Dolly Buster Hard Cut Roman
Über die Autorin: Dolly Buster, als Katja-Nora Bochnikovä in Prag geboren, ist hauptberuflich Ikone, Diva, Star und Moderatorin. Neben ihrer schriftstellerischen Tätigkeit arbeitet sie als Produzentin von beliebten Videos.
Von Dolly Buster ist außerdem erschienen: Alles echt! Redaktion: Volker Ludewig Besuchen Sie uns im Internet: www.knaur.de Originalausgabe 2001 © 2001 bei Droemersche Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf., München Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf - auch teilweise nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden. Umschlaggestaltung: DBA1 Videovertrieb Umschlagabbildung: Dolly Buster GmbH Satz: Ventura Publisher im Verlag Druck und Bindung: Norhaven A/S Printed in Denmark ISBN 3-426-61963-6
hard cut (engl.): Bezeichnet in der Filmfachsprache einen harten Schnitt ohne Überblendung. »Heute in der Stadt: Porno-Superstar Lilly DeLight. Lilly steigt ab im Hotel Aster, wo sie um 12.3O Uhr zu einer Pressekonferenz lädt.« (Aus der BZ, 3O.O8.2OOO)
Prolog Die Erregung der Versammelten war so durchdringend wie der Duft der Lilien in den großzügig im Raum verstreuten Blumenarrangements. Ihre Erwartungen waren vermutlich so klebrig und süßlich wie der Geruch der vulgären Blume. »Friedhofsblumen«, dachte er und musste das erste Mal an diesem Tag lächeln. Symbole der Reinheit. Er schaute sich die Menschen um sich herum an - die Männer waren in der Überzahl. Sie taten cool, machten grobe Witze und rutschten doch unruhig auf ihren Stühlen hin und her. Blass sahen sie aus. Zerknittert. Ungeduldig. Die Nervosität der Anwesenden steckte ihn nicht an - sie beruhigte ihn. Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück und streckte die Beine von sich. Sol ten die anderen auf ihre Uhren und immer wieder zur Tür schauen, er hatte Zeit. So lange wie er gewartet hatte, sie wieder zu sehen, fielen ein paar Minuten mehr oder weniger nicht mehr ins Gewicht. Er hatte lange Jahre auf diesen Moment hingearbeitet, und jetzt würde er ihn auskosten wie ein Kind, das am Weihnachtsabend auf die Bescherung wartet. Sie wieder zu sehen - von Angesicht zu Angesicht, darauf hatte er gewartet und gleich würde es so weit sein. Und dann wäre es nur noch eine Frage der Zeit, bis er sie retten würde, er Ösen. Auch dafür würde er nichts überstürzen. Er hatte Demut gelernt. Vertrauen in die Wege des Herrn. Ehrfurcht vor den Gesetzen Gottes. Diese Gesetze würde er ihr nahe bringen. Denn Gott war mit ihm. Und schon ganz bald würde sie auch wieder bei Gott sein.
Kapitel l »Jetzt mach doch mal bitte endlich, das Handy aus, ich kann so nicht arbeiten!« Sein Ton war so eindeutig, dass er nicht einmal wie Rumpelstilzchen mit dem Fuß aufstampfen musste. Tim befand sich mal wieder am Rande der Hysterie. Die ersten Anzeichen waren immer dieselben. Erst schürzte er die Lippen, was ihm gar nicht so gut stand. Eigentlich war er ein ganz Hübscher, aber mit dem verkniffenen Blick bekam er eine sauertöpfische Note, die nicht zu seinen Nasen- und Ohrenpiercings passte. Dann wedelte er mit den Händen, um zu signalisieren, dass sie arbeiten wollten. Wahrscheinlich sehnte er sich gerade furchtbar nach einer Zigarette, aber er hatte ein Nichtraucherseminar belegt und war fortan zwar vom Nikotin entwöhnt, aber immer etwas zappelig. Er war einer dieser Techno-Friseure, die an jedem verfügbaren Körperteil mehrfach gepierct sind, sodass man sie nicht in die Nähe eines Magneten kommen lassen durfte. Wenn ich Störgeräusche im Handy hatte, dann entstanden sie oft genug durch die Metallmenge an meinem Stylisten. Ging man mit ihm durch den Metalldetektor am Flughafen, wurde einem immer sofortige Aufmerksamkeit zuteil. Tatsächlich hätten wir am Vorabend beinahe den Flug nach Berlin verpasst, weil der Detektor nicht aufhörte zu schrillen, obwohl Tim fast allen Schmuck abgelegt hatte. Es war ihm sehr peinlich gewesen, der mittelalterlichen Flughafenangestellten mitzuteilen, dass er seit neuestem einen Prince-Albert in der Hose hatte und dieser - abgesehen von der Lärmbelästigung und der unerwünschten Aufmerksamkeit der anderen Passagiere auch noch Schmerzen verursachte. An diesem Tag galt auch für Tim, was man über die meisten Männer sagen kann - sie denken mit dem Schwanz. Und der hängt bekanntlich die meiste Zeit schlaff herunter.
»Kein Stress, okay?«, zischte ich, mit der Hand die Hörmuschel abdeckend und reichte ihm ein Haarteil, damit er etwas zu tun hatte. Während ich das Gespräch zu Ende brachte, beobachtete ich im Spiegel, wie er mit dem Toupierkamm rücksichtslos das blondierte Echthaar attackierte. Kaum, dass seine Hände beschäftigt waren, entspannte sich sein Mund, und er machte einen glücklichen, selbstvergessenen Eindruck. Ich wusste, dass ich mich jetzt beeilen musste, denn wenn ich ihm zu viel Zeit ließ, würde er es mit den Haarteilen übertreiben - das Ergebnis wäre, dass ich aussähe wie Marie Antoinette und mit fiesen Kopfschmerzen schlafen gehen würde. Unser gemeinsamer Rekord waren vier Haarteile und ein falscher Zopf. Damit war ich im Juni 1998 durch die Eröffnungsparty meines ersten Lilly-DeLight-Sex-Shops gewandelt und hatte ausgesehen wie das letzte Einhorn oder eine haarwuchsmittelabhängige Cousine von Rapunzel. Die Perücken waren so schwer und so fest verankert gewesen, dass ich in der Nacht vor Kopfschmerzen kaum einschlafen konnte. Ich warf Tim durch den Frisierspiegel einen Augenrunzelblick zu und konzentrierte mich wieder auf mein Telefongespräch. »Okay Rita - sag ihnen, dass ich noch ungefähr eine halbe Stunde brauche, dann erscheine ich in zwanzig Minuten, und alle sind happy, weil sie denken, dass ich mich ganz schrecklich für sie beeilt habe.« »Alles klar, Lilly. Bis gleich.« Ich klappte das Handy zu, nahm Tim den Dutt aus der Hand und legte ihn mir auf den Kopf. »Ich weiß nicht, wie du das kannst - die Leute so warten zu lassen. Macht dich das nicht nervös?« »Timmi, es reicht doch, wenn die anderen Leute nervös sind. Außerdem steigert Abwarten die Erregung«, erklärte ich ihm. Manchmal kam ich mir wie seine Mutter vor. »Dass du so ruhig sein kannst, wenn unten ein Saal voller Journalisten auf dich wartet... nee, ich könnte das nicht. Hast du keine Angst, dass die schlechte Laune bekommen?« »Schau mal: die bekommen ein Journalistengedeck, das in diesem Laden hundertsechzig Mark pro Person kostet. Gratis. Sie können Klatsch austauschen und was weiß ich noch. Und wenn wir das alles hinter uns haben, dann haben sie eine geile Story, und morgen geht ihre Auflage hoch, weil ich auf den Titelseiten bin. Mach bitte nicht so hoch am Hinterkopf.« Er drückte auf das honigblonde Haarteil, bis es gerade noch ein klitzekleines bisschen übertrieben, aber nicht mehr wie der Schädel einer Außerirdischen aussah. »Weißt du, den richtigen Stress, den hat Rita. Und der macht es Spaß.« Rita war seit anderthalb Jahren meine persönliche Assistentin und kümmerte sich um meinen Terminkalender und meine Öffentlichkeitsarbeit. Heldenhaft meisterte sie den Umgang mit Presse, Pornostars und sonstigen Promis und war sich auch nicht zu schade, mich vor Bekloppten abzuschirmen, die es zwangsläufig zu geben scheint, wenn ein Mädchen die Gabe hat, nicht nur
ihren Geist, sondern auch ihre Genitalien Gewinn bringend einzusetzen. Heute war es Ritas Aufgabe, die Reporter in Schach zu halten, die in einem Konferenzraum ein paar Meter Luftlinie entfernt gespannt auf die Mitteilung warteten, die Deutschlands Porno-Star Nummer eins (also ich) abzugeben hatte. Der Rahmen war auch mir neu. In der Regel empfing ich die Presse nicht in Rudeln, sondern in kleineren Einheiten. Normalerweise begleiteten sie mich in Zehnertrupps bei Lilly-DeLight-Sex-Shop-Eröffnungen, Kino-Premieren, Opernbällen, und Benefiz-Veranstaltungen zu Gunsten der AIDS-Forschung, des Tierschutzes und der Mukoviszidose-Stiftung, oder sie besuchten mich in Zweierspähtrupps für aufschlussreiche, reich bebilderte Homestorys in Villen, die ich extra für diesen Zweck mietete, denn mein Heim sollte für die Presse tabu bleiben. Der eine oder andere Einzelkämpfer mit Kamera hatte sich auch schon im Supermarkt an meine Fersen geheftet und mich vor dem Kartoffel-Chips-Display abgelichtet. Aber große Anlässe erfordern einen großen Auftritt und so musste es halt heute das Astor sein, die Vertreter der gesamtdeutschen Presse, das honigblonde Haarteil und das ärmellose hellgraue Cashmere-Twinset mit den passenden ManoloBlahnik-Pumps kombiniert mit einem herrlich understateten zartrosa Pashmina-Schal. Was ich vorhatte, erforderte ein gewissenhafteres Outfit, als für die Zehn-Jahres-Feier eines Autohauses erforderlich gewesen wäre. Und solche Events überließ ich gern den Nachkömmlingen meiner Branche: Kopf hoch Mädels – und Brust raus! Tim sinnierte kopfschüttelnd über die Berufswahl meiner Assistentin, während er mir die Locken und Strähnen arrangierte, als mit der Erkennungsmelodie vom »DenverClan« mein Handy klingelte. »Ich bin's.« Mein Mann Max. Kein »Hallo Engelchen«, kein »Na, Süße«, nicht einmal »Hey, Braut«. »Ich bin's.« Ein Teletubbie stapfte mit einem »Oh oh« von rechts nach links an meinem geistigen Auge vorüber. »Ganz schlechter Zeitpunkt Schatz - Tim bringt mich um, wenn ich nicht in drei Minuten fertig bin.« Tim nickte mir eifrig zu und begann mich mit dem Haar-Spray einzunebeln, das auch Kate Moss und Heather Locklear benutzten, weil er fand, dass ich es mir wert war. »Was ist denn, du klingst komisch.« »Wir müssen reden.« Seine Stimme hörte sich nicht angespannt an. Seine Stimme schien aus dem Grabe zu kommen. Aus einem arktischen Grab. »Was ist denn los?« »Das sag bitte du mir.« »Max, ich kann jetzt keine Rätselspiele machen - da unten warten achtzig Leute auf mich«, versuchte ich mich herauszureden, während ich fieberhaft überlegte, was ich getan haben könnte. Ich liebe meinen Mann, aber manchmal ist er etwas anstrengend. Meistens dann, wenn er glaubt Anlass zur Eifersucht zu haben. Da erschien wieder das Teletubbie und ging von links nach rechts durchs Bild. Oh oh ...
Der Brief. Er hatte den Brief von Ronny gefunden. »Ich halte hier etwas in den Händen, für das du mir eine Erklärung schuldig bist.« Max. Seit zwei Jahren der Mann meines Lebens. Ich hatte ihn kennen gelernt, als meine Produktionsfirma expandierte und ich einen neuen, größeren Firmensitz gesucht hatte. Ich fand ihn in den Gelben Seiten der Stadt Goslar unter der Rubrik »Immobilien«. Sein Name hatte mir auf Anhieb gefallen - Maximilian Winter nur eine Silbe trennte ihn von dem Romanhelden in Rebecca – und ich liebte das Buch und den Film von Hitchcock noch viel mehr. Bei unserem ersten Besichtigungstermin war er offensichtlich überrascht von mir gewesen. Wahrscheinlich hatte er erwartet, dass ich oben ohne erscheinen und ihm zur Begrüßung an die Hose gehen würde. Er schien zunächst etwas angespannt, dank seiner ausgezeichneten Umgangsformen gelang es ihm aber, dies fast völlig zu überspielen. Nach der dritten Besichtigung schmolz das Eis, als sich auf der Rückfahrt mein Boxer Mikey in seinen Jeep erbrach. Das war insofern gut so, als dass ich sonst wahrscheinlich noch heute mit diesem Mann Höflichkeiten austauschen und Gewerbeimmobilien besichtigen würde. Ich kann, was Gefühle angeht, manchmal ganz schön verklemmt sein und hätte bei Max nie den ersten Schritt gewagt. In der Notsituation fühlte er sich gefordert und fuhr uns schnurstracks zum Tierarzt. Ich kenne Typen einige davon Kollegen von mir -, die hätten Frau und Hund aus dem Wagen geschmissen und wären in die nächste Werkstatt gefahren, um erst mal die Sitze zu reinigen. Wie das Schicksal manchmal so spielt, fand ich an diesem Tag nicht nur zu Max, sondern darüber hinaus einen kompetenten Tierarzt (Tierbesitzer wissen, wie wichtig das ist) wie auch den ehemaligen Gutshof, in dem heute meine Firma residiert, direkt neben der Tierarzt-Praxis. Ein Dreier-Treffer! Ein Vierteljahr später heirateten wir Max und ich, nicht ich und der Doktor. Man sollte ja meinen, dass die Ehemänner von Porno-Stars gelernt haben, ihre Eifersucht zu zügeln. Aber nein. Es war und blieb für Max problematisch, dass ich in diesem Metier tätig bin, aber er hatte sich immer bemüht, es als das zu akzeptieren was es ist mein Job. Man durfte ihm nur nicht den Eindruck vermitteln, dass der Job mitunter auch Spaß macht. Sobald ich gut gelaunt von Dreharbeiten nach Hause kam, war seine Reaktion absehbar. Er bockte. Erst wurde er launisch, dann zynisch und schließlich meist beim Abendessen – feindselig genug, einen Streit vom Zaun zu brechen. Nach zwei Jahren Ehe hatten wir aufgehört, uns direkt über meinen Beruf zu streiten, aber unterschwellig war seine Eifersucht auf meine Co-Stars immer der Auslöser für den Krach. Ich konnte ja verstehen, dass es für ihn nicht einfach war, aber da ich persönlich nie Eifersucht verspürt habe (höchstens mal Neid, aber das ist was anderes), fällt es mir schwer, die Folgen davon zu ertragen. Ich hatte vernünftig argumentiert, dass er in seinem Beruf als Makler ja auch ständig andere Frauen trifft und die Möglichkeit hätte, mich nach Strich und Faden zu betrügen, dass es nur aber gar nicht einfallen würde, ihm das zu unterstellen. Und dass die Ausübung meines Berufes seit wir uns kannten, nie meine Gefühle für ihn verändert hatte. Aber Max war total verbohrt und irgendwann ließen wir das Thema sein. Fortan fand er dann andere Vorwände, sich mit mir anzulegen. Wir sind - vorsichtig ausgedrückt - ein
sehr Konflikt erprobtes Paar. Ich erzähle dies aus zweierlei Gründen: Erstens hatte ich gerade aus der aufreibenden Ehesituation meine Konsequenzen gezogen, und diese Konsequenzen waren ein Anlass für die Pressekonferenz, und zweitens hatte Max dieses eine einzige Mal mit seinem Vorwurf .leider Recht gehabt. Ronnys Brief... Ronny. Bis vor sechs Jahren der Mann meines Lebens. Kennen gelernt hatten wir uns in Peine im November 1990, als wir gerade im Porno-Geschäft anfingen. Die Tatsache, dass wir beide blutige Anfänger waren, hatte unsere Zusammenarbeit in den ersten Wochen besonders charmant und erfolgreich gemacht. Begegnet sind wir uns auf dem Set einer Greta-Giehse-Produktion. Es war ein trister grauer Tag, bis wir uns in einem Wohnzimmer mit Schrankwand und überdimensionierter Plastikledercouch gegenüberstanden. Er, mit nacktem, leicht gebräunten Oberkörper in einer zerfetzten Jeans, in der sich eine beachtliche Beule abzeichnete, die unter Beobachtung noch erschreckend zu wachsen schien. Ich in einem leopardengemusterten Acetat-Negligee, das ich mir schnellstmöglich vom Leibe reißen lassen wollte, um keinen Ausschlag zu kriegen. Es hatte nicht gefunkt zwischen Ronny und mir, es hatte geknallt. Seine blaugrünen Augen waren in meinen grünen versunken und das war es. Blitze zuckten am Firmament. Kometen regneten vom Himmel, die Engel trällerten für uns und der Schock der großen Liebe führte zu einer sensationell geilen Performance, die in den Videotheken immer noch ein Renner und längst Kult geworden ist. Ich bedauere sehr, dass an diesem Film nur Greta Giehse verdient. Ronny war von Natur aus sandblond, wie ein junger Gott gebaut und sah aus, als könne er aus dem schäbigen Set in Peine direkt nach Hollywood gehen und dort Karriere in Melrose Place oder Beverly Hills machen. Das wäre jedoch eine Schande gewesen, denn sein größtes Talent hing dort, wo amerikanische TV-Kameras keine Großeinstellungen machen. Da ich so etwas wie eine Expertin auf diesem Gebiet bin, kann ich mit Fug und Recht behaupten, dass Ronnys Schwanz der schönste und wohlproportionierteste war, den ich je gesehen habe. Und ich hatte oft und ausgiebig Gelegenheit dazu. Wir verließen den Set unserer ersten gemeinsamen Produktion als Paar und das blieben wir für die nächsten vier Jahre. Nein, wir steigerten uns: wir wurden zum Traumpaar. Ronny & Lilly, das waren Romeo und Julia im Pornoland, zwei blonde Strandkinder, aber ohne die störenden Familien, die die Verbindung nicht zulassen wollten. Wir waren ein Volltreffer. Ich, als Waage mit Aszendent Zwilling, er, als Zwilling mit Aszendent Waage. Wir hätten eigentlich nie reden müssen, denn im Grunde war zwischen uns immer alles klar. Trotzdem quatschten wir die Tage und Nächte durch. Ironisch, wenn man bedenkt, dass wir erst einmal in fünf Stellungen miteinander gefielet hatten, bevor wir das erste Wort wechselten ... Von Anfang an war es unser Plan gewesen, bei Greta Giehse viel viel Geld zu machen, bis wir genug zusammenhatten, um unsere eigene Produktion zu gründen, aber als es fast so weit war, hatte sich Ronny ein teures Hobby zugelegt: Koks. Unsere Liebe endete nicht, sie scheiterte an Ronnys neuer Vorliebe. Ich wäre nie im Traum auf den Gedanken gekommen, mich mit chemischen Substanzen zu pushen, ich hatte schon im Normalzustand ein Übermaß an Energie, aber für Ronny entwickelte es sich zum Normalfall, sich vor dem Dreh eine Line reinzuziehen und nach dem Dreh noch mal, und mit den anderen auf Partys zu gehen und sich auch dort noch den Kopf zuzudröhnen. Ich feierte zwar mit, aber es macht auf Dauer
keinen Spaß, mit Koksern unterwegs zu sein - sie haben auf einmal einen anderen Sinn für Humor, sind hyperaktiv und selbstüberzeugt und nach einer Weile einfach nur noch anstrengend und nervtötend. Ich stellte Ronny vor die Wahl und er traf die falsche. Ende der Liebesgeschichte, Anfang der Erfolgs-Story. Ich nahm einen Kredit auf und startete durch. Wenn ich zurückblicke, kann ich sagen, dass das einzig Gute am Trennungsschmerz war, dass ich jede freie Minute in die Arbeit steckte, um bloß nicht andauernd über sein Leid, mein Elend und den Schmerz, den ich ihm verursacht hatte, nachzudenken und heulend auf dem Sofa zu liegen. Er fehlte mir so, dass es manchmal körperlich wehtat. Ich wachte morgens auf und in den ersten Sekunden war alles gut, bis mir auf einmal klar wurde, dass er nicht neben mir lag und auch nicht wieder neben mir liegen würde. Dann hätte ich jedes Mal sofort zu heulen anfangen können, aber nach zwei Wochen des exzessiven Trauerns war keine Tränenflüssigkeit mehr übrig. Von da an schnappte ich mir morgens um sechs den Hund, der meist noch total verschlafen war, und trabte durch den Park, um mich dann in die Arbeit zu stürzen. Entgegen aller psychologischen Ratschläge habe ich verdrängt, verdrängt, verdrängt. Oder es zumindest tagtäglich aufs Heftigste versucht. Ich traf mich mit Bankern und Unternehmensberatern, schaute mir Exposees für Büroräume an, führte Einstellungsgespräche mit Angestellten, recherchierte, wie andere Firmen arbeiteten, und machte mir Gedanken, wie bestimmte Arbeitswege zu optimieren wären. Vielleicht wäre die Lilly DeLight GmbH nicht so erfolgreich geworden, wenn es mir damals nicht so beschissen gegangen wäre, als ich die schwere Aufgabe hatte, achtzehn Stunden täglich mit sinnvoller produktiver Tätigkeit zu füllen. Ich gab mir keine Zeit für Tränen. Und vielleicht haben die Psychologen Recht, und das ist letztlich der Grund, warum ich nie ganz über Ronny hinweggekommen bin. Mit der Firmengründung begann meine Karriere erst richtig zu boomen - seine begann sich innerhalb des nächsten Jahres in Luft aufzulösen. Irgendwann galt es als riskant, ihn zu buchen, weil man nie sicher sein konnte, ob er am Set auftauchen würde, und wenn: dann in welchem Zustand? Es gab Darstellerinnen, die sich schlichtweg weigerten, mit ihm zu spielen, und bald bekam er keine Rollen mehr und verschwand vollständig von der Bildfläche. Einige Kollegen, die ihn nie leiden konnten, behaupteten, er sei jetzt ganz am Ende, sei auf Heroin und würde auf Bahnhöfen anschaffen gehen, aber das waren sicher nichts als Gerüchte, und ich hatte nie jemanden getroffen, der sie bestätigte. Ich stand kurz davor, zur eisernen Jungfrau des Porno-Business ausgerufen zu werden, als ich Max kennen lernte, der so ziemlich das Gegenteil von Ronny war. Besonnen, dunkelhaarig-markant, gut situiert. Er, der Fels, ich, die Brandung. Wenn zwei Männer so grundverschieden sind, dann kann man es einem Mädchen doch nicht zum Vorwurf machen, wenn ihr Herz für beide schlägt, oder? Was Max jetzt in den Händen hielt, war der erste Brief, den ich je von Ronny bekommen habe und das, nachdem wir seit sechs Jahren keinerlei Kontakt gehabt hatten.
"Los Angeles im Juni 2000
Liebe Lilly, es ist nicht leicht für mich, Dir diesen Brief zu schreiben, aber ich will, das Du weißt, das ich Dir nicht böse war, weil Du mich rausgeschmissen hast. Ich war ein Schwein und hätte uns beide kaputtgemacht. Deshalb war es besser, ich mach nur mich kaputt. Denn Du bist ein Engel. Engel muss man beschützen. Ich bin jetzt seit einem Jahr clean (11 Monate, 17 Tage). War bei der Hazelden Foundation in Minnesota, die haben mir das Hirn wieder saubergewaschen. War harte, schmutzige Arbeit, aber ich bin jetzt ein neuer Mensch. Nur leider pleite. Das Therapie-Geld hat mir ein Typ geliehen, der mich aus der Gosse aufgelesen hat, und das meine ich ernst. LG letzten Sommer – da hatte mich mein Dealer zusammengeschlagen, kannst Dir ja denken wieso war ein bisschen im Rückstand. Ließ mich auf der Straße liegen. Glück gehabt, das David vorbeikam und mich aufgegabelt hat. Ich will ihm das Geld zurückzahlen, kann aber grad nicht. Deshalb bitte ich Dich, Lilly, gib mir einen Part, ich bin immer noch gut, jetzt besser als damals Habe oft an uns gedacht, als ich wieder zu mir kam, und weiß jetzt, dass ich nie jemanden so sehr geliebt habe wie Dich. Liebst du mich noch ein bisschen? Hilfst Du mir? In Liebe, Ronny"
Handschriftlicher Vermerk: "Anfrage bestätigen, Termine durchgeben (Drehbeginn, »Lilly DeLights Hexen«, August 2000), Kontoverbindung checken und DM 5.000 Vorschuss anweisen"
Da ich wie erwähnt Waage, Aszendent Zwilling, bin und da ich glaube, dass Liebe nicht stirbt, und da ein Freund mich um Hilfe bat, sagte ich ihm die Rolle zu. Dass Max bei der Vorstellung durchdrehte, dass ich die nächsten Wochen mit einem liebeshungrigen Ex-Kokser am Set verbringen würde, war bei seinem Charakterbild logisch. Und verzeihlich. Man konnte es drehen wie man wollte. Er hatte Recht, ich war im Unrecht, ich war der Täter, er das Opfer. Denn das Schlimmste: Ich freute mich wahnsinnig auf Ronny. »Ich kann dir das alles erklären, dreh jetzt bitte nicht gleich durch ...«, bat ich ihn. »Hier gibt es wohl nichts zu erklären, die Sache scheint ja eindeutig. Dein Ex kommt aus dem Schlamm gekrochen, und du nimmst ihn mit offenen Armen wieder auf.« »Ja soll ich ihn denn zurückweisen, wenn er Hilfe braucht?« »Seit wann bist du Mutter Teresa?« Wie macht man jemanden das Unbegreifliche begreiflich?
»Hör mal Max, ich kann eine Szene jetzt grad nicht brauchen. Wir können gerne morgen über alles reden.« Ich bemühte mich redlich, einen sanften Tonfall zu finden, während ich vor Aufregung fast zitterte. »Ich frage mich, ob es überhaupt noch etwas zu bereden gibt.« Und klick. Aufgelegt. Einfach so. Tim war während des Telefonats dezent drei Schritte in den Hintergrund getreten und vermied Augenkontakt mit mir. Ich schaute in den Spiegel, holte tief Luft, griff meinen Pashmina Schal und meine Handtasche und holte noch einmal tief Luft. Und noch einmal. Dann blinzelte ich ein paar Mal und die Tränen waren zurückgedrängt, ohne dass sie mir den Lidstrich ruiniert hatten. Jetzt schaute Tim zu mir rüber und murmelte: »Na dann kann's ja losgehen ...«
Kapitel 2 »Ich trete ab.« In der ersten Reihe klappten zwei Kinnladen runter, und im ganzen Saal wurden Augenbrauen hochgezogen, Stirnen gerunzelt, skeptisch Blicke ausgetauscht. Ich konzentrierte mich darauf, die Kunstpause zu dehnen und dabei ein völlig gleichgültiges Gesicht zu machen, weil ich wusste, dass das nachher im Fernsehen toll rüberkommen würde. Ich ließ meinen Blick langsam durch den Saal schweifen und erkannte das eine oder andere bekannte Gesicht. Der hübsche Homo von der BZ, die wuselige Fotografin der Hamburger Morgenpost, Gerd Bartels, der KlatschChef der Leute-Illustrierte (mit dem man wunderbar klatschen kann), ein süßer neuer Hiwi beim Drehteam von Exclusiv. Die Arme gingen so synchron hoch, wie man es sonst nur beim Wasserballett sieht. Rita, die neben mir saß, erteilte den Zuschlag der Dame von der Bunten Woche. »Lilly, was heißt, Sie treten ab?« »Das heißt, dass ich nicht mehr gedenke, als Pornodarstellerin zu arbeiten.« Die Männer schauten sich an, um zu sehen ob ihren Kollegen auch das Pokerface entglitt und Enttäuschung in ihren Zügen flackerte. Voller Genugtuung stellte ich fest, dass dies der Fall war. »Wie kam es zu dieser Entscheidung?« »Das hat sowohl persönliche wie auch professionelle Gründe.« Style-Magazin: »Können Sie das ausführen?« »Eigentlich lasse ich mich ja lieber ausführen, aber okay ... Schauen Sie, ich werde dieses Jahr dreißig. Ich habe alles erreicht, was ich in dieser Branche als Darstellerin
erreichen konnte, und man muss wissen, wann es Zeit ist abzutreten und dem Nachwuchs eine Chance zu geben.« Gerd Bartels von der Leafe-Illustrierte war am Zug: »Das war der professionelle Grund, wie steht es mit der privaten Seite?« »Ich möchte Sex nur noch als Hobby betreiben. Und zwar ausschließlich mit meinem Mann.« Financial Times Deutschland: »Was bedeutet das für Ihre Firma? Verkaufen Sie?« »Nein. Die Lilly DeLight GmbH wird es natürlich weiterhin geben, und ich habe jetzt viel mehr Zeit, mich intensiv um die Firma zu kümmern und zum Beispiel neue Produktreihen zu entwickeln und unseren Internet-Auftritt zu optimieren. Darüber hinaus werde ich das Wissen, das ich vor der Kamera gesammelt habe, jetzt verstärkt als Produzentin einbringen und beginne Anfang nächster Woche mit den Arbeiten zu der ersten Produktion, in der ich auch Regie führen werde. Und für das nächste Jahr plane ich den Gang an die Börse.« Die Bunte Woche: »Ist es wahr, dass Sie mit RTL 2 bezüglich der Moderation eines neuen Erotik-Magazins verhandeln?« »Da bringen Sie etwas durcheinander. Ich verhandle zwar mit einem namhaften TVSender, aber es geht nicht um eine Erotikshow. Die haben ihre besten Zeiten längst hinter sich, wenn Sie mich fragen.« »Was halten Sie von Produzentinnen, die auch jenseits der sagen wir neundunddreißig noch in ihren eigenen Produktionen spielen?« Die Frage gefiel mir und ich schaute mir die Journalistin, die sie gestellt hatte, genauer an. Sie saß am Sät 7-Tisch, aber ich kannte sie aus einem anderen Zusammenhang. Vornehm-blasses Gesicht, ein harter Zug um die paloma-picassoroten Lippen, ein schwarz gefärbter Pagenkopf, diese raue Stimme ... Elke Brenner! Sie schien immer noch in den Achtzigern zu leben, nur dass sie zu alt war für ein Styling wie die Mädchen auf den Fotos von Helmut Newton. Wie kam man denn vom ELLE-Magazin in die Redaktion von News Alive, einer Sendung, die sich neben der Promiberichterstattung auf Boulevard-Interviews mit Unfallopfern, Hinterbliebenen und vom Schicksal Gezeichneten spezialisierte? »Hallo Frau Brenner! Hier gibt's doch keine Kollegenschelte!« Ich lächelte süffisant. »Wenn Greta Giehse meint, in ihren eigenen Pornos spielen zu müssen, dann kann ihr das niemand verbieten. Inge Meysel hat ja auch noch niemand ins Altenheim gesteckt.« Ich zuckte gemächlich die Schultern, was meinem Dekolletee immer sehr schmeichelt. Und natürlich klickten die Kameras in diesem Moment besonders rasant. Rita trat mir unter dem Tisch gegen die Wade und Elke Brenner lächelte mich an. So freundlich sie konnte. Und das war immer noch frostig. BZ: »Das hört sich an, als haben Sie - sagen wir – Animositäten gegen Frau Giehse?« Lilly: »Nein, und auch nicht gegen Frau Meysel, wenn das Ihre nächste Frage ist. Die leisten beide noch gute Arbeit. Aber schauen Sie: Es wäre doch schrecklich, wenn
alle Fernsehgroßmütter nur von Inge gespielt würden und in allen Pornos Greta Giehse oder Lilly DeLight mitmachen. Es gibt doch so viele Darstellerinnen und Produzentinnen, die auch eine Chance verdient haben! Ich habe jetzt sechs Jahre lang in meinen eigenen Filmen gespielt und das reicht. Ich möchte jedenfalls nicht die Porno-Oma der Nation werden.« Ich warf Rita einen kurzen Seitenblick zu. Sie war ziemlich blass. Vielleicht sollte ich einen Gang zurückschalten. Jetzt meldete sich wieder Gerd Bartels von der Leute zu Wort, und ich freute mich schon. Er lieferte immer die besten Vorlagen. »Frau DeLight, wie erklären Sie sich eigentlich, dass Ihre Firma innerhalb von zwei Jahren die Giehse-Produktion vom Platz eins der deutschen Porno-Produktionen verdrängt hat und sich nach wie vor an der Spitze hält? Was ist das Geheimnis Ihres Erfolgs?« Ich musste grinsen. Die Frage hätte nicht besser sein können, wenn ich sie selbst geschrieben hätte. »Auf diese Frage gibt es mehrere Antworten. Erst mal eine Gegenfrage: Warum ist Beate Uhse erfolgreich?« Er setzte schon zur Antwort an, aber ich war schneller. »Weil sie viel Zeit hatte, ihre Firma aufzubauen, und weil sie sich immer den Wünschen des Publikums angepasst hat. Das ist sicher auch ein Grund, warum sie nie eine Karriere als Darstellerin verfolgt hat - sie weiß schließlich, was sich verkauft, und ist sehr uneitel. Ich weiß auch, was die Leute wollen, und ich bemühe mich, grundsätzlich Top-Qualität abzuliefern. Was die Locations angeht, die Storys und natürlich auch die Darsteller. Ich steh auf Qualität. Und deshalb liefere ich sie auch. Ich war nie aus Eitelkeit Darstellerin, sondern aus Professionalität. Diese Professionalität wird auch immer prägendes Merkmal meiner Firma sein. Wenn man etwas gut kann, dann muss man damit Geld verdienen. Und wenn man etwas sehr gut kann, dann muss auch sehr viel Geld dabei rausspringen.« »Was ist Ihr nächstes Projekt?« »Übermorgen beginne ich in Koproduktion mit TV l mit den Dreharbeiten an einem neuen Video, und es freut mich sehr, Ihnen mitteilen zu können, dass ich einen der besten Darsteller aus diesem Metier überzeugen konnte, sein Comeback zu starten. Ronny Sanchez ist zurück, meine Lieben, und ich kann euch sagen - er ist in TopForm!« (So hoffte ich inständig ...) Elke Brenner war gut vorbereitet, aber schien nicht recht bei der Sache zu sein. Sie wirkte mit einem Mal fahrig und konnte kaum meinen Blick halten, als ich ihr einen Augenaufschlag widmete. »Sie waren doch jahrelang ein Paar - ist das ein Fall von >On revient toujours a son premier amour?< « »Meine Französischkenntnisse erstrecken sich leider auf ein anderes Feld, Frau Brenner. Können Sie das mal übersetzen?« »Es heißt, man kehrt immer zu seiner ersten Liebe zurück.« Ich griff nach dem erstbesten Satz Französisch, der mir einfiel.
»>Merci mon ami, es war wunderschön<, kann ich dazu nur sagen. Und >oh lala< und vielleicht >plus ça change, plus ça reste la même chose<. Fragen Sie mich jetzt bitte nicht, was das heißt, aber es klingt verdammt gut, oder?« Innerlich schwirrten Schmetterlinge in meinem Bauch als ich das sagte, denn der Satz war mir ohne nachzudenken über die Lippen gekommen, und kaum ausgesprochen, schien es mir eine Prophezeiung, dass sich zwischen Ronny und mir nichts verändert hatte, außer den Umständen. Irgendein weises Wesen, Shirley MacLaine oder der Dalai Lama, hat einmal gesagt: »Der Mensch verändert sich nicht, der Mensch wird im Laufe der Zeit nur immer mehr das, was er bereits ist.« Der Versammlung schien mein französischer Diskurs zu gefallen, und ich war froh, endlich vom Thema Greta Giehse weggekommen zu sein. Ein junger Reporter, den ich hier nicht zum ersten Mal sah, kannte sich offenbar auch im Business aus: »Ist es kein Widerspruch, wenn Sie sagen, dass Sie sich selbst für zu - äh -, erwachsen halten, um weiterzudrehen und dann jemandem wie Ronny Sanchez eine Rolle geben?« »Überhaupt nicht. Ich habe nicht vom Altern gesprochen, sondern von einer Überstrapazierung. Ich drehe seit zehn Jahren. Greta dreht, seit das Videoband erfunden wurde« - und schon wieder war es passiert, dass ich die Frau erwähnte. Ich lud meinen ganzen Frust wegen des Telefonats mit Max auf eine Unschuldige ab und das vor der versammelten Presse. Rita wurde noch etwas blasser, sah aber davon ab, mir einen weiteren Tritt an die Wade zu verpassen. Ich fuhr fort. »Ronny war die letzten Jahre nicht im Geschäft und es dürfte ein freudiges Wiedersehen für das Publikum werden! Er ist Mitte dreißig, aber für männliche Darsteller gelten ja auch andere Gesetze als für die Damen. Du kannst als Mann locker zwanzig Jahre in Top-Filmen arbeiten. Als Frau geht das nicht. Und wenn, dann ist das nicht besonders geschmackvoll anzuschauen. Das ist nicht löblich, aber ich habe dieses Gesetz auch nicht erfunden. Ich bediene den Markt, ich erziehe ihn nicht.« Rita neben mir fing an zu schwitzen. Die Bemerkung mit der Geschmacklosigkeit muss schon wieder zu viel gewesen sein. Wahrscheinlich rechnete sie bereits mit Klageschriften wegen übler Nachrede. Tim, der rechts neben der Saaltür stand, schien indes seinen Spaß zu haben. Ein Mädchen von der Petra: »Was sagt Ihr Mann dazu, dass Sie mit einem Ex arbeiten?« »Mein Mann ist sehr wohl in der Lage, Berufs- und Privatleben zu trennen«, log ich schamlos und schaute auf meine Nasenspitze um zu kontrollieren, ob sie schon wuchs. »Wir leben doch heute in einer Gesellschaft, in der wir uns frei entscheiden können, mit wem wir zusammen sein möchten und wann es Zeit ist weiterzuziehen. Mit Mitte zwanzig sind die meisten von uns kein unbeschriebenes Blatt mehr und, wenn sich zwei Menschen mit Mitte zwanzig treffen oder mit dreißig oder fünfzig Jahren, dann haben beide logischerweise eine Vorgeschichte. Es wäre ja schrecklich, wenn die Verflossenen unserer Partner automatisch unsere Feindbilder wären - da hätte man ja den ganzen Tag nichts anderes zu tun, als zu hassen, wenn man sich in
einen Siebzigjährigen verhebt!« Da fiel mir ein, wie ich Max eine Szene gemacht hatte, als er an unserem ersten Tag in unserem gemeinsamen Haus ein Urlaubsbild aufhängen wollte, auf dem unter anderem auch seine Ex abgebildet war. Auch wenn ich vielleicht nicht die Eifersucht in Person bin - es gibt Grenzen. »Mein Mann und ich vertrauen einander und Ronny Sanchez ist nur ein guter Freund.« Es war genauso abgeschmackt wie es sich anhörte, aber sie schienen es zu schlucken. »Der Herr dort hinten rechts bitte.« Ich deutete auf einen Mann im grauen Anzug, der irgendwie nett aussah, der nun aber schwer verunsichert war, errötete, heftig den Kopf schüttelte, die rechte Hand hob und abwinkte, was im Saal große Heiterkeit auslöste. Ich zuckte mit den Achseln. Die Frankfurter Rundschau: »Steht zu befürchten, dass Sie in näherer Zukunft gänzlich den Weg in die Seriosität beschreiten werden?« »Ich glaube, da kann ich Sie beruhigen. Der nächste Weg, den ich beschreite, ist der zum Mittagstisch.« »Hat sonst noch jemand irgendwelche Fragen?«, moderierte Rita. »Dann haben die Fotografen jetzt noch die Möglichkeit für einen kurzen Foto-Shoot in der American Bar. Die befindet sich auf der Rückseite des Hotels. Wenn Sie uns bitte folgen würden?« Wir erhoben uns, ich strahlte noch einmal durch die Runde und winkte Gerd Bartels zu mir heran. »Lilly, wunderbar. Gaaanz toll. Hat Spaß gemacht, wie immer.« »Danke, danke. Treffen wir uns nach dem Shooting auf einen Drink?«, schlug ich vor. »Prima. Gern.« »Hat Rita deine Handynummer?« »Hat sie.« »Wir melden uns, wenn wir so weit sind.« Dann führten Rita und ich die Prozession durch die Korridore des Astors an, mit einem Dutzend Fotografen im Schlepptau. Eine Gruppe asiatischer BusinessTouristen mit Mini-Digital-Kameras lief uns über den Weg, blieb stehen wie ein Mann und schloss sich kurzerhand dem Foto-Tross an. Ich wunderte mich schon, wie weit mein Ruhm reichte, da hörte ich sie tuscheln »Steffi Graf?«, »Hey, Steffi!« Was mich ein bisschen ärgerte - bei allem Respekt. In der Bar angekommen posierte ich brav am Tresen, Tanzbein vor, Standbein dahinter, verspielt sexy, zwirbelte an einer langen blonden Locke und präsentierte die
komplette Bandbreite von schulmädchenhaftem Lächeln bis amerikanischem AlleZähne zeigen. Ich hatte nicht umsonst jeden verfügbaren Marilyn-Monroe-Bildband der Druckgeschichte in meiner Bibliothek. Während ich DeLight verkaufte, quälten mich die Gedanken an Max, aber ich bemühte mich, sie wegzuschieben, bis sich eine Möglichkeit ergab, an der Situation etwas zu ändern. »Glücklich sind diejenigen, die die Dinge akzeptieren, wie sie sind, die Dinge verändern, wo sie können, und den Unterschied zwischen den beiden Stadien erkennen.« Das hatte mir meine Mutter mit auf den Weg gegeben. Noch glücklicher, das habe ich selbst gelernt, sind die, die den richtigen Zeitpunkt zur Veränderung erkennen, zur Tat schreiten und sich bis dahin nicht überflüssig mit negativen Gedanken quälen. Aber wie das mit guten Vorsätzen so ist: manchmal fällt es schwer, sie in die Tat umzusetzen. »Danke sehr, meine Damen und Herren, das wars jetzt. Wir wünschen Ihnen einen schönen Tag.« Ich bewunderte Rita für ihren harten Profi-Tonfall. Den hatte sie sich wohl auch zulegen müssen, um Respekt zu bekommen, denn eigentlich wirkte sie recht zart - bis man sie im Tank-Top sah und ihren ausgeprägten Bizeps bewundern konnte. Sie hatte was von einer amerikanischen Society-Lesbe. Vermutlich kam ich darauf, weil sie dieser lesbischen Freundin von Madonna so ähnlich sah. Streichholzkurze schwarze Haare, große braune Augen, schmales Gesicht – eine echte Schönheit, aber sie kam einfach manchmal zu tough rüber, was die meisten Jungs verschreckte. Vielleicht war sie in der Tat lesbisch, aber seit ich sie kannte und das waren jetzt bald zwei Jahre - schien sie gar kein Sexleben zu haben. Oder sie handelte das sehr diskret. Wenn man im Pornogeschäft arbeitet, ist es zwingend notwendig, sich einen Rest an Privatheit und Intimität zu bewahren. Man kann sich nicht unbeschadet in einer Welt bewegen, wo das Innerste nach außen gekehrt wird und man täglich mit den Intimbereichen diverser Unbekannter und der Erwartungsoder der Erregungshaltung des Endkonsumenten konfrontiert wird, wenn man nicht ein paar klare Grenzen zieht. Zehn Jahre im Geschäft haben mir einiges beigebracht. Ich hatte gelernt, mir meine Freiräume zu schaffen, so waren mein Haus und Heim für die Öffentlichkeit und die Presse tabu. Ich fand es logisch, dass Rita und ich zwar gute Freundinnen waren, dass aber einige Themen zwischen uns nicht zur Sprache kamen. Und wenn man wie ich mit sämtlichen Spielarten des menschlichen Vergnügungstriebes vertraut ist, dann verliert man die Lust daran, über anderer Leute Sexleben zu spekulieren. Wenn ich abends die Firma verlasse, dann denke ich eher an Strickmuster als daran, wer mit wem fickt. Und da Rita selber nie darüber sprach, waren ihre Vorlieben auch kein Thema für mich. Dasselbe galt für viele meiner Schauspielerinnen, die am Set in den Drehpausen lieber die Klatschpresse lasen, als mit ihrer letzten Nacht zu protzen. Das machten nur die Jungs und von denen in der Regel die Anfänger. Es scheint wirklich so zu sein - wenn man ein befriedigendes Sexleben hat, dann quatscht man nicht darüber. Hat man Notstand, redet man von nichts anderem. Wahrend die Fotografen begannen, ihr Equipment einzupacken,
kam die Pressechefin des Astors zu mir - eine bildschöne und elegante Frau mit Umgangsformen auf internationalem Niveau. Gepflegt, patent, mit aristokratischem Flair und einer spürbar leicht dosierten Prise rassigen Sexappeals: »So eine wäre die richtige Frau für Max«, dachte ich und wurde trübsinnig. Mit ihr könnte er über Felder galoppieren, in die Oper gehen, Charadenabende mit der upper class veranstalten. Sie würde ihm treu zur Seite stehen, würde davon absehen, seine Eltern zu schockieren, hätte ein perlendes Lachen für seine flauen Witze und sähe auch in einer Barbour-Jacke noch schick aus. Ich schob die Gedanken beiseite und Schüttelte ihre perfekt manikürte Hand, »Ist alles zu Ihrer Zufriedenheit geregelt?« »Wunderbar, es hätte nicht besser sein können.« »Die American Bar wird erst um siebzehn Uhr geöffnet, wenn Sie möchten, lassen wir Ihnen das Essen hier servieren, dann haben Sie noch ein bisschen Ruhe.« »Gute Idee - vielen Dank.« »Wir freuen uns immer über Ihren Besuch, Frau DeLight.« Sie ging zum Haustelefon und orderte ein paar Kellner heran. Ihr Slip zeichnete sich unter ihrem Kostümrock ab, und das besänftigte mich ein wenig. Ich ließ mich in einen flaschengrünen Ledersessel feilen und zog meine Blahnik-Pumps aus. Zwölfhundert Mark hin oder her - Bequemlichkeit war für den Designer offenbar kein Qualitätsmerkmal. Die Pressedame verließ die Bar und knallte die Glastüre praktisch in Tim hinein. »Entschuldigung«, sagte sie, »dieser Bereich ist für die Öffentlichkeit geschlossen.« »Ich gehöre dazu«, gab Tim zurück, und per Blickwechsel klärte ich die Familienzugehörigkeit meines Visagisten. »War doch ganz gut, oder?«, fragte ich Rita. »Kann man sagen, aber wir müssen abwarten, was morgen in der Zeitung steht.« »Es war dir zu viel Meckerei über Greta, hab ich Recht?« »Na ja, es hat abgelenkt von der Hauptaussage, aber wenn sie dich nicht zu grob zitieren, dann wird sie keinen Anlass zur Klage haben. Soll ich jetzt Bartels anrufen?« »Ach ja. Bitte mach das.« Tim hatte nur positive Eindrücke, er hatte sich allerdings auch mehr auf die visuellen Aspekte konzentriert, und außerdem liebte er es, wenn Promis über Promis lästerten. »Wenn du je Inge Meysel triffst, dann pass auf, dass sie dir nicht die Todespille unters Essen mischt!« »Den Spruch hast du doch geklaut!« »Okay ... durchschaut.« »Ich mach mir da keine Sorgen. Professor Hackethal ist jetzt schon so lange tot, bei der Pille ist bestimmt schon das Haltbarkeitsdatum abgelaufen.«
»Rita sollte stärkere Farben tragen - dieses Gucci-Braun wirkt in der Öffentlichkeit immer gleich mausig.« »Das kannst du ihr sagen - ich werde mich hüten, meinen Mitarbeitern Kleidungsvorschriften zu machen.« Mittlerweile hatte sich vor der Tür ein hauseigener Sicherheitsbeamter postiert, der gewissenhaft Gerd Bartels den Zutritt verweigerte. Rita schritt zur Tat und erlöste den Klatschreporter aus der unangenehmen Situation. Ich hörte, wie sie dem Türsteher sagte, dass wir nun vollzählig seien und außer dem Service-Personal niemanden mehr erwarteten. Sie setzte sich zu Tim an einen Tisch an der Fensterfront und holte ihre Mau-Mau-Karten heraus. Bartels schnappte sich den Sessel zu meiner Rechten und steckte sich eine Zigarette mit Vanille-Aroma an. Er war das, was man als einen Mann von stattlicher Statur beschreibt. Groß, breit gebaut, aber nicht dick. Er war Anfang dreißig, wirkte aber älter was an seiner konservativen Kleidung lag. Er trug selbst im Hochsommer dreiteilige Anzüge und strahlte eine enorme Souveränität aus. Es hört sich vielleicht naiv an, wenn ich jetzt erzähle, dass man mit dem Klatschreporter eines Magazins völlig offen sein konnte, aber so war es nun mal. Wenn es auch sein Job war, intime Geschichten unter die Menschen zu bringen, so war er doch sehr diskret. Vorausgesetzt, man sagte jedes Mal dazu, was druckfrei und was verboten war. Ein fairer Deal. Ich fragte mich manchmal, ob er mit allen Promis so arbeitete oder ob ich bei ihm einen Bonus hatte, weil ich ihn noch aus Zeiten kannte, wo er bei der Braunschweiger Zeitung volontierte und für ein Wirtschaftsfeature bei mir vorstellig wurde. Die dritte Möglichkeit, was er mit den intimen Details anfing, die er unter dem Siegel der Verschwiegenheit aus einem herausquetschte, war unangenehmer. Es bestand ja die Möglichkeit, dass er eine Art Geheimnis-Schwarzmarkt betrieb und mit der Prominenz deshalb so auf Du und Du war, weil er immer die neuesten, wirklich intimen Details kannte und sich die Türen zu Geständnissen mit vertraulichen Bemerkungen wie »Wusstest du eigentlich, dass Lilly ...« oder »Du glaubst nicht, was mir Arabella letztens gebeichtet hat« Öffnete. Aber so schätzte ich ihn nicht ein. Er hatte es immerhin geschafft, noch vor seinem dreißigsten Geburtstag zum SocietyReporter einer auflagestarken Illustrierten zu avancieren. Und es sind die Klatschreporter, die entscheiden, ob jemand den Sprung aus der Rubrik abendliche Talkshow in die Spalte Gesellschaftsnotizen schafft. Ich gehörte zu den Ersten meines Berufszweiges, die sogar für TV-vorabendtauglich befunden wurden. Seit ein paar Jahren war ich nun »gesellschaftsfähig«:, nicht weil, sondern obwohl ich im Pornobusiness bin. Mochten Beate und Greta auch alle paar Jahre mal neben Biolek sitzen, wenn es um das Thema Powerfrauen ging – mich konnte man mittlerweile auch bei Gottschalk bewundern. »Hast du gesehen, mit wem Jenny Elvers hier abgestiegen ist?« fragte er mich, und ich wusste nicht, ob er auf der Suche nach einer Information war oder nur Bestätigung wollte, um mit mir über Jenny und Anhang zu lästern. »Du, ich hatte noch gar keine Zeit, mich umzuschauen. Wir haben gestern erst um elf eingecheckt und heute bin ich noch gar nicht aus meiner Suite gekommen. Geh doch mal zu Gerhard Meir oder Udo Walz. Wenn Jenny hier ist, dann wissen die auch mit wem.« Wir redeten über diese Menschen, als seien sie gute Freunde, dabei hatte
ich mit Frau Elvers in meinem Leben noch kaum mehr als drei Worte gewechselt, und da ich meist mit meinem eigenen Friseur reiste, beschränkte sich auch meine Bekanntschaft mit Walz und Meir auf den Austausch von Freundlichkeiten anlässlich der Champagner-Empfänge bei Benefiz-Galas. Gerd Bartels betrachtete die Zielobjekte seines Berufsfeldes als eine große Gemeinde, und manchmal musste ich aufpassen, nicht selber dem Irrtum aufzusitzen und jemanden automatisch zu duzen, weil wir zufällig in der gleichen Kolumne erwähnt oder unsere Fotos nebeneinander abgedruckt waren. Und schließlich gab es ja noch einen Unterschied zwischen der Entertainment-Gesellschaft und der »Gesellschaft«. Letztere Gesellschaft - das waren die Söhne der Söhne der Söhne der Söhne von einst einflussreichen Männern und deren eingeheiratete Frauen, die man an ihren Betonfrisuren und an den identisch geformten Lippen erkannte. Wirtschaft und Hochadel. Hier herrschte noch das Erstgeborenenrecht. Langweilig. Um diese Gesellschaft machte ich einen Bogen und sie auch um mich, es sei denn, es verirrte sich mal ein umtriebiger Graf, Prinz oder Landadliger auf eine Medien-Party und versuchte mich anzubaggern. Sollten sie baggern - wenn sie zu aufdringlich wurden, hatte ich ja immer noch mein Fläschchen farbiges Reizgas in der Handtasche. Sobald ich jemandem in freundlichem Ton und mit einer detaillierten Beschreibung der zu befürchtenden Konsequenzen erklärte, dass, wenn er seine Finger nicht bei sich behielt, ich das Gas zücken würde und er für die nächsten drei Tage mit einem senfgelb eingefärbten Gesicht herumlaufen würde, beruhigten sich die adligen Gemüter in der Regel. Gerd Bartels war haupt- und nebenberuflich Geheimnisträger und wahrscheinlich waren Geheimnisse auch seine drei liebsten Hobbys. Aber ich wusste von ihm auch dies und das, was er ungern weiter verbreitet wissen wollte. Als er mich damals um ein Interview für die Lokalzeitung bat, war ich froh über die Gelegenheit. Man hatte in Goslar nicht gerade den roten Teppich für mich ausgerollt, als ich meine Produktionsfirma dort ansiedelte. Die Geschichte, die Bartels machen wollte, gab mir Gelegenheit, meine Arbeit im besten Licht zu präsentieren und daraufhinzuweisen, dass ich immerhin ein Dutzend neuer Arbeitsplätze geschaffen hatte, kein Sexmonster war, das einheimische Abiturienten vom rechten Weg abbrachte oder den Harzer Ehefrauen die Gatten ausspannte. Also führte ich den jungen Volontär durch die Büros und den Vertrieb und lud ihn natürlich auch ein, bei einem Dreh anwesend zu sein. Der fand auf einer Bergwiese im Oberharz statt - hier wollte ich deutlich machen, wie hermetisch wir bei einem Außendreh das Terrain sichern, sodass keine Seniorengruppe auf Harzwanderung plötzlich mit kopulierenden Zweier-, Dreier- und Vierergruppen konfrontiert wird. Dass also die Bevölkerung beruhigt sein kann und das Harzvorland jugendfrei bliebe, selbst wenn Lilly DeLight dort lebte und wirkte. Es war ein zauberhafter Sommertag, die Wolken wirkten im quietschblauen Himmel wie mit Zuckerwatte hingetupft, ein Bergbächlein murmelte liebreizend und die Wiesen strotzten vor Gänseblümchen und Vergissmeinnicht. Bartels hatte nach einer Stunde des vornehmen Errötens seine Verlegenheit abgelegt und führte in den Drehpausen kurze Interviews mit den Darstellern und der Crew. Als wir mit einer Szene auf der Veranda einer Jagdhütte anfangen wollten, fehlte uns Johann, der Champignon.
Er war ein Neuling und ein Einheimischer - als er gehört hatte, dass Lilly DeLight sich in Goslar ansiedelt, stand er schon zwecks Vorstellungsgespräch im Büro, bevor noch der Teppich verlegt worden war. Er verdankte seinen Spitznamen der Form seines Schwanzes, der ziemlich kurz und ziemlich dick war und dessen Eichel so überproportioniert war, dass sie wie ein Pilzkopf aussah. Gemeinsam mit meiner damaligen Assistentin begab ich mich auf die Suche und wurde fündig: Bartels und der Champignon in innigster Umarmung. Im rauschenden Bergbach die heißen Gemüter kühlend ... Johann splitternackt und sichtlich erregt, Bartels patschnass in Hemd und Hose, diese jedoch weit aufgeknöpft. »Die Stimmung bitte halten«, scheuchte ich die beiden auf, »und jetzt aber sooofort zum Set!« Bartels bedeckte sich und errötete, Johann sprang auf und trabte zum Drehort, seinen Champignon rhythmisch wippend vor sich hertragend. Die beiden hatten eine heiße, aber diskrete Affäre, bis Bartels die Chance bekam, bei der BZ in Berlin anzufangen. Goslar sollte nicht das Ende seiner Karriereleiter sein. Ich weiß nicht, ob Bartels Johann für nicht vorzeigewürdig befand oder ob die Liebschaft einfach so ausklang, wie es Liebschaften des Öfteren tun. Jedenfalls folgte Johann Gerd Bartels nicht nach Berlin. Seinen Liebeskummer kurierte er durch regelmäßige Solariumsbesuche und viel Sport. Es ist bemerkenswert, dass nur selten die Liebe den Menschen verändert, aber die plötzliche Abwesenheit davon ihnen eine Schubkraft verleiht, die sie in höhere Sphären katapultiert. Ich hatte es erlebt, als ich Ronny verließ und mich auf meine Geschäfte konzentrierte und Johann, der eigentlich nie mehr sein wollte als er war ein gut gebuchter Porno-Darsteller - entwickelte auf einmal neue Interessen, entdeckte ungeahnte Energiereserven und machte innerhalb von zwei Jahren sein Abitur nach. Er arbeitete noch für mich, aber selten, und eigentlich nur, um sein Bergbaustudium zu finanzieren. »Lilly, ich weiß es gehört sich nicht, so etwas zu sagen, aber es steht dir auf der Stirn geschrieben, dass etwas nicht stimmt. Versteh mich nicht falsch - du siehst wunderbar aus, aber irgendeine Laus ist dir doch über die Leber gelaufen!« »Gerd, meine Güte, du scheinst Röntgenaugen zu haben.« Ich musste floskelnd Zeit schinden und genau sortieren, was ich ihm sagen konnte und was besser nicht. »Hast du dich schon mal gefragt, wo dieser Ausdruck herkommt: >Eine Laus über die Leber gelaufen?< Wo kommt sie her, wo geht sie hin? Als Nächstes zur Niere oder zur Milz? Was sucht sie dort, ausgerechnet auf der Leber?« Ich schaute durch den Raum und sah aus dem Fenster vor der Straße Elke Brenner stehen. Mit einer schlecht imitierten Louis-Vuitton-Umhängetasche, die bei ihr aussah wie ein Hexenkoffer. Sie blickte in das Panoramafenster und ich nickte ihr zu, aber sie schien mich nicht zu sehen. Dann drehte sie sich abrupt zu ihrer Rechten, als habe sie jemand gerufen, und verschwand aus meinem Blickfeld. »Ich hatte vor der Pressekonferenz eine kleine Auseinandersetzung. Weiter nichts.« »Ärger mit Max?«
»Siehst du eigentlich Johann noch?« »Ahhhh, nein.« »Kennst du Elke Brenner?« »Ja klar. Die ist in der Redaktion von News Alive.« »War sie nicht mal beim FAKT?« »Ziemlich lange, wenn ich mich nicht irre. In der Kultur, und sie hat oft das FAKT Gespräch gemacht.« »Ist das denn kein Abstieg, vom FAKT zum Infotainment?« »Na klar. Da war auch irgendwas. Sie ist jedenfalls nicht freiwillig gegangen.« »96 war sie nicht beim FAKT, da hat sie mich für RTL interviewt, aber die haben das Gespräch nie gesendet. Ich hatte Einspruchsrecht - sie hat mich in dem Interview als blöde geldgeile Kuh dargestellt. Ich dachte, mich tritt ein Pferd, als ich sah, was sie aus meinen Antworten gemacht hat. Ziemlich unverschämt.« »So was höre ich nicht zum ersten Mal über die Brenner. Frauke und Bärbel meinten auch, die Brenner sei ziemlich stutenbissig.« »Kein schöner Zug.« »Wusstest du, dass sie mal Model für Helmut Newton war?« »Das ist ja witzig, genau das hab ich gedacht, als ich sie vorhin gesehen habe. Ein Newton-Model zwanzig Jahre danach.« »Vor zwanzig Jahren war sie fast Jetset. Ganz nah dran. Wenn du dir die Münchner Partykolumnen aus der Zeit anschaust, ist sie auf jedem dritten Bild dabei. Sie hatte wohl auch was mit diesem Herz-Verpflanzungs-Doktor.« »Christian Bernhard, Barnhard oder so?« »Ja, so was. Und dann mit diesem Promi-Arzt - der Name fällt mir nicht mehr ein. Irrenarzt oder Schönheitschirurg, ich kann mich nicht erinnern - irgendwas mit dem Kopf jedenfalls. Ein Kollege hat mir mal erzählt, dass man sie damals >Lernschwester Elke< nannte, weil sie sich immer an reiche Arzte ranmachte.« Der Kellner hatte einen Tisch für uns eingedeckt und servierte nun das Essen. Tim und Rita hatten ihre Karten wieder zusammengepackt. Ich verspürte den starken Impuls, Max anzurufen, aber weder hatte ich den Mut, noch gönnte ich ihm, die Erste zu sein, die klein beigibt. Obwohl es eine meiner Ehemaximen war, jeden Streit vor dem Zubettgehen zu bereinigen, war ich noch nicht so weit. Es war gerade erst früher Nachmittag.
»Wie ist das eigentlich mit Greta und dir. Hattet ihr überhaupt noch Kontakt, seit du bei ihr aufgehört hast?«, fragte Gerd und kaute geräuschvoll auf einer Stange Sellerie. »Nicht direkt. Die ist mir immer noch böse, dass ich nicht bei ihrer Produktion geblieben bin. Ich habe wirklich nichts gegen die Frau, aber sie hat sich mir gegenüber nie fair verhalten.« »Inwiefern?« »Sie ist nachtragend. Meine Herren. Und zwar richtig. Die macht mich allein dafür verantwortlich, dass sie nicht mehr die Nummer eins ist. Als ob ich was dafür könnte. Wenn sie rechtzeitig angefangen hätte umzudenken, dann könnten wir uns den Platz an der Spitze auch teilen. Aber flexibel war die nie. Und du siehst ja, was sie davon hat.« »Scheint, als ob sie es persönlich genommen hat, dass du damals deine eigene Firma gegründet hast.« »Absolut. Wenn ihre Firma mir größere Chancen und mehr Geld geboten hätte, wäre ich vielleicht ein oder zwei Jahre länger dabeigeblieben, aber letztlich musste ich ja auch an meine Zukunft denken. Ich meine, wie lange kann man vor der Kamera stehen?« »Man sieht es ja bei ihr. Irgendwann wollen die Leute etwas Frisches.« »Und ehe jemand von mir behauptet, ich hätte meinen Höhepunkt überschritten, wechsle ich lieber die Fronten.« Tim lachte auf. »Was denn?«, wollte ich wissen. »Ich stelle mir gerade bildlich vor, wie du deinen Höhepunkt überschreitest.« Er lachte und lachte und konnte gar nicht mehr aufhören. Rita mischte sich ein. »Pass auf, Tim, sie guckt ganz böse. Als Nächstes schickt sie dir noch eine Laus über die Leber!« »Oder ich schiebe dich ab und du musst bei Greta anheuern.« »Bitte nicht, bitte nicht- Blondinen machen mehr Spaß!« Gerd meldete sich wieder zu Wort. »Stimmt es eigentlich, dass sie versucht hat, dich zu sabotieren?« »Das behältst du jetzt aber für dich, okay?« »Okay.«
Ich verfiel in einen Flüsterton. »Also - wenn ich ihr irgendwas hätte nachweisen können, dann hätte ich sie verklagt. Ein paar Dinger, die sie sich geleistet hat, waren zwar nicht koscher, aber auch nicht wirklich strafbar. Ist dir schon mal aufgefallen, dass kein Darsteller, der in meinen Produktionen mitmacht, je wieder für Greta gearbeitet hat?« Er schaute stirnrunzelnd in die Luft. »Jetzt, wo du's sagst...« »Das liegt nur zum Teil daran, dass ich besser zahle und das Catering am Drehort immer vom Feinsten ist. Sie hat eine Sperre verhängt. Wer mit mir gearbeitet hat, bekommt bei ihr keinen Job. Bums aus. In den ersten zwei Jahren war das für mich gar nicht so einfach. Die Top-Stars wollten es erst nicht riskieren, bei mir zu spielen. Konnte ja damals keiner wissen, ob das was wird, mit meiner Firma. Was, wenn Lilly Pleite macht? Dann hätten sie zwei Auftraggeber weniger gehabt. Der Witz ist, damit ist sich Greta gegen den eigenen Karren gefahren. Ich habe fast nur mit Anfängern gearbeitet, und das war zu einer Zeit, wo die Leute wirklich neue Gesichter sehen wollten.« Tim fühlte sich zu einer Zwischenbemerkung verpflichtet: »Gesichter?« Ich ignorierte die Frage und bedachte Tim nur mit einem genervten Blick. »Und letztlich hat sie so dafür gesorgt, dass meine Firma einen prima Start hatte.« »Und was waren das für fast-kriminelle Aktionen?« »Ich kann es natürlich nicht beweisen, aber ich glaube, dass sie die Gerüchte gestreut hat, die Ronnys Karriere kaputt gemacht haben. Da war von Drogen die Rede und von Ich-weiß-nicht-was-noch. Ich möchte gar nicht wissen, was sie über mich in Umlauf gebracht hat. Sie hat mit der halben Industrie geklüngelt, um mich auszubooten, aber die Industrie ist ja nicht blöd, sondern profitorientiert. Die interessiert doch nicht, mit wem Pornoproduzentin XY eine Fehde hat. Das lässt die ganz unbeeindruckt.« »Meine Güte, was muss diese Frau verbittert sein.« »Bitte nicht weinen, Herr Bartels, okay?« Ich tätschelte ihm mitleidsvoll die Wange. »Dann hat sie mir einen Spion in die Firma gesetzt - sobald eine storyline festlag, konntest du sicher sein, dass Greta alles dransetzen würde, mit einer ähnlichen Story vor mir auf den Markt zu kommen.« »Und was hast du dagegen unternommen?« Ich musste lachen. »Das hat richtig Spaß gemacht. Ich habe mich hingesetzt und für zwei Filme die Storys selbst entwickelt, damit nichts nach außen dringen konnte, und währenddessen in der Firma zwei ganz absurde Scripts schreiben lassen. Die haben mich für völlig durchgeknallt gehalten, als ich sagte - in diesem Film brauchen wir ein rasiertes Mädchen im Minnie-Maus-Kostüm und einen transsexuellen Polizisten, der nur kommt, wenn Minnie Maus ihm den Schwanz in Military-Tarnfarben anmalt und
er ihr ihn dann ins Schnäuzchen stecken darf. Mir dreht sich immer noch der Magen um, wenn ich es mir vorstelle. Und im ändern gab es ein wiederkehrendes Motiv, einen griechischen Porno-Chor, der die Handlung begleitet und in allen Szenen im Hintergrund steht und summt: eine Gruppe alter nackter Frauen in Gummistiefeln.« »Gott, ja - an den Minnie-Maus-Film von Greta kann ich mich erinnern.« »Dann gehörst du zu den ungefähr sieben Kunden, die das Video gekauft haben.« »Das habe ich umsonst gesehen - ein Freund von mir hat es bei einer Faschingsparty laufen lassen.« »Den Film mit den nackten alten Frauen hatte sie wohl auch schon angefangen, aber dann hat sie doch noch mitgekriegt, dass es ein Trick war.« »Und der Spion?« »Keine Ahnung, das haben wir nie rausgefunden. Sie ist nicht blöd genug, den gleichen Fehler zweimal zu machen, aber sicher ist sicher: Scripts lagern seitdem bei mir im Safe.« Die American Bar war - wie das gesamte Hotel – hervorragend schallisoliert deshalb musste der Lärm, der plötzlich von draußen hereindrang, wirklich ohrenbetäubend sein. Ich erschrak so sehr, dass ich meinen Löffel in die Tomatencremesuppe fallen ließ und mein kostbares Cashmere-Jäckchen von oben bis unten mit roten Flecken besprenkelt war. Ich sprang auf, und der Kellner eilte mit einer Serviette herbei. Wo ich nun schon einmal stand, ging ich ans Fenster, um herauszufinden, was den Lärm ausgelöst hatte. Es war nichts zu sehen. Gerd Bartels stand neben mir, und auch Tim und Rita waren auf den Beinen. Bartels war am neugierigsten, und so folgten wir ihm auf die Straße, wo noch immer nicht zu sehen war, was dieses schreckliche Scheppern und Bersten ausgelöst hatte. Kaum dass Gerd um die Ecke des Hotels verschwunden war, hörten wir ihn »Oh mein Gott!« ausrufen. Als wir bei ihm waren, hatte er schon sein Handy gezückt. »Schickt mir bitte sofort einen Fotografen vorbei, Wilhelmstraße Richtung >Unter den Linden< direkt rechts vom Astor.« Ich war starr vor Schreck, als ich sah, was passiert war. Die gläserne Erdgeschossfront am Gebäude gegenüber vom Astor war auf einer Breite von etwa vier Metern zerstört - eingefahren. Ein schwarzer Fiat Uno schien zwischen zwei Verstrebungen eingekeilt, sein Motor heulte laut und die Reifen machten quietschende Geräusche, als der Wagen versuchte, im Rückwärtsgang rangierend aus dem Scherbenhaufen herauszukommen. Wie benommen tupfte ich noch immer an den Flecken auf meinem Oberteil. Erst als der Wagen jaulend und quietschend rückwärts in Richtung Straße schoss, sah ich das Blut auf den Glasscherben und auf dem Beton - und im selben Moment die Umhängetasche, deren Inhalt zermalmt auf dem Bürgersteig lag, dann erst Elke Brenner. Das Geräusch, das der Wagen machte, als er mit dem Vorderreifen gegen ihren Schädel stieß und gegen das Hindernis erst nicht ankam, sodass er erst noch einmal einen halben Meter vorfahren musste, um dann, mit größerer Geschwindigkeit zurückzusetzen – das Geräusch als der Reifen ihren Schädel zerquetschte - ich werde es nie vergessen können.
