stirn und bittest mich, dich einen Moment lang anzuschauen. Ich blicke an dir vorbei aus dem Fenster. Draußen auf dem Baum, auf der Spitze eines Astes, sitzt ein Eichhörnchen. »Callie«, sagst du leise. »Ich möchte, dass du darüber nachdenkst, ob du weiter zu mir kommen willst.« Das Eichhörnchen knabbert an seiner Nuss, schaut sich misstrauisch um und widmet sich dann wieder seiner Mahlzeit.
»So, wie es jetzt läuft – du sitzt jeden Tag hier und zählst die Streifen an der Tapete und ich schaue dir dabei zu –, das hilft dir nicht im Geringsten.« Das Eichhörnchen erstarrt. Der Zweig zittert leicht, als sich ein zweites Eichhörnchen von hinten nähert. »Und Callie – ich glaube fest daran, dass du eigentlich willst, dass dir geholfen wird.« Die Eichhörnchen sind weg, aber der Zweig schwankt immer noch. Ich riskiere einen Blick auf dich. Mir fällt auf, dass du hübsch bist, jung und hübsch. Du hast deine Hände um deine Knie geschlungen, als wären wir zwei Freundinnen, die zusammen in einem Eiscafé sitzen und miteinander schwatzen. Ich schaue wieder auf die Tapete und fange an, die Streifen zu zählen. Nach einer Weile höre ich deinen Kuhledersessel aufstöhnen. Du seufzt. »Okay«, sagst du. »Das ist alles für heute.« Die Uhr besagt, dass unsere Sitzung eigentlich noch fünfzig Minuten lang dauern sollte. Aber du hast bereits deinen Kuli eingesteckt und deinen Notizblock zugeklappt. Einen Moment lang lasse ich meine Hand auf deinem Türgriff liegen. Ich stehe vor deinem Büro und frage mich, was ich jetzt tun soll. Es gibt niemanden, der mich begleiten und auch keinen Ort, zu dem mich meine Begleitung bringen könnte. Ich stelle mir vor, wie du auf der anderen Seite der Tür stehst und die Akte mit meinem Namen darauf zuklappst, wie all die leeren Seiten aus deinem Notizblock, die du an all den Tagen, an denen ich zu dir kam und die Tapete anstarrte, unbeschrieben gelassen und gesammelt hast, in den Papierkorb wandern. Und da dämmert es mir, dass ich allein bin – wirklich allein –, zum ersten Mal, seit ich hier bin, allein. Ich lasse den Türgriff los und entferne mich von deiner Tür, erst langsam, dann immer schneller. Ich gehe den Flur entlang, ohne zu wissen, wohin. Ich gehe einfach weiter. An der Abstellkammer vorbei und an einer Tür mit einem großen, roten Riegel, auf der steht Nur im Notfall benutzen. Ich frage mich, ob der Alarm losgeht, wenn ich sie öffne, ob ich dann wie ein entflohener Sträfling gejagt würde. Ob Doreen ihre Handtücher und die Bettwäsche fallen lassen und Taschenlampen verteilen würde, ob die anderen Mädchen aus ihren Zimmern stürzen und fragen würden, was los ist. Aber meine Füße tragen mich an dem Notausgang vorbei und ich neh‐ me denselben Weg zurück, den ich vor ein paar Minuten mit Ellen zusammen gegangen bin, zurück in den Arbeitsraum.
Doch die Tür ist verschlossen. Nirgends hängt ein Hinweisschild. Dann fällt es mir ein: Natürlich ist der Arbeitsraum abgeschlossen. Die Unterrichtszeit ist vorbei. Alle Gäste befinden sich in Einzel‐, Wut‐ oder Kunsttherapie. Alle außer mir. Am anderen Ende des Korridors höre ich Schlüssel klappern. Marie, die tagsüber die Aufsicht über die Waschräume hat, nimmt gerade ihre Position auf dem orangefarbenen Stuhl ein. Ich gehe auf sie zu und tue so, als ob nichts geschehen wäre. Sie wirft mir nur einen kurzen Blick zu, als ich an ihr vorbeigehe. Sie fragt mich weder, was ich ohne Begleitung hier tue, noch, warum ich überhaupt hier bin, wenn ich doch woanders sein sollte. Ich gehe in eine Toilettenkabine am Ende des Raums und stelle mich mit dem Gesicht zur Toilettenschüssel hin. Ich umschließe mit meinen Fingern den Griff der Wasserspülung und stelle mir vor, wie ich mit einem imaginären Mikrophon in der Hand einen Radiosprecher imitieren würde: »Test. Test. Eins, zwei. Test, Test.« Der Griff ist kalt und feucht. Ich wische meine Hand an meiner Jeans ab. Ich hoffe inständig, dass die Toilettenspülung genug Lärm machen wird. »Dies ist ein Test«, sagt der Radiosprecher. »Nur ein Test.« Ich räuspere mich und rüttele an dem Griff. »Alles in Ordnung da drin?«, ruft Marie. Ich packe den Griff fester. »Ich sagte, ist alles in Ordnung da drin?« Ich höre, wie der Stuhl über den Boden schabt, als Marie aufsteht. Ich drücke den Griff nach unten. Aus den Tiefen der Toilettenschüssel steigt ein lautes Dröhnen empor. Ich beuge mich vor, als müsste ich mich übergeben, aber es kommt nichts raus. Fünfundvierzig Minuten ist eine sehr lange Zeit. Man kann sie in neun Abschnitte von je fünf Minuten teilen, fünf Abschnitte von neun Minuten, drei Abschnitte von fünfzehn Minuten, fünfzehn Abschnitte von drei Minuten oder zwei Abschnitte mit je zweiundzwanzigeinhalb Minuten. Das heißt, natürlich nur, wenn man eine Uhr hat. Wenn man sich aber während dieser Zeit in der Wäschekammer versteckt und auf das Geräusch von Schritten im Stockwerk darüber lauscht, an denen man erkennen kann, dass die Gäste ihre Therapiesitzungen – Kunst‐, Wut‐ oder Einzeltherapie – beendet haben, muss man aufpassen, damit man genau den richtigen Zeitpunkt erwischt, nicht zu früh und nicht zu spät, um pünktlich zur Gruppentherapie aufzutauchen und seinen Platz einzunehmen, ohne dass jemand bemerkt, dass man überhaupt fort war.
Als ich den Arbeitsraum in Richtung Speisesaal verlasse, um zum Abendessen zu gehen, kommt mir Tara mit einem Strauß Tulpen entgegen. Die Blumen, die in ihren kleinen, dünnen Armen riesig aus‐ sehen, tropfen, obwohl sie eine Hand unter die Stiele hält. Ich überlege, ob ich mich umdrehen und in den Arbeitsraum zurückgehen soll, als ob ich etwas dort liegen gelassen hätte, aber Tara spricht mich an. »Das ist doch nicht zu fassen!«, sagt sie. »Sie haben die Vase aus dem Besuchszimmer weggenommen. Glas.« Im Idiotenhügel ist es uns nicht erlaubt, irgendwelche »scharfen« Gegenstände zu besitzen ‐ weder Glas noch Reißzwecken, auch keine CDs, keine Kulis und keine Rasierklingen. Sydney hat einmal einen Witz darüber gemacht: Sie meinte, dass der einzige Unterschied zwischen den Helferinnen und den Gästen der ist, dass die Gäste haarige Beine haben. Tara bleibt ein paar Schritte vor mir stehen. Meine Füße bremsen ebenfalls ab. »Hier«, sagt sie. Sie zieht eine Blume aus dem Strauß und hält sie mir entgegen, genauso, wie Sam mir seine Genesungskarte entgegengehalten hat. Und dann, bevor ich sie nehmen oder ablehnen kann, legt sie die Blume auf mein Mathe‐Übungsbuch. Sie spaziert an mir vorbei und summt leise vor sich hin. Es kostet mich ungeheure Kraft, mich wieder in Bewegung zu setzen. Sydney und ich sitzen nach dem Abendessen auf unseren Betten und lernen. Plötzlich klopft es an unseren türlosen Türrahmen. Das neue Mädchen steht da. Sie trägt ein ärmelloses Top, abgeschnittene Jeans und Sandalen. Mir wird kalt, allein schon bei ihrem Anblick. »Es ist für dich«, sagt sie und deutet mit ihrem Kinn in meine Richtung. Ich habe keine Ahnung, was sie meint. Hat sie sich wegen mir so angezogen? Damit ich sie anstarre? Damit mir kalt wird? »Das Telefon«, erklärt sie. »Es ist für dich.« Sie wendet sich zum Gehen, dann bleibt sie stehen. »He, wie redest du mit jemandem am Telefon, wenn du gar nicht redest? Wie soll der andere überhaupt wissen, dass du am Apparat bist?« Meine Wangen werden heiß. Ich lege mein Mathebuch zur Seite, stehe von meinem Bett auf und folge ihr den Flur entlang. Dabei zähle ich, wie oft ihre gelben Sandalen klatschend auf dem grün glänzenden Linoleumboden aufschlagen. Sie bleibt einen Moment stehen, bevor sie in ihr Zimmer zurückgeht, das sich direkt neben der Telefonkabine befindet. »Keine Angst«, sagt sie. »Ich werde nicht belauschen, was du nicht sagst.«
Ich setze mich auf den kleinen, geschwungenen Sitz in der Telefonzelle und greife mit der Hand nach der Tür, um sie zu schließen. Aber da ist keine Tür. Manchmal vergesse ich, dass es hier keine Türen gibt. Ich nehme den Telefonhörer in die Hand, der noch warm ist vom Griff des letzten Gastes, der hier telefoniert hat. Ich starre auf die konzentrischen Kreise aus kleinen Löchern in der Sprechmuschel. Vom anderen Ende tönt mir die Stimme meiner Mutter entgegen, wie aus weiter Ferne und doch hörbar hoffnungsvoll. »Callie? Bist du dran?« Ich halte den Atem an. Im Hintergrund sind Geräusche aus der Küche zu vernehmen, das Rumpeln der Geschirrspülmaschine, das Klappern einer Schranktür. »Ach je«, sagt sie und senkt ihre Stimme etwas, als würde sie zu sich selbst sprechen. »Wie soll ich denn wissen, ob du überhaupt da bist?« Mein Rückgrat versteift sich. Dies waren genau dieselben Worte, die das neue Mädchen benutzt hat. Ich rutsche ein wenig auf dem Sitz hin und her. Dann huste ich. »Nun ja, ich hoffe, du bist dran, Callie, denn ich muss mit dir reden.« Sie wartet einen Augenblick und seufzt dann auf. »Also gut. Sie behaupten, dass du dich der Therapie widersetzt.« Ich wechsele den Telefonhörer in die andere Hand und wische mir die Handfläche an meinem Hosenbein ab. »Sie nennen das ... irgendetwas mit Verweigerung. Ja, Verweigerungsverhalten.« Verweigerungsverhalten. Das hört sich so vorsätzlich an, so absichtlich. »Hörst du mir zu?« Ohne es zu wollen nicke ich und vergesse völlig, dass meine Mutter es sowieso nicht sehen kann. »Sie sagen, dass sie dich vielleicht heimschicken müssen.« Der Türrahmen der winzigen Telefonzelle zittert. Er verengt sich und weitet sich wieder. Meine Mutter redet weiter und erklärt mir, dass die Verantwortlichen des Idiotenhügels mein Bett frei machen wollen, um es jemand anderem zu geben. Jemand, der bereit ist mitzuarbeiten. Jemand, der Hilfe will. Der Boden der Telefonzelle schleudert sich nach oben und schwimmt weg. Jetzt sagt sie etwas über die Schule. »Sie wollen dich nicht zum Unterricht zulassen«, meint sie. »Nicht, solange du die Therapie nicht beendet hast.« Ich halte den Telefonhörer von meinem Ohr weg. Die Stimme meiner Mutter wird kleiner, leiser, wie bei einem Ferngespräch – kostet uns eine Stange Geld ... dein Vater wird einen Herzanfall bekommen ... verstehe
nicht, warum ... –, bis die Leitung schließlich tot ist und nur noch ein leises Surren ertönt. Als ich die Telefonzelle verlasse, ist der Boden nicht dort, wo er hingehört. Wie wenn man einen Bordstein heruntersteigt und der Fuß plötzlich ins Leere tritt. Ich fühle mich so, als ob ich, ohne es zu merken, von einem Bordstein heruntertrete und mein Fuß mit voller Wucht nicht den erwarteten Untergrund, sondern nur die Luft trifft. Ich packe den Tür‐ rahmen und zwinge mich, zu meinem Zimmer zurückzugehen. Aber der Flur schimmert wie Asphalt an einem heißen Sommertag. Glitschige grüne Linoleumquadrate bäumen sich vor mir auf und gleiten dann unter meinen Füßen hinweg. Vor mir befindet sich eine Steigung, ein Linoleum‐Hügel, ein Hügel, dessen Ersteigung mich zum Umfallen erschöpft und der plötzlich, ohne Vorwarnung, zu einem Tal abfällt, einem langen, tiefen Graben im Flur, zwischen der Telefonzelle und meinem Zimmer. Die Lichter sind gelöscht und Sydney schläft schon, als ich schließlich ankomme. Ich steige sofort ins Bett und ziehe mir die Decke bis zum Kinn hoch, obwohl ich von meinem Weg von der Telefonzelle hierher schweißgebadet bin. Mein Hemd und meine Hose knüllen sich unter der Decke zusammen. Ich zerre mein Hemd hin und her, bis es wieder richtig sitzt, gebe aber nach einer Weile den Kampf mit meiner Hose auf. Ich versuche mich auf Sydneys Atem zu konzentrieren, aber es hilft nichts. Ich wälze mich auf die andere Seite. Mein Hemd verheddert sich um meine Brust. Ich drehe mich wieder um und ziehe es gerade. Ich drehe mich in die eine Richtung, das Zimmer in die andere. Ich stelle mir vor, dass mein Bett, das Bett, das man jemand anderem geben will, durch eine riesige Falltür nach unten stürzt. Dann höre ich Rubys Schritte, die sich unserer Tür nähern. Plötzlich steht alles wieder an seinem Platz. Das Rollen und Schlingern hört auf. Dann geht sie weiter. Bevor der Boden wieder anfangen kann zu schlingern, zerre ich die Decke weg und lasse mich aus dem Bett gleiten. Ich kauere mich nieder und hebe die Matratze mit der einen Hand an, während ich mit der anderen darunter taste. Die Matratze ist unerwartet schwer. Mein Arm zittert und knickt unter der Last ein. Dann fühle ich es. Ganz unten, fast am Fußende, liegt der Aluminiumteller. Ich recke mich, packe ihn und lasse die Matratze mit einem Plumps fallen. »Huh?« Sydney setzt sich im Bett auf. Ihre Augen sind halb offen. Ich erstarre.
Sydney fällt auf ihr Kissen zurück, seufzt und kuschelt sich ein. Bald schön höre ich sie wieder regelmäßig atmen. Ich gehe ins Bett zurück. Meine Bewegungen sind jetzt ruhig und überlegt. Ich lege mich auf den Bauch und ziehe mir die Decke über den Kopf. Unter dem schwarzen Deckenzelt falte ich den Teller in der Mitte und drücke ihn flach. Ich biege ihn hin und her, hin und her, so systematisch, als ob ich ei‐ ner Betriebsanleitung folgen würde. Schließlich wird der Knick brüchig. Als ich den Teller auseinander reiße, gibt das Material leicht nach und ich hal‐ te zwei Hälften in den Händen, jede mit einer gezackten Kante. Ich lege meinen Zeigefinger leicht auf die Kante der einen Tellerhälfte, um ihre Schärfe zu prüfen. Sie ist rau, genau richtig. Ich lege sie an die Innenseite meines Handgelenks und drücke zu. Ein Kitzeln kriecht über meine Kopfhaut. Ich schließe meine Augen und warte. Aber nichts passiert. Ich spüre keine Erleichterung. Nur ein komisches Ziehen. Ich öffne meine Augen und schlage die Decke leicht zur Seite. Ein diffuses Licht fällt in mein Zelt. Die Haut an meinem Handgelenk liegt in Falten und wird an einem Ende von der zackigen Kante eingeklemmt. Ich ziehe sie in die andere Richtung und spüre das dumpfe Pochen meiner Pulsader. Ich halte den Atem an und presse die Schneide tiefer. Sie sinkt problemlos ein. Eine plötzliche Hitze überschwemmt meinen Körper. Der Schmerz ist so scharf, so unmittelbar, dass mir der Atem stockt. Ich spüre immer noch keine Euphorie, keine Erleichterung. Nur Schmerz, einen durchdringenden, pulsierenden Schmerz. Ich lasse die Tellerhälften fallen und umfasse mein Handgelenk mit meiner anderen Hand. Wie im Traum wird mir bewusst, dass ich das noch nie getan habe. Ich habe niemals versucht, das Blut zu stillen, habe mich nie eingemischt. Es hat noch niemals zuvor wehgetan. Und es hat noch niemals zuvor versagt. Ich ziehe meine Hand einen Moment weg und wische mir den Unterarm an meinem Hemd ab. Das Blut stockt für einen Augenblick und fängt dann wieder an zu fließen. Ich packe erneut das Gelenk und versuche das Pochen und die Schweißtropfen auf meiner Stirn und meiner Oberlippe zu ignorieren. Dann schaue ich nach unten und sehe Blut zwischen meinen Fingern hervorrinnen. Zischend durchfährt es mich wie ein Stromstoß, weiße, heiße Energie. Und plötzlich bin ich aus dem Bett, aus der Tür und fange an zu laufen. Ich denke an gar nichts, laufe einfach los. Den Flur entlang, um die Ecke zu Rubys Schreibtisch. Ich halte meinen Arm ausgestreckt vor meinen Körper, wie eine Opfergabe.
»Ach, Kind!«, sagt Ruby, als sie mich sieht. »Ach, liebes Kind.« Sie verschwendet keine Zeit, sondern greift hinauf in das Regal und holt den Erste‐Hilfe‐Kasten hervor. Gleichzeitig nimmt sie meine Hand. All dies geschieht mit einer einzigen, fließenden Bewegung. Sie zieht eine Mullbinde und etwas Watte aus dem Kasten, wäscht mir das Blut ab und reinigt den Schnitt mit einer Lösung. Es brennt, zumindest im ersten Moment, doch dann lässt das Pochen nach. Ich sehe, dass der Schnitt nicht besonders tief geht, dass er nicht schlimmer ist als all die anderen, und frage mich, warum er so blutet. Warum ich ihn Ruby gezeigt habe. »Das blutet ganz schön«, sagt sie und drückt ein Stück Watte auf die Wunde. »Aber es ist nicht tief. Es muss nicht genäht werden.« Sie umschließt mit ihren beiden Händen mein Gelenk, als würde sie beten, und zieht meine Hand an ihre Brust, so nah, dass ich das Heben und Senken ihres Atems spüren kann. Sie drückt mit einer solch sicheren und stetigen Kraft zu, dass die Blutung kurze Zeit später aufhört und der Schmerz abebbt. Schließlich lässt sie meine Hand sinken, legt ein neues Stück Watte über den Schnitt, wickelt mit einem Dutzend schneller Bewegungen eine Binde darum und befestigt das Ende mit zwei Streifen Klebeband. Eine Weile stehen wir da und begutachten ihr Werk. Dann setzt sich Ruby auf ihren Stuhl, wobei sie eine Hand auf die Armlehne stützt, um ihr Gewicht abzu‐ fangen. Sie stößt einen Seufzer aus. Mein Körper fühlt sich plötzlich so leicht an, so federleicht, dass ich fast glaube, ich könnte davonschweben. Ich sehe mich selbst als einen riesigen Luftballon, der hinaufgleitet, immer höher, weg von Rubys Schreibtisch, höher und höher, bis weit über den Idiotenhügel hinaus. Ich muss mich hinsetzen. Ruby beugt sich vor, nimmt meine Hände und zieht sie zu sich in den Schoß. »Du hast dir selbst einen ganz schönen Schreck eingejagt, nicht wahr?«, sagt sie. In dem schwarzbraunen Mittelpunkt von Rubys Augen sehe ich mein winziges, verängstigtes Spiegelbild. »Warum tust du dir das an?« Unsere Hände, kalkweiß und kakaobraun, liegen eng umschlungen in Rubys Schoß. Der Stoff ihres Kittels ist vom vielen Waschen ganz weich geworden. »Hmmm?«, sagt sie, als ob ich etwas gesagt hätte, das sie nicht genau verstanden hätte. »Warum sagst du uns nicht, was dich bedrückt?«
Ich überlege kurz, ob ich meine Hände aus ihrem Griff befreien soll, aber das würde zu viel Kraft kosten. Plötzlich bin ich müde, sehr müde. Ruby seufzt. »Was immer es ist, Liebes, es kann nicht mehr wehtun als das da.« Ruby bringt mich in mein Zimmer zurück. Ihr Arm liegt um meine Taille. Diesmal kümmert es mich nicht, wie viel Abstand ich von ihr halten soll. Ich lasse mich einfach gegen sie sinken. Sie erklärt mir, dass ich Glück gehabt hätte. Der Schnitt sei nicht tief und möglicherweise müsse ich eine Tetanusspritze bekommen. Außerdem müsse sie den Vorfall melden. »Das ist so Vorschrift hier«, sagt sie. Es dämmert mir, dass man mich nach Hause schicken oder im Knaller einsperren könnte. Ich wünschte, Ruby würde mir noch mehr von ihren Weisheiten erzählen oder wenigstens erklären, welche anderen Vorschriften sie noch beachten muss, aber als wir zu meinem Zimmer kommen, wirkt sie abwesend. Sie lässt mich los, öffnet den Wandschrank und zieht eines der Nachthemden heraus, die mir meine Mutter gekauft hat. »Zieh das an, Kind«, sagt sie. »Und gib mir deine Kleider. Ich werde sie waschen. Ich warte hier draußen vor der Tür.« Sie geht wieder auf den Flur hinaus. Ich ziehe mein Nachthemd an, raffe meine blutigen Sachen zusammen und wende mich zur Tür, um sie Ruby zu geben. Auf halbem Weg zwischen dem Bett und der Tür bleibe ich stehen. Etwas hält mich zurück, das unklare Gefühl, etwas vergessen zu haben. Dann gehe ich wieder zum Bett, nehme die beiden zerbrochenen Hälften des Aluminiumtellers, drehe mich um und bringe sie zu Ruby. Die grünen Leuchtziffern auf Sydneys Wecker sagen mir, dass es 6:04 Uhr morgens ist. Als ich das letzte Mal hingeschaut habe, war es 5:21 Uhr. Ich stütze mich auf meinen Arm und spüre wieder ein leichtes Pochen in meinem Handgelenk. Dort, am Fußende, liegt ein ordentliches Bündel mit sauberen, zusammengefalteten Kleidern. Ruby muss sie dorthin gelegt haben, bevor ihre Schicht zu Ende war. Ich stoße die Bettdecke zurück, stehe leise auf, ziehe mich an und schlüpfe hinaus auf den stillen und dunklen Flur. Auf Zehenspitzen schleiche ich mich am Waschraum vorbei, an Maries leerem Stuhl, an der Telefonzelle, am Schlafzimmer des neuen Mädchens, am Gemeinschaftsraum, am Gruppenzimmer, den Flur entlang, am Notausgang vorbei, bis ich schließlich vor deinem Büro stehe. Ich setze mich hin und warte, bis du kommst.