Kapitel 3 Der Wagen war in einem solchen Tempo auf sie losgerast, dass er sie auf Bauchhöhe erfasst, gegen die Scheibe gepresst und so mit ihr die Scheibe durchbrochen hatte, dass sie längs hinschlug, auf den Rücken fiel und überrollt wurde. Ich wünschte ihr nur, dass sie bereits beim ersten Überfahren oder durch die Glassplitter getötet worden war und nicht noch miterleben musste, wie der Wagen ihr beim Rückwärtsfahren den Schädel zerquetschte, denn bis der Reifen dieses Hindernis überwunden hatte, vergingen mehrere qualvolle Sekunden. Rita und ich waren uns gleichzeitig in die Arme gefallen, Tim stand reglos da, seine Sonnenbräune war zu einem Grau verblichen und Bartels konnte offenbar selber nicht glauben, dass er angesichts dieser Tragödie nichts anderes getan hatte, als Fotoverstärkung anzufordern. Wenn nicht Rita so völlig aufgelöst gewesen wäre, dass ich sie bemuttern musste, hätte ich wahrscheinlich selbst auch die Fassung vollständig verloren. So hielt ich meinen Arm um sie und versuchte sie zu beruhigen. Ich fasste Tim am Ellbogen, woraufhin er erschrak. »Tim, bring bitte Rita rein. Geht auf meine Suite und nehmt euch was aus der MiniBar. Ich komme gleich nach. Gerd, hast du dir das Kennzeichen gemerkt?« »Ah, ja-ich ...« »Dann schreib es auf, damit du es nicht vergisst. Und ruf um Gottes willen endlich die Polizei an und auf alle Fälle auch noch den Notarzt.« »Für den gibt es hier wohl nichts mehr zu tun.« »Quatsch nicht - ruf an!«, zischte ich ihm zu. Mittlerweile waren einige Wagen vorbeigefahren und hatten die Geschwindigkeit verlangsamt, um das Unglück genau unter die Lupe nehmen zu können. Von Unter den Linden bog eine Gruppe Touristen in die Straße und schaute auf die gegenüberliegende Straßenseite und dann zu uns. Im Erdgeschoss des Hauses fanden sich Männer in dunklen Anzügen ein, die hektisch hin und her liefen. »Lilly - geh rein. Es muss doch nicht sein, dass die Leute dich so sehen. Du siehst fast aus, als hättest du unter dem Auto gelegen.« Er hatte Recht. Die Flecken auf meinem Oberteil ... Ich war ihm dankbar dafür, dass er seinen beruflichen Ehrgeiz hintanstellte und den Gedanken an eine Cover-Story ä la »Lilly Zeugin von Tragödie« schnell verworfen hatte. Ich kannte ihn gut genug, um zu wissen, dass er so eine Idee zumindest kurzzeitig erwogen haben musste. Also drückte ich ihm kurz die Hand und eilte zurück in die Bar. Ich nahm meine Tasche, den Schal, meine Schuhe, die immer noch neben dem Sessel standen, in dem ich vor dem Essen gesessen hatte, und ging zum Fahrstuhl. Ich nahm rings um mich herum kaum etwas wahr und hatte das Gefühl, durch Wasser zu laufen - ganz langsam begann der Schock zu wirken und ich fing an, am ganzen Körper zu zittern. Ich stieg in die Kabine und holte den Fahrstuhlschlüssel für mein Stockwerk aus der Tasche. Ich bekam ihn kaum ins Schloss, so unsicher war meine Hand.
Dann sah ich mich im Spiegel an der Wand gegenüber - kreidebleich, mit riesigen Augen, die Haare zerzaust. In diesem Augenblick dachte ich »so sieht also eine Mordzeugin aus«. Wenn ich damals geahnt hätte, dass dies nur der Anfang war und dass alles noch viel, viel schlimmer werden würde - ich glaube, ich hätte das Hotel nie mehr verlassen. »Habt ihr den Fahrer gesehen?«, war die erste Frage, als ich in meiner Suite ankam, wo Tim und Rita auf der Couch saßen, beide mit einem großen Glas Weinbrand vor sich. Ich konnte nicht stillsitzen und tigerte durch den Salon. Ich zog mein bespritztes Jäckchen aus und warf es auf den Fußboden - eine Angewohnheit von mir. Gott sei Dank war der Fleck nicht auf das ärmellose Cashmere-Top durchgesickert. Rita schüttelte den Kopf. »Nee. Ich hab die ganze Zeit nur auf das Auto geschaut und auf diese Handtasche ...«, sagte Tim leise. »Aber ich glaub, es war ein Mann.« Ich versuchte, die Szene noch einmal vor meinem inneren Auge ablaufen zu lassen, aber der Fahrer des Wagens wurde dadurch nicht plastischer. Es war verrückt. Wie wenn man nachts aufwacht und versucht, sich an den Traum zu erinnern, aus dem man gerade hochschreckte, und dieser Traum einem unwiderruflich entglitten ist. »Meinst du, wir müssen jetzt länger hier bleiben, wegen Zeugenaussagen und so?« Tim war besorgt - er hatte ein Problem mit Autoritätspersonen und neigte zur Panik, wenn er ein Gespräch mit einem Beamten führen musste. »Ich glaube nicht. Bartels war ja auch da und hat das Gleiche gesehen wie wir. Was denkst du, Rita?« »Ich möchte am liebsten sofort abreisen. Aber ist das richtig? Wenn dich irgendjemand draußen gesehen und erkannt hat und wir jetzt keine Aussagen machen, dann wirft das ein seltsames Licht auf dich.« »Bartels wäre der Erste, der irgendwann tratscht. Wir rufen jetzt die Pressefrau vom Hotel an und sagen ihr, dass sie die Polizei informieren soll, dass wir Zeugen waren. Wenn die sich innerhalb einer Stunde nicht bei uns melden, reisen wir ab wie geplant. Dann müssen sie sich eben in Goslar melden. Rita, kannst du das bitte übernehmen?« Sie stand noch sichtlich unter Schock, aber Routinearbeit würde ihr vielleicht helfen, sich wieder zu fangen. Nachdem sie den Anruf getätigt hatte, kam langsam die alte Rita wieder zum Vorschein. »Wenn Bartels nur seinen eigenen Fotografen verständigt hat, dann wird die Story frühestens übermorgen erscheinen können. Wenn sonst noch Presse da war, dann könnten sie es eventuell noch bis Redaktionsschluss schaffen.« »Wie kommst du jetzt darauf?«
»Ich denke nur wegen Titelschlagzeilen. Wenn wir Pech haben, hat die - die - wie hieß sie noch gleich?« »Elke Brenner.« »Genau, dann hat sie die Titelseite.« »Entschuldige mal Rita, geht's dir noch gut? Vor deinen Augen ist eben eine Frau umgekommen«, ich brachte das Wort Mord noch nicht über die Lippen, »und du machst dir Sorgen um die Pressearbeit?« »Tschuldigung. Ich war nur ...« Sie brachte den Satz nicht zu Ende, stand auf und ging ins Bad. Während wir auf eine Nachricht von der Rezeption warteten, versuchte ich Max zu erreichen. Streit hin oder her - ich wollte seine Stimme hören. Er war weder in seinem Büro noch zu Hause. Sein Handy war abgestellt und seine Sekretärin Frau Schröder konnte mir auch nicht sagen, wo er gerade war. Ich bat Tim, mir beim Abmontieren der Haarteile zu helfen und schickte ihn dann in sein Zimmer, um zu packen. Dann zog ich mir eine Jeans und Turnschuhe an und bürstete mir die Haare glatt. Die dicke Fernsehschminke ersetzte ich durch ein leichtes Tages-Make-up. Es fehlte nur noch eine Brille und man hätte mich für eine Kindergärtnerin halten können. Während ich mich reisefertig machte und jede Minute mit dem Anruf der Polizei rechnete, stellte ich mir immer wieder die eine Frage: Wie konnte nur ein Mensch einen anderen Menschen umbringen? Was veranlasst jemanden, eine solche Tat zu begehen, das allerletzte Tabu zu brechen? Ich hatte keine großen Sympathien für die lebende Elke Brenner gehabt, aber trotzdem ließ mich ihr Ableben alles andere als kalt. Niemand verdient es, ermordet zu werden. Ich fragte mich, ob sie eine Familie hinterließ, und wie sich ihre Eltern fühlen mussten, wenn die Polizei vor ihrer Tür stand und ihnen mitteilen würde, dass ihre Tochter tot sei. Dass sie liiert war, konnte ich mir nicht vorstellen, aber was wenn? Wie verdaut man die Nachricht, dass der Partner plötzlich nicht mehr da ist, dass er einem brutalen Verbrechen zum Opfer gefallen ist? Freunde, Bekannte bestimmt gab es Menschen, die sie mochten und in deren Leben nun eine Lücke klaffte. Und nicht genug damit, dass ein Menschenleben ausradiert war - Elke Brenner war auf entsetzliche Art und Weise ums Leben gebracht worden: kalt, brutal und schonungslos. Ich stellte mir vor, dass ich vielleicht der letzte Mensch war, der mit ihr gesprochen hatte. Man kehrt immer zu seiner ersten Liebe zurück - das wäre dann ihr letzter Satz gewesen. Doch da fiel mir wieder ein, dass sie aussah, als habe jemand sie angesprochen, als sie vorm Fenster der Bar stand und zu uns herschaute. Das war vielleicht zwanzig Minuten, bevor sie überfahren wurde. Wahrscheinlich war ihr letztes Gespräch ein Wortwechsel mit ihrem Mörder. Hatte er gewusst, dass er an diesem Tag die Tat begehen würde? Hatte er langfristig geplant, dass Elke Brenners letzter Tag mit dem Besuch meiner Pressekonferenz enden sollte? Es ekelte mich, mir vorzustellen, dass dieser Mensch, wer immer es war, auch nur meinen Namen kannte.
Noch immer hatte sich die Polizei nicht gemeldet, also setzte ich mich an den Schreibtisch, holte das Briefpapier heraus und fasste zusammen, was ich gesehen hatte, solange es noch frisch in Erinnerung war. Während ich die Pressekonferenz Revue passieren ließ, fiel mir wieder ein, wie fahrig die sonst so souveräne Reporterin auf einmal gewirkt hatte. Mir wurde mulmig bei der Vorstellung, dass sie eine Vorahnung gehabt hatte, was mit ihr geschehen würde, dass sie vielleicht ihren Mörder im Konferenzsaal erblickt und dass er im Publikum meiner Pressekonferenz gesessen hatte. Und in meinem Blickfeld. Erst jetzt, ganz langsam, setzte die Angst ein. Wahrscheinlich hatte er uns an der Straße stehen sehen. Bestimmt hatte er uns oder zumindest mich erkannt. Und ganz sicher befürchtete er, dass wir ihn identifizieren würden können! Mir wurde schwindelig und ein bisschen übel. »Warum jetzt?«, fragte ich in den leeren Raum hinein. »Warum ausgerechnet jetzt und warum ich? Scheiße.« Als das Telefon klingelte, bekam ich last einen Herzinfarkt. Am anderen Ende war Gerd Bartels. »Wie geht's dir? Hast du dich vom Schock erholt?« »Der Schock fängt gerade erst an, und wie! Glaubst du, dass er uns gesehen hat?« »Ziemlich wahrscheinlich. Wenn wir Glück haben, war er so in Rage, dass er nichts wahrgenommen hat.« »Darauf möchte ich mich aber nicht verlassen.« »Die Polizei hat mich befragt. War sie auch schon bei dir?« »Bislang noch nicht.« »Die haben mich gebeten, noch keine weitere Presse zu verständigen. Sie wollen nicht, dass es in der Zeitung steht, bis sie die Familie der Brenner ausfindig gemacht haben.« »Sie hat also Familie.« »Eine Schwester. Zwillingsschwester sogar. In Köln.« »Auch das noch.« »Tja.« Es klopfte an der Tür und Rita kam ins Zimmer. »Gerd, ich muss Schluss machen. Wir bleiben in Kontakt, okay? Halt mich auf dem Laufenden!« »Alles klar Lilly, und nimm es dir nicht so zu Herzen.« »Die Damen von der Kripo sind jetzt hier, Lilly.« »Okay, sag ihnen doch, sie sollen ...«
Sie standen bereits im Raum, als ich »reinkommen« noch nicht einmal ausgesprochen hatte. Ich hatte augenscheinlich Hauptstadtkommissarinnen vor mir. Die beiden waren in Zivil und machten einen erfreulich toughen, selbstsicheren Eindruck. Der »Doppelte Einsatz« leibte und lebte. »Rita, wenn nichts Weiteres ist, dann kannst du jetzt packen gehen.« »Gut. Ich bin dann in meinem Zimmer.« Rita ging hinaus und schloss die Tür hinter sich. »Guten Tag Frau äh - DeLight, mein Name ist Sylvia Haberlik, das ist meine Kollegin Sabine Vogt. Wir haben ein paar Fragen an Sie.« »Bitte nehmen Sie doch Platz.« Bitte nehmen Sie Platz war eindeutig Derrick-Sprache und ich hatte so etwas nie zuvor Über die Lippen gebracht. Normalerweise sagte ich in solchen Situationen einfach »setzt euch«, gegebenenfalls »Setzen Sie sich«. Aber da ich nun eindeutig im Krimi-Genre gelandet war, schien die Wortwahl nur adäquat. Ich wies ihnen den Platz auf der Couch an und setzte mich in den Sessel gegenüber. Sylvia Haberlik war etwa Anfang vierzig, dezent geschminkt und nicht besonders groß, eins fünfundsechzig etwa, hatte sehr langes, dunkles Haar, das ihr fast bis zur Hüfte reichte. Ihre Stimme hatte ein angenehm rauchiges Timbre. Kommissarin Vogt war jünger - etwa in meinem Alter. Sie war blond gesträhnt und hatte einen sehnigen Körper, der durch ihre engen Klamotten noch betont wurde. Ich schätze, sie wurde täglich schwer angebaggert und wusste sich zu verteidigen. Sie machte einen überaus selbstsicheren Eindruck, wirkte aber ein klitzekleines bisschen angespannt. Ich schaute auf ihre Hände und sah, dass Zeige- und Mittelfinger ihrer rechten Hand quittengelb waren. Ich deutete auf den leeren Aschenbecher aus Lalique-Glas. »Rauchen Sie ruhig. Das stört mich nicht.« »Danke. Der Aschenbecher sieht eher nach Deko aus.« »Das ist noch gar nichts - Sie müssten mal das Bidet sehen.« Die Damen grinsten und Kommissarin Vogt kramte erleichtert ein Päckchen Lights aus ihrer Tasche. »Ich habe schon alles aufgeschrieben, was ich gesehen habe ich kann Ihnen den Zettel für Ihre Unterlagen mitgeben.« Ich reichte Frau Haberlik das Blatt Papier. Sie überflog es und legte es auf den Tisch. »Sie sind ganz sicher, dass Sie den Fahrer oder die Fahrerin nicht identifizieren können, Frau DeLight?« »Leider. Ich versuche schon die ganze Zeit, die Szene noch einmal ablaufen zu lassen, aber ich sehe den Fahrer nicht. Trotzdem glaube ich, dass es ein Mann war. Fragen Sie mich nicht weshalb.«
»Obwohl Sie ihn nicht identifizieren könnten, sind Sie sich dessen sicher?« Frau Haberlik lächelte mich skeptisch an. »Ich weiß, hört sich blöd an, aber so ist es. Hat Gerd Bartels Ihnen das Fahrzeugkennzeichen sagen können?« Frau Vogt antwortete. »Das Kennzeichen gehört zu einem Mietwagen, der heute Morgen bei Europcar in der Karl-Marx-Straße gemietet wurde. Und wie es der Teufel will, kann sich in der Vermietung kein Mensch mehr an den Kunden erinnern. Er hat nicht einmal eine Personalausweis-Kopie abgegeben. Nur eine polizeiliche Anmeldung - ohne Foto. Und die wurde vor ein paar Tagen als gestohlen gemeldet. Und zwar keine zehn Minuten, nachdem sie ausgestellt wurde - direkt auf dem Meldeamt.« »Aber muss man denn keinen Führerschein vorlegen, bevor man einen Leihwagen mietet?« »Eigentlich schon, aber der Kunde sagte, er habe ihn vergessen, und die Angestellte bei Europcar hat mal eine Ausnahme gemacht.« »Eine Ausnahme? Na prima ...« »Was hat Sie dazu veranlasst, den Ort des Verbrechens zu verlassen, Frau DeLight? Sie wissen, dass man Sie dafür belangen könnte, nicht wahr?« Bei ihrer warmen Stimme und dem freundlichen Lächeln klang der Vorwurf viel milder, als er eigentlich sollte. »Schauen Sie, ich wollte nicht, dass man mich dort sieht und erkennt. Es ist ja nicht so, dass ich abgehauen bin oder eine Vernehmung verweigert habe oder so.« »Schon gut. Sie kannten die Tote?« Frau Vogt drückte ihre Zigarette aus. »Flüchtig. Sie war früher Reporterin beim Fakt-Magazin und hat vor ein paar Jahren das muss so 96 gewesen sein - ein Interview mit mir geführt. Heute habe ich sie allerdings das erste Mal seitdem wiedergesehen.« »Ist Ihnen irgendetwas an ihrem Verhalten aufgefallen?« »Wenn ich zurückdenke, ja. Sie schien irgendwann nicht mehr ganz bei der Sache zu sein und wirkte auf einmal unruhig. Nervös. Keine Ahnung, warum.« »Wäre es möglich, eine Aufstellung der geladenen Journalisten zu bekommen?« »Natürlich - meine Assistentin Rita kann sie Ihnen geben.« »Schön. Mit Ihrer Assistentin sprechen wir als Nächstes.« Die beiden erhoben sich, und ich brachte sie zur Tür. »Eine letzte Frage noch, Frau DeLight. Wo genau standen Sie, als Frau Brenner überfahren wurde?« »Auf der anderen Straßenseite auf dem Bürgersteig.«
»Mit Ihrer Assistentin, Ihrem Frisör ...« »Stylisten. Wenn Sie ihn sprechen, dann nennen Sie ihn bitte nicht Frisör. Er hasst das.« »... Ihrem Stylisten und Herrn Bartels, mit dem Sie befreundet sind.« »Ich würde nicht sagen befreundet, er ist ein guter Bekannter.« Kommissarin Vogt blickte mir tief in die Augen. »Haben Sie eine Erklärung dafür, wie Blut auf Ihre Kleidung kam?« Oh nein - dachte ich, Bitte nicht auch noch das. »Blut?« »Es gibt Zeugen dafür, dass Sie mit einem blutbefleckten Oberteil aus der Bar kamen und in den Lift stiegen.« Ich konnte mich nicht daran erinnern, auf dem Weg zum Fahrstuhl jemandem begegnet zu sein, aber ich war auch wie in Trance durch die Gänge gewandert. »Das war Tomatensuppe. Ich hatte Tomatensuppe zu Mittag. Als wir diesen Lärm hörten, fiel mir der Löffel in den Teller.« »Tomatensuppe?«, fragte Sabine Vogt etwas penetrant. »Ja, Frau Vogt. Tomatensuppe.« »Sie haben sicher nichts dagegen, wenn wir Ihr Oberteil untersuchen? Verstehen Sie uns nicht falsch - wir müssen solchen Hinweisen natürlich nachgehen.« Sylvia Haberlik lächelte entschuldigend, und ich schaute auf den Boden, um mein Cashmere-Jäckchen aufzuheben. »Na klar. Ist schon okay. Suchen Sie mal mit, es hat die gleiche Farbe wie mein Oberteil. Ich hab es vorhin hier irgendwo hingeworfen.« Wahrscheinlich hielten sie mich für eine Schlampe, aber vielleicht waren sie als Karrierefrauen in ihrem Privatleben auch nicht eben Ordnungsfanatikerinnen. Und in ihrem Beruf hatten sie sicherlich schon Schlimmeres erlebt als eine Frau, die ihre Klamotten auf den Fußboden wirft. Ich suchte den weichen weinroten Teppich ab. »Moment! Wahrscheinlich hat es Rita eingesammelt. Wir sind nach der Geschichte draußen zuerst alle auf mein Zimmer gegangen, und sie hat es bestimmt aufgehoben, als sie danach in ihr Zimmer ging.« »Ihre Assistentin, Frau Weinen?« »Ja. Sie wollten jetzt sowieso zu ihr, oder?« Wir verließen mein Zimmer und gingen über den Gang zu Rita. Sie hatte bereits gepackt. »Rita, hast du die Cashmere-Jacke gesehen, die ich vorhin anhatte?«
»Die habe ich in die Express-Reinigung gegeben, damit die Flecken nicht erst eintrocknen.« Ich schaute die Kommissarinnen an und zum x-ten Mal an diesem Tag wurde mir sehr, sehr flau im Magen. »Frau Weinert, dürfen wir bitte Ihr Telefon benutzen?« Das sollte sich erübrigen, denn im gleichen Moment klopfte es an der Tür und ein knackiger Page strahlte mich an. »Ich soll das hier aus der Reinigung abgeben. Äh, ich darf das eigentlich nicht, aber, würden Sie mir vielleicht ein Autogramm geben? Für meinen Bruder - der ist ein ganz großer Fan von Ihnen.« Ich glaube nicht, dass sie mich ernsthaft verdächtigten, etwas mit dem Mord an Elke Brenner zu tun zu haben. Sie konnten beim Kellner überprüfen, dass ich tatsächlich Tomatensuppe gegessen hatte, und es gab drei weitere Zeugen, die bestätigen würden, dass ich Elke Brenners Leiche nie näher als fünfzehn Meter gekommen bin. »Sie glauben doch nicht ernsthaft, dass Lilly« »Entschuldigen Sie, Frau Weinert, aber wir müssen jeden Hinweis verfolgen«, schnurrte Sylvia Haberlik. »Dann wenden Sie sich doch bitte an den Sicherheitsbeamten, der uns zugeteilt war. Er hat vielleicht gesehen, dass die Jacke schon Flecken hatte, als wir auf die Straße gingen. Und er ist Hotelangestellter, also mit Lilly weder verwandt noch verschwägert.« Sie machte das wunderbar. An den Security-Mann hatte ich gar nicht mehr gedacht. »Frau DeLight sagte uns, dass Sie eine Gästeliste für die Pressekonferenz besitzen. Könnten Sie uns die freundlicherweise zur Verfügung stellen?« »Natürlich. Einen Moment bitte.« Rita holte ihr Palmtop aus der Handtasche, tippte mit einem kleinen Stäbchen auf die Tastatur und reichte es dann der Oberkommissarin. »Geben Sie einfach Ihre E-Mail-Addresse ein und drücken Sie dann den Zeilenschalter.« »Ich fürchte, wir brauchen die Liste hier und nicht erst auf dem Revier.« Wahrscheinlich war ihr Dezernat noch nicht vernetzt. »Kein Problem, dann sende ich es als Fax an unser Gerät hier.« Sie bearbeitete die Tastatur mit dem Stäbchen und nach einer Minute druckte das Faxgerät die Gästeliste aus. Es ist gespenstisch, wenn man sich vorstellt, wie viele technische Neuerungen es in den letzten Jahren gegeben hatte, von denen wir als Kinder nicht einmal zu träumen gewagt hätten. Noch gespenstischer ist allerdings, dass diese technischen Errungenschaften noch nicht bis in die Ämter unserer Bürokratien vorgedrungen sind. Ich war mir zwar anfangs etwas fehl am Platz vorgekommen, als ich vor zwei Jahren an der Goslarer Volkshochschule einen Einführungskurs ins Internet belegt hatte, aber ich hatte enorm davon profitiert.
Das Durchschnittsalter in dem Seminar lag irgendwo bei vierzehn Jahren und die Mütter, die ihre Jungs anschließend abholten, waren ein wenig nervös ob meiner Teilnahme. Das legte sich, und ich schloss sogar Freundschaft mit einer Ratsherrin. Dank meiner Internetkenntnisse baute meine Firma den E-Commerce-Sektor so weit aus, dass wir seit letztem Jahr der europäische Netzmarktführer im Bereich erotische Wäsche und Sex-Spielzeuge sind. Sylvia Haberlik studierte die Presseliste, und Sabine Vogt schaute ihr über die Schulter. »Sie können bei den Sendern die Videobänder von der Konferenz anfordern. Die Telefonnummern haben Sie ja jetzt.« »Vielen Dank für den Hinweis, Frau DeLight, genau das hatten wir vor.« Sabine Vogt ließ sich nicht die Butter vom Brot nehmen - und konnte es nicht durchgehen lassen, dass ich ihr einen Tipp gab, wie sie ihren Job zu machen hatte. »Wenn es Ihnen nichts ausmacht, dann wurden wir Ihre Jacke gern mitnehmen und auf Spuren überprüfen. Das ist wie gesagt nur eine Routine-Maßnahme und durchaus in Ihrem Interesse.« Rita warf mir einen fragenden Blick zu. Ich nickte und zuckte die Schultern. »Wenn Sie meinen ...« Dann übergab sie die in Klarsichtfolie gehüllte Jacke an Sabine Vogt. Ich überlegte kurz und zog mein Top aus. »Nehmen Sie das doch bitte auch gleich mit. Das hatte ich drunter.« Sylvia Haberlik blickte mir anerkennend auf den Busen, der ungefähr auf ihrer Augenhöhe war. »Hübscher BH.« »Aus meiner Kollektion - wir schicken Ihnen gerne einen Katalog.«
Kapitel 4 Die Heimreise nach Goslar verlief ausgesprochen ruhig. Selbst Tim war schweigsam und grüblerisch, Rita blickte selbstverloren aus dem Autofenster. Und ich hatte auch nicht viel zu sagen. Wahrscheinlich ging es den beiden ähnlich wie mir - die Geschehnisse des Vormittags liefen wie durcheinander gewirbelte Bilder ohne Unterlass vor meinem inneren Auge ab bis ich schließlich im Wagen einschlief. Im Traum wachte ich noch einmal im fremden Hotelbett auf, und auf dem Nachttisch lag Ronnys Brief. Auf der Rückseite war die Liste der Anwesenden der Pressekonferenz abgedruckt. Sabine Vogt und Sylvia Haberlik kamen in Gestalt von Thelma und Louise ohne anzuklopfen in mein Schlafzimmer und sprachen gemeinsam: »Wenn keiner seinen Kopf verliert, muss keiner seinen Kopf verlieren!« Sie zerrten mich aus dem Bett und führten mich durch endlos lange Korridore, bis wir vor einer riesigen Tür standen, die mit Leder bespannt
und mit Messingknöpfen versehen war. Die Tür öffnete sich wie von selbst, und wir schritten in einen Gerichtssaal, an dessen Wänden sich rechts und links Autoreifen stapelten. »Bitte erheben Sie sich!« War das die Stimme von Max? Drei Richter in schwarzen Kutten und Kapuzen kamen aus einer Seitentür und traten hinter den Richtertisch, auf dem Mikrofone mit bunten Schaumstoffköpfen aufgereiht standen. Die Eurovisionshymne erschallte und Richter Nummer eins sprach mich mit donnernder Stimme an: »Wetten, dass Sie, Angeklagte Lilly DeLight, nie wieder Tomatensuppe essen werden?« Er zog die Kapuze zurück. Ja, es war Thomas Gottschalk. Richter Nummer zwei war an der Reihe: »Wetten, dass Sie, Angeklagte Lilly DeLight, nie wieder unkeusche Gedanken hegen werden und Ihrem angetrauten Ehemanne von heute an eine bis in alle Ewigkeit treue und liebevolle Gattin sein werden?« Die Kapuze fiel - es war Papst Johannes Paul I. Selbst im Traum fragte ich mich, warum es nun ausgerechnet Johannes Paul I. und nicht Johannes Paul II. war, aber schon trat der dritte Richter des Tribunals vor und klopfte gegen ein gelbes Mikro, auf dem das Sät 7-Logo abgebildet war. »Wetten, dass ...« Er nahm seine Kapuze ab und mir standen alle Haare zu Berge er hatte kein Gesicht, sein Kopf bestand nur aus einem mit Haut straff bespannten Schädel, seine Stimme klang blechern aus dem Nirgendwo. »Wetten, dass ich dich kriege, Lilly DeLight?« Hinter mir standen Thelma Haberlik und Louise Vogt und sagten: »Top, die Wette gilt.« Ich wachte schreiend auf und unser Fahrer machte eine Vollbremsung. Der Wagen kam exakt auf Höhe des Straßenschildes der Stadt Goslar zum Stehen. Ich werde häufig gefragt, warum ich ausgerechnet in eine Kleinstadt im Harz gezogen bin, wo mir im Grunde doch die ganze Welt offen stand. Das ist ganz einfach - ich fühle mich dort wohl. Ich hab dort meine Ruhe. Wenn ich Aufregung will, gehe ich zur Arbeit oder ich verreise. Eine Zeit lang hatte ich in Hamburg gelebt und fast zwei Jahre in Berlin und mir stand die Großstadt irgendwann bis hier. Ich hatte es satt, nicht einmal Brötchen holen zu können, ohne von der Seite angequatscht zu werden. Außerdem fand ich es umständlich, stundenlang im Auto unterwegs zu sein, nur um einmal ungestört mit dem Hund durch den Wald zu laufen. Die Wälder um Großstädte herum sind ja so etwas wie Vorgärten, in denen es von anderen stadtflüchtigen Großstädtern nur so wimmelt. Wo immer man hinkommt, es ist schon jemand anders dort. Ich hatte das satt und sehnte mich nach einem stillen, ruhigen Fleck, wo man nicht täglich drei Leute unbeabsichtigt beleidigt, weil man von fünf Einladungen unmöglich mehr als zwei pro Abend annehmen kann. Wenn man dreihundert Kilometer entfernt von der nächsten Großstadt lebt, dann wird es irgendwann akzeptiert, dass man nicht auf jeder Party tanzen, jedes Fernsehinterview geben und bei jedem Benefiz gratis auftreten kann.
Schon die Fahrt in die Stadt ist wundervoll, sobald man von der Autobahn runter ist. Ich genoss es jedes Mal, wenn ich von Promo-Auftritten oder Location-Dreharbeiten zurückkam. Die Strecke führt durch Ortschaften, die sich bemühen, bei »Unser Dorf soll schöner werden« die vorderen Ränge zu belegen, in denen noch Schützen- und Feuerwehrfeste gefeiert werden, wo alte Frauen Kopftücher über ihren Heimdauerwellen tragen, abends auf der Veranda Bier aus der Flasche trinken und kernige Bauern längst vergessene Zigarettenmarken rauchen. Die Goslarer und Goslarerinnen sind dagegen schon fast großstädtisch. Gepflegt, konservativ gekleidet und daran gewöhnt, zu Fuß zu laufen. Schlaue Stadtplaner haben es geschafft, die Innenstadt fast völlig autofrei zu halten. Es ist nahezu unmöglich in die Einkaufsstraßen zu fahren, was dem historischen Stadtkern und dem Einzelhandel sehr zugute kommt. Will man zum Beispiel zu Karstadt, so muss man zunächst einmal durch diverse Fußgängerzonen pilgern und kommt an unzähligen Klamottenläden und Schmuckgeschäften vorbei. Okay, Karstadt hat auch ein Parkhaus, aber ich glaube nicht, dass es besonders frequentiert wird, da die meisten Kunden den Weg durch die Einkaufsgassen bevorzugen. Goslar hat ein Schwimmbad, mehrere Kinos (seit einiger Zeit sogar so etwas wie ein Multiplex), ein Theater, in dem in unregelmäßigen Abständen Gastspiele stattfinden, einen eigenen Bahnhof, in dessen Buchhandlung man internationale Presse kaufen kann, und diverse Cafes, Kneipen und Diskos. Das Goslarer Nightlife ist nicht so ganz nach meinem Geschmack, aber ich bin ja auch nicht wegen der atemberaubenden Clubs hierhergezogen. In einer Stunde ist man in Braunschweig, einer Studentenstadt, wo das kulturelle Leben schon etwas üppiger ausfallt, bis Hannover ist es etwa eine Autostunde und nach Berlin braucht man drei Stunden. Im Winter ist die Stadt voller skandinavischer Touristen, denn der Harz ist das erste nennenswerte Gebirge südlich von Dänemark und somit eine gute Anlaufstelle für Skitouristen. Fährt man weiter hoch in die Berge, ist man plötzlich in den Wäldern von Grimms Märchen. Die Ortschaften haben verrückte Namen wie Walkenried, Clausthal-Zellerfeld und Buntenbock. Dort gibt es glasklare Badeseen und etwas, was man in Berlin/Hamburg/Frankfurt vergeblich sucht: absolute Stille. Zen in Niedersachsen. Für ein Mädchen, das in der Großstadt aufgewachsen ist, kam es mir wirklich wie eine Art Märchenland vor. Zu den wichtigsten Harzern gehören Dr. Albert Niemann, der innerhalb seiner kurzen Lebensspanne, von 1834 bis 1861, das Kokain entdeckt hatte und vielleicht zu viele Selbstversuche damit angestellt hatte, was seinen frühen Tod erklären mochte, die Brockenhexen, Peter vom PopDuo Rosenstolz und seit nur mehr zwei Jahren auch meine Wenigkeit. Der höchste Berg des Harzes, der Brocken, hat 1142 Meter und ich ein großzügig geschnittenes zweistöckiges Haus mit einem Dreißig-Quadratmeter-Pool und einem großen Garten direkt am Waldrand im Stadtteil Steinberg. Als ich seinerzeit Immobilien besichtigte, wollte ich die Firma eigentlich im Industriegebiet ansiedeln. Das heißt in Goslar »Bassgeige«, was sich zwar sehr musikalisch anhört, aber alles andere als ein musischer Ort ist. Dort steht eine Betonhalle neben der nächsten, spukhässliche, zweckmäßige Siebziger-Jahre-Architektur. Wäre Goslar ein Vorgarten, dann wäre die Bassgeige der Hundehaufen darin. Ich konnte mir nicht vorstellen, jeden Morgen dorthin zur Arbeit zu fahren, an Autohäusern und Reparaturwerkstätten vorbei, aber ich hatte Glück, einen Immobilienmakler und einen kotzenden Boxer, und so fand ich meinen Firmensitz am schöneren Ende der
Stadt, unweit von unserem Haus. Um dorthin zu gelangen, fährt man eine unbenannte Straße, die eher ein breiter Weg ist, in Richtung »Haus Hessenkopf« (evangelisches Bildungszentrum). Linker Hand gibt es nur zwei Gebäude - meine Produktion und die Tierarztpraxis Hofmeier. Die Firma ist in einem alten Gutshof untergebracht. Auf dem Gelände stehen noch vier große Nebengebäude, die ehemals als Scheunen und Ställe dienten. Im alten Gutshaus war ausreichend Platz für die Büroräume der Verwaltung, einen Schnittraum für die Filmproduktion und das Grafikstudio, das sich um die Gestaltung der Videokassetten und der Magazine kümmert. Die Scheunen dienen uns als Lager und Vertrieb. Die zwei Dutzend Angestellten, die ich fest beschäftigte, waren besonders angetan von dem Pool im Garten auf der Rückseite des Hofes, der in den 30er-Jahren angelegt wurde und dessen Sanierung mich fast so viel kostete wie die Ausstattung der Lagerhallen und das Equipment des Schnittstudios zusammen. Aber des einen Leid - des ändern Freud: das komplette Grundstück hatte nur einen Bruchteil seines Werts gekostet, da der Vorbesitzer bankrott gegangen war. Bis ich mich in Goslar niederließ, war der offizielle Schandfleck noch die »Eisenplatte« von Richard Serra. Eine rostige Skulptur neben dem historischen Breiten Tor, die viele als Schandfleck betrachteten. Als sich herumsprach, wer gerade neue Stadtbürgerin geworden war, ließen die Hardcore-Harzer vom Metallklotz ab und hatten einen neuen Grund zur Entrüstung. Mich. Es gibt noch heute einige Geschäfte, in denen man mich nicht bedienen würde. So etwas nervt mich, es ist ein bisschen verletzend, es ist dumm. Vor allen Dingen ist es verlogen, denn selbst der vertrocknetste Spießer hat sexuelle Bedürfnisse und geht denen nach, sofern er nicht auch noch mental gestört ist. Die »sexuelle Revolution« war kein Ereignis, das 1968 stattfand und dann wieder endete. Es ist ein Prozess, der anhält. Das Ziel einer Revolution ist die Befreiung. Das Ziel der sexuellen Revolution, die Befreiung der Menschen vom schamhaften Umgang mit ihren Triebbedürfnissen, steckt immer noch in den Kinderschuhen. Ein äußerst charmanter TV-Intellektueller nannte mich einmal eine »erotische Erwachsenengärtnerin«, das fand ich sehr treffend. Man spricht auch nicht umsonst von »Sexspielzeug« - ich bin eine Spielwarenfabrikantin der Lüste und mache Laster für die großen Jungs und Plastikwaren für die Mädchen. Im Rahmen meiner Funktion als sexuelle Revolutionärin des Internet-Zeitalters befreite ich nur die, die auch befreit werden wollten. Die bigotten Idioten, die die Straßenseite wechselten, wenn sie mich kommen sahen, sollten sich meinetwegen doch alle gehackt legen, bitteschön ... Maximilians Freundeskreis war in den ersten Monaten, die wir zusammen waren, zwar auch etwas skeptisch, was mich betraf, aber bei den meisten legten sich die Berührungsängste. Diejenigen, die sich nicht damit abfinden konnten, dass Max einen Porno-Star an Land bzw. in die Berge gezogen hatte, verschwanden sang- und klanglos aus seinem Adressbuch und er hat sie mit keinem Wort je wieder erwähnt. Meine neuen Nachbarn, die vermutlich den Einzug von Sodom und Gomorrha befürchtet hatten, beruhigte ich mit einer Gartenparty-Einladung, die zu einer Art »Tag der offenen Tür« ausartete. Den Mutigen hatte ich eine Führung durch die Geschäftsräume versprochen. Es stellte sich heraus, dass alle »mutig« waren. Beim
anschließenden Grillabend am türkis blitzenden Pool unterhielten sich dann die Männer (Ärzte, Studienräte und Anwälte) über ihre Lieblingsvideos und die Frauen (Studienrätinnen, Kommunalpolitikerinnen und Ehefrauen/Mütter) überlegten, ob sie eine Art Tupper-Party mit Lilly-DeLight-Dessous veranstalten sollten. Ich hatte jahrelang hart dafür geschuftet und hier hatte ich sie endlich gefunden: meine Idylle. Und die würde bereits innerhalb der nächsten Tage auf dem Spiel stehen. Nachdem der Fahrer Tim und Rita abgesetzt hatte, fuhren wir erst einmal in die Firma. Es war früher Abend und Max war bestimmt noch nicht zu Hause. Unser Hund Mikey fühlte sich in meinem Büro am wohlsten, wenn ich mal ein paar Tage unterwegs war, und so brachte ihn Max morgens zu unserer bayrischen Verwaltungssekretärin Anni, einer allein stehenden Mittvierzigerin, die früher selbst Hunde gehabt hatte und sich freute, wenn sie Mikey ein bisschen bemuttern durfte. Sie hatte riesige Kulleraugen, eine extrem quiekige Stimme, die der Hund vergötterte, war besessen von amerikanischen Fernsehserien und binnen kürzester Zeit zur Seele des Betriebs geworden. Wir holperten über das Kopfsteinpflaster auf den Hof. Im Lager und im Vertrieb war bereits Feierabend, aber Anni war morgens die Erste und abends die Letzte, die den Betrieb verließ. Die Tür zum Empfang war noch offen, also trat ich ein und ging die Treppen hoch zu Annis Büro. Komisch, dass mir Mikey noch nicht bellend entgegenstürmte - normalerweise kannte er kein Halten, wenn er den Wagen hörte und Frauchen von Reisen zurückkehrte. »Lilly, grüß Gott! Schön, dass Sie wieder da sind! Wie war's denn in der Hauptstadt?« »Hallo Anni, fragen Sie nicht - es war der Horror!« »Was ist denn passiert, um Gottes willen?« »Ich erzähl's Ihnen morgen, okay - ich will jetzt nur noch einen Happen essen und die Beine hochlegen.« »Aber wir schaun schon erstmal, ob s' was von der Konferenz bei Frauke bringen, gell.« »Na gut. Wo ist denn Mikey eigentlich?« »Ich weiß gar nicht, wie ich Ihnen des beibringen soll.« Mir blieb fast das Herz stehen. »Er hat sich gebissen. Mit dem schrecklichen Köter von der Pamela Anders, diesem Bullpit-dog.« »Mit dem Pitbull, oh mein Gott!«
»Nein nein - is ja gar net so schlimm. Er hat des Biest ganz schön zugrichtet, unser Mikey. Ich wollt nicht, dass Sie hier vor verschlossenen Türen stehen und deshalb bin ich hier geblieben. Er is jetzt drüben beim Tierarzt Hofmeier mit der Pamela Anders und dem Biest. Ich sag's Ihnen, es war wie im Irrenhaus heut den ganzen Tag.« Sie sprach den Namen »Pamehla« aus, was diese sicher nicht gern gehört hätte, da sie sich aus Fantasielosigkeit den Namen ihrer Lieblingsschauspielerin geklaut hatte und auf korrekter Aussprache bestand. Sie nannte sich »Pemmela«, außer wenn sie mal versehentlich in ihren Dialekt zurückfiel, dann klang es eher wie »Bämmela«. Sie kam aus Halle und Baywatch hatte ihr Leben verändert: dem neuen Namen folgte eine neue Haarfarbe – ein scheußliches Neonblond, das sie schonungslos alle zwei Wochen nachkolorierte, sodass ihr Spliss schon fast bis zum Haaransatz reichte und die Mähne von jedem Glanz befreit war. Sie beschränkte die gefährlichen Bleichaktionen übrigens nicht nur auf ihr Kopfhaar, und immer, wenn ich ihre gelbstichigen Schamhaare sah, fragte ich mich, ob sie sich nicht langfristig gesundheitlich schädigte. Ich hätte jedenfalls starke Bedenken, so aggressive Chemie an so wertvolle Körperteile heranzulassen ... »Was macht die denn hier? Die ist doch erst übermorgen dran.« »Die wollt Sie sprechen, ich denk die will wieder mal einen Vorschuss.« »Jedesmal macht diese Frau Stress. Wo sie auftaucht. Ich geh rüber und hol den Hund. Haben Sie Max Bescheid gesagt?« »Den hab ich nicht erreichen können.« »Ja - ich hab es auch ein paar Mal probiert. Gut, Anni, dann machen Sie den Laden dicht und gehen Sie nach Hause. War ein langer Tag heute.« »Na dann servus, Lilly, ich hab schon noch ein bisschen zu tun und die Frauke schau ich mir hier noch an - ist ja nur noch eine halbe Stunde bis Exclusiv. Und ach - fast hätt ich's vergessen: Der Herr Sanchez hat angerufen - der ist auch schon in der Stadt. Er ist im Hotel Kaiserworth zu erreichen.« »Alles klar, Anni - dann bis morgen.« Ronny musste warten. Erstmal musste ich Mikey von der Gegenwart Pamelas und ihres Monsterhundes erlösen und dann stand Max auf der Liste. Ich nahm den Gartenweg. Die Tierarztpraxis war in einem zweigeschossigen Fachwerkhaus untergebracht, das rechts neben dem Hof lag. Früher hatte ein Garten dazugehört, der hinter dem Haus lag, der war aber irgendwann von einem früheren Besitzer des Hofes aufgekauft worden, sodass mein Anwesen - Hof inklusive Garten - L-förmig war und der Gartenteil mit Pool hinter dem Tierarzthaus lag. Allerdings von einem halben Dutzend alter Obstbäume abgeschirmt und durch eine niedrige Steinmauer getrennt. Neugierige Tierarzt-Klienten hatten nur im Winter einen freien Blick auf diesen Teil meines Gartens. Im Sommer guckten sie sich vergebens nach der berühmt-berüchtigte Nachbarin die Augen aus. Auch der Tierarzt hatte einen Garten, der befand sich jedoch hinter dem Haus und würde von einer unserer Scheunen links und von einem Stall und einer Pferde-Praxis rechts eingerahmt. Der Hof zwischen
Haus und Nebengebäuden war asphaltiert und nicht, wie bei uns, mit Kopfstein gepflastert. Ich hüpfte über die Mauer und ging auf die Rückseite des Hauses zu. Das machte ich eigentlich immer so, der Weg war kürzer und wir hatten ein gutes nachbarschaftliches Verhältnis. Herrn Hofmeier war es auch gestattet, morgens ein paar Bahnen in unserem Pool zu ziehen. Das freute unsere Sekretärinnen, denn er war nicht gerade hässlich, was es in ihren Augen verzeihlich machte, dass er nie seinen Doktor gemacht hatte. Er war unverheiratet, braun gebrannt und dunkelhaarig, etwa eins neunzig groß, hatte ein breites Kreuz und ein einnehmendes Lächeln. Und eine erstklassige Schwimmerfigur. Als er das erste Mal den Pool benutzte, war er sogar nackt geschwommen und wir standen alle schwärmend am Fenster, aber ich musste ihn dann doch bitten, sich in Zukunft bedeckt zu halten, um den Arbeitsablauf in meinem Betrieb nicht zu gefährden. Für meinen Geschmack war er mit den Tieren etwas zu grob, aber nachdem ich das einmal klargestellt hatte, gab er sich mit Mikey mehr Mühe. Der Hof war leer und ruhig, die Hintertür zur Praxis angelehnt, also trat ich ein und ging durch den Raum, der früher wohl mal eine Waschküche war und jetzt als Lager diente. An der Praxistür blieb ich stehen und lauschte, ob er gerade bei einer Behandlung war. Ich öffnete die Tür einen Spalt und ertappte mich bei der für eine ländliche Tierarztpraxis zutreffenden, aber ansonsten nicht besonders poetischen Metapher »Ich glaub, mich tritt ein Pferd«. Hofmeier und Pamela waren über einen blitzblank verchromten Behandlungstisch gebeugt und zogen sich mit Strohhalmen zwei fette Lines Koks in die Nasen. »Tschuldigung, ich will ja nicht stören, aber wo ist Mikey?« Die beiden bewegten sich wie ein Mann und standen verlegen und gleichzeitig euphorisch hinter dem Tisch. Pamela zog noch mal geräuschvoll die Nase hoch. »Lilly! Hallo, ä'h...« Peter Hofmeier errötete und trat schnell vor den Tisch, als ob er verbergen wollte, was ich schon längst gesehen hatte. Pamela blieb wo sie war und wirkte wie ein Schulmädchen, das man beim Abschreiben erwischt hat. »Hallo Peter, ich möchte den Hund abholen - was ist überhaupt mit ihm los? Wie geht es ihm?« »Alles halb so schlimm. Er ist nebenan. Ich musste mit ein paar Stichen nähen, aber er wird wohl gerade wieder aus der Narkose aufwachen.« Wir gingen in einen Nebenraum und dort lag Mikey auf einem Stapel Wolldecken. Er wackelte mit dem Hintern und gab ein paar quiekende Laute von sich. Ich setze mich zu ihm und tätschelte ihn. Hofmeier hockte sich dazu. »Das da eben, das...« »Das interessiert mich nicht, Peter. Wir sind erwachsene Menschen und was mich angeht - ich habe nichts gesehen. Ich möchte dich nur darum bitten, meine Darsteller nicht mit Koks zu versorgen, solange sie für mich arbeiten. Jemand, der zugedröhnt am Set erscheint, fliegt raus. Behalte das einfach im Hinterkopf, okay?«
»Aber klar. Natürlich. Wird nicht wieder vorkommen. Also, wenn du was möchtest...« »Nein danke, ich möchte nicht. Ich möchte nur Mikey mit nach Hause nehmen und einen ruhigen Abend haben. Morgen wird ein harter Tag.« »Okay.« »Na komm, Kleiner«, sagte ich, und Mikey rappelte sich auf. Er war noch etwas benommen und torkelte neben mir her, als wir zurück in den Behandlungsraum gingen. »Komm übermorgen mit ihm vorbei, dann will ich ihn mir nochmal anschauen.« »Lilly, hast du einen Moment Zeit?«, wisperte Pamela mich an - normalerweise konnte man selbst ihr Flüstern durch einen ganzen Raum hören. »Komm mit rüber - ich muss noch meine Sachen holen. Wie geht's deinem Hund?« »Der schläft noch. Wird aber wieder, sagt der Doktor.« »Na gut.« Ich wandte mich Peter zu. »Wir sehen uns dann übermorgen. Können wir das mit der Rechnung dann erledigen?« »Ach Schwamm drüber. Das war doch Nachbarschaftshilfe.« »Dann dank ich dir, Peter.« Wir gingen durch die Hintertür auf den Hof. Pamela war jetzt sehr zappelig. »Nicht dass du denkst, dass ich ein Drogenproblem habe, Lilly, also echt nicht. Es war nur so - wir sind ins Gespräch gekommen, und dann fing er an zu schwärmen, dass er das reinste Zeug hat medizinische Qualität. Und das wollte ich schon gern testen.« »Du weißt was passiert, wenn du zugekokst zur Arbeit erscheinst?« »Natürlich - das wird nicht passieren, ich schwör's dir!« Wir waren an der Mauer zum Garten angelangt, und ich musste Mikey darüber hinweghelfen, er war noch zu benebelt, um den Sprung alleine zu schaffen. Ich kletterte hinüber und drehte mich zu ihr um. »Okay. Dann sehen wir uns übermorgen. Tschüss.« »Da wäre noch was.« »Pamela, wenn du schon wieder einen Vorschuss brauchst, dann komm morgen ins Büro. Mehr als fünfhundert Mark sind nicht drin. Und wenn ich nur den leisesten
Verdacht habe, dass das Geld durch die Nase geht, dann hast du das letzte Mal für mich gearbeitet.« »Ist ja gut«, schmollte sie und fingerte an ihren Haaren herum. »Danke.« »Bis dann.« Ich packte meine Reisetasche in den Kofferraums meines Wagens und verfrachtete Mikey auf den Beifahrersitz. Dann setze ich mich hinters Steuer. Brave Kleinstädter befürchten ja immer, dass es die Großstädter sind, die Unzucht und Kriminalität in ihr beschauliches Leben bringen. Das war in der Regel gar nicht nötig, denn wenn man richtig hinschaute, wurde man auch in der Kleinstadt fündig. Drogen in der Tierarztpraxis - wenn das ans Licht käme, dann würde man zweifellos sofort den Bezug zur Nachbarin herstellen, denn der Tierarzt war einheimisch und hatte einen guten Ruf. Kein Wunder - bei dem Aussehen rannten ihm die Leute die Praxis ein, sobald ihr Hamster auch nur einen melancholischen Blick zu haben schien. Ich musste wieder an Elke Brenner denken. Wer rechnet schon damit, in einen Kriminalfall hineingezogen zu werden. Zwei Straftaten, auf die Gefängnis stand, an einem Tag! Wenn man mit so etwas wie Mord konfrontiert wird, dann fühlt man sich hilflos, schutzlos, bedroht. Das wacklige Urvertrauen, das ich in die Gerechtigkeit des Schicksals hatte, geriet gerade heftig ins Wanken. Aber ich würde mich nicht aus der Bahn werfen lassen von Ereignissen, auf die ich keinen Einfluss nehmen konnte. Schicksal ist das, was man nicht eingeplant hat. Damit zu leben hieß, sich wieder auf seine Pläne zu konzentrieren. Dabei half eine feste Umarmung von zwei starken Armen eigentlich immer. Ein liebender Partner ist ein wertvolles Gut, und ich sehnte mich in diesem Augenblick so sehr nach Max, dass ich fast ins Schluchzen kam. Die Fahrt von der Firma nach Hause dauerte kaum fünf Minuten. Trotzdem erschien sie mir viel zu lang. Ich stellte den Wagen vor dem Haus ab, ließ Mikey heraus, der noch immer torkelte und beinahe umfiel, als er das Bein hob, um seine Lieblingskastanie zu begrüßen. Max' Jeep war nirgends zu sehen. Ich schnappte mir meine Reisetasche und ging die Treppen zur Haustür hinauf. Durch das Glas in der Tür sah ich, dass im Hausflur kein Licht brannte. Normalerweise ließen wir es immer an. Die Tür war nur einmal abgeschlossen, auch das war nicht üblich. Die Villengegend von Goslar war für Einbrecher äußerst attraktiv, und wenn einer von uns das Haus verließ, dann stellte er die Alarmanlage ein und ließ das Licht im Flur an. Mikey trödelte die Treppe herauf und drückte sich an meinen Beinen vorbei ins Haus. »Max?«, rief ich, als ich die Tür hinter mir zuzog. Mikey bellte. Niemand antwortete. »Maax?«
Es blieb still im Haus. Auch Mikey begriff, dass Max nicht hier war, und ging in die Küche, um seinen Fressnapf zu überprüfen. Ich stellte meine Tasche ab, ging in die Küche und kochte mir einen Tee. Die Uhr an der Mikrowelle zeigte achtzehn Uhr achtundzwanzig. Lilly hatte ihm die größte Suite gebucht, die das Hotel Kaiserworth zu bieten hatte. Er erkannte es sofort, als er sie betrat, und wusste die Geste zu schätzen. Sein abenteuerliches Leben hatte ihn schon in Hotels jeglicher Kategorie residieren lassen, und es beruhigte ihn, dass der Standard der Räumlichkeiten von gehobenem Niveau war und ihn nicht an die schlimmen Absteigen erinnerte, in denen er die letzten Wochen seiner Drogen-Karriere verbracht hatte, bis man ihm selbst dort keine Zimmer mehr gab, weil seine Zahlungsunfähigkeit ihm ins Gesicht geschrieben stand. Nach der gepflegten, ganzheitlich orientierten Unterbringung in der amerikanischen Entzugsklinik hätte ihn ein Kleinstadthotel der niedrigen Preisklasse schwer deprimiert. Und er hatte sich das Versprechen abgerungen, sein Leben nicht durch äußere Einflüsse in Gefahr zu bringen, die nur eine Rechtfertigung darstellten, zum Telefon zu greifen und den Dealer anzurufen. Er wusste, dass er von nun an Verantwortung übernehmen musste und dass die bequeme Möglichkeit des Ausklinkens und Verdrängens für ihn nicht mehr in Frage kam. Sie hatte ihn fast das Leben gekostet, und wenn er in der Klinik etwas gelernt hatte, dann war es, das Leben selbst in die Hand zu nehmen - etwas, was Lilly ihm schon vor Jahren erfolglos und beinahe penetrant gepredigt hatte. Sie hatte Recht behalten, aber er war damals noch nicht so weit gewesen. Er hatte erst den Horror durchleben müssen, dem er gerade entronnen war, um das Prinzip der Selbstverantwortung zu begreifen. Vielleicht - wenn Lilly ihm etwas Zeit gegeben hätte ... Doch stattdessen hatte sie ihn aus ihrem Leben geworfen, als es ihm schlecht ging. Genau das war das Problem mit dem Prinzip der Selbstverantwortung - manchmal musste man über Leichen gehen, um das zu bekommen, was gut und richtig für einen selbst war. Das Erste, was er tat, noch bevor er seine Koffer ins Schlafzimmer brachte um auszupacken, war, die zwei kleinen Schachteln aus seinem Seesack zu holen. Es grenzte an ein Wunder, dass sie sich noch in seinem Besitz befanden und nicht wie der Rest seiner Habe irgendwann gestohlen, versetzt oder in einem fremden Haus vergessen worden waren. Die größere war etwa dreißig Zentimeter lang und zehn Zentimeter hoch, sie war sorgfältig gearbeitet. Eine schwarze Lackschatulle verziert mit indischen Symbolen. Er legte sie auf den Couchtisch. Die zweite Schachtel war kleiner und schmuckloser. Sie bestand aus rauem Holz, das unsauber mit schwarzer Farbe angemalt war. An einigen Stellen konnte man noch die graue Holzfaser durchschimmern sehen. Der Deckel der Schachtel war mit einem schlampig ausgeführten weißen Kreuz bemalt. Er erinnerte sich vage daran, dass er es mit zwei energischen Strichen mit einem Tippex-Pinsel aufgetragen hatte. Er warf den Seesack auf einen Sessel und setze sich an den Tisch. Es vergingen mehrere Minuten, in denen er nur dasaß und auf die beiden Schachteln schaute. Die beiden kleinen Särge seines Lebens.
Das Kreischen einer Krähe, die am angelehnten Hotelfenster vorbeiflog, riss ihn aus seinen Gedanken, er öffnete die größere Schatulle und holte die hölzerne Statue heraus, die Lilly ihm im ersten Jahr ihrer Liebe geschenkt hatte. Sie waren über einen indischen Jahrmarkt geschlendert, und es war einer der wenigen Tage gewesen, an denen er nicht vierundzwanzig Stunden lang stoned von preiswertem und hochwertigem Hasch war. Er hätte sonst die fremde Kultur nur durch einen Schleier der Gleichgültigkeit wahrgenommen und Lilly wäre ausgerastet. An diesem Tag, an dem sein Verstand klar war und seine Augen fast übergingen von der Andersartigkeit des Lebens in diesem Land, an diesem Tag machte ihm Lilly ein Geschenk. Die Skulptur, die jetzt vor ihm auf dem Couchtisch des Goslarer Hotels stand. Damals war sie allerdings noch unbeschädigt gewesen. Er öffnete die Schatulle, die mit einem Kreuz verziert war, und legte das abgebrochene Stück Holz neben die Statue. Lilly hatte an ihrem letzten Abend nach der Figur gegriffen und sie verzweifelt und hasserfüllt gegen eine Wand geworfen. Ihn schauderte, als er sich an die Szene erinnerte, die das Ende ihrer Liebe beschrieben hatte. Ihr letztes gemeinsames Erlebnis, der Abend, der damit endete, dass sie ihn vor die Tür setzte. Der Anfang seines zähen, langwierigen und gnadenlos demütigenden Abstiegs. Die Statue war aus grob geschlagenem Holz, das in krassem Widerspruch zu der kunstfertigen Schatulle stand, und stellte einen archaischen Mann mit überdimensioniertem Kopf dar. Daneben auf dem Tisch lag der ebenso überdimensionierte Phallus, der durch Lillys Wutattacke abgebrochen war. Er nahm den Phallus in die Hand und betrachtete ihn eingehend. Aus seiner Jackentasche zog er eine kleine Tube Alleskleber, die er im Drogeriemarkt am Bahnhof gekauft hatte, und begann mit sorgsamen Strichen den Stumpf des Holzpenis' damit zu bestreichen. Als er ihn an der Statue angeklebt hatte, lehnte er sich in seinem Sessel zurück und starrte das Kunstwerk an. Zufrieden griff er noch einmal in die kleine schmucklose Schatulle. Er legte das Briefchen neben die Figur auf den Tisch. Darin befand sich ein Gramm Kokain. Erst, als es draußen dunkel wurde, merkte Ronny Sanchez, wie viel Zeit vergangen war- hatte nicht irgendwann das Telefon geklingelt? Er stand auf, machte Licht und ging wieder zurück, setzte sich, legte die Beine übereinander und ließ seinen Blick über die Objekte auf dem Tisch wandern. Hin und her. »Das ist Exclusiv, ich bin Frauke Ludowig, und das sind unsere Themen: Jenny und Container-Alex - geheimes Liebesnest in Berlin? Gotthilf Fischer und die Spätwirkungen der Love-Parade-Pille und Lilly DeLight: Nur noch Sex mit Max.« Frauke Ludowig sah hervorragend aus, leicht gebräunt, perfekt gesträhnt und strahlte wie immer die perfekte Mischung aus Klasse, Sex und Warmherzigkeit aus. »Hallo, liebe Zuschauer, es ist schon etwas ganz Besonderes, wenn eine Königin dem Thron entsagt, doch genau das ist heute in Berlin geschehen. Lilly DeLight hatte am Mittag Vertreter der gesamtdeutschen Medien zu einer Pressekonferenz ins Luxushotel Astor eingeladen. Und machte es zunächst einmal spannend. Mit halbstündiger Verspätung erschien sie in einem für ihre Verhältnisse recht bedeckten Gucci-Ensemble und ließ die Bombe platzen.« Das Fernsehbild wechselte von der Studioanmoderation auf den Filmbeitrag.
Man sah mich mit Rita hinter dem Rednertisch sitzen. »Ich trete ab.« - »Ich habe alles erreicht, was ich in dieser Branche als Darstellerin erreichen konnte, und man muss wissen, wann es Zeit ist abzutreten und dem Nachwuchs eine Chance zu geben.« - »Wenn Greta Giehse meint, in ihren eigenen Pornos spielen zu müssen, dann kann ihr das niemand verbieten. Inge Meysel hat ja auch noch niemand ins Altenheim gesteckt.« Na, das hatten sie ja prima zusammengeschnitten! »Lilly beruhigte uns jedoch mit der Ankündigung, weiterhin in der Branche tätig zu bleiben und ab sofort hinter der Kamera zu stehen. Bekannterweise ist ihre Produktionsfirma mittlerweile eine der erfolgreichsten in ganz Europa. Neben professionellen Gründen gab Lilly auch private Faktoren an, die ihren Rücktritt von der Porno-Front beeinflusst haben - ihren Ehemann Maximilian Winter, der in Zukunft den Exklusivitätsanspruch auf Sex DeLight haben wird. Ob da vielleicht gerade eine kleine Familie in Planung ist? Die nächsten Monate werden es zeigen. Und wir bei Exclusiv bleiben natürlich dran am Thema. Von hier aus schon einmal ein herzlicher Glückwunsch an Lilly und Maximilian.« Das durfte doch nicht wahr sein! Jetzt unterstellten sie mir auch noch eine Schwangerschaft. In den nächsten Wochen würde die ganze Welt auf meinen Bauch starren. Es ärgerte mich, dass Max nicht hier war. Er hätte so eine Meldung sicherlich gleich als Aufforderung verstanden, sie zu erfüllen. Ich schaltete den Ton weg und nippte an meinem Tee. Die bunten Fernsehbilder rauschten vorbei, ohne dass ich auf die Geschichten achtete. Meine Gedanken wanderten von Max zu Elke Brenner, deren finsteres Ableben offenbar noch nicht bis in die Extra-Redaktion vorgedrungen war. Vielleicht war es auch nicht spektakulär genug, einfach so umgebracht zu werden, das mochte eher Stoff für Explosiv sein, aber nicht für das Star-Magazin. Der Zusammenhang mit meiner Konferenz könnte allerdings ausreichen, den Beitrag bei Frauke zu senden. Drei Minuten Sendezeit. Für fünfundvierzig Jahre Leben. Ich stellte mir vor, was die Vollblutjournalistin Brenner wohl davon gehalten hätte, einmal in ihrem Leben eine Schlagzeile zu liefern und das nicht etwa, weil sie sie selbst verfasst hatte, sondern nur, weil sie in Verbindung mit einer Promi-Berichterstattung gestorben war. Als ich aufwachte, musste ich mich erst einmal orientieren, wo ich war. Auf der Couch im Wohnzimmer. Es war dunkel und nur der Fernseher schickte flackernde Lichter durch den Raum. Ich sah eine Werbung für meine Telefon- Sex-Hotline - so spät war es also schon! Mikey hatte sich zu meinen Füßen auf die Couch gelegt. Ich stand auf und schaute auf die Uhr - kurz nach Mitternacht. Der Hund war offenbar noch nicht ganz über seine Narkose hinweggekommen, denn er blieb auf dem Sofa liegen, anstatt mein Aufstehen als Anlass für eine Runde Gassi gehen zu betrachten. Ich streckte mich und machte mich auf den Feg die Treppe hoch ins Schlafzimmer. Ich dachte noch, was es für eine verzickte Unverschämtheit von Max war, nach
Hause 21 kommen und mich nicht einmal zur Begrüßung zu wecken, als ich die Tür zum Schlafzimmer öffnete. Das Bett war leer. Mir wurde kalt. In zwei Jahren Ehe war es noch nicht vorgekommen, dass einer von uns beiden über Nacht weggeblieben wie, ohne den anderen zu informieren. Das gab es einfach nicht. Es war nicht einmal eine Frage der Höflichkeit, sondern schlichtweg selbstverständlich, dass Max und ich immer wussten, wo der andere war. Wozu ist man denn sonst auch bitteschön verheiratet? Wir konnten uns aufeinander verlassen. Und nun das. Klar, es war sein gutes Recht, wegen Ronny sauer zu sein, aber das war nah lange keine Rechtfertigung, sich die Nacht irgendwo um die Ohren zu schlagen wer weiß wo und wer weiß mit wem. Das war ein so typisches MännerKlischee, dass es mich fuchsteufelswild machte. Anstatt, dass man die Sache bespricht, die Fronten klärt und den Streit aus der Welt schafft, absentiert sich der Held geht dem Stress aus dem Weg, damit er am längeren Hebel sitzt und ausgiebig schmollen darf. Und davon natürlich jede Minute auskostet. Wann kommt er denn sonst schon dazu, das so genüsslich zu tun? Diesmal würde die Rechnung allerdings nun aufgehen, weil er wenn er nicht total verkorkst war sich so gründlich dafür schämen würde, mir an einem Tag wie diesem nicht zur Seite gestanden zu haben, dass er sich ein Erdloch suchen wird, um darin vor Scham zu versinken. Es sei denn - es sei denn, ihm war etwaspassiert... Obwohl es unwahrscheinlich war, dass er sich bei Rita gemeldet hatte, rief ich bei ihr an. »Hast du schon geschlafen?« »Nein, ich lese gerade noch. Was gibt's Jenn?« »Max ist nicht nach Hause gekommen.« »Es ist doch erst zwölf, er ist bestimmt unterwegs.« »Ich weiß nicht - sowas macht er sonst nicht. Ich mach mir Sorgen.« »Ruf doch seine Sekretärin an und frag sie, ob sie etwas weiß. Es ist doch klar, dass du besorgt bist - nach diesem Tag!« »Wenn ich seine Sekretärin um diese Uhrzeit aus dem Bett klingele, dann weiß es morgen Mittag die ganze Stadt! Ich kann die doch jetzt nicht anrufen und fragen: >Wo ist mein Mann?<« »Am Besten, du gehst ins Bett. Wenn du aufwachst, liegt er bestimmt neben dir.« »Ich weiß ja nicht - nach all dem Stress mit Ronnys Brief.« »Du kannst im Moment nichts an der Situation ändern - mach dir nicht solche Sorgen. Wart ab, was morgen ist.«
»Du hast ja Recht.« Es half doch immer wieder, wenn einem die eigenen Philosophie von einem Freund vorgehalten wurde. »Ich geh schlafen. Bei dir alles in Ordnung?« »Ja. Ich mach jetzt auch bald das Licht aus. Aber wenn etwas ist, dann melde dich, okay?« »Mach ich. Ich danke dir, Rita, du bist ein Schatz!« Ich lag im Bett, starrte an die Decke, starrte zur Tür und kam einfach nicht zur Ruhe. Ich wälzte mich hin und her. Das Mondlicht schien durch die Fenster und es schien mir viel zu hell draußen. Ein Wind war aufgekommen und brachte die Bäume zum Rauschen, es klang fast, als ob das Meer vor der Tür war. Ich zog die schweren Vorhänge zu und trotzdem war an Einschlafen nicht zu denken. Irgendwann resignierte ich, knipste das Nachttischlicht an und begann etwas zu lesen. Aber ich konnte mich nicht konzentrieren. Es muss gegen halb eins gewesen sein, da hörte ich ein Geräusch auf der Treppe und saß vor Schreck und Hoffnung senkrecht im Bett, mein Herz trommelte. Mikey schob vorsichtig seine Schnauze durch die Tür und schaute, ob jemand wach war. Er hatte seine Narkose ausgeschlafen und war jetzt putzmunter. Als er mich sah, kam er in Ermangelung eines Schwanzes, mit dem er hätte wedeln können, hinternwackelnd ins Zimmer, legte die Vorderpfoten auf die Matratze und bellte mich einmal kurz an. Gassizeit. »Was soll's«, dachte ich, stand auf und zog mir einen Morgenmantel über. Mir war etwas schummrig, als ich mit ihm durch das stille Haus ging. Ich weiß nicht, ob es eine Vorahnung war oder ob mir der schwere Tag noch in den Knochen saß, aber ich fühlte mich ängstlich. Ängstlich in meinem eigenen Haus. Ängstlich mit dem Hund an meiner Seite. Es war frisch draußen. Man merkte, dass der Sommer bald vorbei sein würde. Die Poolbeleuchtung brannte noch und erste Laubblätter schwammen auf der leicht vom Wind gekräuselten Wasseroberfläche. Der Wald hinter dem Garten war düster und schwarz wie ein Berg. Ich fragte mich, ob das Mondlicht es wohl bis auf den Boden schaffte oder ob das Gehölz so dicht war, dass das Mondlicht niemals hindurchdrang. Ich zog den Morgenmantel enger um meine Schultern. Mikey fing plötzlich laut an zu bellen und mir wurde flau im Magen. Er stand vor dem Pool, auf dem, wenn mich meine Augen nicht täuschten, eine aufblasbare Lilly-DeLight-Sex-Puppe trieb. Wie um Gottes willen war die hierher gekommen? Ich ging näher ans Becken. »Still, Mikey - du weckst die Nachbarn auf.« Der Hund war nicht zu beruhigen, bis ich mich zu ihm hinkniete und ihn in den Arm nahm. Dann setzte er sich hin und schaute zu der treibenden Lilly. Irgendetwas an ihr kam mir komisch vor, dann registrierte ich, was es war: jemand hatte ihr etwas zwischen die Beine gesteckt. Etwas, das ich in diesem Licht nicht eindeutig identifizieren konnte. Der Wind trieb die Puppe ein Stück näher in meine Richtung, und wenn ich mich flach auf den Boden legen und den Oberkörper weit nach vorne
legen würde, dann könnte ich sie vielleicht erreichen. Der Boden war kühl und die Kälte drang durch meinen dünnen Morgenmantel. Ich streckte den Arm aus und erwischte gerade noch die Schulter der Puppe. Aber da rutschte sie unter meinen Fingern weg. Der Wind kam wieder auf und trieb sie in Richtung Waldseite. Ich erhob mich, wanderte um den Pool und legte mich noch einmal flach auf den Boden. Jetzt erwischte ich eine Haarsträhne, hielt sie fest in der Hand und zog die Puppe an den Poolrand. Ich wünschte mir ich hätte es nicht getan, denn was ich dort fand, ließ mich in kalten Panikschweiß ausbrechen. Ich hatte keine Zeit, mir weibisch vorzukommen, als ich einen Schrei ausstieß, der vom Wald zurückgeworfen wurde und dessen Echo bis in die Innenstadt klang. Der Hund stimmte bellend ein. Aus der Scheide der aufblasbaren Lilly ragte ein abgetrenntes männliches Glied. Dieses Glied war schlaff und fahl und blutbeschmiert, wo es vom Körper abgetrennt und in die Plastikpuppe eingeführt worden war. An dem blonden Schamhaar klebte Blut. Ich kannte dieses Glied sehr gut. Ich kannte seinen ehemaligen Besitzer sehr gut. Ich konnte gar nicht mehr aufhören zu schreien.
Kapitel 5 Ich weiß nicht, wie viel Zeit vergangen ist, bis jemand in der Nachbarschaft die Polizei verständigte, aber es schien eine Ewigkeit zu dauern. Ich stand wie angewurzelt am Pool und starrte auf mein Abbild in Gummi, das vom Wind wieder in die Mitte des Beckens getrieben wurde. Ich fühlte mich wie vergewaltigt, auch wenn es sich nur um eine Puppe handelte - diese Puppe trug meine Züge. Wer diese üble, kranke Perversion begangen hatte, hatte dabei an mich gedacht. Der Wind frischte auf und rauschte durch die Bäume - der Wald knisterte bedrohlich. Mikey bellte und bellte, und ich fühlte mich außer Stande, ihn 7,11 beruhigen. Ich stand nur stocksteif da, bis die ersten Regentropfen niedergingen und eiskalt auf meine Haut tropften. Der Mond war von Wolken fast völlig verdeckt und das Licht des Pools warf einen grünen, wächsernen Schimmer auf uns. »Hallo! Ist bei Ihnen alles in Ordnung?« Mikey fuhr herum in die Richtung, aus der die männliche Stimme kam, und fletschte die Zähne. »Mikey, bei Fuß«, wies ich ihn an und er gehorchte. Er stand neben mir, knurrte und seine kurzen Nackenhaare waren im Neunzig-Grad-Winkel aufgerichtet. Ich sah einen dunklen Schatten um die Hausecke in den Garten kommen. Instinktiv trat ich einen Schritt zurück. »Vorsicht!«, rief die männliche Stimme im gleichen Moment und ich merkte, wie mein Fuß ins Leere trat. Ich ruderte mit den Armen, um die Balance wiederzufinden, und der Schatten stürzte auf mich zu, packte mich am Arm und bewahrte mich vor dem Sturz ins Becken. Sein Einsatz wurde nicht belohnt, denn Mikey stürzte auf ihn los wie eine Furie. »Könnten Sie bitte den Hund beruhigen?« Der Mann lag rücklings auf den nassen Fliesen und Mikey stand auf ihm, die Pfoten an seinem Hals, mit eng anliegenden Ohren und gefletschten Zähnen. Ich pfiff den Hund zurück, der immer noch misstrauisch war, jetzt aber zögerlich von seiner Beute abließ. Ich beugte mich zu ihm hinab und war ziemlich platt zu sehen, dass sich mein braves Haustier in
Momenten der Bedrohung auf seine Instinkte besann und zur kalten Kampfmaschine wurde. Ich tätschelte ihn und redete mit leiser Stimme auf ihn ein. Er blieb unruhig, aber er hatte die Entwarnung begriffen. Der Mann rappelte sich auf und saß jetzt vor mir. »Frau DeLight? Mein Name ist Klein. Ich wohne zwei Häuser weiter. Ich bin von der Kripo. Man hat mich verständigt, dass Ihre Nachbarn einen Schrei gehört haben, und ein Verbrechen vermuten.« Mir fiel ein, dass die Rabenalts, die in der Stadt zwei Läden für Sportbekleidung besaßen, erwähnt hatten, dass sie ihr Gartenhaus an einen Beamten bei der Goslarer Kripo vermieten wollten. Wir hatten noch darüber geredet, dass es nicht schaden könnte, einen Polizisten in der Nähe zu haben, bei den ganzen Einbruchdiebstählen und aufgebrochenen Autos in dieser Gegend. Er musste zum Monatsanfang eingezogen sein. »Tut mir Leid, dass der Hund Sie angefallen hat.« »Ist in Ordnung. Das ist ja seine Aufgabe.« »Hat er Sie verletzt?« »Nein, ich bin nur etwas hart gefallen. Wollen wir nicht aus dem Regen heraus?« Erst jetzt merkte ich, dass ich bis auf die Haut durchnässt war, die dünne Kleidung an mir klebte wie eine zweite Haut und mir das Regenwasser über das Gesicht lief, als ob ich unter einer Dusche stand. Ich reichte ihm die Hand und half ihm beim Aufstehen. Er legte eine Hand auf seinen Rücken und verzog das Gesicht. »Wenn Sie ein Handy dabei haben, dann rufen Sie bitte Verstärkung. Es ist etwas passiert.« »Könnten Sie mir sagen, was genau?« »Für mich sieht es aus wie ein Mord.« Meine Zähne klapperten, als ich langsam und steif auf die überdachte Terrasse zuging. Er hatte den Lichtschalter für die Veranda entdeckt und die Außenbeleuchtung angeknipst. In diesem Licht machte er alles andere als einen bedrohlichen Eindruck: ich schätzte ihn auf knapp dreißig, höchstens eins achtzig groß - in hohen Hacken würde ich ihn überragen -, hatte dunkelblondes, vom Schlaf verwuseltes Haar, das einen Frisörtermin gebrauchen könnte, und trug einen graukarierten Bademantel. Er war nicht dick, aber auch nicht durchtrainiert. Einer dieser Männer mit genetisch bedingtem breiten Körperbau, die sich griffig anfassen, und eine breite Brust zum Anlehnen bieten. Wir standen schweigend nebeneinander unter dem Vordach und schauten auf den grünlich schimmernden Pool, auf den der Regen niederprasselte, während wir auf das Ankommen der Polizei warteten. »Vielleicht warten Sie, bis die Kollegen hier sind, dann müssen Sie die Geschichte nicht zweimal erzählen. Selbstverständlich können Sie auch Ihren Anwalt anrufen«,
hatte er gesagt, und ich hatte ihm beigepflichtet. Die Geschichte mehr als einmal zu erzählen, hätte ich nicht durchgestanden. »Auf einen Anwalt kann ich verzichten. Ich hab ja nichts verbrochen.« »Wie Sie wollen. Wollen Sie einen Anruf machen und jemanden herbestellen? Sie sind allein im Haus? Ist Ihr Mann nicht hier?« Die letzte Frage war ein Treffer. Ich fing an zu heulen und konnte nicht antworten. Mikey schlich um meine Beine. »Hier - nehmen Sie das - Sie erkälten sich sonst noch.« Er hatte ein Badelaken von einem Korbstuhl aufgelesen, und ich begann mir mechanisch das Haar zu trocknen, was mich von meiner Heulattacke ablenkte. Ich schaute an mir herunter und fand mein dünnes nasses Nachtzeug etwas zu viel verlangt für die örtliche Kripo. Klein schien meine Gedanken lesen zu können und hatte schon einen Bademantel vom Haken an der Hauswand abgenommen, den ich dankbar überzog, nachdem ich zumindest den Morgenmantel abgestreift und zum Trocknen über eine Stuhllehne gelegt hatte. »Ich sollte vielleicht nach vorne gehen, damit Ihre Kollegen nicht vor der Tür stehen und uns nicht finden.« Ich konnte wohl nicht mehr klar denken - weshalb würde ich mir sonst in dieser Sekunde Sorgen machen, ob die Polizei den Weg von der Straße in den Garten findet? »Ich habe ihnen gesagt, dass wir im Garten sind, keine Sorge.« Ich hörte zwei Autos vorfahren und kurze Zeit später kamen ein Mann in Zivil und vier Beamte in Uniform um das Haus herum in den Garten. Klein stand auf und begrüßte die Männer. Derjenige, der offenbar sein Chef war, schaute fragend zu mir herüber. »Dort drüben ...«, sagte ich, »im Pool, das sollten Sie sich vielleicht mal anschauen.« »Wenn Sie uns bitte erzählen würden, was genau sich heute Nacht zugetragen hat, Frau DeLight.« Kommissar Schultz, Kleins Chef, war in Zivil, hatte eine blass-teigige Gesichtsfarbe und trug ein Goldkettchen um den breiten Hals. Sein Haar war kurz und schwarz und lag so eng am Kopf an, dass er mich an einen Otter erinnerte. Seine vom Schlaf verquollenen Augen waren klitzeklein. Wir saßen noch immer draußen am Tisch auf der Veranda, während vor unseren Augen die Spurensicherung ihre Arbeit tat. Es hatte sich eingeregnet, und es sah nicht aus, als ob sich in den nächsten Tagen daran etwas ändern würde. Ich musste daran denken, dass das Blut, das an der Puppe geklebt hatte, jetzt in den Pool gewaschen würde, und konnte mir nicht vorstellen, dort je wieder hineinzusteigen. »Ich bin am frühen Abend nach Hause gekommen. Ich hatte einen Termin in Berlin und war die letzten drei Tagen unterwegs zuerst in Frankfurt wegen einer Geschäftseröffnung. Sie wissen ja vielleicht - ich mache diese Sex-Shops und so, und im Anschluss musste ich nach Berlin für eine Pressekonferenz. Mein Mann war nicht zu Hause, als ich ankam, das hat mich gewundert, denn er hat nicht gesagt, dass er
etwas vorhat. Ich bin vorm Fernseher eingeschlafen und gegen Mitternacht aufgewacht - da war er immer noch nicht hier. Ich habe versucht, wieder einzuschlafen, aber das ging nicht. Ich machte mir Sorgen. Es muss so etwa halb zwei gewesen sein, da wachte der Hund auf und wollte mal raus. Also bin ich mit ihm in den Garten und .,,« »Ja bitte?« »... und der Hund stand bellend vor dem Pool. Ich sah die Puppe.« »Gehört diese Puppe zu Ihrer regulären Wassersportausrüstung, Frau DeLight?« Schultz konnte sich ein schmutziges Grinsen nicht verkneifen, was unter diesen Umständen eine bodenlose Gemeinheit war. Ich fragte mich, wie kaputt ein Mensch sein musste, um angesichts eines solchen Verbrechens noch schmierig grinsen zu können. »Nein, Herr Schultz, das gehört sie nicht.« »Und Sie fanden einen abgetrennten Penis in der Vagina der Puppe vor.« Klein nahm mir gesenkten Blickes das Schlimmste ab und ich war ihm dankbar dafür. »Es ist vielleicht eine ungewöhnliche Frage, Frau DeLight, aber, glauben Sie, dass Sie ...?« »Ob ich den Schwanz identifizieren kann?« »Genau. Vielen Dank.« Ich schluckte. »Ich furchte, in diesem Falle ja.« »Ihr Mann?« Kleins Stimme klang aufrichtig mitleidsvoll, so dass ich fast wieder zu weinen anfing. Ich holte zweimal rief Luft und der Reflex legte sich. Ich schüttelte den Kopf. »Johann Werner, ein Darsteller mit dem ich oft gearbeitet habe und der in meinem neuen Film mitspielen soll. Sollte. Er ist Bergbaustudent in Clausthal-Zellerfeld.« Der Champignon war gepflückt worden. »Haben Sie eine Vermutung, wer zu so einer Tat fähig ist?« »Das kann nur ein sehr sehr kranker Mensch getan haben.« »Hatte Herr Werner Feinde?« »Feinde - nicht dass ich wüsste. Wir waren nicht eng befreundet, wissen Sie? Ich weiß, dass er mit seiner Familie Stress hatte, also mit seinen Eltern und Geschwistern, aber da war seit Jahren schon keinerlei Kontakt mehr.« »Er selbst hatte keine Familie?«
»Nein, er war allein stehend.« Ich legte eine Pause ein. »Hören Sie - ich mache mir Sorgen um meinen Mann. Es ist nicht seine Art, einfach so über Nacht fort zu bleiben.« »Wann haben Sie denn das letzte Mal Kontakt mit ihm gehabt?« »Das war heute Morgen, wir haben telefoniert.« »Wenn er bis morgen Mittag kein Lebens...« Klein hiss sich auf die Zunge. »Wenn er sich bis morgen Mittag nicht gemeldet hat, rufen Sie uns bitte an.« Schultz mischte sich ein. »Na, soweit ich weiß sind es achtundvierzig Stunden, bevor wir eine Vermissten anzeige aufgehen können, oder hat jemand die Dienstwege verkürzt und ich habe es nicht gemerkt?« Klein schaute ihn leicht genervt an. »Vor dem Hintergrund dessen, was heute Abend geschehen ist, sollten wir vielleicht ausnahmsweise das Prozedere verkürzen, was meinen Sie?« Schultz grummelte. Der Gedanke, dass Max in irgendeiner Form mit den Geschehnissen zu tun haben könnte, brachte mir das Herz zum Rasen. Ich konnte und wollte mir nicht vorstellen, wie das Verschwinden meines Mannes mit dem Mord an Johann in Verbindung stehen könnte. Der Gedanke, dass er ein paar 'läge abgehauen war, um mir einen Denkzettel zu verpassen, war mir mit einem Mal sehr willkommen. Nach der Klärung der Formalitäten - »Wann sind Sie wo zu erreichen?« und einigen überflüssigen Ratschlägen - »Lassen Sie niemanden, den Sie nicht kennen, auf das Grundstück« - hatten sich die beiden verabschiedet und waren zur Spurensicherung gegangen. Ich stand am Schlafzimmerfenster und schaute in den Garten hinunter. Obwohl mittlerweile ein halbes Dutzend Polizisten bedachtsam arbeitete, konnte ich mich nicht beruhigen. Elke Brenners Tod hatte mich schon mitgenommen, aber Johanns Tod berührte mich noch viel mehr. Natürlich hatte ich eine Panikattacke bekommen, als ich den Schwanz in der Puppe als Schwanz erkannt hatte, und für den Bruchteil einer Sekunde hatte ich geglaubt, es sei der von Max. Aber dann erkannte ich die charakteristische Form der Eichel. Johann war so jung und so engagiert gewesen - er hatte sein Grundstudium in Rekordzeit abgeschlossen und wäre sicherlich ein erstklassiger Bergbau-Ingenieur geworden. Es hätte eine wunderschöne Porno-Erfolgs-Story werden können und jetzt hatte irgendein Irrer sein Leben in den Dreck getreten. Und dieser Irre lief frei herum! Und war in meinem Garten gewesen, hatte vielleicht das Licht im Schlafzimmer brennen sehen und sich nichts dabei gedacht. Seelenruhig musste er Johanns Schwanz in mein Abbild geschoben haben, während ich im Bett lag und keinen Schlaf finden konnte. Vielleicht hatte es ihm einen perversen Spaß bereitet, dass ich ihn sehen könnte, wenn ich nur im richtigen Moment aus dem Fenster geschaut hätte. Vielleicht war das sogar eine Eventualität gewesen, die ihm einen besonderen Kick gegeben hatte ...
Ich nahm mir selber übel, dass ich gleichzeitig ganz pragmatisch überlegte, mit wem man Johann in der Produktion umbesetzen könnte. Und wer so kurzfristig überhaupt Zeit haben würde. Rita und Anni würden Morgen einiges an Mehrarbeit leisten müssen, und mir stand unter anderem die Aufgabe bevor, Gerd Bartels über den Tod seines Ex zu informieren, bevor er die Nachricht aus dem Ticker bekam. Es war mittlerweile drei Uhr morgens, und während es in meinem Kopf nur so tobte und sich Sorge um Max, Bitterkeit, Angst und Trauer mit der Planung des nächsten Tages vermischten, überkam mich plötzlich, endlich und sehr willkommen die Müdigkeit. Bleiern. Ich schaffte es kaum bis zum Bett. Meine Träume blieben von den Horror-Erlebnissen des Tages verschont. Vielleicht gab es doch einen Gott. Ich träumte von Ronny. Das Unterbewusstsein scheint manchmal fair zu funktionieren, wenn es uns in schweren Zeiten zumindest einen süßen Traum beschert, weil es weiß, dass man gerade eine unverdauliche Überdosis Realität verabreicht bekommen hat. Als der Wecker klingelte, hatte ich noch ein Lächeln auf den Lippen. Dies änderte sich schlagartig, als ich in der Wachwelt ankam und die Geschehnisse des Vortages mein Bewusstsein in Anspruch nahmen. So ähnlich war es mir nach der Trennung von Ronny gegangen, wenn ich morgens aufwachte, mich wohl fühlte, dann das leere Kissen neben mir sah und der Schmerz aufstieg. Ich stand auf, trank ein Glas kalten grünen Tee, zog mir Jeans und einen alten Pulli an und ging mit dem Hund raus. Es war noch früh, zu früh für die Post, trotzdem schaute ich in den Briefkasten. Er war leer. Ein Nieselregen so dünn wie Nebel lag über der Stadt. Ich setzte mir ein Base-Cap auf und ließ Mikey die Route bestimmen. Wir gingen die Straße hoch in Richtung Waldweg. Von dort aus konnte man stundenlang über ein Netz von Wegen und Pfaden wandern, ohne einem Menschen zu begegnen. Das erste Mal seit ich in dieser Stadt lebte, war mir der Spaziergang nicht geheuer. Ich rief den Hund zurück, der schon den asphaltierten Weg in den Wald hochpreschte. Dann tat ich das, was alle berufstätigen Hundebesitzer hier tun, wenn sie sich unbeobachtet fühlen - wir gingen in den kleinen Park hinter dem Kinderspielplatz, der besonders beliebt bei den Goslarschen Jugendlichen ist. Der Park ist oval, und alle zehn Meter findet sich eine zurückgesetzte Bank, die durch geschickte Gebüschpflanzungen vor den Blicken der Nachbarbank geschützt ist. Früher galt dieser Park als idealer Ort für intime Rendezvous, in den letzten Jahren wurde er aber wohl häufiger für Einführungen in den Drogenmissbrauch genutzt. Die Menge an kleinen Wodka- und Jägermeisterfläschchen, Rotwein-Tetrapacks und leeren Klebstoffverpackungen überfüllte die Metall-Papierkörbe und legte stummes Zeugnis ab. Ich setzte mich auf die Lehne einer Bank, um mir die Hose nicht schmutzig zu machen und Mikey schleppte einen kleinen Ast an. Er liebte Wurfspiele und wurde nie müde, Stöckchen zu apportieren. Während er gerade wieder einem fliegenden Ast nachjagte, holte ich das Handy aus der Jackentasche und rief Rita an.
»Morgen, Lilly!« »Hi Rita, es ist etwas passiert. Lass uns in einer Stunde im Büro treffen. Ruf bitte Anni an und sag ihr, sie soll alle Darsteller, die schon in der Stadt sind, für elf Uhr in die Firma bestellen.« »Was ist denn passiert?« »Das möchte ich nicht am Telefon sagen.« Ich wusste, dass Rita Johann sehr gern gemocht hatte. Bei Drehabschlusspartys hatten die beiden immer zusammen gesessen und sich viel zu erzählen gehabt. Ob je mehr daraus geworden ist oder ob es beim Brüderchen/Schwesterchen-Verhältnis geblieben ist, wusste ich nicht. Mikey kam japsend mit dem Stöckchen angetrabt und legte es mir vor die Füße. Seit ich den Hund hatte, war ich zu einer Weitwurfspezialistin geworden. Ich nahm den Stock an einem Ende, holte weit über meinen Rücken aus und schleuderte den Ast mit voller Wucht in den Himmel. Er wirbelte in hohem Bogen über den Park und Mikey preschte mit fliegenden Ohren durch das nasse Gras. Mein nächster Anruf galt Max' Sekretärin. »Guten Morgen, Frau Schröder, hier Lilly DeLight.« Ich bemühte mich um einen gelassenen Tonfall. »Haben Sie eine Ahnung, wie mein Mann heute verplant ist? Ich habe ihn noch gar nicht gesehen, seit ich zurück bin.« »Morgen, Frau DeLight. Hatten Sie eine gute Reise?« »Ja, Danke.« »Ja also, Ihr Mann hat heute drei Termine außer Haus, will aber spätestens um zehn ins Büro kommen. Gestern hat er seinen Termin um siebzehn Uhr verpasst. Der Klient hat angerufen und sich beschwert. Ich hab mich schon gefragt, ob etwas passiert ist.« »Hat er sich denn nicht mehr bei Ihnen gemeldet, um den Termin abzusagen?« »Das hätte ich doch natürlich weitergeleitet.« Überhebliche Zicke. »Nein nein. Ich habe versucht, ihn auf dem Handy zu erreichen, aber das war ausgestellt.« »Wenn Sie ihm bitte ausrichten würden, dass er sich bei mir melden soll.« »Natürlich.« »Danke, Frau Schröder.« »Auf Wiederhören.« Der dritte Anruf war der schwierigste. »Bartels, guten Morgen.« Das sprach er mit einer solchen melodischen Fröhlichkeit aus, dass ich den Impuls verspürte, sofort aufzulegen.
»Gerd, hier ist Lilly. Ich bringe schlechte Nachrichten.« Er nahm es gefasst. Die Sache mit der Puppe verschwieg ich ihm auf Anraten von Kommissar Klein. Sie wollten diese Information verheimlichen, um so die Spinner auszusortieren, die sich zu einem Mord bekannten, nur um ein bisschen Aufmerksamkeit zu bekommen. Diesen Schachzug kannte ich zwar aus vielen Psychothrillern und Hollywood-Filmen, aber die Vorstellung, dass es solch kranke Seelen auch im Vorharz geben sollte, erschreckte mich. Außerdem war der Aspekt mit der Puppe so krank, dass Bartels es nicht mit seinem Berufsethos hätte vereinbaren können, sie nicht an die Öffentlichkeit zu bringen. »Leben seine Eltern eigentlich noch? Das muss doch das Schlimmste sein, wenn man sein eigenes Kind überlebt.« »Das dachte ich gestern bei Elke Brenner auch.« Als ich »gestern« aussprach, wunderte ich mich selbst, dass nicht einmal vierundzwanzig Stunden vergangen waren, seit sie überfahren wurde - es war in der Zwischenzeit so viel passiert. »Seine Eltern hatten jeden Kontakt mit ihm abgebrochen - Bisex und Porno passten nicht so recht in ihr religiöses Konzept.« »Die Welt ist immer noch voll von bigotten Kotzbrocken. Den Sohn aufgeben, das können sie mit ihrem Glauben verantworten, aber dass er sexuell flexibel ist, nicht.« »Söhne aufgeben hat ja schließlich biblische Tradition. Ich kann mir genau vorstellen, wie die jetzt reagieren werden - die verbuchen das als Strafe Gottes und das war's dann. Scheinheiliges Pack!« »Du hast Recht, das sind widerliche Menschen, aber diese Generation ist vom Aussterben bedroht. Im Abendland zumindest. Da soll noch einer über das Privatfernsehen meckern, aber wenn es irgendwas bewirkt hat, dann, dass es Sex enttabuisiert.« »Soweit das möglich ist«, warf ich ein. Auch wenn ich eine Florence Nightingale auf dem Gebiet der Enttabuisierung des Sex war, machte ich mir nichts vor, denn es gab zwei Dinge, die nicht vollständig zum Entmystifizieren taugten: der Sextrieb, der so archaisch war, dass man sich immer wieder darüber wundern musste, wie sehr einem die eigene Triebhaftigkeit durch den Lebensplan pfuschen konnte, und der Tod. Leben schenken und Leben verlieren - das A und O der menschlichen Existenz. Die Grundbausteine des Seins. Etwas so Rohes, etwas so Elementares kann man nicht entzaubern, und mein Ziel war es auch nicht, Sex zu banalisieren, sondern einen unverklemmteren Umgang mit der eigenen Sexualität zu propagieren. »Wenn die nicht irgendwann bei RTL und Sät 7 die Schmuddel-Softpornos aus den Siebzigern ausgegraben hätten, dann wäre heute keine Werbung möglich, in der Iris Berben die Beine breit macht.« Auf Bartels Seite des Telefonhörers klickte ein Feuerzeug und ich roch im Geiste das Vanille-Aroma seiner Zigaretten. »In zehn Jahren machen sie dann wahrscheinlich Spots mit den Jungs von Echt, nur diesmal ohne Schlüpfer!«
Bei der Vorstellung mussten wir beide lachen. Das erste Lachen, seit das HorrorSzenario seinen Lauf genommen hatte. Es fühlte sich gut an. Mikey kam mit seinem Stock und wir gingen zurück in Richtung nach Hause. »Ich werde ihm eine gute Geschichte schreiben. Das ist das Mindeste, was ich tun kann.« »Das find ich schön.« »Er hat noch in Goslar gewohnt?« »Ja, er ist zum Studium nach Clausthal gefahren, aber seine Wohnung ist in Goslar.« »Na dann hoffe ich, dass du mit mir in der Altstadt einen Kaffee trinken gehst, wenn ich komme.« »Na klar! Ruf an, wenn du hier bist!« »Hast du eine Ahnung, wer so etwas Krankes tun würde?« »Nicht die geringste, Gerd.« »Heute schon die Schlagzeilen gesehen?« »Nein, hab ich gar nicht dran gedacht.« »Na dann geh mal zum Kiosk! Ach - und Lilly, du würdest es mir doch nicht vorenthalten, wenn du ein Baby bekommst, oder?!« »Gerd - du wärst der Zweite, der es erfährt. Keine Sorge.« Als wir auflegten, war ich auf Höhe des Wanderpfades in den Wald angekommen. Es war dort so düster, als sei es später Abend. Ich ertappte mich dabei, wie ich meinen Gang beschleunigte. Bild, BZ und die Hamburger Morgenpost hatten meinen Rücktritt für titelseitentauglich befunden: LILLY: »GRETA IST 'NE PORNO-OMA« DELIGHT LIGHT: PORNO-QUEEN FÜHRT NUR NOCH REGIE SCHADE, LILLY: NUR NOCH SEX MIT MAX In den restlichen Tageszeitungen fiel ich unter die Rubrik »Vermischtes«. Nur in der Goslarschen kam ich auf der Seite »Rund um die Welt« gar nicht vor. Ich weiß nicht, ob es ihnen peinlich war, dass ich Goslarerin war, oder ob sie mir aus nachbarschaftlicher Loyalität eine Sonderbehandlung angedeihen ließen, indem sie nicht über mich berichteten. »Die ändern Meldungen kriang ma vom Schnipseldienst«, sagte Anni und tat sich vier Stück Süßstoff in ihren Kaffeebecher, auf dem das Logo vom Melrose Place prangte. Als RTL die Serie vor ein paar Wochen abgesetzt hatte, war sie mehrere Tage lang mit verheulten Augen ins Büro gekommen, bis Rita ihr über das Internet einen kompletten Satz Videotapes von der ersten bis zur letzten Staffel besorgt hatte.
»Haben Sie die Crew wegen des Elf-Uhr-Termins verständigt?« »Ich habe bei allen Nachrichten hinterlassen und sie in den großen Konferenzsaal bestellt. Die Kantine macht Schnittchen.« »Sehr gut. Hat sich mein Mann zufällig schon gemeldet?« »Nicht hier bei mir. Sagen Sie Lilly: Ist das wahr, was ich bei der Frauke Ludowig gehört hab? Ist da eine kleine Familie in Planung?« »Anni, Sie dürfen nicht alles glauben, was man im Fernsehen sagt. Seien Sie so gut und rufen Sie Arne an.« Arne war einer unserer beiden festeingestellten SkriptAutoren. Seine Kollegin Julia war noch im Urlaub auf Ibiza, wo sie sich im Nachtleben zweifellos Anregung für den Party-Orgien-Film holte, der als mein zweites RegieProjekt auf dem Drehplan stand. »Sagen Sie ihm bitte, dass die beiden Szenen mit dem Elfenbein-Dildo rausfliegen er soll sich was anderes ausdenken - und bitte nichts mit Gummipuppen.« Nach dem, was ich in der letzten Nacht erlebt hatte, wollte ich nicht mehrere Stunden lang mit einem körperlosen Schwanz zu tun haben. »Eine Gummipuppe in einem historischen Porno - na das war ja was ...« Sie kicherte. Es war wirklich nicht nahe liegend anzunehmen, dass Arne eine Gummipuppe in den Film einbauen würde, denn das Projekt, das wir am nächsten Tag angehen würden, beruhte auf einem lang gehegten Traum von mir: Ich wollte unbedingt einmal einen atemberaubend-opulenten Ausstattungsporno drehen. Damit sich das Ganze rentieren würde, war eine Soft- und eine Hardcore Version geplant. Der Soft-Film würde Anfang nächsten Jahres als Film-Film-Welturaufführung - »Highlight der Late Night« - auf 1V1 laufen und schon vier Wochen später im Director's cut in unseren Videovertrieb gehen. Die Verhandlungen mit TV1 waren noch nicht abgeschlossen, aber der Vertragsabschluss stand kurz bevor. Die Hardcore-Variante war so supereuropäisch konzipiert, dass sie uns den asiatischen Markt öffnen sollte, auf dem die Lilly DeLight GmbH noch nicht flächendeckend vertreten war. Die asiatischen Touristen liebten den historienschwangeren Harz, das sah ich jeden Tag und, da ich möglichst nah bei Max sein wollte, verfiel ich für meinen SuperPorno auf die Geschichten um die Harzer Brocken-Hexen. Ein einsames Haus im Wald, an dem ich oft auf Spaziergängen mit Max und Mikey vorbeigewandert war, hatte mich ursprünglich auf den Gedanken gebracht. Es war ein zweigeschossiges Fachwerkhaus und stand krumm und schief auf einer verwilderten Wiese. Max kannte dieses Gebäude noch aus seiner Kindheit als das »Krumme Haus« und erzählte, dass seine Eltern ihn einmal an einem Sonntagsspaziergang dort mit hingenommen und ihm vor Ort das Märchen von Hansel und Gretel erzählt hatten. Danach hatte er jahrelang Albträume, in denen seine Eltern ihn in einen Käfig steckten und er eine alte Hexe die schiefen Treppen herunterstapfen hörte. Er wachte jedes Mal auf, bevor die Hexe an seinem Käfig angekommen war. Das Haus war nach langem Leerstand in den Siebzigerjahren unter zähem Ringen mit dem Denkmalschutz in ein Ausflugslokal verwandelt worden, lag aber zu weit abseits
und hatte sich nicht rentiert. Tagesausflügler waren die einzige Klientel, nachts wollte sich niemand auf den Weg durch den Wald machen, um ein Feierabendbier zu trinken. Wenn man seinen Wagen auf dem Parkplatz abgestellt hatte, musste man noch anderthalb Kilometer zu Fuß zurücklegen, um ins Krumme Haus zu gelangen. Im Winter waren die Waldwege für Autos oft unpassierbar - mit der Problematik hatte selbst meine Firma zu kämpfen, da die schmale Straße die zu unseren Gebäuden führte zu den letzten gehörte, die im Winter geräumt wurde. Lediglich der Inhaber des Restaurants hatte eine Sondergenehmigung, bis an das Haus heranfahren zu dürfen. Der Besitzer war ein Schwede, der sich in den Harz und das Krumme Haus verliebt hatte. Als Nicht-Einheimischer hatte er es nicht leicht - die Harzer sahen es nicht gern, dass ein Fremder sich ohne Einheiratung auf ihrem Terrain breit machte und an den Touristen verdiente. Folglich boykottierten sie das Lokal. Ohne örtliches Stammpublikum kann nicht einmal das bestgehende Ausflugslokal bestehen. Der Schwede hielt immerhin zwei Jahre aus, dann waren seine Finanzreserven aufgebraucht und er sah keinen anderen Ausweg, als sich zu erschießen. Als ich diese Geschichte hörte, kam sie mir vor wie eine moderne Variante der Hexenverfolgung, und ich beschloss, dass es dieses Haus sein müsste, in dem der Hexen-Porno spielen sollte. Nach dem Selbstmord des Besitzers war das Grundstück an eine Erbengemeinschaft gefallen, die sich nicht einigen konnte und jahrzehntelang prozessierte, bis sie sich armgestritten hatten. Über Max' Büro boten wir eine verlockende Location-Miete für die Dauer eines Monats, die zumindest einen Teil der aufgelaufenen Prozesskosten decken würde, und hatten in kürzester Zeit die Zusage aus Schweden. Zusätzliche Szenen würden wir in den Wäldern um das Haus drehen, und für Einstellungen, die wir nicht an Originalschauplätzen filmen konnten, hatte ich ein kleines Studio, das im Kellergeschoss des Gutshauses untergebracht war. »Ist das Equipment schon ins Krumme Haus befördert worden oder müssen wir morgen noch etwas mitnehmen?« »Der Regieassistent fährt heut Abend mit dem Rest hoch in den Wald und bleibt über Nacht da, damit nix gestohlen wird. Und bis zweiundzwanzig Uhr sind die Ausstatter da. Haben Sie schon die Polaroids gesehen? Sieht grauslig schön aus.« »Das hat der Adrian gemacht, der arbeitet sonst als Schaufensterdekorateur!« »Der Mann hat eine Zukunft beim Film!« Anni hatte Recht. Adrian war ein Glücksgriff gewesen. Als ich mit Rita in der Handarbeitsabteilung von Karstadt Stoffe für die Dekoration ausgewählt hatte, war er auf uns aufmerksam geworden und hatte uns Tipps gegeben, wie die Stoffe optimal zu beleuchten seien und welche Farben auf Film überhaupt funktionieren würden. Als ich merkte, dass er Know-how und Einfühlungsvermögen hatte, bat ich ihn, einen Set zu entwerfen, und sein Design übertraf meine kühnsten Erwartungen. Nicht genug damit, konnte er uns eine Schneiderin empfehlen, bei der ich die Kostüme in Auftrag gab. Sie war eine Landwirtsfrau, die nicht nur perfekt nähen konnte, sondern sogar speziell für die Anforderungen dieses Films einen Klettverschluss entwickelte, der sich nicht mit dem charakteristischen Velcro-Geräusch aufreißen ließ, sondern ein
Geräusch erzeugte, das tatsächlich wie reißender Stoff klang. In diesem Film gab es jede Menge Szenen, in denen sich die Darsteller die Kleider vom Leibe rissen, und wenn wir jedes Mal das Geräusch hätten nachvertonen müssen, hätten wir tagelang mit der Nachsynchronisation verbracht. Ich bezahlte sie großzügig und empfahl ihr, sich die Erfindung patentieren zu lassen. Rita hatte unterdessen Kontakt mit dem Management der Chippendales und der California-Dream-Men hergestellt, für die ein solches Novum ebenfalls hochinteressant war. Lilly DeLights Hexen war nicht gerade als Hexenverfolgungsdrama konzipiert - ich war ja schließlich nicht das Schulfernsehen. Im Mittelpunkt standen drei Frauen, die »mit der Natur in Einklang lebten« wie man so schön sagt. Newage-Tussis eben, allerdings weit dem Newage voraus. Ihre Zauber funtkionierten! Die Damen kochten keine Kräutertees, sondern riefen Geister, die auch kamen, und zwar im doppelten Sinne des Wortes. Denn was drei einsame Frauen, die in einem krummen Haus im Wald leben, für Zauber veranstalten, liegt auf der Hand: Liebeszauber, was sonst? Erotische Beschwörungen, orgiastische Riten. Sex als transzendentales Erlebnis, als ausschweifender Rausch. Ich hatte die Handlung nicht im Mittelalter angesiedelt, sondern im frühen 19. Jahrhundert - da gefielen mir die Kostüme besser. Die drei Frauen waren inspiriert von den englischen Bronte-Schwestern, die Mitte des 19. Jahrhunderts ihr Dasein in einem englischen Pfarrhaus gefristet hatten und aufgrund ätzender Langeweile die Weltliteratur um Werke wie Die Sturmhöhe und Jane Eyre bereichert hatten. Meine Film-Frauen hatten sich als Steckenpferd die Hexerei auserkoren, denn ein Porno um drei Frauen, die Haferschleim essen und nie Sex haben, wäre nicht gerade Hitmaterial. Und, muss ich das dazusagen? Natürlich waren die drei bei mir weder verwandt noch verschwägert... Für die Hauptrollen hatte ich mir meine Lieblingsschauspielerinnen ausgesucht: Simone Engel, die Anfang zwanzig und deren Name Programm war. Dies war erst ihre dritte Produktion, aber ihr Ruf hatte sich in der Branche schon herumgesprochen. Wenn es ein Mädchen mit Starpotenzial gab, dann war sie es. Sie hatte die Unschuld von Winona Ryder: die großen Rehaugen, die bei ihr allerdings veilchenblau ausfielen, nicht braun, und auch den wunderbaren Körperbau des Hollywood-Stars. Sie war eins fünfundsechzig groß, schlank, fast zierlich, sehr blass und hatte einen üppigen, schweren Busen, wie ihn nur die Natur formen konnte. Ihr Haar war rückenlang, glatt und schwarz gefärbt. Bei den Kostümproben waren alle Anwesenden in spontanen Applaus ausgebrochen, als sie in einem bordeauxroten Samtkleid mit üppigem Dekolletee und weitschwingendem Rock aus der Umkleide gekommen war. Sie sah aus, als wäre sie plötzlich in der Epoche angekommen, für die sie geschaffen war. Ihre ältere Mitbewohnerin besetzte ich mit Dana Donner, die einen etwas gröberen Typus verkörperte. Unzählige Stunden in Fitness-Centern hatten ihren Körper gestählt. Ihre Stimme klang nach Whiskey und mehreren Schachteln Zigaretten am Tag. Sie trug ihr braunes Haar streichholzkurz und sah ungeschminkt fast männlich aus, was an ihren schmalen Lippen und der im Verhältnis übergroß proportionierten Nase lag. Ihr Freund war Tattookünstler und Dana seine liebste Leinwand. Das Auftragen des Body-Make-up dauerte folglich bei ihr zirka zwei Stunden.
(Wenn ihre Tattoos auch in anderen Produktionen sehr geil inszeniert werden konnten, in diesem Film waren sie fehl am Platz.) Dana Donner war natürlich ein Künstlername - im wahren Leben war sie auf Undine Sack getauft. Manche Eltern denken einfach nicht mit ... Aufgrund frühkindheitlicher Harne hatte Dana/Undine einen derben Humor .und die schmutzigste Lache entwickelt, die ich in meinem Leben je gehört hatte. Man musste sie einfach mögen. Als Dritte im Bunde hatte ich Edith LaPoitrine vorgesehen. Sie war Belgierin und schon Mitte vierzig. Hauptberuflich führte sie eine gut gehende Strandbar auf Ibiza. Filme waren für sie in erster Linie ein Hobby, in zweiter Linie eine Möglichkeit, ihr anderes kostspieliges Hobby zu finanzieren: Ihre jugendlich straffe Gesichtshaut war nicht das Produkt eines gesunden Lebensstils ... Edith war ein OP-Junkie und hatte alles ausprobiert, was die moderne Schönheitschirurgie anzubieten hat. Leider hatte sich herausgestellt, dass sie auf die Botox-Spritzen, die ihr die Stirn glätten sollte, allergisch reagierte und lief nun mit einer Schwellung im Gesicht herum, die höchstens für einen Frankenstein-Darsteller entschuldbar war. Sie war noch nicht wieder in Form, als die Dreharbeiten beginnen sollten. Wenn auch nicht vom Wesen, so war ihr Pam Anders zumindest vom Typ sehr ähnlich. Blondiert und üppig. Obwohl ich wusste, dass sie das gesamte Team nerven würde, blieb mir nichts übrig, als sie zu engagieren. Sie hatte Zeit, war willig und billig. Es kann nicht immer Beluga-Kaviar sein, manchmal muss man sich eben mit Rogen begnügen. Neben den drei zentralen Figuren gab es noch eine ganze Schar von kleineren Rollen. Ein Höhepunkt des Films sollte die Massenorgie anlässlich der Walpurgisnacht sein. Diese Szene hatte ich für die erste Drehwoche angesetzt, da Orgien grundsätzlich eine gute Gelegenheit sind, miteinander warm zu werden. Ich hatte zwei Dutzend Schauspielerinnen und Schauspieler verpflichtet. Ronny hatte ich als eine Art Dämon besetzt - er war der Geist, den die drei Frauen beschwörten und der schließlich Gestalt an nahm und sich durch den Film vögelte, froh, einen menschlichen Körper bewohnen zu dürfen. Aber er war keine HorrorFigur wie im Gruselfilm, sondern eine gutmütige Gestalt. Ein Bacchus, ein Faun, kein Satan. Seine Aufgabe war es, in den anderen Figuren die erotischen Funken zu zünden - was ihm laut Skript durchweg, glückte. Wenn schon ein glorioses Comeback, dann mit Pauken und Trompeten, in Technicolor und 16:9-Format! Die Besetzung der Rolle des Bürgermeisters verdankten wir Anni. Nachdem ich ihr kurz die Charaktere beschrieben und den Bürgermeister als brutalen korrupten Glatzkopf geschildert hatte, sagte sie nur: »Des hört sich an wie Eddie Hart.« Sie konnte ihn nicht ausstehen. Eddie war zweiundvierzig Jahre alt, eins fünfundneunzig groß, ein kahl geschorenes Muskelpaket von sehr eindrucksvoller Statur mit einem geradezu monströs langen und dicken Schwanz. Eddie war aber auch die ewige Nummer zwei. So sehr er sich bemühte, es gab immer einen Mann im deutsche Porno, der größeren Eindruck machte, mehr Fanpost bekam, mit besseren Fotografen arbeitete. Das mochte mit seinem Männerhass zu tun haben - der
Gedanke, eine Szene mit einem Mann zu drehen, war ihm zuwider. So sehr zuwider, dass es sich körperlich bemerkbar machte, oder eher nicht bemerkbar machte: Wenn ein, anderer nackter Mann im Raum war, bekam Eddie keinen Ständer. Logisch, dass seine Einsatzmöglichkeiten beschränkt waren und andere Darsteller mehr Eindruck hinterlassen konnten. Obwohl man es aufgrund seiner pathologischen Homophobie nicht vermuten würde, war er ganz sicher einer der intelligentesten Männer, mit denen ich je gearbeitet hatte. Intelligenz ist allerdings nicht gerade eine Garant, Sympathien zu wecken. Er war hochgradig manipulativ und pflegte nach oben zu schleimen und nach unten auszuteilen. Manche Produzenten bezeichneten ihn als männliche Diva, aber ich finde, bei den meisten Diven ist das Schleimen und Austeilen oft umgekehrt verteilt und bei den wahren Diven erübrigt sich das eine wie das andere. Aufgrund seiner Position als Nummer zwei war er, was seine Kollegen anging, hengstbissig - wenn ich mal einen Begriff prägen darf. Die dritte größere Männerrolle besetzte ich mit einem Anfänger. Frederic war ein französischer Student im Grundstudium an der Bergbau-Uni. Er war mit Johann befreundet und begeistert von dem Gedanken, mit Sex Geld zu verdienen. Seine einzige Sorge war, dass die erzkatholische Familie, aus der er stammte, Wind davon bekommen könnte, aber dieses Risiko nahm er auf sich. Ich rechnete ihm große Chancen aus, dass seine Familie bald Bescheid wissen würde, denn er hatte eine knospende Starqualität, wie sie Ronny seinerzeit mit ins Spiel gebracht hatte. Er war schmal gebaut, aber sehnig muskulös. Sein Haar war pechschwarz, wellig und schulterlang, seine Haut blass und beim Sex rosig schimmernd. Er war ein Frauentyp - im Schwulen-Porno hätte er kaum eine Chance. Seine Karriere würde über kurz oder lang eher in die »seriöse« Schauspielerei führen als in den Porno-StarPantheon. Er hatte eine süße Stimme - vielleicht steckte auch ein zukünftiger PopStar in ihm. Johann hätte einen zarten Priester gespielt, der die Frauen erst für bösartige Satanistinnen hält, sich aber schließlich von ihnen eines Besseren belehren lässt. Sein Part war nicht gerade eine tragende Rolle, aber eine eindrucksvolle. Filmhöhepunkt Nummer zwei war der Fünfer, den der Priester mit den drei Frauen und dem Dämon schob. Doch Johann war tot und wir mussten schnellstmöglich eine Umbesetzung vornehmen. Am nächsten Tag sollten die Dreharbeiten beginnen. »Anni, ich muss etwas mit Ihnen besprechen, sobald Rita hier ist. Wir müssen für morgen umdisponieren.« Sie schaute mich mit ihrem Kulleraugenblick verwundert an. »Sobald sie da ist, legen Sie den Hörer daneben und komme in mein Büro, okay?« »Wird gemacht.« Ich ging in mein Büro und Mikey legte sich auf seinen Stammplatz unter dem Schreibtisch. Ich startete den Computer und kaum, dass ich mich ins Intranet eingeloggt hatte, um Zugriff auf die Schauspieler-Kartei zu bekommen, klingelte das Telefon.
»Ein Herr Klein möcht' Sie gern sprechen.« »Stellen Sie durch, Anni.« »Hallo Herr Klein. Was gibt's Neues?« »Guten Morgen Frau DeLight. Die medizinischen Untersuchungen haben ergeben, dass der Penis tatsächlich von Johann Werner stammt.« : »Ich war mir ziemlich sicher.« »Ist Ihnen noch irgendetwas eingefallen oder im Nachhinein aufgefallen, was mit dem Fall in Verbindung stehen könnte?« »Ich fürchte nein.« »Wir fragen uns natürlich, welche Rolle der - entschuldigen Sie - Fundort des Leichenteils in diesem Fall spielt.« »Das frage ich mich auch. Wieso ausgerechnet mein Pool?« »Der exakte«, er räusperte sich, »Fundort lässt darauf schließen, dass der Täter Ihnen etwas zu sagen versucht, Ihnen Angst machen will. Warum Ihr Garten, warum die Puppe? Es sieht für uns nach einer eindeutigen persönlichen Motivation aus. Es muss ihm klar gewesen sein, wer dieses ...« »... dieses perverse Arrangement?«, schlug ich vor. »Vielen Dank. Wer nun also dieses perverse Arrangement entdecken würde. Auch die Art und Weise wie der Penis an der Puppe angebracht war, wirkt alles andere als zufällig.« Jetzt wo er es aussprach, konnte ich es nicht länger verleugnen. Das schwammige Gefühl von Furcht, das seit dem Tod von Elke Brenner in mir lauerte und nur darauf wartete, in den Vordergrund meines Bewusstseins zu treten und von mir Besitz zu ergreifen. Wenn Angst ein Raubtier war, dann hatte Klein ihr gerade einen fetten Brocken Frischfleisch in den Käfig geworfen. »Ich glaube, ich weiß worauf Sie anspielen. Sagen Sie es ruhig der Schwanz steckte falsch rum drin.« »Exakt.« Er klang hörbar erleichtert. »Hätte der Täter die Puppe symbolisch penetrieren wollen, dann hätte er die Eichel in die Vagina eingeführt und nicht den Schaft.« »Das ist richtig, Herr Klein, aber einen Faktor lassen Sie außer Acht: Wenn die Eichel eingeführt worden wäre, dann hätte ich den Schwanz nicht sofort erkannt. Johanns Eichel war, wie Sie ja gesehen haben, sehr charakteristisch geformt.« »Wir müssen uns also die Frage stellen - warum sollten ausgerechnet Sie das Leichenteil identifizieren und inwiefern wollte der Täter Ihnen durch die Position des Penis eine Botschaft vermitteln?« »Aber, was um Gottes willen soll das für eine Botschaft sein?«
»Wenn wir das wüssten, wären wir einen Schritt weiter. Mein erster Gedanke war die Androhung von Vergewaltigung, aber dann hätte der Täter den Schwanz anders herum eingeführt.« »Ich habe mich furchtbar erschrocken, aber wenn ich darüber nachdenke, dann sah es eher aus wie ein Kunststück, nicht wie etwas, was man im Amoklauf tut. Ein ganz krankes Kunststück natürlich. Nicht, dass mich das erleichtert.« »Sobald Sie die leiseste Vermutung haben, wie wir dieses Szenario zu deuten haben, zögern Sie nicht, sich mit uns in Verbindung zu setzen. Ach, und Frau DeLight, noch etwas anderes. In den Radio-Nachrichten wurde heute Morgen berichtet, dass gestern nach Ihrer Pressekonferenz in Berlin eine Journalistin namens ...« »Elke Brenner.« »Richtig, Elke Brenner. Sie wurde umgebracht.« »Ich habe in Berlin schon mit zwei Kommissarinnen darüber geredet.« »Sie waren Zeugin des Vorfalls?« »Leider, ja.« »Sehen Sie irgendeinen Zusammenhang zwischen den beiden Verbrechen?« Meine Güte, das war mir noch gar nicht in den Sinn gekommen. »Das kann ich mir nicht vorstellen.« »Sie schließen eine Verbindung aus?« »Ausschließen kann ich es nicht, aber ich sehe keinen Zusammenhang. Elke Brenner und Johann - ich glaube nicht, dass die beiden sich je begegnet sind.« »Es ist eine sehr merkwürdige Häufung von Ereignissen, auch in Anbetracht des Verschwindens Ihres Mannes. Oder ist er mittlerweile wieder aufgetaucht?« »Nein, Herr Klein. Das ist er nicht.« »Ich werde im Laufe des Tages in seinem Büro vorbeigehen und mich mit seinen Mitarbeitern unterhalten. Falls Sie diese schon einmal von der Situation in Kenntnis setzen möchten, tun Sie das.« Was ein kleines viersilbiges Wort an Komplexität birgt... Ich verlor langsam den Überblick über die »Situation«. Was sollte ich Frau Schröder erzählen? Max ist weg, weil a) wir einen Streit hat ten oder b) er einem Irren in die Hände gefallen ist oder c) daran wollte ich gar nicht anfangen zu denken. Dass Max für den Mord an Johann verantwortlich sein könnte, stand nicht zur Debatte Ich kannte doch meinen Mann, der wäre zu so einer Tat einfach nicht fähig. »Wir werden sein Autokennzeichen eingeben und nach dem Wagen fahnden. Wir haben bereits alle umliegenden Krankenhäuser kontaktiert, allerdings ohne Resultat.
Ab sechzehn Uhr weiten wir die Suche auf Hotels in Goslar und dem Umland aus Frau DeLight - es tut mir Leid, aber ich muss Ihnen diese Frage stellen - hatten Sie vor seinem Verschwinden eine Auseinander Setzung mit Ihrem Ehemann?« Verdammt. Wenn sie dachten, er hätte mich sitzen gelassen, würden sie die Sache wahrscheinlich nicht mit dem nötigen Einsatz verfolgen. Sie würden glauben, ich sei eine hysterische Kuh mit schlechtem Gewissen, die ihren Mann keifend aus dem Haus getrieben hat und ihn jetzt mit Tatütata zurückgeliefert bekommen will. Es sind Sekundenbruchteile, in denen man eine falsche Entscheidung trifft. Und in diesem Bruchteil einer Sekunde tat ich etwas sehr Dummes. Ich log. »Nein. Nicht dass ich wüsste.« Ich spürte, wie ich rot wurde. Ich saß allein hinter meinem Schreibtisch und schämte mich, den sympathischen Bullen belogen zu haben. »Ich melde mich, sobald ich Neuigkeiten habe. Und ich hoffe, dass es gute Neuigkeiten sein werden.« Wie gut kennen wir die Menschen, die uns nahe stehen, wirklich? Wie genau können wir ihr Verhalten einschätzen, ihre Gefühle kalkulieren? Es machte mich verrückt, dass ich keine konkrete Antwort darauf fand, was mit Max geschehen sein könnte. Und in welcher Form sein Verschwinden und der Mord an Johann miteinander verknüpft sein mochten. Mir fiel ein blöder Filmtitel aus der Ära Oswald Kolle ein Dein Mann, das unbekannte Wesen. Wer trägt schon einen Stempel auf der Stirn, der ihn als Amokläufer oder Ehebrecher oder Mörder ausweist? Ich hatte mit Kollegen gearbeitet, die ihren Job ihren Familien gegenüber verheimlichten. Porno war für sie ein Paralleluniversum, eine Zweitexistenz, in der sie sich ganz anders geben konnten als in ihrem Familienleben. In manchen Fällen war dieser Spagat sogar erfolgreich. Nadine, eine der Darstellerinnen, die ich für zwei Drehtage für die Hexen-Produktion gebucht hatte, behauptete ihren Eltern gegenüber, sie sei Flugbegleiterin. Deshalb auch die bunten Postkarten, die sie von Locations auf der ganzen Welt nach Hause schickte. Es war höchst unwahrscheinlich, dass ihre Eltern je die Wahrheit über sie erfahren würden, und selbst wenn sie sie einmal in einem Soft-Porno im Fernsehen zu Gesicht bekämen, würden sie sich sicherlich eher über die gespenstische Ähnlichkeit der Frau im Fernsehen mit ihrer Tochter wundern, als sich die Frage zu stellen: »Was macht Nadine zwischen den Beinen dieses Mannes?« Die meisten Menschen sehen nur, was sie sehen wollen und beurteilen die Welt nach den Erlebnissen, von denen sie selbst geprägt worden waren. Wahrheit ist das, was mit der eigenen Erfahrungswelt kompatibel ist. Man mochte vielleicht seine Eltern täuschen können, aber wenn man mit jemandem zusammenlebte - wie lange könnte man eine Täuschung aufrecht erhalten? Doch sicherlich nicht über Jahre hinweg. Ich konnte mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass Max noch eine andere Seite hatte, von der ich bislang nichts wusste - wir kannten einander in- und auswendig. Wir hatten uns nichts zu verheimlichen, und wenn, dann kam es schnell heraus, wie die Erfahrung mit Ronnys Brief gezeigt hatte. Und wenn ich Recht hatte, dass Max nichts mit dem Mord zu tun hat, dann gab es nur noch zwei Möglichkeiten, was mit ihm geschehen war. Er schmollte und
hatte sich verzogen - wenn dem so wäre, dann würde er wieder auftauchen, sobald er die Radionachrichten hörte und mitbekam, was hier vonstatten ging. Wenn er innerhalb der nächsten Stunden verschwunden bliebe, dann konnte das nur bedeuten, dass ihm etwas zugestoßen war. Es ist der Normalfall, den Lebensweg in den Bahnen des Vorstellbaren abzureisen. Nähme man das Unvorstellbare als Maßstab, könnte es passieren, dass man aus den Gleisen geschleudert würde. War man plötzlich mit dem Unvorstellbaren konfrontiert, galt es, sich fest anzuschnallen und sich in den Sitz zu drücken, um den Horrortrip heil zu überstehen. Ich öffnete die Schreibtischschublade und holte eines meiner Fläschchen mit Bachblüten-Tropfen heraus. Es war noch randvoll und trug die Aufschrift »Notfall«. Rita und Anni saßen mir kalkweiß gegenüber. »Nein, nein. Das gibt es doch nicht.« Anni schüttelte den Kopf. Ritas Gesicht war zur Maske erstarrt. »Der Johann, um Gottes willen ...« Ritas Stimme hatte den Klang von Glasscherben. »Ich will nicht zu hart klingen, aber, wenn ihr heulen müsst, dann tut es jetzt, bevor die anderen da sind. Ich will keine Massenhysterie im Team. Das ist übrigens noch nicht alles. Max ist seit gestern Nachmittag verschwunden. Keiner weiß, wo er ist, und ich habe selber nicht die geringste Ahnung, was mit ihm los ist. Wenn die Presse davon Wind bekommt, werden sie in null Komma nichts einen Zusammenhang basteln. Den es natürlich nicht gibt - das muss ich euch ja wohl nicht sagen.« Die beiden nickten matt. Ich ließ sie die Nachrichten verdauen und schenkte ihnen eine Tasse Melissentee ein. »Wir werden in den nächsten Tagen nicht nur die Polizei hier haben, sondern auch einen Haufen Journalisten.« »Ich weiß, es ist hart, aber wir müssen Morgen mit dem Dreh anfangen. Anni, du musst den Drehplan umstellen und die Szenen mit Johann so weit wie möglich nach hinten schieben. Am Besten noch bevor die Crew kommt, damit wir mit ihnen die neuen Termine gleich abstimmen können. Rita - wir schauen die Kartei durch und suchen einen Schauspieler, der für Johann einspringt. Und beten, dass wir jemand finden, der so kurzfristig disponieren kann.« »Dann legen wir am Besten gleich los.« Rita nippte an ihrem Tee und verzog das Gesicht. »Was sage ich der Presse, wenn sie anrufen?« »Lilly DeLight ist sehr betroffen von den Geschehnissen, erklärt den Hinterbliebenen von Johann Werner ihr aufrichtiges Mitgefühl, kann aber zu diesem Zeitpunkt keinen weiteren Kommentar abgeben. Anni, schick einen Blumenstrauß mit Karte an diese schrecklichen Eltern.« »Damit wird sich die Presse nicht abspeisen lassen.« Rita hatte Recht.
»Natürlich nicht. Sie werden sich an euch wenden, an die Nachbarn, die Bürgermeisterin, den Postboten und an sämtliche Mitarbeiter, die sie vor die Linse kriegen.« »Die müssen gebrieft werden.« »Mei, die wissen doch gar nix, was soll'n die scho sogn?« »Das ist das Problem - die wissen nichts, also können sie nur spekulieren. Und das kann zum Problem werden.« »Wie spät ist es?« »Kurz vor zehn.« »Dann haben wir noch eine Stunde bis zur Versammlung.« Das Erste, was mir auffiel, als ich die Kantine betrat, war, dass Ronny fehlte. Ansonsten waren der komplette Drehstab und sämtliche Mitarbeiter der Firma versammelt, vom Cutter bis zum Pförtner, vom Starlet über den Regieassistenten bis zur Küchenhilfe. Pamela stand mit Eddie am Büfett und hatte Schnittchen in beiden Händen. Am Fenster zum Hof stand Tim und starrte mit einem fasziniertabgestoßenen Blick auf Pamelas kaputtes Haar. Ihre Augenringe waren selbst durch das dick aufgeschichtete Make-up sichtbar und ein eindeutiger Beweis für einen Kokshangover. Dana hatte innerhalb der Viertelstunde, die wir hier versammelt waren, drei Zigaretten geraucht. Frederic saß zwischen Dana und Simone. Alle drei sahen aus, als würden sie gleich anfangen zu weinen. »Ich weiß, wie spannend es sein kann, ein Fernsehinterview zu geben, aber ich möchte euch bitten daran zu denken, dass ein viertelstündiges Gespräch auf drei Sätze zusammengeschnitten wird und ihr deshalb genau darauf achten solltet, was ihr erzählt.« Rita war sehr gutmütig mit den Angestellten und wusste genau, welcher Ton der beste war - das war ein Grund für ihre Beliebtheit. »Wenn ihr das Gefühl habt, dass es euch überfordert, und das wäre weiß Gott keine Schande - dann sagt >kein Kommentare« Ich mischte mich ein: »Um es noch einmal auf einen Punkt zu bringen. Die Fakten sind die folgenden: erstens Johann Werner ist ermordet worden und zweitens mein Mann ist unauffindbar. Ihr alle habt Max erlebt und wisst, dass da kein Zusammenhang bestehen kann. Ich kann und will euch nicht verbieten, der Presse Auskunft zu geben, aber bitte behaltet im Hinterkopf: Wir haben einen Film fertig zu stellen, und ich möchte nicht, dass die Arbeit daran durch das Verbreiten von Gerüchten oder Spekulationen erschwert wird. So schlimm es ist - die Rolle von Johann muss umbesetzt werden und wir sind für Vorschläge dankbar.« »Wir müssen davon ausgehen, dass Johanns Familie die Schuld an seinem Tod der Porno-Industrie zuschieben wird. Einige von euch kennen seinen Background. Es hängt viel davon ab, wie ihr euch präsentiert, denn ein Teil der Medien wird die
ganze Branche unter Beschluss nehmen und versuchen, uns alle, die wir hier versammelt sind, moralisch zu verurteilen. Es liegt also auch an euch, dieses Bild gerade zu rücken und deshalb noch einmal: ein >kein Kommentar< ist in einigen Fällen dienlicher als ein unkontrollierter Redefluss.« Als Rita das sagte, bedachte ich Pamela mit einem eindringlichen Blick und sie senkte die Augen. Ich ließ meinen Blick zu Tim wandern. Er schaute selbstvergessen aus dem Fenster. »Soviel also zum Umgang mit der Presse. Lilly, hast du noch etwas hinzuzufügen?« Rita schaute mich fragend an. »Sollte sich jemand bei euch erkundigen, ob ich tatsächlich schwanger sei, könnt ihr ruhigen Gewissens sagen, das sei nichts als ein Gerücht. Anni wird euch jetzt die überarbeiteten Drehpläne geben und ich hoffe, dass die Terminänderungen für euch akzeptabel sind. Wenn nicht, dann sagt es bitte gleich, damit wir noch Zeit haben, umzudisponieren. Der Drehbeginn wird nicht verschoben, das heißt wir beginnen Morgen um zehn Uhr mit den Dreharbeiten im Krummen Haus.« Pamela meldete sich zu Wort. »Vielleicht hat Rolf Wagner Zeit, Johanns Rolle zu übernehmen.« »Rolf haben wir noch nicht erreichen können.« Rita log diplomatisch. Wir hatten Rolf noch gar nicht kontaktiert. Er kam wirklich nur im Notfall in Frage. Er war PitbullBesitzer, grobschlächtig und laut und überhaupt nicht für den Part des Priesters geeignet. »Das war's jetzt von unserer Seite. Wenn ihr noch Fragen oder Vorschläge habt, dann kommt in mein Büro.« Ich stand auf und wandte mich an Anni. »Ruf bitte im Kaiserworth an und erkundige dich nach Ronny Ich drehe durch, wenn noch ein Mann verschwindet.« Zu diesem Zeitpunkt fürchtete ich tatsächlich durchzudrehen, aber wenn da Schlimmste eintritt, dann fährt der Körper Energiereserven auf von denen man nicht ahnt, dass man sie besitzt. »Wie war's mit Christopher?« Dana lehnte sich vor, um ihre Zigarette auszudrücken. Sie saß mit den anderen Hauptdarstellern und den beiden Kameramännern Rick und Daniel auf der Sitzgruppe in meinem Büro. »Ich dachte der dreht nur für Greta.« Pamela musste natürlich gleich die NegativAspekte ins Spiel bringen. »Aber wenn man ein vernünftiges Angebot macht, lässt er sich vielleicht überreden.« »Das hat keinen Zweck«, sagte ich, »er hat einen Exklusivvertrag.« »Man kann es doch trotzdem mal probieren.« Das war der Grund, warum Pamela so schwer zu ertragen war. Sie nervte ganz einfach. »Pamela, ich habe keine Lust, Stress mit Greta zu bekommen. Christopher steht nicht zur Debatte. Ende der Diskussion.« Sie schob die Unterlippe vor und schmollte wie ein Schulkind. »Wo ist überhaupt Ronny? Hat jemand von euch ihn gesehen?«
»Nee. Beim Frühstücksbüfett war er nicht. Gestern Abend habe ich ihn im Hotel gesehen. Er hat im Fitness-Studio trainiert. Mann, sieht der geil aus.« Dana nickte anerkennend mit dem Kopf. »Kennt ihr Angel?«, fragte Simone. »Den habe ich in einer amerikanischen Produktion gesehen. Er hat sogar Ähnlichkeit mit Johann.« »Weißt du, welche Agentur ihn vertritt?« Rita hatte den Kugelschreiber schon auf dem Papier. »Ich hab nur seine Privatnummer.« Sie kramte in ihrem Rucksack nach dem Adressbuch. Draußen rumpelte ein Auto über das Kopfsteinpflaster des Hofes. Ich konnte nicht anders - ich sprang auf und hechtete zum Fenster, um zu sehen ob es Max' Jeep war. Aber nein, es war nur ein Taxi. Die Autotür öffnete sich und im selben Moment riss der Himmel auf und zwischen den grauen Wolken trat für einen kurzen Augenblick die Sonne hervor und badete Ronny in einem traumhaften Morgenlicht. Dana hatte Recht gehabt. Die letzten Jahre mochten hart mit ihm umgesprungen sein, aber man sah ihm nicht an, dass er durch die Drogenhölle gegangen war. Er strahlte und leuchtete - die Sonne war vermutlich aus purer Neugier hervorgekommen, um einen Blick auf ihn zu erhaschen und nun, da sie ihr Licht auf ihn geworfen hatte, zog sie sich wieder hinter schweren grauen Wolkenschwaden zurück. Gott, war ich erleichtert ihn zu sehen! Aber Erleichterung war längst nicht alles was ich fühlte. Ich ärgerte mich darüber, dass ich mich so über seinen Anblick freuen konnte. Dass er uns hatte warten lassen und nicht zur Versammlung erschienen war. Aber dieser Arger war gar nichts im Vergleich zu der Enttäuschung und der Wut darüber, dass ich sechs Jahre darauf hatte warten müssen, ihn wieder als den Menschen zu sehen, in den ich mich einmal Hals über Kopf verliebt hatte. Und nun stand er da - schaute sich im Hof um, und ich schob die Wut beiseite. Kann man eifersüchtig sein auf die Zeit? Auf die sechs Jahre, die sie zwei Menschen voneinander fern gehalten hat? Selbst, wenn ich Schluss gemacht hatte mit ihm und selbst wenn ich wusste, dass die vergangenen Jahre für ihn ein Horrortrip gewesen sein mussten und selbst wenn ich in dieser Zeit mein eigenes Leben in die richtigen Bahnen gelenkt hatte - ich hatte eine Sehnsucht nach dem Unmöglichen. Dass damals alles anders gelaufen wäre. Besser, harmonischer. Dass es nie vorbeigegangen wäre. Trauer, Wut, Enttäuschung, Erleichterung, in mir lärmten die Emotionen wie ein eingespieltes Orchester. Ronny schaute zum Fenster hoch und unsere Blicke trafen sich. Mir schössen Tränen in die Augen. Sechs Jahre lang hatte ich fast jeden Tag an diese blaugrünen Augen gedacht. »Fast«, sage ich ... eine Lüge. Jeden Tag, seit wir getrennt waren. Das hatte ich mir noch nie zuvor eingestanden. Es war in der Tat kein Tag vergangen, an dem ich nicht an Ronny gedacht hätte. Und hier stand er nun. In Jeans, mit einem für das Wetter viel zu dünnen T-Shirt mit dem Logo von
Drei Engel für Charlie, das sich über der breiten Brust spannte. Seine blonden Haare waren länger als früher. Etwas verwuselt und mit vom Sonnenlicht ausgeblichenen hellen, fast weißen Strähnen. Er war schlanker, markanter und wirkte doch jünger als damals. Keine Spur von der harten Zeit, die er durchlebt hatte. Ich war so in diesem Anblick gefangen, dass ich das Telefon überhaupt nicht wahrgenommen hatte. Anni stand neben mit und reichte mir den Hörer. »Hallo, hier Klein, wir haben den Wagen Ihres Mannes im Parkhaus des Hannoveraner Flughafens aufgefunden. Eine Überprüfung an den Terminals der einzelnen Fluggesellschaften hat jedoch noch nichts ergeben.« Die Klimaanlage lief auf Hochtouren und trotzdem rannen kalte Schweißtropfen an seinen Armen herab. Er roch an seiner Achsel und grunzte zufrieden. Vor sich auf dem Schreibtisch lag eine Plastiktüte mit der Aufschrift »Hustler«, daneben ein Stapel Videokassetten. Er saß in seiner weißen Calvin-Klein-Unterwäsche a m Tisch, zog die Cover aus den Plastikhüllen und legte sie sorgfältig auf einen Stapel. Es klopfte an der Zimmertür. Er erhob sich schwerfällig und öffnete dem Portier. »Sie hatten um eine Schere gebeten.« »Danke«, stieß er widerwillig hervor und registrierte den gierigen Blick des jungen Mannes in der Hoteluniform. »Drecksschwuchtel«, zischte er kaum hörbar und knallte ihm die Tür vor der Nase zu. Mit langsamen Schritten durchquerte er den luxuriösen Raum und ging zurück an seine Arbeit. Wenn Lilly etwas anpackte, dann machte sie es richtig. Die Unterbringung der Crew war vom Feinsten. Er hatte andere Drehs bei anderen Produktionen erlebt und nahm den Unterschied anerkennend zur Kenntnis. Ein Teufelsweib. Was sie anpackte gelang ihr. Sie hatte den Sprung geschafft. Sie war die Einzige in der Branche, die Hardcore drehen und bei Wetten dass auftreten konnte. Nicht nur die Boulevardpresse liebte sie, auch die Feuilletons der großen Tageszeitschriften schrieben wohlwollende Artikel. Das musste doch für einen Mann auch zu schaffen sein. Eddie Hart schaute prüfend in den Spiegel, der über dem Schreibtisch hing, und strich sich über das stoppelige Kinn. Er mochte, was er da sah. »Hey, Alter. Du bist der Beste.« Er gönnte seinem Spiegelbild ein verwegenes Lächeln. Zwischen seinen Schneidezähnen hafte sich ein Wurstrest vom Frühstück festgesetzt, den er jetzt mit dem Fingernagel entfernte und in die Luft schnipste. Er nahm die große silberne Schere und griff sich das obenliegende Videocover, das ihn in einer Reihe mit zwei männlichen Kollegen zeigte. Die drei standen in Polizeiuniform und mit Schlagstöcken vor einem weißen Hintergrund. Vor ihnen auf einem Barhocker thronte Lilly in einem transparenten weißen Fummel, die Hände unter dem Busen verschränkt, der Mund leicht geöffnet, der Gesichtsausdruck eine Mischung aus Einladung und Überlegenheit. »Du kannst mich haben«, schien dieses Gesicht zu sagen, »aber du musst der Beste sein.« Bullenreiten stand über dem Foto
und darunter in großen Lettern der Name Lilly DeLight. Etwas kleiner gesetzt folgten die Namen der drei männlichen Darsteller. Seiner war erst an zweiter Stelle genannt. Akribisch genau setzte er die Schere an und bearbeitete das Cover, bis seine Kollegen nur noch ein Papierstreifen waren, den er mit einem hörbaren Schnipp der Schere vom Titelbild abtrennte. Zufrieden betrachtete er sein Werk und schob das beschnittene Cover zurück in die Plastikhülle. »Schon besser«, dachte er, nahm den Papierstreifen, auf dem seine beiden Kollegen zu sehen waren und überlegte kurz wohin damit. Aus irgendeinem Grund widerstrebte es ihm, die Schnipselfiguren in den Papierkorb zu werfen, also zog er die Schreibtischschublade auf und deponierte die beiden vorerst dort. Es würde ihm schon noch etwas Passendes einfallen. Wieder rann eine Schweißperle an seinem Körper herab, er spürte ihren Weg auf seiner Haut, wischte sie fort und nahm sich das nächste Coverblatt vor.