Ich weiß nicht, wie lange ich hier gesessen habe, aber schließlich stehst du vor mir, bekleidet mit einem blauen Mantel und mit einem Schal um den Hals. Du wirkst nicht überrascht. Du sagst nicht einmal Hallo, jedenfalls nicht sofort. Du ziehst deinen Schlüssel aus deiner Tasche, beugst dich hinab, um das UFO vor deiner Tür einzuschalten, und sagst: »Möchtest du hereinkommen?« Ich nehme meinen üblichen Platz auf der Couch ein, während du deinen Mantel und den Schal aufhängst, deine Tasche in eine Schublade legst und die Vorhänge aufziehst. Schließlich setzt du dich hin. »Callie?«, sagst du. »Gibt es einen Grund, warum du hier bist?« Ich zucke mit den Schultern. »Kannst du mir sagen, was dir durch den Kopf geht?« Ich fange an, die Streifen auf der Tapete zu zählen. Irgendwo bellt ein Hund. Der Klang liegt lange Zeit in der Luft, dann ist es still. »Ich kann nicht.« Meine Stimme überrascht mich. Sie ist so winzig. »Was? Was kannst du nicht?« Ich räuspere mich, aber es hilft nichts. Jetzt ist gar keine Stimme mehr da. Ich zucke wieder mit den Schultern. »Callie.« Deine Stimme ist fest. »Sieh mich an.« Ich werfe dir aus den Augenwinkeln einen verstohlenen Blick zu. Deine Augen sind goldbraun, genauso wie die Augen von Linus. Ich schaue weg. »Was kannst du nicht?« Mit einem Brummen springt die Heizung an, rauscht eine Weile und schaltet sich dann wieder aus. »Reden.« Das Wort kommt aus meinem Mund. Endlich. Dein Stuhl stöhnt auf und erst da bemerke ich, dass du die ganze Zeit auf der Kante des Sitzes gesessen hast. Du lehnst dich zurück und tippst mit dem Zeigefinger gegen deine Lippen, so wie du es kürzlich abends im Spielezimmer getan hast. »Hast du vor irgendetwas Angst?« Mit den Augen fahre ich die Konturen eines Sofakissens nach. Dann nicke ich, einmal, und schaue verblüfft auf meine Jeans, als sich dort ein kleiner runder Tränenfleck bildet und langsam ausbreitet. Du schiebst mir ein paar Taschentücher zu. »Weißt du, wovor du Angst hast?« Ich schüttele meinen Kopf. »Callie.« Deine Stimme klingt weit entfernt. »Ich denke, wenn wir zusammenarbeiten und uns wirklich Mühe geben, können wir gemeinsam ein paar Antworten finden.«
Ich zerre an dem Taschentuch in meiner Hand, das zu einem durchweichten, nutzlosen Knäuel geworden ist. Ich greife nach einem neuen. »Möchtest du es versuchen?« Ich nicke. »Gut.« Du hörst dich erfreut an, ehrlich erfreut. Ich schnäuze mir die Nase. »Was werden Sie mit mir machen?« Die Worte kommen ganz von selbst. Du lächelst. Kleine Fältchen breiten sich um deine Augen aus und ich frage mich plötzlich, ob du älter bist, als ich dachte. »Ich werde gar nichts mit dir machen. Wir werden reden.« »Und das ist alles?« Meine Stimme bricht. Sie ist ein schwaches, unzuverlässiges Instrument. »Das ist alles.« Ich nehme mir noch ein Taschentuch. »Ich fühle mich ...« Erneut räuspere ich mich und befehle den Worten, aus meinem Mund zu dringen. »Ich fühle mich, als würde ich verlieren.« »Wie bei einem Spiel oder einem Wettbewerb?« Ich nicke. »Was, glaubst du, verlierst du?« »Ich weiß nicht.« Ich suche in deinen goldbraunen Augen nach Anzeichen von Ungeduld, aber du siehst nicht wütend aus. Nur neugierig. »Ich werde dich niemals zwingen, mir etwas zu erzählen, was du nicht erzählen willst«, erklärst du. »Aber du hast Recht, Callie. Manchmal könnte es so aussehen, als ob du etwas verlierst.« Ich strecke meine Hand nach einem neuen Taschentuch aus. Ein nasser, zerknäulter Haufen aus Papiertüchern hat sich auf meinem Schoß gebildet. »Aber, Callie«, fährst du fort, »wenn wir hart arbeiten, wirst du etwas Besseres als Ersatz für das finden, was du verlierst. Das verspreche ich dir.« Ich nicke. Ich bin jetzt müde, furchtbar müde. Mein Kopf fühlt sich so schwummrig an wie im Sommer, wenn ich aus dem dunklen, kühlen Haus in die heiße, helle Sonne trete. Ich schaue dich an, während du aufstehst und mir erklärst, dass wir später damit anfangen werden, zu unserer üblichen Zeit. Dann greifst du zum Telefon und rufst jemanden, der mich ins Krankenzimmer begleitet, wo mich eine Tetanusspritze erwartet und wo ich ein Formular unterzeichnen muss. Dann kehre ich in mein Zimmer zurück. Obwohl es jetzt heller Tag ist, gehe ich zurück ins Bett. Und schlafe. Und schlafe.
Zwei Ich habe wohl den ganzen Morgen geschlafen, denn das Nächste, woran ich mich erinnern kann, ist Marie, die mich an der Schulter rüttelt und etwas über das Mittagessen sagt. »Na, komm schon«, ruft sie. »Die Ärztin hat zwar erlaubt, dass du heute ohne Aufsicht in deinem Zimmer bleiben darfst, aber jetzt musst du aufstehen. Sonst verpasst du das Mittagessen.« Ich begreife nichts. Doch dann dämmert mir, zunächst nur verschwommen, dass etwas anders ist, obwohl ich mich nicht genau erinnern kann, was das sein soll. Ich streiche mir die Haare aus meinen Au‐ gen und sehe einen weißen Verband um mein Handgelenk, der durch die Bewegung an meinem Gesicht vorbeihuscht. In diesem Moment kehrt alles zu mir zurück: meine Finger, die mein Handgelenk umklammern, Rubys Hände, die mich halten, nasse Taschentücher auf meinem Schoß. »Wir möchten nicht, dass du das Mittagessen versäumst«, erklärt Marie hartnäckig. Dann senkt sie die Stimme. »Wir haben hier schon genug magere Mädchen.« Ich setze mich auf und merke, dass ich Hunger habe. Einen Bärenhunger. Selbst der Lärm und der Geruch nach gekochtem Gemüse im Speisesaal können mir nicht den Appetit verderben. Ich nehme mir ein Tablett und sehe zu, wie mir ein Mitarbeiter der Cafeteria mit beschlagenen Brillengläsern ein überbackenes Käse‐Sandwich auf den Teller legt. Ich weiß noch, dass Sydney einmal meinte, sie trügen ihren Namen zu Recht; sie seien so hart und staubig, als habe man sie aus Sand gebacken. Ich nehme mein Tablett, trete aus der Schlange am Tresen und halte nach ihr Ausschau. Aber der Speisesaal ist fast leer. Die einzigen Mädchen an unserem Tisch sind Debbie und Becca. Ich packe mein Tablett fester und stelle mir vor, wie ich an meinem üblichen Platz am Ende des Tisches vorbeigehe und mich stattdessen neben Debbie setze. Ich werde ihr ein Lächeln schenken, so eins, wie Ellen mir geschenkt hat, und einfach anfangen zu reden, ganz normal, wie alle anderen. Debbie wird sagen: »Das ist toll, echt toll«, so wie sie es tut, wenn Becca ihr Obst und ihren Hüttenkäse aufisst. Becca wird genauso beeindruckt sein wie Debbie, wird ihr zustimmen, wie großartig das doch ist, und später, wenn wir gemeinsam zur Gruppentherapie gehen, läuft sie voraus, um allen die Neuigkeit zu verkünden. Aber noch bevor ich den Tisch erreiche, sind sie aufgestanden und gegangen.
Ein paar Minuten später kommt Tara herein und stellt ihr Tablett am anderen Ende des Tisches ab. Ihre Nase ist rot und ihr Gesicht fleckig. Als sie bemerkt, dass ich sie anschaue, zieht sie sich ihre Baseballmütze über die Augen. Sie nimmt ein Salatblatt in die Hand und wischt die Soße mit einer Serviette ab. Schließlich stehe ich auf, nehme mein Tablett und setze mich ihr gegenüber, wobei ich darauf achte, dass meine Ärmel bis über meine Handgelenke gezogen sind. Zur Sicherheit hake ich meine Daumen um den Saum. »Hallo«, sagt sie. Ich versuche es mit einem Probelächeln, aber ich bin nicht sicher, ob sich in meinem Gesicht überhaupt etwas rührt. Dann sitzen wir beide da und tun so, als würden wir essen. Ich versuche mich daran zu erinnern, wie man ein Gespräch anfängt, aber alles, was mir einfällt, sind Übungssätze aus dem Französischkurs. »Bonjour, Thérèse. Ça va?«, fragt Guy, ein Junge, der eine schwarze Baskenmütze trägt. »Ça va bien, merci. Et toi, Guy?«, antwortet Therese. Ich beschließe, vorher einen Schluck Wasser zu trinken und dann einfach Hallo zu sagen. Hallo. Nur zwei kleine Silben. Ich müsste doch in der Lage sein, zwei Silben herauszubekommen. Ich greife nach meinem Glas. Mein Ärmel rutscht nach oben und wir beide sehen den weißen Verband um mein Handge‐ lenk. Das Wasser spritzt aus meinem Glas, als ich schnell die Hand zurückziehe und sie auf meinem Schoß verstecke. »Oh.« Das ist alles, was sie sagt. Ich werfe ihr durch meine Ponyfransen einen Blick zu. »Du verstehst es wirklich nicht, oder?« Ihre Stimme ist sanft, wie kürzlich, als sie mich im Waschraum gefragt hat, ob sie mich in Ruhe lassen soll. Ich schüttele meinen Kopf. »Wir alle tun Dinge.« Am Nachmittag fragst du mich: »Wo möchtest du gerne anfangen?« Mir fällt auf, dass du wieder deine zierlichen kleinen Stoffschuhe trägst. »Callie? Erzähl mir doch mal, wie dein Leben aussah, bevor du hierher kamst.« »Aber ...« Meine Stimme lässt mich im Stich. »Aber das wissen Sie doch, oder?« Du tippst mit dem Kuli gegen etwas auf deinem Schoß. Ich recke meinen Hals und sehe, dass du meine Akte doch nicht in den Papierkorb geworfen hast.
»Nein«, antwortest du. »Das weiß ich nicht. Was hier drin steht, ist das, was andere Leute über dich zu sagen haben.« Ich mustere die Akte und möchte zu gerne wissen, wer diese anderen Leute sind und was sie über mich erzählen. Du öffnest die Akte und schließt sie dann wieder. »Du bist fünfzehn und eine Läuferin ...« »War.« »Wie bitte?« »Ich war.« Ein Hustenreiz überkommt mich. »Eine Langstreckenläuferin.« Du nimmst deinen Stift in die Hand. »Wollen Sie alles aufschreiben?« »Nicht, wenn du das nicht möchtest.« Du hältst mitten in der Bewegung inne und lässt den Stift bewegungslos in der Luft hängen. »Stört es dich, wenn ich mir Notizen mache?« Ich zucke mit den Schultern. »Wenn es dir etwas ausmacht, werde ich es nicht tun.« Aus irgendeinem Grund muss ich daran denken, wie Mr Malcolm, mein Mathelehrer, ständig Übungsblätter mit Aufgaben austeilte, bei denen die Hälfte fehlte. Er sagte dann immer, er würde uns keine Punkte für die richtige Antwort geben, wenn wir nicht gleichzeitig den Lösungsweg nachweisen könnten. Mir kommt es so vor, als würdest du mich als eine Algebra‐Aufgabe betrachten und mich dabei auf Brüche reduzieren, den kleinsten gemeinsamen Nenner wegstreichen, bis nichts mehr dasteht außer einer Gleichung, die besagt, x = irgendetwas. Und dieses Irgendetwas ist das Problem, das ich habe. Du findest die Lösung. Und dann darf ich nach Hause gehen. »Wäre es dir lieber, wenn ich keine Notizen mache?« »Ist schon in Ordnung.« Du beugst dich über deinen Block. Ich betrachte deinen Scheitel, der kerzengerade und sehr ordentlich ist. Du richtest dich wieder auf. »Also, womit möchtest du anfangen?« Ich zucke mit den Schultern. Du wartest. »Ist mir egal«, sage ich. Du schlägst ein Bein über das andere, wobei du mich nicht aus den Augen lässt. Der Minutenzeiger auf der Uhr springt einen Strich nach vorne. Dann noch einmal. »Mein kleiner Bruder, Sam«, sage ich schließlich. »Er ist normalerweise derjenige, der ständig zum Arzt muss und in Therapie.« Sobald ich die Worte ausgesprochen habe, klingen sie falsch. »Das ist schon okay«, sage ich. »Er ist krank.« »Was ist los mit Sam?«
»Asthma.« Du sagst nichts. »Richtig schlimmes Asthma.« Du rührst dich nicht. »Er muss ständig ins Krankenhaus.« Du rührst dich immer noch nicht. »Das ist der Grund, warum er so dünn ist und wir immer alles sauber halten müssen. Aber er ist in Ordnung, für einen kleinen Bruder.« Ich weiß, dass ich mehr sagen sollte, aber ich bin erschöpft. Mir sind die Worte ausgegangen. »Das ist alles, glaube ich.« Du faltest deine Hände in deinem Schoß. »Wie fühlst du dich dabei?« »Wobei?« »Ich meine, wie ist es, einen Bruder zu haben, der so viel Aufmerksamkeit bekommt?« »Ich bin daran gewöhnt.« Du öffnest deinen Mund, um etwas zu sagen, aber ich komme dir zuvor. »Meine Mutter ist diejenige, die es wirklich schwer hat.« »Deine Mutter?« »Sie macht sich ständig Sorgen.« »Worüber?« Ich versuche, es mir auf der Couch bequem zu machen. Dieses ganze Gerede ist furchtbar anstrengend. »Callie«, sagst du. »Worüber macht sich deine Mutter Sorgen?« »Über alles.« Du siehst so aus, als wolltest du mich etwas fragen, deshalb spreche ich weiter. »Sie fährt kein Auto mehr. Sie hat Angst vor Lastern. Mein Dad muss uns überall hinfahren.« »Ich verstehe.« Ich frage mich, ob du es wirklich verstehst, ob du uns sehen kannst, wie wir im Auto sitzen, angeschnallt mit unseren Sicherheitsgurten, die Fenster fest verschlossen, selbst wenn es warm draußen ist ‐ besonders, wenn es warm ist, damit keine Pollen oder Sporen oder Staubmilben oder irgendetwas anderes den Weg in unseren Wagen finden kann, in unser stilles, antiseptisches Auto. »Erzähl mir mehr darüber.« »Über was?« »Über die Zeit, in der Sam im Krankenhaus war.« Ich blinzle. Haben wir darüber gesprochen? Über Sam und das Krankenhaus? Oder habe ich etwas überhört, was du gesagt hast? Ich
zupfe an der Kante des Verbands und ziehe leicht daran. Ein einziger, blendend weißer Faden löst sich. »Was zum Beispiel? Was soll ich Ihnen erzählen?« »Nun, was tust du, wenn deine Eltern bei Sam sind?« Ich rolle den dünnen Faden zu einem winzig kleinen Kügelchen. »Ich weiß nicht. Sauber machen.« Du sagst nichts. Das Kügelchen ist jetzt so klein, dass es kaum mehr zu sehen ist. »Ich wische Staub. Wasche ab. Sauge. Wir müssen oft saugen.« Du sagst immer noch nichts. Das Kügelchen ist jetzt so winzig, dass ich es verliere. »Ich mache die Filter sauber. Wir haben spezielle Staubfilter in allen Lüftungen der Klimaanlage, wegen Sam. Einmal habe ich alle Bonuspunkte meiner Mutter eingeklebt. Das wär's eigentlich. Langweiliges Zeug.« Was folgt, ist ein langes Schweigen. Ich taste nach dem Kügelchen, lausche auf das Rauschen des UFOs und schaue auf die Uhr. »Manchmal, wenn sie über Nacht im Krankenhaus bleiben müssen, schaue ich fern.« »Was siehst du dir an?« »Ähm ... Keine Ahnung. Kochsendungen. Oder Ärzteserien und diese Reality‐Shows, wo Leute gerettet werden.« »Was gefällt dir daran?« »Ich weiß auch nicht.« Wieder zuckt der Minutenzeiger nach vorn, während du darauf wartest, dass mir eine bessere Antwort einfällt. »Reality‐TV ...«, sagst du. »Gibt es irgendetwas Besonderes daran? Etwas, das dich besonders anspricht?« Ich zucke mit den Schultern. »Nein.« Dann: »Ja, vielleicht. Ich weiß nicht.« Du ziehst eine Augenbraue hoch. »Na ja, es ist so, dass ... Es ist so, dass die Leute immer gerettet werden, weil ein Kind aufgepasst hat. Ein Kind oder ein Hund oder irgendein Nachbar.« Du schreibst etwas auf deinen Notizblock. »Es gibt immer ein Happy End. Nachdem derjenige, der in Gefahr war, gerettet wurde, ist alles wieder in Ordnung.« Ich höre dem Rauschen des Verkehrs zu, das aus weiter Ferne von der Autobahn hier ins Zimmer dringt. Ich betrachte einen Riss im Putz an der Decke. Genau wie der Riss in der Decke des Krankenhauses, in dem die Madeline aus dem Buch sich den Blinddarm herausnehmen ließ, sieht dieser Riss manchmal aus wie eine Vase, manchmal wie ein Hase. Ich
denke immer wieder Vase – Hase, schnell hintereinander, bis ich durcheinanderkomme und nicht mehr weiß, womit ich angefangen habe, mit der Vase oder dem Hasen. »Seit wann leidet Sam an Asthma?« Beim Klang deiner Stimme fahre ich hoch. Ich hatte fast vergessen, dass du da bist. »Was?« »Seit wann hat Sam Asthma?« Ich zucke zusammen, wie jedes Mal, wenn ich bei einem Querfeldeinlauf am Start stehe, der Schiedsrichter die Startpistole erhebt und ruft: »Auf die Plätze!« »Callie?« Meine Beinmuskeln zucken und meine Füße schwitzen. Ich presse meine Hände fest auf meine Beine, um das Zittern zu unterdrücken, aber es hilft nichts. »Seit etwa einem Jahr, vielleicht noch etwas länger.« Ich versuche, beiläufig zu klingen, ja gleichgültig. »Seit einem Jahr«, wiederholst du. Ich rutsche an den Rand der Couch, bereit aufzustehen und zu gehen. »Und wer hat sich um dich gekümmert, während deine Eltern im Krankenhaus waren?« Ich sitze jetzt auf der Sofakante. »Ich kann für mich selbst sorgen.« Du stellst deine Beine wieder nebeneinander, steckst die Kappe auf deinen Kugelschreiber und sagst, ich hätte gute Arbeit geleistet. Ich schaue auf die Uhr. Unsere Zeit war bereits vor fünf Minuten vorbei. Auf dem Rückweg von deinem Büro komme ich am Aufenthaltsraum vorbei. Die Stimme eines Fernsehmoderators vermischt sich mit dem Tick‐ Tack‐Tick‐Tack eines Ping‐Pong‐Spiels. Ich ziehe den Kopf ein und will unbemerkt vorbeigleiten. Als ich zur Tür komme, hüpft ein kleiner weißer Ball hinaus auf den Flur, rollt noch ein Stück und prallt gegen meine Füße. »Hey, S.T.«, ruft Sydney. »Bringst du uns bitte den Ball?« Ich betrachte erst den Ball vor meinen Füßen und dann Sydneys gerötetes, glückliches Gesicht. »Bitte!« Sie lächelt breit und fröhlich. Ich beuge mich nach unten und hebe den Ball auf. Es ist, als würde man Luft aufheben, so leicht ist er. Ich mache Babyschritte durch den Flur, dann in den Aufenthaltsraum hinein, wobei ich meine Augen nicht von dem Ball wenden kann. Er liegt auf meiner offenen Handfläche und rollt vor und zurück. Ich erwarte fast, dass er jeden Moment hinunterspringt, den Flur entlanghüpft und durch die Eingangstür verschwindet.
Sydney nimmt den Ball aus meiner Hand. »Danke«, sagt sie über ihre Schulter. Plötzlich ist meine Handfläche leer. Ich weiß nicht, was ich als Nächstes tun soll. Sydney bemerkt meine Ratlosigkeit. »Willst du spielen?« Sie streckt mir ihren Schläger entgegen. Ich blicke mich im Raum um. Debbie und Becca sitzen auf dem Sessel, Debbie auf der Sitzfläche und Becca auf der Armlehne. Tiffany steht auf der anderen Seite der Tischtennisplatte mit dem Schläger in der Hand. Sie hat immer noch ihre Handtasche umhängen. Tara steht an der Tafel und schreibt die Punkte auf. »Du kannst auch einfach nur zuschauen, wenn du willst«, sagt Sydney. Sie deutet auf einen leeren Stuhl. »Ach ja, bitte!«, sagt Tara. Der Weg durch das Zimmer bis zu dem leeren Stuhl scheint kilometerlang zu sein. Die Entfernung zur Tür kommt mir viel kürzer vor. Ich schüttele den Kopf und wende mich ab, obwohl ich schon beim ersten Schritt merke, dass ich mich geirrt habe. Ich brauche Ewigkeiten bis zur Tür. »Worüber möchtest du heute reden?«, fragst du mich. Ich überlege. »Über Sam. Könnten wir noch weiter über Sam sprechen?« »Aber sicher.« Doch ich weiß nicht, was ich noch über Sam sagen soll. »Habe ich Ihnen von seinen Eishockeykarten erzählt?« Du schüttelst deinen Kopf. »Er hat eine riesige Sammlung von Eishockeykarten. Immer, wenn er krank ist, bekommt er eine neue Packung geschenkt. Er liebt diese Karten. Er ist ständig dabei, sie in irgendwelche Stapel zu sortieren.« Du sagst nichts. »Er sortiert sie nach Mannschaft, nach Position, nach Trefferquoten oder was weiß ich was.« Du bewegst dich nicht. Mit den Augen ziehe ich imaginäre Linien auf der Couch und verbinde sie zu einem Dreieck. »Meine Mutter sitzt nach der Schule immer bei ihm. Am Esstisch. Sie klöppelt.« Du neigst deinen Kopf zur Seite. »Sie klöppelt?« Meine Augen stehen still, mitten in einer Linie. »Ja, klöppeln. Damit macht man Spitzendeckchen oder Schürzen‐ und Blusenkragen, nur aus Faden. Sie klöppelt und er sortiert.« Irgendwie erscheint es mir nicht richtig, dass ich dir von meiner Mutter und Sam am Esstisch erzähle. Es ist zu privat.
»Sie dürfen sich nicht anstrengen«, erkläre ich. »Sie müssen sich oft ausruhen.« »Was machst du?« »Was ich mache?« »Während deine Mutter klöppelt und Sam seine Karten sortiert ‐ was machst du in dieser Zeit?« »Oh.« Mit den Augen folge ich den Linien des imaginären Dreiecks. Hin und zurück. Hin und zurück. »Nichts. Ich schaue fern.« Du wartest darauf, dass ich noch etwas sage. »Ich stelle den Ton aus, wenn sie sich hinlegen.« Du runzelst die Stirn. »Ich stelle dann die Untertitel an, wenn meine Mutter und Sam schlafen.« »Du schaust fern ohne Ton?« »Ich bin ziemlich gut darin.« Du schüttelst leicht den Kopf. »Ich verstehe nicht so genau, was du meinst.« Vor meinem geistigen Auge sehe ich den großen, tonlosen Fernsehapparat in unserem Wohnzimmer. Am unteren Rand des Bildschirms werden die Untertitel eingeblendet. »Die Untertitel unter dem Bild – die Worte hinken immer ein paar Sekunden hinterher und sind nicht synchron mit den Sprechbewegungen der Leute im Fernsehen. Ich weiß meistens schon vorher, was sie sagen.« Du siehst so aus, als wolltest du etwas fragen. »Es ist so eine Art Hobby«, sage ich »Hast du noch andere Hobbys?« »Nicht wirklich.« Ich mache die oberen drei Knöpfe an meinem Sweatshirt zu. Dann knöpfe ich sie wieder auf. »Was ist mit dem Laufen?«, fragst du. Ich sehe mich selbst laufen – nicht in voller Größe, sondern nur meine Füße unter mir. Abwechselnd erscheinen und verschwinden sie wieder, tauchen auf und verschwinden, immer und immer wieder. »Was soll damit sein?«, frage ich zurück. »Nun, was fühlst du, wenn du läufst?« »Ich weiß nicht.« Ich kratze an der seitlichen Naht meiner Jeans. »Nicht viel.« Du tippst mit dem Finger gegen deine Lippen. »Das ist der Grund, warum ich das Laufen mag.« Dein Sessel aus toter Kuhhaut knarrt. Du beugst dich vor und öffnest deinen Mund, um zu sprechen.
»Meine Mom kann's nicht leiden«, sage ich. »Sie glaubt immer, dass ich von einem Auto überfahren werde oder so was.« Du lehnst dich zurück. »Sie sagt, sie wartet nur darauf, dass die Polizei anruft«, rede ich weiter. »Immer wenn ich vom Laufen zurückkomme, sieht sie so aus, als sei sie sauer auf mich.« Ich sehe meine Mutter vor mir, die am Esstisch sitzt, klöppelt und ihre Stirn runzelt, während Sam seine Eishockeykarten auf kleine, ordentliche Stapel verteilt. Sie sieht nicht auf, wenn ich hereinkomme, sie arbeitet einfach weiter. Sam zeigt mir seine Karten: lächelnde Spieler, Spieler, die übers Eis gleiten, Spieler mit und ohne Helm. »Willst du nicht unter die Dusche gehen?«, fragt meine Mutter. »Du hast doch bestimmt Hausaufgaben auf, oder?« Du starrst mich unverwandt an. Offenbar hast du mir eine Frage gestellt. »Was?« »Ich weiß nicht, ob ich dich richtig verstanden habe«, sagst du. »Warum sollte deine Mutter wütend auf dich sein?« »Ich weiß auch nicht. Sobald ich zur Tür hereinkomme, fragt sie mich, ob ich nicht duschen oder meine Hausaufgaben machen will. Deshalb gehe ich meistens direkt nach oben und lasse sie in Ruhe.« Deine Augen weiten sich. »Ist das der Eindruck, den du hast?« »Was meinen Sie?« »Dass deine Mutter dich nicht um sich haben, sondern lieber mit deinem Bruder allein sein will?« Ich weiß nicht genau, wie es passiert ist, aber aus irgendeinem Grund habe ich etwas gesagt, was ich nicht sagen wollte. Etwas, das nicht ganz stimmt. Oder vielleicht etwas, das ein bisschen stimmt. Den Rest der Stunde verbringe ich damit, auf die Uhr zu starren. Abends herrscht im Arbeitsraum eine völlig andere Atmosphäre als tagsüber. Es ist Pflicht, jeden Abend die Zeit zwischen sieben und acht Uhr dort mit Lernen zu verbringen, da wir alle während unseres Aufenthalts im Idiotenhügel den Anschluss in der Schule nicht verpassen sollen. Eigentlich sollen wir leise sein, aber ständig wird geflüstert oder Nachrichten werden ausgetauscht. Und sobald die Aufsicht den Raum verlässt, bricht ohrenbetäubender Lärm los. Heute Abend aber ist es ruhig. Tara lackiert ihre Fingernägel. Tiffany schreibt einen Brief an einen Freund da draußen in der wirklichen Welt. Becca schläft und Debbie betrachtet ein Bild in einer Zeitschrift, auf dem ein Fotomodell in einem Abendkleid zu sehen ist. Sydney ist die Einzige, die wirklich ihre Hausaufgaben macht.