Kapitel 6 »Tut mir Leid, dass ich es nicht pünktlich geschafft habe, aber als dein Büro anrief, war ich gerade bei meinen Yoga-Übungen. Dabei kann ich mich nicht aus dem Konzept bringen lassen. Wenn ich nicht anderthalb Stunden Yoga gemacht habe, laufe ich durch die Gegend wie ein halber Mensch.« Aus der Nähe betrachtet waren die Spuren der Zeit in seinem Gesicht schließlich doch sichtbar. Um seinen linken Mundwinkel zogen sich zwei haardünne Linien, auf der rechten Seite war es nur eine. »Ich kann nur mit einer ganz straighten Disziplin leben. Wenn ich mich davon ablenken lasse, dann ...« »...brechen die alten Gewohnheiten wieder durch?«, schlug ich vor und versuchte so beiläufig zu klingen, wie es mit heftig schlagendem Herzen nur möglich war. »Nein, so würde ich das nicht sagen. Das ist vorbei. Ich weiß genau, dass ich das hinter mir habe. Das heißt, dass das nächste Mal wirklich das Ende bedeuten würde. Aber an Tagen, wo ich nicht konsequent meine Disziplinen durchgezogen habe, hatte ich viel häufiger Verlangensattacken.« »Verlangensattacken!« Ich konnte mir sehr gut vorstellen, wie sich sowas anfühlt, steckte ich doch gerade mitten in einer solchen drin. »Ja - du musst dir das so vorstellen: in den Momenten, wo du früher eine Line gezogen hättest, empfindest du jetzt eine Leere. Fast wie ein Sog. Mieses Gefühl. Man kommt nur drüber weg, wenn man diese Leere füllt. Anders besetzt.« »Und dann machst du den Lotossitz, und alles ist gut.« Es war als netter Joke gedacht, aber ausgesprochen hörte es sich gemein an. »Na ja. So einfach ist es auch nicht, aber beim Yoga lernst du, deinen Körper zu lieben und ihn als ein wertvolles Gefäß für deine Seele zu betrachten. Etwas, womit man sorgsam umgeht. Ihn vernünftig zu bewohnen. Es ist eine Form von
Konzentration und gleichzeitig ist es Loslassen - ich kann es nicht besser beschreiben.« »Na, wenn es dir hilft - wunderbar.« Ich fand es nicht ganz einfach, Ronnys neue Beseeltheit mit dem Mann in Einklang zu bringen, den ich so gut gekannt hatte. Es schien ihm gut zu gehen. Ich musste mich zwingen, es ihm zu gönnen. Aber irgendwie kam er mir hirngewaschen vor. Wir saßen zu zweit in meinem Büro. Ich hinter dem Schreibtisch, er davor. Der Schreibtisch schien eine Mauer zu sein, die uns trennte und ich war froh über diese Grenzlinie zwischen uns. »Wie ist es dir ergangen, Lilly?« »Abgesehen davon dass mein Mann verschwunden ist und einer meiner Hauptdarsteller letzte Nacht umgebracht wurde, gut. Du siehst ja selbst.« Ich wies mit der Hand aus dem Fenster. Er wurde aschfahl. »Ermordet? Wer?« »Johann Werner - ich glaube nicht dass du ihn gekannt hast. Er hat erst vor ein paar Jahren angefangen.« »Weiß man denn von wem?« »Nein - die Polizei tappt noch völlig im Dunkeln.« »Das ist - entschuldige - merkwürdig. Ich habe ganz starke negative Strömungen gespürt, als ich hier angekommen bin. Eine Aura von ... Dunkelheit.« Wenn die Situation nicht so tragisch gewesen wäre, hätte ich mich vielleicht innerlich darüber lustig gemacht, dass Begriffe wie »Aura« Einzug in Ronnys Wortschatz gehalten hatten. Aber ich zwang mich, seinen reformierten Lebensstil zu akzeptieren, auch wenn er mir irgendwie sehr forciert schien. »Und dein Mann, warum ist der verschwunden?« »Ich weiß es nicht, Ronny. Ich möchte im Moment auch nicht darüber reden.« Seine Augen versprühten Anteilnahme. Und wenn es einen Erotik-Killer gibt, dann zur Schau gestelltes Mitgefühl. Meine »Verlangensattacke« war vorübergegangen. Ganz ohne Yoga. »Weltliche Güter nützen einem wenig in solchen Momenten, nicht wahr, Lilly?« Genau so gut hätte er mir eine Ohrfeige verpassen können. Zu gern hätte ich ihm vor Augen geführt, dass es meine weltlichen Güter waren, die es ihm ermöglichen sollten, seine Drogenschulden zu bezahlen. Ich tat es nicht. Dieses Treffen, auf das ich tagelang hingefiebert hatte, war nun im Begriff, das Boot meiner Selbstbeherrschung zu versenken. Erwartungen sind Einbahnstraßen ohne
Wendemöglichkeit. Und trotzdem fährt man immer wieder hinein und wundert sich, dass die Erwartungen des anderen einer unerreichbaren Parallelstraße folgen. Erst jetzt wurde ich mir bewusst, wie allein ich war. Richtig allein. Allein und bedroht. Ich schaute Ronny in die vertrauten Augen und sah doch nur einen Fremden mir gegenüber. Es tat weh. »Nein, Ronny, Geld allein macht nicht glücklich. Aber es schafft die besten Voraussetzungen.« Am Nachmittag saßen Rita, Anni und ich mit drei Telefonen bewaffnet haareraufend in Annis Büro und waren noch keinen Schritt weiter, was den Ersatz für Johann anging. Es war, dem Film-Sujet entsprechend, wie verhext. Für diese Produktion hatten wir nur die Besten gebucht und bekanntlich gibt es in jeder Branche nur eine begrenzte Anzahl von Top-Acts. Was von der ersten Porno-Liga noch zur Auswahl stand, war entweder bereits ausgebucht, anderweitig beschäftigt oder bestand, unsere Notlage ausnutzend, auf unzumutbaren Konditionen. Anni hatte es geschafft, den Drehplan so umzustellen, dass wir keinem der Darsteller andere Termine vermasselten und auch niemanden länger buchen mussten, als geplant. Die vier Drehtage, an denen wir Szenen mit dem Priester zu filmen hatten, waren auf die letzten Tage verschoben worden, damit wir möglichst viel Spielraum hatten, jemanden neu zu besetzen. Doch wir kamen keinen Schritt weiter. Unsere Arbeit wurde durch unzählige Anrufe seitens der Presse, die Statements zu Johanns Tod wollte, nicht gerade erleichtert. Rita betete brav immer wieder denselben Text über meine Betroffenheit herunter. Ich wunderte mich, dass ihre Stimme noch immer bei jedem Anrufer gleichermaßen berührt und traurig klang. Jeder Anruf riss uns erneut aus der Arbeit, denn natürlich war es schwer, sich angesichts der Umstände überhaupt auf die Computerdateien zu konzentrieren. Seit Mittag fuhren draußen die ersten Ü-Wagen der Fernsehsender vor, denn mittlerweile waren die Infos über Johann und Elke Brenner durch den Ticker gegangen. Normalerweise stand das Tor zum Hof auf, aber heute hielten wir es geschlossen, da ein normales Arbeiten nicht möglich gewesen wäre, wenn ein halbes Dutzend Nachrichten-Teams das Firmenareal belagert hätte. »Ich fühl mich, als wenn ich drei Tage durchgearbeitet hätte.« Anni rieb sich die Augen. »Wie sehen alle ziemlich übernächtigt aus. Vielleicht sollten wir eine halbe Stande Pause machen, um wieder fit zu werden.« »Ich habe keine Ruhe, bis wir jemanden gefunden haben, der zusagt.« Rita war eine Besessene. Ich bewunderte sie für ihr Durchhaltevermögen, aber manchmal fragte ich mich, ob so ein Lebensstil nicht zu hart war.
»Nein, Rita. Zwangspause. Hiermit verordnet. Schau mal in den Spiegel. Du siehst schrecklich aus. Es hat keinen Zweck wenn wir uns hier verrückt machen, ab Morgen wird es richtig anstrengend, da können wir nicht jetzt schon alle Power verschießen.« »Aber die Zeit rennt uns weg.« »Ein bisschen Spielraum haben wir. Lasst uns die Telefone ausschalten und eine Runde an die frische Luft gehen.« Da der Garten hinter dem Haus lag, konnten uns die Berichterstatter nicht sehen. Das war sehr gut, denn wir mussten wie die Hexen von Eastwick wirken, wie wir mit hängenden Köpfen zwischen hochgezogenen Schultern durch das Gras stapften. Der Anblick des Firmen-Pools hatte mich für eine Schrecksekunde sehr detailliert an den Fund der letzten Nacht erinnert, aber ich schob das Gefühl fort - anderer Pool, anderer Tag - dachte ich mir. Auf der Wasseroberfläche schwamm erstes Laub. »Warum war Ronny eigentlich nicht bei der Versammlung?«, erkundigte sich Rita. »Er war mit seinen Yoga-Übungen beschäftigt.« »Gut schaut er aus.« »Hm.« Die nächsten Tage würden zeigen, wie ich mit dem »neuen« Ronny klarkam. Ich schwankte zwischen rückblickender Gefühlsduselei und Befremdung. Vielleicht hatte er mich gar nicht als unheilige Kapitalistin abstempeln wollen und ich hatte seine Bemerkung viel zu ernst genommen. In dem Szenario, das ich mir in meinen Gedanken gebastelt hatte, war er der Sünder und nicht ich. Es war verwirrend, dass er eine ganz andere Sicht auf die Dinge hatte. Wir setzten uns auf eine Steinbank, schauten auf das beruhigende Grün der Obstbäume und atmeten die saubere Landluft ein. Das Geräusch geschäftiger Menschen drang von der Straße bis in diesen abgelegenen Winkel des Gartens, doch es klang wie von fern, als habe der Menschenauflauf nichts mit uns zu tun. Ein reißendes Quietschen zerriss die Scheinstille und wir drei sprangen fast gleichzeitig auf. »Herrgottsakra!« »Tschuldigung die Damen. Ich wollt Sie nicht erschrecken.« In einem blutbefleckten weißen Kittel stand Peter Hofmeier vor uns und zog die verrostete Pforte, die unsere Grundstücke trennte, hinter sich zu. »Peter! Guten Tag.« Er hatte den Drogenexzess vom Vortag offensichtlich besser verkraftet als Pamela, denn er sah wie immer aus, als sei er gerade dem OttoKatalog entstiegen. Abgesehen von seinem Outfit, das war Berufsrisiko. »Ich habe versucht anzurufen, aber es war ständig besetzt. Und die Straße ist voll mit Journalisten, da wollte ich nicht langgehen.« »Das ist auch besser so, solange du in diesem Aufzug bist.«
»Ich glaube - mir wird schlecht, Entschuldigung.« Rita hielt sich die Hand vor den Mund und rannte auf das Haus zu. Ich hätte nie gedacht, dass sie zu den Leuten gehörte, die kein Blut sehen konnten. Sie schaffte es nicht bis zur Tür und erbrach sich in einen Oleanderbusch. »Oh, sorry.« Hofmeier schaute an sich herab und schien erst jetzt zu bemerken, wie besudelt sein Kittel war. Anni schaute Rita hinterher und wandte sich ab, während Rita ihr Frühstück von sich gab. »Ich kann da nicht hinschaun, da muss ich gleich selber ...« »Tief durchatmen und ein paar Schritte gehen«, empfahl der Tierarzt. Anni folgte seinem Rat und spazierte staksig von Obstbaum zu Obstbaum. »Lilly, ich - äh. Wie soll ich sagen ...« Er druckste herum wie ein Schuljunge. »Sag's einfach.« »Also ja. Die Kripo war vor anderthalb Stunden bei mir und hat mir seltsame Fragen gestellt.« »Was für Fragen?« »Ob ich das Mordopfer gekannt habe. Meine Güte, das muss ja schrecklich für dich sein, wenn jemand umgebracht wird, den du kennst. Mein Beileid, Lilly.« »Ja, es ist schrecklich. Was wollten sie sonst noch wissen?« »Wann ich Max zuletzt gesehen habe, und ob ich dich gestern gesehen habe und was du für einen Eindruck auf mich gemacht hast. Ob du irgendwie auffällig gewirkt hast.« »Ah ja.« »Sie sagten, dass Max verschwunden sei und sein Wagen in Hannover am Flughafen gefunden wurde. Sie wollten wissen, ob ich etwas über seine Reisepläne wusste, aber ich hatte keine Ahnung.« Hofmeiers Statement betreffs der Erkundigungen, die die Polizei über meine »Auffälligkeit« einzog, kam mit einer Retardwirkung bei mir an. »Was ich für einen Eindruck auf dich gemacht habe?« Wenn ein Tatort-Kommissar einem Zeugen eine solche Frage über jemand anderen stellte, dann konnte das nur eines bedeuten: diese Person zählte zum Kreis der Verdächtigen. Ich konnte es nicht fassen. »Ich habe natürlich gesagt, dass mir nichts auffällig vorgekommen ist. Dass du gestern kurz in der Praxis warst, um den Hund abzuholen und dass Pamela das bezeugen kann.« »Pamela. Ausgerechnet. Na die wird sich freuen, wenn sie sich mal richtig über mich auslassen kann. Was wollten sie sonst noch wissen?«
»Nichts Besonderes. Wie lange ich euch kenne, wie das nachbarschaftliche Verhältnis ist, ob ihr eine glückliche Ehe führt. Und ob ich etwas über deine Produktion sagen kann.« »Und was hast du geantwortet?« »Dass ihr einen glücklichen Eindruck macht. Dass Max sich mit deiner Arbeit langsam abgefunden hat.« »Wieso langsam abgefunden?« »Na ja, als ihr euch kennen gelernt habt, da war er schon sehr schockiert über deinen Job.« »Wie kommst du darauf, Peter?« »Er hat es mir selbst gesagt, als wir einen trinken waren, damals.« »Ich bin gespannt, wie die Polizei so etwas einstuft.« Vielleicht musste man Erfahrungen mit der Presse haben, um in einem verhör-ähnlichen Gespräch nicht alles auszuplaudern, was man wusste. Vielleicht reichte aber auch emotionale Intelligenz in Verbindung mit Sympathie für die Menschen, um die es im Verhör ging. Beides war bei Peter Hofmeier nicht in ausreichendem Maße vorhanden. Das war ganz offensichtlich. »Stimmt denn mit euch beiden etwas nicht?« »Irgendetwas stimmt sicher nicht, wenn der Mann auf einmal verschwindet, aber ich kann dir leider nicht sagen, was es ist.« Wenn die Polizei schon den Tierarzt über uns ausfragte, dann hatte sie sicherlich auch die gesamte Nachbarschaft, den Stadtrat und vermutlich auch noch Bäcker, Schlachter und Videothekar abgegrast. Die Vorstellung, was all diese Leute über mein Privatleben sagen würden, drehte mir den Magen um. »Hat sich Mikey gut erholt?« »Ja, Peter. Danke. Ich muss jetzt wieder zurück an die Arbeit.« »Lilly, du weißt - wenn du ein Problem hast, dann kannst du immer zu mir kommen.« Er bewegte sich so schlangenartig schnell, dass ich mich gar nicht wehren konnte und mit einem Mal seine Zunge in meinem Hals, seine Hand auf meinem Hintern hatte. Es dauerte nur eine Sekunde, aber ausgerechnet in dieser Sekunde sah ich Kommissar Klein in den Garten trotten und blickte ihn mit weit aufgerissenen Augen an. Dann schubste ich den Tierarzt mit aller Kraft von mir, sodass er ins Taumeln kam und fast hinten überfiel. »Auf diese Art von Hilfe kann ich verzichten«, zischte ich ihn an und wischte mir den Mund ab.
»Ich weiß nicht, wie es auf Sie gewirkt hat, aber es ist nicht das, wonach es aussieht, das kann ich Ihnen versichern.« Klein schaute mich aus seinen warmen Augen an, die Stirn leicht gerunzelt und ließ mich zappeln wie den metaphorisch überstrapazierten Fisch am Haken. »Er ist praktisch über mich hergefallen, in einer Sekunde fragt er mich, wie es meinem Hund geht, in der nächsten schiebt er mir springt er auf mich los und ich weiß nicht wie mir geschieht. Herr Klein, ich bitte Sie: ziehen Sie bloß keine falschen Schlüsse, das ist der erste Annäherungsversuch dieser Art. Ich habe nichts mit Herrn Hofmeier. Sie sehen doch selbst, ich müsste irre sein, wenn ich unter diesen Umständen knutschend mit dem Nachbarn im Garten meiner Firma herumlungern würde!« Der Tierarzt hatte auf der Stelle kehrt gemacht und war kommentarlos verschwunden. Ich stand mit Klein im Garten und tobte innerlich. Manche Leute hatten Pechsträhnen - ich hatte eine ganze Pech-Perücke auf mein unschuldiges Haupt gestülpt bekommen. »Frau DeLight, ich weiß nicht, was ich glauben kann. So ist das nun mal in meinem Beruf. Ich bekomme diverse Informationen, Eindrücke und die fügen sich bestenfalls zu einem Gesamtbild, aus dem ich Rückschlüsse ziehen kann, was passiert ist. Was ich gerade gesehen habe, verzerrt das Bild in eine bestimmte Richtung. Ich habe keinen Anlass Ihnen zu misstrauen, aber auch keinen, Ihnen zu glauben, wenn Sie mir sagen, dass dies hier ein erster Annäherungsversuch war und nicht ein leidenschaftlicher Ausrutscher zu den ungünstigsten Bedingungen. Sosehr ich mir das wünschen würde.« Er zog die Augenbrauen zusammen und blickte auf seine Füße. »Bislang haben wir zwei Fälle, die nun in Verbindung stehen oder auch nicht und noch nicht die geringste Ahnung, wie ein einziger dieser Fälle motiviert ist.« »Dann sollte man vielleicht einmal anfangen, sich über Motive Gedanken zu machen.« »Glauben Sie mir - das tun wir. Aber das setzt voraus, dass Sie mir wahrheitsgemäß Auskunft geben. Haben Sie ein Verhältnis mit Peter Hofmeier?« »Ich habe nichts mit ihm, ich schwöre es Ihnen!« »Er ist immerhin ein sehr attraktiver Mann.« Klein wurde rot. »Ich habe jeden Tag mit sehr attraktiven Männern zu tun, aber deshalb muss ich doch kein Verhältnis mit ihnen haben. Was ist denn das für ein blödes Klischee. Ich liebe meinen Mann.« Jetzt errötete ich. »Ihre Nachbarn sagen, dass in Ihrem Haus mitunter recht lauthals gestritten wird.« Na prima. So viel zum Thema gute Nachbarschaft. »Wir sind nicht gerade konfliktscheu. Aber das heißt nicht, dass unsere Ehe gefährdet ist oder er sang- und klanglos verschwindet, um mich zu ärgern. Geschweige denn, dass er mich verlassen will. Das ist eine absurde Vorstellung!« »Schade, dass Ihr Mann Ihre Aussagen nicht bestätigen kann. Das sage ich nicht aus Polemik, sondern weil es eine Tatsache ist.«
»Dann fragen Sie doch die Nachbarn nicht danach wie laut wir uns streiten, sondern was wir sonst für einen Eindruck machen!« Ich war stinkwütend. »Das haben wir, Frau DeLight.« »Ja und?« »Einige scheinen der Auffassung zu sein, dass Sie und Ihr Mann einfach nicht zusammenpassen. Dass es ständig zu Konflikten gekommen ist und die Ehe zerrüttet sei.« Das konnte nur dieses Aas Frau Schröder gewesen sein, Max' Sekretärin. Die hatte natürlich jeden Telefonstreit mitbekommen und sich jedes Mal gewünscht, Max würde mich endlich rausschmeißen, damit sie nach all den Jahren als Tippse und Kaffeekocherin zur First Lady avancieren könnte. Ein aufrichtiger Blick in den Spiegel hätte ihr klar machen müssen, dass dies nie geschehen würde. »Das ist Quatsch. Die Ehe ist nicht zerrüttet. Wir reden miteinander, wenn uns etwas nicht passt. Wir beherrschen Streitkultur, verstehen Sie?« »Diese Ansicht teilen Ihre Nachbarn.« Die Bemerkung hätte er sich sparen können. »Herr Klein.« Es kostete mich große Mühe, mich zu beherrschen. »Ich muss zugeben, dass es mich überrascht, nach all den Jahren die ich hier lebe, aber offenbar haben einige Leute noch Vorbehalte gegen mich und glauben, ich sei nicht die Richtige für Max.« »Das habe ich mir auch gedacht.« »Da sind wir ja mal einer Meinung, Gott sei Dank.« »Hatten Sie einen Streit mit Ihrem Mann, bevor er verschwunden ist?« »Das haben Sie mich schon einmal gefragt.« »Dann gebe ich Ihnen hiermit die Möglichkeit, die Antwort noch einmal zu überdenken.« Es war zum Durchdrehen. Egal, was ich sagen würde, ich hatte mich schon in eine beschissene Situation hineinmanövriert. Sagte ich ja, wäre klar, dass ich beim ersten Mal gelogen hatte. Verneinte ich, log ich, und das Wort der ehrbaren Frau Schröder stand gegen meins. »Vielleicht sollten Sie besser nicht antworten, sondern Ihren Anwalt einschalten.« Grußlos ging er den Weg zurück, den er gekommen war und ließ mich sprachlos im Garten stehen. »Um Gottes willen, das ist doch nicht möglich!« Rita war fassungslos.
»Doch - ich werde verdächtigt. Die wissen zwar noch nicht genau wegen was, aber Klein hat mir empfohlen, meinen Anwalt anzurufen.« »Das ist doch irrsinnig. Wieso solltest du Max verschwinden lassen? Und wie denn überhaupt? Wir waren doch die ganze Zeit unterwegs.« »Die versuchen irgendetwas zurecht zu puzzeln, und bis sie eine bessere Idee haben, puzzeln sie mit mir.« »Wir sollten wirklich einen Anwalt beauftragen.« »Kennst du einen, der auf Strafrecht spezialisiert ist?« »Ich werd mich umhören.« »Aber bitte äußerst diskret, Rita, okay?« »Selbstverständlich.« Sie stand auf und wollte das Büro verlassen. »Irgendwelche Fortschritte in der Besetzungsarie?« »Es ist zum Verrücktwerden. Wir kommen einfach nicht weiter.« Die Gegensprechanlage summte. »Ja bitte, Anni?« »Der Toni vom Vertrieb steht im Büro und sagt, dass ein Diebstahl stattgefunden hat. Es sind drei Lilly-Gummipuppen verschwunden, und zwar die teure Ausgabe, die für siebenhundert Mark.« Anni konnte ja nicht wissen, dass zumindest eine der Puppen den Weg zu ihrem Vorbild zurückgefunden hatte. Ich will nicht behaupten, dass ich in diesem Moment schon das Ausmaß der Information begriffen hatte, die mir Anni gerade gegeben hatte. Aber ich hatte eine Bildassoziation und vor meinem inneren Auge erschien mit einem Mal Jodie Foster in einem verschwitzten FBISweatshirt. »Ruf bitte die Kripo an und lass dir Kommissar Schultz geben.« »Das mach ich. Sagen Sie Lilly - haben Sie das Packerl scho gsehn, das ich Ihnen auf den Schreibtisch glegt hab?« Ich wühlte unter den Papieren und fand einen DIN-A5Umschlag. »Nein, wo kommt das her?« »Des war in der Post, aber net frankiert, 'smuss jemand abgegeben haben.« Lilly DeLight - persönlich stand auf dem Adressfeld. Ein Absender war nicht angegeben. Ich öffnete den Umschlag und zog ein Buch heraus. Als Rita meinen Gesichtsausdruck sah, trat sie besorgt näher.
Das Buch trug den Titel Serienmörder: Hintergründe und Fallstudien. War das ein schlechter Scherz? Aber wer hat einen so kranken Sinn für Humor? Das Buch allein hätte schon ausgereicht, mich zu verunsichern, aber Panik überfiel mich erst, als ich die Polaroids sah, die zwischen die Seiten gelegt waren. Jetzt wurde klar, wer der Absender war, auch wenn seine Identität noch nicht feststand. Eines der Fotos zeigte eine Nahaufnahme von Johann Werners blutverschmiertem, verstümmeltem Schritt, auf dem zweiten lag die Lilly-Puppe mit Johanns abgeschnittenem Schwanz in der Vagina neben dem kastrierten Johann. Der Hintergrund war dunkel - es war unmöglich zu erahnen, wo das Foto aufgenommen worden war. Das dritte zeigte das Gesicht der Puppe mit dem runden, offenen Mund. Sie schien höhnisch »Oh!« zu sagen.
Kapitel 7 Wir konnten nur einen flüchtigen Blick auf Lilly DeLight werfen, die einen sichtlich besorgten Eindruck machte. »Lilly hatte durch ihre Presse-Agentin verlauten lassen, wie bestürzt sie über den Tod Johann Werners sei und seiner Familie ihr tiefes Mitgefühl ausgedrückt. Die genaue Todesursache wurde noch nicht bekannt gegeben. Bleiben Sie dran und sehen Sie nach der Pause folgende Themen - Wut und Trauer: Johann Werners Mutter rechnet ab. Deutschland-Pornoland: vom Frust mit der Lust. Und seien Sie mit dabei, wenn wir Deutschlands berühmteste Sex-Talkerin Lilo Wanders beim Shopping begleiten.« »Besorgt« war noch geschmeichelt. Die Kamera hatte mich eingefangen, als ich vom Hof gefahren war. Die schmale Straße war so vollgestellt mit Kamerateams, dass wir nur im Schritttempo vorwärts kamen und mit zwei Reifen auf dem Grünstreifen fahren mussten. Es war ein klassisches Paparazzi-Szenario, wie man es aus Nachrichtenbildern und Klatschzeitungen kennt und wahrscheinlich das erste Mal, dass sich so ein Schauspiel in Goslar abspielte. Drehteams, die um die beste Perspektive rangelten, Schaumstoffkappen von Mikrofonen, die sich gegen die Autoscheiben drückten, Fotografen, die sich dem Wagen in den Weg stellten, um den besten Schnappschuss zu machen. Ich erkannte sogar einige der Anwesenden von meiner Pressekonferenz wieder. In der ersten Reihe stand der Mann im grauen Anzug, der so verschämt reagiert hatte, als ich ihn am Tag zuvor angesprochen hatte, und stierte mich aus braunen Knopfaugen an. Ich saß sonnenbebrillt und zusammengesunken auf dem Beifahrersitz und war einfach fertig. Rita, die den Wagen fuhr, wirkte dagegen konzentriert, elegant und super-effizient. Ich schaute mir News Alive an, auf der Couch liegend, Mikey ausnahmsweise zu meinen Füßen auf dem Sofa, weil ich den Gedanken nicht ertragen konnte, allein zu sein. Während ich versuchte, mich auf die Fernsehbilder zu konzentrieren, plagten mich innerlich tausend Fragen und Sorgen. Was für eine Rolle spielte ich in der kranken Fantasie des Mörders? War der Titel des Buches, das er mir geschenkt hatte, ein Hinweis darauf, dass er bald wieder zuschlagen würde? Dass er eine Serie plante? »Bevor wir die Familie des Mordopfers in ihrem Gartenhaus in Goslar besuchen, noch eine Mitteilung in eigener Sache.« Der Moderator runzelte die Stirn und schaute kurz betroffen nach unten, als lese er seine Moderationen altmodisch von einer Karteikarte ab und nicht von einem
Teleprompter. »Gestern kam durch eine tragischen Unfall und unter noch nicht vollständig geklärten Umständen unsere Redaktionsmitarbeiterin Elke Brenner in Berlin ums Leben.« Der Moderator stand in seinem quietschbunten Studio, während im Hintergrund ein Schwarzweiß-Foto von Elke Brenner eingeblendet wurde. Es war ein Shot von Helmut Newton, entstanden in den besseren Tagen der Journalistin. Sie sah atemberaubend aus: kalkweiß, mit einem geometrisch perfekten Pagenschnitt, schwarzgetuschten Lidern und einem glänzend lackierten vollen Mund. »Elke Brenner gehörte seit drei Jahren zu unserem Team und hat in den Jahren ihrer Tätigkeit als News AliveReporterin journalistische Maßstäbe gesetzt. Schon zu ihrer Zeit beim Nachrichtenmagazin FAKT galt Elke Brenner als eine der viel versprechendsten Reporterinnen Deutschlands. Sie starb gestern Nachmittag, kurz nachdem sie anlässlich der Pressekonferenz von Lilly DeLight im Nobelhotel Astor einen Beitrag für News Alive produziert hatte. Elke Brenner galt als eine der großen Hoffnungen des Investigativ-Journalismus und ihre Berichte und Beiträge über Drogenmissbrauch in Ärztekreisen und die Missstände im Klinikwesen haben nicht nur empörte Reaktionen ausgelöst, sondern auch Konsequenzen provoziert. Wir alle trauern um eine Kollegin, die ihrem Beruf Ehre gemacht hat, deren Leben und Wirken immer im Dienste der Öffentlichkeit gestanden hat und die wir alle hier beim Team von News Alive sehr, sehr vermissen werden.« Offenbar hatte »Lernschwester Elke« irgendwann die Seiten gewechselt und den Berufsstand, in den sie nicht einheiraten durfte, zur Zielscheibe ihres Jobs gemacht. »Während sich die Presse um Lilly DeLights Produktionsstätte drängelte, um einen Kommentar der Porno-Queen über den Mord an ihrem Darsteller zu bekommen, ging es auf der anderen Seite der Stadt ruhig zu. Die Hinterbliebenen trauerten in Stille, unbehelligt von der Massenaufmerksamkeit. News Alive war exklusiv dabei.« Rita kam mit einem Tablett ins Wohnzimmer und setzte sich auf den Fußboden vor dem Sofa. Sie schenkte uns Tee ein und stellte einen Teller mit Schnittchen und Gemüse auf den Couchtisch. »Dies ist das Haus, in dem der Porno-Star Johann Werner seine glückliche Kindheit verbracht hat. Es liegt fern der Villengegend, in denen Porno-Produzentin Lilly DeLight residiert, in einer guten Nachbarschaft. Die Anwohner sind Menschen wie du und ich, und heute, einen Tag nach der Tragödie, ist es ruhig in der kleinen Straße, die Trauer und das Entsetzen über das Verbrechen sind spürbar.« Die News Alive-Redaktion hatte eine neue Außenreporterin mit dem Beitrag beauftragt, wahrscheinlich die Nachfolgerin von Elke Brenner. Sie hatte eine entfernte Ähnlichkeit mit der ermordeten Journalistin, nur dass sie offensichtlich zwanzig Jahre jünger war und noch am Anfang ihrer Karriere stand. Ich nahm einen Schluck Tee und verbrühte mir fast die Zunge. »Bertha und Horst Werner haben ihre Wohnung heute noch nicht verlassen. Einige Nachbarn sind gekommen, haben ihr Mitleid bekundet und das Rentnerehepaar mit dem Nötigsten versorgt. In der idyllischen Harz-Stadt werden Nachbarschaft und Unterstützung noch großgeschrieben, die Ansässigen halten in Zeiten der Krise fest
zusammen. Die Eltern des Mordopfers sind s fassungslos und zutiefst schockiert. Ich hatte Gelegenheit mit Bertha Werner zu sprechen.« Rücksicht und Feinfühligkeit sind Eigenschaften, die sich eine Jung-Journalistin nicht leisten darf, und so hatte die Redaktion sich tatsächlich nicht gescheut, die bigotten Eltern zu einem Zeit- punkt zu bedrängen, an dem die Leiche ihres Sohnes wahrscheinlich noch nicht einmal kalt war. »Frau Werner, was empfinden Sie heute?« Die beiden saßen am Küchentisch einer engen Eichenholz-Imitatküche, im Hintergrund hing eine Kuckucksuhr neben einem Christus-am-Kreuz-Wandbild. Ein Fenster gab den Blick frei auf einen penibel gepflegten Garten mit symmetrisch angeordneten Blumenbeeten in leuchtgrünem Gras. Wenn mich mein Blick nicht täuschte, stand ein einsamer Gartenzwerg in der Blumenrabatte. Johanns Mutter war Mitte sechzig, hatte dauergewellte, graue Haare und ein hartes, ungeschminktes Gesicht. Ihre Augen waren leergeweint. Auf dem Tisch lag ein geschirrtuchähnlicher Läufer und darauf stand ein Teller mit Keksen. »Es ist eine Schande. Ich wusste, dass es einmal böse enden würde.« Sie kniff die Lippen fest zusammen, sodass sie nur noch ein dünner Strich in dem verhärmten Gesicht waren. »Auch wenn es schmerzt, Frau Werner, bitte erzählen Sie uns von Ihrem Sohn Johann.« »Der Johann war immer ein gutes Kind.« Ihre Augen füllten sich mit Tränen. »Aber in der Realschule ist er auf die schiefe Bahn gekommen. Hat sich da mit den falschen Leute rumgetrieben und ist nachmittags mit den anderen in der Fußgängerzone auf der Pennermauer rumgesessen.« »Hat er damals mit dem Drogenkonsum angefangen?« Ich wusste nicht, dass Johann ein Drogenproblem hatte. »Jawohl. Rauschgift haben die geraucht und schon nachmittags Alkohol getrunken. Schule geschwänzt hat er auch.« Rita schaltete sich ein. »Das ist ja wohl die Höhe - jetzt tut die so, als ob Johann ein Junkie war!« »Sei mal still, es kommt bestimmt gleich noch dicker.« Leider hatte ich Recht. Die Reporterin fuhr fort. »Wann ist er denn in die Porno-Szene abgerutscht?« Ich wünschte der Frau, dass sie mir nie begegnen sollte, denn ich hätte mich nur schwer beherrschen können, ihr nicht rechts und links eine runterzuhauen. »Abrutschen« in die Porno-Szene war nun das Letzte, was man Johann attestieren konnte. Für ihn war es ein eindeutiger Aufstieg gewesen. Insbesondere wenn ich mir
sein Elternhaus anschaute. Johanns Mutter war aus anderen Gründen schockiert von der Formulierung der Journalistin und eine Träne kullerte ihr über das Gesicht. »Der Junge war doch von den Drogen ganz getrieben, das muss es gewesen sein. Anders kann ich mir das nicht erklären. Der hatte ja vorher nie mit diesem Schweinkram zu tun gehabt. Einmal, da muss er so fünfzehn gewesen sein, da hab ich so ein Schmutzblatt bei ihm unterm Bett gefunden, da gab es eine Tracht Prügel und gut war's.« Frau Werner tupfte sich mit einem Papiertaschentuch die Tränen, und man konnte hören, wie draußen lautstark ein Rasenmäher in Betrieb genommen wurde. »Wenn ich das so sehe, dann tut sie mir fast schon wieder Leid ...« »Bitte, Lilly! Die haben ihn rausgeschmissen und wollten nichts mehr mit ihm zu tun haben. Das ist doch die pure Heuchelei.« Rita war empört. »Nein. Heucheln tut die nicht. Sie hat sich für ihren Sohn etwas anderes gewünscht und kam mit der Realität nicht klar. Die heuchelt nicht. Die trauert. Mag ja sein, dass sie verklemmt ist und ihren Sohn ganz beschissen erzogen hat, aber es tut ihr weh, dass er nicht mehr da ist. Das sieht man doch. Wenn hier jemand heuchelt, dann diese abgerückte Interviewerin. Tut so, als ob Kiffen und Porno Johanns Tod war! Meine Güte, wenn er Bäcker oder Tischler wäre, dann würden sie überhaupt nicht darauf kommen, solche Fragen zu stellen - das ärgert mich. Was hat das alles damit zu tun, dass ein Irrer ihn getötet hat?« Ich fing wirklich an mich aufzuregen. Mikey merkte das, erhob sich, trampelte unruhig auf dem Sofa hin und her und legte sich wieder hin. »Frau Werner - haben Sie den Eindruck, dass Ihr Sohn durch seine Arbeit im PornoGeschäft auf die schiefe Bahn geraten ist?« Jetzt konnte sie die Tränen nicht mehr zurückhalten, sie liefen ihr in einem Sturzbach über das Gesicht und es krampfte mir das Herz zusammen. »Als er mit dem Studium anfing, da dachte ich er sei weg von dem Dreckskram, aber nein, das war wie eine Sekte für ihn. Diese Person, der war er verfallen, hörig war er der.« »Von welcher Person reden Sie, Frau Werner?« Ihre Stimme triefte vor geheuchelter Anteilnahme. Wirkliche Anteilnahme, ein Akt wahrer Beileidsbekundung wäre gewesen, Johanns Mutter in ihrer Trauer in Ruhe zu lassen, anstatt sich wie ein Geier auf ihr Leid zu stürzen und auch noch die letzte Träne aus der armen Frau herauszupressen. »Diese Lilly. Wenn die mit ihrem Sündenpfuhl geblieben wäre, wo sie hingehört, dann war mein Sohn heut noch am Leben!« Sie sackte völlig in sich zusammen, ließ den Kopf hängen und ihr Körper wurde von Heulkrämpfen geschüttelt. »Verdammte Scheiße.« Rita legte mir ihre Hand auf den Unterarm. »Jetzt knallt sie aber völlig durch.«
Ich musste schlucken. »Wenn das die anderen aufgreifen, dann gnade mir Gott.« »Unterlassungsklage?« Ich konnte es nicht fassen, dass Rita so etwas in diesem Moment vorschlagen konnte. »Rita, ob wir sie nun mögen oder nicht - diese Frau trauert. Da werd ich doch nicht noch eine Klage veranlassen und sie noch mehr quälen! Irgendwo ist Schluss. In was für einer Welt leben wir denn eigentlich?« Das entsetzliche Interview war vorbei und wieder sahen wir den betroffenen Moderator in seinem farbenfrohen Studio. »Schwere Vorwürfe einer trauernden Mutter gegen Deutschlands beliebteste PornoHeldin, die zu diesem Thema noch keinen Kommentar abgeben wollte. Der hätte vielleicht folgendermaßen ausgesehen.« Jetzt zeigten sie eine Szene von der Pressekonferenz. Man sah mich in einer Großaufnahme »Nein, das ist nichts als ein Gerücht« sagen. Es war unfassbar. »Mehr über Lilly DeLight und ihr Porno-Imperium sehen Sie morgen bei News Alive. Wir waren zu Besuch bei Greta Giehse und Viola Eisner - ehemals Porno-Star, heute Journalistin bei der Emma. Bleiben Sie dran und seien Sie dabei, wenn wir Lilo Wanders beim Einkaufsbummel begleiten.« Mein Handy klingelte. »Hallo Lilly, hier ist Gerd Bartels, du musst etwas unternehmen, das kann man denen nicht durchgehen lassen.« »Wenn jetzt auch noch herauskommt, dass Max verschwunden ist und dass ich Johanns ...« Beinahe hätte ich mich verplappert und genau das getan, was mir Klein verboten hatte: die Details verraten. Ich stockte und fuhr fort. »Dann bin ich geliefert. Selbst wo ich nichts mit all dem zu tun habe, es sind so viele schreckliche Dinge passiert, und irgendwie war ich immer dabei oder in der Nähe und das schafft eine, wie sag ich's am besten - schlechte Aura.« Ich kam mir vor wie Ronny. Es war spät, das Telefon hatte nicht aufgehört zu klingeln und alle Freunde und Bekannte, die den absurden Beitrag gesehen hatten, hatten angerufen, um ihre Bestürzung zu äußern. Theresa Orlowsky hatte eine minutenlange Tirade über den Umgang der Öffentlichkeit mit ihren Sex-Symbolen losgelassen. Sogar Lilo Wanders hatte sich gemeldet, um ihr Mitgefühl auszudrücken. Lilo hatte eine E-Mail an die News Alive-Redaktion verfasst und ihnen Doppelmoral, Sensationsgeilheit, Rücksichtslosigkeit und miesen Schmierenjournalismus vorgeworfen und sich ausdrücklich mit mir und meiner Lage solidarisiert. Es tat mir gut, das zu hören, denn am nächsten Tag würde schließlich dank eines durchgeknallten News AliveRedakteurs Viola Eisner - die Alice Schwarzer für Arme - über mich Gericht halten. Es war das vierte Gespräch, das ich an diesem Abend mit Gerd Bartels führte. »Wir kriegen das schon hin. Ich habe morgen mit der Mutter ein Interview und bei mir kommt sie nicht so gut weg wie bei der Tussi von Sät 7, das kann ich dir versprechen.« »Sei bitte nicht zu brutal. Die machen gerade schon genug durch.«
»Hast du den Alten gesehen, wie er mit dem Rasenmäher durchs Bild gelaufen ist?« »War das der Vater?« »Ja. Der war früher Berufssoldat. Johanns Kindheit möchte ich nicht gehabt haben. Und dann dieses Ende ...« »Du hast ja Recht, aber Gerd - ihr Sohn ist tot. Die haben ein Anrecht auf ihre Wut und Trauer.« »Und einen frisch gemähten Rasen. Was du eben gesagt hast mit Anrecht auf Wut und Trauer - lass Rita ein Presse-Statement daraus machen. Willst du dich vor der Kamera äußern?« »Ich weiß es noch nicht, ich kann heute nicht mehr klar denken.« »Du hast doch einen guten Draht zu Frauke, oder?« »Frauke?« »Lu-do-wig.« Er sagte es, als sei ich geistig zurückgeblieben und als gebe es nur eine Frauke auf der ganzen Welt. »Ja, die mag mich. Die ist nett.« Das Gespräch strengte mich an. War ich denn die Einzige, die begriff, dass jemand gestorben war, dass er Familie hinterließ, dass Menschen wegen des Todes litten? Ich fing selber fast schon an, Johann nicht mehr als Mensch zu betrachten, den ich kannte und mochte und den ich vermissen würde, sondern nur noch als Anlass für eine Serie von Ärgernissen und meine Karriere bedrohende Stressfaktoren. »Rita muss morgen mit der Redaktion in Kontakt treten und ihr müsst einen Beitrag für Exclusiv produzieren.« »Gerd, ich kann nicht mehr. Ich lass Rita machen, was sie für richtig hält und geh jetzt ins Bett. Morgen ist Drehtag und ich muss mich erstmal neu sortieren. Lass uns morgen Mittag nochmal sprechen, okay?« »Alles klar. Ruh dich aus. Es wird ein harter Tag.« Als ob ich das nicht wüsste. Menschen wie Gerd Bartels tat es gut, in Katastrophensituationen die Führung zu übernehmen. Sie waren gefordert, konnten brillieren und merkten erst dann richtig, dass sie am Leben waren. Ich war zwar in der Lage, mein Boot im Sturm über Wasser zu halten, aber einen Kick gab es mir ganz sicher nicht. Ich war da anders gestrickt. Ich fühlte mich leer, unsicher, ausgepowert. Als ich mit Mikey in den Garten ging - für einen richtigen Spaziergang war ich zu müde und auch zu ängstlich -, fiel mir das letzte Gespräch mit Kommissar Klein ein. Die Kripo hatte das Buch und die Polaroids sorgfältig untersucht, aber keinerlei Hinweise wie beispielsweise Fingerabdrücke gefunden. Was mich nicht überraschte. Man musste als Täter schon ziemlich blöd sein, wenn man nicht auf so etwas
achtete. Das perverse Geschenk vom Mörder war Beweismaterial im Mordfall Johann Werner und somit hatte es die Kripo einbehalten. Nicht, dass ich Wert darauf gelegt hätte, die Polaroids in meinem Besitz zu haben - aber das Buch. Der Täter hatte es mir ja nicht von ungefähr zukommen lassen. Ich bekam wieder eine Gänsehaut, als ich daran dachte, dass der Umschlag nicht frankiert war und der Mörder selbst ihn auf das Firmengelände gebracht haben musste. Zweimal war er mir schon viel zu nahe gekommen, und die Tatsache, dass einmal in der Stunde ein Streifenwagen vor meinem Haus vorbeifuhr, reichte nicht aus, mich zu beruhigen. Als ich wieder im Haus war merkte ich, dass ich viel zu angespannt war, um mich schlafen zu legen, und setzte mich stattdessen in Max' Arbeitszimmer. Mein Blick fiel auf unser erstes Urlaubsfoto. Eine ältliche englische Touristin hatte diesen Schnappschuss von uns beiden gemacht - wir lagen uns lachend und braun gebrannt in den Armen und trugen beide den gleichen Seemanns-Pulli. Mir war nach Heulen zu Mute. Ich schaltete den Computer an. Ich gehöre nicht gerade zu den Internet-Junkies, aber als berufstätige Frau weiß ich es zu schätzen, dass man nicht an Ladenöffnungszeiten gebunden ist, wenn man seine Einkäufe auch im Netz erledigen kann. Außerdem surfte ich natürlich regelmäßig die Seiten anderer Anbieter ab, um zu sehen, was es an Innovationen gab und welche gegebenenfalls für meine FirmenWeb-Site in Frage kamen. Ich checkte unsere Mailbox, aber sie war leer. Dann hatte ich einen Geistesblitz - ich rief die Option »Gelesene Mails« und schaute nach, was für Post während meiner Reise eingegangen war. Aus Frankfurt hatte ich Max eine kurze Gruß-Mail geschickt. Aber da war noch eine weitere Mail von mir, datiert am 30.8.2000. Selbst wenn ich unter kurzfristiger Amnesie litt - diese Mail konnte unmöglich von mir stammen, denn zum Zeitpunkt des Versands hatte ich meine Pressekonferenz abgehalten. Ich klickte zweimal auf das Briefsymbol und das Fenster öffnete sich. Wir müssen dringend reden. Es ist etwas passiert. Ich komme früher zurück. Hol mich bitte um 15.00 Uhr vom Flughafen in Hannover ab.
Kapitel 8 Lilly war offenbar nicht mehr auf dem Revier, denn sein unangenehmer Kollege, Otterkopf Schultz, nahm den Hörer ab. Seine Stimme klang heiser und angespannt. »Aber wie sollte denn jemand in Ihrem Namen eine E-Mail versenden können, Frau DeLight? Könnten Sie mir das wohl erklären?« »Haben Sie denn keinen Internetanschluss? Man braucht wirklich nicht besonders helle zu sein, um eine Mailbox zu öffnen.« »Nein, wir Kleinstädter sind noch nicht so weit. Wir kamen bislang auch ganz gut ohne die neuen Medien klar.«
Und dies war nun das Bundesland, das gerade die Expo ausrichtete. Kein Wunder, dass die Besucherzahlen eine Katastrophe waren. Ich begann mich zu fragen, wie es um die Verbrechensaufklärungsquote der Goslarer Kripo bestellt war. »Um eine Mailbox zu öffnen, muss man nur ein Passwort kennen, Herr Schultz. Dreimal dürfen Sie raten, wie unser Passwort lautet.« »Frau DeLight, ich habe keine Zeit, mit Ihnen Spielchen zu spielen.« Ich schwieg. »Na gut. Heißt Ihr Passwort vielleicht Lilly?« »Nein - aber Sie sind schon ganz nah dran.« »Max?« »Noch ein dritter Versuch.« »Wie heißt Ihr Hund?« »Bingo. Sie sehen ja, wie einfach es ist.« »Also hat jemand Ihr Passwort geknackt und Ihrem Mann in Ihrem Namen die Mail geschickt. Hätte Ihr Mann denn nicht 129Grund zum Misstrauen gehabt? Sie hatten doch laut Ihrer Aussage gerade erst mit ihm telefoniert.« »Nein. Ich kann meine Mails von jedem beliebigem Computer abfragen. Das ist sehr praktisch, wenn man viel unterwegs ist und nicht immer das Laptop dabei hat. Und natürlich kann ich auch von jedem Computer Mails versenden. Wenn Sie eine Mail von mir bekommen, dann steht im Feld >>Absender>
[email protected]. Warum hätte er daran zweifehl sollen, dass die Mail von mir stammt?« »Sie sagen doch selbst, dass Sie zu diesem Zeitpunkt in der Konferenz waren.« »Ja, aber woher soll Max wissen, wie lange die Konferenz geht? Warten Sie mal einen Moment, ich schau mal, um wie viel Uhr er die Mail gelesen hat. Dreizehn Uhr siebenundzwanzig.« »Anderthalb Stunden Zeit, um nach Hannover zu kommen.« »Da musste er sich ganz schön beeilen.« »Warum hat er nicht sein Büro kontaktiert, um sich abzumelden?« »Dafür gab es keinen Grund. Sein nächster Termin wäre um siebzehn Uhr gewesen, das hätte er geschafft.« »Aber wenn Sie nun so dringend mit ihm hätten sprechen wollen - und das muss er ja aufgrund der Mail angenommen haben -, dann hätte er doch den Siebzehn-UhrTermin sicher verschieben wollen.«
Ich seufzte. »Mein Mann ist sehr pragmatisch. Der verschiebt keinen Termin einfach so. Wie ich ihn kenne, hätte er den Termin nur dann abgesagt, wenn etwas wirklich Schwerwiegendes vorgefallen wäre - und das hätte er erst einmal wissen wollen, bevor er es sich mit einem Klienten verscherzt.« »Kollege Klein hat mir mitgeteilt, dass Ihr Mann tatsächlich am Flughafen angelangt ist. Das ließ sich anhand der Videoüberwachung an der Einfahrt überprüfen. Aber er hat das Parkhaus offenbar nicht verlassen. Auf den Bändern, die innerhalb des Flughafengebäudes aufgenommen worden sind, taucht er nicht mehr auf. Entweder, er wurde im Parkhaus entführt oder er ist sehr geschickt abgetaucht.« »Aber dafür gibt es doch überhaupt keinen Grund.« »Das herauszufinden, junge Frau, ist unsere Aufgabe. Zerbrechen Sie sich nicht Ihren hübschen Kopf.« »Herr Schultz, ich habe Angst. Ich brauche Personenschutz.« Ich hasste es, ihm gegenüber zuzugeben, dass ich mich fürchtete und bedroht fühlte. Aber wenn es je eine Situation gab, in der ich meinen Stolz bekämpfen musste, dann jetzt. »Tut mir Leid, das geht nicht. Das hat der Gesetzgeber nicht vorgesehen.« »Wie meinen Sie - nicht vorgesehen?« »Wenn jemand Sie akut bedroht, können Sie uns rufen, aber ich habe nicht genug Beamte, um Sie Ihnen vor die Haustür zu setzen. Es gibt schließlich noch ein paar weitere Verbrechen in Goslar, in die Sie nicht verwickelt sind. Wir können nicht alles stehen und liegen lassen, weil Sie sich bedroht fühlen. Für so etwas gibt es Sicherheitsfirmen.« Seine Kaltschnäuzigkeit machte mich fassungslos. »Wir haben Sie im Auge, eine Streife ist in Ihrer Gegend unterwegs.« Ich hätte ihn getreten, wäre er mir gegenübergestanden. Stattdessen ließ ich eine sekündlich eskalierende Tirade vom Stapel, wie ich es einem fremden Mann gegenüber in meinem Leben noch nicht getan hatte. »Also dann, Herr Kommissar, wünsche ich Ihnen noch einen schönen Abend auf dem Revier. Trinken Sie eine nette Tasse Instant-Kaffee, sitzen Sie Ihren Sessel flach und schmökern Sie in der Verbrecherkartei, oder was immer Sie da auch tun, wenn Sie Langeweile haben, Menschen verschwinden und ein Killer durch die Stadt läuft. Wissen Sie eigentlich, was das ist - Verbrechensbekämpfung? Sie bekämpfen doch gar nicht, Sie warten darauf, dass etwas passiert, und dann kümmern Sie sich nicht einmal darum. Wenn Sie meinen, dass ein Mensch meines Berufszweiges es nicht verdient, ein anständiges Begräbnis zu bekommen - mit seinem vollständigen Leib im Sarg - und dass der Mann einer Pornoschauspielerin es nicht wert ist, gesucht zu werden, wenn er vermisst wird, und dass jemand wie ich keinen Polizeischutz verdient, dann lieber Herr Schultz, muss ich mich wohl wirklich selbst darum kümmern. Ich werde mich jetzt jedenfalls mal ins Internet begeben und tun, was ich kann, denn ob Sie es sich vorstellen können oder nicht —«, ich holte tief Luft, »ich mache mir gerade große Sorgen, und wenn Sie, Herr Kommissar, zu altmodisch sind,
um die neuen Medien für Ihre Ermittlungen zu nutzen, weil Sie einen Computer nicht von einer Mikrowelle unterscheiden können, sofern Sie überhaupt wissen, was eine gottverdammte Mikrowelle ist, dann hören Sie halt ein bisschen Polizeifunk und lesen Sie den beknackten Kurzroman in der Goslarschen!« Mein Ton hatten sich hoch geschraubt wie ein Kettenkarussell, das an Fahrt gewinnt, und das Crescendo lieferte das Geräusch meines eingehängten Hörers. Gott, war ich wütend. Es konnte doch wohl nicht wahr sein, dass die Polizei einen Hinweis, wie ich ihn geliefert hatte, nicht weiterverfolgen wollte oder konnte. Max war am Hannoveraner Flughafen von irgendeinem Wahnsinnigen geschnappt und verschleppt worden und nur der liebe Gott wusste, was dieser ihm angetan hatte oder noch antun würde. Und währenddessen saß ein Kleinstadt-Columbo griesgrämig in seinem Linoleumkabinett von Revier und bedachte mich mit herablassenden, frauenfeindlichen Sprüchen. Und dies sollte die heile Welt sein, die ich mir so ersehnt hatte. Ha! Mein Wutausbruch hatte mir Antriebskraft verliehen und ich war jetzt erst recht entschlossen, mich weder auf eine glückliche Wendung des Schicksals noch auf die Ermittlungen der Kripo zu verlassen. Ich rief Rita an und bat sie, mir schnellstmöglich einen Bodyguard zu besorgen. Innerhalb von fünf Minuten rief sie mich zurück und sagte, dass es heute nichts mehr werden würde, aber ab morgen Mittag jemand verfügbar sei. Wirklich beruhigt war ich nicht. Der einzige Schutz, den ich in dieser Nacht hatte, war mein Mikey und eine unregelmäßig patrouillierende Polizeistreife. An einen ruhigen Schlaf war vorerst nicht zu denken, also klickte ich mich auf die Seite eines Anbieters, um mir Informationen über das Buch zu besorgen, das mir der Mörder hatte zukommen lassen. Nachdem ich eine E-Mail-Bestellung an meinem Lieblingsbuchladen in der Innenstadt geschickt hatte (man muss die Kleinwirtschaft fördern, damit das Internet sie nicht wegfegt!) las ich mir die Inhaltsangabe auf dem Bildschirm durch und rief die Option »Mehr zu diesem Thema« auf. Eine lange Liste von Büchern mit SerienmörderThematik erschien auf dem Bildschirm. Das Schweigen der Lämmer schien einen echten Trend ausgelöst zu haben ... Kaum ein Krimi, der ohne Serienmörder auskam. Auf der anderen Seite war das Thema älter als Edgar Wallace, nur dass es damals den Begriff noch nicht gab. Das Angebot umfasste allein vier Sachbücher, die die »wahre Geschichte« von Jack the Ripper versprachen - jede natürlich eine andere Version der »Wahrheit« -, diverse Biografien überführter Serienkiller wie Jeffrey Dahmer, John Wayne Gacy und Fritz Haarmann und den Tatsachenbericht eines amerikanischen Profilers. Das brachte mich auf eine Idee. Ich öffnete ein neues Fenster, gab die Adresse einer amerikanischen Suchmaschine ein und ließ nach dem Stichwort »Profiling« fahnden. Jemand wie Kommissar Schultz wusste wahrscheinlich noch nicht einmal, wie man das Wort buchstabierte, da konnte es nicht schaden, wenn ich mich selbst etwas fortbildete. Wie schon bei der Literatursuche gab es eine Unmenge von Einträgen zu diesem Thema. Webseiten mit Namen wie serialkiller.com oder murder.org, hannibal-lectorfan-site.uk und eine besonders geschmacklose die-die-my-darling.com. Außerdem gab es professionelle Anbieter, die Kurse in »Profiling« und Gesprächsforen zu aktuellen ungeklärten Mordserien anboten. Nachdem ich mich zehn Minuten durch sensationslüsterne Webangebote geklickt hatte, wurde ich fündig. Ein amerikanischer Gerichtsmediziner hatte einen zehnseitigen Text zum Thema »Profiling« ins Netz
gestellt. Ich drückte die »Print-Taste« und kochte mir eine Kanne MandarinOrangentee, während der Drucker ratterte. Ich hatte es mir im Bett bequem gemacht, wenn man unter diesen Umständen überhaupt von »Bequemlichkeit« reden kann. Der Tee dampfte und duftete, Mikey lag schnarchend auf dem Teppich und ich arbeitete mich mit Kugelschreiber und Notizblock durch das zehnseitige Dokument. Dann und wann fiel mein Blick auf die leere Betthälfte neben mir und ich musste jedes Mal erneut um meine Konzentration kämpfen, wenn meine Gedanken zu Max schweifen wollten. Schon nachdem ich die ersten Absätze gelesen hatte, wurde mir klar, dass zumindest Kommissar Klein auf der richtigen Spur war. Er hatte nach Motiven gesucht und schnell festgestellt, dass die Suche danach nicht besonders ergiebig war. Neunzig Prozent aller Tötungsdelikte geschehen im Bekannten- und Verwandtenkreis und sind durch Habgier oder Eifersucht motiviert. Wenn man diese beiden Tatmotive und den Bekannten- und Verwandtenkreis j ausschließen kann, muss man sich anderer Methoden bedienen, um Licht ins Dunkel zu bringen. Man konzentrierte sich auf den ) Fundort. Wenn es keine Verdächtigen gab, so lautete die These. des Profiling-Experten, dann musste man anhand des Tatorts ver- suchen, ein Bild des Täters zu zeichnen. Jedes kleinste Detail könnte Rückschlüsse auf den Mörder zulassen. Für Klein und sein Team hatte das bedeutet, den Fundort genauestens abzusuchen - »spiralförmig« hieß es im Text, und ich konnte mich erinnern, vom Schlafzimmerfenster auf die Untersuchungsbeamten herab- geschaut zu haben, die auf der Suche nach Indizien in eigentümlicher Formation um den Pool kreisten. Das Schwierigste beim Profiling schien mir zu sein, dass es nichts nützte, eine MordTheorie zu entwickeln, sondern nur anhand des Tatorts eine Deutung vorzunehmen, eine Rekonstruktion zu vollziehen und sich zu bemühen, die Gedankengänge des Irren quasi nachzuempfinden - anhand der sichtbaren Spuren auf einen Charakter zu schließen und ein Profil, ein Psychogramm zu erstellen. Mir grauste es davor, die Gedankenwelt eines Psychopathen zu betreten, aber wenn dies der einzige Weg war, die Geschehnisse zu erklären, dann blieb mir wohl nichts anderes übrig. Ich las, dass von den meisten der in den letzten Jahren gefangenen Serienmörder Profile erstellt worden waren, die sich als erstaunlich zutreffend erwiesen hatten und in denen oft schon Körperbau, Schulbildung, Elternhaus und sogar erste dokumentierte Straftaten beschrieben worden waren. Die Reihenfolge der Analyse sah also folgendermaßen aus: der Tatort bzw. der Fundort liefert Hinweise darauf, welches Verhalten stattgefunden hat. Wenn man das Verhalten rekonstruieren kann, bleibt die Absichten herauszufinden, die hinter diesem Verhalten standen. Ich erinnerte mich daran, wie ich in einem Kölner Museum eine Dalf-Ausstellung besucht hatte. Die Details seines Werks waren eindeutig - hier floss eine Uhr, da brannte ein Pferd, aber was um Himmels willen wollte mir der Künstler damit sagen? Ich fand die Gemälde zu verstörend, um mir Gedanken über die Motivation des Künstlers machen zu wollen und ließ sie einfach wirken, ohne sie zu hinterfragen. Und das war nur Dali gewesen, im Museum, und nicht ein Mörder in meinem Garten. Ich las, dass die Logik eines Killers anders funktioniert als die eines normalen Menschen, dass ein Mörder ein anderes Wertesystem hat. Das war nachvollziehbar das Beispiel allerdings, mit dem der Autor diese These zu untermauern versuchte,
fand ich denkbar ungeeignet: er stellte heraus, dass ein Killer Aggression und Erregung gleichzeitig empfinden könne. Das schien mir aber nicht gerade ein Grundsatz, der Mörder von Nicht-Mördern unterschied. Nicht jeder Mensch, der S/M praktizierte, war nämlich automatisch ein Serienmörder. Hätte er geschrieben, dass ein Killer nur dann Erregung verspüren kann, wenn er aggressiv ist, dann hätte ich es vielleicht akzeptieren können - das erschien mir nahe liegender, aber ich war keine Psychoanalytikerin und auch kein 13$ Gerichtsmediziner. Vielleicht gäbe es weniger Serienmörder, wenn diese ihre Triebe in S/M-Szenarios ausleben würden, anstatt ihren aggressiven Sex-Trieb zu verdrängen, bis er massiv ausbrach und andere Menschen ihm zum Opfer fielen. Das war mein aufklärerbischer Standpunkt, und ich hatte keine Ahnung, ob ich richtiglag. Wenn man dem Text glauben konnte, hatte ich Unrecht. Wie um meine Theorie zu widerlegen, gab der Autor jetzt zwei wichtige Grundlagen für das Profiling preis. Erstens - der Täter hat schon lange entsprechende Fantasien gehabt, ohne sie auszuleben. Seine Fantasie war schon immer brutal, aber um sie in die Realität zu übertragen, bedurfte es eines Auslösers. Bis es dazu kam, hatte er sich möglicherweise völlig unauffällig verhalten. Oft genug waren Serienmörder jedoch schon wegen geringerer Taten vorbestraft. Er lieferte ein einleuchtendes Beispiel. Wenn ein Spanner geschnappt wird, der ein Messer bei sich trägt, es aber nicht benutzt hat, dann ist es nicht unwahrscheinlich anzunehmen, dass er es eines Tages doch verwenden würde. Die Statistiken belegten, dass viele Mörder schon in ihrer Kindheit so massiv traumatisiert waren, dass sie Mordgelüste entwickelt und sie an Tieren ausgelebt hatten. Ich musste an Matthias denken, ein Nachbarskind aus meiner Kindheit. Er war zu uns anderen Kindern unglaublich brutal gewesen und hatte die Tauben seiner Eltern verhungern lassen, als sie ohne ihn verreist waren. Schon damals sagten die Leute, dass es wahrscheinlich einmal ein schlimmes Ende mit ihm nimmt und dass aus ihm vermutlich eines Tages ein Terrorist werden würde. Bei alldem, was ich gerade las, schien es mir wahrscheinlicher, dass aus ihm früher oder später ein Mörder würde. Dann fiel mir wieder ein, dass ich als Kind selbst nicht ganz ohne gewesen war, aber keinerlei Anstalten machte, mich in eine gefährliche Mörderin zu verwandeln. Ich hatte zwar keine Tiere gequält, aber aus purer Gemeinheit den Anorak meiner Schulkollegin Katrin in einen Gully gestopft, während zwei meiner Freundinnen sie fest gehalten und ihr Zigarettenrauch ins Gesicht geblasen hatten. Die arme Katrin war immer wieder unseren Gemeinheiten zum Opfer gefallen, und ich fragte mich, ob wir sie mit unseren kindischen Quälereien so weit traumatisiert hatten, dass sie einen Knacks fürs Leben abbekommen hat. Vielleicht schlug sie heute ihre Kinder oder, ein ebenso schlimmer Gedanke, vielleicht hatte sie sich nicht getraut, Kinder in die Welt zu setzen, weil wir ihre Kindheit zur Hölle gemacht hatten. Jahrelang hatte ich nicht an sie gedacht und jetzt auf einmal fiel sie mir wieder ein und ich schämte mich abgrundtief. Die zweite Grundlage: Das Verhalten des Mörders dient dazu, eine Lust, einen Trieb, einen Wunsch zu befriedigen. Diese Fantasien waren, anders als bei normalen Menschen, keine Tagträumereien, sondern entwickelten sich über die Zeit zu komplexen Szenarios, die mehr und mehr in den Vordergrund des Bewusstseins
traten, bis sie eines Tages nicht mehr nur Fantasien blieben, sondern in die Tat umgesetzt würden. Und dabei allein blieb es nicht - der Mörder holte sich seinen Kick in der Wiederholung. Wenn es einmal geklappt hatte, würde er es weiterhin tun. Wenn das Ausleben seiner Fantasie ihn erregt, ihn befriedigt hatte, dann würde er diesen Zustand der Erregung und der Befriedigung wiederherstellen wollen. Das war nachvollziehbar. Wer auf Oralsex steht, wird sich nicht davon abbringen lassen zu lecken und zu blasen, selbst wenn es in einigen Staaten bis zum heutigen Tag unter Strafe steht. (Ich gestehe, dass ich schon straffällig geworden bin, aber ich wurde nie erwischt. Man stelle sich die Schlagzeile vor!) Bevor ein Killer ein weiteres Mal zuschlug, befriedigte ihn der Gedanke an den letzten Mord. Häufig dokumentierten die Mörder ihre Tat, sammelten Zeitungsausschnitte und machten Video- und Fotoaufnahmen. Als ich von den Fotos las, bekam ich eine Gänsehaut und sah die drei Polaroids, die in dem Buch gesteckt hatten, viel zu deutlich vor meinem inneren Auge. Obwohl ich langsam die Strukturen begriff, in denen sich ein Serienmörder entwickelt, war eine Frage noch ungeklärt: Was waren seine Grunde? Weshalb erregte es ihn, zu quälen, zu töten und sich an der Erinnerung an den Mord und an der Vorfreude auf den nächsten aufzugeilen? In einem philosophischen Moment war ich einmal zu dem Schluss gekommen, dass es im Leben in der Regel nur um zwei Dinge ging: Freude am Leben und Angst vor dem Tod. Die Natur hatte es so eingerichtet, dass die wesentlichen Dinge, die dem Erhalt des eigenen Lebens und dem Überleben der Menschheit dienten, mit Lustgefühlen verbunden waren - Essen, Trinken, Picken. Man konnte es sich im Grunde rund um die Uhr gut gehen lassen, wenn man ausreichend Nahrung und Sex hatte. Doch irgendwo schlich sich immer die Angst ein. Ich glaube, jede Form von Angst steht für die eine große Angst - dem eigenen Tod, den man nicht voraussehen kann, den man nicht einplanen kann, der ein Ende darstellt oder einen Neuanfang - wer kann das schon wissen. Jede kleine Angst vorm Scheitern, ob im Beruf, ob in der Beziehung, ist eine Angst vor dem Ende - werde ich rausgeschmissen, gehe ich Pleite, macht er mit mir Schluss? Wenn die Antwort ja ist, dann ist mein Leben, wie es mir vertraut war, beendet. Ein neuer Abschnitt wird eröffnet, etwas ist gestorben. Das Ende ist der Moment, wo uns die Kontrolle entgleitet, der Plan nicht nur schief geht, sondern komplett weggefegt wird. Die Sorge, dass dies eines Tages geschehen kann, steht vielen Menschen so sehr im Weg, dass sie nicht einmal an den alltäglichen Dingen des Lebens Freude haben können. Angst und Trauer, die rechte und die linke Hand des Todes. In unserer durchorganisierten Gesellschaft, die permanent im Umbruch ist und in der man sich wöchentlich an neue Realitäten gewöhnen musste, hat man viel zu oft Anlass zu Angst und Trauer. Kein Wunder, dass jemand Prozac erfunden hat. Es überraschte mich nicht, als ich las, dass die Angst in den Augen des Opfers der Fetisch des Mörders war. Dass die Panik, die sich in den Gesichtern spiegelte, ihn antrieb, ihn erregte, ihn zur Wiederholung zwang. Nur, wenn er jemanden tötete, zerstörte, auslöschte, verspürte er so etwas wie Macht.