Das neue Mädchen, das offenbar Amanda heißt – ich habe auf dem schwarzen Brett nachgesehen –, hat es sich in der letzten Reihe auf ihrem Stuhl bequem gemacht. Sie hat die Beine weit von sich gestreckt und tut so, als würde sie schlafen. Ihr Kopf lehnt an der Wand, ihre Augen sind geschlossen und ihr Mund ist zu einem leichten Lächeln verzogen. Doch ich weiß, dass sie wach ist, denn ich kann sehen, wie sie die Innenseite ihres Handgelenks mit einer rhythmischen Bewegung gegen ihre Stuhlkante schlägt. Der Anblick macht mich nervös, deshalb versuche ich, mich wieder auf meine Französischübung zu konzentrieren. Die Aufgabe besteht darin, Vokabeln zu lernen, die man während des Urlaubs braucht, wie zum Beispiel »Bikini«, »Autoverleih« oder »Bahnhof«. Da wir keine Bleistifte benutzen dürfen, selbst nicht für Matheaufgaben (Bleistifte fallen unter die Rubrik »scharfe Gegenstände«), muss ich mit einem Filzstift schreiben. Der Stift schmiert, ich zerknülle das Blatt Papier und fange von vorne an. Die Aufsicht steht auf und erklärt uns, dass sie ihre leere Coladose in den Mülleimer auf dem Flur werfen wird. Sie ermahnt uns, in ihrer Abwesenheit ruhig zu sein. Sie geht hinaus und im Bruchteil einer Sekunde erwacht der Saal zum Leben. »Kann ich deinen Nagellack haben, wenn du fertig bist?«, fragt Sydney Tara. »Wenn du mir deinen Walkman leihst«, erwidert Tara. Während die beiden mit ihrem Tauschhandel beschäftigt sind, dreht sich Tiffany zu Debbie, um deren Zeichnung zu betrachten. Debbie verdeckt das Bild mit der Hand, aber es ist zu spät. »Warum machst du das ständig?«, fragt Tiffany. »Was denn?« »Warum malst du immer nur Bilder von dünnen Leuten?« Die Aufsicht kommt zurück und räuspert sich laut. Tiffany dreht sich schnell wieder zu ihrem Schreibtisch herum und alle fahren mit den Arbeiten fort, mit denen sie beschäftigt waren. Debbie ist wie betäubt. Sie zieht das Pauspapier von der Zeitschrift herunter und betrachtet das Bild des Fotomodells. Dann blättert sie durch ihren Notizblock. Bilder von großen, schlanken Frauen in modischen Kleidern huschen vorbei. Sie lässt die letzte Seite fallen und schaut auf. Niemand außer mir sieht, dass sie Tränen in den Augen hat. Ich wende mich schnell ab, aber ich weiß, dass Debbie meinen Blick bemerkt hat. Als ich ein paar Sekunden später wieder hinschaue, legt sie gerade einen Pullover um Beccas Schultern und streicht ihn glatt, so wie es
eine Mutter tun würde. Als ich hierher kam, hat Debbie versucht, mit mir zu reden. Sie hat mir sogar ein Stück von dem Kuchen angeboten, den ihr ihre Mutter geschickt hatte. Aber mittlerweile, glaube ich, habe ich es geschafft, sie zu vergraulen. Debbie zieht den Pullover bis zu Beccas Hals hinauf, der unglaublich weiß und zart ist. Sie schlägt ihren Notizblock zu und starrt ins Leere, bis die Aufsicht sagt, dass wir gehen können. Als ich später am Abend zum Zähneputzen in den Waschraum gehe, ist Rochelle, die heute Aufsicht hat, über eine Zeitschrift gebeugt. Hinter mir in der Toilettenkabine betätigt jemand die Klospülung. Das Wasser zischt und gurgelt in den Abfluss hinunter. Ein saurer Geruch von Erbrochenem zieht zu mir hinaus. Die Kabinentür öffnet sich und Becca kommt heraus. Sie trägt einen Bademantel, der mit kleinen Hündchen bedruckt ist, und braune Pelzpantoffeln, die tatsächlich so aussehen wie Hundegesichter. Hinter ihr knallt die Tür zu. Dann schiebt sich ihr Gesicht neben meins im Spiegel. Mit einem Stück Toilettenpapier tupft sie sich die Mundwinkel ab. Als Becca aus dem Waschraum schlendert, betrachte ich Rochelle aus den Augenwinkeln. Ihre Lippen bewegen sich, während sie liest. Sie bemerkt nicht einmal, dass Becca gegangen ist. Am nächsten Morgen fehlt Amanda beim Frühstück. Das ist eine ziemlich große Sache, denn die Mahlzeiten gehören zum Pflichtprogramm, selbst wenn man nicht zu den Gästen mit Ernährungsschwierigkeiten gehört. Debbie ist zur Speisesaal‐Aufsicht gegangen, um herauszufinden, was los ist. »Debbie sollte sich um ihren eigenen Kram kümmern«, meint Tiffany. »Sie versucht doch nur zu helfen«, widerspricht Becca. Tiffany rollt mit den Augen. Ich fahre mit dem Finger an dem Metallband entlang, das an der Tischkante angebracht ist, und merke, dass es leicht lo‐ cker sitzt. Die Glocke ertönt. Das Frühstück ist vorbei. Um uns herum bricht Unruhe aus, während die Gäste aufstehen, miteinander schwatzen oder über ihre kommenden Therapiestunden stöhnen. Unsere Gruppe bleibt sitzen und wartet auf Debbie. Mit schnellen Schritten kommt sie zu unserem Tisch zurück und alle beugen sich vor, um zu hören, was sie zu berichten hat. »Sie ist erwischt worden«, flüstert Debbie. »Sie hat sich geschnitten.« Meine Wangen glühen. Ich ziehe meine Ärmel bis zu den Fingerspitzen und starre auf meine Füße.
»Igitt!«, sagt Becca. »Das ist so eklig!« »Sei ruhig«, fährt Sydney auf. Ich schaue nicht hoch, aber ich glaube, sie hat das wegen mir gesagt. »Und wo ist sie jetzt?« »Wahrscheinlich im Knaller«, antwortet Debbie. »Woher weißt du das?«, fragt Sydney. »Ich habe gehört, dass sie eine Spritze bekommen hat«, sagt Debbie. Sie senkt theatralisch ihre Stimme. »Ein Beruhigungsmittel.« Die Aufsicht kommt zu uns und scheucht uns mit der Bemerkung auf, dass wir schleunigst zu unseren Therapien gehen sollen, ansonsten würde sie Strafpunkte verteilen. Wir nehmen unsere Tabletts und steuern auf das Fließband zu. Wie üblich gehe ich als Letzte und trotte hinter Tiffany und Sydney her. »Und von uns behauptet man, dass wir uns kaputtmachen würden«, sagt Tiffany und schüttelt ihren Kopf. »Was diese Neue macht, diese Amanda, das ist wirklich verrückt.« Sydney schaut, ob ich die Bemerkung gehört habe. Ich wende mich wieder dem Esstisch zu und tue so, als ob ich etwas vergessen hätte, denn in diesem Moment ziehe ich einen Strafpunkt für Zuspätkommen dem besorgten Ausdruck auf Sydneys Gesicht vor. Du setzt dich in deinen Sessel. Vor dir auf dem Schoß liegt dein Notizbuch mit einer frischen, neuen und leeren Seite. »Ich habe heute keine Lust zu reden«, sage ich. Du nickst. »In Ordnung«, sagst du. Wir sitzen eine Weile nur da. Ich betrachte einen schwachen Strahl blassen Wintersonnenlichts, während du in eine Akte vertieft bist. »Ist das meine?«, frage ich. »Ja.« Ich schaue auf den Sonnenfleck, wo der Lichtstrahl auf die Wand fällt. Er sieht aus wie ein Rhombus. »Was steht drin?« »In deiner Akte? Nicht viel.« Ich sitze ganz ruhig. »Ein paar allgemeine Informationen über dich, eine Beurteilung des hiesigen Psychologen und ein Bericht deiner Schule.« Draußen huscht eine Wolke vorbei. Der Rhombus verschwindet. »Wer hat den Schulbericht geschrieben?«, frage ich. Du öffnest die Akte. »Eine Miss Magee«, antwortest du. »Die Schulkrankenschwester.« »Sie war nur die Vertretung.«
»Oh.« Die Sonne dringt wieder durch das Fenster. Aus dem Rhombus ist jetzt ein einfaches Parallelogramm geworden. »Sie war diejenige, die entdeckt hat, dass du dir in die Arme schneidest, nicht wahr?« »Sie hat mich ›Süße‹ genannt«, sage ich. Gleich darauf wünsche ich, ich hätte meinen Mund gehalten. »Süße?« »Ach, schon gut.« Ich suche nach dem Riss in der Decke, der so aussieht wie ein Hase, aber ich kann ihn nicht finden. »Sie hat Socken und Sandalen getragen«, sage ich. »Woran erinnerst du dich noch?« »Sie hat erzählt, dass sie normalerweise in einer Entziehungsanstalt für Drogenabhängige arbeitet. Sie meinte, das sei ein cooler Job. Sie war wohl so eine Art Hippie.« Du wartest, ob ich noch mehr sage. »Ich habe oft Bauchweh gehabt. Die Schulkrankenschwester hat mich trotzdem immer wieder in den Unterricht zurückgeschickt.« »Und die Vertretung? Diese Miss Magee?« »Sie fragte: ›Bedrückt dich etwas, Süße?‹« Du lächelst kaum merklich. »Ich habe einfach weiter auf die Tafel hinter ihr gestarrt. Es war eine Tafel für einen Sehtest, mit Zahlen und Buchstaben drauf. Ich weiß immer noch die erste Reihe auswendig: E F S P D.« Du lächelst etwas mehr. »Sie hat mir gesagt, ich solle mich auf die Liege legen. Sie hat meine Stirn gefühlt, dann meinen Puls. Dann hat sie meinen Arm fallen lassen und gesagt: ›Oh, wow‹. Sie meinte, sie sei gleich zurück. Ich lag auf der Liege und das Nächste, woran ich mich erinnere, ist, dass sie mich an der Schulter gerüttelt hat, um mich aufzuwecken. Meine Mom stand neben ihr und hielt sich ein Taschentuch vor den Mund.« Ich schaue auf, um zu sehen, ob du zufrieden mit mir bist, weil ich so viel auf einmal sage. Deine Stirn liegt in besorgten Falten. »Wissen Sie was?«, sage ich. »Ich habe viel über sie nachgedacht, seit ich hier bin.« Du neigst deinen Kopf ein wenig zur Seite. »Über ... wie war doch gleich ihr Name? Die Vertretung, meine ich.« »Shelly Magee.« »Ja. Ich habe überlegt, ob ich ihr eine Postkarte schreiben soll.«
Du hebst eine Augenbraue. »Sie wissen schon – ›Mir geht's prächtig. Ich wünschte, Sie wären hier.‹« »Und?« Ich verstehe nicht, was du meinst. »Stimmt das? Geht es dir prächtig?« Ich zupfe einen Fussel aus dem Stoff der Couch, rolle ihn zwischen meinen Fingern hin und her und werfe ihn dann in die Luft. »Wünschst du dir wirklich, dass sie hier wäre?« »Nein.« »Callie, ich möchte dich etwas fragen.« Du rutschst in deinem Sessel aus totem Kuhleder nach vorn. »Wie genau kam es dazu, dass Shelly Magee deine Narben gesehen hat?« »Sie hat mir den Puls gefühlt.« »Du hast nicht versucht, sie davon abzubringen?« Eine plötzliche Hitzewelle schwappt über mir zusammen. Ich fühle, wie sich meine Wangen röten. Mein Hals wird eng. Ich presse meine Arme an meinen Körper und halte ganz still. »Ich bin froh, dass du es nicht versucht hast.« Deine Stimme überwindet den Abstand zwischen uns. Sie klingt sanft, aber fest. Ich schaue dich an, wie du da in deinem Ledersessel sitzt, so ruhig, so normal, so hübsch in deinem langen, grünen Rock. »Sie glauben also nicht, dass ich verrückt bin?«, frage ich lachend. Du lachst nicht. »Sie glauben also nicht, dass ich irre bin, weil ich das tue?« Ich halte meinen Arm hoch. Mein Verband ist unsichtbar unter dem Ärmel versteckt. »Nein, Callie«, erwiderst du in sachlichem Ton. »Ich glaube nicht, dass du verrückt bist.« Ich blinzle. »Ich glaube, dass du versuchst mit Gefühlen fertig zu werden, die einfach zu viel für dich sind. Viel zu viel. Viel zu beängstigend.« Ich sinke in die Sofakissen. Mir fällt auf, dass ich jedes Mal, wenn ich hier bin, die ganze Zeit lang aufrecht sitze, dass mein Rücken bislang noch niemals die Rückenlehne des Sofas berührt hat. »Wirklich?«, frage ich. »Wirklich.« Die Uhr zeigt an, dass es Zeit ist zu gehen. »Also, können Sie dafür sorgen, dass ich damit aufhöre?« »Ob ich dafür sorgen kann? Nein. Das kann ich nicht.« »Nun, können Sie dann ... na ja ... mir helfen?«
Du tippst mit dem Finger gegen deine Lippen. »Ja«, sagst du, »wenn du damit aufhören willst.« Dann stehst du auf und erklärst, dass wir morgen weiterreden. In Ordnung, sage ich zu dir, aber eigentlich will ich sagen, dass ich nicht sicher bin, ob ich aufhören kann. Alle anderen sind offenbar noch auf der Raucherveranda, denn Claire ist die Einzige im Raum, als ich zur Gruppentherapie komme. Sie hält ihre Brille in der Hand und massiert sich den Nasenrücken. Wo die Brille aufsitzt, prangen zwei rote Flecken. Sie schaut auf, als sie mich im Türrahmen bemerkt, und lächelt. Meine Antwort ist weder ein Lächeln noch ein Nicht‐Lächeln, sondern irgendetwas dazwischen. Wir sitzen eine Weile schweigend da. Ich lasse meine Augen über die neue Anordnung der Wagen auf dem Parkplatz gleiten, während Claire in ihren Pappbecher mit heißem Kaffee pustet, bis die anderen Mädchen hereinkommen. Plötzlich ist der Raum von Stimmen und Gelächter erfüllt. Sydney ist gerade am Ende von einer ihrer Geschichten angelangt. »Das beweist doch wohl eindeutig, dass ich die Einzige in dieser Familie bin, die richtig tickt, oder?«, sagt sie und lässt sich auf ihren Stuhl fallen. »Geht mir genauso!«, stimmt Tara lauthals zu. Dann bleibt sie abrupt in der Mitte des Raums stehen, als wäre sie gegen eine Wand gelaufen. Amanda ist wieder da und sie sitzt auf Taras Stuhl. Tara wirft Claire einen flehenden Blick zu, aber Claire reagiert nicht. Sydney klopft einladend auf den Stuhl neben sich und Tara lässt sich dort nieder. Die Situation erinnert mich an das Kinderspiel Die Reise nach Jerusalem. Tiffany kommt herein, erkennt die Lage, schaut sich Hilfe suchend nach Claire um und setzt sich dann in den nächstbesten Stuhl. Becca und Debbie kommen als Letzte. Becca steuert auf den Stuhl neben Tara zu. Debbie verzieht beleidigt das Gesicht und nimmt dann den letzten freien Stuhl, neben mir. Ich ziehe den Arm ein, um ihr Platz zu machen. Ein langes Schweigen folgt. Dann beklagt sich jemand über das Essen. Wieder herrscht Stille. Jemand anderes beschwert sich über den Zustand des Waschraums und darüber, wie neugierig die Krankenschwestern seien. Wieder Schweigen. »Also.« Sydney wendet sich Amanda zu. »Wo bist du gewesen?« »Wann?« Sydney schaut sich in der Runde um, als erwarte sie Unterstützung. »Beim Frühstück«, antwortet Tara. »Du warst nicht im Speisesaal.«
Amanda grinst. »Zimmerservice.« Tiffany lacht. Sie ist die Einzige. »Nein, mal im Ernst«, sagt Sydney. »Willst du das wirklich wissen?«, fragt Amanda. »Das ist ja so mitfühlend von dir. Sind wir siamesische Zwillinge, oder was?« Sydney schaut verwirrt, dann verletzt. »Ich war auf der Krankenstation«, erklärt Amanda. »Wirklich?«, fragt Debbie. »Wirklich«, erwidert Amanda sarkastisch. »Ich habe gehört, du hast eine Spritze bekommen«, meint Debbie. Amanda hebt die Augenbrauen. »Haben sie dir ein Beruhigungsmittel gegeben?«, will Debbie wissen. Amanda lacht. »Eine Tetanusspritze«, verkündet sie. Dann beugt sie sich vor und blinzelt mir zu. »Stimmt's?« Ich kann nicht antworten, aber ich ertrage es auch nicht, dass mich alle anstarren. Ich nicke. Dann schaue ich wieder aus dem Fenster und frage mich plötzlich, was mit der Fliege passiert ist, die sich in den Zwischenraum zwischen Fliegengitter und Fensterglas verirrt hatte. Nach der Gruppentherapie winkt mich Ruby zu ihrem Schreibtisch. »Da ist ein Paket für dich angekommen«, sagt sie. »Per Eilpost.« Sobald ich das Paket sehe, weiß ich, dass es von meiner Mutter kommt. Der Karton ist mit Klebebildern von Katzen übersät und die Adresse in Kalligraphie geschrieben. Ich möchte nur wissen, was sich der Postbote gedacht hat, als er das Paket im Idiotenhügel abgegeben hat. Ich klemme mir das Paket unter den Arm und will mich auf den Weg in mein Zimmer machen. »Warte mal«, ruft mich Ruby zurück. »Du musst das unter Aufsicht öffnen. Das ist so Vorschrift hier.« Ruby nimmt einen Schlüssel und reißt das Paketband auf. Im Inneren liegt, auf einem Nest von rosa Styroporkügelchen, ein wattiertes, mit buntem Baumwollstoff bezogenes Etwas. Ruby hält es hoch. Es ist mein Name, geformt aus dicken Baumwollbuchstaben. Auf der Rückseite ist ein großer Saugnapf angenäht. Ruby reicht mir einen Zettel, der zwischen den Styroporkügelchen gelegen hat. Liebe Callie, Anbei etwas Hübsches, um dein Zimmer ein wenig zu verschönern. Mit dem Saugnapf an der Rückseite kannst du es an deine Tür hängen. (Ich habe in der Verwaltung angerufen und mir bestätigen lassen, dass das in
Ordnung geht, weil ihr ja keine Reißzwecken benutzen dürft.) Sag mir Bescheid, wenn die anderen Mädchen auch so etwas möchten. Ich kann die Namen ganz schnell nähen. Sie behaupten, es gehe dir besser. Das ist schön. Sei bald ganz gesund. In Liebe Mom Ich nehme die Baumwollbuchstaben und wende mich zum Gehen. »Moment mal«, sagt Ruby. »Da ist noch etwas.« Ich versuche so zu tun, als ob es mich nicht kümmert, was es ist, als ob es mir egal ist, ob es vielleicht von meinem Vater kommt. Ruby überreicht mir einen kleinen weißen Umschlag. Doch der Umschlag ist von Sam. Auf der Vorderseite steht mein Name mit dickem Filzstift geschrieben. Drinnen steckt eine Eishockeykarte. Aber nicht irgendeine Karte, nein – es ist Wayne Gretzky, sein Lieblingsspieler. Im Umschlag liegt nur die Karte, kein Zettel. Ich schaue mich um, ob jemand in der Nähe ist. Dann halte ich die Karte hoch, damit Ruby sie sehen kann. »Von meinem kleinen Bruder«, erkläre ich. »Er liebt Eishockey.« Sie legt ihre Hand auf ihre Brust. »Das ist ja süß«, sagt sie. »Wirklich süß.« Ich stecke Wayne Gretzky in meine Hosentasche und gehe in mein Zimmer zurück. »Womit möchtest du heute anfangen?«, fragst du. »Ist mir egal.« Du schlägst ein Bein über das andere. »Entscheiden Sie.« »In Ordnung«, sagst du. »Wie kommst du mit den Mädchen in deiner Gruppe zurecht?« Ich zucke mit den Schultern. »Gut.« Du wartest. »Sydney, meine Zimmerkameradin, ist ziemlich nett«, füge ich hinzu. »Und auch dieses andere Mädchen, Tara.« Du machst ein erfreutes Gesicht. »Und Debbie, die Pummelige, na ja, sie weiß zwar angeblich alles besser, aber sie ist okay. Sie kümmert sich immer um Becca.« »Hmm.« Das ist alles, was du sagst.
»Was ich von Becca halten soll, weiß ich nicht genau. Sie ist so krank geworden, weil sie nichts gegessen hat, dass sie einen Herzinfarkt bekam. Sie tut zwar so, als wolle sie gesund werden, aber...« »Aber?« »Nichts, schon gut.« Ich warte darauf, dass du mich drängst weiterzureden. Du tust es nicht. »Sie werden es doch niemandem erzählen, oder?«, frage ich. »Alles, was du hier in diesem Büro sagst, ist streng vertraulich.« »Nun, sie ... sie erbricht sich immer noch.« Dein Gesichtsausdruck verändert sich nicht. »Und sie versteckt ihr Essen. Sie tut so, als würde sie es essen, aber in Wirklichkeit wirft sie es weg.« Du stellst deine Beine wieder nebeneinander. »Woher weißt du das?« »Ich habe sie beobachtet.« Du nickst. »Ich fühle mich irgendwie komisch dabei – zu wissen, was sie tut. Ich habe auch Debbie gegenüber ein schlechtes Gewissen, weil Debbie so nett zu ihr ist. Sie deckt sie zum Beispiel immer mit ihrem Pullover zu, wenn sie schläft.« Es ist erstaunlich leicht, über Debbie, Becca, Sydney und Tara zu reden. Mir fällt auf, wie viel ich über sie weiß. Ich glaube fast, ich mag sie. Ich schaue auf die Uhr, um nachzusehen, wie lange es noch bis zum Mittagessen dauert. Dein Sessel stöhnt auf. »Aber ich habe gehört, dass du in der Gruppentherapie immer noch nicht redest.« Noch nicht. Du sagst das, als sei es so einfach, so unausweichlich. Meine Lippen sind aufgesprungen. Ich ziehe mir ein Stück meiner Unterlippe zwischen die Zähne und fange an, darauf herumzukauen. »Kannst du mir sagen, warum nicht?« Ich zucke zum tausendsten Mal mit den Schultern. Du tippst dir gegen die Lippen. »Vor kurzem ist ein neues Mädchen angekommen«, sage ich. »Ach ja?« »Sie heißt Amanda und trägt kurze Shorts und Sandalen, als ob ...« Du hebst ganz leicht eine Augenbraue. »Als ob es mitten im Sommer wäre.« Es folgt eine lange Stille. In weiter Ferne kann ich ein Flugzeug hören, das über den Himmel brummt. »Sie macht dasselbe wie ich.«
Ich schaue dich an, ob sich in deinen Augen etwas verändert, ob dein sachlicher Gesichtsausdruck wechselt zu ... zu was? Ekel? Missbilligung? Du wartest ruhig ab. »Sie hat allen ihre Narben gezeigt.« Ich beiße mir etwas fester auf die Lippe. Das ist alles. Ich bin am Ende. Ich lausche dem Brummen des Flugzeugs nach, aber es ist weg. »Bist du der Meinung, sie sollte sie lieber für sich behalten?« »Was?« »Glaubst du, das neue Mädchen sollte ihre Narben verbergen?« »Das ist mir egal.« Und dann, gleich hinterher: »Sie sind widerlich.« Ich ziehe an meinen Ärmeln, zerre den Stoff straff und wickele ihn fest um meine Daumen. »Warum sollte man den anderen Leuten nicht zeigen, was man tut? Oder wie man sich fühlt?« »Es ist nicht fair«, antworte ich. »Nicht fair?« »Es könnte sie erschrecken.« Du siehst verwirrt aus. »Können wir von was anderem reden?«, frage ich. »Natürlich.« Aber mir fällt nichts anderes ein. »Meine Mom hat mir dieses Namensding geschickt«, sage ich schließlich. »Ich habe Ihnen ja erzählt, dass sie ganz wild auf Nähen und Sticken ist, oder?« Du nickst. »Sie hat dieses Ding genäht, das man an die Tür hängen kann. Es ist mein Name. Aus Stoff. Mit Watte gefüttert.« Dieses Namensding kommt mir so dämlich vor. Ich kann es einfach nicht beschreiben. »So eine Art Dekoration?«, fragst du. »Ja, denke schon.« »Mm‐hmm.« »Meine Mutter muss sich schonen«, füge ich hinzu. »Ja«, sagst du. »Das hast du schon erwähnt. Dass sie viel Ruhe braucht.« Aber mit einem Mal bin ich es, die sehr müde ist. Richtig erschöpft. »Können wir jetzt aufhören?«, frage ich. »Ja, sicher«, antwortest du mit einem leisen Lächeln. »Unsere Zeit ist sowieso vorbei.«
Die Stunde, die wir im Arbeitsraum verbringen müssen, ist fast zu Ende. Debbie schreibt in ihr Tagebuch. Sydney hat sich die Kopfhörer ihres Walkmans aufgesetzt und hört Musik. Die anderen schlafen. Ich spiele in Gedanken mit Worten aus dem Chemieunterricht. Osmose. Hyperfiltration. Sydney lehnt sich über den Zwischenraum hinweg, der unsere beiden Tische voneinander trennt, und wedelt mit einem gefalteten Stück Papier. Sie deutet auf Tara. Ich begreife sofort, dass ich die Notiz an Tara weitergeben soll. Ich nehme sie, ohne nachzudenken. Dann erst erkenne ich das Problem. Tara schläft tief und fest. Ihr Kopf liegt auf ihren Armen und ist von mir abgewandt. Eine Weile betrachte ich Taras Rücken, der sich im Rhythmus ihres Atems auf und ab bewegt. Dann beuge ich mich hinüber und schiebe den Zettel unter ihren Ellenbogen. Ich schaue zu Sydney, die mit der Hand über dem Mund lautlos kichert. Meine Mundwinkel kräuseln sich nach oben. Ich beiße mir auf die Innenseiten meiner Wangen und ziehe den Zettel wieder unter Taras Ellenbogen hervor. Sie rührt sich immer noch nicht. Sydney windet sich mittlerweile vor unterdrücktem Gelächter. Ihr Gesicht ist tomatenrot. Meine Brust fühlt sich an, als würde sie jeden Moment explodieren. Ich schlucke und pruste dann ein Geräusch hervor, das sich so anhört, als würde die Luft aus einem Ballon entweichen. Tara macht einen Satz. Sydney lacht laut auf, als ob dies das Lustigste sei, was sie je erlebt hätte. Meine Hand zittert, als ich Tara den Zettel gebe. »Danke«, flüstert mir Sydney zu. »Gern geschehen«, antworte ich. Gern geschehen. Zwei Worte, die einem automatisch über die Lippen kommen. Zwei Worte, die man sagen kann, ohne wirklich etwas zu sagen. Ich schließe die Tür zu deinem Büro. Bevor du mich fragen kannst, worüber ich reden möchte, zeige ich dir die Wayne Gretzky‐Karte. »Das ist Sams Lieblingsspieler«, erkläre ich. Du lächelst. »Du hast mir schon erzählt, wie sehr er diese Eishockeykarten mag.« Ich lehne mich auf dem Sofa zurück und strecke die Beine aus. Dann setze ich mich aufrecht und mein Rücken verkrampft sich. »Ja, aber er selbst spielt nicht. Er schaut sich nur die Karten an.« Du nickst. »Er hat ein Tischhockeyspiel, das ich für ihn aufgebaut habe, mit Plastikspielern, die man mit Stäben bewegen kann.«
Ich weiß nicht, ob du eine Ahnung hast, wovon ich rede, aber die Worte sprudeln nur so hervor. »Er hat es vorletztes Jahr zu Weihnachten bekommen. Die Anleitung zum Aufbau war ungefähr zehn Seiten lang. Kein Mensch konnte kapieren, was gemeint war: Stecken Sie Klammer X in Schlitz Z und Pfosten Y in Loch 22.« »Hört sich kompliziert an«, sagst du. »Ja, auf der Verpackung stand: Beim Aufbau ist die Hilfe eines Erwachsenen nötig. Aber meine Eltern waren nicht da. Meine Mom hat meine Großmutter im Altenheim besucht.« »Also hast du es selbst zusammengebaut?« »War kein Problem.« Das hört sich so angeberisch an, deshalb erzähle ich dir auch noch den Rest. »Ich bin sauer geworden, auf Sam. Normalerweise bin ich nie wütend auf ihn.« Du neigst deinen Kopf zur Seite. »Er hat die Aufkleber falsch angebracht.« Das hört sich blöde und trivial an. »In der Anleitung stand, dass man das erst ganz zum Schluss machen soll.« »Und das hat dich wütend gemacht.« »Vielleicht. Ein bisschen«, sage ich. Dann: »Ich war gemein.« »Wie meinst du das?« Du hörst dich ungläubig an, als ob du dir nicht vorstellen könntest, dass ich gemein werden kann. »Ich habe ihn angeschrien.« Ich schaue dich an und warte auf deine Reaktion. Du siehst ruhig aus, wie sonst auch. »Er ist krank geworden.« Ich lasse die Worte in meinen Schoß fallen und schaue dann auf. Du nickst. »Er musste ins Krankenhaus«, sage ich. Du wirfst mir einen besorgten Blick zu. Ich möchte, dass er verschwindet. »Wissen Sie, was Sam gesagt hat? Damals glaubte er noch an den Weihnachtsmann. Er meinte, er sei wütend auf den Weihnachtsmann, weil der ihm das Spiel nicht zusammengebaut hätte. Ich erklärte ihm, dass der Weihnachtsmann vielleicht zu beschäftigt gewesen sei. Und Sam meinte: ›Für so was hat er doch seine Wichtel.‹« Ich lächele und erinnere mich daran, wie witzig sich das aus seinem Mund angehört hat. Du lächelst ebenfalls leicht. Und so erzähle ich weiter. »Er hat die Aufkleber aufgeklebt, als ich nicht hingeschaut habe. Sie waren alle zerknautscht und schief. Und er hat die Aufkleber, die auf die Spieler gehören, auf die Anzeigetafel geklebt. Ich habe ihm gesagt, dass er alles
verderben würde. Da hat er die restlichen Aufkleber hinter seinem Rücken versteckt und angefangen zu weinen.« Diesmal schaue ich nicht in dein Gesicht. Ich hefte meine Augen auf den Hasen und rede weiter. »Ich habe nicht auf ihn geachtet. Ich habe einfach weiter das Eishockeyspiel aufgebaut, während er geweint hat. Dann hat er mich am Ärmel gezogen und gesagt, dass er keine Luft mehr bekäme. Seine Augen waren ganz groß und er hat so ein komisches Geräusch von sich gegeben. Das klang wirklich beängstigend. Ein nasses Rasseln und Gurgeln, das aus seiner Brust kam. Es klang so, als würde er innerlich ertrinken.« Ich zerreiße das Taschentuch in meinem Schoß und beschließe, den nächsten Teil zu überspringen. »Sie haben ihn ins Krankenhaus gebracht. Es war schon nach Mitternacht, als sie nach Hause kamen ...« »Warte einen Moment, Callie.« Du beugst dich in deinem Sessel vor. »Wer hat ihn ins Krankenhaus gebracht?« »Meine Eltern.« Ich schaue dich an und dann wieder zur Seite. »Also sind sie nach Hause gekommen?« Du siehst verwirrt aus. »Ja.« Ich rede weiter, schneller. »Es war schon nach Mitternacht, als sie nach Hause kamen. 1:16 Uhr am Morgen. Ich weiß es noch genau. Ich hatte mir überlegt, dass ich das Krankenhaus anrufen würde, wenn sie um 1:23 Uhr nicht da sein würden, um zu fragen, ob es Sam gut ginge. Sie wissen doch, auf der Digitaluhr sieht die Uhrzeit aus wie 1‐2‐3. Das wäre das Zeichen gewesen, dass ich anrufen sollte.« Ich warte nicht ab, ob du mich verstehst. »Aber dann sind sie doch gekommen, also musste ich nicht anrufen.« Du atmest aus. »Meine Mom war furchtbar aufgeregt. Sie wollte wissen, warum ich nicht im Bett wäre. Sie sagte, dass Sam in einem Sauerstoffzelt liegen würde. Dann fing sie an zu weinen. Und plötzlich gaben die Beine unter ihr nach. Sie kniete auf dem Boden, weinte und sagte immer wieder: ›Oh, mein Gott. Oh, mein Gott.‹ Mein Dad musste sie ins Bett tragen.« Ich werfe einen Blick auf die Uhr. Die Zeit ist um. Ich rutsche unruhig auf dem Sofa hin und her. Du rührst dich nicht. Ich schiebe mich zur Kante des Sofas vor. Du sitzt immer noch ganz still. »Das muss sehr schlimm gewesen sein«, sagst du. Ich stehe auf. »Ja. Für meine Mom. Sie hat einer Freundin am Telefon erzählt, dass Sam fast gestorben wäre. Und danach ist sie kaum noch Auto gefahren und hat sich fast nichts mehr getraut.« Ich lege meine Hand auf den Türgriff. »Das ist alles«, sage ich.
Ich warte nicht ab, sondern öffne sofort die Tür. »Bis morgen«, werfe ich dir über meine Schulter hinweg zu. Als ich an diesem Abend in den Waschraum gehe, um mich zu duschen, steht Becca in ihrem Bademantel und mit ihren Hunde‐Pantoffeln am Waschbecken. Bis vor kurzem dachte ich, dass Becca so alt sei wie ich. Dann hat sie uns in der Gruppentherapie erzählt, dass man sie im Krankenhaus nicht zwangsernähren durfte, weil sie bereits volljährig sei. »Niemand schreibt mir vor, was ich tun darf und was nicht«, sagte sie. »Ich bin achtzehn Jahre alt.« Sie hält die Zahnbürste in der Hand und betrachtet sich stirnrunzelnd im Spiegel. Dann, als ob sie sich daran erinnert hätte, dass sie bei etwas unterbrochen wurde, fängt sie an, ihre Zähne zu putzen, so fest, dass es wehtun muss. Ich steuere auf das Waschbecken am anderen Ende des Raums zu. Ein säuerlicher Geruch von Erbrochenem weht mir in die Nase, während ich an den Toilettenkabinen vorbeigehe. Becca sprüht sich mit Parfüm ein. Rochelle merkt nichts von alledem. Ich stelle mich so hin, dass ich Becca im Spiegel sehen kann. Sie bemerkt es. Unsere Augen treffen sich für einen Moment. Sie schaut mich an, peinlich berührt und stolz zugleich. Ich schnappe mir mein Handtuch und gehe aus dem Waschraum, als ob ich etwas in meinem Zimmer vergessen hätte. Ich werde später wiederkommen. »Ich habe heute nichts zu sagen«, erkläre ich, als ich mich auf deinem Sofa niederlasse. »Nein?« »Nein. Eigentlich nicht.« »Dann möchte ich dich etwas fragen«, sagst du. Du wartest nicht ab, ob ich damit einverstanden bin. »Als Sam krank wurde – während du das Eishockeyspiel zusammengebaut hast –, nun, gibt es noch irgendetwas über diesen Tag, was du mir sagen willst?« Ich betrachte einen Fleck auf dem Teppich und erkenne, dass er wie eine Frau mit einer großen Nase geformt ist. Oder wie eine Amöbe. »Es hat geregnet«, sage ich schließlich. »Sonst noch etwas?« Ich wende meinen Blick nicht von dem Fleck ab. »Nein.« »Nun, könntest du mir bitte eine Sache erklären, die ich nicht ganz verstehe.« Du machst eine kurze Pause. Zu kurz für mich, um zu
protestieren. »Deine Eltern waren nicht da, wenn ich mich recht erinnere. Stimmt doch, oder?« Ich bewege mich nicht. »Wie hast du ihnen mitteilen können, dass es Sam schlecht ging? Kannst du dich daran erinnern?« Und ob ich das kann. Ich rannte die Kellertreppe hinauf, zwei Stufen auf einmal nehmend. Dann zur Eingangstür hinaus, über den Rasen, auf die Straße. Ich warf einen kur‐ zen Blick zurück auf unser Haus und auf den weihnachtlichen Fensterschmuck, den meine Mutter aufgehängt hatte. Dann versuchte ich noch schneller zu rennen. Ich stolperte, fiel der Länge nach hin und merkte, dass ich vor dem Bordstein kniete. Ich kann mich nicht daran erinnern, wie ich aufgestanden bin, ich weiß nur noch, dass ich rannte und meine Füße unter mir betrachtete. Erst den einen, dann den anderen, wie sie auf den Asphalt trommelten. Ich hatte das Gefühl, dass sie nicht zu mir gehörten, dass sie kein Teil von mir waren, als ob sie einfach auftauchen und wieder verschwinden würden, damit ich etwas hätte, worauf ich mich konzentrieren konnte, während ich rannte. Ich rannte aus unserem Wohnviertel heraus, hinaus auf die Hauptstraße. Ich bin wohl am Steakhaus vorbeigekommen, am Eiscafe und an der Videothek, obwohl ich mich nicht daran erinnern kann. Ich schaute nur auf meine Füße, die auftauchten, verschwanden, wieder auftauchten und wieder verschwanden, bis ich irgendwann vor Buds Kneipe stand. Ich stieß die Tür auf und trat ein, aber in der plötzlichen Dunkelheit, die dort drinnen herrschte, konnte ich nichts erkennen. In der Kneipe roch es nach Hotdogs, die zu lange auf dem Grill gelegen hatten, und nach feuchten Kleidern. Einen Moment lang glaubte ich, ich müsste mich übergeben. An der Bar stand ein Mann. »Daddy!«, rief ich. Wie ich das sagte, hörte es sich so kindisch an. Kindisch und ängstlich. Der Mann drehte sich um und warf mir einen gelangweilten Blick zu. Es war nicht mein Vater. Ein anderer Mann kam gerade pfeifend aus der Toilette. »Daddy!« Diesmal klang es kindisch und verzweifelt. Und diesmal war es mein Vater. Er schaute mich an, als wüsste er nicht, woher er mich kannte. »Callie?«, sagte er überrascht. »Was machst du hier?« »Es ist Sam«, sagte ich gehetzt. »Er ist krank.« »Willst du eine Cola?«, fragte er und wandte sich zur Bar. Sein Rücken kam mir gigantisch vor. Als er sich wieder umdrehte, hielt er ein Bier in der Hand. Er nahm einen Schluck und ich beobachtete, wie sein Adamsapfel auf und ab hüpfte. »Er ist krank!«
Mein Vater schaute mich verständnislos an. »Daddy!« Ich stampfte mit dem Fuß auf. »Ich habe Mom schon im Altenheim angerufen«, sagte ich etwas ruhiger. »Sie ist auf dem Weg nach Hause.« Da schien er aufzuwachen. »Warum hast du das nicht gleich gesagt?« Er nahm seine Brieftasche heraus, warf ein paar Geldscheine auf die Theke und packte seinen Mantel. Erst als wir im Auto saßen, fiel mir auf, wie kalt es war. Kalt und nass. »Kannst du bitte die Heizung anmachen?«, bat ich. Er sagte nichts, sondern stellte nur den Hebel der Heizung um. Am Anfang blies uns kalte Luft entgegen und ich umklammerte mich selbst mit meinen Armen, damit mir nicht noch kälter wurde. Als es im Wagen warm wurde, stellte er die Heizung ab, knöpfte seinen Mantel auf und lockerte den Kragen seines Hemdes. All die Geschäfte, an denen ich auf meinem Weg zur Kneipe vorbeigekommen war – die Schnellimbisse und die Videothek –, zogen wie in Zeitlupe an meinem Fenster vorbei. Wie kam es, dass es so viel länger dauerte, mit dem Auto nach Hause zu fahren, als ich gebraucht hatte, um zu laufen? Aber wahrscheinlich kam es mir nur so lang vor, denn wir wa‐ ren noch vor meiner Mutter zu Hause. Ich kann mich noch genau daran erinnern, aber ich sage kein Wort. Ich sitze einfach nur da und starre auf den Fleck auf dem Teppich, bis du schließlich seufzt und erklärst, dass unsere Zeit für heute um sei. Etwas weckt mich mitten in der Nacht. Es ist die Stille. Ich setze mich auf und warte auf das Quietschen von Rubys Schuhen, auf das erstickte Geräusch von einem Mädchen, das in seine Kissen weint, auf das weit entfernte Gelächter aus dem Fernseher im Schwesternzimmer. Aber heute ist es ausnahmsweise absolut still. Ein milchig weißes Leuchten erfüllt den Raum. Ich recke mich höher und schaue aus dem Fenster. Es schneit. Ich lausche auf die Schneeflocken, die auf die Fensterscheibe treffen und mit einem leichten, kratzenden Geräusch zerschmelzen. Dann lege ich mich wieder hin, drehe mich auf die Seite und versuche weiterzuschlafen. Irgendwo da draußen drehen Autoreifen durch. Dann ist es wieder still. Ich muss an eine Talkshow denken, die ich einmal gesehen habe und in der sich Menschen über ihre Schlafstörungen unterhalten haben. Irgendein Experte riet ihnen aufzustehen und zu lesen oder ein Glas Milch zu trinken, wenn sie nicht einschlafen können. Ich versuche die Gedanken zu verscheuchen und einzuschlafen. Ich spiele das Einatmen‐Ausatmen‐
Spiel. Es wirkt nicht. Schließlich stehe ich auf, taste im Dunkeln nach meinen Pantoffeln und gehe raus. Ich will nachschauen, ob Ruby an ihrem Tisch sitzt und strickt. Vor jedem Schlafzimmer, kurz über dem Boden, stecken zwei kindersichere Nachtlichter. Ich werde Ruby sagen, dass der Flur damit aussieht wie eine Landebahn. Der Gedanke gefällt ihr bestimmt. Wir werden uns unterhalten. Und danach werde ich schlafen können. Am anderen Ende des Flurs sitzt Rochelle auf ihrem Posten, um Ausschau nach Magersüchtigen zu halten, die sich nachts übergeben oder ein Abführmittel benutzen wollen. Als ich an Beccas Zimmer vorbeikomme, erhasche ich im Dämmerschein der Nachtlichter eine Bewegung. Es ist Ruby, die auf der Kante von Beccas Bett sitzt. Ich beschließe, auf sie zu warten, damit ich ihr von der Landebahn erzählen kann. Ruby schaut auf und wirft mir einen halb besorgten, halb verärgerten Blick zu. Ich weiche zur Wand zurück und schleiche mich dann auf Zehenspitzen in mein Zimmer. Dort, in meinem Bett, zähle ich die Schneeflocken, bis es Morgen geworden ist, bis Sydney aufsteht und ihr Bett macht. Im Speisesaal geht es heute noch verrückter zu als üblich. Vielleicht liegt es am Schnee, vielleicht auch an den Pfannkuchen. Jedenfalls tönt das Gelächter und das Geklapper des Geschirrs heute noch lauter als sonst. Ich stehe in der Schlange und warte auf mein Frühstück, als sich Debbie vor mich stellt. Offenbar ist sie auf einen Nachschlag aus. In ihrer Hand hält sie einen leeren, mit Marmelade beschmierten Teller. »Warum dauert das so lang?«, schreit sie über die Theke zu einer Küchenhilfe mit einem Haarnetz. Die Frau lächelt nervös. Debbie reicht ihr den Teller. »Ich will noch mehr«, sagt sie. Als ich schließlich meinen Saft geholt und mich hingesetzt habe, ist Debbie mit dem Essen fast fertig. Tara sitzt ihr gegenüber und sieht mit einem entsetzten Ausdruck im Gesicht zu, wie Debbie einen Bissen Pfannkuchen nach dem anderen in sich hineinschaufelt. Amanda betrachtet Debbie mit ehrfürchtigem Schweigen. »Wo ist Becca?«, fragt Sydney. Niemand antwortet. Debbie kaut weiter, als ob sie nichts gehört hätte. »Deb?«, sagt Sydney fragend. »Wo ist Becca?« »Auf der Krankenstation.« Debbies Stimme klingt gelangweilt, nüchtern. Sie schaut Sydney nicht an, sondern heftet ihren Blick auf eine Stelle hinter ihr an der Wand. Tara stellt langsam ihr Glas Orangensaft ab. »Was ist los mit ihr?«
Debbie antwortet nicht. Sie kaut, schneidet ein weiteres Stück Pfannkuchen ab und schiebt es in ihren Mund. »Debbie?« Tara sieht aus, als würde sie gleich anfangen zu weinen. »Debbie!«, ruft Sydney. »Was ist passiert?« Debbie zuckt mit den Schultern. »Ist es ihr Herz?«, fragt Tara. Debbie steht abrupt auf. Ihre Unterlippe zittert. »Ich weiß es nicht.« Sie schnappt sich ihr Tablett und stürmt davon. Unser Tisch verharrt in Schweigen. Dann bricht eine Flut von Worten los. »Ich wette, sie hatte wieder einen Herzanfall«, sagt Tara. Sydney legt ihren Arm um Taras Schultern. »Mach dir keine Sorgen«, sagt sie. »Es kann nicht so schlimm sein, wenn Becca nur auf der Krankenstation ist. Wenn es etwas Ernstes wäre, hätte man sie ins Kran‐ kenhaus gebracht.« Tiffany stimmt zu, greift in ihre Tasche, die sie stets umhängen hat, und reicht Tara ein Taschentuch. Amanda schaukelt mit ihrem Stuhl vor und zurück und lächelt. »Stark«, sagt sie bewundernd. »Diese Becca ist wirklich stark.« Ich taste nach dem lockeren Metallband an der Tischkante und verbiege es ein wenig. Ohne Warnung bricht es ab und liegt in meiner Hand. Alle an‐ deren sind so damit beschäftigt, über Becca zu reden und sich Sorgen zu machen, dass mich niemand beachtet. Es war Zufall, dass dieses Ding sich gelockert und mir in die Hand gefallen ist. Trotzdem stecke ich es ein. Man kann ja nie wissen. Die Glocke läutet. Das Aufstehen fällt mir schwer. »Erinnern Sie sich noch an das Mädchen aus meiner Gruppe, von dem ich Ihnen erzählt habe?«, frage ich, sobald du die Tür geschlossen hast. »Welches denn?« »Becca, die Dürre, das magersüchtige Mädchen, das ihr Essen erbricht.« Du nickst. »Sie ... Ich ...« Heiße Tränen schießen mir in die Augen. Dein Bild verschwimmt zu einem bunten Fleck. »Es ist was passiert.« Ich schaue aus dem Fenster und lege meine Hand über meine Augen, als ob die Sonne zu hell wäre. »Was ist passiert, Callie?« Ich werfe dir einen verstohlenen Blick zu. Deine Hände sind zu einer betenden Geste aneinander gepresst. »Bitte sag es mir.« »Wir wissen es nicht genau«, antworte ich. Mir fällt auf, dass ich das Wörtchen »wir« benutzt habe. Eine Zeit lang kann ich nicht weitersprechen.
»Vielleicht hat sie wieder einen Herzanfall gehabt«, sage ich schließlich. Die Worte schießen abgehackt aus meinem Mund, wie Gewehrsalven. Du schiebst mir das Kästchen mit den Papiertaschentüchern über den Teppich zu. Es bleibt vor meinen Füßen stehen. »Kannst du mir sagen, warum du so aufgewühlt bist?« »Nein.« Ich fühle mich wie benebelt. Verloren. »Das kann ich nicht. Wirklich nicht.« Du lehnst dich zurück. »Würdest du dich besser fühlen, wenn ich dir erzähle, was ich weiß?« Ich nicke, leicht verblüfft und doch aus irgendeinem Grund gar nicht überrascht, dass du weißt, was mit den Mädchen in meiner Gruppe passiert. »Es war kein Herzanfall«, erklärst du. Ich setze mich aufrecht hin und warte auf mehr. »Der Arzt meint, sie hätte letzte Nacht einen unregelmäßigen Herzschlag gehabt«, sagst du. »Und etwas Herzrasen.« »Sie hatte keinen Herzanfall?« Ich will ganz sicher sein. »Nein. Sie glauben, dass sie lediglich etwas ausgetrocknet war.« »Weil sie ihr Essen erbrochen hat?« »Wahrscheinlich.« Ich knülle das Papiertaschentuch zusammen, werfe es in den Mülleimer und nehme mir ein neues. »Also wird sie wieder gesund?« Du bläst einen langen, stetigen Atemzug aus deinen Lungen. »Das kann ich dir nicht sagen. Sie wird gesund werden, wenn sie anfängt, ihre Gesundheit ernst zu nehmen, wenn sie die Therapie hier ernst nimmt. Andernfalls...«, deine Stimme verstummt. »Debbie hat sich ziemlich aufgeregt«, sage ich. »Debbie?« »Das Mädchen, das sich um sie kümmert.« »Woher weißt du das?« »Sie hat Unmengen von Pfannkuchen gegessen«, erkläre ich. »Einen ganzen Haufen.« Vor meinem geistigen Auge sehe ich Debbie am Frühstückstisch sitzen und Pfannkuchenstücke in ihren Mund schieben. Mir wird klar, dass dieser Anblick noch vor kurzem Ekel, Abscheu oder Zorn in mir hervorgerufen hätte. Möglicherweise auch Schadenfreude. Jetzt macht er mich nur noch traurig. »Wie fühlst du dich?« »Ich? Ich weiß nicht.« Die Antwort scheint dich nicht völlig zufrieden zu stellen.
»Tara war auch sehr besorgt.« Ich will über Debbie reden, über Tara und all die anderen. »Aber das neue Mädchen«, füge ich hinzu, »ist wirklich ko‐ misch.« Du neigst deinen Kopf zur Seite. »Es schien fast so, als würde sie sich über das, was passiert ist, freuen.« »Callie«, wirfst du ein. »Was ist mit dir? Wie ist dir zumute bei dem, was mit Becca geschehen ist?« Deine Augen wandern zur Uhr und prüfen kurz, wie viel Zeit uns noch bleibt. Ohne darüber nachzudenken, lege ich meine Hand auf meine Hosentasche und taste nach dem Metallstreifen. Er ist da, falls ich ihn brauche. Wie mir zumute ist? Mir ist nach Schneiden zumute. Ich weiß nicht, warum. Und ich schweige. Die anderen sind schon da, als ich zur Gruppentherapie komme. Die einzigen freien Stühle sind der von Becca und derjenige, der neben Debbie steht. Debbies Augen sind gerötet. Sie hat blauen Lidschatten aufgelegt und ihr Gesicht ist kalkweiß. Offenbar hat sie geweint. Ich setze mich auf den Stuhl neben ihr. Claire beginnt die Sitzung, indem sie verkündet, dass es Becca wieder besser geht. Sie müsse allerdings noch eine Weile auf der Krankenstation bleiben. »Also hatte sie keinen Herzinfarkt?«, fragt Tara. »Kommt sie zurück?«, will Sydney wissen. »Kann ich ihr Zimmer haben?«, ruft Tiffany. Claire nimmt ihre Brille ab und reibt sich den Nasenrücken. »Becca hat nichts gegessen. Sie hat ihr Essen versteckt und es später weggeworfen«, sagt sie. Sie hält ihre Brille gegen das Licht und wischt dann die Gläser mit einem Taschentuch ab. »Und das Wenige, was sie gegessen hat, hat sie wieder erbrochen.« »Also«, fährt sie fort, »wir müssen heute darüber reden, wie ihr Beccas Handlung betrachtet, was ihr dabei fühlt.« Tiffany knabbert an ihren Nägeln. Debbie kaut auf ihrem Kaugummi, ich auf meiner Lippe. Im Zimmer ist es völlig still, so still, dass wir die gedämpften Stimmen der Gruppe im Raum nebenan hören können. »Keine Freiwilligen?«, fragt Claire schließlich. »Na gut. Dann geht's der Reihe nach.« Mein Herz hämmert. Das haben wir noch nie zuvor gemacht. Was soll ich machen, wenn ich drankomme? »Tiffany, fängst du bitte an?«, sagt Claire.