Dann fühlte er sich groß und gottgleich. Dann war er ungestört mit seiner Sehnsucht allein. Mir fielen sämtliche Selbsthilfebücher ein, die ich in Krisenzeiten meines Lebens gelesen hatte - alle schlugen den gleichen Grundtenor an: Wenn du willst, dass sich dein Leben ändert, dann nimm es selbst in die Hand. Übe Kontrolle aus, wo immer du kannst, und spezialisiere dich auf das, was du kannst. Das Prinzip des Serienmörders schien mir auf einmal nichts anderes als eine übersteigerte Form von Selbstbestimmung und Selbstfindung, ein besonders kaputtes Abfallprodukt unserer Gesellschaft, in der Macht und Leistung die obersten Ideale waren. Wenn nun jemand diesen Ansprüchen nicht gerecht wird, dann wäre es eine mögliche Konsequenz, sich auf einem Gebiet zu spezialisieren, in dem er erfolgreich war. In dem er sich auskannte. Das ihm Befriedigung verschaffte. Wie jeder Spezialist suchte auch er Anerkennung. Und die bekam er nicht allein durch die Erniedrigung seiner Opfer, sondern durch die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit. Deshalb hatte er mir die Fotos geschickt - er wollte Aufmerksamkeit. Was mich ängstigte, war die Frage, warum er ausgerechnet mich ausgesucht hatte, seine Taten zu entdecken. Es kam mir fast vor wie bei einer Katze, die ihrem Besitzer stolz das Beutetier zu Füßen legt. Er wollte sich profilieren, ich wollte ihn profilieren. Die Frage war: Wer würde schneller zum Ziel kommen? Es musste etwa fünf Uhr morgens sein - die Sonne ging gerade auf- als ich über meinen Notizen aufwachte. Es war eine Gnade gewesen, einfach so wegzudämmern, ohne vor dem Einschlafen noch sämtliche Ängste Revue passieren lassen zu können. Ich rang mit mir, ob ich noch einmal die Augen schließen oder die Gunst der Morgenstunde nutzen sollte, und entschied mich für Letzteres - ich wollte um halb neun die Erste am Set im Krummen Haus sein, da konnte es nicht schaden, etwas Extra-Zeit zu haben. Also nahm ich eine Dusche und machte mich fertig, mit dem Hund rauszugehen. Bevor ich das Haus verließ, schaute ich aus dem Fenster, um mich zu vergewissern, dass noch kein Kameraobjektiv auf mich gerichtet war. Ein Blick auf die Straße zeigte mir, dass vor dem Haus die Luft rein war und sich noch kein Drehteam eingefunden hatte. Ich beschloss, dem Hund einen kleinen Spaziergang zum Kinderspielplatz zu gönnen, er war am Vortag viel zu kurz gekommen und hatte sich eine Runde Stöckchenjagen verdient. Wenn ich nur noch in meinem Garten herumlaufen könnte, bis der Mörder gefasst war, wenn ich permanent unter der Beobachtung von Security und Presse und dann und wann auch einem promi-geilen Streifenpolizisten stünde, dann würde ich durchdrehen, das wusste ich. Ich würde mich nicht einsperren lassen und zur Gefangenen in meinem eigenen Haus werden, nur noch den Weg von der Haustür zur Autotür und vom Auto auf das Firmengelände zurücklegen. So hatte ich mein Leben nicht geplant, und ich würde mir von nichts und niemandem hereinpfuschen lassen und mir das Stück Lebensqualität, das ich mir hart erarbeitet hatte, nehmen lassen. Obwohl ich die halbe Nacht mit Forschungen über Serienmörder verbracht hatte, war ich nicht halb so ängstlich wie am Tag zuvor. Vielleicht waren die Recherchen ein Grund dafür, dass es mir besser ging - ganz in der Tradition »Stell dich deinen Ängsten«.
Der Spielplatz lag keine fünf Minuten entfernt, es war heller Tag und bald würde die Nachbarschaft aus dem Schlaf erwachen. Was konnte mir schon passieren? Rückblickend könnte ich mich für meinen Leichtsinn ohrfeigen, aber die Atmosphäre dieser Sommermorgenstunde war Idylle pur und nahm mir jede Furcht. In Horrorfilmen kreischt man über die Dummheit der blonden Kuh, die dem Killer die Tür öffnet, in den düsteren Keller hinabsteigt oder des nachts auf die Straße geht, wo der Killer schon auf sie lauert, darauf geifernd, ihr Schicksal zu besiegeln. Ich schloss jedoch völlig undramatisch und ohne jede böse Vorahnung die Haustür hinter mir ab und machte mich auf den Weg mit dem Hund in Richtung Spielplatz. Wenn ich vielleicht den Bruchteil einer Sekunde gezögert hatte, dann beruhigte mich der Gedanke, den Hund angeleint bei mir zu haben und mein Reizgas in der Jackentasche. Und wenn je ein Morgen unschuldiger und ungefährlicher gewirkt haben mochte, dann musste ich ihn wohl verschlafen haben. Mikey freute sich sichtlich, etwas Bewegung zu bekommen und der Anblick meines glücklichen Hundes, dessen zielstrebiger Gang durch sein vorfreudiges Hinternwackeln erschwert wurde, brachte mich zum Lächeln. Das erste Mal seit langem. Auf den Hecken und dem Rasen in den Vorgärten glitzerte der Tau in der Morgensonne. Die Luft war noch frisch und es lag eine entspannte Ruhe über der Nachbarschaft, die nur durch das Gezwitscher der aufwachenden Vögel durchbrochen wurde. Ich fühlte mich wieder zu Hause, dies war meine Nachbarschaft, wie ich sie kannte und wie ich sie mochte. Ich ließ den Gedanken nicht zu, dass sich hinter der Fassade etwas Bedrohliches verbarg. Am Park hinter dem Spielplatz angekommen, ließ ich Mikey von der Leine und in Windeseile hatte er einen Stock gefunden und mir vor die Füße gelegt. Ich setzte mich auf die Rückenlehne meiner Lieblingsbank, holte weit aus und warf den Stock über die Wiese. Der Hund jagte hinterher, schnappte ihn noch im Flug und trabte stolz zu mir zurück. Ich warf erneut, diesmal unterschätzte ich meine Wurfkraft und der Stock landete weit entfernt auf der gegenüberliegenden Seite des Parks im Unterholz des Waldes. Mikey rannte aufgeregt auf das Gebüsch zu und fing an zu bellen, frustriert, dass der Stock für ihn nicht erreichbar war. Ich rief ihn zurück, aber er beachtete mich nicht. Also machte ich mich auf den Weg über die Wiese, um einen neuen Stock zu finden und den Hund von dem verloren gegangenen abzulenken. Als ich etwa in der Mitte der Lichtung angekommen war, ließ mich etwas abrupt stehen bleiben. Ich kann heute nicht mehr sagen, ob es ein Geräusch war oder eine Bewegung, die ich aus dem Augenwinkel gesehen habe. Ich blieb wie angewurzelt stehen und mit einem Mal setzte das Gefühl der Panik wieder ein - der Zauber des Sommermorgens war gebrochen, und mir wurde kalt. Ich ließ meinen Blick wandern, und es schauderte mich, was ich würde entdecken können. Ich konnte jedoch nichts Ungewöhnlich feststellen. Bis ich mich umdrehte und in Richtung der Bar schaute, auf der ich eben noch gesessen hatte. Ich stand stocksteif, panisch, unfähig mich zu bewegen und sah auf der Bank rechts neben der, auf der ich bis vor einer Minute noch gesessen hatte, mein Ebenbild in Plastik. Ich brauchte keine große Fantasie, um aus der Entfernung zu erkennen, was die Puppe im Mund stecken hatte. Der Anblick war grausam, aber noch nicht das Schlimmste. Neben der Puppe hockte, mir den Rücken zuwendend, ein Mann in schwarzen Trainingsanzug und band seelenruhig den rechten Arm der Puppe an der Bank fest, der linke Arm war bereits
festgemacht, und die Plastik-Lilly saß in oral vergewaltigter Kreuzigungspose fünfzehn Meter entfernt von meiner Lieblingsbank. Auf dem Rücken der Trainingsjacke prangten die Initialen CVJM. Gemächlich und fast elegant richtete sich der Mann auf und drehte sich langsam in meine Richtung. Ich erwachte aus der Starre, als ich in sein Gesicht sah, das durch einen schwarzen Damenstrumpf entsetzlich verzerrt war. Langsam hob er die Hand und winkte mir zu. Ich brüllte los, hatte binnen einer Sekunde Mikey an meiner Seite und rannte in den Wald, denn der Weg nach Hause war mir abgeschnitten.
Kapitel 9 Ich rannte durch den dichten Wald bis mir Seitenstiche den Atem raubten. Die ersten hundert Meter nahm ich nichts um mich herum wahr. Mein Herz schlug heftig, das Blut rauschte mir durch die Adern und mein gesamtes System war nur auf eines programmiert: Flucht. Äste schlugen mir ins Gesicht, ich riss mir die Hände am Gestrüpp auf, aber all das nahm ich nur am Rande wahr. Mikey schien den Lauf durch den Wald als Spiel zu begreifen und preschte voran. Der Schweiß rann in Strömen an mir herab und ich beendete meinen Sprint nur unfreiwillig, als sich mein rechter Fuß in einer Wurzel verfing und ich auf den weichen Waldboden stürzte. Nach einer Sekunde der Benommenheit wagte ich es, über die Schulter zurückzuschauen. Es war niemand zu sehen. Er war mir nicht gefolgt. Oder er versteckte sich geschickt. Der Hund war zu mir zurückgekommen, ich leinte ihn an und wir setzen den Weg in einem gemächlicheren Tempo fort. Mein Knöchel schmerzte. Erst jetzt begann ich mich zu fragen, ob Flucht die richtige Reaktion gewesen war. Ich hatte den Hund dabei, Reizgas in der Tasche - vielleicht hätte ich in die entgegengesetzte Richtung auf die Straße rennen und es riskieren sollen, dass er sich mir in den Weg stellt. Aber ich war meinem Instinkt gefolgt und einfach blind in den Wald gelaufen. Ich schaute mich um, um eine Ahnung zu bekommen, wo ich mich befand und stellte fest, dass ich auf halbem Wege zum Krummen Haus war. Anstatt über den asphaltierten Weg zu gehen, blieb ich ein paar Meter weit links daneben im Unterholz, sodass man mich von der Straße aus nicht sehen konnte. Ich versuchte mich zu erinnern, ob mir in der Nähe des Spielplatzes ein Auto aufgefallen war, konnte mich jedoch an keines erinnern. War es vorstellbar, dass der Mörder zu Fuß unterwegs war oder musste ich damit rechnen, dass er gleich in einem Wagen den Weg neben mir entlang fuhr, nach mir Ausschau haltend? Ich traute mich nicht einmal, das Handy aus der Tasche zu holen, um die Polizei anzurufen, weil ich Angst hatte, mein Verfolger - sollte er überhaupt noch hinter mir her sein - könnte meine Stimme hören und so leichter zu mir finden. Es musste jetzt kurz nach sechs sein und ich betete, dass Ingo, mein Regieassistent im Haus sein würde. Der Aufbau hatte gestern Abend stattgefunden, und wir hatten vereinbart, dass jemand über Nacht dableiben sollte, um das Equipment zu bewachen. Seltsam, wie man sich nach einem Haus sehnt, wenn man panisch durch den Wald läuft. Als ob vier Wände einen nennenswerten Schutz darstellen könnten, wenn
jemand mordlustig und psychopathisch genug war, in einem öffentlichen Park am helllichten Tag eine Gummipuppe mit Schwanz im Mund zu kreuzigen ... Gerne hätte ich die Erinnerung an das Bild des Mörders abgeschüttelt, aber weder gelang es mir, noch durfte ich mir diesen Luxus leisten. Ich versuchte, das verzerrte Gesicht einzuordnen kam es mir bekannt vor? Es hatte keinen Zweck. Er war zu weit weg gewesen und mit der Strumpfhose über dem Kopf war es unmöglich, charakteristische Gesichtszüge ausmachen. Das Gesicht war zu einer Fratze verzerrt und dieser Anblick war mir fast unerträglich gewesen. Als Kind hatte ich manchmal Aktenzeichen XY geschaut, wenn meine Eltern nicht zu Hause waren und nichts hatte mir mehr Angst gemacht, als der Anblick dieser Strumpffratzen. Wir spielten früher manchmal »Aktenzeichen«, und selbst der Anblick der Gesichter meiner Spielkameraden unter der Strumpfmaske hatte in mir eine irrationale panische Angst ausgelöst. Die weite Trainingsjacke hatte den Oberkörper des Mannes kaschiert, aber er schien eher von schmaler Statur gewesen zu sein. Nicht größer als eins achtzig. Und auch wenn ich ihn nicht einordnen konnte - er kam mir bekannt vor. Es gab noch eine weitere quälende Frage, die ich nicht beantworten konnte - wer war diesmal dem Killer zum Opfer gefallen? Ich schob sie immer wieder weg, ich wollte es nicht wissen, um wen es sich handelte, denn das wäre einfach zu viel für mich gewesen. Hier, allein im Wald, geplagt von der Ungewissheit, ob ich ihn wieder lebend verlassen würde. Es war ein absurdes Detail, das mir den unfreiwilligen Spaziergang schließlich erleichterte - der Schriftzug auf seiner Jacke. Als ich an CVJM dachte, fiel mir ein Lied ein, das mir die nächsten Tage nicht mehr aus dem Kopf gehen sollte: »It's fun to stay at the Y-M-C-A«. In diesem Moment war es mir sehr willkommen und ich bemühte mich, rhythmisch zur Melodie zu stapfen, während ich mich versuchte zu erinnern, welche Verkleidung die Jungs von Village People getragen hatten. Ich mochte etwa zehn Minuten gelaufen sein, da hörte ich das Geräusch eines herannahenden Wagens - und warf mich sofort auf den Boden, um durch das Gebüsch auf die Straße zu spähen. Ich wollte Mikey zu mir heranziehen, aber er stand aufrecht, zog an der Leine, bellte laut und wäre mir beinahe entwischt, wenn ich nicht die Leine fest in der Hand gehalten hätte. »Bist du still!«, zischte ich ihm zu, drückte mich noch tiefer in den Boden und lauschte auf das Geräusch des Autos. Am liebsten hätte ich mein Gesicht gegen die moosige Erde gepresst wie ein Kind, das seine Augen hinter den Händen verbirgt und nun glaubt, unsichtbar zu sein, aber ich unterdrückte den Impuls, während der Wagen langsam immer näher kam. Er schien im ersten Gang zu fahren, was zwar ein adäquates Tempo für einen Waldweg sein mag, aber gleichzeitig eines, das kein normaler Autofahrer einhalten würde. Obwohl der Boden kühl und feucht war, hörte ich nicht auf zu schwitzen und begann am ganzen Leib zu zittern. Der Hund spürte meine Unruhe und bellte erneut. Ich betete, dass niemand ihn gehört hatte und spürte, wie eine Träne über mein Gesicht
lief. Als ich sie abwischte, hörte ich, wie die Handbremse des Wagens angezogen und der Motor ausgeschaltet wurde. Ich gab dem Impuls nach, den ich vor einigen Momenten noch wegdrängen konnte, und drückte mein Gesicht in die Erde. Ich war gar nicht da. »Was machst du denn hier?« Rita bückte sich zu mir herunter und half mir auf die Beine. »Gott sei Dank«, war alles, was ich erleichtert hervorbrachte, als mir klar wurde, dass ich dem Tod von der Schippe gesprungen war. Auch Mikey war sichtlich glücklich über die Entspannung der Lage und sprang bellend an uns hoch, als wir zum Wagen gingen. »Ich habe dich überall gesucht. Ich war erst bei dir zu Hause, aber da warst du nicht mehr. Mach sowas bitte nie wieder, ich habe mir furchtbare Sorgen gemacht!« Ich schnallte mich an und hörte ihr zu - überglücklich über die vertraute Stimme, überglücklich, dass sich außer mir selbst noch jemand um mich Sorgen machte. Sie sah gut aus, ausgeschlafen und rosig und roch frisch geduscht nach »ck one«. »Ich habe Brötchen geholt und wollte mit dir frühstücken. Dann hätten wir zusammen zum Set fahren können, na ja, aber das machen wir ja jetzt auch. Jetzt sag mal, was du allein im Wald zu suchen hast. Ich an deiner Stelle hätte viel zu viel Angst, um mutterseelenallein spazieren zu gehen, bei diesen - na ja du weißt schon ...« »Rita«, ich schluckte, »ich bin nicht einfach so spazieren gegangen. Ich bin geflüchtet. Wir müssen die Polizei anrufen. Es ist ein neuer Mord passiert.« Wir saßen in der geräumigen Küche des Krummen Hauses, die wir zur Bürozentrale für den Dreh umfunktioniert hatten. Als wir angekommen waren, war das Haus leer, und ich war sauer, dass mein Regieassistent Ingo nicht, wie vereinbart, die Nacht im Haus verbracht hatte. Der Verstoß gegen die Absprache würde eine wunderbare Grundstimmung für den ersten Drehtag schaffen, aber die Stimmung war meinerseits sowieso auf dem Tiefpunkt, und ich fragte mich, wie ich an diesem Tag ein Dutzend Leute zum Arbeiten motivieren sollte. Glücklicherweise traf Harry Klein noch vor dem Drehteam ein, sodass ich ihm einen Schnellabriss meiner frühmorgendlichen Erlebnisse geben konnte. Um kurz vor halb acht saß ich mit Klein und Schultz über der dritten Tasse Kaffee. Als Schultz mit seinen Leuten kam, hatte ich ein zweites Mal das zweifelhafte Vergnügen gehabt, den grausigen Vorfall zu schildern. Während ich mit den Ermittlern am Tisch saß, suchte ein Team von Beamten den kleinen Park nach Spuren ab und hatte den separierten Schwanz zur Untersuchung in die Gerichtsmedizin gebracht. »Wäre es möglich, dass ich mir den Penis anschauen kann, Herr Klein?« »Was soll denn das nun wieder?« Schultz war so unglaublich schwer von Begriff, dass es zum Verzweifeln war. »Den von gestern konnte ich identifizieren - und vielleicht ist es auch diesmal jemand, den ich kenne.«
»Sie hat Recht. Wenn es stimmt, was sie erzählt hat«, Klein warf mir einen tröstenden Blick zu, »und wir haben keinen Grund daran zu zweifeln, dann kann es sein, dass diese Serie speziell für Frau DeLight inszeniert wird. Offenbar kennt sich der Mörder genau aus, was ihre Tagesabläufe und Gewohnheiten angeht, und hat es beide Male so eingerichtet, dass Frau DeLight, diejenige war, die das Szenario entdeckt. Es könnte sein, dass sie die Adressatin ist.« Schultz grummelte, holte sein Handy raus und schnauzte einen Mitarbeiter an, mit Polaroids zu uns heraufzukommen. »Frau DeLight, ich will Ihnen was sagen. Das Verhalten, das Sie heute Morgen an den Tag gelegt haben, war grob fahrlässig. Wenn ich eine Beleidigungsklage riskieren wollte, würde ich von Dummheit sprechen. Allein in den Wald zu gehen. Wirklich.« »Darf ich Sie daran erinnern, dass Sie es waren, der mir Personenschutz verweigert hat?« Er schnaufte - es sollte wohl ein höhnisches Lachen sein, weil er sich nicht vorstellen konnte, dass jemand wie ich überhaupt Schutz verdiente. Ich hätte ihm gerne seinen heißen Kaffee in den Schoß gegossen. Klein schaltete sich ein und ich hoffte, dass von ihm ein konstruktiver Beitrag kommen würde, und nicht noch ein Urteil über mein zugegebenermaßen etwas unüberlegtes Verhalten. Bislang war er derjenige gewesen, der mit größerer Flexibilität agierte. »Frau DeLight, für unsere Ermittlungen ist es zuträglicher, wenn Sie nicht offensichtlich überwacht werden. Der Mörder beobachtet Sie, und ich weiß nicht, wie er reagiert, wenn wir ihm so offensichtlich seine Pläne durcheinander bringen. Ich möchte nicht das Risiko eingehen, dass er wütend wird und Amok läuft. Sie können sich darauf verlassen, dass wir alles tun, um für Ihre Sicherheit zu sorgen, aber wir werden Ihnen keine uniformierten Beamten zuteilen können. Es gibt außerdem Vorschriften, an die wir uns zu halten haben, selbst wenn sie unter gewissen Umständen fragwürdig sind. Aber ich habe eine Idee, wie wir einen Kompromissweg finden können.« »Klein«, Schultz war vor Wut rot angelaufen und eine Ader pochte sichtbar auf seiner Stirn: »Was fällt Ihnen ein, vor diesen Frauen meine Anweisungen in Frage zu stellen ...« Rita und ich schauten uns lange in die Augen. »Sollte Ingo nicht längst hier sein?«, fragte sie. »Eigentlich wollte er hier schlafen.« Wir harten im selben Moment die gleiche Ahnung. »Ruf ihn an.« Ingo war unauffindbar. Weder unter seiner Handynummer, noch unter seiner Privatnummer war er zu erreichen und er hatte sich auch nicht in der Firma
krankgemeldet oder mitgeteilt, dass er aus irgendeinem Grund verhindert sei. Anni saß seit sieben in ihrem Büro und war jetzt schon der Verzweiflung nahe, da sie noch keinen Ersatz für Johann hatte auftreiben können und nun auch noch hinter Ingo hertelefonieren musste. Während wir also versuchten, den Drehtag zu retten, und die Techniker, Ausstatter und das Catering langsam im Krummen Haus eintrafen, schwer bepackt den schmalen Weg heraufstapfend, überprüfte die Gerichtsmedizin meinen neusten Fund und verglich die medizinischen Werte mit Ingos Krankenakte. Ich blickte aus dem Fenster und sah gerade Dana und Tim auf die Lichtung vor dem Haus treten, als die beiden Kommissare mich noch einmal aufsuchten. »Und?« Schultz hielt mir provokativ ein Polaroid vor, das eine Großaufnahme vom Gesicht der Gummipuppe zeigte. Der Schwanz war diesmal mit der Eichel voran in die Plastiköffnung eingeführt, und man konnte deutlich erkennen, dass er mit einem exakten Schnitt vom Körper abgetrennt worden war. Er sah fast aus wie ein schlaffer Dildo. Im Gegensatz zu Johanns Schwanz war diesmal kein Blut zu sehen - der Anblick wirkte künstlicher, weniger brutal. Wenn ich nicht die Wahrheit gewusst hätte, dann hätte ich vielleicht angenommen, dass es ein Paket war. Dass der Schwanz, genauso wie die Puppe, aus Plastik war. Aber das Wissen, dass dem nicht so war und der Mörder vielleicht diesmal mehr Zeit für die Details seiner Inszenierung aufbringen konnte, reichte aus, mir das Frühstück, das ich an diesem Morgen nur in Form von Milchkaffee gehabt hatte, nach oben steigen zu lassen. Ich musste mich zusammenreißen, nicht zu kotzen. Beim ersten Fund hatte mich der Schock davor geschützt, diesmal war ich nicht entsprechend konditioniert. Ich musste würgen und gab Schultz das Bild zurück. »So kann ich ihn nicht erkennen. Man sieht die Eichel ja gar nicht.« Wortlos präsentierte er ein neues Foto, auf dem nur der Schwanz zu sehen war. »Gott sei Dank«, stieß ich hervor und schämte mich schon im selben Moment für den unsensiblen Fauxpas, »es ist nicht Max.« Und in Gedanken fügte ich hinzu: »Und Gott sei Dank auch nicht Ronny.« »Ich habe keine Ahnung, zu wem er gehört.« Und das ließ wieder die Vermutung zu, dass der Schwanz zu Ingo gehörte, den ich nicht genau genug kannte, um ihn anhand seines Glieds zu identifizieren. »Wir haben nachgedacht und eine sinnvolle Lösung für Ihren Personenschutz gefunden.« Klein mied den Blickkontakt mit mir, als er mich ansprach und Schultz stand mit verkniffenen Lippen neben seinem Untergebenem. »Kommissar Klein möchte offenbar zum Film, Frau DeLight, und er hat den Vorschlag gemacht, als verdeckter Ermittler und zu Ihrer persönlichen Sicherheit hier am Drehort zu bleiben. Vielleicht kann er Ihnen die Kabel tragen?« »Nein, aber wie es aussieht, stehe ich ohne Regieassistenten da, und ein Darsteller fehlt mir wie Sie wissen auch. Suchen Sie sich was aus.«
Obwohl er durchaus aussah, als könne er in einer Produktion wie dieser seinen Mann stehen, hatte sich Klein für die ihm unverfänglicher scheinende Aufgabe entschieden, und ich gab ihm ein kurzes Briefing, worauf es in seinem neuen Job ankam: »Es ist im Grunde das Gleiche, was Sie bei der Kripo machen Sie führen Anweisungen aus, halten die Augen auf, ob und wo man etwas verbessern kann, und helfen mir, meine Vorstellungen in die Tat umzusetzen. Die Crew ist größtenteils sehr nett - ein paar Idioten, die meinen, etwas Besseres zu sein als der Regieassistent, gibt es hier natürlich auch. Bei denen müssen Sie von vornherein böser Cop spielen - denken Sie einfach an Ihren Chef, dann wissen Sie, was ich meine. Die Mädchen haben lieber jemanden, der nett mit ihnen umgeht. Da brauchen Sie dann etwas Einfühlungsvermögen. Aber seien Sie kein Weichei.« »Weiß irgendjemand außer Ihrer Assistentin davon, dass ich bei der Kripo bin?« Ich überlegte, ob ich irgend jemandem gegenüber Kleins Namen erwähnt hatte, aber mir fiel niemand ein. »Nein. Außer Rita weiß keiner Bescheid. Denen, die Sie in der Firma gesehen haben, erzählen Sie, dass Sie da waren, um sich zu bewerben. Anni wird Ihre Unterlagen brauchen, wir sind da sehr genau. Kann man bei der Kripo was anfertigen lassen?« »Das wird bereits erledigt.« »Okay, dann können wir ja mal die Runde machen und Sie überall vorstellen. Wir sind hier übrigens per Du. Wie heißen Sie mit Vornamen?« Er schaute mich mit einem Ausdruck von trotzigem Stolz an. »Harald.« Ich riss mich zusammen und verkniff mir ein Grinsen. »Harry Klein. Ich glaub es nicht.« Gemeinsam mit Rita machten wir eine Runde durch das Haus, und ich erklärte meinem Regieassistenten die Sets und die Abläufe. »Der gesamte untere Bereich des Hauses ist Drehort, die Küche natürlich ausgenommen. Was früher der Gastraum war, haben wir umfunktioniert zu einem variablen Set. Sie sehen, dass der Pächter vorne einige Wände herausgerissen hat, die Gaststube machte zwei Drittel des Erdgeschosses aus und hat Fenster in drei Richtungen. Unser Ausstatter hat ziemlich gut mit Vorhängen und Stellwänden gearbeitet - ein Umbau ist in einer Stunde zu schaffen. Und schon wird aus der Hexenküche ein Schlafzimmer. Im hinteren Bereich des Erdgeschosses, da wo früher die Speisekammern waren, haben wir die Technik untergebracht. Wir drehen auch im Garten und in der Scheune und im Wald natürlich auch, aber nicht direkt hier, sondern ein paar Kilometer weiter oben. Im zweiten Stock sind die Garderoben, eine für die Jungs, eine für die Mädchen. Es gibt zwei ehemalige Schlafzimmer, beide liegen nach vorne raus, da haben wir die Maske untergebracht. Und auf der Rückseite ist ein Bad und noch ein großer Raum - das ehemalige Wohnzimmer des Pächters, das ist der Aufenthaltsraum.«
Wir standen auf dem Flur des ersten Stocks vor einer Tür, die zu einer schmalen Treppe in den zweiten Stock führte. Hier war es kühl und zugig. Meine Stimme hallte durch den großen leeren Raum. Ich hatte jedes Mal ein unangenehmes Gefühl, wenn ich diese Etage betrat. Vielleicht lag es daran, dass hier das Scheitern des einstigen Besitzers so offensichtlich wurde und mir jedes Mal sein schreckliches Ende einfiel. »Dieses Stockwerk steht leer, es gibt nur einen Raum, den wir verwenden und zwar als Wohnung des Priesters. Dieser Teil des Hauses sollte ursprünglich auch renoviert werden. Der vordere Teil ist exakt so geschnitten wie der Gastraum im Erdgeschoss. Wahrscheinlich wollten sie die Gaststube bis in den ersten Stock erweitern, aber dann ist dem Pächter das Geld ausgegangen.« Ich erzählte Klein nicht, dass für die Dreharbeiten der erste Stock viel günstigere Voraussetzungen geboten hätte als das Erdgeschoss. Dadurch, dass er komplett leer stand, wäre es viel einfacher gewesen, den Set aufzubauen, aber ich hatte meine Entscheidung aus dem Bauch getroffen und argumentiert, dass es den Transport der Technik vereinfachen würden, wenn wir im Erdgeschoss drehten. Der wahre Grund, den ersten Stock so gut es ging zu vermeiden war, dass mich dieser Ort gruselte. Ich hatte das Einschussloch in der Wand gesehen, vor der sich der Besitzer die Kugel gegeben hatte. Sein letzter Blick hatte den Trümmern seiner Existenz gegolten. Einem Ausflugslokal, das keiner wollte. Einem leeren kalten Raum, der sein ganzes Geld verschlungen hatte. Wir stiegen die steile Treppe hinauf, und prompt fühlte ich mich wohler. Rita erklärte Klein die Abläufe. »Wir fangen morgens um halb acht an. Dann geht Dana zu Tim in die Maske. Bei ihr dauert es immer etwas länger, weil sie stark tätowiert ist und Body-Make-up braucht.« Sie klopfte an die Tür zur Maske und wir steckten unsere Köpfe hinein. »Morgen, Sweeties!«, rief Tim, während er konzentriert mit einem Schwämmchen Camouflage auf Danas Hintern auftrug. »Morgen ihr beiden«, gab ich zurück. »Ich möchte euch unseren neuen Regieassistenten vorstellen. Das ist Harry.« Als Tim ihn erblickte, ließ er von Danas Hintern ab und setzte sein strahlendstes Lächeln auf. »Hi, ich bin Tim!« Dana ergriff die Chance, sich eine Zigarette anzustecken und fragte »Was ist mit Ingo?« »Frag nicht.« Rita schloss die Tür zur Maske und wir setzen unsere Tour fort. »Ab acht kommen die Jungs von Licht und Ton und die Kameramänner, um neun dann die anderen Darsteller und wir fangen mit dem Einleuchten an.« Sie schaute in
ihre Dispo und reichte Klein eine Kopie. »Das ist der Drehplan für heute und morgen. An Darstellern haben wir heute Dana, Simone, Ronny und Frederic. Morgen kommen dann Pamela und Eddie dazu.« Dann zog sie aus ihrer Umhängetasche ein Skript und reichte es unserem neuen Regieassistenten. »Es wäre sinnvoll, wenn Sie sich damit vertraut machen.« »Du«, sagte Klein. »Wir sollten uns an das Du gewöhnen.« Er lächelte sie freundlich an. Rita fuhr sich durch die kurzen Haare und blickte auf die Dispo. »Alles klar, Harald. Wir beginnen heute Morgen mit Szene vier. Die ersten Einstellungen spielen draußen, die drehen wir sofern wir es zeitlich schaffen -, heute ab vierzehn Uhr. Für das Opening brauchen wir nur Ronny, Dana und Simone.« Ich schaltete mich wieder ein. »Ursprünglich war geplant, dass während des Außendrehs parallel im Haus eine Szene mit Frederic gefilmt wird, aber das hätte Ingo allein übernommen und ich weiß nicht, ob Sie ...«, ich korrigierte mich, »ob du dich der Porno-Regie schon gewachsen fühlst.« »Vielleicht morgen.« Klein errötete. »Ich habe eine schnelle Auffassungsgabe.« Kaum dass wir wieder in der Küche angekommen waren, füllte sich das Haus mit Mitarbeitern. Die Jungs von Licht und Ton erschienen und berichteten, dass das Firmengelände bereits wieder von der Presse belagert wurde. Ich hoffte inständig, dass niemand ihnen verraten würde, wo wir drehten, denn es wäre schwer gewesen, die Atmosphäre des 19. Jahrhunderts zu erzeugen, wenn vor der Haustür Handys klingelten und Fernsehteams Anekdoten austauschten und »Bericht erstatteten«, von wo es nichts zu berichten gab. Ich saß am Küchentisch, ein Laptop vor mir, klickte mich durch diverse Porno-Seiten auf der Suche nach einem Priester-Darsteller und aß ein Muffin, das Rita mir hingestellt hatte, damit ich nicht ohne Frühstück zur Arbeit schreiten musste. Harry hatte ich auf den Set geschickt und durch die offen stehende Tür konnte ich beobachten, wie er die Technik von dem umgestellten Drehplan informierte und ihnen die aktualisierten Dispos reichte, als hab er nie irgendwo anders gearbeitet als in einer Filmproduktion. Die Techniker schienen ihn in seiner Rolle zu akzeptieren. Frederic und Simpne kamen kurz herein und wir tauschten Luftküsschen aus, bevor sie in die Maske gingen. Ich war froh, dass die beiden sich auf Anhieb gut verstanden - sie passten toll zusammen. Vielleicht hatte die Krisensituation sie zueinandergebracht - denn obwohl Frederic einen ausgeglichenen Eindruck machte, machte ihm der Tod seines Freundes mit Sicherheit zu schaffen. Trotz der Umstände war die Atmosphäre am Set angenehm ruhig. Was zum Teil auch daran lag, dass wir Pamela nicht gleich am ersten Tag ertragen mussten. Einmal mehr in meinem Leben war ich dankbar, dass ich Arbeit hatte, dass ich Routinen absolvieren musste, dass ich in ein Team eingebunden war. All das trug dazu bei, dass ich die Ereignisse, die ich in den vergangenen Tagen und noch an diesem Morgen miterlebt hatte, ertragen konnte. Ich hatte keine Zeit für einen Zusammenbruch, denn Zeit war ein Luxus, den ich mir nicht leistete. Ich trug Verantwortung. Mich in meine Ängste zu vertiefen, stand nicht zur Debatte. Allein im
Haus zu sitzen und auf die Übertragungswagen der Presse zu starren, sinnierend, wo mein Mann war, wie es ihm ging, ob er noch am Leben war - das hätte mir den Verstand geraubt. Ich fragte mich, was Menschen dazu verleitete, sich ins Private zurückzuziehen anstatt weiterzuarbeiten, wenn sie genug Geld hatten, nie wieder einen Finger rühren zu müssen. Ich war mir sicher, dass Greta Garbo an den Spätfolgen einer chronischen Langeweile gestorben war, die schlimmere Nebenwirkungen hatte als jede andere tödliche Krankheit. Vierzig Jahre aus eigener Entscheidung arbeitslos die Vorstellung war für mich grausam. Wie mochte es wohl sein, jahrzehntelang durch die gleichen Straßen zu spazieren, wo jeden Tag die gleichen Paparazzi lauerten - bis sie starben und durch neue ersetzt wurden, die dann wieder jahrelang Gretas Schlapphut nachjagten. So ein Leben war für mich unvorstellbar, denn obwohl auch mir die Paparazzi auflauerten, hatte ich genug Ablenkung, mir nicht achtzehn Stunden jeden Tag darüber den Kopf zu zerbrechen. Ich hatte meine Arbeit. Mein Leben hatte einen Sinn. Was wäre der Sinn, wenn ich nicht arbeiten könnte? Sollte ich mich über die Zinsgutschriften auf meinen Kontos freuen, Kissen besticken und frische Schnittblumen in schlichten teuren Vasen arrangieren? Gerade jetzt, wo mein bisheriges Leben durch scheinbar sinnlose Geschehnisse bedroht wurde, war es meine Arbeit, die meine Angst mäßigte und dafür sorgte, dass ich mich auf andere Dinge konzentrierte als mein angeschlagenes Gefühlsleben. Die moderne Psychologie mochte anderer Ansicht sein, aber Verdrängung ist ein Mechanismus, dessen sich die Seele nicht von ungefähr dann und wann bedient, wenn die Realität einem gerade allzu übel mitspielt. Vielleicht würde ich in fünf Jahren bei einem Psychiater sitzen und ihm meine Traumata der letzten Tage um die Ohren hauen. Vielleicht wäre ich in fünf Tagen tot. Sei's drum. Im Moment zählte einzig und allein das Jetzt. »Johanns Vater hat vor mir ausgespuckt, kannst du dir das vorstellen?« Bartels klang gleichzeitig amüsiert und fassungslos. »Sehr bizarr. Sehr American Beauty.« »Gerd, wir haben in einer Viertelstunde Drehbeginn, sei nicht böse, wenn ich dich gleich abwürge.« »Ach Schätzchen, mir ist alles recht - solange du mir nichts abschneidest.« »Ich kann darüber nicht lachen, tut mir Leid.« Ich fand die Bemerkung wirklich geschmacklos. Es entstand eine Gesprächspause, und langsam machte es bei mir klick. »Ich hab dich erwischt, Lilly.« »Es dämmert mir, Gerd. Woher wusstest du das mit dem Abschneiden?« »War nur so eine Vermutung - wenn die Polizei keinerlei Details herausgibt, dann bezweckt sie damit eins: Sie wollen verhindern, dass irgendein Durchgeknallter aus Profilierungszwang den Mord zugibt. Und wenn sie dermaßen auf ihren Fakten sitzen bleiben wie in diesem Fall, dann muss es ein aussagekräftiges Szenario gewesen sein. Nenn mich Sherlock, aber wenn ein Pornostar getötet wird und von einem >brutalen Verbrechern< die Rede ist, dann braucht man nur etwas Fantasie um zu
ahnen, was das brutale Moment ist - Verstümmelung. Und immer wenn ich an Johann denke, sehe ich zuallererst seinen Schwanz.« »Geht dir das mit all deinen Exfreunden so?« »Sei nicht zickig. Du weißt was ich meine - Johann hatte den perfekten Champignon.« »Schreib das doch in deinem Artikel. Gerd, tut mir Leid, ich muss an die Arbeit.« »Jetzt sei nicht beleidigt, du weißt, dass ich es nicht böse meine.« »Heute morgen ist ein weiteres Leichenteil gefunden worden. Die Polizei vermutet, dass es von meinem Regieassistenten stammt.« »Nein!« Er war fasziniert bis zur Schmerzgrenze. »Ein Serienmörder in der Kaiserstadt Goslar! Warum kann er nicht in Hannover töten - dann hätten wir einen tollen Aufhänger: der Expo-Killer.« »Mir wäre es auch lieber, es würde nicht hier passieren, Gerd. Aber die Geschichte ist alles andere als lustig, und ich kann deinen Humor beim besten Willen nicht teilen.« »Ich meinte das gar nicht komisch.« »Okay. Das macht es noch schlimmer. Nimm's mir nicht übel, aber ich muss jetzt an die Arbeit.« Vielleicht funktionierte Gerd Bartels auch so ähnlich wie ich und kompensierte seinen Schmerz mit Arbeit. Und sein Arbeitsfeld waren nun einmal die Sensationen. Trotzdem wollte ich mir keine geschmacklosen Spekulationen mehr anhören. »Eines noch, Lilly. Wusstest du, dass Elke Brenners ehemaliger Doktor-Freund im Februar unter sehr mysteriösen Umständen ums Leben gekommen ist?« Ich war - um ein überstrapaziertes Klischee zu benutzen - ganz Ohr, er hatte meine ungeteilte Aufmerksamkeit zurückgewonnen. »Erzähl!« »Du erinnerst dich an die Geschichte mit dem zurückgezogenen FAKT?« »Sie hat einen Artikel geschrieben und mit den Fakten so jongliert, dass es ihren Freund in das beste Licht rückte.« »Genau. Dann haben sie die Ausgabe nicht ausgeliefert, das ist einmalig in der Geschichte des Blatts. Großer Skandal beim Verlag, großer Skandal in der Ärztekammer und jeder, den ich anspreche, ist zutiefst verschämt und will schnellstmöglich weg vom Thema.« »Interessant. Und worum ging es nun eigentlich in dem Artikel?« »Du kennst mich ja ganz gut, oder?« »Gerd, bitte jetzt keine Spielchen. Ich bin neugierig.«
»Du kennst mich gut genug um zu wissen, dass ich alles herausfinde, wenn ich mich dahinter klemme. Alles. Ausnahmslos. Bislang. Wenn ich nicht so viel beschäftigt wäre, würde ich dir auch den Mord an Kennedy aufklären.« »Spann mich nicht auf die Folter!« »Okay. Ich weiß nicht, was in dem Artikel stand. Alle, ausnahmslos alle, mit denen ich gesprochen habe, halten dicht.« »Unglaublich!« »In der Tat.« »Und was waren das für mysteriöse Umstände, unter denen der Arzt ums Leben kam?« »Halten Sie sich fest, Frau DeLight, und wenn Sie noch nicht sitzen, dann nehmen Sie besser Platz. Elkes Arzt starb bei einem Autounfall mit Fahrerflucht. Der Fahrer konnte nie gefasst werden und bei dem Wagen handelte es sich um einen Mietwagen.« Das Handy wäre mir vor Schreck fast aus der Hand gefallen. Mir wurde schwindlig und eine Panikattacke setzte zum Ansprang an. Wer noch nie einer zum Opfer gefallen ist, kann sich davon keinen Begriff machen. Zu sagen, es sei ein Gefühl, ist unzureichend. Es ist mehr. Es wird nicht umsonst als Attacke bezeichnet. Panik ist ein Gefühl jenseits der Angst. Der Angst kann man rational beikommen, wenn man sich fragt, wovor man sich fürchtet. Meist sind das Konsequenzen, die man auf sich zukommen sieht. In der Regel kann man sich beruhigen, indem man der bedrohlichen Situation ausweicht oder ihr die Stirn bietet faceyourfears. Panik das ist der Zustand, in dem Körper und Geist sich geschlagen geben und es einem unmöglich machen, sich der Angst zu stellen oder einfach die Flucht zu ergreifen. Man weiß manchmal vielleicht nicht einmal, wie die Angst entsteht, was ihr zu Grunde liegt. Und selbst wenn man das weiß, zum Beispiel, wenn man mit einer Mordserie ungeahnten Ausmaßes konfrontiert ist und eine zentrale Rolle in der Besetzungsliste spielt, ohne eine Ahnung zu haben, was für Konsequenzen das Skript bereithält, hilft einem die Erkenntnis, dass die panische Reaktion vielleicht irrational ist, kein Stück weiter. Die Panik, die einen ergreift, wenn man auf der Flucht ist und von einem beilschwingenden Irren verfolgt wird, hat einen handfesten Anlass. Die Panik, die einen ergreift, wenn man sich gerade in Sicherheit wähnt, wenn ein Dutzend schützender Menschen um einen herum ist, trifft viel härter. Sie ist ein Eingeständnis an die Angst. Ein lähmendes Kapitulieren vor der Bedrohung. Die ultimative Erfahrung von Einsamkeit. Panik liefert dich aus. Panik ist ein Anfall von Sterblichkeit. Ich zitterte am ganzen Körper, jede Farbe war mir aus dem Gesicht gewichen, ich brach in Schweiß aus, gleichzeitig kam es mir vor, als habe mich jemand an einen Stock gefesselt - ich war nicht fähig, meinen Kopf nach links oder rechts zu bewegen und dennoch fühlten sich meine Gliedmaßen an, als seien die Knochen darin zerfasert, aufgeweicht, ich war wie ein Mensch aus Gummi, der nur von den dünnen
Drähten des Schocks zusammengehalten wird. Ich weiß nicht, wie viel Zeit verging, Zeit war auf einmal kein Begriff mehr. Plötzlich stand Ronny vor mir, aufgetaucht aus dem Nichts, wie der Geist, den er in meinem Film spielen würde. Er schaute mich aus blaugrünen, verständnisvollen Augen an, die feucht wurden, als er meinen Schockzustand wahrnahm, einordnete und - behandelte. Er runzelte die Stirn, machte einen Schritt auf mich zu und schloss mich fest in die Arme. Mein Körper sackte völlig in sich zusammen, und ich fing an zu schluchzen, während ich seinen warmen, sehnigen Körper an meinem spürte und all die Panik fließen ließ, bis ich sie herausgeheult hatte, bis sie aus meinem System verschwunden war und wie eine dunkle Gewitterwolke wieder abzog. Der Moment kam mir endlos vor, ich verlor mich in diesem Schwall widersprüchlicher Gefühle von Furcht und Aufgehobensein, Angst und Liebe, Panik und Erleichterung, von Leben und Tod. Ich lehnte mich in der Umarmung zurück, ohne meine Arme von ihm zu lassen, und schaute ihm in die Augen. Was für einen Anblick er jetzt vor sich hatte - mein Gesicht war tränennass, die Augen verquollen, ich war durchgeschwitzt, restlos ausgelaugt. Und er blickte mich aus seinen strahlenden Augen an, meine Tränen auf seiner Wange, und sein Blick strahlte nichts aus als Wärme, Verständnis, Beruhigung. Als Liebe. Langsam, unaufhaltsam kamen sich unsere Gesichter näher, waren in ihrer ZeitlupenBewegung nicht zu bremsen. Seine Lippen waren warm und weich, als sie auf die meinen trafen und wir in einem Kuss versanken. Ich erkannte ihn wieder. Aber gleichzeitig war dieser Kuss etwas Neues, etwas anderes. Er schien mir Energie zu schenken. Es war wie umgekehrter Vampirismus - anstatt mir Kraft zu rauben, erlebte ich einen Rausch von Stärke. Wo eben noch blinde Panik, purer Terror mein System regiert hatten, machte sich jetzt Begierde breit und wurde angeheizt durch die Stärke seiner Umarmung, das Tempo unserer Zungen. Sein ver- trauter Geruch, der Druck seines steifen Schwanzes - all das war zu gut, um Vernunft walten zu lassen. Ohne voneinander abzulassen verschwanden wir im hinteren Bereich der Küche, zerrten uns noch die Kleider vom Leib, während wir in eine sichtgeschützte Ecke stolperten, und gaben uns dem unglaublichsten Quickie hin, das ich je erlebt hatte. Es wäre nicht ganz einfach gewesen, angesichts der Situation, in der ich mich befand, jemandem diese Szene zu erklären. Ich habe später lange nachgedacht, ob ich mich dafür schämen sollte, und Scham ist ein Gefühl, das ich in Bezug auf Sex nie sehr intensiv erlebt habe. Wenn Klein es gesehen hätte, wäre sein Klischee , des Porno-Stars wahrscheinlich ein für alle Mal zementiert gewesen. Aber wir hatten keine Zeugen. Wir hatten nur einander. In diesem gloriosen Moment der Wiedervereinigung. Noch während Ronny mich fickte und kurz bevor wir gleichzeitig kamen, was normalerweise ein überbewerteter Moment ist, in diesem Augenblick jedoch das einzig Wahre war, während wir uns so tief in die Augen schauten, dass wir uns fast darin verloren, fiel mir eine Gedichtzeile ein, die für immer meine Beziehung zu ihm beschreiben würde: »Wer nie sein Herz im Spiegel sah, der kann das nicht verstehn.«
Kapitel 10 Porno oder Erotik, das ist letztlich nur eine Frage der Einstellung. Der Kameraeinstellung. Und der Häufigkeit. Für den Hexen-Film hatten wir fast doppelt so viel Drehzeit veranschlagt wie für jeden anderen Film, der in meinem Hause
gedreht worden war, und das, obwohl wir bereits aufgerüstet hatten und mit drei Kamerateams, anstatt wie üblich mit zweien drehten. Diese beiden Faktoren sowie die opulente Ausstattung machten Lilly DeLights Hexen zu unserer bislang teuersten Produktion. Der vordere Bereich der Gaststube des Krummen Hauses war in eine Art Kräuterküche verwandelt worden und die Szene, die wir an diesem Morgen drehten, zeigte Dana und Simone bei einem Beschwörungsritual. Während Dana in einem alten Buch blätterte und die Anweisungen für einen Zauber vorlas, bei dem es darum geht, den männlichen Geist zu beschwören, mischte Simone die Ingredienzien für einen Hexentrunk zusammen. Nach dem Genuss einer tüchtigen Dosis Belladonna und Hexenpfeffer geraten die beiden in einen heftigen Rausch, der sich (für die TV1 Variante) in eine lesbische Soft-Sex-Szene steigert, die wiederum für den »Director's Cut« etwas ausführlicher, detaillierter und mit viel mehr Großaufnahmen in Szene gesetzt werden sollte. Der Orgasmus der Hexen hat zur Folge, dass sich Ronny materialisiert - in der Fernsehfassung nackt und schön (sichtbar nur bis zum Bauchnabel), in der Videofassung nackt, schön und erigiert. Er tritt aus einem Gemälde heraus, auf dem er als Faun abgebildet ist, mit wildem Blick und stählernem Leib. Ein echter Porno-Star-Auftritt, bei dem der Zuschauer lange darauf warten muss, den geheimnisvollen Mann zu sehen und ihn dann schließlich auf einem Silbertablett serviert bekommt. Mit Special effects satt, mit Glanz und Glamour und stimmungsvollem Soundtrack. Es sollte ein 161wirklich stilvolles Comeback für Ronny werden, und ich hatte mir Dutzende alter HollywoodSchinken angeschaut, um Ideen zubekommen, wie man so etwas am spannendsten inszeniert. Das hatte sich ausgezahlt. Ich betrachtete mir die Einstellungen auf dem Monitor, und selbst ohne die Special effects, die in der Post-Production eingebaut werden würden, war seine Präsenz einfach spektakulär. Ein Star ist ein Star, wenn man ihn als solchen erkennt und nicht erst, wenn er in allen Talkshows gesessen hat und die Gesellschaftsmagazine Home-Storys mit ihm machen. Ein Star betritt einen Raum und die Leute drehen sich nach ihm um. Manche Stars mussten erst viele Räume zum Leuchten bringen, bevor auch die Produzenten begriffen, was sie da vor sich haben und beschlossen, diese StarQualität für ihre Filme auszunutzen. Wenn es mir glücklicherweise mal passiert, dass ich einen Star entdecke bzw. wiederentdecke, dann bin ich als Produzentin natürlich überglücklich. Ich weiß, dass ich ein Juwel besitze und pflege es behutsam. In meiner Zeit bei Greta Giehse hatte ich erlebt, wie der Neid einer Produzentin der Geburt eines Stars im Wege stehen kann. Anstatt sich damals über den Erfolg zu freuen, den sie mit den Filmen von Ronny und mir verbuchen konnte, wurde sie immer unleidlicher und die Bedingungen unter denen wir arbeiteten, immer schwieriger. Fazit war, dass sie ihre Stars verlor und den Grundstein für meine Produzentinnen-Karriere legte. Ich habe mal eine Anekdote über Marilyn Monroe gelesen. Marilyn war nach Jahren in billigen Zweitklasse-Filmen bei widerlichen Produzenten ausgebrochen und hatte Amerikas berühmtesten Sportler Joe DiMaggio geheiratet. Den Ring frisch am Finger hatte sie angeblich direkt vom Standesamt einen Freund angerufen und triumphal ausgerufen: »Marilyn Monroe hat ihren letzten Schwanz gelutscht.« Womit sie sprichwörtlich und sinnbildlich und vielleicht auch ganz konkret die fiese Produzentenriege meinte, die ihr nie die verdiente Chance gegeben hatte
und sie erniedrigte, wann immer sie konnte. Das hoffe ich jedenfalls für Joe DiMaggio. Ich konnte mich mit dieser Geschichte sehr identifizieren, nur dass es bei mir natürlich hätte heißen müssen: »Lilly bläst nur noch, wen sie will.« Ich hatte beide Seiten der Medaille gesehen und war mir nur zu gut darüber im Klaren, dass die Stars das Butter auf dem Brot meines Produktionserfolgs sind. Als wir die Einstellung abschlossen, bei der Ronny sich aus dem Bild in den Raum katapultiert - mit wehenden Haaren und sehnigem Leib, fein benetzt von frischem Schweiß, war die gesamte Crew in spontanen Szenenapplaus ausgebrochen - das hatte ich noch bei keiner Produktion erlebt. Ich freute mich für ihn, denn die Anerkennung der Crew ist das Beste, was man als Darsteller erleben kann. Abgesehen natürlich von diversen, multiplen Orgasmen pro Drehtag. Und es war für alle Beteiligten augenscheinlich - dieser Mann war nicht nur ein Profi. Dieser Mann war der Beste in seinem Metier. Und das sah man bereits jetzt, wo er nichts anderes getan hatte als aus einem Bilderrahmen in den Raum zu hüpfen. Der Stress und die Angst der vergangenen Tage fiel ein wenig von mir ab, endlich schien mal wieder etwas zu gelingen. Aber natürlich war die Freude nur von kurzer Dauer. Die Crew saß versammelt an zwei Tischen, groß wie Rittertafeln, in der Küche. Die Szene war in Rekordzeit abgedreht worden, und bevor wir mit den Außenaufnahmen beginnen wollten, hatten wir noch Zeit für ein leichtes Mittagessen. Dana erzählte Simone schmutzige Witze und schaffte es tatsächlich, sie zum Erröten zu bringen. Tim suchte immer wieder verstohlen den Blickkontakt zu Harry Klein, der seinen Job wacker absolviert hatte und genüsslich einen Rucolasalat aß. Rita hing schon wieder am Handy, um Neuigkeiten mit Anni auszutauschen und Ronny saß neben mir. Leuchtend, zentriert und gelassen. Unter anderen Vorzeichen wäre dieser Tag vermutlich als der idyllischste Arbeitstag meiner Laufbahn in die Geschichte eingegangen, aber die Umstände waren nun mal nicht danach und der Tag war noch lange nicht vorbei. Kaum, dass wir eine Arbeitspause eingelegt hatten, machte ich mir wieder Gedanken über die Morde. Die beiden Doppelmorde - denn dass Elke Brenners Freund eines natürlichen Todes gestorben war, konnte ich mir nicht vorstellen - zwischen denen vielleicht oder vielleicht auch nicht ein Zusammenhang bestand. Einen gab es jedenfalls: mich als Zeugin in beiden Fällen, und das erschien mir zu ungewöhnlich, um reiner Zufall zu sein. Nach und nach beendeten alle ihre Mahlzeit und kamen miteinander ins Gespräch. Ich hatte noch keine Gelegenheit gehabt, mit Harry alleine zu reden, und so wusste er noch nichts von den Neuigkeiten, die Gerd Bartels mir mitgeteilt hatte. Im Moment wurde er von Tim in Beschlag genommen und musste sich Schminkanekdoten aus der Welt der Reichen, Berühmten und der Nackten anhören. »Und als Prince in Berlin war und in der Waldbühne auftrat, da brach sich seine Stylistin die Hand und Prince selbst - stell dir das mal vor - also Prince ruft bei mir an und sagt: >Hey guy I have a problem, canyoufix it?< Du, da war ich schon ein bisschen excited.« »Sag bloß. Welcher Prinz war das denn?«
Tim schaute ihn verständnislos an und ich musste grinsen. Nicht nur, weil Harry unbeeindruckt blieb, sondern weil die Geschichte eine reine Erfindung war und Tim sie Vorjahren in Umlauf gebracht hatte, um den Salon, den er damals führte, in die Schlagzeilen zu bringen. Was ihm gelungen war. Er hatte es sogar zu kurzzeitigem Talkshow-Ruhm gebracht und war mit seiner Erzählung bei Bärbel und Arabella gewesen. Nachdem er TV-Blut geleckt hatte, kündigte er an, sich in Zukunft auf das Frisieren im Intimbereich zu spezialisieren und schaffte es sogar zu Hans Meiser, Ilona Christen und als krönenden Abschluss ins Abendprogramm: Zu Margarete Schreinemakers! Dort hatte ich ihn aufgegabelt. Er hatte neben mir in der Maske gesessen und Hand an mein Haar gelegt, das durch die Behandlung der offiziellen Maskenbildnerin aussah wie ein vergessener alter Dutt aus dem DenverClan. Auf einmal verstand ich Margaretes Haarprobleme. Tim war mir auf Anhieb sympathisch gewesen. Bereits beim Sekt-Umtrunk nach der Sendung berichtete er mir verstohlen, dass die Prince-Anekdote eine Erfindung war und dass die Schamcoiffure alles andere als erfolgreich lief - er hatte bislang nur zwei Kunden gehabt: seinen damaligen Freund und sich selbst. Von da an engagierte ich ihn regelmäßig als Stylisten, wenn ich offizielle Auftritte hatte und, nachdem ich die Produktionsfirma gegründet hatte, stellte ich ihn fest ein. »Na der Prince natürlich. Prince, Madonna, Michael Jackson.« »Ach ja, kenn ich. Klar.« Ronny stand auf und legte mir die Hand auf die Schulter. Ich schaute ihn an und wir tauschten einen intensiven Blick aus. »Na, dann kann's ja jetzt weitergehen. Wir treffen uns alle in einer halben Stunde vor der Tür, dann marschieren wir zusammen in den Wald, okay? Kamera-Team Eins kommt bitte jetzt mit vors Haus, wo wir ein paar Einstellungen mit Frederic aufzeichnen, der ins Fenster schaut und die Mädchen beobachtet. Frederic - bist du so weit?« Er nickte. Tim mischte sich ein. »Lass mich nochmal kurz sein Gesicht nachpudern, er glänzt.« »Alles klar. Wir sehen uns in fünf Minuten.« »Rita - hilf den Jungs doch bitte beim Aufbau. Hast du das Storyboard?« »In der Tasche. Alles klar.« Die Jungs vom Kamera-Team erhoben sich und gingen zum Set, um das Equipment für den Transport zu verstauen, und auch der Rest der Crew machte sich auf den Weg, die Sachen zusammenzupacken, die sie für den Außendreh im Wald benötigten.
»Harry, kannst du bitte mal kommen - ich würde gern noch ein paar Sachen mit dir durchsprechen.« »Klar, Lilly.« Er lächelte freudig. Wir saßen jetzt allein am Tisch, nur eine Küchenhilfe, die ich mir vom Haus der Landfrauen ausgeborgt hatte, war mit Abräumen beschäftigt. »Was den Mord an Elke Brenner angeht - ein Freund von mir ist Journalist in Berlin und er hat herausgefunden, dass Elke Brenners Exfreund unter genau den gleichen Bedingungen ums Leben gekommen ist wie sie. Unfall mit Fahrerflucht. Ich hatte noch keine Zeit, Ihnen das zu sagen. Gerd Bartels hat mich erst kurz vor dem Dreh angerufen.« »Das hört sich nicht nach einem Zufall an.« »Ganz genau. Meinen Sie, dass die beiden Geschichten irgendwie zusammenhängen?« »Dazu müsste ich mehr über die Fälle in Berlin wissen. Ich informiere Schultz und der setzt sich mit der dortigen Kripo in Verbindung.« »Na, der wird sich freuen. Der Fall wird nämlich von zwei Kommissarinnen bearbeitet. Schultz hat auf mich bislang nicht den Eindruck gemacht, dass er Frauen etwas zutraut. Jedenfalls nichts Gutes.« »Das muss nicht unsere Sorge sein. Wissen Sie, welcher Abschnitt den Fall betreut?« »Abschnitt? Passiert ist es in Berlin-Mitte. Die Kolleginnen heißen Haberlik und Vogt.« »Kann ich Ihr Handy benutzen?« »Sicher. Und fragen Sie bitte gleich, ob es etwas Neues von Max gibt.« Ich reichte ihm das Telefon und Rita kam in die Küche. Sie war aschfahl. Ich sah sie und dachte nur »Was ist jetzt?« Ich musste die Frage nicht stellen. »Ich weiß nicht, wie ich's sagen soll ... Die Bänder von heute Morgen sind verschwunden. Alle. Unauffindbar.« »Was heißt unauffindbar? Habt ihr überall gesucht?« Harry Klein antwortete. »Die Bänder lagen in einem Alu-Koffer am Set. Ich habe gesehen, wie der Kameraassistent von Team Eins sie hineingelegt hat.« »Natürlich, da haben wir zuerst geschaut. Der Koffer ist leer.« Rita war der Verzweiflung nahe. Ich zwang mich, innerlich bis zehn zu zählen, und verhinderte so einen gewaltigen ziellosen und arbeitsklimabedrohenden Gefühlsausbruch. Die Wut schwelte in mir, wie all die anderen schrecklichen Gefühle - die Sorge um Max, die Angst vor dem
Unbekannten, die Frustration darüber, nichts an der Situation ändern zu können, und die Anspannung, unter diesen Bedingungen auch noch vernünftig arbeiten zu müssen. »Hier will mich jemand zerstören. Aber das lasse ich nicht zu.« Langsam erhob ich mich vom Tisch und stützte mich mit beiden Armen auf die Tischplatte. »Wir finden diese Bänder, und wenn ich persönlich eine Taschenkontrolle durchführen muss. Und wenn die Polizei es nicht schafft, dann finde ich eben meinen Mann. Und wenn ich schon mal dabei bin, dann finde ich auch heraus, wer das ist, der hier herumläuft und unschuldige Menschen auf die widerlichste Art und Weise ums Leben bringt. Es reicht. Ich lasse mir nicht mein Leben verpfuschen und stehe dabei und kucke zu. Jetzt ist Schicht!« »Lilly - Sie wissen, dass ...« Harry musste sich natürlich einmischen, aber ich hob die Hand und wehrte ihn ab »Still. Ich will nichts mehr hören. Rita, sag allen, dass wir eine freiwillige Taschenkontrolle machen, bevor wir in den Wald gehen. Wer sich weigert, weiß, was auf ihn zukommt. Harry, du hilfst mir dabei.« Auf der einen Seite war es mir sterbenspeinlich, im Gepäck meiner Crew herumzuwühlen, auf der anderen Seite sah ich keine andere Lösung. Wenn wir den Dieb am ersten Tag finden könnten, wäre der Spuk vielleicht vorbei und wir würden unter halbwegs normalen Umständen unserer Arbeit nachgehen können. Vor allem gäbe es dann kein gegenseitiges Misstrauen mehr, das einem die Konzentration raubte und die Atmosphäre vergiftete. Gemeinsam mit Harry wanderte ich von Raum zu Raum, sagte ein paar entschuldigende Worte im Vorfeld und begann Taschen, Tüten und Koffer zu leeren. Niemand widersetzte sich. Die Taschenkontrolle ergab ein paar skurrile Überraschungen. Bei Frederic fand ich eine Tüte Gras, sparte mir aber einen Kommentar und ließ sie ihm. Ich wechselte einen Blick mit Kommissar Klein und er zuckte mit den Schultern und signalisierte, dass es auch für ihn kein Drama war. Dana trug zwei Stangen Marlboro mit sich und besaß ein Sammelsurium von Glücksperlen-Bändern in allen Schattierungen des Regenbogens - sie schien auf Nummer sicher gehen zu wollen. Ronny hatte keine Lektüre außer einem Yogabuch dabei, als Lesezeichen diente ihm ein altes Foto von uns beiden aus glücklichen Tagen. Ich nahm das Foto in die Hand und schaute ihm in die Augen. Er lächelte mich offen an. Ein Kameraassistent las das Buch Wenn Frauen zu sehr lieben, Simone nahm ihre Rolle offenbar ernst und studierte Die Sturmböhe von Emily Bronte und Tim hatte Poppers in diversen Geruchsrichtungen dabei - ich fragte mich für wen und wann oder ob er einfach nur für den Fall gerüstet sein wollte, ähnlich wie Inge Meysel mit ihrer Todespille oder Dana mit ihren Glücksbändern. Natürlich musste ich auch Harry überprüfen, was mir ein bisschen unangenehm war. Wenn ich es nicht getan hätte, wären die anderen berechtigterweise misstrauisch geworden. In seiner Tasche befand sich eine umfangreiche Pressemappe mit Artikeln über mich, die er offenbar aus dem Internet gezogen hatte. Nach einer Stunde des Wühlens in der Intimsphäre meiner Crew waren die Bänder noch immer verschollen und blieben wie vom Erdboden verschluckt. Ich hatte die
leise Vermutung, dass es sich wieder um einen Fall von Sabotage handelte, der den Stempel Greta Giehse trug, doch natürlich sagte ich das niemandem. Wenn die Giehse die Bänder bekäme, wäre es ihr zuzutrauen, die Szenen eins zu eins nachzustellen und zwei Wochen vor mir mit einem ihrer billig produzierten Videos auf dem Markt zu sein. Da hatte ich es geschafft, das Drehbuch wochenlang geheim zu halten, und am ersten Drehtag funkte mir jemand dazwischen und bedrohte die Produktion. Wenn wir einen Saboteur am Set hatten - und so sah es mittlerweile aus -, dann würde es noch unzählige weitere Mittel und Wege geben, die Dreharbeiten zu unterminieren. Mir grauste davor. Wenn die Bänder sich nicht in den Taschen eines der Crew-Mitglieder befanden, dann konnten sie nur irgendwo im Haus versteckt sein. Niemand war an diesem Vormittag zurück zu den Wagen gegangen - der Weg zum Parkplatz dauerte zu Fuß fast zehn Minuten, und ich hätte es gemerkt, wenn einer vom Team länger als zwanzig Minuten verschwunden gewesen wäre. Frederic war der einzige Darsteller, den wir am Vormittag nicht gebraucht hatten, aber er hatte sich die ganze Zeit am Set aufgehalten und die Dreharbeiten beobachtet. Ebenso hätte es einer von uns gemerkt, wenn ein Eindringling aufgetaucht wäre - mit Schaudern dachte ich wieder an den Morgen, an die Begegnung mit dem Killer von Angesicht zu Angesicht, an seinen Arm, der sich langsam hob, um mir gelassen zuzuwinken. Nachdem ich mit allen Taschen, Koffern und Tüten durch war, hatten Harry und ich im gleichen Moment dieselbe Eingebung. Die einzige noch unkontrollierte Tasche war meine eigene. Sie hatte die ganze Zeit unbeaufsichtigt in der Küche gestanden, und jeder hätte die Möglichkeit gehabt, in einem unbeobachteten Augenblick etwas herauszunehmen oder hineinzulegen, in der Hoffnung, dass ich meine eigene Tasche nicht filzen würde. Das setzte natürlich einen enormen Wagemut voraus, da in der Küche ständiges Kommen und Gehen herrschte, aber ausgeschlossen war es nicht. Selbst bei einer Durchsuchung des ganzen Hauses wäre meine Tasche vielleicht als einzige unkontrolliert geblieben. Wir stürmten in die Küche, gingen schnurstracks zu meinem Louis Vuitton-Modell und tatsächlich: hier fanden sich vier Beta-Videos ä dreißig Minuten Dauer. Mit zitternden Händen kontrollierte ich die Tapes. Ich öffnete vorsichtig die vordere Klappe und sah, was ich befürchtet hatte. Die Bänder waren durchgeschnitten. Im ersten Augenblick war ich wie versteinert, aber dann riss ich mich zusammen. Ich würde mich nicht von irgendeinem Betriebsspion kaputtmachen lassen. »Rita!«, brüllte ich durch das ganze Haus und binnen zwanzig Sekunden stand sie vor mir. »Nimm die Bänder, fahr sofort in die Firma und lass die Jungs im Schnittstudio überprüfen, ob sie noch zu retten sind. Wenn nicht, dann finde jemand anderen, der sie repariert. Egal wie. Geld spielt keine Rolle, hier geht's ums Prinzip. Ich lass mich nicht kleinkriegen, und wer das denkt, der hat die Rechnung ohne mich gemacht!« Es war ein subtiler Schlag gewesen. Hätte jemand das Equipment zerstört, dann wäre uns das vielleicht teuer gekommen, aber wir hätten kurzfristig etwas anmieten können. Den Film zu vernichten, auf dem Ronnys geniales Comeback festgehalten war, schien eine weitere Botschaft für mich zu beinhalten. »Freu dich nicht zu früh!« Es war ein Schlag gegen mich, aber auch gegen Ronny.
Wir waren auf dem Weg nach draußen - die Crew würde weiter hinauf in den Wald gehen, Rita zum Parkplatz, um zurück zur Firma zu fahren. »Harry - könntest du bitte Rita begleiten? Ich möchte nicht, dass sie alleine durch den Wald läuft. Vielleicht nehmt ihr noch jemand Dritten mit, dann muss Harry den Weg nicht alleine zurückgehen.« Ich hatte kaum durch die Runde geschaut, da volontierte bereits jemand. »Ich geh mit!« Tim war kaum zu bremsen. Harry schaute mich stirnrunzelnd an. Ihm war sichtlich unwohl dabei, mich allein zu lassen, aber ich war schließlich von meinem Team umgeben. »Beeilt euch - wir treffen euch an der Location. Und nehmt den Hund mit - der freut sich, wenn er ein bisschen Bewegung bekommt.« »Na gut. Dann mal los.« Ich reichte Rita die Hundeleine - Mikey schaute mich etwas verdutzt an, als er sah, dass ich nicht mit ihm ging, aber er gehorchte anstandslos. Die drei machten sich auf den Weg und Tim fing sofort an, zu plappern und zu gestikulieren. Es hätte nicht viel gefehlt und er hätte Luftsprünge gemacht oder sich bei Harry eingehakt. Der trübe, dunstige Morgen hatte sich aufgeklärt und jetzt war es ein milder Spätsommernachmittag mit strahlender Sonne, die den Wald in tausenden von GrünSchattierungen leuchten ließ. Eichhörnchen raschelten durch die Büsche und sprangen an den Bäumen hinauf. Vereinzelte Blätter segelten durch die Luft, wenn ein leichter Wind aufkam. Es roch nach frischer weicher Erde, nach Tannen und nach Heimat. Mit der technischen Crew war ich bereits am Drehort gewesen, also ließ ich sie die Porno-Prozession in den Wald anführen und bildete mit Ronny die Nachhut. Das bot mir die Gelegenheit über unser heftiges Erlebnis am Vormittag zu reden. »Ich weiß nicht, wie ich es dir erklären soll, aber es war schon ziemlich verrückt. Weißt du, ich liebe Max ...« Ich merkte, dass ich einen Satz konstruiert hatte, der hoffnungslos auf ein kleines, entlarvendes Wörtchen zusteuerte. »Aber?«, nahm Ronny den Faden auf. »Aber seit ich deinen Brief gelesen habe, da muss ich ununterbrochen an dich denken. An uns.« »Das verwirrt dich?« »Im Moment weiß ich nicht mehr, was mich am meisten verwirrt. Aber du bist sicherlich auch ein Faktor.« Er nahm meine Hand und wir gingen eine Weile sprachlos weiter. Ich schaute auf den Boden vor mir.