Ich atme erleichtert aus. Tiffany sitzt vier Plätze von mir entfernt. Tiffany rollt mit den Augen und zieht an dem Träger ihrer Handtasche. »Ich find's beschissen«, sagt sie. »Ich weiß nicht, warum. Es ist einfach so.« Sie wendet sich zu Tara. Tara zuckt mit den Schultern. Dann fängt sie an zu weinen. Sie wirft hilflos ihre Hände hoch und dreht sich zu Amanda um. Mein Herz fängt heftig an zu schlagen. Noch zwei Mädchen und dann komme ich an die Reihe. »Ich kannte sie ja nicht so gut«, sagt Amanda. »Ich meine, ich kenne sie nicht gut. Sie ist ja nicht tot oder so was.« Sie wirft ein anmaßendes Lächeln in die Runde. »Aber was empfindest du?«, fragt Claire. »Was ich empfinde? Och, na ja. Es hat eine Menge bei mir bloßgelegt. Die Angst vor dem Alleinsein, Selbstzweifel, unterdrückte Feindseligkeit, solche Sachen halt. Ist es das, was Sie hören wollen?« Claire verzieht ihre Lippen und wendet sich dann Sydney zu. »Sydney, was ist mit dir?« Sydney sitzt neben mir, aber ich kann kaum verstehen, was sie sagt, weil mein Herz so laut schlägt. »Es regt mich auf.« Sydneys Stimme zittert. Sie räuspert sich. »Es regt mich auf, dass sie sich das antut. Wie kann sie nur?« Sie kann die Tränen nicht mehr zurückhalten und dreht sich zu mir. Ich schaue in die Runde. Tara schaut unter ihrer Baseballmütze hervor und schenkt mir ein verheultes Lächeln. Amanda betrachtet mich misstrauisch. Ich kratze an der Naht meiner Jeans. Da beugt sich Debbie vor. »Du musst nichts sagen, Callie.« Sie schaut die anderen an. »Stimmt doch, oder, Leute?« »Warum musst du dich immer einmischen?«, fragt Tiffany. »Warum lässt du sie nicht selbst entscheiden. ob sie reden will. Du bist ja sooo besorgt um sie, darüber, dass sie bloß nichts sagt. Ich glaube viel eher, dass du diejenige bist, die nicht darüber reden will.« Debbie ignoriert sie und wendet sich an Claire. »Sie muss doch nichts sagen, wenn sie nicht will, oder?« Claire seufzt. »Das liegt ganz bei Callie«, antwortet sie. »Callie, bist du heute bereit zu reden?« »Na, komm schon, S. T.«, flüstert mir Sydney zu. Ich kratze und reiße an der Naht. In meinem Kopf bilden sich Worte, erst nur ein paar, dann eine ganze Flut. Dann sind sie weg. Ich schüttele leicht meinen Kopf, dann immer heftiger, bis mein Haar von einer Seite zur anderen fliegt. »Also schön«, sagt Claire. »Debbie?«
Debbies Arm streift meinen, als sie sich auf ihrem Stuhl bewegt. Stille. Dann gedämpfte Geräusche von nebenan. Dann wieder Stille. »Ich habe Angst.« Ich bin mir nicht sicher, ob es wirklich Debbie ist, die da spricht, daher riskiere ich einen Blick aus den Augenwinkeln. »Debbie«, sagt Claire. »Wovor hast du Angst?« Debbie zerknautscht ihr T‐ Shirt zwischen den Händen. Ich bewege mich nicht. »Dass ihr alle sauer auf mich seid.« »Wieso denkst du das?«, fragt Claire. Debbie zuckt mit den Schultern. Ihr Arm berührt meinen. Er ist weich, wie ein Kissen. Ich entspanne mich ein wenig. »Debbie«, sagt Claire mit sanfter Stimme. »Schau mich bitte mal an.« Wir alle richten den Blick auf sie. »Warum sollten wir auf dich wütend sein?« Debbie knäult das T‐Shirt zu einem Ball zusammen. »Ich hätte versuchen sollen sie aufzuhalten.« Die anderen rutschen auf ihren Stühlen hin und her. Vom anderen Ende des Raums ertönt leises Husten. Dann wieder Stille. Schließlich hebt Tara ihre Hand. »Du hattest doch keine Ahnung, was sie macht.« »Ich hätte es aber wissen müssen.« Debbie schaut sich in der Runde um. »Ich weiß, dass ihr alle das denkt. Ich weiß, dass ihr mich hasst. Ihr hasst mich, weil ich nicht auf Becca aufgepasst habe. Das weiß ich genau.« Niemand sagt etwas. Debbie schlägt mit ihren Fäusten auf ihre Hüften. »Es ist einfach nicht fair! Ich versuche zu tun, was die Leute von mir erwarten. Zu Hause mache ich all die Arbeiten, die sonst niemand machen will. Ich sortiere den Müll, mache die Toilette sauber, wasche die Wäsche ...« Ein langes Schweigen folgt. »Warum?«, fragt Sydney. Ihre Stimme ist weich, neugierig. Debbie zuckt mit den Schultern. »Warum tust du Dinge, die niemand von dir verlangt?« Debbie schüttelt ihren Kopf. »Ich weiß es nicht.« Sie klingt erschöpft. »Ich weiß es wirklich nicht.« Sie stößt einen langen, müden Seufzer aus. Als er verklingt, ist es wieder still. Sie sackt auf ihrem Stuhl zusammen. Ihr Arm ruht an meinem. Ich rücke nicht von ihr ab. »Es ist nicht deine Schuld.« Die Worte kommen aus meinem Mund. Ich spreche sie in meinen Schoß hinein. Aber sie sind für Debbie. Von mir.
Ich kann hören, wie sich die anderen bewegen. Dann wird es wieder ruhig. Ich spähe unter meinem Pony hervor und betrachte den Kreis aus Füßen. Alle tragen Turnschuhe, außer Amanda, die Springerstiefel anhat. Debbie dreht sich zu mir. »Was hast du gesagt?«, fragt sie flüsternd. »Es ist nicht deine Schuld«, sage ich. »Das mit Becca.« Ich halte meine Augen auf Amandas Stiefel geheftet. Ihre Beine sind gekreuzt und sie schwingt mit dem Fuß vor und zurück. »Es ist meine Schuld.« Amanda stoppt mitten in der Bewegung. »Ich ...« Meine Stimme lässt mich im Stich. Ich räuspere mich. »Ich habe gesehen ... Einmal habe ich gesehen, dass sie ihren Keks in ihrer Serviette versteckt hat. Und ich wusste, dass sie ihr Essen erbricht.« Ich lehne mich zurück, zitternd und sehr, sehr müde. Die Stille scheint endlos und laut zu sein, weil niemand etwas sagt. Ich kann es nicht ertragen hochzuschauen und in ihre Gesichter zu sehen. Zu sehen, wie wütend sie sind. Im Flur erklingen Schritte. Erst leise, dann lauter und lauter, bis sie schließlich wieder leiser werden und dann ganz verklingen. »He, S. T«, sagt Sydney schließlich. Ich rühre mich nicht. Sie stößt mich sanft mit dem Ellenbogen an. »Weißt du was?« Ich kann immer noch nicht aufschauen. Aber ich neige leicht den Kopf. »Es ist auch nicht deine Schuld.« Sie sagt das so, als ob es keine große Sache wäre, als ob nichts davon abhinge. Aber alles hängt davon ab. Die Gruppentherapie ist vorbei. Die Leute stehen auf, nehmen ihre Bücher und machen sich auf den Weg zu ihren nächsten Terminen. Ich halte den Kopf gesenkt und packe die Stuhlkante mit beiden Händen, als ob mein Leben davon abhinge. Ich habe keine Ahnung, was hier gerade passiert ist, aber ich kann einfach nicht aufstehen. »S. T.?« Es ist Sydneys Stimme. »Kommst du?« Sie steht vor mir. Debbie ist auch da. Und Tara. Und Claire. Ein Halbkreis aus Füßen. Ein seltsames, ersticktes Geräusch explodiert in meiner Brust und bahnt sich den Weg aus meinem Mund heraus. Ich weine. Nein, ich schluchze, und ich schnappe nach Luft. Ich wische meine Augen ab. Die Füße sind immer noch da. Aber das Weinen will einfach nicht aufhören. Ich zittere und versuche gleichzeitig das Zittern zu unterdrücken. Es hilft nichts. Ich kann nicht damit aufhören. Claire sagt, dass sie Hilfe holen will.
Schließlich schieben sich ein paar weiße Schuhe in den Halbkreis. Ruby ist da und reibt mir den Rücken. »Na, na«, sagt sie. »Schon gut, Kleines. Schon gut. Alles wird gut.« Dann stehst du vor mir, in deinen kleinen, zierlichen Schuhen, und sagst dasselbe. Alles wird gut. Du schließt die Tür. Ich sehe, dass es draußen schon dunkel wird, und frage mich, ob du jetzt zu Hause wärst und dir Abendessen kochen oder mit deinem Hund spazieren gehen würdest, wenn ich nicht diesen Heulkrampf gehabt hätte. »Kannst du mir erzählen, was dich in der Gruppentherapie so aufgeregt hat, Callie?« Ich zucke mit den Schultern. »Debbie.« Das ist alles, was ich sagen kann. »Wieso hat Debbie dich aufgeregt?« »Nein.« Ich schnäuze mir die Nase. »Debbie hat gar nichts gemacht. Ich ... Sie ...« Ich zerreiße das Taschentuch und fange nochmal von vorne an. »Sie dachte, es sei ihre Schuld. Das mit Becca.« Ich traue mich nicht, dich anzuschauen. »Ich dachte, es sei meine Schuld«, flüstere ich. Ich werfe dir einen Blick zu und schaue dann wieder weg. Du machst ein besorgtes Gesicht. »Alles ist meine Schuld.« »Was denn?« »Ich weiß auch nicht. Alles. Sam.« »Sam?« »Es ist meine Schuld, dass er krank geworden ist. Was bedeutet, dass es meine Schuld ist, wenn meine Mom nicht mehr dieselbe ist wie früher und wenn mein Dad so selten zu Hause ist. Es ist alles meine Schuld.« »Callie.« Deine Stimme ist freundlich. »Warum solltest du an all diesen Sachen schuld sein?« »Ich weiß nicht. Ich bin es einfach.« »Warum bist du schuld, dass Sam krank ist?« »Ich habe ihn doch zum Weinen gebracht. Ich habe ihn geärgert und war gemein zu ihm.« Ich habe das immer für eine Tatsache gehalten, aber als ich es jetzt ausspreche, hört es sich dumm an. »Callie, ich bin Ärztin«, sagst du. »Und ich kann dir versichern, dass man kein Asthma bekommt, nur weil man weint, weil man sich über etwas aufregt. Glaub mir, Callie. Glaubst du mir?« Ich zucke mit den Schultern.
»Asthma ist eine allergische Reaktion. Menschen können Asthma bekommen, wenn sie Kontakt mit bestimmten Substanzen haben, wie zum Beispiel Blütenpollen. Manchmal ist auch eine Virusinfektion der Auslöser.« Sie beugt sich vor. »Aber eine Person kann Asthma nicht bei einer anderen Person verursachen. Die Voraussetzung für die Allergie liegt bereits in den Genen.« Wieder hüllt der Nebel mein Gehirn ein. Was du sagst, hört sich an wie ein Referat aus dem Bio‐Unterricht. Es hat nichts mit mir zu tun oder mit Sam oder meiner Mom, die ständig Angst hat, oder meinem Dad, der immer unterwegs ist. Ich suche an der Decke nach dem Hasen, kann ihn aber nicht finden. »Hat dir irgendjemand gesagt, dass du für diese Dinge die Verantwortung trägst?« Ich schüttele den Kopf. »Niemand?« Ich schaue auf. Du siehst immer noch besorgt aus. »Was ist mit dir? Ist es nicht so, dass du dich selbst bestrafst? Indem du dich selbst verletzt?« Ich verstehe nicht, was du sagst. »Nein.« »Und warum schneidest du dich dann?« »Ich weiß es nicht.« Ich zerreiße das Taschentuch in kleine Fetzen. »Es passiert einfach. Ich kann es nicht verhindern.« Du runzelst deine Brauen. »Ich weiß, dass es schlimm ist«, sage ich. »Ich nehme an, ich tue es, weil ... weil ich böse bin.« »Wie kommst du darauf, dass du böse bist?« »Ich weiß nicht. Ich habe einfach das Gefühl, dass ich ein schlechter Mensch bin.« »Was hast du denn Schlimmes getan?« »Ich weiß es nicht.« Und sobald ich diesen Satz ausgesprochen habe, wird mir klar, dass es die reine Wahrheit ist. »Ich weiß es wirklich nicht.« Du siehst nicht mehr besorgt aus, sondern lächelst mich erfreut an und sagst, dass es für heute genug sei. Kurz vor dem Abendessen ist die Raucherveranda immer überfüllt. Als ich vorbeigehe, klopft Sydney an die Glastür. Ich bleibe stehen und schaue zu, wie sie mir bedeutet herauszukommen. Bevor ich mich entschließen kann, was ich tun soll, drückt sie ihre Zigarette aus und kommt zu mir, um mich zu holen. »Komm schon, S. T«, sagt sie und packt meinen Arm. »Komm raus zu uns.«
Ich ziehe meine Ärmel über meine Daumen und folge ihr. Dabei versuche ich, mich ihren großen Schritten anzupassen. Vor meinen Augen hüpft ihr Pferdeschwanz auf und ab. »Ich nehme an, dass ich dich jetzt nicht mehr länger S. T. nennen kann.« Sie wartet auf mich an der Tür. »Jetzt, wo du wieder sprichst.« »Schon in Ordnung«, sage ich. »Du darfst mich ruhig so nennen.« Ein kalter, verrauchter Wind bläst herein, als Sydney die Tür öffnet. Ich trete auf die Veranda hinaus, bemerke die neugierigen Blicke der anderen Mädchen und ramme meine Hände in meine Jackentaschen. »Willst du eine?« Sydney wedelt mit einem Päckchen Zigaretten vor meinem Gesicht herum. Ich schüttele meinen Kopf und schaue zu, wie sie sich eine ansteckt und dabei sorgfältig die Hand um die Flamme ihres Feuerzeugs legt, damit der Wind sie nicht ausbläst. »Meine Lieblingssucht«, verkündet sie und stößt einen großen, weißen Rauchkringel aus. Tiffany stellt sich zu uns. »Findet ihr es nicht auch seltsam, dass man uns erlaubt zu rauchen?«, fragt sie. Sydney bewundert ihren Rauchkringel, der langsam in die Höhe schwebt. »Stimmt«, sagt sie. »Man darf nicht kotzen, nicht saufen, kein Terpentin schnüffeln. Aber Rauchen ist erlaubt.« Die anderen Mädchen lachen und ich merke, wie sich meine Mundwinkel nach oben kräuseln. Ich halte mir den Ärmel vor den Mund, aber das Lächeln bleibt, wo es ist, während die anderen Witze über die Vorschriften machen, über das Essen und die Gruppentherapie. Es ist kalt hier draußen und ich frage mich, warum hier niemand im Idiotenhügel jemals einen Mantel trägt. Aber die meiste Zeit verbringe ich damit, mir bewusst zu machen, wie es sich anfühlt wieder zu lächeln. An diesem Abend bin ich so müde, dass ich in meinen Kleidern einschlafe. Ich sitze auf dem Bett und lese ein Buch für den Englischunterricht und als Nächstes erinnere ich mich daran, dass Ruby sich über mich beugt und mir sagt, es sei Schlafenszeit. »Möchtest du das hier anziehen?«, fragt sie und hält eins von meinen Nachthemden hoch. Dann ist sie weg. Ihre Schuhe quietschen den Flur entlang. Im Zimmer ist es dunkel. Sydney liegt auf dem Rücken und schläft. Ich stehe langsam auf und mache mich dann auf den Weg zum Waschraum. Rochelle sitzt auf ihrem Platz und Amanda steht an einem der Waschbecken. Ich hätte sie kaum erkannt. Sie hat all ihr Make‐up abgewaschen – den Augenbrauenstift, den schwarzen Eyeliner und ihren roten Lippenstift. Sie sieht sehr jung aus. Sie betrachtet sich im Spiegel
und bemerkt mich nicht sofort. Als ihr Blick auf mich fällt, runzelt sie die Stirn. Ich stelle mich in eine Ecke, drehe ihr den Rücken zu und fange an mich auszuziehen. Dabei achte ich sorgfältig darauf, dass sie kein Fleckchen Haut zu sehen bekommt. Zuerst hake ich meinen BH auf, schiebe die Träger nach unten und zerre ihn unter meinem T‐Shirt hervor. Dann lege ich mir ein Handtuch um die Schultern und ziehe mein T‐Shirt aus. Schnell wickele ich mich in das Handtuch ein, sodass es eine Art Toga bildet, während mein T‐Shirt zu Boden fällt. Als Nächstes schiebe ich die Jeans mit einer Hand nach unten und halte gleichzeitig mit der anderen das Handtuch fest. Ich stehe auf einem Fuß und zappele mit dem anderen, um das Hosenbein loszuwerden, als etwas Metallisches mit einem leisen Klirren auf den Fliesenboden fällt. Der Metallstreifen aus dem Speisesaal. Ich hatte völlig vergessen, dass er immer noch in meiner Hosentasche steckt. Instinktiv schiebe ich meinen Fuß über den Boden und trete auf das Metallstück. Rochelles Kopf zuckt nach oben, doch sie schaut in die falsche Richtung, nämlich zu den Toilettenkabinen. Aber Amanda wendet sich mit einem Ruck zu mir. Sie bemerkt meine unnatürliche Körperhaltung – das Handtuch, das ich mit verkrampften Händen vor der Brust zusammenhalte, ein Fuß noch halb im Hosenbein, der andere weit von mir gestreckt. Dann nickt sie langsam, anerkennend. »Rochelle!«, ruft sie, ohne den Blick von mir abzuwenden. »Ist jemand vorne am Schreibtisch? Ich brauche etwas.« Ich bin zu überrascht, um mich zu bewegen. Hat sie vor, mich zu verraten, mich in Schwierigkeiten zu bringen? Rochelle ist aufgestanden. Sie öffnet eine Toilettentür nach der anderen, um sicherzugehen, dass niemand drin ist. Als sie die letzte Kabine inspiziert hat, wirft sie Amanda einen ärgerlichen Blick zu. »Was um Himmels willen brauchst du denn so dringend um diese Uhrzeit?« Amanda lächelt mich an und wendet sich dann zu Rochelle. »Einen Tampon.« Ich begreife nicht. Dann dämmert es mir. Amanda schickt Rochelle unter einem Vorwand weg, damit ich den Metallstreifen aufheben und verstecken kann. Rochelle seufzt. »Ihr zwei seid doch keine von denen mit Essstörungen, oder? Ihr habt nicht vor, euch zu übergeben, wenn ich jetzt mal für eine Minute weggehe?« Wir schütteln einmütig die Köpfe.
»Na schön«, sagt sie. »Ich vertraue euch. Macht keinen Ärger, verstanden?« Wir nicken. Rochelle verschwindet. Wie der Blitz saust Amanda zu mir. Ich ziehe meinen Fuß zurück und da liegt das Metallstück, direkt zwischen uns. »Wo hast du das her?«, fragt sie. »Vom Esstisch im Speisesaal. Es ist abgebrochen.« »Wow«, sagt sie. »Du hast ja echt Mut.« Der Anblick des Metallstücks versetzt sie in solche Begeisterung, dass ich einen Moment lang glaube, sie wird es einstecken. Ich würde es zu gerne aufheben und vor ihren Augen in den nächsten Mülleimer werfen. Aber stattdessen nehme ich den Streifen, schließe meine Finger darum und gehe in die Dusche, bevor Rochelle zurückkommt. Meine Nackenhaare sträuben sich, als ob ich Angst hätte, dass mich Amanda von hinten packen und mir das Metallstück entreißen könnte. Aber sie tut es nicht. Ich stelle das Wasser an und lausche, während Amanda sich bei Rochelle für den Tampon bedankt. Eine Toilettentür öffnet sich, schließt sich und öffnet sich dann wieder. Ich höre, wie Amanda fröhlich »Gute Nacht« ruft. Langsam ziehe ich mir das Handtuch vom Körper, wickele den Metallstreifen darin ein und gehe unter die Dusche. Als es Zeit wird, wie‐ der in mein Zimmer zurückzukehren, stecke ich das Stück Metall in meine Hose und falte sie sorgfältig zusammen, damit es nicht herausrutschen kann. Ich werde später überlegen, was ich damit mache. Ich sitze dir in deinem Büro gegenüber und fühle mich plötzlich unsicher. Gestern ist etwas zwischen uns passiert und ich weiß nicht genau, wie ich dieses Etwas überwinden und hinter mir lassen soll. Du lächelst und ein gutes, warmes Gefühl steigt in mir auf. Ich kuschele mich in die Sofakissen und bin bereit, heute sehr hart zu arbeiten und dir die richtigen Antworten auf deine Fragen zu geben. »Wie geht es dir?«, fragst du. »Gut.« Es ist die Wahrheit, aber es scheint mir irgendwie nicht genug zu sein. Ich versuche es mit einem kleinen Lächeln. Du lächelst zurück. »Callie«, sagst du und schlingst deine Hände um deine Knie. »Was du gestern gemacht hast – dass du in der Gruppentherapie gesprochen hast–, das war ein wichtiger Schritt.« »Wirklich?« Ich möchte mehr hören. »Es hat dich eine Menge Mut gekostet.« Meine Wangen erwärmen sich, ein ungemütliches und gleichzeitig doch schönes Gefühl.
»Wie hast du dich dabei gefühlt? Ich meine, als du vor den anderen Mädchen geredet hast?« »Nicht schlecht.« Ich bemühe mich um eine bessere Antwort. »Na ja, ich hatte ein wenig Angst.« »Wovor?« »Dass die anderen wütend auf mich werden.« »Hmmm.« Du nickst. »Wer, dachtest du, wird wütend?« »Ich weiß nicht«, antworte ich. »Vielleicht alle?« »Alle?« Ich zucke mit den Schultern. Der Nebel in meinem Kopf steigt auf. Ich möchte dir die richtige Antwort geben, aber ich weiß sie nicht. »Anders gefragt: Werden die Leute oft auf dich wütend?« »Nein, eigentlich nicht.« Du wartest. »Meine Mom weint viel, aber sie schreit nicht herum oder so was«, sage ich. »Und dein Vater?« Ich kratze an der Naht meiner Jeans. »Er wird eigentlich selten sauer«, sage ich schließlich. Draußen jault ein Motor auf und Autoräder drehen auf dem eisigen Untergrund durch. »Mir ist aufgefallen, dass du nicht oft über deinen Vater redest.« Meine Wadenmuskeln verkrampfen sich, bereit wegzulaufen. Ich schlage ein Bein über das andere und stelle dann beide Füße wieder parallel hin. Es fällt mir schwer sitzen zu bleiben. »Ja und?«, frage ich. »Was kannst du mir über ihn erzählen?«, fragst du. »Steht das nicht alles in meiner Akte?«, frage ich nach einer Weile. »Über ihn weiß ich nicht besonders viel. Ich habe deine Mutter am Besuchstag getroffen, aber dein Vater war nicht dabei.« »Er muss arbeiten.« Ich weiß noch, wie ich den Parkplatz nach ihm abgesucht habe und einen Mann über den Gehsteig auf den Eingang habe zukommen sehen. Wie ich an die Scheibe geklopft und dann gemerkt habe, dass es nicht mein Vater war. Du tippst mit dem Finger auf die Akte. »Er verkauft Computer, nicht wahr?« Das hört sich so an, als würde er in einem einfachen Elektroladen als Verkäufer arbeiten. Aus irgendeinem Grund werde ich wütend. »Er verkauft Computer an große Firmen. Er lädt Leute zum Essen ein und verhandelt mit ihnen, damit sie ganze EDV‐Anlagen kaufen.« Du scheinst nicht zu begreifen.