»Lilly, mach dir keine Sorgen um uns. Was du und dein Mann teilen, das ist etwas Besonderes. Was du und ich gemeinsam erlebt haben und was wir jetzt fühlen, das ist etwas Besonderes, aber es findet auf einer ganz anderen Ebene statt. Ich liebe dich und vielleicht liebst du mich auch, und auch deinen Mann. Das ist ein Gottesgeschenk. Sei froh, dass so viel Liebe in dir ist.« Einerseits war ich erleichtert, dass er es so unkompliziert sah, andererseits zweifelte ich stark daran, dass Max seine liberale Beziehungsauffassung teilen würde. Und es nagten Zweifel an mir, wie lange ich den neuen sanften, heiligen Ronny ertragen würde, ohne den wild-verwegenen Mann zu vermissen, der er war, bevor er mit dem verdammten Koks angefangen hatte. Dass er weg war von den Drogen war ja schön, aber musste er von irdischer Sucht gleich zu himmlischer Erleuchtung gelangen, hatte er nicht ein paar Stationen übersprungen? Als wir Händchen haltend den Weg entlangspaziert waren, hatte ich kurz gedacht »Wie Hansel und Gretel«. Jetzt kam ich mir eher wie die Hexe vor. Das ist der Fluch, wenn man Waage, Aszendent Zwilling ist - man ist nicht gespalten, man ist gleich multipel. Aber das ging einem Zwilling, Aszendent Waage, nicht anders. Eingleisigkeit ist bei Menschen wie Ronny und mir gar nicht angelegt, und ich fragte mich, wie lange ihm sein Esoterik-Trip genügen würde. Ich drückte seine Hand und wir gingen schweigend weiter. Wir hatten fast den Anschluss verloren, waren geschlendert, wo der Rest der Crew marschiert war. Ich sah Danas rote Jacke hinter einer Biegung verschwinden, als hinter uns ein Geräusch hörbar wurde. Jemand folgte uns. Ronny blieb abrupt stehen und gemeinsam drehten wir uns um. Dreißig Meter hinter uns trabte ein Schrank von einem Mann den Weg entlang auf uns zu. Wo wir auf demselben Weg ästeknackend laut gewesen waren, schien dieser Mann kaum ein Geräusch zu machen, und das, obwohl er im Jogging-Tempo lief und wahrscheinlich so viel wog wie Ronny und ich zusammen. Ich wusste kaum, wie mir geschah, da hatte Ronny mich schon in Richtung der Prozession geschubst und gesagt »Renn!«, aber ich blieb wie angewurzelt stehen. »Lauf, Lilly, mach schon!«, schrie er mich an, aber ich konnte mich nicht bewegen, starrte auf den Riesen, der uns immer näher kam und jetzt die Hand hob. »Ruhig, ruhig - Rita schickt mich.« Erst jetzt machte es klick. »Ist schon okay«, sagte ich zu Ronny, »ich weiß wer das ist.« Ronnys Warnruf war bis zur Crew vorgedrungen und Dana, Frederic und zwei Kameramänner waren zu uns gerannt und bestaunten nun mit uns das Wunder von Mann, das vor uns stand. Zwei Meter groß, ein Körper wie Mr. Universum, ein Gesicht wie Markus Schenkenberg. Ich war platt. Dana trat vor und sprach mit ihrem schärfsten Timbre: »Hi, ich bin Dana - ich nehme an, du bist der Neue.« »Ah ...«
Der Riese schaute mich mit Kinderblick an, um dann, von sich selbst überrascht, seine Antwort zu geben. »Ja. Das bin ich. Ich bin Marco Oldenburg.« Die Lichtung präsentierte sich in der Nachmittagssonne als ein wahrgewordener Musikantenstadl-Traum. Unberührte Landschaften haben diesen Effekt der Zeitlosigkeit - man könnte in jedem Jahrhundert sein - Wald und Wiesen wie diese waren älter als die Menschheit. Es wäre keine Überraschung gewesen, wenn ein keulenschwingender Neandertaler aus dem Forst herausgebrochen wäre oder ein mächtiger Braunbär. Wenn sieben kleine Männer einen Glassarg vorbeigeschleppt oder zwei magere Kinder gefragt hätten, ob wir ihre Brotkrumen vernascht hätten. Die Schauspieler überarbeiteten ihr Make-up und die Kameraleute bauten sich an verschiedenen Positionen auf. Ich führte mein Einstellungsgespräch mit Marco, der für meinen Geschmack etwas zu mächtig für die Rolle des Priesters war. Nichtsdestotrotz war ich erleichtert, dass die Suche nun ein Ende hatte, und ob er nun meinen Idealvorstellungen entsprach oder nicht, schien belanglos - Herr Oldenburg war schlicht und ergreifend ein Haupttreffer für den Porno-Film. Wer das nicht auf den ersten Blick sah, hatte ein Problem mit den Augen. »Die Anni hat mich hierhergeschickt, und ich kann dir sagen es war gar nicht einfach, aufs Firmengelände zu kommen. Es ist total belagert von der Presse.« »Aber nun bist du ja da.« »Ich wäre noch viel früher hier gewesen, aber zwei Wagen sind mir gefolgt, da musste ich erst durch die ganze Stadt fahren, bis ich sie abgeschüttelt hatte.« »Wie ist die Stimmung in der Firma?« »Grob. Im Radio laufen schon den ganzen Tag Beiträge über die Porno-Morde und die stellen dich nicht gerade freundlich dar.« Es überraschte mich zwar nicht, aber leicht konnte ich es trotzdem nicht nehmen. Mit einem Mal schien es, als sei ich all die Jahre, die ich nun in der Öffentlichkeit stand, nur geduldet worden. Kaum dass der Lack meines Ruhms angekratzt worden war, beschloss man einhellig, dass man ihn komplett herunterreißen konnte, damit ich schneller Rost ansetzte. Von einem Tag auf den anderen hatte man mich von meinem Luxusliner auf ein kleines Rettungsboot verfrachtet, das ich mit Ute Lemper (zu erfolgreich) und Hera Lind (Ehebrecherin) teilte. Man stelle sich vor, was das für einen Filmstoff abgeben würde: Die Geächteten, oder - noch besser - Die drei Musketiere. Leider war ich nie ein Fan von Frauen-Dreiern und wollte schnellstmöglich zurück an Bord. Wenn man mich dort partout nicht mehr wollte, blieb mir immer noch Neuland zu erkunden. »Wie hast du überhaupt hierher gefunden?« »Ich hab auf dem Parkplatz Harry und Rita getroffen, die haben mir erklärt, welchen Weg ich nehmen muss.«
»Du hast uns ganz schön erschreckt.« »Tut mir Leid. Das wollte ich nicht.« »Wie lange bist du schon in der Branche? Ich hab dich noch nie vorher gesehen. Wo hast du vorher gearbeitet?« »Eigentlich die meiste Zeit in Goslar, manchmal in Braunschweig und Hannover. Ich mach das selbstständig erst seit zwei Jahren. Vorher war ich bei der Polizei.« Er riss einen Grashalm aus, steckte ihn in den Mund und kaute darauf herum. Sein Gesichtsausdruck wirkte mit einem Mal angespannt. »Sag bloß! Und wie kommt man von der Polizei zum Porno?« »Ha?« Bei jedem anderen hätte so ein »Ha« plump und ein bisschen dämlich gewirkt, bei ihm stand es jedoch mehr in Clint Eastwood- als in Al-Bundy-Tradition. »Na, ich mein, das ist doch schon eine eigentümliche Karriere, oder?« Er blickte mich verdutzt und rehäugig an. Dann schaute er hektisch von den Darstellern zu den Kameras, bis sein Blick wieder auf mich fiel. Eine klitzekleine Schweißperle stand auf seiner Oberlippe. »Ich glaub, hier liegt ein Missverständnis vor. Ich bin dein Bodyguard. Harry Klein hat mich deiner Assistentin empfohlen.« Wir hatten alle ganz selbstverständlich angenommen, dass Super-Marco Johanns Ersatzdarsteller war. Aber wir lagen falsch. Leider, denn Marco war der Fleisch gewordene Traum einer jeden Pornoproduzentin. Wenn der Rest seiner Physiognomie das hielt, was die gigantische Silhouette versprach, dann hatten wir hier ein potenziell potentes Merchandise-Wunderkind am Haken: Marco-Filme, die Marco-Web-Site (einmal im Monat live im Chat), Marco-Magazine, Marco-Dildos, Marco-Telefon-Hotline. Die schwule Community würde ihn zum Helden ausrufen, Rocco Siffredi und Jeff Stryker würden ernsthaft Konkurrenz bekommen. Marco würde man per Kusshand an Playgirl für kitschige Softsex-Fotos vermitteln können; es war nicht unvorstellbar, dass sich selbst die Lifestyle-Magazine für Mode für ihn begeistern und Designer ihn als Promi-Model über die Laufstege schicken würden. Nächster Schritt wären die freitäglichen Talkshows. Alida Gundlach würde sich die Finger nach ihm lecken, Giovanni di Lorenzo tief verstört in seinem Sessel versinken ... Mir wurde schwindlig bei der Vorstellung. Eines stand fest - Marco mochte glauben, seine Zukunft liege in der Personenüberwachung, aber die nächsten Wochen würden für mich arbeiten. Ich hatte auf unbestimmte Dauer vierundzwanzig Stunden täglich Zeit, ihm das Business schmackhaft zu machen. Irgendwie würde ich ihn um den Finger wickeln, und wenn ich für ihn meine Bücher öffnen musste, um ihm zu zeigen, wie rosig seine finanzielle Zukunft aussehen würde, wenn er nur ein, zwei Jahre ins Geschäft einstiege. Mein Plan stand fest. Dieses Wunderkind würde in die Annalen der Porno-Geschichte eingehen. Ob er wollte oder nicht. Manchmal muss man die Menschen zu ihrem Glück zwingen.
Dass die gesamte Crew ihn sofort als Johann-Ersatz eingestuft hatte und keine Ahnung hatte, was Marcos wirkliche Funktion war, kam nicht ungelegen. Auch wenn ich noch nicht wusste, wie wir damit umgehen würden, wenn der unvermeidliche Drehtag kommen würde, an dem die Szenen mit dem Priester auf dem Plan standen und Marco seinen Luxuskörper entblättern müsste. Doch bis dahin waren noch ein paar Tage Zeit, und ich hatte die Hoffnung, dass der Spuk, der seit drei Tagen von meinem Leben Besitz ergriffen hatte, längst vorbei sein würde und ich mit ausreichend Überzeugungskraft auf Marco eingewirkt haben würde, um ihm klar zu machen, dass er für diesen Film geboren war. »Wie habe ich mir das vorzustellen? Die persönliche Überwachung? Bist du jetzt Tag und Nacht an meiner Seite?« Ich schenkte ihm ein Lächeln voller Liebreiz. »Es wäre sinnvoll, wenn ich bei dir wohnen könnte - du hast doch ein Gästezimmer?« »Sechs.« Ich seufzte schwer und zwirbelte an einer blonden Locke. »Pardon?« Gibt es eigentlich so etwas wie Freud'sche Verhörer? Zu seiner Schweißperle auch der Oberlippe hatte sich eine zweite gesellt und auch auf der delikaten Stelle zwischen Unterlippe und Kinn, für die das anatomische Wörterbuch bedauerlicherweise keine Bezeichnung gefunden hat, glitzerte ein Perlchen. »Sechs Schlafzimmer. Du kannst dir eins aussuchen.« »Ah ja. Gut. Du willst nicht, dass jemand erfährt, dass ich dein Bodyguard bin?« »Je länger wir es verheimlichen können, desto besser. Ich will nur, dass der Killer weiß, dass ich nicht mehr alleine wohne. Dann fühle ich mich besser. Harry hat dich empfohlen, sagtest du?« »Ja, wir haben zusammen die Ausbildung gemacht.« »Warum hast du bei der Polizei aufgehört?« Er zögerte für den Bruchteil einer Sekunde. »Ach, lange Geschichte. Ich hab nebenher Bodybuilding und Kampfsport gemacht und hatte halt viele Wettkämpfe. Das hat dann irgendwann nicht mehr zusammengepasst.« »Und? Auch ein paar Wettkämpfe gewonnen?« »Ich bin der amtierende Mister Niedersachsen. Im Oktober komme ich in die Endausscheidung für Mister Germany.« Ich konnte mir gut vorstellen, wie Kommissar Schultz mit einem Landesmeister auf seinem Revier umgehen würde. Mein Handy klingelte. Es war Rita. »Lilly, ist Marco bei euch angekommen?«
»Er hat uns einen Riesenschrecken eingejagt, aber jetzt ist alles geklärt. Außer Harry und dir weiß keiner, dass er mein Bodyguard ist.« »Okay.« »Was ist mit den Bändern?« Sie atmete hörbar erleichtert auf. »Kein Problem - sie können gerettet werden.« »Endlich mal wieder eine gute Nachricht! Wann kommt ihr zurück?« »Ehrlich gesagt weiß ich nicht, ob es sinnvoll ist zurückzufahren. Du kannst dir nicht vorstellen, was hier los ist. Wir sind kaum auf den Hof gekommen, so sehr wimmelt es von Presse-Teams. Ich habe Angst, dass die uns zum Set folgen.« »Dann bleibt, wo ihr seid. Um das Make-up können wir uns selber kümmern, ist nicht so schlimm.« »Es gibt da noch etwas, was ich dir sagen muss.« Mein erster Schreckgedanke galt natürlich Max. »Also?« »Ein Anruf von TV l.« Ich war erleichtert, obwohl Ritas Ton nichts Gutes verhieß, »Ja, und?« »Sie deuten an, dass sie sich unter den gegebenen Umständen von der Produktion verabschieden.« »Bitte???« »Sie machen sich Gedanken wegen deines Rufs.« Ich dachte, ich höre nicht mehr richtig. »Ich bin doch nicht O. J. Simpson, mein Gott!« »Die Presse hat dich total unter Beschuss genommen. Sie stellen dich als kaltblütig und machtgeil dar - im Fernsehen laufen in jeder Sendung Ausschnitte aus der Pressekonferenz, wie du über Greta Giehse herziehst.« »Das macht mich doch noch lange nicht zu einer Kriminellen! Wer ist denn hier Täter und wer Opfer?!« »Mir musst du das nicht sagen.« »Schalte sofort die Anwälte ein. Wenn TV1 den Vertrag bricht, dann kommt sie das teuer zu stehen.« »Lilly - sie haben noch nicht unterschrieben, also gibt es noch keinen Vertrag, den sie brechen könnten. Wir haben da kaum eine Chance zu gewinnen.«
»Das ist mir scheißegal - es gibt ja wohl sowas wie mündliche Verträge! Alles, was noch gefehlt hat, war die Unterschrift vom Intendanten. In so einer Phase können die doch nicht mehr zurücktreten - und dann auch noch mit einem so lausigen Argument!« »Ich rufe den Anwalt an und erkundige mich.« »Du kannst ihn gleich bitten, eine Klage wegen Rufschädigung aufzusetzen. Wenn die mit solch einer Argumentation den Abschluss verweigern, dann ist das, als ob sie mit dem Finger auf mich zeigen.« »Lilly, bitte.« »Bitte? Bitte was? Für wen arbeitest du eigentlich? Für die oder für mich?« »Ich versuch ja nur —« »Dann versuch etwas anderes, Rita, verdammt nochmal.« Schon in dem Moment, in dem ich sie anschnauzte, tat es mir wieder Leid. Mir war klar, dass sie nur mein Bestes wollte, aber im Moment war für mich das Beste ein bisschen Rückenstärkung. Ich hätte mich für meinen Ton entschuldigen sollen, aber meine Güte - es musste doch verzeihbar sein, einmal nicht die ideale Arbeitgeberin, verständnisvolle Zuhörerin, beste Freundin zu verkörpern. Es war schließlich mein Leben, das gerade von allen Seiten in den Dreck gezerrt wurde, und es kam mir langsam so vor, als könne sich außer mir niemand ein Bild davon machen, wie man sich fühlt, wenn so etwas geschieht. »Gibt es etwas Neues von Max?« »Nichts, tut mir Leid.« »Danke, Rita. Bis später.« »Schlechte Neuigkeiten?«, erkundigte sich Marco. »Jede Menge, Marco, jede Menge.« Er tätschelte mir mit seiner Pranke unbeholfen die Schulter. »Wird schon wieder! Kopf hoch.« Es war tatsächlich schön, etwas so Lapidares wie »Kopf hoch, wird schon« mal aus fremdem Mund zu hören, anstatt es sich permanent selbst einreden zu müssen. Wenn ich eine Sekunde länger über Marcos tröstliche Geste nachgedacht hätte, wäre ich in Tränen ausgebrochen. Aber Tränen gönnte ich mir heute nicht heulen konnte ich morgen auch noch. Der Exbulle hatte bei mir einen Stein im Brett. Einen Stein in der Größe eines Felsbrockens.
Kapitel 11 Dass die Wald- und Wiesen-Szenen, die wir an diesem Nachmittag in den Kasten brachten, so außerordentlich gut ausgefallen waren, war ganz sicherlich nicht mein Verdienst. Die Schauspieler gaben ihr Bestes, die Lichtstimmung über dem Wald und auf der blumenübersäten Lichtung war märchenhaft, und die Kamera-Teams hatten das Auge dafür, diese Stimmung auf Film zu bannen. Ich war die ganze Drehzeit über abgelenkt und angespannt. Obwohl Super-Marco ein sympathischer Kerl und ein echter Hingucker war, machte mich seine Anwesenheit befangen. Ich hatte zwar schon Erfahrung mit Security-Personal, aber die Umstände waren nie so extrem gewesen. Personenschutz war in der Regel eine Vorbeugungsmaßnahme für einen Fall, der nur selten eintrat, und diente mehr der visuellen Abschreckung als einem tatsächlichen Beschützen des Klienten. Ein Statussymbol, das besagt »Rühr mich nicht an!«, ein Hund, der bellt, aber nicht beißt. In all den Jahren meiner Karriere war mir in der Öffentlichkeit noch nie etwas zugestoßen - dann und wann erhielt ich obszöne beleidigende Briefe, einmal hatte ich meine Telefonnummer wechseln müssen, weil ein weiblicher Teenie-Fan sie herausgefunden hatte und mich mit Liebesschwüren nervte. Aber normalerweise ging ich ohne Bedenken »unbetreut« arbeiten, einkaufen oder spazieren - egal ob in Goslar oder sonst wo in der Welt. Oft hatte ich Rita oder Max an meiner Seite und in Goslar war fast immer Mikey dabei. Unerkannt blieb ich selten, aber meistens reagierten die Menschen freundlich. Während ich Frederic und Simone bei einem historisch eindrucksvollen 69er filmte, machte ich in Gedanken Listen. Auf der ersten standen nur Begriffe wie: • Verschwinden • Mord • Fahrerflucht • Serienmord • Verstümmelung • Sabotage • Rechtsstreit • Miese Presse • Beerdigungen • Hinterbliebene Auf einer weiteren versuchte ich die Stichpunkte festzuhalten, die die Morde und die Fundorte charakterisierten, aber es war nicht möglich, die vielen Details in einen Zusammenhang zu bringen, der Sinn machte. Ich musste mich zwingen, mich auf meine Arbeit zu konzentrieren, anstatt gleichzeitig Porno-Regisseurin und Miss Marple zu spielen. Dies gelang mir nur leidlich, aber die Dynamik meiner Besetzung war an diesem Tag einfach fantastisch. Das würde sich schon am nächsten Tag ändern, denn da würde Pamela am Set erscheinen und angesichts Marcos wahrscheinlich in heißer Liebe auflodern. Ihre Namensvetterin Frau Anderson wanderte gerade mit Home-Storys durch die Presse, da sie einen Supertreffer gelandet und sich Markus Schenkenberg geangelt hatte. Dem würde unsere Pammi in nichts nachstehen wollen, und wenn schon der echte Markus vergeben war, dann würde sie eben mit Super-Marco vorlieb nehmen. Aber der war viel zu schade für sie. Nach ersten Befangenheitsmomenten, als Frederic und Simone zur Sache kamen und die Kameras um sie zu tänzeln begannen, hatte er sich akklimatisiert und nahm die Erfahrung mit einer Coolness und Gelassenheit, die sicherlich größtenteils mit Selbstkontrolle zu erklären war. Fast jeder, den ich kenne, der zum ersten Mal einen Porno-Set betritt, ist erst einmal bemüht, sein Poker-Face zu wahren und dann ein wenig enttäuscht, wenn er sieht, dass die Intimität, die später auf der Videokassette
oder im Film suggeriert wird, das Produkt effizient zusammenarbeitender Mitarbeiter ist. Gerade beim Porno vergessen die Betrachter allzu oft, dass sie Darstellern zuschauen, Schauspielern, die wie alle Schauspieler mehr oder minder bemüht sind, ihr Bestes zu geben, und die unter schwierigen Umständen eine Rolle spielen, in der sie sehr viel von sich preisgeben. Licht, Ton, Regie und Make-up wuseln um sie herum, Kameraobjektive nähern sich ihren Körpern gefährlich nah und bei all dem Trubel dürfen sie sich nicht aus der »Erregung« bringen lassen. Die zwei absoluten »No« in einer Produktion sind schlaff und trocken. Gegen Letzteres gibt es Gleitmittel, aber Ersteres ist erst seit der Erfindung von Viagra behandelbar und trotzdem eher eine Sache des Kopfes als des Unterleibs. Während Frederics einwandfrei funktionierender Kopf in rhythmischen Abständen zwischen den Beinen der über ihm ausgestreckten Simone auftauchte, seine Hände ihre Pobacken massierten, ohne dabei unansehnliche rote Flecken zu hinterlassen und seine Zunge tief in ihr arbeitete, bekam er, wenn er die Augen öffnete, zwei Kamera-Teams in Jeans und Turnschuhen zu sehen, die die Kamera auf sein Gesicht hielten und ein Drittes, das Simones Mundarbeit an seinem Schwanz für die Nachwelt einfing. Ich schätze, der durchschnittliche, sexuell aktive Mann bekommt schon Erektionsprobleme, wenn die Schlafzimmertür aufgeht und unerwarteter Besuch auftaucht. Einen Porno-Star darf so etwas nicht aus der Fassung bringen. PornoDarsteller sind bestenfalls sexuelle Stuntmänner, oder schlimmstenfalls exhibitionistische Egoisten, die sich über nichts anderes definieren können oder wollen als über ihre Schwänze. Ich hatte mit beiden Kategorien gearbeitet und die Einstellung änderte in der Regel nichts an ihrer Leinwandwirkung. Als Regisseur musste man seine Darsteller nicht notwendigerweise mögen - das galt für Hollywood wie für Goslar. Es half, es machte die Arbeit angenehmer, aber es war kein Muss. Wenn ich die Wahl hatte, war jedoch nie Sympathie entscheidend, sondern Kamerawirkung. Ich war schließlich nicht Mutter Teresa, sondern Geschäftsfrau. Vom Erfolg meiner Produkte hing das Schicksal meiner Firma und ihrer Mitarbeiter ab. Gegen siebzehn Uhr zogen Wolken auf, und die Lichtstimmung veränderte sich so dramatisch, dass wir den Dreh abbrechen mussten. Es sah aus, als könnte jeden Moment ein Gewitter losbrechen - der Himmel hatte die Farbe von Schwefel und es roch nach Ozon. Ein Wind war aufgekommen und strich durch den Wald wie ein Musikinstrument. Blätter fielen und es sah aus, als sei der Sommer bald vorüber. Wir hatten in Windeseile abgebaut, da wir das Equipment noch durch den Wald schleppen mussten, und hofften, dass uns der Regen nicht unterwegs überraschen würde. Die Kamera-Teams würden mit dem Material zunächst in die Firma fahren und es auf Qualität überprüfen und dann im Safe verwahren. Ich wollte nach allem, was wir am Vormittag durchgemacht hatten, keine Risiken mehr eingehen. Auf dem Weg zum Parkplatz entwickelte sich der Wind zu einem Sturm und zerrte an unseren Kleidern, riss ganze Äste aus den Baumkronen und peitschte durch das Unterholz. Wir mussten uns gegen die Böen stemmen, um überhaupt vorwärts zu kommen. Der Sturm war laut, und dennoch konnte man hören, wie aufgeregte Tiere durch den Wald flitzten, um sich an einen Ort zu begeben, wo sie das drohende Unwetter unbeschadet überstehen würden. Als wir endlich am Parkplatz
angekommen waren, erwarteten wir fast jede Sekunde den Wolkenbruch. Doch der Regen blieb aus. Ich verabschiedete mich von der Crew, nicht ohne mit Ronny einen tiefen Blick ausgetauscht zu haben, der bis auf den Grund unserer Seele zu gehen schien. Eine Böe unterbrach diesen intensiven Moment und schubste mich förmlich zu Marco in den Wagen. Wir beschlossen, nach Hause zu fahren, damit er sich häuslich einrichten und ich meine E-Mails checken konnte. Ich hoffte immer noch auf ein Lebenszeichen von Max oder irgendeine Nachricht, die mir die Ungewissheit nehmen würde. In die Firma zu fahren konnte ich mir nicht vorstellen - nicht bei all dem Trubel und der Belagerung, die mich dort erwarteten. Ich würde mit Anni und Rita telefonieren müssen, um die Neuigkeiten im Streit mit TV1 in Erfahrung zu bringen. Obwohl es erst Spätnachmittag war, mussten wir das Licht einschalten und konnten den Waldweg nur im Schritttempo hinabfahren. Als wir an der Stelle vorbeifuhren, an der mich Rita an diesem Morgen gefunden hatte - den Kopf in den Erdboden gedrückt -, bekam ich eine Gänsehaut, und das Szenario im Park, meine Flucht durch den Wald war mir plötzlich wieder sehr gegenwärtig. Den ganzen Tag lang hatte ich es geschafft, meine Eindrücke zu verdrängen, aber mit einem Mal stiegen die Erinnerungen wieder auf. Als wir uns der Firma näherten, duckte ich mich im Beifahrersitz, was den Vorteil hatte, dass ich nicht zu sehen bekam, wie groß das Aufgebot an Presse mittlerweile geworden war. Ich konnte es allerdings erahnen, denn Marco kam auf dieser schmalen Straße nur im Stop-and-go-Verfahren an den Wagen der Medien vorbei. Ich blieb unentdeckt - schließlich wusste niemand, wo wir drehten und was wir drehten, also hielten sie Marco vermutlich für einen Forstarbeiter auf dem Heimweg von der Arbeit. Einen außergewöhnlich schönen Forstarbeiter ... Aber die Aufmerksamkeit der Presse schien sich auf das verschlossene Tor zu konzentrieren und das vermutlich schon seit den frühen Morgenstunden. Nachdem wir die Pressemeute erfolgreich passiert hatten, beschrieb ich Marco den Weg zu meinem Haus. Als wir in die Straße einbogen, wirkte die Nachbarschaft wie ausgestorben. Der Himmel schien bleiern, die Fenster der Häuser waren verschlossen - teilweise sogar die Rollläden herunter gelassen. Das einzige Anzeichen von Leben waren zwei Wagen, auf denen das Logo von Sät 7 prangte: ein Pfau mit einem Schwanz in den Farben des Regenbogens. In dem Augenblick, wo wir die Wagen vor meinem Haus erblickt hatten, schlug mit einem lauten Knall ein Hagelbrocken von der Größe eines Taubeneis auf die Motorhaube von Marcos Wagen und hinterließ eine kleine Delle im Metall und einen Riss im Lack. Als habe sich eine Schleuse geöffnet, begannen auf einmal weitere Hagelbrocken vom Himmel zu prasseln, knallten auf die Straße, die Häuserdächer, die Vorgärten und zerschellten in einem ohrenbetäubendem Stakkato auf dem Asphalt, rissen Schindeln von den Dächern, schlugen auf die Segeltuchverdecke teurer HollywoodSchaukeln und brachten die Metallschirme der Straßenbeleuchtung zum Klingen. Marco hatte den Wagen unter einen mächtigen Kastanienbaum manövriert, der zumindest einen geringen Schutz gegen das Bombardement versprach, und wir konnten zuschauen, wie die Busse von Sät 7 ihre Türen verriegelten, um ihre
Kameras in Sicherheit zu bringen, die den ganzen Tag vergebens auf mein Erscheinen gewartet hatten. Das Naturschauspiel war bedrohlich und faszinierend zugleich. Das Licht war wie auf einem schummrigen Filmset, wie in einem Traumszenario - die berstenden Hagelkörner blitzten auf wie Diamanten. Aus der Ferne erklang eine Feuerwehrsirene. Sprachlos starrten wir aus den Autofenstern und sahen zu, wie die Übertragungswagen schlingernd abfuhren. So schnell und heftig der Hagelsturm losgebrochen war, so abrupt endete er. Anstatt in einen Regenschauer überzugehen, knallte noch ein letzter Brocken auf das Autodach und es trat wieder Stille ein. Marco startete den Wagen, fuhr hundert Meter weiter und parkte ihn vor meinem Haus. Die Hagelbrocken knirschten unter unseren Füßen, als wir zur Haustür gingen. Marco ging vor und schloss auf. »Bitte warte hier und lass mich erst die Wohnung überprüfen, okay?« »Wenn du meinst...« Es kam mir absurd vor, meine eigene Wohnung nicht betreten zu können, ohne dass ein Security-Mann sie überprüfte, aber die Geschehnisse der letzten Tage waren nicht minder absurd und hatten sich trotzdem zugetragen. Während Marco jedes einzelne Zimmer überprüfte, stand ich verloren im Eingang und ließ meinen Blick über die Nachbarhäuser wandern. Bei der Arztfamilie gegenüber ging das Licht in der Küche an, eine Gestalt - hinter den Gardinenstores war nicht zu erkennen, wer es war - trat ans Fenster und schaute zu mir herüber. Ich hob meinen Arm und winkte, wie es gute Nachbarn tun. Anstatt meinen Gruß zu erwidern, zog die Person die Gardine zu. Ich schaute, ob jemand dieses brüskierende Schauspiel beobachtet hatte, sah aber niemanden. Gerade als ich wieder anfangen wollte, das Schicksal zu verfluchen, das mich in all diese Miseren gestürzt hatte, sprang Marco die Treppe herab und rief: »Alles klar - du kannst reinkommen.« Ich zog die Tür hinter mir zu, warf meine Tasche auf den Fußboden, ging schnurstracks ins Arbeitszimmer und schaltete den Computer ein. Warum dauerte es jedes Mal so lange, bis sich das Ding hochbootet? Auf der einen Seite leben wir im Zeitalter der Technologie, auf der anderen scheinen wir erst in der Steinzeit des Computers angekommen zu sein, wenn es fünf Minuten dauert, bis der Bildschirm hochgefahren ist und man eine Internetverbindung hergestellt hat. »Sie haben Post« stand im Fenster meines Servers zu lesen. Ich doppelklickte und ein neues Fenster öffnete sich. »Fünf Kilo in acht Wochen« war die Überschrift der Junk-Mail, die ich ungelesen löschte. Ich ging in die Küche und setzte Teewasser auf. Marco nahm am Küchentisch Platz, und ich stand vor dem Schrank und war mit einem Mal so k.o., dass mir selbst die Entscheidung für eine von zwölf Teesorten zu viel war. Der letzte Rest an Energie, die mich durch den Tag gerettet hatte, zischte aus mir heraus wie die Luft aus einer kaputten Lilly-Gummipuppe.
Ich wandte mich dem Exbullen zu. »Grün, schwarz oder Rooibos?« »Hast du Anding Yunwu?« »Nein, den muss ich erst wieder besorgen. Hier ist aber noch Kaihua Longding.« »Wunderbar. Hervorragender Tee!« Ich füllte die Blätter in das Teesieb. »Marco - könntest du Rita anrufen und sie bitten, den Hund hier abzuliefern, wenn sie nach Hause fährt? Ich kann jetzt nicht mit ihr reden. Ich will gar nicht wissen, was es noch für Katastrophen gegeben hat.« »Na sicher.« Er strahlte mich an. Der Mann hatte ein sonniges Gemüt, das gefiel mir. Und es machte Spaß, ihn anzuschauen. Unter anderen Umständen, wenn ich nicht verheiratet gewesen und an diesem Tag meinen Mann nicht schon einmal betrogen hätte - wer weiß ... Aber ich war nicht in anderen Umständen, in keiner Hinsicht. Mein Blick fiel auf die Uhr an der Mikrowelle. »In fünf Minuten beginnt News Alive, willst du's dir mit anschauen?« »Klar. Wenn ich dich nicht nerve. Ich muss nicht die ganze Zeit mit dir in einem Zimmer sein, wenn es dich stört. Ich hab was zu lesen dabei.« »Bleib nur. Ich glaub, wenn ich Schutz brauche, dann jetzt. Die werden den Müll kiloweise über mich ausschütten.« Nachdem er den Anruf getätigt hatte, saßen wir im Wohnzimmer - ich auf der Couch, er im Fernsehsessel - und ließen die Boulevard-Nachrichtensendung über uns ergehen. Wäre es nicht um mich gegangen, so hätte ich mich bei dem Interview mit Viola Eisner, der Porno-Feministin totgelacht. Sie wetterte gegen die Sünden der zur Schau gestellten Sexualität und warnte alle Fernsehzuschauerinnen - das weibliche Anhängsel groß geschrieben und zweimal fett unterstrichen - vor dem Besuch von Sex-Shops und Porno-Kinos. Pornografie sei menschenfeindlich, die Branche mafios, der Konsument versaut, die Jugend verroht und die Welt schlecht. Bla bla bla. Ich konnte .mich an sie erinnern. Sie war so etwas wie ein Alt-Star in Greta Giehses Produktionen gewesen, als Ronny und ich dort anfingen. Ein Alt-Star auf dem Weg nach unten. In den Siebzigern hatte sie kleine Rollen in Streifen wie Die nackten Weiber vom Titti-See und Rock hoch - Schwarzwaldmädel! gespielt, dann war sie ins Hardcore-Geschäft eingestiegen und hatte alles gedreht, was man ihr anbot, bis man ihr nichts mehr anbot. Anstatt wie ihre damaligen Kolleginnen ein Videocafe im Ruhrgebiet oder eine Strandbar auf Mallorca zu eröffnen, hatte sie einen doppelten Salto rückwärts gemacht und war zum Aushängeschild der Kampagne PorNO auserkoren worden. Ich habe großen Respekt vor Aktivistinnen wie Alice Schwarzer, die die Frauenbewegung stark gemacht haben, aber Viola Eisner konnte ich beim besten Willen nicht ernst nehmen. Sie war eine paranoide Opportunistin und so mediengeil, dass es ihr egal war, vor welchen Karren man sie spannte, Hauptsache sie konnte ihr dramatisch ungeschminktes Gesicht in eine Kamera halten. Alice
Schwarzer mochte eine in meinen Augen fragwürdige Einstellung zur Pornografie haben, aber sie hatte etwas bewegt und folgenden Generationen von Frauen den Weg geebnet. Dasselbe hatte Madonna auf ihre Art getan: nur eben mit Titten und Arsch. Viola Eisner war und blieb ein selbststilisiertes Opferweib, und wann immer sie in einer Talkshow ihre betroffene Miene zur Schau stellte, schnellte mein Arm in Richtung Fernbedienung. Heute unterdrückte ich diesen Automatismus und ließ ihr Gebrabbel über mich ergehen. Die ehrenwerte Dame betete salbungsvolle Warnungen herunter und schwafelte, ohne dabei irgendwelche interessanten Informationen preiszugeben. Das einzige Spannungsmoment dieses Interviews war die Korrespondenz zwischen Birkenstock-Latschen und Sex-Vergangenheit, aber das hätte man auch spektakulärer inszenieren können. Wenn dieser Beitrag auf der Ärgerlichkeits-Skala zirka acht Punkte machte, dann sprengte der darauf folgende das Maß. Die gute Viola hatte mich mit keinem Wort erwähnt - wir kannten uns nicht gut genug, außerdem hätte sie nichts gegen mich vorbringen können, was nicht auch für Greta Giehse, Beate Uhse und Teresa Orlowski galt. In den folgenden vier Minuten jedoch fiel mein Name siebzehnmal. »Lilly DeLight - ein Name, den, wenn man den Meinungsumfragen Glauben schenken darf, 98 Prozent aller Deutschen kennen. Lilly DeLight, eine hübsche junge Frau mit Geschäftssinn und Gespür für Sex-Trends. Lilly DeLight, Porno-Queen und Powerfrau. Seit zwei Tagen sind Wolken aufgezogen am Karrierehimmel der blondierten Schönheit. Seit zwei Tagen ist Lilly gefangen in einem Sumpf aus Mord und Geheimnis. News Alive wollte es genau wissen - wer ist diese Lilly, wer ist die Frau hinter der Kunstfigur? Begleiten Sie uns nach der Pause auf der Spurensuche.« Marco und ich schauten uns an und schwiegen. Er wusste, es war Irrsinn, aber er konnte nicht anders. Minutenlang hatte er einen inneren Kampf ausgetragen, während er auf seinem Sofa saß, die rechte Hand auf seinem Schritt, die linke auf der Fernbedienung des Videorekorders. Es war eine Sequenz von dreißig Sekunden, die er sich immer und immer wieder anschauen musste, zwanghaft getrieben von seiner Geilheit. Es war der beste Porno in seiner riesigen Sammlung und er zeigte Lilly DeLight und Ronny Sanchez in ihrem ersten gemeinsamen Film. Die Dekoration war schäbig, der Ton mies, das Bild von schlechter Qualität - was nicht nur daran lag, dass er den Film bereits dutzende Male gesehen und insbesondere diese eine Szene hunderte Male hin- und hergespult hatte. Es war eine Billig-Produktion und trotzdem ein Klassiker. Lilly sah umwerfend aus wie sie da vor dem nackten erigierten Ronny stand - ihre blonden Haare wild und lang, ihr schlanker, junger Körper bekleidet nur mit einem hauchdünnen Fetzen, der ihre Brustwarzen und ihre Schamhaare durchscheinen ließ. Ihr Atem ging schwer, ihre Brust hob und senkte sich, während sie den Mann, der ihr gegenüberstand, betrachtete. Endlich wurde Ronny aktiv und riss ihr in einer einzigen Bewegung den Fetzen vom Leib, versenkte sein Gesicht in ihrem Busen, schob sein Glied in sie und warf sich mit ihr auf das Bett, wo Lilly die Beine um ihn wand, den Kopf zurückwarf und für den Bruchteil einer Sekunde ekstatisch in die Kamera schaute. Ihn anschaute. Ihn wollte. Begehrte. Harry musste es einfach tun, jetzt, wo er endlich ihre Telefonnummer hatte. Es war ein Zwang, dem er sich zu unterwerfen hatte. Wenn jemand auf dem Revier davon
erfahren würde, dann wäre er seinen Job los - das war ihm klar. Und doch konnte ihn nichts davon abhalten. Er schaltete den Videorekorder auf Standbild, sah in Lillys Gesicht und wählte ihre Nummer. Das Telefon klingelte, und ich hob ab. Ich dachte es sei Rita oder vielleicht Annijemand, der mich auf den Fernsehbeitraghinweisen wollte. »Hallo?« Keine Antwort. »Wer ist da?« Am anderen Ende der Leitung hörte ich ein unterdrücktes Aufatmen. »Sagen Sie etwas!« Die Antwort beschränkte sich auf ein schneller werdendes Atmen, das sich früher oder später erfahrungsgemäß in ein orgiastisches Keuchen verwandeln würde. Ich knallte den Hörer auf. Marco schaute mich fragend an. »Ich habe offenbar einen neuen Telefonfreund.« Wieder klingelte das Telefon. Ich hob ab und schwieg, ich kannte mich auf dem Gebiet des Telefonterrors schon etwas aus. Ein Keuchen erklang. In flüsterndem Ton raunte ich in die Muschel: »Hol dir ruhig einen runter, aber wenn ich dich erwische, dann schneide ich dir deinen Mikropimmel ab und nagele ihn an die nächste Litfasssäule.« Ich griff in die Schublade der Kommode und holte eine kleine Trillerpfeife heraus, die mir schon viele gute Dienste erwiesen hatte, pfiff durchdringend in den Hörer, hörte das schmerzhafte Stöhnen am anderen Ende der Leitung und legte auf. Ich erntete einen entsetzten Blick von Marco. »Das mit dem Schwanz-Abschneiden hätte ich mir vielleicht sparen sollen, aber es wirkt normalerweise Wunder.« Die Werbeunterbrechung schien sich endlos lange hinzuschleppen, aber ich wagte es nicht wegzuzappen, aus Angst, den Anfang des Beitrags zu verpassen. »Erst vorgestern hielt die Porno-Königin der Nation Audienz im Berliner Luxus-Hotel Astor, um eine Nachricht verlauten zu lassen, die sie einmal mehr in sämtliche Boulevard-Magazine bringen würde.« Der Moderator pirschte durch die Resopal-Deko seines Studios, als sei ihm jemand auf den Fersen. Ich dachte wehmütig an die Tage zurück, als Moderatorinnen statisch auf Stühlen saßen und durch vornehme Zurückhaltung nicht die Aufmerksamkeit von den Beiträgen auf sich ablenkten. Heute musste alles in Bewegung sein. Ob eine Berichterstattung inhaltlich korrekt war, stand nicht zur Debatte, das Motto lautete: »Ist bunt und bewegt sich.« »Ich trete ab.« Schon wieder wurde mein Eröffnungssatz der Pressekonferenz zitiert. »Lilly kehrt der Porno-Leinwand den Rücken - mit dieser Nachricht wollte Lilly DeLight, die bekanntlich eine Freundin schnörkelloser Reden ist, ihre Fans schocken. Der wahre Schock kam jedoch erst eine Stunde später, als Elke Brenner, langjährige Starreporterin von News Alive unter mysteriösen Umständen keine hundert Meter vom Astor entfernt ums Leben kam.« Ein Foto vom Publikum der Pressekonferenz wurde eingeblendet. Es zeigte Elke Brenner im Profil - etwas hinter ihr saß der verschämte Journalist im grauen Anzug, der mir bis nach Goslar gefolgt war. Der Moderator tigerte durch seine Deko und kam erst beim dramatischen Wendepunkt seiner Rede zum Stehen.
»Was bislang niemand wusste - News Alive hat herausgefunden, dass Lilly DeLight am Ort des Verbrechens gesehen wurde, dass Lilly DeLight kurz darauf in einem blutbefleckten Oberteil durch das Hotel Astor lief.« Mir stockte der Atem. Marco warf mir einen kritischen Blick zu. »Das war Tomatensuppe - das weiß sogar die Polizei, es ist ein Skandal, dass die sowas im Fernsehen sagen, wo sie wissen müssen, dass ich nichts damit zu tun habe.« Völlig zusammenhangslos wurden jetzt die Bilder eingeblen191det, die mich und Rita beim Verlassen des Firmengeländes zeigten. Das Material war zwei Tage alt und diente offenbar nur dazu zu zeigen, dass ich nicht immer wie aus dem Ei gepellt aussah. Eine Offstimme verkündete mit Betroffenheitsklang: »Kaum zurück in ihrer Wahlheimatstadt Goslar, setzt sich die Serie von mysteriösen Unglücksfällen fort. Einer ihrer Stars, Johann Werner, wird ermordet aufgefunden. Lilly lässt verlauten, dass sie betroffen ist, und drückt ihre Sympathie den Hinterbliebenen des dreißigjährigen Johann Werner aus. Diese Beileidsbekundung stößt bei den fassungslosen Eltern des getöteten Darstellers auf taube Ohren und ein dramatischer Vorwurf wird laut.« Großaufnahme Mutter Werner: »Wenn die mit ihrem Sündenpfuhl geblieben wäre, wo sie hingehört, dann war mein Sohn heut noch am Leben!« »Die sonst nicht gerade pressescheue Lilly DeLight schweigt zu diesen Anschuldigungen und versteckt sich vor den Medien. Heute Morgen dann ein weiterer Schock - ihr Regieassistent Ingo Jensen ist Opfer Nummer drei. Ein weiterer sinnloser, brutaler Mord, und erneut stellt sich die Frage: Was weiß Lilly? Und vor allem: Wer ist überhaupt diese Lilly, die in Deutschland seit wenigen Jahren einen Bekanntheitsgrad genießt wie sonst nur der Bundeskanzler, Thomas Gottschalk und Wolfgang Joop? Wir begaben uns auf Spurensuche und trafen ihre ehemalige Arbeitgeberin, die Erotikproduzentin Greta Giehse in ihrem Penthouse in Feine.« Ausgerechnet. Greta saß in einem schwarzen Lederkostüm auf einem roten Ledersofa vor einem Airbrush-Plakat, das ihr Gesicht in besseren Tagen zeigte. Sie sah erstaunlich gut aus - mein Unglück schien ihr gut zu bekommen. »Das Mädchen hatte doch damals gar keine Orientierung, die war völlig naiv. Wir haben sie aufgenommen, ihr Rollen verschafft und sie wie ein Familienmitglied behandelt. Der Dank war, dass sie bei mir die Tricks des Geschäfts lernte und dann hinterrücks ihre eigene Firma startete. Sogar ihren Namen haben wir für sie gefunden!« Ein Bild aus meiner Jugendzeit wurde eingeblendet, damit der Schnitt nicht offensichtlich würde, der notwendig war, damit der Interviewer, der während des Gesprächs unsichtbar blieb, seine Frage stellen konnte. Einmal mehr fragte ich mich, was der Vorteil von diesen Interviews war, in denen der Befragte dargestellt wurde, als habe er spontan monologisiert, wo er stattdessen die Fragen beantwortete, die ihm gestellt wurden und zwar in einer Formulierung, die die Antwort mit beinhaltete. Wenn einen ein Journalist fragte, »Wie hieß sie denn
früher?«, durfte man nicht antworten, »Lieschen Müller«, sondern musste formulieren: »Ihr bürgerlicher Name war Lieschen Müller.« »Ihr bürgerlicher Name ist Julia Bäcker, und sie war gerade mit der Schule fertig, da sprach sie bei uns vor. Dann lernte sie Ronny Sanchez kennen - wir wollten sie noch warnen, der war für seinen Drogenkonsum bekannt, aber sie wollte nicht auf uns hören.« Diese Frau, die nicht arbeiten konnte, wenn nicht für ihren Tagesvorrat von Jack Daniels gesorgt war, verurteilte vor laufenden Kameras Ronnys Koks-Konsum. Das war scheinheilig und widerwärtig, aber das war noch lange nicht alles. »Ich möchte fast sagen, dass sie da Kontakte zum kriminellen Milieu aufgenommen hat. Ich meine - überlegen Sie mal. Wie kommt man denn in so kurzer Zeit zu einem solchen Imperium? Das ging doch nicht mit rechten Dingen zu!« Es war nicht nur schockierend, was die Giehse von sich gab, es war mir peinlich, dass Marco es mit ansah. Und nicht nur Marco saß vor dem Fernseher, sondern vermutlich auch meine Eltern, meine Freunde, meine Angestellten und zwei Millionen Deutsche, denen einmal mehr verkauft wurde, dass Sex & Crime unwiderruflich miteinander verbunden sind. Dieses Konstrukt basierte wissenschaftlichen Untersuchungen zufolge einzig und allein darauf, dass die Menschen Sex immer noch mit Schuld in Verbindung brachten, und Sexualität und Kriminalität deshalb auf die gleiche Ebene setzten. Trotz Emanzipation, trotz sexueller Revolution, trotz Sex in der Werbung konnten oder wollten die Medien nicht davon ablassen, Sex als etwas Schmutziges abzustempeln und so einer wirklichen Befreiung vehement entgegenzuarbeiten. »So ein Imperium baut man auf, wenn man nicht sein ganzes Einkommen durch die Nase zieht«, erklärte ich Marco, in dessen Blick ich leise Skepsis las. Aber vielleicht war ich auch nur im Begriff, etwas paranoid zu werden. »Hast du eigentlich auch Freunde?« Es war schockierend, eine solche Frage zu hören von jemandem, der einen gerade erst ein paar Stunden kannte. Was musste mein Leben für einen Eindruck auf ihn machen, wenn er sich nicht vorstellen konnte, dass ich einen Freundeskreis hatte? Ich war so von der Frage eingenommen, dass ich einen Moment lang das Fernsehen vergaß und erst wieder aufhorchte, als Greta sagte: »Und mit ihrer Kleinstadtidylle scheint es auch nicht weit her. Wo ist denn ihr Mann - hat den in den letzten Tagen einer gesehen? Der müsste ihr doch beistehen, wenn sie wirklich unschuldig ist, aber so wie es aussieht, hat er sie sitzen gelassen.« Als sie merkte, dass ihre Behauptung ausreichend für eine Unterlassungsklage war, fügte sie schnell hinzu: »So kommt es mir vor, das ist nur meine persönliche Vermutung.« Schnitt auf den Resopaltiger im Studio. »Lilly DeLight verweigerte uns jeglichen Kommentar, aber folgendermaßen hätte ein Statement aus ihrem Munde sich wohl angehört.« »Das ist nichts als ein Gerücht«, sah ich mich selber sagen.
Ich betätigte die Fernbedienung und klickte mein Angesicht vom Bildschirm. »Das darf doch alles nicht wahr sein!« »Was hast du der denn angetan?« »Ich war erfolgreicher.« »Das kenn ich.« Ich schaute ihn fragend an. »Na ja - in meiner Zeit bei der Polizei hatte ich auch viele Neider.« »Wegen deiner Wettkämpfe?« »Auch. Aber ich hatte auch eine sehr hohe Erfolgsquote, als ich noch Streife gefahren bin. Du weißt schon - Ehestreitigkeiten, sowas.« »Und wie erklärst du dir das?« »Na ja ...«, er zögerte, »wenn wir wegen Ruhestörung auf eine Party gerufen wurden, haben sie immer mich vorgeschickt.« »...?« »Wenn ich klingelte und mir die Tür aufgemacht wurde, dann war es fast immer so, dass die Leute mich für ein Glückwunschtelegramm hielten. Weißt du - einen Stripper im Polizeikostüm. Das hat irgendwie eine sympathische Grundstimmung geschaffen.« Ich musste lachen, als ich mir vorstellte, wie ein Haufen Besoffener um den Streifenpolizisten gestanden und »Ausziehn! Ausziehn!«, gebrüllt hatte. Hier war ein Mann, der wusste, was es bedeutete, ein Sexsymbol zu sein. Der kurze Moment der Heiterkeit endete abrupt, als mit einem lauten Scheppern ein Stein gegen das Fenster knallte. Wir sprangen gleichzeitig auf und rannten zum Fenster. Das Sicherheitsglas sah aus wie ein Spinnennetz, hatte aber dem Anschlag standgehalten. Vage konnte man eine Silhouette erahnen, die sich durch die Büsche schlug. Unmöglich zu sagen, ob es sich um ein Kind handelte oder um einen Erwachsenen. Während wir noch standen und in den Garten schauten, klingelte es an der Haustür. »Lass mich gehen«, sagte Marco, und ich ließ ihn gewähren. Ich war endlos erleichtert, als er mit Rita und Mikey ins Wohnzimmer zurückkam. Der Hund sprang mich vor Wiedersehensfreude an und lief dann schnuppernd um Marco herum - sichtlich angetan von dem smarten Riesen. »Wie sieht es in der Firma aus?«, fragte ich Rita.
»Es normalisiert sich. Sie haben wohl gemerkt, dass heute kein Bild mehr zu holen ist und bauen ab. Vielleicht hat auch nur der Hagel sie verscheucht.« »Und vor dem Haus?« »Ich habe niemanden gesehen.« »Gott sei Dank!« »Bleibt er über Nacht hier?« Sie deutete diskret auf Marco, der mit Mikey spielte. »Ja - solange der Fall nicht geklärt ist, möchte ich nicht alleine sein.« »Wenn du möchtest, kann ich natürlich auch bei dir bleiben.« »Ist schon gut, Rita. Ich fühl mich mit ihm ganz sicher. Aber danke für das Angebot.« »Na gut. Dann mache ich mich mal auf den Weg.« Als ich die Tür hinter ihr geschlossen hatte, fiel mir siedend heiß etwas ein. »Marco - wir müssten nochmal in die Stadt fahren. Ich habe mir ein Buch bestellt.« »Na, läuft doch alles prima. Wie von selbst. Nee-so gut hätte man das gar nicht planen können.« Er lachte, streckte sich auf seinen Versace-Sitzkissen aus, wobei ihm beinahe das Telefon aus der Hand rutschte, und hörte der Frau am anderen Ende der Leitung zu. »Nein, du hast toll ausgesehen im Interview. Ganz toll. Nein, das Licht war sehr gut und die Haare auch. Marlies Möller? Ah ja. Nicht schlecht, wirklich. Ich hätte es nicht besser machen können. Das mit den Tapes hat nicht geklappt, sie haben sie reparieren können, aber was soll's. Die kriegen den Film so doch nie fertig. TV l springt ab. Ja, ich schwör's dir! Im stummgeschalteten Fernseher lief gerade ein weiterer Bericht über die Porno-Morde, und er schaute aufmerksam, ob ihn vielleicht eine Kamera erwischt hatte. »Ach was - die haben keinen blassen Schimmer. Das mit Ronny scheint auch zu laufen, ein Freund von mir hat ihm in Frankfurt am Flughafen den Koks untergejubelt - dem müsstest du auch ein paar Mark überweisen. Never leave your luggage unattended - ha ha, genau. Ist nur noch eine Frage der Zeit. Im Grunde könnte man jetzt alles einfach laufen lassen ...« Sie musste ziemlich heftig reagiert haben, denn er hielt den Hörer ein Stück vom Ohr weg. »Du, ich meinte ja bloß ... Nein. Okay. Okay. Aber hast du mal daran gedacht, dass das alles nicht ganz ungefährlich ist? Ich habe den ganzen Tag gearbeitet, verdammt nochmal. Die Frau ist doch gnadenlos und zieht mit einem Tempo durch, du kannst es dir nicht vorstellen. Wir haben heute fünf Szenen abgedreht - und zwar geiles Material. Ständig lungert jemand um einen herum. Ich bin doch nicht bescheuert und riskiere, dass mich jemand erwischt. Am schlimmsten ist es mit Rita, ich frage mich, ob die nicht vielleicht schon etwas ahnt.« Er griff sich in den Schritt, denn sein frisches Piercing schmerzte.
»Morgen. Okay. Wie ist eigentlich die Sache mit Max gelaufen? Hm. Na ja. Okay. Was anderes - hast du mal über eine Gefahrenzulage nachgedacht? Das Ganze wird langsam ziemlich riskant. Reg dich nicht gleich auf - ich hob ja nur laut gedacht. Aber mit den Bullen und so weiter ... Hm. Na gut. Tschüssi Greta. Ich melde mich.« Tim legte auf, rekelte sich auf seinem Kissenlager und machte einen Schmollmund.
Kapitel 12 Kaum dass Marco meinen Jeep aus der Einfahrt zurückgesetzt hatte und wir auf der Straße standen, schaltete ich das Tapedeck ein. Ich kam tagsüber selten dazu, Musik zu hören und so lief in meinen Autos eigentlich ständig eine CD oder Kassette. Mein Autobahnfavorit war Bon Jovi und deshalb wunderte ich mich, dass nicht gleich laute Musik erklang, sondern eine Stimme, die ich mit frühesten Kindheitserinnerungen in Verbindung brachte. Fast jeder um die dreißig, der in Deutschland aufgewachsen ist, hätte diese Stimme erkannt - sie war alt, rau und trotzdem von einer vertraulichen Wärme. Es war der Mann auf fast allen Märchenplatten, die ich als Kind besessen hatte. Der Ideal-Opa eines jeden Märchenplatten besitzenden kleinen Mädchens. Von »Hansel und Gretel« über »Die Schneekönigin«, »Schneewittchen«, »Das hässliche Endein« bis zur »Prinzessin auf der Erbse«: Ich hatte sie alle geliebt, trotz ihrer unglaublichen Brutalität oder vielleicht sogar deswegen. Die Märchen waren mein erster Kontakt mit der Grausamkeit des Erwachsenenlebens gewesen. Drei Engel für Charlie durfte ich mir im Fernsehen nicht anschauen, weil ich angeblich zu jung dafür war, nichtsdestotrotz hatte ich seit meinem vierten Lebensjahr diese Schallplatten gehört, in deren Erzählungen Eltern ihre Kinder im Wald aussetzten, Wölfe Großmütter verspeisten, Meerjungfrauen die Füße bluteten und Jäger Mordaufträge ausführten und zum Beweis die Lunge und die Leber des kindlichen Opfers heimbringen mussten, damit ihre Auftraggeberin sie zum Abendessen verspeisen konnte. Bei all der Grausamkeit des Erzählten - der Erzähler sorgte für ein sofortiges Gefühl der Entspannung. Ein früher Fall von »The medium is the message ...« Diese unverwechselbare Stimme, die vermutlich das Produkt einer Theaterausbildung und heftigen Tabakkonsums war, hörte sich noch brüchiger, noch rauchiger an als damals. Ich dachte zunächst, ich hätte versehentlich das Tapedeck von Kassettenauf Radiobetrieb umgeschaltet, aber ich war so fasziniert, diese Stimme wieder zu hören, dass ich auf Bon Jovi verzichtete. Ich blickte aus dem Autofenster auf die Straße, aber schon nach wenigen Augenblicken nahm ich den Weg kaum noch wahr, sondern war gebannt von der Stimme des Märchenerzählers und gefangen von der Geschichte, die er vortrug. Die Schwestern Ich und Du In einem kleinen Haus auf Rädern an einem großen, reißenden Fluss lebten einmal zwei Schwestern mit ihrer Mutter. Leider hatte die Mutter vergessen, ihren Kindern Namen zu geben, aber das wäre vielleicht auch überflüssig gewesen, denn die Schwestern glichen einander wie ein Ei dem anderen, und man konnte sie nicht auseinander halten. Hätte die eine »Sonne« geheißen und die andere »Mond«, so wäre das unpassend gewesen, denn wie man weiß, sind Sonne und Mond so unterschiedlich wie Tag und Nacht. Man hätte ihnen vielleicht denselben Namen geben sollen oder vielleicht zwei sehr sehr ähnliche. Aber dies war
nicht geschehen, und wenn die Mutter nach ihnen verlangte, dann rief sie »Töchter!« und beide kamen. Wenn die Schwestern einander ansprachen, dann sagten sie »du« und wenn sie von sich selbst sprachen, dann sagten sie »ich«. Die Schwestern »Du« und »Ich« waren unzertrennlich. Sie schliefen im selben Bett, spielten zusammen am Flussufer, pflückten gemeinsam Blumen und hielten sich an den Händen, wenn sie durch den Wald spazierten. Sie waren sich selbst genug und kannten auf der ganzen weiten Welt keine Menschenseele außer ihrer Mutter. Als sie eines Tages am Ufer standen und Kieselsteine über das Wasser hüpfen ließen, tauchte ein neuer Mensch auf, und die beiden waren erstaunt, aber nicht ängstlich, denn Angst hatten die beiden nie kennen gelernt. Der Mensch war ihr Vater und er nahm Ich und Du in den Arm und Tränen rannen über sein Gesicht, als er sagte: »Ich habe euch endlich gefunden und ein Vater ist kein Vater ohne seine Töchter.« »Wie ist dein Name, Kind?«, fragte er die eine Tochter. »Töchter«, antwortete sie darauf. »Und wie heißt du«, wollte er von der anderen wissen. »Töchter«, sprach sie. Der Vater schaute seine Kinder traurig an. Ich und Du waren froh, einen Vater zu haben, auch wenn sie ihn vorher nie vermisst hatten, und deshalb konnten sie Mutter nicht verstehen, die den Besen schwingend aus dem Haus mit Rädern stürmte und auf den Vater einschlug. Sie weinten, als der Vater fortging und die Mutter ihm böse Worte hinterherbrüllte, und sie aßen drei Tage lang kein Frühstück, kein Mittag und kein Abendbrot, so übel nahmen sie der Mutter, dass sie ihnen den Vater weggenommen hatte. Doch der Vater hatte sie nicht vergessen und am vierten Tag kam er den Weg zum Fluss herunter und hatte sogar neue Menschen mitgebracht. Eine Frau mit einem Malblock und zwei Männer, die sich fast so glichen wie die Schwestern, denn sie trugen die gleiche Hose, die gleiche Jacke und die gleiche Mütze. Kaum dass die Mutter gesehen hatte, wer auf das Haus zukam, rief sie die Töchter zu sich, zog die Haustür ins Schloss und wollte mit dem Haus fortfahren, aber es hatte schon zu lange am Fluss gestanden. Die Räder steckten im sumpfigen Boden fest und der Motor, der das Haus ins Rollen bringen sollte, wollte und wollte nicht anspringen. Ich und Du beobachteten die Mutter und mussten fast lachen, dass die Flucht nicht gelang. Sie schauten, wie die Mutter wütete, und standen daneben, Hand in Hand, lächelnd, denn jetzt, wo sie einen Vater hatten, würden sie ihn sich gewiss nicht mehr wegnehmen lassen. Von draußen pochte es laut an der Tür, doch die Mutter öffnete nicht, sondern stemmte sich mit all ihrer Macht dagegen. So sah sie nicht, wie Ich
und Du ein schmales Fenster auf der Rückseite des Hauses öffneten und hinausschlüpften, Hand in Hand um das Haus herumliefen und dem Vater in die Arme fielen. Die Frau mit dem Malblock, der Vater und Ich und Du gingen gemeinsam fort, und dies war das letzte Mal, dass die Schwestern ihre Mutter sahen. Ihr lautes Rufen sollte sie manchmal in ihren Träumen verfolgen. Es war der letzte Tag, den Ich und Du angstlos waren und es war der letzte Tag, den sie keine Namen hatten, denn der Vater beschloss, dass die eine Tochter Ellen und die andere Tochter Katrin hieß. »Ellen?«, sagte Ich zu Du. »Katrin?«, sagte Du zu Ich. Mit einem Mal waren sie nicht mehr sie selbst, sondern zwei völlig verschiedene Mädchen und es war ihnen, als sei etwas zerbrochen. Des Vaters Haus hatte keine Räder - es war auch kein Haus, es war ein Schubfach in einem großen grauen Schrank. Von diesem Schrank war es ein weiter Weg bis an das nächste Wasser, und den Mädchen fehlte der Lärm, den der Fluss machte, das Spiel am Ufer und die Stille des Waldes. Überall waren Menschen, und die beiden wurden scheu und wollten gar nicht mehr das kleine Kästchen im Schubfach des Schranks verlassen, in dem ihre Bettchen standen. Der Vater sah, wie traurig und trübsinnig die beiden wurden, und schickte sie immer öfter zu der Frau mit dem Malblock, die in einem riesigen weißen Schrank voller Glastüren lebte, wo sie den Mädchen beim Spiel zuschaute, ihnen viele Fragen stellte, welche zu beantworten den Mädchen nicht leicht fiel. Manchmal vergaßen sie ihre Namen und Ellen antwortete, wenn Katrin gefragt wurde. Als bald ein Jahr ins Land gezogen war und die Schwestern sich ihre Namen noch immer nicht merken konnten, war die Frau mit dem Malblock ganz verzweifelt. Es konnte doch nicht so schwer sein, sich zu merken, wer ich bin und wer du bist und wo das eine aufhört und das andere beginnt, so dachte sie sich. Und folglich schmiedeten der Vater und die Frau mit dem Malblock einen Plan. Was man besitzt, merkt man manchmal erst, wenn man es verloren hat, und wo man selber aufhört und das Gegenüber beginnt, das stellt man erst dann fest, wenn das Gegenüber fehlt. Eines Morgens - es war noch sehr früh und die Sonne war noch nicht aufgegangen da stahlen sich der Vater und die Frau mit dem Malblock in das Zimmer der beiden Schwestern, als sie noch schliefen. Sie waren leise und vorsichtig und wollten nur die Schwester wecken, die sie Katrin nannten. Doch ein feiner Draht schien die Schwestern zu verbinden, und wann immer eine aufwachte, konnte auch die andere nicht mehr schlafen. Die, die sie Ellen nannten, sah nun, wie die Erwachsenen ihre Schwester aus dem Bett hoben, sie anzogen und aus dem Zimmer führten. Als sie merkte, dass nur die Schwester abgeholt wurde, war es ihr, als hätte man ihr die Hand abgeschlagen, und sie fing an zu weinen. Die Frau mit dem Malblock saß neben ihr und blieb an ihrer Seite, redete mit ihr und wollte sie trösten, aber es konnte keinen Trost für sie geben. Sieben Tage lang flössen ihre Tränen, und doch waren es nicht genug, einen Fluss zu bilden, der sie zur verlorenen Schwester tragen könnte. Sieben Nächte wollte sie nicht schlafen und nicht essen und sich nicht
trösten lassen. Am achten Tage versiegten die Tränen. Am neunten Tage dachte sie zum erstenmal wieder an ihre Mutter, am zehnten Tage war sie erwachsen und wusste, dass sie Ellen hieß. Die, die sie Katrin nannten, wurde in ein Haus gebracht, das inmitten eines großen, grünen Parks stand. Die Hecken waren gerade gestutzt und an den Rändern der Kieswege blühten bunte Blumen. Das Haus gehörte einem Magier, der Kinder verzauberte und ihnen so die Seele schenkte, die sie verloren hatten. Manchmal gab er ihnen ihre alte Seele zurück, manchmal schenkte er ihnen eine ganz neue Seele, und es tat ihnen gut, denn sie vermissten die alte nie. Am ersten Tag ihrer Ankunft weinte das Mädchen acht Stunden - dann gab man ihr ein magisches Getränk und sie fiel in einen tiefen Schlaf. Am zweiten Tag war sie ganz matt und ruhig und konnte kaum denken, da fühlte sie sich aufgehoben wie in einem warmen Bett. Am dritten Tag versetzte sie der Magfer in einen eigentümlichen Zustand - sie war wach und doch schlief sie - sie war sie selbst und doch fühlte sie sich, als denke jemand anderes für sie. Am vierten Tag war ihr für einen kurzen Augenblick, als habe sie einmal eine Mutter gehabt, am fünften schaute sie, ob ihre Hand noch am Arm saß und wunderte sich, wie sie denken konnte, dass dem nicht so sei. Am sechsten malte sie ein Haus auf Rädern - das kam ihr falsch vor. Am siebten bastelte sie einen grauen Schrank mit vielen Schubladen - der gefiel ihr nicht. Am achten kam eine Frau mit Malblock und nahm sie in den Arm. Am neunten zeichnete sie den Park, in dem der Magier stand. Am zehnten schrieb sie dem Vater einen Brief und unterzeichnete mit »Deine Katrin«. Der Magier hatte Katrin in sein Herz geschlossen und darin sollte sie bleiben. Stolz schritt er mit ihr durch den Park und führte sie den Zauberlehrlingen vor: »Schaut, was für eine prachtvolle Seele ich dem Mädchen geschenkt habe!« Katrin war verlegen, aber zu spüren, dass jemand stolz auf ihre Seele war, das war ein schönes Gefühl und sie sonnte sich darin. Es kam der Tag, da Katrin das Haus des Magiers verlassen und in den Schrank, in dem ihr Vater lebte, zurückgebracht werden sollte. Sie weinte und auch in den Augen des großen Zauberers standen Tränen. Doch die Frau mit dem Malblock nahm sie an der Hand und führte sie den Kiesweg hinab. Warum musste sie hier fort - sie mochte das Grün des Parks so sehr, hatte sich an das Lob und die Aufmerksamkeit des Magiers gewöhnt, ihr fehlte es hier an nichts, und sie wollte gar nichts anderes als bei den Menschen bleiben, die sie mochten, die sich so um sie kümmerten und für die sie etwas Einzigartiges, etwas ganz Besonderes, etwas Wertvolles war. Sie fürchtete, wieder in eine Schublade gesteckt zu werden in dem grauen Schrank, in dem ihr Vater lebte. Und noch etwas beunruhigte sie, aber sie konnte nicht sagen, was das war und sie war auch viel zu beschäftigt damit, zu weinen und ihr Leid zur Schau zu stellen, auf dass es das Mitleid der Frau mit dem Malblock erregte und sie sich vielleicht doch darauf besann, Katrin hier zu lassen, wo sie hingehörte. Doch obwohl diese Frau Mitleid hatte, denn Mitleid war ihr Beruf, so ließ sie sich nicht dazu verleiten, auf ihr Herz zu hören, denn wenn sie auf ihr Herz hörte, dann würde sie ihren Beruf bald nicht mehr ausüben können.