»Er muss viel herumreisen.« Du sagst immer noch nichts. »Na, wenigstens früher. Früher musste er reisen, meine ich. Als Sam krank geworden ist, hat er sich versetzen lassen. Jetzt verkauft er nur noch an Firmen in der Nähe.« Ich sage dir nicht, dass all diese Firmen schon Computer haben und er eine Zeit lang mit Leuten ausgegangen ist, von denen er hoffte, er könne sie als Kunden gewinnen. Ich sage dir nicht, dass er jetzt meistens alleine ausgeht. »Er muss sehr viel arbeiten.« »Ist das der Grund, warum er am Besuchstag nicht hier war?« Ein Muskel in meinem Bein zuckt. Mein Herz hämmert gegen meine Rippen. Ich will nur noch eins: von der Couch aufspringen und wegrennen. Wieder überkreuze ich meine Beine und schlinge meine Unterschenkel umeinander, damit sie stillhalten. »Ich möchte nicht mehr darüber reden.« Ich presse meine Lippen aufeinander, sodass mein Mund eine gerade, dünne Linie bildet. Dann beiße ich mir auf die Unterlippe. Aus irgendeinem Grund ist das meiste von dem guten, warmen Gefühl, das ich seit gestern hatte, verschwunden. »Callie?« Ich kaue weiter auf meiner Lippe, jetzt noch fester. »Callie, du beißt dir auf die Lippe.« Einen Moment lang treffen sich unsere Augen, dann schaue ich aus dem Fenster auf die kahlen Äste. »Kennst du den Ausdruck – sich auf die Lippen beißen?« »Ich denke schon.« »Was glaubst du, bedeutet er?« »Sie wissen schon«, sage ich. Meine Augen hängen wie festgefroren an dem Baum. »Den Mund zu halten. Nichts zu sagen.« »Nichts zu sagen«, wiederholst du meine Worte. Ich kaue wieder auf der Lippe. Dein Sessel aus Kuhleder stöhnt, als du dich vorbeugst. »Callie, ich habe das Gefühl, dass es etwas gibt, was du mir nicht sagst.« Jetzt ist auch der Rest des guten Gefühls von gestern weg. Wir sind mitten in der Gruppentherapie. Tiffany erzählt uns gerade von einem Typen, mit dem sie hinter den Mülltonnen in der Schule Sex hatte. Sie behauptet, es sei seine Schuld, dass sie hier im Idiotenhügel gelandet ist. Er hat es nämlich ein paar Freunden erzählt, die es wiederum anderen Freunden erzählten, die es schließlich der Vertrauenslehrerin sagten, und
da blieb Tiffany natürlich nichts anderes übrig, als diese Lehrerin zu verprügeln. Die Tür öffnet sich. Wir alle drehen uns um. Es ist Becca. Becca, die in einem Rollstuhl sitzt, der von einer richtigen Krankenschwester geschoben wird, einer Krankenschwester in einer weißen Tracht. Tiffany verstummt mitten im Satz. Claire nickt. »Willkommen zurück, Becca«, sagt sie. Becca winkt spielerisch mit den Fingern. »Hallo, alle zusammen«, sagt sie. Niemand reagiert. »Becca wird weiterhin mit euch an der Gruppentherapie teilnehmen«, sagt Claire behutsam. »Und wir hoffen, dass sie bald wieder ganz bei uns sein wird. Aber vorläufig bleibt sie auf einer anderen Station.« Wir alle wissen, was das bedeutet: der Knaller. Becca kichert. Wir anderen zucken zusammen. Die Schwester fährt den Rollstuhl auf den freien Platz neben Amanda. Amanda rückt ihren Stuhl ein wenig zur Seite, verschränkt die Arme vor der Brust und wirft Becca einen schrägen Blick zu. Die Schwester stellt die Bremse des Rollstuhls fest und verlässt den Raum. Totenstille. »Du siehst gut aus«, sagt jemand. Es ist Sydney. Ihre Stimme zittert und ihre Augen zucken nervös durch die Runde. Becca gibt ein würgendes Geräusch von sich, streckt ihre Zunge heraus und deutet mit ihrem Zeigefinger auf ihre Kehle. »Ich werde künstlich ernährt.« Sie grinst verlegen. Wieder herrscht Stille. »Ihr glaubt also nicht, dass ich fett aussehe?« Becca kichert wieder. Debbie springt auf und läuft zur Tür. »Nein, Debbie«, ruft Claire. »Tut mir Leid, aber du musst hier bleiben.« Debbie dreht sich um. Ihre Kiefer sind zusammengepresst. An ihrem Hals tritt blau eine dicke, pulsierende Ader hervor. Claire deutet auf Debbies leeren Platz. Debbie stapft durch das Zimmer und lässt sich auf ihren Stuhl fallen. Keiner rührt sich. Becca wirft ihr Haar nach hinten. »Was ist los?«, fragt sie. »Seid ihr sauer auf mich?« Sydney hustet. Dann Schweigen. »Ja«, kommt eine dünne Stimme aus dem Kreis. Es ist Tara. Sie späht unter ihrer Baseballmütze hervor und schaut Becca an.
Becca grinst, als könne sie es nicht glauben, als sei das alles ein Witz. »Warum?«, fragt sie. »Mir geht es gut.« Sie presst die Zähne aufeinander und lächelt breit. Niemand sagt etwas. »Außerdem kapiere ich nicht ganz, warum ihr so einen Aufstand macht«, sagt Becca. Sie schaut zuerst Claire an und dann die Gruppe. »Ich habe euch doch nichts getan.« Debbie schnaubt. »Doch«, widerspricht Tara. »Doch, das hast du.« Sie senkt ihre Augen, schaut auf ihren Schoß und knackt mit den Fingerknöcheln. »Was du getan hast, betrifft uns alle. Mich. Debbie. Callie. Uns alle.« Uns. Dies ist das erste Mal, dass ich in dieses Uns mit einbezogen wurde. Meine Wangen röten sich. Beccas Blick wandert im Kreis herum, hoffnungsvoll und zweifelnd zugleich. »Wir...« Taras Stimme bricht. »Wir hatten Angst«, platzt Sydney heraus. »Wir ... na ja, wir wollen, dass du gesund wirst. Das ist doch der Grund, warum wir hier sind, oder? Wir alle. Um gesund zu werden.« Ich schaue mich um. Ich will wissen, wie die anderen darauf reagieren. Tara nickt. Debbie nickt. Tiffany zuckt mit den Schultern. Amanda schaut auf ihre Armbanduhr. Becca ist wie vom Donner gerührt. Schließlich sagt auch Claire etwas. »Becca, wie geht es dir?« Becca antwortet nicht. »Du siehst mitgenommen aus.« Becca nickt. Dann fragt sie Claire: »Kann ich bitte wieder auf meine Station zurück?« Claire sagt, das sei kein Problem. Wahrscheinlich, so meint sie, sei das alles ein bisschen viel für den ersten Tag. Sie steht auf, geht zur Tür und gibt der Aufsicht ein Zeichen. Marie kommt herein, löst die Bremse des Rollstuhls und fährt Becca hinaus. Als Becca weg ist, sitzen wir alle da und schauen auf Debbie. Wimperntusche läuft über ihre Wangen und sie knirscht mit den Zähnen. Sie sieht uns nicht an, sondern starrt nur in die Luft. »Alles klar?«, fragt Sydney nach einer Weile. Debbie nickt abwesend. Wir schauen uns an, unsicher, was wir tun sollen. »Ganz sicher?«, fragt Tara.
»Ja«, antwortet Debbie und löst endlich ihren erstarrten Blick. »Ja«, sagt sie. »Alles klar.« Dann wendet sie sich zu mir. »Was ist mit dir?«, fragt sie und wischt sich das Gesicht mit dem Handrücken ab. »Geht's dir auch gut?« Ich fühle, wie sich alle Köpfe in meine Richtung drehen. »Ja«, erwidere ich. »Sicher.« Debbie lächelt und schlägt dann die Hand vor den Mund. »Ich hab's schon wieder gemacht!«, ruft sie. »Ich kümmere mich schon wieder um andere Leute. Wie nennst du das nochmal, Amanda?« Amandas Gesichtsausdruck ist eine Mischung aus Überraschung und Schalk. »Der siamesische Zwilling«, sagt sie. »Du benimmst dich schon wieder wie ein siamesischer Zwilling.« Debbie lacht. Es ist ein nervöses Lachen, aber wir fallen alle mit ein, aus purer Erleichterung. Jede von uns. Jetzt, da ich zur Stufe Zwei aufgestiegen bin, darf ich zu bestimmten Orten alleine gehen. Heute Abend bin ich auf dem Weg ins Spielezimmer, obwohl mir eigentlich nicht nach einer Partie Vier gewinnt! zumute ist und obwohl sich alle anderen im Gemeinschaftsraum aufhalten. Ich hätte wirklich Lust fernzusehen, denn seit ich hier bin, habe ich mir keine einzige Sendung mehr angeschaut, aber ich bin mir nicht sicher, ob ich mich nach all der Zeit einfach so zu den anderen ins Zimmer setzen kann. Ich gehe an der Tür vorbei und sehe aus dem Augenwinkel, dass sich Taras Baseballmütze in meine Richtung dreht. »Callie!« Ich bleibe stehen. Tara kommt hinter mir hergerannt. Sie schlurft mit ihren Pantoffeln über das Linoleum und kommt schlitternd vor mir zum Stehen, so ähnlich wie Sams Eishockeyspieler. »He!«, keucht sie. Mir schießt der Gedanke durch den Kopf, dass auch Tara einen Herzinfarkt erleiden könnte, wenn es ihr nicht bald besser geht. Ich schaue sie an und warte, bis sie wieder zu Atem gekommen ist. »Puh!« Sie lächelt. »Wir haben uns gefragt, ob du Lust hast, mit uns fernzusehen.« Sie deutet mit dem Kopf in Richtung des Gemeinschaftsraums. »Du weißt schon, zusammen mit der Gruppe. Nur, wenn du willst. Wenn du lieber allein sein willst – kein Problem.« Sie atmet immer noch schwer. »Klar«, sagte ich und schaue in ihr hoffnungsvolles, verlegenes Gesicht. »Klar.« Sydney und Debbie sitzen auf der Couch. Tiffany hockt auf dem Boden, blättert durch Zeitschriften und blickt ab und zu auf den Bildschirm.
Sydney schaut hoch, als ich hereinkomme, rutscht ein Stück zur Seite und klopft einladend auf den Platz neben ihr. »S. T.«, sagt sie. »Komm zu mir.« Die Couch ist ein großes, dick gepolstertes und weich gefedertes Ungetüm. Als ich mich zurücklehne, reichen meine Füße nicht mehr auf den Boden. Tara setzt sich neben mich und ich sehe, dass auch ihre Füße in der Luft hängen. Im Fernsehen läuft eine Quizshow. Gerade wird der Tagessieger ermittelt. Ein Kandidat namens Tim muss für 500 Dollar eine Frage aus der Kategorie Stummfilmstars beantworten. Der Moderator liest von seinem Kärtchen ab: »Diese Schauspielerin, auch bekannt als Amerikas Liebling, spielte in der ersten Verfilmung von Johanna Spyris Roman Heidi.« »Komm schon, Tim«, feuert Sydney ihn an. »Shirley Temple?«, rät Debbie. »Nein«, sagt Tiffany. »Es ist ein Stummfilmstar.« Ich weiß es. Ich weiß die Antwort. Ich weiß es, weil ich so viele Samstagnachmittage mit Sam ferngesehen habe, wenn sich meine Mutter ausruhte. »Mary Pickford«, flüstere ich. Dann lauter: »Mary Pickford.« Tim drückt auf den Buzzer. »Mary Pickford.« Die Fanfare ertönt und Applaus brandet auf. Tim springt auf und ab. Sydney gibt mir einen Klaps auf den Rücken. »Gut gemacht, S. T! Du bist unser Tagessieger.« Am nächsten Morgen verkündet Tiffany beim Frühstück, dass sie nach Hause geht. »Die Versicherung weigert sich zu zahlen«, sagt sie und schiebt das Rührei auf ihrem Teller hin und her. »Am Anfang meinten sie, ich könnte ein paar Monate hier bleiben, aber jetzt sagen sie auf einmal, dass sie nur einen Monat Aufenthalt bezahlen, und der Monat ist heute vorbei.« »Du Glückspilz«, meint Amanda. Tiffany zuckt mit den Schultern. »Freust du dich nicht?«, fragt Tara. Tiffany streut Salz über ihre Eier, schiebt sie noch ein bisschen hin und her und legt dann ihre Gabel zur Seite. »Nein.« »Warum nicht? Ich dachte, du fühlst dich hier nicht wohl.« Tiffany schüttelt den Kopf. »Wenn du denkst, dass es hier verrückt zugeht, solltest du erst einmal meine Familie kennen lernen.« Ein paar Köpfe nicken zustimmend. Keiner scheint mehr Appetit zu haben. »Was wirst du jetzt machen?«, fragt Sydney nach einer Weile. »Du weißt schon, damit du's in den Griff kriegst.«
»Die schicken mich in eine andere Therapie. Irgendeine Gruppe, die sich nachmittags nach der Schule trifft.« Tiffany wedelt mit der Hand, als wolle sie eine Fliege verscheuchen. »Warum kannst du nicht in die Schule gehen und dann zur Gruppentherapie hierher kommen?«, fragt Sydney. »Wohl zu weit weg«, sagt Tiffany verdrießlich. Dann, leise: »Es wird nicht dasselbe sein.« Die Glocke ertönt, aber niemand rührt sich. Dann kommt Claire zu uns und erklärt, dass unsere Gruppe nicht sofort zu den jeweiligen Terminen gehen muss. Wir dürfen Tiffany noch zur Tür bringen. Wir stehen im Empfangsraum in einem Kreis, warten auf Tiffanys Taxi und versuchen, nicht darüber zu reden, dass Tiffany uns verlässt. Wir alle sind da, alle außer Amanda, die nicht aus ihrem Zimmer kam, als es Zeit war, Tiffany nach draußen zu begleiten. Tiffanys Habseligkeiten füllen die Plastiktüte kaum zur Hälfte und sie sieht irgendwie klein aus, wie sie da steht und mit ihrer Handtasche spielt und so tut, als wäre es ihr egal, dass sie weg muss. Schließlich fährt ein Taxi vor und hupt. Sydney umarmt Tiffany. Tara verspricht zu schreiben. Debbie sagt, dass sie Tiffany wirklich vermissen wird. »Schließlich hast du mir immer die Meinung gesagt, wenn ich ... Scheiße gebaut habe.« Debbie kostet es große Überwindung, das Wort Scheiße auszusprechen und einen Augenblick lang glaube ich, dass sie anfangen wird zu lachen. Aber in ihren Augen brennen Tränen. Tiffany schubst mich leicht in die Rippen und sagt, ich solle in der Gruppentherapie weitersprechen. Ich nicke. Dann wird mir klar, dass Nicken nicht dasselbe ist wie Sprechen. »Okay«, sage ich. Ich will noch hin‐ zufügen »versprochen«, aber es schnürt mir die Kehle zu. Gerade als alle so aussehen, als wollten sie anfangen zu weinen – einschließlich Tiffany –, fragt Sydney plötzlich: »He, jetzt, wo du weggehst, könntest du uns endlich sagen, was du in dieser dämlichen Handtasche mit dir rumschleppst.« Tiffany fummelt am Verschluss. »Versprecht ihr, es niemandem zu verraten?« Wir versprechen es. Sie öffnet die Tasche und zieht ein abgewetztes Stück pinkfarbenen Stoffs hervor. »Meine alte Babydecke.« Sie grinst, zuckt mit den Schultern und geht. Als die Schiebetüren automatisch zur Seite gleiten, bläst eine Brise warmer, feuchter Luft herein und weht mir das Haar nach hinten. Der Schnee ist geschmolzen. Auf den Ästen und Zweigen haben sich winzige
grüne Knospen gebildet. Jetzt erst bemerke ich, dass bald der Frühling kommt. Dann der Sommer. Kinder werden mit dem Fahrrad auf dem Bord‐ stein entlangfahren. Väter werden den Grill aus der Garage holen. Mütter werden in der Küche stehen und Limonade machen. Die Tür schließt sich hinter Tiffany und im Idiotenhügel herrscht wieder Winter. Ein Schmerz erfüllt meine Brust. Ich will etwas, aber ich kann dieses Etwas nicht beim Namen nennen. Debbie, Sydney, Tara und ich schlurfen zu unseren Schlafzimmern zurück. Keiner sagt etwas. Bei der Aufsicht trennen wir uns. Niemand hat es eilig, zu seinen jeweiligen Terminen zu kommen, ich am wenigsten, da ich im Arbeitsraum erwartet werde. Ich sehe Ruby, die ihren Mantel anzieht und sich zum Gehen fertig macht. Ihre Schicht ist zu Ende. »Welcher Tag ist heute in der wirklichen Welt, Ruby?«, frage ich, als die anderen Mädchen gegangen sind. »In der wirklichen Welt? Was meinst du denn damit, Kind?« »Da draußen.« Ich deute auf das Fenster. »Was für ein Tag ist heute?« »Mittwoch.« »Nein, ich meine das Datum. Welches Datum haben wir?« Sie schaut auf die Tafel. Tiffanys Name wurde bereits weggewischt. Sydney und Tara wurden auf Stufe Drei befördert und haben jetzt mit Debbie gleichgezogen. Neben Beccas Name steht lediglich »K‐Flügel«. Jetzt besteht unsere Gruppe nur noch aus fünf Mädchen: Sydney, Tara und Debbie, die bald entlassen werden, Amanda und ich. »Den 27. März«, sagt Ruby. Sie erklärt, dass es Zeit für sie ist, nach Hause zu gehen und etwas zu schlafen. Sie erzählt mir, in ihrer Straße werde derzeit gebaut und sie hoffe, dass die Arbeiter endlich mit dem Presslufthammer fertig seien, wenn sie nach Hause kommt. Sie schaut mich prüfend an und lächelt. Sie sagt, ich solle mir keine Sorgen machen, und steckt mir ein Karamellbonbon zu. Aber das Sehnen in mir lässt nicht nach. Später, nachdem die Stunde im Arbeitsraum zu Ende ist, begleite ich mich selbst zu deinem Büro. Die Lichter in dem Wartebereich sind aus und all die UFOs vor den Büros der Psychologen sind still. Ich setze mich in meinen üblichen Stuhl vor deinem Büro und warte. Ich schaue auf meine Armbanduhr. Wenn ich im Wartezimmer eines Zahnarztes wäre, würden irgendwelche Zeitschriften herumliegen, die ich mir anschauen könnte. Hier stehen nur Kästchen mit Taschentüchern. Ich schaue wieder auf die Uhr.
Du kommst zu spät. Schon fünfzehn Minuten. Ich zähle die Taschentuchkästchen und dann die UFOs und berechne, dass pro UFO 1,5 Kästchen dastehen. Ich schaue wieder auf die Uhr. Jetzt weiß ich, dass du nicht kommst. Etwas ist passiert. Vielleicht habe ich mich geirrt. Vielleicht stand am schwarzen Brett, dass unser Termin verschoben wurde. Das kommt vor. Ich beschließe, noch fünf Minuten zu warten und dann zum schwarzen Brett zu gehen und nachzusehen. Da fällt es mir ein: Mittwoch ist dein freier Tag. Ich erinnere mich jetzt, dass du gestern gesagt hast, Wir sehen uns am Donnerstag, nicht Wir sehen uns morgen. Du sagtest. Wir sehen uns am Donnerstag. Aus irgendeinem Grund ärgere ich mich. Dann bekomme ich Angst. Es ist noch so lange hin bis Donnerstag. Was soll ich bis dahin machen? Ich beschließe, in den Arbeitsraum zurückzugehen und auszurechnen, wie viele Stunden es noch bis morgen sind. Wie viele Stunden, wie viele Minuten und wie viele Sekunden. Damit kann ich wenigstens die Zeit totschlagen. Der Arbeitsraum ist geschlossen. Die einzige Alternative, die mir noch bleibt, ist der Gemeinschaftsraum. Als ich hereinkomme, läuft der Fernseher, aber niemand ist da, um zuzuschauen. Dann bemerke ich Amanda, die auf der Couch liegt. Sie sieht mich, bevor ich mich davonschleichen kann. »So«, sagt sie. »Du hast also gewusst, was Becca anstellt.« Ich weiß nicht, was ich darauf sagen soll. Ihre Stimme ist neugierig und ermutigend. Wahrscheinlich erwartet sie, dass ich Ja sage, aber ich tue es nicht. Ich zucke nur mit den Schultern. »Cool«, sagt sie und setzt sich auf. »Richtig cool.« Ich setze mich auf einen Stuhl so weit weg von ihr wie möglich und tue so, als würde ich gebannt die Seifenoper verfolgen, die gerade läuft. Ein junger Mann versucht seine Mutter daran zu hindern, einen Wandschrank zu öffnen, in dem wohl irgendetwas versteckt ist. »Also, S. T.«, sagt Amanda. »Was nimmst du?« Ich schaue sie verständnislos an. Sie zieht ihren Ärmel hoch und deutet auf eine Reihe blauroter Beulen an der Innenseite ihres Arms. Dann dreht sie ihre Hand und ich sehe, dass sich die Beulen rund um ihr Handgelenk ziehen, wie ein Armband. »Du weißt schon – Scheren? Glas? Stacheldraht?« Ich versuche mich auf den Fernseher zu konzentrieren. Die Mutter wendet sich ab und das Mädchen im Wandschrank öffnet die Tür. Der junge Mann
schlägt sie wieder zu und bemüht sich um einen unschuldigen Gesichtsausdruck. Ich kann der Handlung nicht ganz folgen, weil mich Amanda nicht in Ruhe lässt. »Ich kannte mal eine, die hat es mit der Kreditkarte ihres Vaters gemacht. Nette Idee. Wahrscheinlich steckt da irgendeine verborgene psychologische Botschaft drin.« Ich sage kein Wort. »Weißt du, wie ich's am liebsten mag?« Amanda schiebt sich zwischen mich und den Bildschirm. »Mit einer Sicherheitsnadel und Haarspray. Alkohol ist auch nicht schlecht, aber Haarspray ist besser. Dann schwellen die Narben richtig an.« Sie legt sich wieder hin. »Übrigens«, sagt sie. »Ich hab einen Nagel entdeckt. Unter einem der Stühle im Arbeitsraum. Funktioniert ganz gut.« Ich erinnere mich an den Tag, als ich sie beobachtet habe, wie sie ihren Arm an einem der Stühle gerieben hat, während sie so tat, als würde sie schlafen. Ich erinnere mich auch an ihren Gesichtsausdruck. »Dritte Reihe, letzter Stuhl«, sagt sie. »Ich dachte, das würde dich interessieren. Nur für den Fall, dass sie dein Metallding finden.« Am Donnerstag warte ich nicht ab, bis du mich fragst, worüber ich heute reden will. Noch während du die Tür schließt, frage ich dich, ob du meine Narben sehen willst. Dein Gesicht verrät nichts. »Möchtest du sie mir zeigen?«, fragst du. Ich nicke. Ich nehme den Saum meines Ärmels zwischen Daumen und Zeigefinger, aber anstatt ihn hochzuschieben, ziehe ich ihn nach unten. Bis er mein Handgelenk bedeckt. Bis er über meine Hand reicht. Bis mein ganzer Arm unter meinem Ärmel versteckt ist. »Ich habe das Bastelmesser meiner Mutter benutzt.« Ich starre auf meinen Ärmel. »Oder ihre Nähschere. Einmal habe ich mich auch an dem Papierspender hier im Waschraum geschnitten.« Ich spüre, wie sich meine Mundwinkel nach oben kräuseln. Ich bin alles andere als glücklich, aber trotzdem muss ich mich beherrschen, um nicht zu lächeln. Ich schaue dich an, um zu sehen, wie du reagierst. Du erwartest etwas von mir, das merke ich. Dein vertrautes, ruhiges Gesicht hat einen abwartenden Ausdruck angenommen. Abwartend, und noch etwas anderes. Hoffnungsvoll. Ich rolle den Stoff meines Ärmels zwischen Daumen und Zeigefinger hin und her. Dann, demonstrativ und mit einem Gefühl der Ehrfurcht, schiebe ich meinen Ärmel nach oben, bis zum Ellenbogen, und strecke dir meinen Arm entgegen.
Du bist weder angeekelt noch erschrocken oder zeigst eine der anderen hundert falschen Reaktionen. Du siehst immer noch aus wie du selbst, ernsthaft, neugierig und vielleicht, nur vielleicht, ein kleines bisschen stolz auf mich. Ich schaue meinen Arm an. Er ist von rosafarbenen Linien überzogen, die mir zart und blass erscheinen. Linien, an deren Entstehung ich mich noch gut erinnern kann. Vorsichtig ziehe ich meinen Ärmel wieder herunter und denke mir, dass es vielleicht gut wäre, wenn ich eine Art Witz darüber machen würde. »Wahrscheinlich werde ich nie ein Abendkleid mit Spaghettiträgern anziehen können«, sage ich. Du schaust mich verblüfft an. »Debbie – Sie wissen schon: Debbie aus meiner Gruppe – malt die ganze Zeit Frauen in tollen Abendkleidern. Ich werde sie bitten, ob sie eins für mich malt. Eins mit langen Ärmeln.« Ich lache. Du nicht. »Wie kommst du darauf, dass du nie ein Abendkleid mit Spaghettiträgern anziehen kannst?« Ich zucke mit den Schultern. Früher hat mir nichts an schicken Kleidern gelegen, aber plötzlich möchte ich so etwas anziehen können. Ich möchte es so gerne, dass ich fast anfange zu weinen. »Ich weiß nicht.« »Du wirst sicher eines Tages so ein Ballkleid tragen.« Deine Stimme ist voller Überzeugung. »Wirklich?« Du nickst. »Ich glaube fest daran, dass du eines Tages all das tun wirst, was andere Mädchen auch tun. Alles, was du tun willst.« Meine Gedanken kleben immer noch an diesem dämlichen Abendkleid, das mir bis zu diesem Moment völlig egal war. »Mit diesen Armen?« Ich strecke meine Arme aus und halte meine Ärmel mit meinen Daumen fest. »Die Narben werden verblassen. Es sieht so aus, als seien sie schon viel heller geworden.« Ich denke über deine Worte nach. »Außerdem gibt es die Möglichkeit einer Schönheitsoperation, mit der du die Narben entfernen lassen kannst.« Der Zweifel in meinen Augen ist offensichtlich, denn du sprichst weiter. »Ich kannte mal ein Mädchen, das einen furchtbaren Autounfall hatte. Ein wunderhübsches kleines Mädchen, dessen Gesicht von Schnittwunden übersät war. Sie musste mit mehr als hundert Stichen genäht werden.« Ich zucke zusammen. Ich bin voller Mitleid und Trauer für dieses kleine Mädchen. Einerseits will ich nicht, dass du weitererzählst, andererseits möchte ich unbedingt mehr hören.
»Heute ist sie ein Fotomodell«, sagst du. »Und zwar ein sehr erfolgreiches. Sie ist wunderschön. Eine Schönheitsoperation hat sie von den Narben befreit. Du würdest heute niemals glauben, was ihr damals passiert ist.« Ich mag die Geschichte, und mag sie wieder nicht. Aber ich weiß nicht, warum. Draußen vor dem Fenster trillert ein Vogel. Ein zweiter Vogel, weiter entfernt, antwortet. »Vielleicht will ich meine Narben gar nicht wegmachen lassen«, sage ich schließlich. Du nickst. »Sie erzählen eine Geschichte«, sage ich. »Ja«, sagst du. »Das stimmt.« Anscheinend ist unsere Zeit um, denn du stehst auf. Ich warte darauf, dass du sagst, Gute Arbeit, wir sehen uns morgen. Aber du stehst nur da mit der Hand auf dem Türgriff. Ich komme auf die Füße und schaue auf die Uhr. Die Sitzung war vor ein paar Minuten um. Ich ziehe am Saum meines T‐ Shirts. »Callie«, sagst du. »Gibt es noch etwas, was du mir sagen willst?« Ich schüttele meinen Kopf. Aber ich rühre mich nicht. »Du scheinst auf etwas zu warten. Kannst du mir sagen, was das ist?« Ich schüttele wieder den Kopf. Dann nicke ich. Du lässt den Türgriff los. Ich greife in meine Jeanstasche und ziehe den Metallstreifen hervor. »Den hab ich aus dem Speisesaal«, sage ich. Du scheinst nicht zu begreifen. Ich halte dir das Metallstück entgegen. »Du willst mir das geben?« Ich halte meine Augen auf den Fleck auf dem Teppich geheftet und nicke. »Kannst du mir sagen, warum?« »Nein, nicht so richtig.« Ich rolle meine Fußsohlen in meinen Turnschuhen von einer Seite zur anderen. »Na ja, doch ... Damit ich ... Sie wissen schon.« Ich weiß, ich muss es aussprechen. »Damit ich es nicht benutze.« Ich schaue vom Teppich auf und in dein Gesicht. Du tippst mit dem Finger gegen deine Lippen. »Das freut mich«, sagst du schließlich. »Ich bin froh darüber, dass du dieses Ding nicht benutzen willst, um dich selbst zu verletzen.« Mein Arm wird müde. Der Metallstreifen fühlt sich tonnenschwer an. Als du endlich deine Hand ausstreckst und ihn nimmst, gleitet er federleicht aus meinen Fingern. Du legst ihn auf die Ecke deines Schreibtischs.
»Ich werde ihn aufbewahren, bis du entschieden hast, was du damit tun willst.« Im ersten Moment verstehe ich nicht, was du sagst. »Ich kriege ihn zurück?« Ich schaue hinüber zu dem kleinen, matten Rechteck aus Metall, das ganz nah an der Kante deines Schreibtischs liegt, so nah, dass ich es greifen und zurück in meine Tasche stecken könnte, ohne mich zu strecken. »Callie.« Deine Stimme klingt ein bisschen traurig. »Es gibt unzählige Dinge, mit denen du dich selbst verletzen könntest, so vieles, das du als Waffe benutzen kannst. Es ist nicht möglich, all diese Dinge mir zu geben, selbst wenn du es wolltest. Das weißt du, nicht wahr?« Wahrscheinlich weiß ich es. Ich nicke. »Ich kann dich nicht beschützen«, sagst du. »Das kannst nur du selbst.« An diesem Abend kommt Becca mit ihrer neuen Gruppe aus dem Knaller in den Speisesaal. Vielleicht bin ich schon zu lange hier im Idiotenhügel, aber irgendwie finde ich, dass die »Knaller« gar nicht so schlimm aussehen. Becca geht mit einem Glas Wasser an unserem Tisch vorbei. Ihr folgt ein Mädchen, das ganz normal aussieht, bis auf das nervöse Grinsen in ihrem Gesicht. Sie balanciert zwei Tabletts in ihren Händen. An ihrem Tisch stellt das Mädchen eines der Tabletts vor Becca ab, zieht ihr einen Stuhl zurück und reicht ihr eine Serviette. Debbies Blick wird starr. Dann beschattet sie ihre Augen mit den Händen, während sie weiterhin Becca und ihre neue Freundin beobachtet. Schließlich wendet sie sich zu Amanda. »Sieht so aus, als hätte Becca einen neuen siamesischen Zwilling gefunden.« Wir essen und versuchen, Becca nicht weiter zu beachten. Die Nudeln schmecken heute besonders fad und ich überlege, ob ich nicht ans Salatbüffet gehen soll. Zuerst schaue ich mich um, ob ich die Frau ent‐ decke, die wir »das Gespenst« nennen, aber sie ist nirgends zu sehen. »Wo ist das Gespenst?«, frage ich Sydney. »Weg«, sagt sie. »Sie durfte nach Hause gehen.« Tara und Sydney beklagen sich über das Essen, aber ich achte nicht auf sie. Ich denke über die Menschen nach, die den Idiotenhügel verlassen haben: Ellen, Tiffany, das Gespenst. Einige werden nach Plan entlassen, andere müssen überraschend gehen. Aber irgendwann ist jeder dran. Tara hat mich etwas gefragt, aber ich merke es nur, weil mich alle anschauen. »Was?«
»Bist du damit einverstanden, dass Debbie heute Abend die Fernbedienung haben darf?« »Klar«, sage ich. »Unbedingt.« Es ist eine ganz einfache Frage, wie sie ständig innerhalb der Gruppe diskutiert wird, aber diesmal wurde ich mit einbezogen. Debbie zappt so schnell durch die Kanäle, dass man kaum sagen kann, welche Sendungen sie überhaupt mag. Bei einer Kochsendung hält sie kurz inne. Eine Frau mit Schürze backt in einer ziemlich echt aussehenden Küche Apfelkuchen. »Nein«, sagt sie dann und drückt den Knopf auf der Fernbedienung. »Ich glaube, es ist keine gute Idee zuzuschauen, wenn jemand einen Kuchen backt.« Sie schaltet ein paar Sender weiter. Man sieht eine Haustür, eine raue Stimme ertönt: »Um was für einen Notfall handelt es sich?« Am unteren Bildrand erscheinen die Worte als Untertitel. Die Stimme eines Kindes, kaum hörbar, antwortet: »Meine Mami liegt auf dem Boden.« Das Kind fängt an zu weinen. Der Untertitel lautet: »(Kind weint.)« »Eine Reality‐Show!«, ruft Sydney aus. »Die mag ich am liebsten!« Debbie starrt wie gebannt auf den Bildschirm und würdigt Sydney keines Blickes. »Ich auch.« »Oh, wow!«, sagt Tara. »Die hab ich mir ständig angeschaut.« »Ich auch«, sage ich und merke, wie überrascht ich klinge. Sydney wirft mir einen Blick zu. »S. T«, sagt sie mit einem schulmeisterlichen Ton, der mich an Sam und seine Unterweisungen im Querdenken erinnert: »Jeder liebt diese Shows.« »Ich glaube nicht, dass ich heute etwas zu sagen habe«, erkläre ich, als ich in deinem Büro sitze. Du nickst. »Ich meine, alles läuft wirklich wunderbar.« Du lächelst. »Ich rede in der Gruppentherapie, beim Essen. Und ich verstehe mich gut mit den anderen Mädchen.« Du scheinst auf etwas zu warten. »Oh«, sage ich. »Wir haben uns zusammen eine Sendung angeschaut. Sie wissen schon, eine von diesen Reality‐Shows, von denen ich Ihnen erzählt habe.« Dein Gesichtsausdruck verändert sich nicht. Ich frage mich, ob du dir jemals solche Sendungen anschaust. Ich würde zu gerne wissen, was für
ein Leben du außerhalb des Idiotenhügels führst, ob dein Alltag sich von dem anderer Leute unterscheidet. »Jeder liebt diese Shows«, sage ich. Du äußerst weder Zustimmung noch Widerspruch. Vielleicht findest du es dämlich, sich in einer Therapiesitzung über eine Fernsehsendung zu unterhalten. »Es war richtig gut. Fast wie ein Heimvideo. Es ist so real. Die Kamera zittert manchmal, zum Beispiel wenn gezeigt wird, wie die Sanitäter die verletzte Person zum Krankenwagen tragen.« Du scheinst nicht besonders interessiert zu sein, aber ich möchte gerne, dass du den Sinn dieser Shows verstehst. »Im Fernsehen klingt die Sirene des Krankenwagens unheimlich laut. Sam meint, in Wirklichkeit kann man die Sirene kaum hören.« »Sam ist mit einem Krankenwagen gefahren?« »Ja.« Jetzt wirst du aufmerksam. Ich beschließe, dir mehr zu erzählen. »Ich habe bei ihm Mund‐zu‐Mund‐Beatmung und Herzmassagen gemacht, be‐ vor sie da waren.« »Bevor die Sanitäter kamen?« »Bevor meine Eltern da waren.« Ich halte einen Moment inne. Ich bin verwirrt. Wie sind wir auf dieses Thema gekommen? Sam, der Krankenwagen, die Sanitäter und meine Eltern. Ich weiß nicht mehr ge‐ nau, was ich dir vorher erzählt habe. Ich muss das Thema wechseln, und zwar schnell. »Wahrscheinlich hast du ihm das Leben gerettet«, sagst du schlicht. »Was?« Mir schießt durch den Kopf, dass es sich nicht gehört, Was? zu sagen. Ich sollte mir Wie bitte? angewöhnen. »Wahrscheinlich hast du Sam das Leben gerettet.« Aus deinem Mund klingt es so einfach, dass es fast einen Sinn ergibt. »Nein, habe ich nicht.« Du beugst dich vor. »Warum sagst du so was?« »Ich weiß nicht. Das passiert nur den Kindern in diesen Reality‐Shows.« »Wie gestern?« »Ja, so ähnlich.« »Du hast bei deinem Bruder Erste‐Hilfe‐Maßnahmen angewandt. Du hast Hilfe geholt. Warum ist das etwas anderes als im Fernsehen?« »Keine Ahnung. Ist es einfach.« »Nun«, sagst du. In deinen Augen sehe ich einen deutlichen Schimmer von Ungeduld. »Das sehe ich anders.«
Ich habe Schwierigkeiten, das alles zu begreifen: Diesen neuen, verärgerten Ausdruck in deinen Augen und diese seltsame neue Vorstellung, ich hätte Sam das Leben gerettet. Es ergibt einen Sinn, und dann auch wieder nicht. Es scheint richtig zu sein, jedenfalls hier im Büro einer Irrenärztin in einer Klapsmühle namens »Bergidylle«, wo es keine Berge gibt und erst recht keine Idylle. Aber in der wirklichen Welt kann es einfach nicht wahr sein. »Callie?« Ich versuche, dich klar zu sehen. Du scheinst sehr weit weg zu sein. »Woran denkst du gerade jetzt? Kannst du mir das sagen?« Ich denke an jenen Tag, an dem du mir erzählt hast, wie man Asthma bekommt, wie du gesagt hast, dass man es durch eine Infektion bekommen kann. »Sam hatte eine Infektion«, höre ich mich selbst sagen. Du wartest. »An diesem Tag hat er sich nicht wohl gefühlt. An dem Tag, an dem er so krank wurde, meine ich.« Ich sehe ihn noch vor mir, wie er sich die Nase gewischt und die Augen gerieben hat. »Eine Erkältung oder so was Ähnliches. Als meine Mom den Arzt angerufen hat, meinte der, man solle ihn im Auge behalten.« »An dem Tag, an dem Sam seinen ersten Asthma‐Anfall hatte, war er krank?« Ich nicke. »Und der Arzt meinte, man solle ihn beobachten?« Ich wundere mich, warum du dieser Kleinigkeit so viel Beachtung schenkst. Ich nicke einmal, langsam. »Aber deine Eltern sind ausgegangen.« »Meine Mom musste zu meiner Großmutter ins Altenheim.« »Und dein Vater?« Ich zucke mit den Schultern. »Er war unterwegs?« »Ja.« Dann schnell: »Nein. Nun ja, so was in der Art. Er musste weg. Das war schon in Ordnung.« »Wo ist er hingegangen?« Ich beiße mir auf die Lippe. »Er ist ausgegangen.« »Callie, unsere Zeit für heute ist um, aber ich möchte, dass du über etwas nachdenkst.« Ich schaue zu dir, dann aus dem Fenster. »Bitte«, sagst du. »Bitte versuch einmal diesen Tag aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten. Versuch dir vorzustellen, du wärst ein Unbeteiligter. Versuch dir vorzustellen, dass jemand anderer an deiner
Stelle gewesen wäre, ein anderes dreizehnjähriges Mädchen, allein mit einem kranken kleinen Jungen.« Ich verstehe nicht, was das bringen soll, und ich habe auch nicht vor, auf deine Bitte einzugehen. Ich werde sie einfach vergessen und mit den anderen Mädchen fernsehen. Aber ich nicke gehorsam. »Gut«, sagst du. »Gute Arbeit, Callie. Ausgezeichnet.« Niemand ist im Gemeinschaftsraum. Der Fernseher ist kaputt. Ich schlendere herum und lande im Arbeitsraum. Hier ist auch keiner, nur Cynthia, die Aufsicht, mit ihrem Arbeitsbuch. Sie lächelt mich an und wendet sich dann wieder ihren Multiple‐Choice‐Aufgaben zu. Ich setze mich auf meinen alten Platz am Fenster und beobachte den Hund hinter dem Geräteschuppen. Er bellt, trottet bis zum Ende seiner Kette, bellt und trottet den Pfad bis zu seiner Hundehütte zurück. Ich frage mich, ob das der Hund ist, den ich während der Gruppentherapie immer bellen höre. Im Arbeitsraum ist es kalt. Ich schlinge meine Arme um meinen Körper und wünsche mir, dass Debbie mit ihrem Sweatshirt hier wäre. Ich wünschte, Debbie wäre hier und Tara und Sydney, sogar Amanda. Ich ziehe mein T‐Shirt eng um meinen Körper und überlege, ob ich in mein Zimmer zurückgehen und mir eine Jacke holen soll. Das wäre kein Problem, jetzt, da ich zur Stufe Zwei aufgestiegen bin. Ich könnte einfach aufstehen und gehen. Ich denke darüber nach, stelle mir vor, wie ich an dem Stuhl vorbeigehe, wo Debbie ihre Ballkleider malt, an dem Stuhl, in dem Tara geschlafen hat, als ich ihr Sydneys Notizzettel zugeschoben habe. An Amandas Stuhl, dem Stuhl mit dem Nagel. Ich stoße den Atem mit einem bebenden Geräusch aus. Cynthia schaut auf. »Ist dir kalt?« Ich nicke. »Schau dich an, du zitterst ja«, sagt sie. »Warum holst du dir keinen Pullover?« Ich bleibe unbeweglich sitzen. »Du bist auf Stufe Zwei, nicht wahr? Du kannst ruhig alleine gehen.« Ich stehe auf, aber ich gehe nirgendwo hin. Ich denke an dich und an das, was du über das Mädchen gesagt hast, das mit dem kleinen Jungen allein war. »Geh schon«, sagt sie. Ich frage mich plötzlich, ob du meiner Mutter erzählen wirst, was ich dir gesagt habe: dass mein Dad nicht zu Hause war, als Sam krank wurde. Meine Mutter wird sich aufregen, dann wird Sam sich aufregen und beide
werden krank werden. Sam könnte sogar sterben. Vielleicht hat er genau in diesem Moment einen Anfall und ich bin nicht da. Was ist, wenn Sam jetzt einen Anfall hat, und ich bin nicht da ...? »Geh schon«, drängt mich Cynthia. »Du bist immer nur hier drin. Es wird dir gut tun, mal rauszukommen.« Da weiß ich, was ich zu tun habe. Ich weiß es ganz genau.
Drei Ich stehe auf und gehe den Flur entlang. Am Tisch der Aufsicht und an Rochelle auf ihrem orangefarbenen Plastikstuhl vorbei. Sie legt ihren Finger mitten auf die Seite ihrer Zeitschrift, um die Stelle zu markieren, die sie gerade gelesen hat, und schaut auf. Dann liest sie weiter. Ich gehe am Gemeinschaftsraum vorbei, der immer noch leer ist, und an dem Zimmer, in dem die Gruppentherapie stattfindet. Auch hier ist niemand. An Amandas Zimmer vorbei, an der Telefonzelle und an meinem Zimmer. Die Treppe zur Wäschekammer hinunter, an dem Schild vorbei, das die Notausgänge aufführt und auf dem mit einem roten Pfeil der Punkt markiert ist, an dem sich das Schild befindet. Dann stehe ich vor der Tür, auf der Nur im Notfall benutzen steht. Ich drücke den breiten Hebel herunter und warte darauf, dass er sich mir widersetzt. Dass er nicht nachgibt. Aber die Tür öffnet sich. Leicht und ge‐ räuschlos. Als das Schloss zurückspringt, gibt es ein leises metallisches Klicken, dann einen Rums, als die Tür hinter mir zufällt. Dann Stille. Das einzige Geräusch ist das leise Knirschen von Gras unter meinen Füßen, während ich über den Rasen gehe. Ich fange an zu rennen. Die Bewegung des Laufens – der ewige Kreislauf der erscheinenden und verschwindenden Füße unter mir, das abwechselnde Vorwärtsschwingen der Arme – bereitet mir keine Mühe. Es ist fast so, als hätte ich nie damit aufgehört. Ich fühle mich gut. Ich lege mehr Abstand zwischen mich und den Notausgang. Dann spüre ich hundert Augenpaare auf meinem Rücken und drehe mich um. Das große Panoramafenster im Gruppentherapiezimmer ist dunkel. Daneben leuchtet ein schmales Kästchen in kaltem, blauweißem Glanz: das Fenster des Waschraums, wo das Licht immer an ist. Danach kommt eine ganze Reihe schwarzer Vierecke, die Fenster der leeren Schlafzimmer. Dann ein gelbes Lichtquadrat, das vermutlich zu meinem Zimmer gehört. Wahrscheinlich ist Sydney gerade von der Kunsttherapie
zurückgekommen, hat sich ihren Kopfhörer aufgesetzt, sich auf dem Bett ausgestreckt und hört jetzt Musik, bis es Zeit zum Abendessen ist. Ich drehe mich wieder um und renne weiter. Diesmal ist es schwer in Bewegung zu bleiben. Ich gebe Gas, verliere das Gleichgewicht und stolpere. Dann finde ich meinen Rhythmus wieder. Das letzte Stück offe‐ nes Gelände zwischen dem Idiotenhügel und der Außenwelt ist der Hof vor dem Geräteschuppen. Danach kommt der Wald. Der Hund, der neben dem Geräteschuppen wohnt, steht vor seiner Hundehütte, selbstsicher und aufmerksam. Ich warte darauf, dass er anfängt zu bellen, um alle Welt wissen zu lassen, dass ich hier draußen bin. Aber er tut es nicht. In dem kalten Dämmerlicht sehe ich die kleinen Nebelwolken vor seiner Schnauze, wenn er ausatmet, aber er gibt keinen Ton von sich. Er rührt sich nicht. Durch den Wald hinter dem Idiotenhügel zu kommen ist einfach, einfacher, als ich dachte. Die Bäume stehen in regelmäßigem Abstand voneinander da und lassen viel Platz zwischen sich, als ob jemand sie in Reihen gepflanzt hätte. Ich schaue an den Stämmen vorbei nach rechts. Dort steigt ein Hügel auf, fast ein kleiner Berg. Ich grinse innerlich. Beinahe wäre ich umgedreht, um Sydney zu erzählen, dass es in der »Bergidylle« tatsächlich einen Berg gibt. Aber ich tue es nicht. Ich renne weiter. Kein Zaun hält mich auf, keine Mauer umschließt das Gelände. Ich nehme mir vor, diese Tatsache im Gedächtnis zu behalten, und überlege, wie witzig es wäre, den anderen Mädchen zu erzählen, dass uns in Wirklichkeit nichts in dieser Klapsmühle hält. Aber immer noch renne ich weiter, immer weiter, bis ich auf eine Straße stoße. Ich komme an einem alten Backsteinhaus vorbei und treffe dann auf ein paar neue Häuser. Ich renne über eine Kreuzung und den breiten Seitenstreifen entlang, der den Highway säumt und auf dem sich mehr und mehr Geschäfte befinden, je weiter ich laufe. Ich weiß nicht, wie lange ich schon renne. Ich versuche auf die Dinge zu achten, an denen ich vorbeikomme, und sie im Gedächtnis zu behalten, aber sobald ich mir sage, dass da gerade eine Milchbar auf der linken Seite war, habe ich sie auch schon hinter mir gelassen und weiß nicht mehr, ob sie auf der rechten oder linken Seite stand und ob es nun eine Milchbar oder ein Café war. Während ich immer mehr Abstand zwischen mich und den Idiotenhügel bringe und spüre, wie mich langsam dieses weiße Rauschen überkommt, das Gefühl, das einem Blackout ähnelt, klammere ich mich krampfhaft an
eine Sache: an die Adresse von meinem Zuhause. Immer und immer wieder sage ich mir die Worte vor, wie eine Beschwörungsformel. Ich wiederhole unzählige Male die Hausnummer, die Straße, die Stadt, den Staat und die Postleitzahl. Nach einer Weile wird mein Mund trocken und meine Beine fangen an zu schmerzen. Es wird langsam dunkel. Die Autofahrer schalten das Licht ein. Meine Füße werden schwer und unbeholfen. Ich schwanke hin und her und laufe mal dicht neben der weißen Linie, die den Highway begrenzt, mal mitten auf dem Seitenstreifen. Hinter mir ertönt eine Hupe. Ich stolpere und bin plötzlich hellwach. Unter mir spritzt der Schotter in alle Richtungen, während ich versuche, das Gleichgewicht wiederzufinden. Vor mir sehe ich eine Telefonzelle. Das, so beschließe ich, ist meine Ziellinie. Mit einem Mal weiß ich nicht, ob ich noch die Kraft habe, die dreißig Schritte bis dorthin zurückzulegen. Meine Füße schlurfen über den Boden, meine Knie heben und senken sich, aber die Telefonzelle scheint nicht näher zu kommen. Ich bleibe stehen und wundere mich, dass es kaum einen Unterschied macht, ob man rennt oder steht. Ich setze einen Fuß vor den anderen und zwinge mich, die letzten paar Schritte langsam zu gehen. Der Telefonhörer in meiner Hand ist eiskalt. Ich starre ihn einen Augenblick an. Jetzt fällt mir ein, dass ich kein Geld habe. Ich lege auf und hebe dann wieder ab. Ich weiß, dass man nur im Notfall die Polizei oder die Feuerwehr rufen darf, aber mir fällt keine andere Lösung ein. Ich betrachte die Oberfläche des Telefons, das silbrige Quadrat mit eng gesetzten Tasten. Ganz unten befindet sich eine Taste, mit der man die Vermittlung anrufen kann. Ich drücke drauf und bin gespannt, ob ich mit einem wirklichen Menschen sprechen kann oder mit einer Maschine. Ein Mensch, eine Frau, deren Stimme sich so anhört, als sei sie in einem Raum mit vielen anderen Menschen, sagt: »Vermittlung. Wie kann ich Ihnen behilflich sein?« Sie scheint es sehr eilig zu haben. Ein Laster rumpelt vorbei und bläst mich mit seinem Fahrtwind förmlich von den Füßen. »Vermittlung«, wiederholt sie. Ich höre an ihrer Stimme, dass ich ihr bereits lästig bin. Ich lege auf. Ich umkreise die Telefonzelle und zermartere mir das Hirn, was ich ihr hätte sagen sollen. Ein weiterer Laster fährt vorbei. Der Fahrtwind bläst durch mein T‐Shirt. Ich schlinge die Arme um meinen Körper und hoffe, dass mir wärmer wird. Stattdessen wird mir kälter. Wieder hebe ich den Telefonhörer ab, drücke die Vermittlungstaste und bete, dass eine andere Stimme antworten wird.
»Vermittlung. Kann ich Ihnen helfen?« Diese Stimme klingt nett und etwas müde. »Ja. Ja, das können Sie«, sage ich. »Bitte.« Am anderen Ende herrscht Schweigen. Ich bin nicht sicher, ob die Vermittlung noch in der Leitung ist. »Ich muss meinen Dad anrufen.« Ich hatte nicht die Absicht, das zu sagen. Die Worte kamen einfach aus meinem Mund. Einen Moment lang ist es still, dann sagt sie: »Möchten Sie ein R‐Gespräch führen?« »Ja. Ja, bitte«, antworte ich und nenne ihr die Geschäftsnummer meines Vaters. Dann lausche ich der raschen Abfolge von Piepgeräuschen, die so ähnlich klingt wie eine Melodie, die ich lange nicht mehr gehört habe. Mein Vater meldet sich mit dem Namen der Firma, für die er arbeitet. Ich stelle mir vor, wie er seine Krawatte glatt streicht und sein professionelles Lächeln aufsetzt. »Daddy?«, sage ich. Die nette, müde Stimme der Vermittlung unterbricht mich und erklärt meinem Vater höflich, dass er ein R‐Gespräch von Callie erhält. »Wollen Sie das Gespräch annehmen?« »Ja, ja, natürlich«, sagt er. Ich höre zwei Stimmen gleichzeitig; die eine gehört meinem Vater, der »Callie?« ruft, und die andere der Vermittlung, die sich bedankt, dass wir die Dienste ihrer Telefongesellschaft in Anspruch genommen haben. Dann saust ein Auto vorbei und ich kann gar nichts mehr hören. »Callie? Geht es dir gut?« Ich zittere. »Prima.« Eigentlich wollte ich sagen Mir geht's prima, aber nur Prima fand den Weg zwischen meinen klappernden Zähnen hindurch. »Wo bist du?« Ich schaue mich um. Neben mir ist ein Teppichgeschäft mit einem großen Schild im Schaufenster, auf dem Sonderangebot steht. »Ich weiß nicht genau.« Der Teppichladen könnte überall sein. Ich könnte direkt um die Ecke von unserem Haus stehen, oder aber Tausende von Kilometern weit entfernt. »Ich bin weggerannt.« »Aus dem Sanatorium?« Ich sehe ihn vor mir, wie er die Augen mit seiner Hand bedeckt, so wie er es immer tut, wenn er samstagnachmittags im Fernsehen eine Niederlage seiner Footballmannschaft miterlebt. Ich nicke. »Ja.« »Kannst du mir sagen, was alles in der Nähe ist?« Auf der anderen Seite des Highway steht ein blaues Hinweisschild mit der Aufschrift Route 22. Darunter befindet sich ein kleines, viereckiges Schild, auf dem Osten steht. Dahinter ist ein Schnellimbiss.