So musste sie Katrin fast in den großen gelben Autobus zerren - das Mädchen krümmte und wand sich, sträubte sich und trat. Als die beiden vor dem Schrank angelangt waren, in dem der Vater wohnte, stellte Katrin erstaunt fest, dass es gar kein Schrank war, sondern nichts als ein hässliches großes Haus. Und als sie auf dem Flur vor der Wohnung standen, wo es nach Bitterkeit roch und nach gekochtem Kohl und als sei kürzlich etwas verbrannt, da sehnte sie sich in das Haus des Zauberers zurück, aus dem sie gerade entlassen worden war, nach den schmalen geraden Wegen des Parks, nach den Menschen in den weißen Anzügen. Und als sie den Vater auf der Schwelle stehen sah, da wollte sie ihn nicht zurück- sie brauchte keinen Vater, sie brauchte Zauberer! Doch die Frau mit dem Malblock schob sie in die enge Wohnung. Dort - im Wohnzimmer saß etwas, das man nur schemenhaft erkennen konnte, so düster war es im Raum, saß etwas am Tisch wie ein schlecht gehütetes Geheimnis. Katrin starrte, blickte, suchte nach einer Erinnerung, aber kein Erkennen stellte sich ein. Der Vater und die Frau mit dem Malblock standen ungeduldig neben Katrin, und die Frau schaltete das Licht ein. Und dort am Tisch saß ein Mädchen, das Katrin so ähnelte wie ein Ei dem anderen, nur, dass man die beiden von jetzt an nie mehr verwechseln würde, denn die Schwester Du und die Schwester Ich würden sich von nun an nur noch auf die Hände schauen müssen, um zu erfahren, wer Ellen und wer Katrin war. Ellen hatte sich aus Gram über den Verlust der Schwester die linke Hand abgeschlagen. Und die Moral von der Geschieht: Wer nie sein Herz im Spiegel sah, der kann das nicht verstehen! »Das ist ja wohl das scheußlichste Märchen, das ich je gehört habe!« Was mich aber am meisten berührte, mehr als die Grausamkeit der Geschichte, das war, dass mein Lieblingszitat vom Herz im Spiegel in so einen grausamen Zusammenhang gebracht worden war. »Ziehst du dir sowas öfter rein?«, fragte Marco skeptisch und bedachte mich mit einem Seitenblick, der zum erstenmal Zweifel an meiner Unschuld oder aber an meiner gesunden Seele durchschimmern ließ. »Um Gottes willen, nein.« Ich hatte mich die ganze Zeit gefragt, was für ein Sender das war, der am Spätnachmittag schaurige Märchen-Hörspiele im Programm hatte, und erst das Klicken des Tapedecks beantwortete meine Frage. Ich drückte die Eject-Taste. »Wer hat mir denn das ins Auto getan?« Ich las Marco den Aufdruck auf der Kassette vor: >»Die Schwestern Ich und Du und andere Erzählungen von Karin Berger.< Karin Berger, Karin Berger ... sagt dir der Name was?« Marco schüttelte den Kopf und manövrierte den Wagen in eine Parklücke in einer Seitenstraße nahe der Buchhandlung, die nur über die Fußgängerzone zu erreichen war. »Ich habe als Kind immer nur Bibi Blocksberg und Benjamin Blümchen gehört. War wohl irgendwie B-fixiert...«
Das Unwetter hatte die Fußgängerzone leergefegt. Ich war froh, dass noch nicht allzu viele Menschen unterwegs waren, denn diejenigen, die mich sahen und erkannten, bedachten mich mit nicht eben freundlichen Blicken. Ein kleines Mädchen von vielleicht sieben Jahren, das ein Pflaster über dem linken Auge trug, schaute mich an. Ich lächelte freundlich zurück, und das Kind begann zu schreien und warf beide Hände um die Mutter herum, sein Gesicht an ihrem Bauch verbergend. Die Mutter legte die Hände schützend um das Mädchen und bedachte mich mit einem panischen Blick. Ich blieb vor Schreck stehen. Marco zog mich weiter und versuchte mich zu trösten. »Mach dir nichts draus, die werden sich schon wieder beruhigen.« »Dein Wort in Gottes Ohr«, murmelte ich und war froh, als wir endlich den Buchladen erreicht hatten und von den Leuten auf der Straße weg waren. Die Buchhändlerin war die Mutter eines Jungen, mit dem ich den Internet-Kurs an der Volkshochschule belegt hatte. »Hallo, Frau DeLight, Ihr Buch ist heute Mittag gekommen!« Sie lächelte mich mit einer Wärme und mit einem Ausdruck von Mitleid an, der einerseits tröstlich war, aber andererseits deutlich machte, dass ich in der Tat bemitleidenswert war. In meinem Leben war ich schon vieles gewesen, aber niemals Adressatin für Mitleid. Das war eine ganz neue Erfahrung und keineswegs eine, die mir gefiel. »Tag, Frau Müller. Packen Sie es schon mal ein. Sagen Sie, haben Sie Bücher von einer gewissen Karin Berger?« »Bei den Kinderbüchern. Ich persönlich finde diese Geschichte ja nicht sehr geeignet für Kinder, aber nun ja ...« Sie ging voran zum Regal mit Pippi Langstrumpf und Peter Pan, dem Regenbogenfisch und der kleinen Raupe Nimmersatt, zog einen schmalen Band heraus und reichte ihn mir. Kindergeschichten, Band 11: Märchen aus dem Nirgendwo lautete der Titel. Ich drehte das Buch um und las den Text auf der Rückseite. Mir war, als habe mir jemand einen Schlag in den Magen versetzt - vor Schreck fiel mir das Buch aus der Hand, ich trat einen Schritt zurück und riss dabei einen Stapel Harry Potter vom Büchertisch. Auf der Rückseite des Buches war ein Foto von Elke Brenner abgebildet. Ich weiß nicht, warum mich dieses Gesicht auf dem Buch so aus der Fassung bringen konnte - es hätte nur schlimmer sein können, wenn Elke Brenner höchstpersönlich in dem Geschäft aufgetaucht wäre. »Ist alles in Ordnung? Kann ich Ihnen ein Glas Wasser bringen?«, erkundigte sich die Buchhändlerin.
»Danke, Frau Müller. Das wäre nett.« Marco war damit beschäftigt, die Bücher aufzulesen, die ich vom Verkaufstisch gestoßen hatte, während ich mich an das Regal lehnte und das Buch aufschlug, um den Text über die Autorin zu lesen. Dort stand geschrieben: »Karin Berger lebt als Kinderpsychologin und Autorin in Köln. Zu ihren wissenschaftlichen Veröffentlichungen zählen Das Fort/Da-Spiel: neue Aspekte frühkindlichen Verhaltens, Spieglein, Spieglein an der Wand: Der Spiegel als Märchenmetapher und Wechselwirkung: Ebenenverschiebung im geschwisterlichen Mit- und Gegeneinander. Neben ihren wissenschaftlichen Texten schrieb sie die Kindergeschichten - moderne Kunstmärchen, die sich an erwachsene Leser richten. Seit dem Jahr 1989 veröffentlicht sie alljährlich einen neuen Band.« Es dämmerte nur langsam, aber ich begann mich an ein Gespräch mit Gerd Bartels zu erinnern - Elke Brenner hatte eine Zwillingsschwester, die in Köln lebte. Ich hatte nicht etwa einen dramatischen Fund gemacht, der belegte, dass Elke Brenner ein Doppelleben führte, sondern war auf ein Buch ihrer Schwester gestoßen. Gestoßen worden. Wer hatte das Tape in mein Auto geschmuggelt? Frau Müller kam mit dem versprochenen Glas Wasser zurück, und ich trank es dankbar aus. »Das Buch nehme ich auch noch mit.« »Gut. Kann ich Ihnen sonst noch helfen?« »Danke, Frau Müller. Ich würde dann gern zahlen.« Wir verließen den Buchladen mit zwei so widersprüchlichen Werken wie Serienmörder: Hintergründe und Fallstudien und Märchen aus dem Nirgendwo. Irgendetwas verband diese Bücher. Irgendjemand hatte etwas damit bezweckt, als er sie mir zukommen lassen wollte. Und dieser irgend jemand war mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit der Mörder von Johann, Ingo und in irgendeiner Form auch am Ableben von Elke Brenner beteiligt, auch wenn die Fälle auf den ersten Blick nichts miteinander zu tun zu haben schienen. Vielleicht würde eine ausgiebige Lektüre Licht ins Dunkel bringen. Nachdem ich noch aus dem Auto mit Harry Klein telefoniert hatte, um ihn von den neuesten Entwicklungen in Kenntnis zu setzen, hatten Marco und ich einen Schlachtplan entwickelt. Wir würden an diesem Abend die Ereignisse der letzten Tage wissenschaftlich genau zusammenfassen und uns bemühen, selbst das kleinste Detail zu analysieren. Wenn die Polizei vor uns erfolgreich sein würde, hätten wir uns zwar umsonst angestrengt, aber weiter tatenlos darauf zu warten, dass Hilfe von der Kripo kam, war mir eine Horrorvorstellung. Ich hatte auch versucht Gerd Bartels zu erreichen, um über ihn Informationen über Karin Berger herauszubekommen, aber er hatte seine Mailbox eingeschaltet. Langsam wurde es mir unerträglich, Telefonnummern zu wählen und nur Aufzeichnungen oder endlose Freizeichen zu hören, denn Unerreichbarkeit schien der erste Schritt vor dem Verschwinden und dem nur teilweisen Wieder-Auftauchen zu sein.
Das Arbeitszimmer hatten wir zur Kommandozentrale umfunktioniert. Ich hatte die Bilder von den Wänden genommen und Platz für unsere handgeschriebenen Listen geschaffen, die wir mit Fotos und Zeitungsausschnitten vervollständigten. »Fangen wir am dreißigsten August an - der Tag, an dem dein Mann verschwindet und Elke Brenner überfahren wird.« »Es hat früher angefangen, Marco. Der Arzt, mit dem die Brenner liiert war, wurde schon im Februar umgebracht.« »Aber wir können nicht sicher sein, dass es der gleiche Täter war.« »Sicher können wir mit gar nichts sein, aber die Wahrscheinlichkeit ist ziemlich groß, oder?« »Okay. Gibt es ein Todesdatum?« »Bartels sagte nur - im Februar - ich weiß nicht mal wie der Arzt heißt.« »Wir können das nachtragen, wenn du mit Bartels gesprochen hast.« Marco heftete ein DIN-A-4-Blatt mit der Beschriftung »Fakten: Februar 2000: Tod durch Überfahren - unbekannter Arzt, Ex von E.B.« an die Wand. »Was wissen wir über den Arzt, über sein Verhältnis zu Elke Brenner?« »Er war vor einigen Jahren in einen Medizin-Skandal verwickelt, über den heute kein Mensch reden will. Die Brenner hat damals für FAKT geschrieben und über seine Arbeit berichtet, aber nach dem Druck der Auflage stellte sich heraus, dass sie die Tatsachen ziemlich geschönt hatte und die Auflage musste zurückgezogen werden.« »Heftig!« Er notierte in Stichworten und klebte ein weiteres Blatt unter das bereits platzierte. Ich schrieb mittlerweile auf einem zweiten Blatt die Fragen auf, die sich aus den Fakten ergaben: Wer war der Arzt? Worum ging es in dem Artikel? Welches waren die genauen Todesumstände? Wie war das Verhältnis zwischen Arzt und Reporterin zu dieser Zeit? Das nächste Blatt widmete Marco dem Verschwinden meines Mannes. »Wann hast du ihn das letzte Mal gesehen?« »Montagmorgen. Wir haben noch zusammen gefrühstückt, dann ist Rita gekommen und hat mich abgeholt. Wir sind nach Frankfurt geflogen. Zuletzt gesprochen habe ich ihn vorgestern, kurz vor der Pressekonferenz, das war so um Mittag.« »Und hat ihn danach irgend jemand sonst gesehen oder mit ihm geredet?« Marco notierte: »Max Winter verschwindet: 30/08/00.« »Um 14.45 Uhr wurde er von den Überwachungskameras im Parkhaus vom Hannoveraner Flughafen gefilmt. Den Wagen hat man dort gefunden, aber Max ist seitdem verschwunden.«
»Und es ist sicher, dass er sich nicht einfach in einen Flieger gesetzt hat, um einen Kurzurlaub zu machen?« »Das ist ausgeschlossen. Sowas macht Max einfach nicht. Er hat ja auch überhaupt kein Gepäck bei sich gehabt. Er ist doch nur zum Flughafen gefahren, weil er eine Mail von mir bekommen hat, in der ich ihn ganz dringend bat, mich abzuholen - nur dass die Mail gar nicht von mir war.« »Jemand hat ihn also dorthin gelockt.« »So sieht es aus. Wir hatten einen Streit gehabt, und wahrscheinlich hat er gedacht, dass ich eine dramatische Offenbarung machen würde oder so.« Ich musste mir vorstellen, wie er angespannt über die Autobahn geprescht war, nicht sicher, was ich mit so einer drastisch formulierten Nachricht meinen könnte. Verunsichert und vielleicht ängstlich oder wütend. Wahrscheinlich am ehesten wütend — er hasste Ultimaten, und es wäre genau so gut denkbar gewesen, dass er auf eine so vage formulierte Nachricht wie »Hol mich ab, wir müssen reden« aus Trotz gar nicht reagiert hätte. »Darf ich fragen, worum es in dem Streit ging?« »Max hatte einen Brief von Ronny in meinen Sachen gefunden und daraus falsche Schlüsse gezogen.« »Ronny ist der schlanke Blonde?« »Genau.« Ich hoffte, dass Marco nicht weiterfragen würde. Es war schon schwer genug, mir meine Gefühle für Max und Ronny klar zu machen, geschweige denn jemand anderem erklären zu müssen, was sich in meinem Inneren abspielte. »Ist Max ein sehr eifersüchtiger Mensch?« »Leidenschaftlich. Der einzige Mann in meinem Umfeld, auf den er nur manchmal eifersüchtig reagiert, ist Mikey.« Als er seinen Namen hörte kam der Hund hinternwackelnd angetrottet und legte sich mir vor die Füße. »Hat sich schon jemand von der Polizei um die Uberwachungsvideos gekümmert?« »Das müssen sie ja - wie hätten sie sonst wissen sollen, dass Max dort war.« »Nein, ich meine die Videos, die vor seiner Ankunft aufgezeichnet wurden. Man sollte nachprüfen, wer alles an diesem Tag im Parkhaus war.« »Wir müssen Harry anrufen und fragen.« Die Nachfrage ergab, dass die Videos von der Goslarer Kripo angefordert waren, aber noch in Hannover lagen. Man hatte sich noch nicht für eine Versandart entscheiden können ... Klein versprach nachzuhaken und mich unverzüglich zu verständigen, sobald die Videos eingetroffen wären. Ich legte auf und schaute an die Wand, wo sich auf DIN-A4-Blättern die Opfergalerie ausbreitete.
»Fällt dir zu Max sonst noch irgendetwas ein, was in diesem Zusammenhang wichtig sein könnte?« »Hm. Wenn Max dem Killer zum Opfer gefallen wäre, dann wäre er der Einzige, von dem der Mörder mir kein Körperteil präsentiert hat.« Einerseits schauderte es mich, in diesem Zusammenhang von meinem Mann zu sprechen, andererseits war dieser Aspekt im Moment meine einzige große Hoffnung. »Was auch immer mit ihm passiert ist - es unterscheidet sich von den Morden.« »Das sehe ich genauso. Wir müssen jetzt nur noch herausfinden, ob sein Verschwinden ein Puzzle-Teil in der Mordserie ist oder etwas ganz Anderes stattgefunden hat, was möglicherweise in keinem Zusammenhang mit den Morden steht.« Das kleine Wörtchen »nur« wirkte ob der vor uns liegenden Aufgabe ein wenig untertrieben. »Ich möchte mich für die folgende Frage jetzt schon entschuldigen Lilly - aber ich muss sie stellen ...« Ich würgte ihn ab. »Du willst wissen, ob ich es Max zutraue, dass er hinter allem steckt.« »So ist es.« »Das ist absolut, und ich sage ab-so-lut undenkbar.« Als ich es aussprach, fiel mir sinnigerweise ein Abendessen mit Gästen ein, das Max und ich vor einigen Wochen gegeben hatten. Peter Hofmeier hatte bei uns am Tisch gesessen, als wir uns über Sinn und Unsinn von Metaphern unterhielten. Wir stritten uns um den Ausspruch »Man hat schon Pferde kotzen sehen«. Da wir ja nun einen Experten auf diesem Gebiet am Tisch hatten, fragten wir den Tierarzt, ob Pferde sich nun erbrechen können oder nicht. »Nein, das können sie nicht. Und wenn, dann nur, wenn sie im Sterben liegen.« »Also können sie doch.« »Nein. Nur wenn sie wirklich todkrank sind.« »Na also - sterbende Pferde können sehr wohl kotzen.« Man mag also durchaus schon Pferde kotzen gesehen haben, aber die Vorstellung, dass Max Amok lief und Männern aus meinem Umfeld die Schwänze abschnitt, war schlichtweg absurd. Ich hatte in meinem Beruf oft genug mit Psychopathen zu tun gehabt um zu wissen, dass Max keiner war. »Es ist schon allein deshalb ausgeschlossen, weil Max unmöglich Elke Brenner überfahren haben kann. Erstens hätte ich ihn bestimmt erkannt - und wenn ich nur
seine Silhouette im Wagen gesehen hätte, zweitens hätte er es nie und nimmer in so kurzer Zeit von Berlin nach Hannover geschafft.« »Wenn hier aber nun wirklich zwei ganz verschiedene Mordserien stattfinden, dann könnte man Max nicht ausschließen, für die beiden Männermorde verantwortlich zu sein - tut mir Leid, wenn ich das so krass sagen muss.« Ich atmete tief durch. »Okay. Faktisch richtig. Aber ich halte es nach wie vor für ausgeschlossen.« Auf dem Blatt mit der Überschrift »FRAGEN, Max« hatte ich notiert: »Wo ist er«, »Warum ist er weg« und »Gibt es Bezüge zu a) Brenner und b) den Männermorden.« Die Notiz »Überwachungsvideos checken« hatte ich dreimal fett unterstrichen. »Nächster Zettel bitte. Elke Brenner, 30.08.2000. Ermordet durch Überfahren um ca. 14.00 Uhr. Verwickelt in medizinischen Skandal. Liiert mit dem Arzt, der im Februar auf dieselbe Art und Weise umgebracht wurde. Zufall ausgeschlossen.« »Sofern man die Gesetze der Wahrscheinlichkeit in Betracht zieht.« »Und etwas anderes bleibt uns nicht übrig.« »Das Bindeglied zwischen den beiden ist ihre Liaison und der FAKT-Artikel. Wir müssen in Erfahrung bringen, um was es darin ging.« »Daran hat sich schon Gerd Bartels die Zähne ausgebissen. Und es ist immerhin sein Job, den Leuten Sachen aus der Nase zu ziehen, die sie eigentlich nicht an die Öffentlichkeit bringen wollen.« »Wenn man Hany davon überzeugen kann, dass die Fälle verknüpft sind, müssen sie reden. Wenn es um Ermittlungen im Rahmen eines Tötungsdelikts geht, dann wäre es gesetzeswidrig die Untersuchungen zu behindern, und es ist eine Sache, mit einem Klatschreporter zu reden und eine andere, der Kripo Auskunft zu geben.« »Das mag stimmen, Marco, aber selbst wenn die Kripo etwas herausfindet, werden sie uns kaum Details verraten. Da kommen wir nicht weiter.« »Bleibt die Schwester.« »Probieren können wir's. Vielleicht sollten wir bei dem Märchen anfangen, das man mir ins Auto geschmuggelt hat. Das wird ja nicht grundlos ausgewählt worden sein.« »Der biografische Bezug ist offensichtlich. Elke und Karin waren Zwillingsschwestern und die Namen Ellen und Katrin sind ja holzhammermäßig nah dran.« »Ich nehme an, du hattest in der Schule eine Eins in Literaturanalyse!« »Nein - in Deutsch hatte ich immer eine Vier, aber ein Verbrechen zu untersuchen oder einen Text - das ist fast das Gleiche. Wenn du ein Drehbuch schreibst, dann ist dir der Aufbau auch von vornherein klar, und unser Mörder geht genauso vor. Diese Morde sind Inszenierungen - er will ja, dass wir sein Verhalten deuten.«
Der Text zum Thema Profiling fiel mir ein. Viele Mörder gestalteten ihre Morde so spektakulär, damit sie damit in die Zeitung kamen. Sie suchten die Öffentlichkeit lieferten Hinweise, schrieben Briefe, schickten Fotos und hofften insgeheim darauf, gestoppt zu werden, weil ihr Mordtrieb schließlich für sie selbst unhaltbar wurde. Einige hatten sich sogar mit Aufforderungen, sie zu fassen und zu stoppen, an die Öffentlichkeit gewandt. »Meinst du, er will gefasst werden?« Marco kratzte sich am Kinn. »Ich glaube nicht, dass man das so formulieren kann. Ich denke, die Prägung, die zu einem solchen Mordrausch führt, muss so schrecklich sein, dass die Morde nur Ausdrucksmittel sind. Er inszeniert jedes Mal einen Aspekt seiner Traumatisierung als Psychodrama. Das ist bloß die Spitze des Eisbergs einer sehr kaputten Seele. Er will nicht gefasst werden - er will, dass es aufhört, beendet wird. Er erlebt sich ja als andersartig, ob nun überlegen oder ausgegrenzt, und das Gefühl macht ihn einsam. Im besten Fall fühlt er sich wie Gott und im schlimmsten wie ein Freak, der seine Begierden nicht mehr unter Kontrolle hat.« Ich hatte mit einem Mal eine fürchterliche Einsicht. »Deshalb will er meine Aufmerksamkeit. Er denkt, ich sei genauso einsam wie er.« »Und?« Er schaute mir tief in die Augen und zwischen seinen Brauen stand steil eine Sorgenfalte. »Bist du das?« »Natürlich nicht. Aber so wie die Presse mich darstellt - du weißt schon - als die Königin des Pornos, einsam auf dem Gipfel ihres Erfolgs. Wenn du von der Öffentlichkeit zu einem Symbol für etwas gemacht wirst, dann ist man - wie kann ich das sagen, ohne dass es sich wie Eigenlob anhört...« »Dann ist man einzigartig. Im Sinne des Wortes. Und wenn man es so sieht, dann passt Max' Verschwinden in den Zusammenhang.« »Du meinst, Max hat nicht in sein Bild von mir als einsam^ Königin gepasst?« »Genau.« Er begann im Zimmer auf und ab zu wandern. »Aber es ist schwierig - wir versuchen eine Psyche zu durchschauen, die höchstwahrscheinlich anders funktioniert als die unsere. Wir beurteilen ihn nach dem, was für uns vorstellbar ist.« »Ein Verstoß gegen die Regeln des Profiling.« »Man kann sich selbst in so einer Analyse nicht völlig herausnehmen. Die Deutung nimmt man immer aufgrund der eigenen Erfahrung vor.« »Oder aufgrund der eigenen Vorstellungskraft.« »Ja, Miss Marple.« Ich musste lachen. Man hatte mir schon viele Namen gegeben, aber Miss Marple war noch nie dabei gewesen. »Jetzt sind erst mal die Reich-Ranickis in uns gefragt.«
»Okay, Deutsch - das scheußliche Märchen. Eine Literaturanalyse: Zwillingskinder wachsen bei ihrer emotional nicht ganz gesunden allein erziehenden Mutter auf. Was sie da schreibt mit >Haus auf Rädern< - kann das vielleicht ein Campingplatz sein oder so ein Trailerpark, wie in den Staaten?« »Vielleicht ja, vielleicht ist es auch nur ein Bild für einen Karren, der im Dreck steckt.« »Egal. Der Vater erscheint in Begleitung der Polizei und einer Frau >mit Malblock<«, warf Marco ein. »Entweder eine Beamtin vom Jugendamt oder eine Therapeutin.« »Die beiden werden zu ihrem Vater gebracht und reagieren schwer verstört. Dieser Quatsch mit dem Ich und dem Du meinst du sie beschreibt damit wirklich eine Geistesstörung? Dass die beiden sich nicht als Individuen sondern als Einheit begriffen haben?« »Sie waren in jedem Fall von der Situation überfordert. Sie scheinen noch im Vorschulalter gewesen zu sein, kein Mensch schafft es heutzutage, seinen Kindern die Einschulung zu ersparen. Und jetzt stell dir mal vor, wie sie sich erst gefreut haben, einen Vater zu haben und wie schnell das in ein Schuldgefühl gegenüber der zurückgelassenen Mutter umgeschlagen sein muss.« Ich wagte nicht mir auszumalen, wie sehr das Verstoßen der eigenen Mutter die Kinder fürs Leben traumatisiert haben musste. Marco fuhr fort. »Das ist der Stoff, aus dem verknackste Psychen sind. Die beiden sind in Behandlung bei der Frau mit dem Malblock, aber ihre Therapie schlägt nicht an. Man beschließt einen neuen Ansatz und trennt die Mädchen in der Hoffnung, dass sie so schneller eine eigene Identität finden. Ellen - also Elke Brenner - bleibt vermutlich in Behandlung bei der Frau, die andere, Kinderbuch-Karin kommt in eine Anstalt.« »So, wie sie es beschreibt, ist es eher ein Luxus-Sanatorium.« »Die Behandlung hat ihr geholfen, eine Weile zumindest. Vielleicht erinnert sie sich deshalb an die Klinik als einen besonders schönen Ort. Vielleicht war es ihre erste Erfahrung mit einem Leben, in dem alles einen geordneten Gang ging. Sie findet in dem behandelnden Arzt eine Figur, die ihr wichtiger wird als der eigene Vater. Der Vater hatte ihr Leid ausgelöst und der Magier, also ihr Therapeut, verhilft ihr zu einer neuen Sicht der Dinge.« »Mit Psychopharmaka und Hypnose. Das Glück hält so lange an, bis sie mit ihrer Schwester konfrontiert wird. Die Individuation ist geglückt, aber auf Kosten von Elke ...« »... die sich symbolisch die Hand abgehackt hat. Wie soll man das jetzt deuten?« Ohne zu merken, was er tat, rieb sich Marco die Handgelenke.
»Entweder als Symbol der Trennung von der Schwester, die wie die Trennung von einem Körperteil ist, oder als Unterscheidungsmerkmal - also auch eine Individuationsmaßnahme.« »Ich frage mich, wer so etwas liest...« »Wenn es schon elf Bände gibt, scheint es den Leuten zu gefallen.« »Das ist für mich genau so schwer nachvollziehbar wie der Erfolg von Hera Lind.« »Wer ist das?« »Du kennst Hera Lind nicht? Kuckst du keine Talkshows?« »Ich habe keinen Fernseher.« Das erklärte seinen fantastischen Körper. Marco war nicht versucht, sich Abends aufs Sofa zu legen und Videos zu schauen. Marco gehörte demnach auch nicht zur Zielgruppe für den Großteil meiner Produkte und das fand ich für unsere kriminalistische Zusammenarbeit ganz förderlich. »Was glaubst du, wie war das Verhältnis der Schwestern, als sie erwachsen waren?« »Ich vermute, dass es nicht so berauschend war. Karin hat Psychologie studiert und Elke hat sich darauf spezialisiert, Ärzte in Skandale zu verwickeln. Das hört sich nicht nach einer harmonischen Zwillingsverbindung an. Außer, dass beide auf das gleiche Thema fixiert waren - auf Mediziner - und das passt zu dem Märchen: der Anstalt, dem Arzt, der Frau mit dem Malblock ...« »Wenn es ist wie in der Erzählung, das heißt, wenn die Zwillinge mutwillig auseinander therapiert wurden, dann frage ich mich, wie es bei Elke Brenner angekommen ist, dass ihre Schwester Psychologie studiert. Im Märchen ist Karin ja sehr auf den Arzt fixiert, aber zum Schluss sieht sie, dass ihre Behandlung quasi auf Kosten ihrer Schwester ging. Entweder sie war immer noch beeindruckt davon, wie sehr ihr die Therapie geholfen hat, oder sie hat einen Weg gesucht, es besser zu machen. Wir müssen mit Karin Berger reden.« »Und ich glaube, wir werden herausfinden, dass der Arzt, mit dem Elke Brenner liiert war, kein Schönheitschirurg oder HalsNasen-Ohren-Spezialist war, sondern ...« Ich konnte es mir nicht verkneifen, den Satz zu vervollständigen: »... sondern Psychologe.« Über die Auskunft hatten wir eine Liste mit achtzehn Karin Bergers oder K. Bergers in Köln bekommen. Bei zweien davon handelte es sich um Arztpraxen, die restlichen waren private Anschlüsse. Da es mittlerweile nach 20.00 Uhr war, überraschte es nicht, dass wir unter der ersten Praxis Berger niemanden mehr erreichten. Es lief ein Band, das verkündete, dass Frau Dr. Berger montags, mittwochs und freitags zwischen 8.00 und 14.00 Uhr und Donnerstags von 10.00 bis 12.00 und von 16.00 bis 20.00 Sprechzeiten habe und keine Terminvereinbarung erforderlich sei. Das
hörte sich nicht nach der Praxis einer Psychologin an und wir probierten die zweite Nummer auf der Liste. »Die Praxis Dr. Karin Berger bleibt bis voraussichtlich fünfzehnten September geschlossen. Bitte rufen Sie in den Bürozeiten wochentags zwischen neun und zwölf Uhr dreißig an, um vereinbarte Termine zu ändern und neue zu machen. Auf diesem Band können keine Nachrichten hinterlassen werden. Wir bitten um Ihr Verständnis.« »Ich glaube, das ist die Richtige.« Wir hatten zwar Karin Bergers Praxisnummer herausgefunden, aber die Suche nach ihrem Privatanschluss verlief erfolglos. Wir mussten die Nachforschungen auf den nächsten Tag verschieben und es über den Verlag versuchen, der ihre Psycho-Märchen auf den Markt brachte. »Was mag das alles mit den Morden in Goslar zu tun haben? Ich rätsele und rätsele und mir fällt nicht die geringste Verbindung ein, außer dass der Mörder meint, mich auf diesen Fall stoßen zu müssen.« Wir standen auf der Veranda und beobachteten Mikey, der durch den Garten tollte, auf der Jagd nach Stöcken, die Marco für ihn durch die Luft sausen ließ. Das Unwetter hatte ein wenig Abkühlung gebracht, aber in der Sonne wurde es gleich wieder warm. »Wir werden mehr wissen, wenn wir herausgefunden haben, wer der ermordete Arzt war.« »Glaubst du, Elke hat sich in ihrer Jugend an Arzte rangehangen, weil sie auch geheilt werden wollte wie ihre Schwester?« »Das war vielleicht ein Grund. Sie musste nachholen, was ihre Schwester ihr voraus hatte. Leider kennen wir die Geschichte nur aus Karins Sicht - vielleicht war Elke auch nur eine Goldgräberin und hat sich auf Ärzte spezialisiert, weil sie wusste, dass die Geld haben.« »Wenn die Geschichte nur annähernd mit der Kindheit der beiden zu tun hat, halte ich das für unwahrscheinlich. Ich glaube, Elke wollte genau so sein wie ihre Schwester, und das bedeutete eben auch, Liebling eines Doktors zu sein. Und als sie dann ihren Super-Doktor gefunden und für den FAKT die Reportage über ihn geschrieben hat, da konnte sie nicht zulassen, dass ein Wölkchen auf seine Untersuchungen fällt - schließlich musste er ja der wunderbare Magier sein, genau wie der, der ihre Schwester so verzaubert hatte. Entweder sie hat in dem Artikel wissentlich die Fakten geschönt oder sie hat ihn sich einfach nur schön gesehen.« Als ich meinen Blick über den idyllischen Garten schweifen ließ, fragte ich mich, ob ich bei meiner Ortswahl auch irgendetwas schön gesehen hatte. »Was hältst du für wahrscheinlicher?« Ich grübelte und wägte die Fakten ab. »Wenn FAKT eine große Geschichte veröffentlicht, dann kannst du davon ausgehen, dass fast alle, die in dem Bericht vorkommen, kontaktiert werden und ein letzter Faktenabgleich gemacht wird. Letztes
Jahr hatten sie diese Titelgeschichte über Porno in Deutschland und sie haben mehrfach bei Rita angerufen, um die Details genau zu checken. Die sind extrem sorgfältig, und wenn du beim FAKT-Magazin als Journalist arbeitest, dann weißt du das auch und bist nicht so naiv anzunehmen, dass alle blind darauf vertrauen, dass du die Fakten darlegst, wie sie sind. Deshalb kann ich mir nicht vorstellen, dass die Brenner mutwillig so ein Risiko eingegangen ist. Sie hätte wissen müssen, dass es herauskommt, wenn die Story irgendwo krumm ist. Ich glaube, die war von ihrem Arzt wirklich überzeugt. In jedem Fall war es vorerst das Aus für zwei Karrieren, als herauskam, dass der Artikel nicht ganz der Wahrheit entsprach.« »Und wenn man ihr unterstellt, dass sie selbst von dem Betrug nichts wusste ...« »...oder wissen wollte, also die Realität verdrängt hat, um ihr Wunderdoktor-Bild nicht zu gefährden«, ergänzte ich ungeduldig. »... dann wird sie schwer schockiert gewesen sein, dass ihr Arzt nicht so vollkommen war, wie sie sich es gewünscht hätte.« »Aber das reicht doch nicht aus, um ...« »Vorsicht Lilly - wir begeben uns in den Bereich der Spekulation.« »In dem Bereich sind wir schon die ganze Zeit!« Ich griff mir einen Stock und schleuderte ihn mit aller Kraft so weit, dass er über den Gartenzaun hinausflog, gegen eine Fichte prallte und auf den Waldboden fiel. Mikey war erwartungsfroh losgeprescht und kam jetzt frustriert bellend zu mir zurück. Ich tätschelte ihm den Kopf. Marco seufzte. »Du hast ja Recht - ich hatte genau den gleichen Gedanken. Möglich, dass wir gerade ein Motiv entdeckt haben, das Elke Brenner zur Mordverdächtigen im Fall des überfahrenen Arztes macht.« Ich stapfte eine Weile allein durch den Garten, während es sich Marco auf einem Liegestuhl am Pool bequem machte und den Sonnenuntergang betrachtete, der an diesem Abend die unglaubliche Farbkombination von Schiefer, Gelb und Rosa an den Himmel malte. Es kam mir etwas seltsam vor, dass ich Stunden mit einem Mann verbracht hatte, dem ich aus dem Bauch heraus blind vertraute und der mir eigentlich fremd war. Normalerweise dauerte es bei mir recht lang, bis ich jemanden so nah an mich heranlasse, und das meine ich alles andere als ironisch. Ich galt in einigen Kreisen als arrogant und distanziert, weil ich nicht auf jeder Party und jedem Promi-Event tanzte und Menschen, deren Gesichter ich nur aus dem Fernsehen kannte, siezte, bis sie mir das »Du« anboten. Dabei1 hatte ich einfach eine gute Kinderstube und in meinem Leben schon so viel Aufmerksamkeit gehabt, dass ich es gut verkraften konnte, nicht in jeder Ausgabe der Bunten auf den Society-Seiten abgebildet zu werden. Was den Beruf anging, den ich gerade an den Nagel gehängt hatte - wenn man so viel gedreht hat wie ich und mit so vielen Menschen so nah in Kontakt war, dann lernt man automatisch, sich gewisse Bereiche von Intimität und Nähe zu reservieren. Und auch wenn ich seit ein paar Wochen nicht mehr gedreht hatte, gab es diese Grenzen noch, die eher Produkt meines gesunden Instinkts waren als eine Mauer, die mich abschottete.
Jetzt hatte ich seit einem halben Tag einen Bodyguard, mit dem ich Gespräche führte, als sei er mein Bruder oder mein bester Freund. Ich hatte fast vergessen, dass er eigentlich nur da war, um mich zu beschützen. Und obwohl wir die meiste Zeit über die Katastrophen sprachen, die seit ein paar Tagen um mich herum passierten, fühlte ich mich dabei okay. Ich hatte das Gefühl, einen Freund fürs Leben gewonnen zu haben. Dieses Gefühl hatte ich das letzte Mal gehabt, als ich Rita näher kennen lernte. Unsere Freundschaft hatte nicht so abrupt und selbstverständlich begonnen wie die mit Marco. Wir hatten ein paar Wochen sondiert, wie die andere tickt, wie sie sich benimmt, in Krisensituationen verhält und ob sie den gleichen Sinn für Humor hat. Ausschlaggebend dafür, dass ich Rita in meinen Freundeskreis adoptierte, war, dass sie keine dieser Ja-Sagerinnen war, die Promis sammeln, ihre Anekdoten notieren und dann irgendwann in der Sonntagsausgabe der Bild-Zeitung veröffentlichen. Das Einzige, was ich an Rita etwas problematisch, fand war, dass sie im Job manchmal über das Ziel hinausschoss. Sie handelte immer in meinem Interesse und ich hatte grundsätzlich das letzte Wort, was die Umsetzung von Plänen in die Tat angeht, aber manchmal war sie einfach zu akribisch. Rita war so ein Profi, dass ich eigentlich Schuldgefühle haben müsste. Sie war ein Workaholic, und ich wünschte ihr mehr Zeit für ihr Privatleben. Gleichzeitig wusste ich, dass nichts besser für einen Single ist, als im Job kompetent zu sein - da hatte man Ablenkung vom Nachdenken über die Einsamkeit. Es sei denn, man arbeitete in einem Umfeld wie Ally MacBeal, wo alle Mitarbeiter nichts anderes taten, als sich über ihre Gefühle auszutauschen, sodass man sich wundern musste, dass sie noch Zeit für ihre Arbeit fanden. Wie schafften die es, ihre Plädoyers zu führen, Recherchen zu betreiben, ausführliche Mandantengespräche abzuhalten, wenn sie den halben Arbeitstag auf dem Unisex-Klo und die Abende bei Vonda-Shephard-Club-Auftritten verbrachten? Das Nachdenken über Einsamkeit verursacht einen verkniffenen Zug um den Mund und Sorgenfalten auf der Stirn. Und das wirkt nicht gerade anziehend auf potenzielle Partner. Wenn ich merke, dass mein Gesicht angespannt ist, dann mache ich einen Schmollmund - das ist mittlerweile ein Automatismus und eines meiner kleinen Geheimnisse: jemand, der den Schmollmund sieht, hat den Eindruck, dass ich mich gerade ganz sexy gebe, dabei pole ich letztlich nur eine innere Anspannung um. Der Trick funktioniert so ähnlich wie eine aufgesetztes Grinsen - ob einem nach Lächeln ist oder nicht: der Körper schüttet Glückshormone aus, sobald die Mundwinkel nach oben gehen. Schlichte Tricks! Wenn Rita angespannt aussah, dann, weil ein Interviewtermin geplatzt war oder sie eine schlechte Mitteilung zu machen hatte. Vielleicht sollte ich ihr einfach zum nächsten Geburtstag einen Yoga-Kurs schenken. Aber wenn sich die Dinge so entwickelten, wie ich es mir ausmalte, dann würde auch sie bald sehen, was für ein reizender und attraktiver Mann Kommissar Harry Klein war und von ihrer Arbeit ein wenig Abstand bekommen. Das dramatische Farbenspiel des Sonnenuntergangs spiegelte sich ungekräuselt auf der Wasseroberfläche des Pools. Ich zog einen meiner Schuhe aus und tauchte ihn ins Wasser, um ein bisschen Bewegung in die Sache zu bringen. In dem Augenblick zuckte ein Blitz auf und ich drehte mich erstaunt um - noch ein Blitz, Ich sah Marco in Richtung Gartentor losstürmen, hörte eine Autotür zuschlagen und kurz darauf einen Wagen mit schlingernden Reifen wegrasen. Marco kam gesenkten Hauptes zurück in den Garten.
»Ich hab ihn nicht mehr erwischt. Er hat mich fotografiert.« »Schaun wir mal, was die jetzt daraus wieder machen werden.« Ich rief Mikey zu mir und wir drei gingen resigniert zurück ins Haus. Es hatte Jahre gedauert, bis ich in der Presse erwähnt wurde, ohne dass der Satz mit einem schalen Kalauer endete und bis mich ein Interviewer befragte, ohne mit verklemmtem Humor meine Arbeit als etwas Schmutziges zu diffamieren. Als ich endlich in die Liga aufgestiegen war, in der man gebeten wird, Charity-Veranstaltungen vorzusitzen und ich somit den Status eines veritablen Promis erreicht hatte, fragte ich mich, wie lange es dauern würde, bis sie ein neues Spiel anfangen würden - den Stern wieder vom Himmel holen. Jetzt wusste ich, wie es ist. Bei all den Ungewissheiten und Geheimnissen, die mich umgaben, war zumindest eines klar: Die Schonzeit für Lilly DeLight war vorüber.
Kapitel 13 Marco hatte eine Flasche kalten Chablis entkorkt, während ich im ganzen Erdgeschoss die Rollläden heruntergelassen hatte. Wir saßen im Wohnzimmer, die Flügeltüren zum Garten waren weit geöffnet und von draußen drang das Geräusch der sich im leichten Wind wiegenden Baumwipfel und die nicht ganz so angenehme Frequenz des elektrischen Mückenkillers zu uns herein. Ich trinke selten ein Glas Wein, aber an diesem Abend schmeckte er mir wunderbar - es spukten mir so viele Gedanken im Kopf herum, dass ein leichter Rausch ganz willkommen war. Ebenso sehr wie ein kurzer Themenwechsel. »Du kennst Harry also seit eurer Polizeiausbildung?« »Ja, wir haben zusammen angefangen.« »Wie kommt man darauf, ausgerechnet Polizist werden zu wollen?« »Du wirst lachen - das war purer Idealismus.« »Das ist doch kein Grund zum Lachen.« »Meine ältere Schwester ist einmal auf einer Anti-AtomkraftDemo zusammengeschlagen worden und lag drei Monate im Krankenhaus. Der Typ, der sie verprügelt hat, ist einfach so davongekommen, der arbeitet immer noch in seinem Job und wird sogar regelmäßig befördert. Damals dachte ich - es muss doch auch gute Bullen geben und da war mein Entschluss ganz logisch.« »Du wolltest das System von innen ändern. So wie Wolfgang Joop, als er anfing, Kolumnen für die Bunte zu schreiben.« Er grinste. »Ich kenn mich in der Welt der Reichen und der Schönen nicht so gut aus, aber du wirst schon Recht haben.« »Mit Harry hast du dich auf Anhieb verstanden?«
»Wir sind gut miteinander ausgekommen. Die Outlaws auf dem Revier sozusagen. Mit seinem Abschluss hätte er Medizin studieren können. Das kam aber nicht immer gut an. Jemand wie Schultz meint dann, dir zeigen zu müssen, was für ein Würstchen du bist im Vergleich zu den gestandenen Männern, die er sonst unter sich hat.« »Er kann nicht verkraften, dass jemand intelligenter ist als er.« »Es ist noch komplexer. Schultz lebt in einer anderen Zeit, das ist ein richtiger Patriarch. Er ist irgendwann in seiner Entwicklung stehen geblieben. Überleg mal, wie sich die Welt in den letzten zehn, fünfzehn Jahren verändert hat. Manche Leute kommen da nicht mit. Der Mann kann bis heute keinen Computer bedienen ohne alle fünf Minuten einen Wutausbruch zu bekommen, weil das Ding nicht so will wie er. Dabei hat er nur nie richtig gelernt, korrekte Eingaben zu machen. Und jemand wie er lässt sich natürlich nichts beibringen.« »Ich kann diese Platzhirsche nicht ausstehen.« »Du solltest ihn mal mit seiner Familie erleben - da ist er ein ganz anderer Mensch.« »Das kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen.« »Seine Frau sitzt im Rollstuhl. Es ist unglaublich, wie lieb er sich um sie kümmert. Er ist dann wirklich wie ausgewechselt. Aber für uns war er damals schon ein harter Brocken. Harry hat es sich ganz schön zu Herzen genommen und unter dieser Behandlung gelitten.« »Wie ist Harry auf den Gedanken gekommen, Polizist zu werden?« »Er ist von seiner Mutter allein aufgezogen worden. Sein Vater war Streifenpolizist und ist eines Nachts von einem besoffenen Bauern, der gerade aus dem Puff kam, erschossen worden. Er hatte ihn angehalten und ins Röhrchen blasen lassen. Der Bauer war ziemlich durchgeknallt und hatte Panik um seinen Führerschein. Dann kam eines zum anderen und er hat abgedrückt.« »Meine Güte - wie alt war denn Harry damals?« »Vier oder fünf Jahre. Alt genug, um den Verlust zu begreifen. Ich glaube, er erträgt Schultz besser als alle anderen, weil er in ihm irgendwo eine Vaterfigur sieht. Und Schultz hat eine gewisse Hochachtung vor Harry bekommen, seit er gesehen hat, dass er ziemlich hart im Nehmen ist.« »Und wie bist du mit Schultz klargekommen?« »Ich habe es leichter weggesteckt als Harry. Ich bin einen Kopf größer als Schultz und manchmal reicht es schon, wenn du auf jemanden, der sich aufbläst und meckert wie Rumpelstilzchen, herabschauen kannst. Mich hat's weniger tangiert, wenn er sich über mein Aussehen lustig gemacht hat und seine Späßchen mit mir getrieben hat.« »Späßchen?«
»Heute würde man sagen >Mobbing<. Wenn er Kollegen zur Streife einweist und sagt: >Kommissar Müller, Sie haben heute unseren Bahnhofsschönling im Wagen drehen Sie ihm nicht den Rücken zu und bücken Sie sich nicht, dann ist das beim ersten Mal noch ein müder Lacher, wo man ein bisschen mit den Zähnen knirscht, beim zweiten Mal wird es schal und beim dritten Mal merkt man, dass es immer so weiter gehen wird und dass sie einen wirklich zermürben wollen.« »Das hört sich degradierend an.« »Nur dass man noch gar keinen Grad hat, von wo es abwärts gehen kann. Wenn du gerade die Schule hinter dir hast und einen Ausbildungsplatz gefunden hast, dann ist das Schlimmste, was dir passieren kann, den zu verlieren.« Ich konnte mir auf einmal vorstellen wie es ist, in einem ganz normalen Beruf als Festangestellte zu arbeiten und in einer solchen Hierarchie kaputt zu gehen. Mein Einstieg in die Pornowelt war auch hart gewesen, mir stutenbissigen Kolleginnen, männlichen Darstellern, deren IQ nicht einmal in die Nähe eines Tellers Babybrei kam und einer versoffenen Produzentin, die mir meinen Erfolg neidete. Ganz zu schweigen von zugigen Locations und Reizwäsche aus Chemiefasern. Aber ich hatte immer die Wahl gehabt, den Job oder die Produktion zu wechseln und mich in eine andere Umgebung zu begeben, in der es keine Hackordnung gab. Und genau das hatte ich getan. »Funktioniert das nicht unter Männern etwas tougher? Du bist doch ein imposanter Typ - kam dir nie der Gedanke, Schultz eins aufs Maul zu geben?« Marco lachte. »Das war monatelang mein letzter Gedanke vor dem Einschlafen und mein erster beim Aufwachen. Wenn ich das wirklich getan hätte, wäre ich rausgeflogen. Ich wollte diese Ausbildung und ich wollte sie gerade wegen solcher Idioten wie ihm. Damals hatte ich noch diesen Sturm-und-Drang-Idealismus, die Welt verändern zu können. Als ich gemerkt habe, dass mir das nicht gelingt - jedenfalls nicht in Goslar - da habe ich mich selbstständig gemacht.« »Klug ist der Mensch, der die Dinge zu akzeptieren lernt, die er nicht ändern kann, die Dinge zu ändern, wenn es in seiner Macht steht und der die Weisheit besitzt, den Unterschied zu erkennen.« »Das Wort zum Samstag sprach für Sie Lilly DeLight.« Es klingelte an der Tür und ich war so überrascht, dass ich beinahe mein Glas umwarf. Ich hasste es, so schreckhaft zu sein, denn das war ein Charakterzug, den ich erst seit kurzem an mir erlebte. »Erwartest du noch jemanden?« »Eigentlich nicht.« »Bleib sitzen - ich mach auf.« Marco kam mit Rita zurück ins Wohnzimmer. Ich war erleichtert. Sie trug eine große Tupper-Schüssel und stellte sie auf den Couchtisch.
»Ich dachte, ich mach euch einen Zigeunersalat. Ich hoffe, Sie sind kein Vegetarier, Marco.« »Sag ruhig du«, forderte er sie auf. »Nein, ich esse alles.« »Prima, dann hol ich mal Geschirr. Lilly, bleib sitzen - ich mach das.« Mir lief das Wasser im Munde zusammen - ich hatte gar nicht gemerkt, wie hungrig ich war. »Ich muss vor diesem Salat warnen - der ist höllisch: keinerlei Nährwert, aber umso mehr Kalorien. Der Partyrenner bei kalten Büfetts auf unseren Betriebsfesten. Da ist so viel Ketchup drin - das Rezept kann sich nur ein Kind ausgedacht haben. Fleischwurst, Bohnen, Tomatenpaprika und noch ein Hauch Barbecue-Sauce. Garantiert alles aus der Dose oder aus der Flasche. Einfach superlecker!« Rita kam mit Tellern und Besteck zurück, tat uns drei großzügige Portionen auf, schenkte sich ein Glas Wein ein und setzte sich auf ein Sitzkissen aus der Donna-Karan-Home-Collection. »Den kenne ich auch aus meiner Kindheit. Meine Mutter hat ihn immer für Partys gemacht. Zigeunersalat im Käse-Igel.« »Und dazu Pumpernickel mit zweifarbigen Belag.« »Gefüllte Eier nicht zu vergessen.« Wir mussten lachen, weil wir alle das gestochen scharfe Bild eines klassischen Siebzigerjahre-kalten-Büfetts vor Augen hatten. »Bevor die Gäste kamen, hat mein Vater immer das Büfett fotografiert. Wir haben kistenweise Fotos von Spanferkeln mit Äpfeln im Maul und Wurstplatten mit Petersiliengarnierung zu Hause.« Marco hatte seinen Teller im Nu leer gegessen und holte sich Nachschlag. »Köstlich, Rita! Dass du dich tatsächlich floch in die Küche gestellt hast, nach diesem Tag - das ist lieb vor dir.« »Ist schon okay, Lilly. Ich dachte, wir können heute alle ein bisschen Soul-Food gebrauchen.« »Was ist denn Soul-Food?«, erkundigte sich Marco. »Schokolade, Kartoffelbrei, Currywurst, Häagen Dasz Wohlfühlessen in harten Zeiten«, erklärte ich. »Gibt es irgendwelche Neuigkeiten, die nicht schlecht sind?«, wagte ich, mich bei Rita zu erkundigen, nachdem ich aufgegessen hatte und mich gegen die Antwort gewappnet fühlte. »Ich fürchte nein. Aber dafür gibt es auch keine neuen schlechten Nachrichten.« »Marco und ich haben den ganzen Abend Detektiv gespielt.« »Wirklich? Ich wusste gar nicht, dass dir sowas Spaß macht.«
»Spaß würde ich das nicht nennen, aber wenn auf die Polizei kein Verlass ist, was bleibt mir da übrig.« »Da waren wir gerade stehen geblieben. Bei der Polizei.« Gerade, als ich Rita von unseren Theorien berichten wollte, hatte Marco das Thema ziemlich abrupt gewechselt und von seinen Erfahrungen bei der Polizei erzählt. Vermutlich, weil er niemandem vertraute - nicht einmal Rita. Es war eine seltsame Situation für mich: zu sehen, dass jemand, dem ich absolutes Vertrauen schenkte, plötzlich aus dem Kreis ausgeschlossen wurde. Ich hoffte, sie hatte nicht mitbekommen, wie Marco das gelungen war. Aber sie machte keinen beleidigten Eindruck und gabelte genüsslich Fleischwurst und Bohnen auf. »Marco hat gerade von seinen Erfahrungen bei der Polizei erzählt.« »Du hast mit Harry zusammen angefangen, oder?« »Ja, wir haben uns zusammengetan.« »Hattest du eine Ahnung, dass bei der Polizei so gemobbt wird?«, fragte ich Rita. Sie zuckte mit den Achseln. »Ist das nicht heute überall so?« »Na, ich hoffe nicht - zumindest nicht bei uns in der Firma!« »Bei Frauke Ludowig gab es einen sehr guten Bericht über dich. Die haben für dich Stellung bezogen und gesagt wie absurd es ist, dich für irgendetwas verantwortlich zu machen. Der letzte Satz war so etwas wie: >Lilly tut in dieser Situation das einzig Richtige - sie schweigt.<« »Ich sag ja - Frauke ist die Beste.« Ich war pappsatt und langsam spürte ich die Erschöpfung in allen Knochen. »Ich habe für übermorgen einen Anwalts-Termin gemacht. Wegen TV1.« »Gut. Ich bin gespannt, was die uns sagen werden.« Ich schaute mir die beiden an und war unendlich dankbar, dass es sie gab. Marco kannte ich noch nicht einmal einen Tag und schon hatte er es geschafft, sich unentbehrlich zu machen. Und wenn es jemanden gab, der dafür sorgte, dass mein Leben nicht nur erträglich sondern auch angenehm war, dann war es Rita. »Ich glaube, ich muss ins Bett. Ich bin todmüde. Ich danke euch beiden. Ihr seid mir eine große Hilfe.« Marco brachte Rita zur Tür und ich ging ins Bad. Das Fenster stand offen, und während ich mir die Zähne putzte, konnte ich hören, wie sich die beiden vor der Tür angeregt unterhielten. Ich war froh, dass sie sich gut verstanden. Vielleicht lag ich falsch, wenn ich Rita mit Harry verkuppeln wollte. Marco und sie waren auch ein hübsches Paar ...
Auf dem Weg ins Schlafzimmer kam ich am Arbeitszimmer vorbei, wo noch immer das Licht brannte. Ich wanderte an der Wand mit unseren Untersuchungsergebnissen entlang und hoffte, einen Geistesblitz zu bekommen, einen Zusammenhang zwischen den Vorkommnissen zu entdecken, der mir bisher verborgen geblieben war. Der blieb jedoch leider aus. Also löschte ich das Licht, schloss die Tür, ging ins Schlafzimmer und warf noch einen Blick aus dem Fenster in den Garten. Der Pool lag friedlich und still im Mondlicht. Die Blätter der Obstbäume raschelten im leichten Wind. Vom Wald her kam der Ruf eines Nachtvogels. Ich war froh, Marco im Haus zu haben - denn ich ging an diesem Abend ohne ein Gefühl von Angst ins Bett. Die Nacht würde ruhig sein und die Energie eines erholsamen Schlafes konnte ich für den nächsten Tag dringend brauchen. Der Morgen war schwül und drückend. Es schien, als wolle sich der Sommer ein allerletztes Mal in diesem Jahr aufbäumen. Das Unwetter vom Vortag hatte keine Erleichterung gebracht und war nur eine Vorankündigung für das richtige Gewitter gewesen, das noch auf sich warten ließ. Bereits um sieben Uhr dreißig war eine Hitze erreicht, die einem die Kleider an den Körper klebte. Um die Presse zu täuschen, waren wir auf den billigsten Trick seit der Erfindung des Paparazzo verfallen. Ich verließ das Haus verkleidet. Ich trug einen alten Kittel, einen Wischeimer, gefüllt mit Putzmitteln in der einen, Besen und Wischmop in der anderen Hand, die Haare unter einem Kopftuch versteckt und eine dicke Brille, die jemand mal als Partyscherz mitgebracht und bei uns liegen gelassen hatte. Es musste aussehen, als habe selbst die Putzfrau von Lilly DeLight die Schnauze voll und verließe das sinkende Schiff. Wir spielten unsere Rollen gekonnt. Marco versuchte mich zum Bleiben zu überreden und ich schüttelte griesgrämig den Kopf, stampfte sogar einmal mit dem Fuß auf dem Boden auf, bis er mich resigniert zum Wagen brachte, meine »Arbeitsutensilien« einpackte und mich fortfuhr. Die Drehteams waren nicht uninteressiert an dem Szenario, aber es erschien ihnen zweifellos nicht dramatisch genug, um den Maßstab der Sendetauglichkeit zu erreichen. Es klickte die eine oder andere Kamera und ein verschlafener Journalist tappte auf uns zu, als wir zum Wagen gingen. Marco stellte sich ihm allerdings in den Weg und wehrte ihn mit einem Fingerzeig auf Mikey ab, den er an der Leine hatte. Als wir außer Sichtweite waren, nahm ich Brille und Kopftuch ab, warf Marco einen Blick zu, und wir grinsten uns siegesgewiss an. Das Frühstück hatten wir im Arbeitszimmer genommen, wo wir uns noch einmal unsere bisherigen Entdeckungen und das, was wir dafür hielten, vorgenommen hatten. Marco hatte Harry Klein angerufen, um ihn über die Märchen-Kassette zu informieren, die er als Beweisstück zu den Akten nehmen müsste, und ich hatte Gerd Bartels Katrin Berger als potenziell wertvolle Gesprächspartnerin ans Herz gelegt und ihm die Praxisnummer der Ärztin gegeben. Wohlorganisiert und durchdacht waren wir in den Tag gestartet und irgendwie war ich der Illusion aufgesessen, dass nichts schief gehen konnte, wenn nur alle Aufgaben effektiv verteilt waren. Ich hätte längst wissen müssen, dass sich das Schicksal von effizienter Planung nicht beeindrucken lässt, und so erwartete mich die erste Katastrophe bereits im Krummen Haus. Nämlich in Gestalt von Pamela, die nicht nur entgegen unserer Absprache ihren Hund mitgebracht hatte, sondern auch
noch aussah, als wolle sie in »Baywatch« spielen und nicht in einem historischen Hexen-Porno. Tim tigerte nervös um sie herum und versuchte ihr klar zu machen, dass gelblackierte Nägel unpassend für ihren Part waren, verhielt sich dabei aus Angst vor Pamelas Kampfhund aber so zaghaft, dass es ihm nicht gelang, sich durchzusetzen. Der Hund saß relativ brav unter dem Schminktisch, aber sein eruptives Beißer Potenzial hatte er bereits einige Tage zuvor unter Beweis gestellt und ich wollte es nicht auf eine zweite Begegnung mit Mikey ankommen lassen. Wir hatten genug Unruhe und andere Sorgen als den Platzkampf zweier Rüden. »Wo soll ich ihn denn lassen?«, greinte sie, während sie Tim widerstrebend die Hand hinstreckte, damit er ihr den Lack entfernte. Er reagierte souverän. »So weit kommt's noch!« und drückte ihr den Nagellackentferner in die Hand. Ihre Leidensmiene war unschön anzusehen. »Lilliiiiiiiiiiü«, sie dehnte die Vokale wie eine Vierjährige, »du hast doch selbst einen Hund. Sei doch nicht so herzloooos!« »Tut mir Leid. Keine Diskussionen. Ich habe dir gesagt, dass es nicht geht, also hättest du dich rechtzeitig um eine Unterbringung kümmern können.« »Er tut doch niemandem waaas.« »Das habe ich anders in Erinnerung.« »Och Lilliiii«, maulte sie. »Das Thema ist für mich erledigt. Entweder der Hund verschwindet oder ihr beide.« Wenn Blicke töten könnten, dann wären Tim und ich nicht lebend aus der Garderobe gegangen. »Wo soll ich denn hin mit ihm?« »Morgen! Gibt es ein Problem?« Rita steckte gut gelaunt den Kopf ins Zimmer und wurde mit einem aggressiven Bellen und Zähnefletschen begrüßt, als Pamelas Hund mit einem Hechtsprung gegen die Tür sprang und sie wieder zuschlug. »Verstehe schon. Alles klar«, hörten wir Rita vom Flur her sagen. »Das reicht. Leine ihn wenigstens an, bis wir wissen wohin mit ihm.« Ich hasse es, wenn Menschen sich ein Haustier anschaffen und nicht in der Lage sind, es zu erziehen. Pammie hatte ein Statussymbol gebraucht, das ihr über den Kopf gewachsen war, da es ein ziemlich autarkes Eigenleben führte. Vielleicht galt auch der alte Spruch, »Wie der Herre so 's Gescherre«, und der Hund war so daneben, weil er Abbild seiner Besitzerin war. »Du bist doch so gut mit meinem Tierarzt befreundet - ruf an und frag, ob er ihn heute unterbringen kann.«
»Bei den ganzen kranken Tieren? Das kann doch nicht gut für ihn sein.« Tim und ich schauten uns entgeistert an. »Wenn du ihn nicht anrufst, mach ich es.« Sie zückte ihr Handy, das mit einer geschmacklosen knallgelben Zierschale versehen war. Tim flüsterte mir ins Ohr: »Sie hat sogar einen Spoiler fürs Handy!«, und wir mussten uns das Lachen verkneifen, da wir beide ihr Mazda-Coupe vor Augen hatten, an dessen Rückspiegel ein lila gefärbter Fuchsschwanz baumelte. »Da geht nur der Anrufbeantworter dran.« »Normalerweise ist er um diese Uhrzeit da. Du hast noch eine Stunde bis Drehbeginn. Wenn du dich jetzt auf den Weg machst, schaffst du's noch.« »Ich lauf doch jetzt nicht alleine durch den Wald zum Parkplatz!« »Dann frag Eddie, ob er mit dir fährt.« »Eddie? Ohhhh - wo ist mein Eddie?« Sie erhob sich wie von einem Seil gezogen und sprang flötend aus dem Raum. »Eddiiiiiie! Mein Eddie-Spätzchen - wo bist duuuu?« Ihrem Hund schien die Stimmfrequenz zu gefallen und er trottete hinter seinem Frauchen her. »Die Braut ist unerträglich.« »Ja, Tim, ich weiß.« »Aber Eddie auch. Der lässt sich nicht von mir schminken, weil er Angst hat, dass ich ihn anbaggere.« »Nimm's nicht so schwer.« »Ich hoffe, die beiden kommen nie auf den Gedanken Kinder zu kriegen.« »Sei nicht so gemein. Und bitte verpass ihr eine Perücke - ihre Spitzen spalten sich ja schon bis zur Kopfhaut!« Da Eddie sich nicht nur dem Maskenbildner, sondern dem Makeup generell verweigerte, war er am besten geeignet, Pamela und Hund zum Tierarzt zu fahren. Die beiden könnten pünktlich zum Dreh zurück sein. Dana war dabei, sich frontal mit Body-Make-up zu bedecken, während Tim an Simone arbeitete. Frederic war erst für den Nachmittag eingeplant und Rita und ich hatten gut damit zu tun, den Dreh im vorderen Zimmer einzurichten. Ich hatte Harry gebeten, ein Auge auf die Tapes zu haben, die abgedreht waren, da ich keine Energie mehr für einen Nervenkitzel wie am Vortag hatte, als die Bänder mutwillig beschädigt worden waren. An diesem Vormittag schaute ich mir alle Mitglieder des Drehteams sehr genau an und spekulierte, wer es wohl sein könnte, der mich sabotierte. Erfolglos. Ich konnte es mir bei keinem der Anwesenden vorstellen. Alle arbeiteten seit Jahren für mich, und ich hatte Vertrauen nicht nur in ihre Fähigkeiten, sondern auch in ihre Charaktere. Und trotzdem musste es jemand gewesen sein, der gestern beim Dreh
dabei war. Auch die früheren Sabotageakte hatten innerhalb der Firma stattgefunden und ein Außenstehender kam nicht in Frage. Ich stand in der Küche und trank eine Tasse Tee, als ich Ronny an diesem Morgen zum erstenmal begegnete. Er kam in den Raum, trug nur einen dünnen Morgenmantel, und in Erinnerung an das, was wir am Vortag im gleichen Zimmer getan hatten, bekam ich beinahe ein Schuldgefühl. Er strahlte mich an, begrüßte mich und wir küssten uns leicht auf den Mund. Ist es nicht verrückt, wie man einen Menschen an seinem Kuss erkennen kann? »Es ist gut, wieder bei dir zu sein«, sagte er, trat einen Schritt zurück und schaute an sich herab. »Ich glaube, ich muss mich setzen.« Es tat sich etwas unter seinem Morgenmantel, und ich war einerseits froh, dass er in der richtigen Arbeitslaune war, andererseits fragte ich mich, wo das alles hinführen würde mit uns beiden. Menschen, die im Zeichen Waage, Aszendent Zwilling, geboren sind, neigen dazu, mehrere Lösungsmöglichkeiten für ein Problem zuzulassen und für jeden eventuellen Ausgang einer Situation die Konsequenzen in Betracht zu ziehen. Alles gleichzeitig. Mir ging es ein bisschen schlecht, weil er es schaffte, dass es mir sehr gut ging, wenn ich mit ihm in einem Zimmer war. Ich setzte mich zu ihm an den Tisch. »Bei dir alles in Ordnung?« Er nahm meine Hand in seine. »Na ja. Zu sagen, dass es mir glänzend geht, wäre übertrieben. Aber ich komme klar. Es ist ja schon ein Geschenk, dass heute alle vom Team da sind. Am Leben sind, meine ich.« »Ich wünschte, ich könnte etwas für dich tun ...« Er lächelte mich verzeihend an. »Es reicht schon, dass du da bist, Ronny.« »Ich verstehe nicht, wie so etwas passieren kann. Du führst dein Leben wie immer und plötzlich schlägt das Schicksal zu und du bist in etwas involviert, was nichts mit dir zu tun hat.« »Das Schreckliche ist, dass es wohl doch etwas mit mir zu tun haben muss.« »Wenn ich etwas von dir gelernt habe, dann ist es, dass nur dann alles gut geht, wenn man sein Leben selbst in die Hand nimmt. Ich habe oft an dich gedacht, wenn es mir dreckig ging. In den klaren Momenten zumindest. Zu sehen, wie du immer erfolgreicher wirst, weil du dich unabhängig machst. Und das in einer Zeit, wo ich komplett abhängig war - von Drogen, von meinem Elend.« »Ich dachte auch immer, dass es so einfach wäre, aber wirklich unabhängig ist niemand. Heute hängt viel von meinem Erfolg ab Existenzen hängen daran! Wenn die Presse mich als Verbrecherin abstempelt und das Publikum meine Produkte nicht mehr will, dann kann das das Aus für die Firma sein.« So weit hatte ich den Gedanken bislang noch nicht gesponnen, und als ich es aussprach, erschreckte es mich. Karrieren waren schon in seichteren Gewässern
gekentert - das falsche Parteibuch, die unpassende Religion, eine dumme Bemerkung - alles Faktoren, die irgendwann einmal ausgereicht hatten, jemanden in Ungnade fallen zu lassen. »Lilly, du bist nicht der Typ, der sich unterkriegen lässt. Das bist du nie gewesen und das wirst du auch nie sein. Das weißt du. Und du stehst auch das hier durch.« Er drückte meine Hand an seine Wange. »Gott, Ronny - ich hoffe.« »Du schaffst das.« Den Glauben an mich selbst hatte ich noch nicht vollständig verloren, aber um das Vertrauen in meine Umwelt stand es lange nicht so gut.