»Route 22«, sage ich. »Nach Osten, glaube ich. Direkt neben einem Dunkin' Donuts.« Er bläst Luft durch die Zähne – dasselbe Geräusch, das er von sich gibt, wenn er seine Rechnungen bezahlt. »Sayville«, sagt er. »Du musst bei dem Dunkin' Donuts in Sayville stehen.« Ich fühle mich schon ein bisschen besser, da er anscheinend weiß, wo ich bin. Selbst wenn ich keine Ahnung habe. »Das ist ungefähr fünfzehn Minuten von hier entfernt«, sagt er. »Kannst du dort auf mich warten? Gibt es dort irgendetwas, wo du dich unterstellen kannst? Geh in den Doughnut‐Laden, okay?« Ich kann das Quietschen seines Sessels hören und stelle mir vor, wie er aufsteht, seinen Sessel zurückstößt und nach den Autoschlüsseln greift. »Ich bin sobald wie möglich da.« Autos schießen mit lautem Getöse an mir vorbei, deshalb weiß ich nicht genau, ob er noch etwas sagt, bevor er auflegt. Ich stehe am Rand des Highways und warte auf eine Lücke im Verkehr, damit ich die Straße überqueren kann, hinüber zum Dunkin' Donuts. Eine endlose Schlange von Autos windet sich in beide Richtungen über den Highway. Wenn es auf einer Fahrbahn frei ist, sausen die Wagen auf der anderen vorbei. Schließlich laufe ich bis zur Mitte und bleibe auf dem Streifen Beton stehen, der die beiden Fahrbahnen trennt. Der Verkehr rast an mir vorbei und ich werde vom Fahrtwind förmlich mitgesaugt. Nach einer Weile wage ich es, auch die zweite Straßenseite zu überqueren. Im Dunkin' Donuts ist es warm und hell. Die einzigen Kunden sind zwei Männer in Overalls. Sie scheinen zusammenzugehören, aber sie wechseln kein Wort, während sie nebeneinander an der Theke sitzen. Sie lesen still verschiedene Teile derselben Zeitung. Ich setze mich auf einen Platz am anderen Ende der Theke und studiere die Plastikschilder unter den Reihen von Doughnuts. Es gibt welche mit Schokoladenguss, mit Schokostückchen, mit Cremefüllung, mit Pudding und mit Marmelade. Die Auswahl ist zu groß. Ich sitze da und bemühe mich krampfhaft, nicht zu zittern. Die Klapptür zur Küche öffnet sich und eine Kellnerin mit einer rosafarbenen Schürze und einem Häubchen kommt heraus. Sie füllt den Männern Kaffee nach, ohne zu fragen, ob sie noch etwas haben wollen, dann kommt sie herüber und stellt sich vor mich. Auf dem Namensschild an ihrer Brust steht, dass sie Peggy heißt. »Was darf es sein?«, fragt sie. Was darf es sein? Das frage ich mich auch. Sie betrachtet mich. »Willst du etwas bestellen?«, fragt sie.
»Oh«, stammele ich. »Nein. Ich meine, ja.« Dann fällt mir ein, dass ich kein Geld habe. »Ein Glas Wasser. Bitte.« Sie schaut mich von oben bis unten an. »Das ist alles?« »Ja. Danke«, erwidere ich schüchtern. Sie dreht sich um. »Tut mir Leid«, sage ich zu ihrem Rücken. Ein paar Sekunden später kommt sie mit dem Wasser zurück. »Danke«, sage ich. Aber sie hat sich schon wieder abgewandt und steckt einen riesig großen Kaffeefilter in eine riesig große Kaffeemaschine. Dann bedient sie einen Geschäftsmann, der einen großen schwarzen Kaffee zum Mitnehmen haben möchte. Langsam nippe ich an meinem Wasser. Es soll so lange wie möglich halten. Wieder konzentriere ich all meine Sinne darauf, nicht zu zittern, aber es hilft nichts. Peggy schaut andauernd zu mir herüber. Ich tue so, als würde ich ihre Blicke nicht bemerken. Sie wischt die Theke mit einem Lappen ab. Ich schlinge meine Arme um meinen Körper. Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie sie nickt, als ob sie sich gerade über etwas Wichtiges klar geworden wäre. Sie legt den Schalter an einer großen Maschine auf der Theke um, die dröhnend zum Leben erwacht. Dann steht Peggy auf einmal mit einer Tasse heißem Kakao vor mir. Oben auf der braunen Flüssigkeit schwimmt ein dekorativer Berg aus Schlagsahne. »Ich glaube, das ist es, was du wirklich möchtest, nicht wahr?«, sagt sie. Sie stellt eine zweite Tasse vor mir ab, schenkt sich etwas Kaffee ein und nimmt einen Schluck. Dann einen zweiten. »Ausreißer?« Ich frage mich, ob sie die Polizei rufen wird. Oder ob schon jemand vor mir aus dem Idiotenhügel hier gelandet ist. Und ich frage mich, ob man ihn rausgeworfen oder in den Knaller eingesperrt hat. »So was in der Art«, sage ich. Sie atmet aus, genauso wie Sydney, wenn sie ihre Rauchkringel bläst. »Woher wissen Sie das?«, frage ich. Sie legt ihren Finger an ihr Kinn. »Kein Mantel. Es ist ein bisschen kalt da draußen, um ohne Jacke oder Mantel unterwegs zu sein.« Sie lächelt. »Sieht so aus, als wärest du in Eile gewesen, als du das Haus verlassen hast.« Ich lege meine Hände um die Tasse Kakao und hoffe, dass die Wärme durch das Porzellan bis zu meinen Fingern dringt. »Wohin willst du?«, fragt Peggy. »Nirgendwohin. Nach Hause, nehme ich an.« Ich zucke mit den Schultern und starre das Tablett mit den cremegefüllten Doughnuts an. »Möchtest du einen davon?«, fragt sie. »Nein, schon in Ordnung«, sage ich. Dann: »Ich habe kein Geld.«
Sie zieht ein Stück Wachspapier aus einem kleinen Kästchen, schnappt sich einen Doughnut und legt ihn auf einen Teller, den sie vor mich hinstellt. »Geht aufs Haus«, sagt sie. Die Eingangstür öffnet sich und eine Familie kommt herein. Peggy packt ihnen ein Dutzend Doughnuts zum Mitnehmen ein. Die Männer am anderen Ende der Theke bezahlen ihre Rechnung, und während ich meinen Doughnut esse und meinen Kakao trinke, kommen ständig neue Leute herein, bestellen, bezahlen und gehen wieder. Peggy kommt zurück, trinkt einen Schluck von ihrem Kaffee und rümpft die Nase. »Kalt«, sagt sie und streckt ihre Zunge heraus. Sie schaut mich aufmerksam an. »Weiß irgendjemand, wo du bist?« »Mein Vater. Er ist schon unterwegs.« Sie nickt, offensichtlich zufrieden. Ich fühle mich ein bisschen stolz und verlegen zugleich. »Hör zu«, sagt Peggy. »Ich habe auch einen Sohn. Er ist zwar schon erwachsen, aber er wird immer mein Baby bleiben, verstehst du?« Sie sagt das mit einem solchen Selbstverständnis, dass ich gar nicht anders kann als nicken, obwohl ich nicht sicher bin, dass ich weiß, was sie damit sagen will. »Er lässt es zu, dass ich ihn immer noch bemuttere, als wäre er ein kleines Kind.« Sie strahlt. »Wenn dein Dad herkommt, wird er möglicherweise dasselbe tun wollen.« Sie trinkt ihren Kaffee. »Lass ihm die Freude.« Mir ist immer noch kalt, selbst nach der zweiten Tasse Kakao, als ich durch das Fenster ein vertrautes weißes Auto sehe. Der Wagen kommt abrupt zum Stehen und mein Dad springt heraus. Er macht drei lange, schnelle Schritte zur Tür. Er trägt keinen Mantel und der Wind bläst durch sein Haar und weht es um seinen Kopf. Dann ist er drin im Dunkin' Donuts und ich liege in seinen warmen, dunklen Armen, in einer Umarmung, die nach Aftershave duftet, nach Wäschestärke und nach Zuhause. Sein Körper zittert, aber ich bin jetzt – endlich – völlig ruhig. Als er mich schließlich loslässt, sieht er schüchtern aus. Er schaut nach unten und klopft auf seine Taschen, als ob er etwas suchen würde. Mir fällt auf, dass sein Haar dünner geworden ist. Als er wieder aufschaut, sind seine Augen feucht. Mein Herz tut weh. Er zieht sich einen Stuhl herbei. »Hast du was dagegen, wenn ich mich zu dir setze?« »Ja. Ich meine, nein. Ich habe nichts dagegen.« Er setzt sich vorsichtig hin, als ob er Angst hätte, dass der Stuhl zu klein für ihn sei. Er sieht so müde und zerzaust aus. Sein Haar wirkt unordentlich
und ungekämmt, als wäre er eben erst aufgestanden. Jetzt bin ich es, die scheu wird. Mir ist es peinlich, dass ich mir Sorgen um ihn mache. »Wie geht es dir?«, fragt er schließlich. »Geht so.« Ich zucke mit den Schultern. Die Situation verlangt nach einer besseren Antwort, oder wenigstens nach einer längeren. »Na ja, ich denke, ich komme langsam voran. Mir geht's besser. Und das ist mir unheimlich.« Peggy tritt mit ihrer Kaffeekanne zu uns. Mein Vater nickt dankbar und sie gießt ihm etwas Kaffee in die Tasse ein, die vor ihm steht. Sie schenkt ihm einen wohlwollenden Blick. Ich nicke mit dem Kopf in seine Richtung und will ihr damit sagen, das ist er, das ist mein Dad. Sie lächelt leicht, dreht sich um und geht weg, um jemand anderen zu bedienen. Mein Vater und ich nippen an unseren Tassen und starren geradeaus auf die Auslage. An der Wand uns gegenüber hängt ein Spiegel, auf den mit rosafarbener Schrift verschiedene Angebote geschrieben stehen. Zwischen den Buchstaben kann ich uns beide da sitzen sehen, wie wir unsere Tassen heben, einen Schluck trinken und sie dann gleichzeitig wieder absetzen. »Ich habe da angerufen, da ... wo du warst ... und habe ihnen gesagt, dass du in Sicherheit bist«, erklärt er. Ich nicke eine Art Dank. »So«, sagt er und holt tief Atem. »Wolltest du mal um die vier Ecken joggen?« Sein Gesicht wird schnell wieder ernst. Ich nicke. »Hast du dich eingesperrt gefühlt?« Ich will ihm zustimmen, denn das ist offenbar die Antwort, die er hören möchte. Aber ich kann es nicht tun, denn das ist nicht der Grund, warum ich weggelaufen bin. Ich zucke mit den Schultern. Es folgt eine lange Stille; dann fangen wir beide gleichzeitig an zu reden. »Du zuerst«, sagt er. »Wie geht's Sam?«, frage ich. »Sam? Gut. Wirklich großartig.« Seine Stimme klingt, als wollte er mich mit allen Mitteln von dieser Tatsache überzeugen. Oder vielleicht sich selbst. »Letzte Woche hat er dreißig Kilo auf die Waage gebracht.« »Das ist toll«, sage ich und muss daran denken, wie glücklich wir alle waren, als Taras Gewicht letzte Woche neunundvierzig Kilo betrug. »Ja«, sagt er. »Toll, was?« Aber er sieht immer noch so müde und so besorgt aus. Ich möchte so gerne etwas sagen, was ihn aufheitert. Ich möchte ihm alles sagen, was ich im Idiotenhügel gelernt habe. Damit er weiß, dass es mir gut geht, damit er sich keine Sorgen mehr um mich machen muss.
»Weißt du«, sage ich mit einer Stimme, die sehr normal, fast ein wenig spöttisch klingt, »weißt du, ich dachte, es sei mein Fehler. Dass Sam krank geworden ist, meine ich.« Wieder schaut er mich an, diesmal so, als würde er mich zum ersten Mal sehen. »Aber ich hätte an diesem Tag auf ihn aufpassen sollen«, sagt er zu seiner Kaffeetasse. »Ich weiß«, sage ich. Und in diesem Moment löst sich etwas in mir, denn mir wird klar, dass dies die Wahrheit ist. Ich stelle meine Tasse ab, aber es fühlt sich so an, als hätte ich gerade ein enormes Gewicht abgelegt, etwas, das sehr schwer auf mir gelastet hat. Ich schaue zur Seite und betrachte das Profil meines Vaters. Ein Kiefermuskel zuckt, so wie bei Debbie, wenn sie versucht, nicht zu weinen. Er sieht so elend aus. Ich möchte etwas sagen, damit er sich besser fühlt. »Es ist in Ordnung.« »Nein«, sagt er, »ist es nicht.« »Doch, wirklich«, erkläre ich hartnäckig. »Mach dir keine Sorgen. Du hast genug mit Sam und Mom zu tun.« »Ist das der Eindruck, den du hast?« »Ja, ich denke schon. Wenigstens manchmal.« Er fährt sich mit den Fingern durchs Haar, aber es sieht danach nicht ordentlicher aus. Ich ziehe eine Linie durch den Puderzucker auf meinem Teller. »Nun, ich mache mir Sorgen. Um dich. Und zwar jetzt.« »Mir geht's gut«, sage ich. Es ist fast noch schlimmer, dass er sich Sorgen macht und nicht mehr ich. Aber irgendwie gefällt es mir auch. Ein kleines bisschen jedenfalls. Peggy will von uns keine Bezahlung annehmen, aber mein Vater besteht darauf und bestellt auch noch ein Dutzend Doughnuts zum Mitnehmen. Wir stehen an der Kasse und suchen uns verschiedene Sorten aus und ich flüstere meinem Vater zu, dass er Peggy ein gutes Trinkgeld geben soll. Er gibt mir ein paar Geldscheine und ich gehe zu unseren Plätzen zurück und lege sie unter meine Kakaotasse. Sie bedankt sich bei uns und mein Vater streckt seinen Arm über die Theke und schüttelt ihr die Hand. Sie macht nicht den Eindruck, als ob sie das dämlich fände, also schüttele ich ihr auch die Hand. Dann verschwindet sie, um ein paar Punker zu bedienen.
»Warte einen Moment«, sagt mein Vater. »Ich will den Wagen vorheizen, dann kannst du rauskommen.« »Alles klar«, sage ich. Ein paar Minuten später kommt er wieder und erklärt, der Wagen sei jetzt warm. Er scheint darüber so glücklich zu sein, dass es schon fast lächerlich wirkt. Ich halte nach Peggy Ausschau, um ihr zu zeigen, dass ich ihren Rat befolge, aber wahrscheinlich ist sie gerade in der Küche. Mein Vater hält mir die Tür auf, als wir rausgehen, und öffnet mir die Beifahrertür seines Wagens. Ich finde, wir beide sehen völlig normal aus, verglichen mit den Punkern, die da drinnen ihre Doughnuts essen, wie ein zufriedener Vater mit seiner braven Tochter aus einem dieser alten Schwarzweißfilme. Aber das ist mir egal. Es gefällt mir sogar. Er legt den Rückwärtsgang ein, bleibt aber mit dem Fuß auf der Bremse stehen. »Also«, sagt er. »Wo soll's hingehen?« Daran habe ich noch gar nicht gedacht. Mir war nicht bewusst, dass es nach dem Dunkin' Donuts einen nächsten Schritt geben würde. Und dass ich diejenige bin, die entscheiden muss, in welche Richtung dieser Schritt geht. »Nach Hause?«, fragt mein Vater. Ich stelle mir meine Mutter und Sam am Esstisch vor, sie klöppelt und er sortiert. Linus jagt im Garten Eichhörnchen. Dann stelle ich mir Sydney vor, die auf der Raucherveranda steht und Rauchkringel bläst. Tara, die mich bittet, mit ihr Tischtennis zu spielen. Und den Halbkreis aus Füßen an jenem Tag, als ich in der Gruppentherapie weinte. Ich stelle mir Rubys weiße Krankenschwesterschuhe vor. Und deine zierlichen Schuhe aus Stoff. Ich schüttele meinen Kopf. »Zurück zum Idiotenhügel«, sage ich. »Was?«, fragt er. »So nennen wir das Sanatorium. Den Idiotenhügel. Statt Bergidylle.« »Oh.« Er braucht ein paar Sekunden, um zu begreifen. Dann lächelt er. »Bist du sicher?« Bin ich sicher? Dann weiß ich, dass ich es bin. »Ja«, erkläre ich. »Für eine kleine Weile.« Er bläst wieder Luft durch die Zähne, dann nickt er. »Okay«, meint er. Er nimmt den Fuß von der Bremse und fährt aus der Parklücke heraus. Wir überqueren den Highway und fahren an der Telefonzelle vorbei, wo die Vermittlung mir geholfen hat, das R‐Gespräch zu führen. Dann gleiten die Geschäfte am Rande des Highways vorbei, eins nach dem anderen. Der Teppichladen mit seinem grellen Sonderangebot‐Schild im Schaufenster. Eine Videothek. Ein Burger King. Eine Milchbar. Ich merke sofort, dass wir
für den Rückweg zum Idiotenhügel viel weniger Zeit brauchen werden, als ich benötigt habe, um von dort wegzukommen. »Kannst du ein bisschen langsamerfahren?«, frage ich. Er antwortet nicht, stellt keine Fragen, sondern tut einfach, worum ich ihn bitte. Ich möchte jede Minute ausnutzen, um zu reden. Aber es ist mein Vater, der zuerst spricht. »Es tut mir... ähm ... Leid, dass ich nicht mitgekommen bin und dich besucht habe.« Er sagt das leise, wirft mir einen Blick zu und schaut dann wieder auf die Straße. »Schon gut«, sage ich. »Bitte hör auf damit«, sagt er schroff. »Es ist eben nicht gut.« »Okay«, meine ich. Dann: »Ehrlich gesagt, verspüre ich deswegen eine Menge unterdrückter Aggressivität.« Er schaut mich verwirrt an und ich lache. Dann lacht er auch und im Stillen danke ich Amanda, die nicht ahnt, dass sie mir mit diesem Spruch aus der Patsche geholfen hat. »Wenigstens hast du Mom und Sam am Besuchstag zum Sanatorium gefahren«, sage ich. »Wie kommst du denn darauf?« »Ich weiß nicht. Ich dachte ...« »Nein, habe ich nicht.« Er schaut in den Rückspiegel, wechselt die Fahrspur und nimmt dann unser Gespräch wieder auf. »Sie ist selbst gefahren.« »Wirklich?« »Wirklich.« Ich versuche mir meine Mutter am Steuer vorzustellen. Sie fährt unheimlich langsam, während sie und Sam in ihren Sicherheitsgurten eingezwängt sind. Meine Mutter beugt sich vor und ihre Hände um‐ klammern das Lenkrad. »Wow.« Das ist alles, was ich herausbringe. Ein Lichtstreifen, die Reflexion von Scheinwerfern hinter uns im Rückspiegel, gleitet über das Gesicht meines Vaters. »Die Dinge haben sich ... ein wenig verändert«, meint er zögernd. »Wie meinst du das?« »Nachdem du in den ... wie nennst du es doch gleich? Richtig. Nachdem du in den Idiotenhügel gekommen bist...« Ich grinse. Aus dem Mund meines Vaters hört es sich komisch an.
»Wir geben uns jetzt mehr Mühe«, sagt er. »Deine Mutter und ich. Ich ... na ja, ich versuche öfter zu Hause zu sein.« Ich kann ihn mir nicht zusammen mit meiner Mutter und Sam am Frühstückstisch vorstellen, zwischen all dem Garn und den Eishockeykarten, aber ich möchte ihm gerne glauben. Denn ihm scheint es wichtig zu sein, dass ich ihm glaube. Wir bleiben an einer roten Ampel stehen. Mein Vater schaut mich an und betrachtet mein Gesicht. Hinter uns hupt jemand. Mein Vater schaut wieder in den Rückspiegel und guckt verwirrt. Er scheint vergessen zu haben, dass wir auf einer stark befahrenen Straße sind. Als sich der Wagen der Einfahrt zum Idiotenhügel nähert, frage ich meinen Vater, ob wir noch einmal um den Block fahren können, bevor wir hineingehen. Er nimmt den Fuß vom Gas und wir rollen vorbei. Langsam fahren wir an den vereinzelt stehenden Häusern entlang, biegen um die Ecke und kriechen im Schritttempo an einem Wohngebiet vorbei. Ich halte den Karton mit den Doughnuts fest an meinen Bauch gepresst und überlege, wie es wohl sein wird, die anderen wieder zu sehen. Die Uhr am Armaturenbrett zeigt 19:12 Uhr an. Es ist nur ein paar Stunden her, seit ich weggelaufen bin, aber es kommt mir vor wie Tage. Um 19:12 Uhr sitzen alle bei der abendlichen Übungsstunde im Arbeitsraum. Sydney und Tara und Debbie. Sogar Amanda. Ruby läuft in ihren quietschenden Schuhen die Flure entlang. Und plötzlich will ich bei ihnen sein. Jetzt so‐ fort. »Alles klar«, sage ich zu meinem Vater. »Wir können jetzt reingehen.« Ich sitze in dem Wartezimmer vor Mrs Bryants Büro. Der Karton mit den Doughnuts steht immer noch auf meinem Schoß, während mein Vater hineingeht und die Situation erklärt. Auf dem Weg vom Parkplatz zum Gebäude habe ich ihm erzählt, dass ich Angst habe, man schickt mich in den Knaller oder nach Hause. »Überlass das ruhig mir«, sagte er. Ich erin‐ nerte mich an Peggys Ratschlag und beschließe, mich zurückzulehnen und ihn den Vater und mich das Kind sein zu lassen. Als er mit Mrs Bryant aus dem Büro kommt, fällt mir auf, dass sein Haar immer noch vom Wind zerzaust ist. Mich überkommt das Bedürfnis, es zu ordnen, einen Kamm zu nehmen und seine Frisur zu glätten, aber ein Blick in Mrs Bryants Gesicht sagt mir, dass ich ganz andere Probleme zu erwarten habe. »Wir haben uns Sorgen um dich gemacht«, sagt sie, nachdem wir uns alle hingesetzt haben.
»Es tut mir Leid.« Ich weiß, dass sich diese Bemerkung nach gutem Benehmen anhört. »Nun.« Eine Art von Lächeln gleitet über ihr Gesicht. »Ich bin froh, dass du zurückgekommen bist.« »Ich auch.« Und ich meine, was ich sage, aus vollem Herzen. Beide schauen mich an, als würden sie nicht begreifen, was in mir vorgeht, und ich bemühe mich, die richtigen Worte zu finden, damit sie verstehen, was ich meine. »Ich will ... ich will ... ich will ...« Und dann weiß ich, was ich will. Ich weiß, wonach ich mich an jenem Tag gesehnt habe, an dem Tiffany uns verlassen hat, an dem Tag, als ich den ersten Hauch von Frühling verspürte, als ich mir vorstellte, wie die Kinder auf ihren Fahrrädern über die Bürgersteige fahren, die Väter Steaks auf dem Grill brutzeln und die Mütter in der Küche Limonade machen. »Ich will gesund werden.« Mein Vater fängt wieder an, in seinen Taschen zu kramen. Aber ich weiß, dass er nur nach einer Beschäftigung sucht, damit er nicht weinen muss. Ich lächele ihn an, denn mir ist klar, dass es keinen Grund zum Weinen gibt. Mein Vater und Mrs Bryant beginnen über Termine zu reden, über Versicherungsangelegenheiten und andere Dinge, die Erwachsene betreffen. Aber ich kann nur noch daran denken, ob es eine gute Idee wäre, den anderen einen Doughnut anzubieten, wenn ich wieder bei meiner Gruppe bin. Und dann, morgen früh, werde ich als Erstes in dein Büro kommen. Und dir alles erzählen.
Danksagung Mein tief empfundener Dank gilt dem Writers Room, eine Oase der Gelassenheit im Herzen des hektischen New York, und dem Kurs für kreatives Schreiben des Vermont Colleges, wo meine Arbeit unterstützt wurde, als ich mich in einer kritischen Phase befand. Danken möchte ich auch meinen Freunden Bridget Starr Taylor, Hallie Cohen, Annie Pleshette Murphy, Chris Riley, Joan Oziel, Joan Gillis, Meg Drislane, Anna An und Cathy Bailey, die an diese Geschichte geglaubt haben, selbst dann, als ich selbst den Glauben verloren hatte. Auch Katya Rice, die das Buch mit viel Feingefühl und guter Laune lektoriert hat, möchte ich danken, ebenso wie Carolyn Coman, die die Erste war, die diese Seiten tatsächlich als Buch bezeichnet hat, und meinem Verleger Stephen Roxburgh. Am allermeisten jedoch danke ich meiner Familie, Paul, Meaghan, Matt und Brandon, die mir so viel über Liebe und Ehrlichkeit beigebracht haben.