Kapitel 14 Pamela war auf hundertachtzig und knallte die Autotür mit solcher Wucht zu, dass ihrem Beifahrer die Ohren klangen. Widerwillig stapfte sie über den vom Wolkenbruch noch aufgeweichten Rasen vor der Tierarztpraxis. Die Stöckel ihrer kirschroten High Heels versanken im matschigen Boden und ihr Hund zerrte unzufrieden an seiner Leine. Der Gang war ein ständiger Kampf mit dem Gleichgewicht - dem äußeren. Das innere hatte sie schon beim Streit mit ihrer Chefin verloren. Sie hasste es, wie eine Slapstickfigur auszusehen - die doofe Blonde, die mit dem Arsch wackelt -, aber in ihrer Aufmachung war sie an diesem Effekt auch nicht ganz unschuldig. Ihr gelber Lycra-Rock war zu kurz und zu eng, sodass er sich beim Gehen hochzog und sie ihn immer wieder hinunterschieben musste. Ihr rotes, mit überdimensionierten Südfrüchten bedrucktes Top ließ den Bauchnabel frei - und auch den Blick auf einen Bauch, der schon straffere Tage gesehen hatte. Sie fluchte innerlich und das spiegelte sich äußerlich durch eine Sorgenfalte auf der Stirn und eng zusammengepresste Lippen, die sich nur dann und wann öffneten, um einen kurzen Fluch auszustoßen, wenn sie wieder umzufallen drohte oder wenn ihre Gedanken um die überkandidelte Porno-Queen zu kreisen begannen, die sich erdreistet hatte, ihr Anweisungen zu geben, wie sie mit ihrem Hund umzugehen hatte. Nicht das erste Mal in den letzten zehn Jahren fragte sie sich, warum die Mauer überhaupt gefallen war, wenn sie immer noch unter Diktatoren zu leiden hatte, immer noch auf Ämtern anstehen musste und sich die wirklich tollen Dinge des Lebens einfach nicht leisten konnte. Ihretwegen könnte die Scheißmauer immer noch stehen, sie war damals sowieso über Ungarn raus. Wenn sie jemand interviewt hätte - nicht dass es da eine lange Liste von Interessenten gab, dann hätte sie diesen Aspekt betont -, sie war ein politischer Flüchtling und nicht eine von denen, die es einfach ausgesessen hatten und dann am ersten Tag der Wiedervereinigung in den Westen eingefallen waren, um denen dort die Schokoriegel vor der Nase wegzukaufen. Trotz ihrer Flucht, die mittlerweile zwölf Jahre zurücklag, hatte sie einige alte Angewohnheiten nie über Bord werfen können. Sie redete in der Vermeidungssprache. Sie sprach von »man« wenn sie eigentlich »ich« meinte und war eine große Freundin des Plusquamperfekts. Sie »hatte gehabt« und sie »war gewesen« - als ob die Vergangenheit tatsächlich komplett abgeschlossen und unwiderrufbar beendet »gewesen war«. Zu Zeiten eines »Staatssicherheitsdienstes«
mochte es taktisch schlau gewesen sein, die Worte auf die Waagschale zu legen, aber im Jahr 2000 war ihr Sprachgebrauch ein reiner Anachronismus, vielleicht sogar ein wenig Nostalgie. Es war ihr zutiefst zuwider, dass sie sich in ihrem Alter dem Diktat einer Frau zu beugen hatte, die nicht nur erfolgreicher als sie selbst, sondern - nie hätte sie diesen Gedanken laut geäußert auch noch hübscher und vor allem jünger war. Sie mochte die besten Gagen zahlen, aber trotzdem konnte sie das Weib nicht ausstehen, das sich aufspielte als habe sie den Sex erfunden und das von Talkshow zu Talkshow gereicht wurde, kaum eine Promiparty ausließ und sich auch noch einen wohlhabenden Mann geangelt hatte, der aussah wie ein gottverdammter Filmstar. Was bildete die sich ein, ihr vorzuschreiben, wann sie wo mit wem Drogen nehmen durfte, und wie wagte sie es, ihr zu unterstellen, sie habe ihren Hund falsch erzogen. Die ganze Welt wusste, dass Pitbulls ihren eigenen Kopf haben und schon vom Charakter her kleine Haudegen sind, denen es schwer fällt ihren Spieltrieb zu zügeln. Endlich hatte sie den Vorhof überquert - sie fragte sich, weshalb ein erfolgreicher Tierarzt es sich nicht leisten konnte, seine Auffahrt zu asphaltieren - und ging die Stufen zur Praxis hoch. Sie warf noch einen Blick auf ihre Schuhe, fluchte und beschloss, sie wegzuwerfen und neue zu kaufen, anstatt sie zu putzen. Dann öffnete sie die Tür und trat ein. Sie hasste es - das Wartezimmer war schon jetzt überfüllt und durch die anwesenden Tiere ging eine Woge von Jammern und Jaulen, als sie ihren Hund sahen, der mit einer zähnefletschenden Wucht an seiner Leine zerrte, dass es sie fast umriss. »Frollein!«, rief ihr die Arzthelferin zu, die hinter dem Counter im Wartezimmer saß. »So geht das nicht. Entweder Sie beruhigen das Tier oder Sie warten draußen.« Das hatte ihr noch gefehlt - eine schnippische Kleinstadt-Lolita, die sich als Chefin aufspielte. »Ich bin eine Freundin von Dr. Hofmeier und muss ihn dringend sprechen.« Die Lolita bedachte Pamela mit einem skeptisch-amüsierten Blick. »Tut mir Leid - er ist noch gar nicht da. Wenn es so dringend ist, dann rufen Sie ihn doch auf dem Handy an. Und wenn Sie eine Untersuchung brauchen - für Ihren Kleinen, meine ich, dann müssen Sie sich leider hinten anstellen.« »Hör mal Mädchen - bist du zu allen Patienten so unverschämt oder willst du dich mit mir anlegen?« »Das liegt mir fern. Nehmen Sie doch bitte auf dem Flur Platz.« Sie hasste Weiber, die gleichzeitig so ruhig und so fies sein konnten. Manchmal wünschte sie sich, sie könne selbst so meuchlerisch-gemein sein, aber sie war eher eine Frau des Ausbruchs als der feinen Töne. Übellaunig verschwand sie in den Flur, setzte sich auf einen unbequemen Ikea-Klappstuhl und hörte, wie sich der Tumult, den ihr Hund verursacht hatte, langsam legte. Sie schaute auf die Uhr. Verdammt wenn sie zu spät käme, würde ihr die Regisseurin den Kopf abreißen. Ihre innere Unruhe übertrug sich auf den Hund, der einfach nicht sitzen bleiben wollte und an
seiner Leine zog, immer in Richtung einer Tür, die zum kleineren der beiden Behandlungszimmer führte. Schon wieder waren zwei Minuten vergangen und sie fragte sich, wo der Arzt blieb - es war immerhin nach neun Uhr und die Praxis öffnete um acht. Sie kramte in ihrer roten Lackhandtasche nach einem Fruchtkaugummi und hatte die Leine nur kurz aus der Hand gelegt, da rannte der Hund los und sprang mit einem Satz gekonnt auf die Türklinke des Behandlungsraumes - ein Trick, den sie ihm nicht beibringen musste, sondern den das pfiffige Kerlchen schon seit frühester Welpenzeit beherrschte. »Okay«, dachte sie, und steckte sich den Kirschkaugummi in den Mund, »dann schauen wir eben mal nach.« Keine zehn Sekunden später bereute sie ihre Neugier - wenn auch nur kurzfristig - sehr. Am Nachmittag schon sollte ihr das, was sie nun sah, drei Minuten Sendezeit auf allen privaten Fernsehsendern bescheren - was wollte sie mehr -, aber jetzt im ersten schrecklichen Moment des Sehens, Erkennens und Begreifens, fuhr ihr der Schock bis ins Mark. Auf einem der zwei Aluminium-Behandlungstische lag Peter Hofmeier - auch wenn sie ihn im ersten Augenblick nicht erkannte, denn über ihm lag eine der überteuerten Lilly-DeLight-Gummipuppen. Ihr Hund sprang am Tisch hoch und traf mit seiner Pfote die Puppe. Das Zischen austretender Luft erfüllte den Raum und die Plastikhülle legte sich wie ein obskures Leichentuch über die unbewegliche Gestalt des Tierarztes. Der Hund schnappte nach der Puppe und wollte sie wie ein Beutetier schütteln und fortreißen, doch dies gelang ihm nur schwer, da die Puppe mit Lederriemen am Tisch und an den Arm- und Fußgelenken des Arztes befestigt war. Erst, als genügend Luft entwichen war, konnte er die Puppe so weit fortreißen, dass Pamela das Szenario in all seiner bizarren Obszönität sah. Der Arzt war auf grobschlächtigste Art und Weise in eine Frau verwandelt worden. Auf seinen Kopf war eine teuer aussehende blonde Perücke gestülpt und seine Lippen waren großzügig mit einem flammendroten Lippenstift bemalt, den Pamela mit Kennerblick als Paloma Picasso identifizierte. Sein Gesicht war blass grundiert und der Gegensatz zu seinem nackten, braun gebrannten Körper ließ es wie eine Maske aussehen. Ein kräftiges Rouge verlieh der Maske einen lebendigen Eindruck, der jedoch täuschte. Der Mann war tot, musste tot sein, denn er reagierte nicht auf den japsenden, blutgierigen Pitbull, der an der schrumpelnden Gummipuppe zerrte, bis sie halb auf dem Tisch und halb auf dem Boden lag. Zwischen den Beinen des Tierarztes klebte eine bluttriefende Binde und zwischen seinen Schenkeln hatte sich eine Lake gerinnenden Blutes gebildet. Das Blut vor Augen, das ihren Hund so wild gemacht hatte, erwachte Pamela aus ihrer Schockstarre und begann zu schreien. Der ganze Tisch war mit Blut verschmiert, und unter dem Tisch hatten sich Pfützen gesammelt. Dunkelrote Handabdrücke an den weiß gekachelten Wänden ließen erahnen, dass der Arzt sich verzweifelt gewehrt hatte, bis ihn sein Mörder in die demütigende Position hatte zwingen können. Jetzt roch sie es - metallisch und süßlich - und der Geruch drehte ihr den Magen um. Die Handabdrücke. Da, wo eigentlich seine rechte Hand hätte sein müssen, war nur noch ein verschmierter Stumpf. Als sich endlich die Tür zum Behandlungszimmer öffnete und die Arzthelferin und zwei Schaulustige fassungslos auf die perverse Inszenierung schauten, hatte auch der Hund das, was er wollte - mit gefletschten Zähnen und erregtem Knurren
präsentierte er seinem Frauchen, was er aus der Scheide der Lilly-Puppe gezerrt hatte: die rechte Hand von Peter Hofmeier.
Kapitel 15 Um neun Uhr waren wir drehbereit. Das Licht war eingerichtet, der Ton gecheckt, der Schlafzimmer-Set dekoriert und die Darsteller standen in Kostüm und Maske abrufbereit. Alles war fertig inklusive ich mit meinen Nerven, denn Pamela und Eddie waren noch nicht zurück. »Sie zickt wahrscheinlich, weil sie sauer auf dich ist.« Dana drückte ihre Zigarette aus und steckte sich gleich die nächste an. »Das tut sie einmal und nie wieder. Wenn sie keine gute Entschuldigung hat, dann fliegt sie raus.« »Das kannst du nicht machen, Lilly - wie willst du den Film denn fertig stellen, wenn wir noch nicht einmal einen Ersatz für Johann haben und du jetzt noch Pamela umbesetzen musst!« Rita hatte natürlich Recht. »Ich könnte die Frau erwürgen«, rutschte es mir heraus. »Mit solchen Formulierungen wäre ich etwas vorsichtiger«, sagte Marco mit einem Seitenblick auf Harry Klein. Harrys Handy klingelte und er verschwand aus dem Zimmer. Ich starrte aus dem Fenster auf die Lichtung in der Hoffnung, dass ich die beiden Abtrünnigen durch Gedankenkraft materialisieren könnte. Dana summte monoton die Melodie von »Hansel und Gretel verliefen sich im Wald«, und ich war kurz davor sie zu bitten, den Mund zu halten. Gibt es sowas wie ein inneres Ohr? Denn da hörte ich nicht »Hansel und Gretel« sondern »Eddie und Pamela«. Harry schaute zur Tür herein und verhinderte gerade noch rechtzeitig, dass ich Dana gegenüber brüsk wurde. »Kann ich dich kurz sprechen?« Wir setzten uns an den Küchentisch. Seine Miene besagte, dass neue Wolken am Horizont aufgezogen waren. »Das war ein Anruf vom Revier. Aber ...« Er druckste herum und mied meinen Blick, »wie soll ich es sagen - Pamela wird heute nicht mehr drehen können.« »Was?!« Ich sprang von meinem Stuhl auf. »Sie wird von der Polizei verhört.« »Was um Gottes willen ist denn jetzt schon wieder passiert?« »Wir reden später darüber.«
»Wie - wir reden später? Ich muss doch wissen, was los ist. Was soll ich denn jetzt tun? Ich kann den Drehplan nicht umstellen Pamela ist in fast jeder Szene.« Ich marschierte durch den Raum wie ein Tiger im Käfig. »Wenn sie heute nicht kommt, dann verlieren wir einen ganzen Tag!« »Kannst du niemanden kurzfristig buchen?« »Wie denn, Harry? Ich kann schlecht zum Landfrauenverein gehen und dort ein Casting veranstalten! Und selbst wenn es in Goslar die große Auswahl an PornoDarstellerinnen gäbe - wir brauchen für den Part eine Blondine mit großem Busen. Pamela war schon zweite Wahl, noch tiefer kann es einfach nicht gehen.« Marco kam herein und setzte sich zu uns an den Tisch. »Eddie ist gerade allein zurückgekommen.« »Pamela fällt heute scheinbar aus und unser Freund Harry will mir nicht verraten, was eigentlich los ist. Ich kann den Dreh nicht einfach abblasen. Wenn ich Pech habe, dann stehe ich bald ohne Co-Produzenten da und trage alle Kosten allein. Das kann ich mir nicht leisten. Die Zeit rennt mir weg.« Ich ertappte mich dabei, wie ich an meinen Fingernägeln knabberte. Es war ziemlich spät, mit einer so schlechten Angewohnheit anzufangen, also verkniff ich es mir. »Kann man die Rolle nicht streichen?« Harry gab sich redlich Mühe, die Situation zu retten. »Das ganze Drehbuch fällt auseinander, wenn wir die Rolle streichen oder kürzen. Du kannst doch auch nicht Drei Engel für Charlie auf einmal nur mit zwei Frauen drehen! Verdammt, verdammt, verdammt. Es muss eine Lösung geben, es muss ...« Plötzlich hatte ich ein panoramaartiges Bild vor Augen: Scarlett O'Hara stand auf einem vom Licht der untergehenden Sonne rot gefärbten Acker und streckte die Faust gen Himmel. »Gott ist mein Zeuge!«, sagte sie, »Gott ist mein Zeuge! Ich lasse mich nicht unterkriegen. Ich will es überstehen!« Eine halbe Stunde später saß ich in der Garderobe und bereitete mich auf das wahrscheinlich kurzfristigste Come-back der Filmgeschichte vor, keine drei Tage nachdem ich meinen Rückzug bekannt gegeben hatte. Alles war so schnell gegangen, dass ich kaum Zeit gehabt hatte, zu überlegen wie ich mich dabei fühlte. Jetzt dachte ich an Max, während Tim mir die Haare stylte und mein Gesicht schminkte und puderte. Wäre Max nicht verschollen gewesen, hätte ich den Schritt nicht unternommen, aber Max war nun einmal weg. Das hatte er jetzt davon. Eddie saß neben mir und trug widerwillig Make-up auf- er war einfach zu braun gebrannt, um als Bürgermeister des 19. Jahrhunderts durchzugehen und ich hatte ihn davon überzeugen können, dass ihn ein bisschen Schminke nicht gleich zur Tunte machte. Angesichts der Szene, die ihm bevorstand, war das keine leichte Aufgabe gewesen, denn wir würden einen Dreier drehen, der ihm alles abverlangen und mit seinen tiefsten Ängsten konfrontieren würde: er, ich und Ronny. Eddies Erektionsprobleme, wenn ein anderer nackter Mann im Zimmer war, waren legendär. Es hatte Rita
massive Überzeugungsarbeit gekostet, ihn zu dieser Szene zu überreden und das Argument, das ihn überzeugte, war, dass Lilly DeLights Hexen einen prominenten Fernsehsendeplatz haben und ihn bei einem breiteren Publikum bekannt machen würden. Ich harte gehofft, dass er mir detailliert beschreiben könnte, was sich in der Tierarztpraxis zugetragen hatte, aber er war nicht dabei gewesen. Er hatte im Auto gesessen und auf Pamela gewartet. Kurze Zeit nachdem sie hineingegangen war, hatte sie laut geschrieen, binnen zehn Minuten war die Polizei erschienen und hatte sie abgeführt - kalkweiß und am ganzen Körper zitternd. Eddie hatte offensichtlich keine Lust auf eine Konfrontation mit der Polizei gehabt und war wieder umgekehrt und zum Krummen Haus zurückgefahren. Da ich Pamela lange genug kannte, tippte ich auf einen Koks-Skandal und sollte mit meiner Vermutung schwer danebenliegen. Doch das war gut so, denn hätte einer von uns gewusst, was Pamela durchgemacht hatte, wären wir nicht im Stande gewesen, eine Szene zu drehen, die Porno-Legende werden sollte. Der Set lag in schummrigem Halbdunkel, und eine Speziallampe zauberte das Flackern eines Feuers über das Bett, auf dem ich mich dramatisch drapiert hatte und unruhig hin und her wand. Ich hatte einen Fiebertraum, der noch gar nicht gedreht war und der später in Zwischenblenden eingeschnitten würde. In dem Traum rannte ich nur mit einem feuchten Musketierhemd bekleidet durch eine surreal-höllische Szenerie. Geheimnisvoll schwarzes Wasser spritzte gegen meine Beine und Schenkel, und um mich herum waren Wände aus Flammen, deren rotes und gelbes Licht sich im Wasser spiegelte und brach und meinen Körper in die seltsamsten Farben tauchte. Ich war nicht auf der Flucht oder auf der Jagd, sondern einfach nur getrieben von meiner unbefriedigten Begierde, von einem Funken, der mich nicht ruhen ließ. Irgendwann stürzte ich und tauchte tief in das düstere Wasser hinab, mein Hemd klebte jetzt an meinem Körper und zeigte mehr als es verhüllte. Ich schwamm unter Wasser, bis es auf einmal heller wurde und ich in die Richtung des Lichts schwebte, langsam wieder an die Wasseroberfläche glitt und in einem Spritzen von Gischt und Schaumkronen auftauchte, als sei ich eine Meerjungfrau und mein Körper aus Wasser modelliert. Ich stand mit dem Rücken vor einem gigantischen Wasserfall und das helle Sonnenlicht brach sich in Tautropfen und erzeugte Tausende kleiner Regenbogen. Ich öffnete die Augen - gerade rechtzeitig um zu sehen, wie die Wassertropfen und die Tauperlen sich in einem Strudel zusammenzogen, der einem buntflirrenden Tornado glich und sich formierte, materialisierte, bis das Wasserwesen die Gestalt eines Mannes angenommen hatte. Mit einem atemberaubenden Krachen und einem blendenden Licht, das die Landschaft ganz kurz so hell ausblendete, dass man für einen Augenblick danach einen Negativabzug der Szenerie vor sich sah, schlug ein Blitz ein die Wassergestalt loderte lichtweiß auf, streckte die Arme empor und füllte sich mit Fleisch und Blut das metallen schimmernde Wasser, aus dem sie zuvor bestanden hatte, färbte sich fleischfarben, durchdrang ihn schließlich ganz und vor mir stand ein Mensch gewordener Naturgeist - Ronny, schimmernd, strahlend, mit Tropfen benetzt, die an den hellen feinen Härchen herabrannen, die seine sehnig-muskulösen Beine und Arme zierten.
Ronnys Schwanz war selbst im schlaffen Zustand ein Kunstwerk der Natur. Seine Proportion war beeindruckend - lang, aber nicht zu dick, sodass er Lust und keine Angst machte. Schillernd und glänzend standen Ronny und ich uns gegenüber, unübersehbar wuchs sein Schwanz bis er steif war und auf mich zeigte, und ein Donnergrollen wurde laut, nahm noch an Lautstärke an, bis es sich in einem ohrenbetäubenden Krachen entlud und ein weiterer Blitz das Bild ausfüllte, das bis auf ein Kohlenglühen verdimmte und mich wieder in meinem Bett zeigte aufgeschreckt aus dem erotischen Traum, mit herabgerutschtem Oberteil, eine Brust enthüllt, und vor mir, zwischen meinen Beinen Ronny mit nassem Oberkörper und feuchtem Haar, aus dem Traum direkt ins Leben herüber gewechselt. Mit kräftigen Händen massierte er die Innenseiten meiner Oberschenkel und bog sie sanft auseinander. Ich ließ meinen Kopf zurückfallen und genoss die Berührung, schmolz unter dem leichten Druck seiner Finger, bis ich fast verrückt wurde vor Gier und Verlangen und seinen Kopf mit beiden Händen zwischen meine Schenkel presste und seine Zunge in mir spüren konnte. Ronny sah beim Sex nicht nur gut aus, er verstand auch sein Handwerk. Wenn das Quickie tags zuvor in der Küche Pflicht war, dann erlebten wir jetzt die Kür. Er ließ seine Zunge meine Scheide erkunden, während seine Hände an meinem Oberkörper hochwanderten und erst sanft über meine Brüste strichen, bis sein Griff fester wurde. Ich begann mich auf dem Bett zu winden, mein Körper bewegte sich fast unkontrolliert und um nicht schon in den ersten Minuten zu kommen, musste ich die Stellung wechseln und hockte mich in 69er Position rittlings aufs Bett, sodass Ronny unter mir lag und ich seine Aktionen besser kontrollieren konnte. Ich war gierig darauf, seinen Körper zu spüren, über den die Lichter des falschen Kaminfeuers tanzten. Sein Schwanz war stahlhart, die Adern standen deutlich hervor. Er hatte seine Beine leicht angewinkelt auf das Bett gestellt. Er hörte nicht auf mich zu lecken, und als ich meine Lippen über seine Eichel stülpte und meine Zunge an seinem Schwanz entlangfuhr, während ich den Schaft fest in der Hand hielt, spürte ich, wie er mir einen Finger in die Scheide steckte und begann, auf meinen G-Spot zu drücken. Mein Körper fing an zu beben, und ich konzentrierte mich darauf, seinen harten Schwanz zu lutschen und an ihm zu saugen, bis ich, stimuliert von seiner Fingerarbeit, fast kam und von ihm herunterrollte, mich an das Kopfende des Bettes setzte, mit der linken Hand über meine Brüste strich und langsam für ihn die Beine spreizte. Meine rechte Hand ließ ich langsam an meinem Körper herabgleiten, ich spielte mit den Fingern an meinem Schamhaar. Ronny starrte mich aus glühenden Augen an, bis er nicht mehr an sich halten konnte und mich fast grob an den Beinen packte und zu sich heranriss. Er keuchte, als er seinen Schwanz in mich hineinstieß und mich zu ficken begann. Ich lag jetzt schräg auf dem Bett und ließ meinen Kopf über die Bettkante hängen. Meine Haare ergossen sich bis auf den Fußboden und in meinem Kopf sammelte sich das Blut. Wenn er jetzt noch mit dem Finger nachhelfen würde, würde mein Orgasmus das Haus erschüttern, aber Ronny wusste, dass wir noch lange nicht so weit waren und beließ es bei den schneller und härter werdenden Stößen. Rotes und gelbes Licht tanzte über mein Gesicht, während ich meinen Kopf weit zurückbog und meine Brüste knetete. Erst jetzt sah ich, dass wir nicht allein im Zimmer waren. Neben der
Tür stand Eddie. Er lehnte mit dem Rücken an der Wand. Sein weißes Hemd war bis zum Bauchnabel geöffnet und die Hose hing ihm in den Kniekehlen. Er massierte mit gemächlichen Handbewegungen seinen riesigen Schwanz und beobachtete, wie Ronny mich fickte. Als er sah, dass ich seine Anwesenheit mitbekommen hatte, trat er einen Schritt auf uns zu und stand jetzt im Licht des Kamins. Ich streckte meine Hände über meinen Kopf hinaus in seine Richtung, und er kam meiner Aufforderung nach, riss sich das Hemd mit einem Handgriff vom Leib, schleuderte seine Hose von sich und war mit zwei Schritten über mir. Er kniete vor dem Bett, meinen Kopf zwischen den Beinen und stöhnte, als er anfing, meine Brüste in seine Pranken zu nehmen und mit der Zunge über die Brustwarzen zu lecken - erstaunlich sanft für so einen grobschlächtigen Typen. Sein Schwanz blieb hart - obwohl er Ronny direkt vor Augen hatte. Ich legte meine Hände auf Eddies Hintern und ließ meine Zunge von seinem Sack langsam am Schaft emporwandern. Mir wurde langsam schwindelig von der Position, und ich spürte, dass ich nicht mehr lange so liegen bleiben konnte, da ich sonst Gefahr lief, ohnmächtig gefickt zu werden. In diesem Augenblick spürte ich, wie Eddies Hand den magischen Trick besorgte und er seinen Finger gegen meine Klitoris drückte, während Ronny mich in immer schnelleren Stößen fickte. Jetzt ging alles sehr schnell. Die Muskeln in meiner Scheide zuckten und saugten an Ronnys Schwanz und ein Orgasmus von der Stärke eines Orkans nahm von meinem Körper Besitz. Eddie hatte seinen Schwanz jetzt selbst in der Hand und bearbeitete ihn gierig. Ich brach in einen ekstatischen Schrei aus und während ich meinen Höhepunkt erreichte, zog Ronny seinen Schwanz aus mir heraus und spritze seinen Samen in weitem Bogen auf Eddies Oberkörper. Eddie schien selbst überrascht, dass ihn Ronnys Saft nicht absondern antörnte und verschoss seine Ladung unter Stöhnen und Ächzen, bevor er auf dem Bett zusammenbrach. »Danke«, flüsterte ich, »und cut.«
Kapitel 16 Mein Lieblingssender Sät 7 widmete dem neuesten Porno-Mord ganze fünf Minuten Sendezeit. Drei davon gehörten Pamela Anders, die sich schnell von ihrem Schock erholt und die Gunst der Stunde genutzt hatte. Ein angehender Medienstilberater schien einen Crashkurs an ihr absolviert zu haben. Ihre Haare waren eng an den Kopf gekämmt, sie trug sie zu einem schlichten Dutt aufgesteckt. Das Gesicht, normalerweise dick mit Grundierung bespachtelt und mit einem weit über die Lippenkonturen reichenden, quietschrot lackierten Mund, war dezent geschminkt und zum erstenmal, seit ich sie kannte, sah sie so aus, wie sie tatsächlich war: fast hübsch und frühzeitig verhärmt. Sie hatte in diesem Moment den Grundstein für ihre zweite Karrierelaufbahn gelegt, deren Höhepunkt in einem Auftritt bei Günther Jauchs Jahresend-Schicksals-Sendung gipfelte, wo sie, wie bereits in den Talkshows bei Bärbel Schäfer, Hans Meiser, Arabella, Vera, Andreas Türck und Oliver Geissen von ihrem tragischen Schicksal berichtete: Porno-Starlet verliebt sich in Kleinstadttierarzt, der fällt kurz darauf dem Porno-Killer zum Opfer. Es sollte kein Auge trocken bleiben - am wenigsten ihr eigenes. Noch weniger jene der Hinterbliebenen von Peter Hofmeier, die keine Ahnung gehabt hatten, dass ihr früh verstorbener Sohn kurz davor gewesen sein sollte, sein Junggesellenleben aufzugeben, um mit einer dürftigen Pamela-Anderson-Kopie den
heiligen Hafen der Ehe anzusteuern. Selbst Peter Hofmeier wäre überrascht gewesen ... Teil zwei der Porno-Mord-Witwen-Saga sollte sich bis weit ins Frühjahr 2001 hineinziehen, denn Hofmeiers katholische Eltern veranlassten Pamela per Unterlassungsklage zu schweigen, was diese so empörte, dass sie eine zweite Talkshow-Tournee unter dem Motto »Meine Schwiegereltern hassen mich« in Angriff nahm. Jetzt aber lag das alles noch in weiter Ferne. Vor der Sät 7-Kamera berichtete sie detailliert, was sie in der Arztpraxis vorgefunden hatte. Bei den schrecklichsten Details - der Binde zwischen den Beinen, der separierten Hand - schloss sie demütig und verstört die Augen. Die Rolle, die ihr Pitbull bei der Auffindung der Hand gespielt hatte, ließ sie vorsichtshalber unerwähnt. Und offenbar hatte ihr die Polizei ins Gewissen geredet, nicht zu erwähnen, dass Hofmeier, wie alle Opfer zuvor, entmannt worden war. Unser Arbeitstag war äußerst produktiv gewesen. Nachdem wir den Dreier mit einem einzigen Take in den Kasten gebracht hatten, waren uns noch drei weitere Szenen gelungen, und wir hatten fast einen halben Drehtag gewonnen. Erst am Spätnachmittag erfuhren wir, was sich nur wenige Kilometer von uns zugetragen hatte. Nach einem anstrengenden Arbeitstag saßen wir versammelt am Küchentisch und ließen uns von der Köchin des Tagungszentrums der Goslarer Landfrauen ein opulentes Mahl servieren. Harry war von Kommissar Schultz angerufen worden, und der hatte sein Wissen mit Marco geteilt. Während die anderen noch aßen und sich angeregt unterhielten, redeten wir im Flüsterton über die Ereignisse. »Es ist das erste Mal, dass man eine Leiche gefunden hat - ich weiß nicht, was ich davon halten soll.« »Ja, das ist seltsam. Und es ist das erste Mal, dass ich nicht diejenige bin, die einen abgehackten Schwanz findet. Weshalb ändert der Mörder auf einmal seine Strategie?« »Wenn es überhaupt der gleiche Mörder ist.« »Du glaubst doch nicht ernsthaft...« der Gedanke war so abwegig, dass er schon wieder eine gewissen Berechtigung hatte. »Ausschließen möchte ich es nicht. Aber ich halte es für unwahrscheinlich.« »Vielleicht war er frustriert darüber, dass die Details nicht an die Öffentlichkeit gekommen sind, und hat es deshalb diesmal drastischer inszeniert.« »Gut möglich, aber trotzdem wundert es mich, dass diesmal nicht du die Entdeckerin warst- du hättest doch keinen Anlass gehabt, in die Praxis zu gehen.« »Hm. Stimmt. Aber wenn ich etwas gefunden habe, dann sind die Details nie an die Öffentlichkeit gekommen. Vielleicht hat er wirklich einen Weg gesucht, seine Taten
bekannt zu machen. Und mit Pamela hat er einen echten Treffer gelandet. Jeder weiß, wie pressegeil sie ist.« Marco nickte versonnen und stocherte in den Resten seines Putenbrustsalats herum, als wären sie ein forensischer Rorschachtest, der ihm des Rätsels Lösung verraten würde. Mir fiel plötzlich etwas ein, was ich noch nicht bedacht hatte. »Weißt du, was mir auch komisch vorkommt? Der Mörder hat in drei Tagen drei Menschen umgebracht.« »Wenn du Elke Brenner mitzählst vier«, warf Marco ein. »Aber wir wissen noch nicht, ob sie vom gleichen Täter umgebracht wurde. Aber selbst wenn - ist das nicht ungewöhnlich, dass jemand in so kurzer Zeit so häufig zuschlägt?« »Ich habe gestern Abend noch in diesem Serienmörderbuch geblättert. Es ist nicht die Regel, aber es ist auch nicht ungewöhnlich. Anfang der Neunziger gab es in Florida den Gainesville Ripper, der hat innerhalb von drei Tagen vier Frauen und einen Mann verstümmelt und ermordet. In einem Fall hat er die Leiche' geköpft und den Kopf auf ein Wandsims gestellt.« »Ich hoffe, man hat ihn gefasst.« »Er wartet auf seine Hinrichtung und hat in der Zwischenzeit seine Autobiografie verfasst.« »Krank.« »Und denk nur an Andrew Cunanan.« Marco musste mir nicht erklären, wer Andrew Cunanan war. Ich konnte mich nur zu gut an den Tag erinnern, an dem Gianni Versace getötet wurde, denn es war ein schwarzer Tag für mich gewesen. Ich hatte ein paar Tränen um meinen damaligen Lieblingsdesigner vergossen. »Aber damals sagte man, Cunanan sei kein Serienmörder, sondern ein >rampage killer<.« »Den Ausdruck höre ich heute zum erstenmal.« »Kannte ich vorher auch nicht. Aber ich habe alles über den Fall gelesen. Du musst dir das so vorstellen: Ein Serienmörder lebt seine Rituale aus. Ganz sorgfältig und geplant und nach immer dem gleichen Muster. Cunanan hat wohl einige der Morde geplant - aber es war nicht im Stil von Hannibal Lecter oder Jack the Ripper. Er hatte kein Ritual. Er ist irgendwann durchgeknallt, hat seinen ersten Mord begangen, wurde verdächtigt und die weiteren Morde geschahen auf der Flucht. Cunanan war im Grunde ein Amokläufer. Einen Mann hat er nur deshalb umgebracht, weil er seinen Wagen für die Flucht brauchte.«
»Aber unser Mörder hat ein Ritual. Wir kannten bislang nur wie soll ich sagen - das >Totem< - den abgeschnittenen Schwanz. Jetzt geht er einen Schritt weiter und zeigt nicht nur das Totem, sondern auch das Ritual.« »Das halte ich für wahrscheinlicher, als dass es einen zweiten Täter gibt. Von der Gummipuppe wussten nur der Mörder, die Polizei und ich. Diesmal hat er an Stelle des Resultats seine Vorarbeit präsentiert.« In dem Moment, wo ich es aussprach, wurde mir mulmig, denn wenn ich auch Hofmeiers Leiche nicht entdeckt hatte, so sprach nichts dagegen, dass der Mörder bei seinem Ritual blieb, was mich anbetraf, und die Auffindung des Totens mir noch bevorstand. Harry Klein schaute zu uns herüber, und ich hatte den Eindruck, dass in seinem Gesicht Misstrauen stand. Er hatte gesehen, wie Hofmeier mich umarmt hatte, und meine Erklärung der Szene war für ihn nur eine von mehreren zulässigen Deutungen. Alle Möglichkeiten in Bettacht zu ziehen war sein Job, redete ich mir ein, aber trotzdem fühlte ich mich bei dem Gedanken nicht gerade wohl, dass Harry, der mir eigentlich vertrauen sollte, mich vom Kreis der Verdächtigen nicht ausschloss. Ich müsste schon l eine ziemlich durchgeknallte Kuh sein, jemanden zu kastrieren, die Hand abzuhacken und in die Scheide einer Gummipuppe zu schieben und als Frau zu verkleiden. Aber woher sollte Harry Klein, der mich erst ein paar Tage kannte, wissen, ob ich nicht vielleicht das Potenzial zu solch einer grausamen Tat in mir trug. Ich fragte mich, ob »Ich habe zur Tatzeit in meinem Bett gelegen und tief und fest geschlafen« als Alibi ausreichen würde, und hoffte inständig, dass Marco dies bestätigen konnte. Aber wie sollte er, wenn auch er geschlafen hatte? Harry stand auf und kam zu uns herüber. »Ich würde gerne kurz mit dir sprechen«, sagte er zu Marco, und die beiden verließen den Raum. Ich schaute mich in der Runde um, sah, dass Eddie alleine vor einem Teller mit belegten Brötchen saß und setzte mich zu ihm. Er war nicht der sympathischste Kollege der Welt, aber er hatte seinen Job gut gemacht, und das wollte ich ihm sagen. Außerdem konnte ich nicht die ganze Zeit nur mit Marco, Harry und Ronny reden - ich war schließlich nicht nur eine Mitarbeiterin mit Sympathien und Antipathien, sondern die Produzentin und somit auch die Gastgeberin der Party. »Ich war sehr froh, dass Ronny dich nicht aus der Fassung gebracht hat. Die Szene ist ein Hammer geworden, und ich weiß es zu schätzen, dass du dich überwunden hast.« Eddie schaute mich lange an und ich glaube, er kämpfte mit den Tränen, bevor er antwortete. »Ich weiß nicht wie ich's sagen soll, aber - es hat mir Spaß gemacht.« Er schluckte und biss in ein Brötchen, das den schrecklichen Geruch von HausmacherMettwurst verströmte. »Verftehf tu?«, kaute er mir vor. Ich hatte keine Ahnung, was er meinte. »Ehrlich gesagt nicht, Eddie.« »Fpaf!«, raunte er mir zu, kaute und schluckte. »Ich hatte einen Ständer!« »Aber das ist doch wunderbar.«
»Verstehst du nicht? Ich fand es geil zu sehen, wie Ronny dich gefickt hat. Es hat mich angeturnt... Ich bin gekommen, um Gottes willen - gekommen!! Jahrelang habe ich mich darum gedrückt und kaum passiert's, da ...«, er brachte es nicht über die Lippen. »Denk bloß nicht, ich bin auf einmal schwul geworden!« Sein flehentlicher Blick konzentrierte sich auf das Brötchen in seiner Hand, als hielte dies die Antwort auf seine Frage bereit. Ich überlegte kurz, wie ich es am unverfänglichsten formulieren sollte. »Quatsch Eddie - du doch nicht«, log ich ihn unfairerweise an. Ich hatte gerade genug um die Ohren und fühlte mich nicht in der Lage, einen Mittdreißiger bei seinem qualvollen Coming-out zu unterstützen. »Sagen wir, es macht dich flexibler. Es ist doch wirklich nichts dabei. Ronny ist doch auch nicht schwul, nur weil er mit Männern dreht. Nicht mal bi. Und selbst wenn er es wäre - in was für einer Zeit leben wir denn?« Es hatte etwas ziemlich Herzerweichendes, dabei zu sein, wie Eddies harte MachoSchale aufsprang und den Blick auf einen Mann freigab, der panische Angst davor hatte, einen anderen Mann zu begehren. Sein männerfeindliches Verhalten, das ich früher als Egozentrik interpretiert hatte, entpuppte sich als das Resultat einer Kondition, von der ich angenommen hatte, sie sei längst ausgestorben - latente Homosexualität. Tim hatte mir einmal berichtet, dass er aufgrund »latenter« Homosexualität vom Wehrdienst ausgemustert wurde, und wir hatten Tränen darüber gelacht, denn ich kannte keinen Schwulen, der weniger »latent« war als mein Maskenbildner. Aber jetzt saß vor mir ein Bilderbuchfall. Ein Macho, der sich gezwungen hatte, Schwule zu hassen, weil er selber einer war und es sich nicht eingestehen konnte oder wollte. »Schau mal - für dich ist es wirklich eine Chance. Du kriegst doch mehr Jobs, wenn du Gruppenszenen mit Männern nicht mehr kategorisch ablehnst. Sei doch froh.« »Froh? Du bist gut. Mein ganzes Leben hab ich gedacht, es sei etwas Schmutziges, Ekliges. Wenn der liebe Gott gewollt hätte...« »Sei still«, unterbrach ich ihn, und er schob sich den Rest des Brötchens in den Mund. »Wenn der liebe Gott nicht gewollt hätte, dass zwei Männer Sex miteinander haben, dann hätten sie den auch nicht. Sieh es mal so.« Er wirkte nicht gerade überzeugt, aber ich glaube, dass ich ihm ein paar brauchbare Gedankenansätze mit auf den Weg gegeben hatte. Es war an seiner Miene abzulesen, wie Eddie haderte und wie es in ihm kämpfte. »Lilly - du bist ein guter Mensch. Egal was die anderen sagen.« Es gibt Leute, die einen selbst dann beleidigen, wenn sie einem gerade ein aufrichtiges Kompliment machen wollen. Er zählte zu diesem Schlag.
»Danke Eddie«, sagte ich, klopfte ihm auf die Schulter und erhob mich von meinem Stuhl. Ich wollte einfach nur nach Hause und ein paar Bahnen durch den Pool ziehen, bevor ich mit Marco wieder Miss Marple und Mr. Stringer spielte. Eddie nahm sich ein weiteres Brötchen vom Teller, biss lustvoll hinein - und stutzte. Blut rann auf seinen Teller. Mit einer verwirrten Handbewegung wischte er sich das Kinn ab, sah das Blut, klappte das Brötchen auf und warf es mit angewiderter Wucht von sich, sodass es durch die Luft flog, sich in zwei Hälften teilte und Peter Hofmeiers langer, wohl proportionierter, aber leider abgeschnittener Schwanz herausfiel und in einer unberührten Kristallschale mit grüner Götterspeise landete, auf dem Wackelpudding noch dreimal auf und ab federte und schließlich zur Ruhe kam. Dies konnte man von den Tischgästen nicht behaupten, deren erschreckte Schreie den Raum füllten und mir noch lange in den Ohren klangen. »Hany wollte wissen, wo du zwischen gestern Abend und Drehbeginn gewesen bist.« »Und - was hast du ihm gesagt?« »Dass wir zusammen waren und dass ich das bezeugen kann.« »Aber er ist ja nicht blöd und weiß, dass du nicht vierundzwanzig Stunden am Tag auf mich aufpassen kannst. Irgendwann muss der Mensch doch mal schlafen.« Wir saßen in meinem Wohnzimmer und aßen eine in der Mikrowelle aufgewärmte Dosensuppe. Im Hintergrund - das schien sich mittlerweile als meine neueste schlechte Angewohnheit zu etablieren, flimmerte der Fernseher. »Ich hoffe, du bist nicht sauer, aber ich habe ihm gesagt, wir hätten die Nacht zusammen verbracht.« Das zweite Mal innerhalb von drei Tagen fiel mir ein Löffel in den Suppenteller und ruinierte mir ein Oberteil. Sein Eifer mich zu beschützen in allen Ehren, aber wenn es so weit ging, dass er einen Meineid leisten würde und meine sowieso leicht befleckte Ehre und den Rest an moralischer Glaubwürdigkeit, der mir vor dem Hintergrund noch geblieben war, aufs Spiel setzen würde, dann hätte er mich wenigstens vorher fragen können. Was würde die Kripo davon halten, dass Lilly DeLight ihren verschwundenen Mann so sehr vermisste, dass sie sich gleich mit ihrem SecurityMann und - so sah es zumindest für sie aus - mit dem ermordeten Tierarzt darüber wegtröstete? Und was würde Max davon halten, wenn er je Wind von der Geschichte bekäme. Denn dass es sich herumsprechen würde, war anzunehmen. Die Kripo setzte sich schließlich auch nur aus allzu menschlichen und fehlbaren Mitarbeitern zusammen, die, wenn es um eine Frau ging, die sie aus vielen Filmen kannten und die sie nicht ungern privat kennen gelernt hätten, eine solche Skandalgeschichte nicht als Gesprächsstoff auslassen würden. Ich konnte mir gut vorstellen, dass sie sich über den »Fall Lilly« genauso austauschten wie über jeden anderen, an dem sie gerade arbeiteten. In unprominenteren Fällen bot sich jedoch selten die Möglichkeit durch Insider-Informationen ein paar Mark dazuzuverdienen oder zumindest seine Eitelkeit zu befriedigen ...
Wie sich herausstellte, brauchten wir nicht darauf warten, bis es sich auf dem Dienstweg herumgesprochen hatte. Im Fernseher lief die Wochenendausgabe einer beliebten Magazinsendung, als Marco mir von seiner nett gemeinten Notlüge beichtete, und gerade als ich ihm das Worst case -Szenario schildern wollte, das diese Lüge nach sich ziehen könnte, wurde mir diese unangenehme Aufgabe von einer Sät 7-Reporterin abgenommen. »... nachdem es in den letzten Tagen nicht gut stand um den Ruf der Porno-Queen, scheint sie nun von allen guten Geistern verlassen.« Als ich diesen Satz hörte, war mein einziges Beruhigungsmittel eine spontane Vision meiner Anwälte - beim ekstatischen Notieren der verleumderischen Wortwahl, die beizeiten eine satte Schmerzensgeldklage nach sich ziehen sollte. Wozu hatte ich denn auch sonst Rechtsschutz? Die Nachwuchs-Brenner fuhr ungetrübt fort: »Lilly DeLight, die in eine bestialischen. Mordserie verwickelt ist, vermittelt nicht den Eindruck, als sei sie sich des Ernstes der Lage bewusst. Die angeblich schwangere Produzentin, der es innerhalb weniger Jahre gelang, sich bis zur Spitze des deutschen Porno-Marktes hochzuarbeiten, hält es ganz offensichtlich nicht für nötig, ihre Seriosität unter Beweis zu; stellen.« »Verdammt, ich wusste, dass sich dieses blöde Schwangerschaftsgerücht halten würde, und außerdem bin ich europäische Marktführerin, europäische! Nicht nur deutsche.« »Wenn das deine größten Sorgen sind ...« Marco hatte natürlich Recht. Aber irgendwie versetzte mich die schlampige Arbeit irgendwelcher Redaktionsschnepfen jedes Mal in eine Rage, die mir den nötigen Antrieb gab, dem Sturm, der um mich tobte standzuhalten. Man sagt, »Not macht erfinderisch«, für mich gilt »Wut versetzt Berge«. Die Reporterin machte ein betroffenes Gesicht, von dem ich hoffte, dass es bald vom Bildschirm verschwinden würde. Mitsamt dem Restkörper. »Bislang hat Lilly DeLight der Presse jeden Kommentar verweigert und lediglich über eine Angestellte verlauten lassen, dass sie der Tod des Darstellers Johann W. tief betroffen mache. Von ihrer Betroffenheit war im Laufe der letzten vierundzwanzig Stunden nicht viel zu spüren, was wohl an der Präsenz des prämierten Bodybuilders Marco Oldenburg liegt, mit dem sie die vergangene Nacht in ihrer Villa in Goslar verbrachte.« Ein wackliges Bild zeigte ein völlig unverfängliches Szenario: Ich am Pool in meinem Garten, den Fuß im Wasser, Marco unterwegs zu mir. Ein weiteres, auf dem er wie ein wilder, aber äußerst attraktiver Schläger aussah Marco allein vor dem Haus, bei dem wütenden Versuch, den Paparazzo zu stellen. »Wie enge Vertraute der Porno-Queen andeuten, übernimmt der junge Liebhaber, der es in diesem Jahr zum Titel des Mister Niedersachsen brachte, die Rolle des verstorbenen Johann Werner. Wir sprachen mit dem Vorsitzenden der Mister Germany Corporation.« »Soll der jetzt den Fall aufklären oder wie?« Diese Art der Berichterstattung war einfach nicht zu fassen. In einem langweiligen Interview erfuhr die Fernsehnation, dass Marco sich aus dem Rennen gebracht hatte, was seine Mister-Karriere anging, sofern er wirklich beabsichtige, in einem Porno mitzuspielen.
»Wir können den Ruf unserer Veranstaltung nicht dadurch aufs Spiel setzen, dass wir Männer mit fragwürdiger Moral und aus zwielichtigen Milieus kandidieren lassen. Der Mister Germany ist ein Titel, der nicht nur für Äußerlichkeiten, sondern vor allem auch für innere Werte verliehen wird.« »Vor allem! Natürlich.«, kommentierte ich und war kurz davor, in Gelächter auszubrechen, wenn ich nicht die Fassungslosigkeit in Marcos Blick gesehen hätte. Ich beschloss, ihn nicht auch noch für seinen wohl gemeinten Meineid zu kritisieren. »Die Abwesenheit von Lilly DeLights Ehemann, dem Immobilienmakler Max Winter, scheint die Affäre zwischen Lilly und Marco Oldenburg zu belegen. Die Gerüchte um eine Schwangerschaft und Spekulationen um die Vaterschaft des Rindes laufen auf Hochtouren.« Auftritt Pamela. Sie hatte ihr erstes Sammel-Interview gegeben. Um Zeit und Geld zu sparen, nutzen Fernsehjournalisten ein Interview gern dazu aus, jemanden nach allen möglichen aktuellen oder nicht aktuellen Themen zu befragen, die sie nachher als Füllmaterial für eine der vielen Boulevardsendungen zusammenschnipseln. Das legendäre erste Porno-Witwen-Interview sollte auf diesen Bericht folgen und als Anreißer hatte man die betroffen in die Kamera blickende Pamela nach meinem Schwangerschaftsstatus befragt. Wir bekamen erstmals Gelegenheit, ihr neues Styling und ihre Rolle als trauernde Witwe zu bewundern. »Sie wirkt gelöst, irgendwie. Es würde mich nicht wundern, wenn sie ein Kind unter dem Herzen trägt. Aber dass sie es für nötig hält, in ihren Umständen zu drehen, finde ich nicht korrekt.« Auch das noch - Mordserie, Mann weg, Mister Niedersachsen als Väter eines ungeborenen Kindes und die Rückkehr der schwangeren Porno-Queen zwecks Sex mit dem Ex vor Pornokamera. »Das ist zu viel. Mach aus. Ich kann nicht mehr.« »Was bilden die sich eigentlich ein?«, fragte Marco den leeren Bildschirm, die Fernbedienung immer noch in der Hand. Er mochte zwar job-bedingte Paparazzi Erfahrungen haben, aber dies war das erste Mal, dass er unter der Aufmerksamkeit der Presse zu leiden hatte. »Wir leben nun mal im Informationszeitalter, da ist jedes Mittel Recht, solange die Massen ihr Entertainment bekommen.« Ich neidete ihm diese Ur-Erfahrung keineswegs. Mein Lebensprinzip heißt »Kontrolle«, Verantwortung selbst tragen, die Sachen in die eigenen Hände nehmen. Ich hatte jahrelang an meinem Erfolg gearbeitet und konnte nun zuschauen, wie Menschen, die ich nicht einmal kannte, sich bemühten, aus meiner Erfolgs-Story ein Klatsch-Dramolett mit ThrillerElementen zu machen. Es hatte Zeiten gegeben, wo es egal war, was die Presse über mich berichtete. Es änderte nichts an meinem Status, denn der war in den Augen der Öffentlichkeit ohnehin nicht gerade ehrbar. Dann war es irgendwann wieder egal gewesen, weil die Leute mich mochten und daran nichts zu ändern war ich war ein Erfolg und egal was man über mich schrieb, meine Fans liebten mich. Was jetzt passierte, kannte ich nur von anderen Karrieren, aus der Klatschpresse,
aus den Boulevardmagazinen. Ich hatte keine Ahnung, wie sicher mein Platz auf dem Thron noch war, denn ich hatte keine Kontrolle darüber - und das machte mich wütend und es machte mir Angst. Ich legte Marco die Hand auf die Schulter. »Du darfst dich davon nicht irritieren lassen - wenn das alles vorbei ist, lachst du darüber. Und vergiss eines nicht« - es war eine Notlüge, die mir die Schamesröte ins Gesicht trieb - »jede Presse ist gute Presse.« Das Handy unterbrach unseren kleinen Trostaustausch. »Mädchen, was machst du bloß für Sachen - da hast du dir ja ein Prachtexemplar geangelt.« Gerd Bartels lachte wild. »Mir ist grad gar nicht nach schlechten Witzen, Gerd.« Sein Feingefühl ließ einiges zu wünschen übrig. »Scherz beiseite. Tut mir Leid. Es ist doch alles Quatsch, oder?« »Es beruhigt mich, dass du das so siehst - und ich hoffe, dass du nicht der Einzige bist. Vielleicht geht es einigen da draußen genauso.« »Lilly-Schatz, ich würde mich gern lang und breit für meine Berufsgruppe entschuldigen, aber ich hab keine Zeit. Es ereignen sich gerade spannende Dinge. Wir müssen uns bald sehen. Ich habe da ein paar Neuigkeiten, die dich interessieren dürften. Es ist alles noch nicht ganz niet- und nagelfest, aber ich habe da ein paar Vermutungen. Es zeichnet sich etwas ab ...« »Raus damit, Gerd. Es geht nicht um das Promigerücht der Woche, wir haben es hier mit einer Mordserie zu tun.« »Nein - tut mir Leid. Ich habe noch zwei Gespräche vor mir, von denen ich mir Klärung verspreche. Ich hoffe, es stört dich nicht, dass ich mich ein bisschen in deinem Umfeld umgehört habe.« »Mir ist lieber, du machst das, als dieser Ochse von einem 261Bullen.« Bartels war ein harter Brocken - wenn er dicht hielt, hielt er dicht. »Hast du Elke Brenners Schwester auftreiben können?« »Ich telefoniere mit ihr heute Abend. Sie ist in einer Ayurveda-Klinik auf Gomera.« »Das ist also das eine Gespräch. Wer ist das zweite?« »Ich kann es dir noch nicht sagen - wenn ich falsch liege, dann muss ich nochmal ganz von vorne anfangen, und ich will dich nicht auf eine falsche Fährte bringen.« »Ach - du bist bloß ein alter Wichtigtuer.« »Aber mit einem ausgeprägten Sinn für Spannungsmomente, nicht wahr?« Wieder erklang sein wildes Lachen. Er schien sich seiner Sache sehr sicher.
»Gerd?«, fragte ich. »Ja?« »Sei vorsichtig.« Die unter diesen Umständen angemessenere Warnung wäre vielleicht gewesen: »Pass auf deinen Schwanz auf.« »Nägel mit Köpfen«, hatte ich zu Marco gesagt und wir waren ins Arbeitszimmer gegangen, um unsere Recherchen weiter voranzutreiben. »Check du bitte, ob FAKT auf seiner Webpage etwas über Elke Brenner gemeldet hat. Ich brauche einen Redakteur, der sich mit dem Fall auskennt.« Ich stand vor unserer Zettelwand und schaute mir die Listen an, als das Telefon klingelte. Das Display zeigte die Nummer des Polizeireviers und es war Harry mit Neuigkeiten, die mich überraschten. »Ist Marco zu sprechen?« »Der surft gerade im Internet, was gibt's denn?« »Schlechte Nachrichten. Die Kollegin, die ihn damals angezeigt hat, hat sein Gesicht im Fernsehen gesehen und es geht das Gerücht, sie geht mit ihrer Geschichte an die Presse.« Ich schaute zu Marco hinüber, der gedankenverloren vor dem Bildschirm saß. Ich trat aus dem Zimmer heraus auf den Flur. »Moment mal - habe ich etwas verpasst? Wer hat Marco angezeigt?« »Oh - hat er dir davon nichts erzählt?.« »Harry - wer hat Marco angezeigt und warum?« »Das darf ich wirklich nicht.« »Also bitte!« Mir riss die Geduld und ich raunzte Harry an. »Ich hab es langsam satt, dass man mich behandelt wie eine Verbrecherin. Ich habe gerade genug Sorgen und will jetzt verdammt nochmal wissen, was los ist. Das ist doch nicht zu viel verlangt.« »Na gut. Marco wurde damals wegen sexueller Belästigung gekündigt. Aber die Sache war ein abgekartetes Spiel. Alles erstunken und erlogen. Man wollte Marco raushaben und ein paar Kollegen haben sich zusammengetan und ihn abserviert.« »Ach so, ja. Die Geschichte. Hatte ich völlig vergessen«, log ich Harry an. »Hab momentan einfach zu viel im Kopf. Sag es ihm selber - ich vergess es sonst garantiert - hier rein, da raus, du weißt schon.« Ich wusste in dem Moment nicht, warum ich log. Es war reiner Instinkt. Jemandem einzugestehen, dass ich Marco nicht mehr hundertprozentig vertrauen konnte, hätte mich verwundbarer gemacht als ich ohnehin schon war. »Gibt's sonst noch was Neues?«
»Ja. Eine gute und eine schlechte Nachricht. Der Polizei in Hannover ist ein kleiner Lapsus unterlaufen. Man hat vergessen, die Überwachungsvideos von drei verschiedenen Kameras anzufordern. Die gute Nachricht ist, dass die Bänder noch nicht gelöscht worden sind und sich bald jemand der Sache annehmen wird.« »Was heißt das - bald?« Da gab es eine Chance herauszufinden, ob Max freiwillig oder unfreiwillig an Bord eines Fliegers gegangen war, aber der Polizei passte es nicht in den Zeitplan! »Es ist Samstagabend, vor Montag früh werden wir die Videos nicht hier haben.« »Dann setze ich mich in den Wagen und fahre sofort nach Hannover.« »Das wird nichts bringen, denn die Abspielgeräte des Dezernats sind an die Expo verliehen. Da kannst du jetzt nicht auftauchen, das wäre viel zu gefährlich.« »Kann sich Frau Breuel nicht von unseren Steuergeldern einen eigenen Videorekorder kaufen, verdammt noch mal? Ich bin Filmproduzentin, Harry. Wir haben in den Studios jede erdenkliche Art von Wiedergabegeräten, es muss doch wohl zu schaffen sein, die Bänder von Hannover nach Goslar zu transportieren!« »Ich sehe, was ich machen kann, Lilly. Wenn es etwas gibt - wir bleiben in Verbindung.« Marco stand hinter mir, als ich mich umdrehte, um wieder ins Arbeitszimmer zu gehen und ich erschreckte mich so sehr, dass ich nach Luft schnappen musste. »Dienstweg ist Dienstweg«, sagte er. »Die werden den Teufel tun, die Bänder in deine Hände zu geben.« Ich war am Ende meiner Kräfte und hätte ihn am liebsten geschüttelt. Warum hatte er mir nicht die Wahrheit erzählt. Er war mir sympathisch und ich wollte ihm vertrauen. Aber der Fels in der Brandung bröselte unter dem Wellenansturm. »Wollte Harry etwas von mir?« »Da war was, ja - ich hab ihm gesagt er soll sich direkt bei dir melden.« Ich konnte ihm nicht in die Augen schauen. »Hast du beim FAKT etwas herausgefunden?« »Ja, es gibt da eine Meldung über die Brenner. Nichts Großes, aber es wird erwähnt, dass sie Redaktionsmitglied war. Der Artikel ist von einer Nicolette Rubin verfasst.« »Noch nie gehört, den Namen. Wollen doch mal sehen, ob Frau Rubin auch samstags im Büro sitzt...« Ich machte es mir im Schreibtischsessel bequem und wählte die Nummer der Redaktion. »Rubin«, klang es resigniert mit Betonung auf der ersten Silbe aus der Muschel. An der Art und Weise, wie sie sich am Telefon meldete, konnte man ihre gesamte Karriere ablesen: höhere Tochter, erstklassiges Abitur, die Beste in der Journalistenschule, dann der Job bei Deutschlands meistverbreitetem
Nachrichtenmagazin als Höhepunkt der Laufbahn. Seitdem Stagnation, fünf Jahre im gleichen Schuhkarton-Büro mit nikotinvergilbten Wänden, und dann und wann ein Zwölfzeiler für die Online-Redaktion als Höhepunkt der Karriere, die so viel versprechend begonnen hatte. »Guten Abend, Frau Rubin, mein Name ist Lilly DeLight und ich habe ein paar Fragen an Sie.« »Oh - äh. Frau DeLight... Was kann ich für Sie tun?« »Das kann ich Ihnen verraten. Sie können mir mit einer Information aushelfen, und ich kann dafür sorgen, dass Ihr Name in Journalisten-Kreisen bald so bekannt ist wie Pulitzer.«
Kapitel 17 »Sie haben die Richtige gefunden.« Ihre Stimme machte ein Poker-Face, aber ich spürte die Erregung, die sich hinter dem professionellen Klang verbarg. »Ich schau mich mal um - das kann so schwierig nicht sein, Frau DeLight.« »Lilly, sagen Sie einfach Lilly. Also, Nicolette - so einfach wird es dann auch wieder nicht. Ein Kollege von Ihnen - ein anderes Magazin, aber ein namhafter Mann -, hat versucht, etwas über die Geschichte herauszufinden, aber er kam nicht sehr weit. Offenbar hält man dicht.« »Vielleicht war das Angebot nicht so verlockend wie deines.« »Das mag sein. Aber was ich sagen will - die Geschichte muss brisant gewesen sein, und es kann sein, dass sie dem Image des FAKT nicht besonders gut bekommt.« »Ach weißt du - letztlich treibt ein Skandal die Auflage hoch. Und wenn die Geschichte ein paar Jahre zurückliegt, dann wird einfach die Verantwortung auf die damaligen Redakteure geschoben.« »Mach was du willst, aber find heraus, wer dieser Arzt war und worum es in Elke Brenners Artikel ging. Wenn ich mit meinen Vermutungen richtig liege, hat der Skandal - oder die Story, die dahinter steckt, sowohl die Brenner als auch den Arzt das Leben gekostet. Und die Morde in Goslar stehen mit der Geschichte in Verbindung - wir suchen nach dem fehlenden Glied in der Kette.« Ich biss mir für meine Wortwahl auf die Zunge, aber Nicolette Rubin war eine Frau, die einen nicht mit verbalen Ausrutschern aufzog, wenn es wichtigere Dinge zu tun gab. »Wenn du sagst, ich bekomme die Porno-Mord-Story exklusiv, dann aber auch vor dem Kollegen, der mitrecherchiert, oder?« »Ich glaube, der wird schon sehr stolz sein, als Zeuge und Informant genannt zu werden. Und ich kann ihm natürlich nicht verbieten, selbst etwas zu schreiben. Aber du bekommst die Exklusiv-Interviews und ich bring dich in Kontakt mit den anderen Beteiligten. Vielleicht tust du dich auch mit ihm zusammen, was weiß ich. Aber tu, was du kannst.«
»Wunderbar. Wann soll ich loslegen?« »Sofort. Absolut sofort. In meiner Heimatstadt läuft ein Killer frei herum und das muss aufhören. Schnellstens.« »Was ist mit der Polizei? Warum tut die nichts?« »Das frage ich mich auch. Ich kann es nicht einschätzen - die halten mich für involviert und geben mir keine Informationen. Ich zweifle daran, dass sich die Dezernate aus Berlin und Goslar überhaupt schon verständigt haben.« »Alles klar, ich habe schon eine Idee, wie ich vorgehen kann.« »Prima. Ich gebe dir meine Handy-Nummer und die meiner Assistentin - eine von uns ist immer erreichbar. Wenn ich drehe, stelle ich das Handy ab, aber dann sag Rita Bescheid, dass du mich dringend sprechen musst, und sie leitet es weiter.« »Lilly - ich danke dir. Ich verspreche, ich tue mein Bestes.« »Keine Ursache. Alles Gute und - leg los!« »Ich habe hier etwas gefunden.« Marco stand vor dem Zettel, auf den er »Johann Werner« geschrieben und den er an die Wand gepinnt hatte, und blätterte in dem Buch über Serienmörder. Unwillkürlich musste ich daran denken, dass es ziemlich unmöglich wäre, jemandem wie ihm zu entkommen, wenn er hinter einem her war. Er war ein Schrank von einem Mann und es musste schrecklich sein, wenn jemand wie er einen sexuell nötigte. Warum sollte ausgerechnet so ein Mann eine unwillige Kollegin bedrängen, wenn sich ihm wahrscheinlich jede andere Frau bereitwillig hingegeben hätte? Was veranlasste einen Mister Niedersachsen, sich ausgerechnet die eine Frau herauszusuchen, die ihn nicht wollte? War das ein perverser Jagdtrieb, war Marco Oldenburg total verkorkst? Klein hatte ihn mir empfohlen - was hatte er sich dabei gedacht, mir einen Mann mit diesem Vorleben ins Haus zu schicken? Selbst wenn er Recht hatte und die Belästigungsanklage ein abgekartetes Spiel gewesen war, mein Vertrauen in Marco war schwer erschüttert. »Ich habe hier einen Fall gefunden, in dem der Täter seinen Opfern die Schwänze abgeschnitten hat. 1972 in New York. Ein gewisser Miguel Rivera. Er hat vier Jungen sexuell missbraucht, mit einem Messer verstümmelt und sie kastriert. Ein Junge konnte fliehen und ihn beschreiben und so hat man ihn dann erwischt er hatte ein Vorstrafenregister wegen sexueller Belästigung.« Er räusperte sich. »Hat man die Schwänze neben den Opfern gefunden oder hat er sie als Trophäe mitgenommen?« »Das geht aus dem Artikel nicht hervor. Hier steht: >Nach seiner Motivation gefragt, sagte Rivera aus, er habe kleine Jungs in kleine Mädchen verwandeln wollen.<« »Jungen in Mädchen verwandeln ... Wie bei Hofmeier. Dieses absurde Make-up. Ich kann immer noch nicht glauben, dass er tot ist. Er war einer von der Sorte, die achtzigjährig bei einem schweren Sturm von ihrer Yacht stürzen. So ein lebendiger Typ.« Ich nahm mir einen Zettel, betitelte ihn »Peter Hofmeier« und notierte
»Jungen in Mädchen verwandeln«. »Vorausgesetzt, bei Johann und Ingo ist der Täter genauso vorgegangen - warum würde jemand einen Mann in eine Frau umwandeln wollen? Was für eine Motivation steckt dahinter?« »Bei Rivera war es vermutlich latente Homosexualität.« Ich musste an Eddie denken und erneut den Begriff der Latenz schwer in Frage stellen. Wie latent konnte ein Homosexueller noch sein, wenn er bereits ein schwules Leben lebte? »Du meinst, er konnte es vor sich selbst nicht rechtfertigen, dass er auf Männer stand und hat sie deshalb in Frauen verwandelt?« »Und zwar post mortem - wie um seine Tat nachträglich zu korrigieren. Die eigene Sexualität ist so schrecklich, dass die Partner sie nicht überleben dürfen. So schrecklich, dass die Partner zerstört werden müssen.« »Gehen wir davon aus, dass er mit den anderen Opfern so verfahren ist wie bei Hofmeier?« »Ich fürchte, das müssen wir. Sofern unsere Theorie stimmt, dass er bei Hofmeier einen weiteren Teil seines Rituals öffentlich machen wollte, anstatt nur das Glied auftauchen zu lassen.« »Hast du in dem Buch einen Fall gefunden, wo die Leichen nicht gefunden wurden, sondern nur Leichenteile?« »Es gibt mehrere Fälle, wo man Leichenteile in den Wohnungen der Opfer fand. Ein Killer hat acht Monate lang mit der Leiche seines Opfers in einem Bett geschlafen. Sie sind ihm schließlich wegen des Gestanks auf die Schliche gekommen. Oder denk an Fritz Haarmann.« Mir fiel der Kinderreim ein, den eine meiner Tanten immer gesungen hatte: Warte, warte noch ein Weilchen, dann kommt Haarmann auch zu dir, mit dem kleinen Hackebeilchen und macht Hackefleisch aus dir. »Der hat sie verspeist.« »Und Leichenteile in die Kanalisation und in die Leine geworfen. Um sie loszuwerden, und nicht in der Hoffnung, dass sie jemand entdeckt.« »Was hat meine Gummipuppe in dem Szenario zu suchen?« Er zögerte mit seiner Antwort, ging zum Fenster und schaute hinaus. Das Licht vom Pool warf einen hellblauen Schein auf sein Gesicht. Es auszusprechen war eine andere Dimension als es zu ahnen, es zu befürchten. Wenn es erst einmal gesagt war, dann würde aus der grässlichen Befürchtung ein Fakt. Dann würde klar, dass unser Detektivspiel mehr als eine Nebenbeschäftigung war. Marco drehte sich zu mir und lehnte sich an das Fensterbrett. »Es geht dem Täter auch um dich. Du bist in seinen Augen ein Sinnbild für Sex.« »Diesen Satz höre ich nicht zum ersten Mal. Aber in diesem Zusammenhang kann ich mich nicht darüber freuen.« Das erste Mal seit Jahren stellte ich mir die Frage, was
passiert wäre, wenn ich eine andere Laufbahn eingeschlagen hätte und einen Karriereweg gegangen wäre, in dem die Vermarktung meiner Persönlichkeit in Gestalt einer Gummipuppe nicht inbegriffen gewesen wäre. Die Antwort war noch die gleiche wie früher: unvorstellbar, was für ein Talent vergeudet worden wäre ... »Weiblichkeit ist also etwas, was er sehr hoch bewertet?« »Oder Männlichkeit ist etwas, womit er ein ganz großes Problem hat.« »Gott, das ist alles so verkorkst. Wir haben noch nicht über Hofmeiers Hand gesprochen. Als ich hörte, dass sie abgehackt war, ist mir sofort dieses schreckliche Märchen eingefallen.« »Es muss eine Verbindung geben. Die Hand ist...« »... ein Fingerzeig.« Unter anderen Umständen hätte ich darüber gelacht. »Es ist so grotesk.« »Der Mörder wusste, dass du das Märchen kennst, wenn Hofmeiers Leiche gefunden wird. Es ist für dich inszeniert gewesen. Ich glaube, dass er eine große Bewunderung für dich empfindet. Er ist wie eine Katze, die dir ihre Beute vor die Füße legt. Entweder zeigt er dir seine große Verehrung ...« »... oder seinen Hass. Er bringt meine Mitarbeiter um, bis irgendwann niemand mehr da ist, mit dem ich arbeiten kann.« Mir wurde eiskalt. »Max ist weg. Das war vielleicht der erste Schachzug. Was, wenn alle Menschen in meiner Umgebung auf seiner Liste stehen, bis - bis er mich für sich alleine hat?« Ich musste mich hinsetzen. »Ich glaube nicht, dass er so strategisch denkt. Er ist zu egoistisch, um an viel anderes zu denken als an sein Ritual und seine normale Existenz. Es wird ein Fulltimejob sein, die Morde zu planen und auszuführen und trotzdem ein normal erscheinendes Leben zu führen. Außerdem wird es nicht so weit kommen, er will entdeckt werden - es genügt ihm nicht, was er von dir an Anerkennung bekommt. Ich glaube, das wollte er dir mit Hofmeiers Leiche zeigen. Pamela hat sie gefunden nicht du. Prompt ist die Aufmerksamkeit größer, weil Pamela kein Interview auslässt. Jemanden wie Hofmeier zu töten, passt sonst auch nicht in dieses Zehn-kleineNegerlein-Konzept. Dazu kanntest du ihn zu wenig. Ehrlich gesagt weiß ich nicht, warum er Hofmeier ausgewählt hat. Johann und Ingo waren immerhin Bekannte von dir.« Ich hatte eine Tasse lauwarmen Tee auf halbem Weg zum Mund, als mich die Erkenntnis traf. Es gab nur einen Menschen, der glaubte, dass zwischen Hofmeier und mir mehr gewesen war als ein nachbarschaftliches Verhältnis. »Harry hat mich mit Hofmeier gesehen.« »Was meinst du?« »Hofmeier hat sich an mich herangemacht und Harry hat uns dabei gesehen.« »Glaubt er, dass ihr was miteinander hattet?«
»Ich habe versucht ihm klar zu machen, dass ich genauso überrascht bin wie er und dass Hofmeier nie zuvor irgendwelche Avancen gemacht hat.« »Glaubt er dir?« »Ich habe das Gefühl, er hat das Vertrauen in mich verloren.« Ich machte eine Pause und überlegte. »Aber das Gleiche kann ich jetzt von ihm sagen. Er war der Einzige, für den es aussah, als wäre etwas zwischen Hofmeier und mir.« Plötzlich wurde mir bewusst, dass die beiden Männer, auf die ich mich am meisten verlassen hatte, mit einem Mal suspekt waren. Es war, als habe jemand den Teppich unter meinen Füßen weggezogen und als sei unter dem Teppich nie ein Fußboden gewesen, sondern nur Luft. Lilly DeLight befand sich im freien Fall. »Du kennst Harry länger als ich. Traust du ihm so etwas zu?« Marco stand die Seelenqual ins Gesicht geschrieben. »Das kann nicht - ich - nein, das kann nicht sein.« »Er war der Erste am Tatort, als ich den Schwanz von Johann Werner fand.« »Ich kenne ihn seit Jahren und wäre nie auf den Gedanken gekommen, dass da irgendwelche charakterliche Abgründe wären.« »Das Gleiche sagte man über Jeffrey Dahmer und John Wayne Gacy.« Mir fiel Harrys Anruf ein. Warum hatte er mich angerufen, wenn er mit Marco sprechen wollte? Hatte er beabsichtigt, Marco zu belasten, um mich zu verunsichern und einen Keil zwischen uns zu treiben? Ich hatte nicht mehr viele Optionen. Ich könnte mit Marco Spielchen treiben und so tun, als wüsste ich nichts von seinem unehrenhaften Rausschmiss, oder ich konnte mich bemühen, mir Gewissheit zu verschaffen. Ich beschloss, mit Marco auf Kollisionskurs zu gehen. »Marco - ist es wahr, dass du wegen sexueller Nötigung aus dem Dienst geflogen bist?« Für den Bruchteil einer Sekunde stand Panik in seinem Blick, und eine Härte, die mir Angst machte, dann hatte er sich wieder unter Kontrolle und sein Gesicht strahlte den üblichen gleichmütigen Ausdruck aus. »Woher willst du das wissen?« »Rate.« Er mied meinen Blick, als er sprach: »Es stimmt, dass sie mich loswerden wollten, aber der Vorwurf war aus der Luft gegriffen. Schultz wollte mich raushaben und da haben sie sich diese Geschichte zusammengebastelt. Harry war immer auf meiner Seite, die ganze Zeit. Er wusste, dass ich unschuldig bin. Er hat zu mir gehalten.«
»Er hat vorhin angerufen und mir davon erzählt. Er sagte zwar, dass er selber daran zweifelt, aber das hat er vielleicht nur gesagt, damit es nicht nach einer zu offensichtlichen Anschuldigung aussieht.« Mein Handy klingelte und ich schaute auf das Display in der Hoffnung, Nicolette Rubins Hamburger Büronummer aufleuchten zu sehen. Es war jedoch die Nummer des Reviers. »Hallo«, meldete ich mich. Es kam keine Antwort. Marco schaute mich fragend an. »Hallo, wer ist da?« Ein Keuchen wurde hörbar. Schweres Atmen. Harry Klein war am anderen Ende der Leitung und, wie es schien, holte er sich einen runter. Der Reporter betrachtete die beiden Fotos eingehend. Er hatte die vergangenen drei Abende vor dem Einschlafen diese Bilder in der Hand gehalten und sie angeschaut, als ob sie früher oder später zu ihm sprechen würden. Das hatte sich nun erledigt, denn er sah inzwischen auch ohne redende Bilder ziemlich klar. Es war nicht ganz korrekt gewesen, die Aufnahme zu machen, aber in seinem Beruf musste man manchmal die Gesetze des Schicklichen vergessen, wenn es darum ging, eine Geschichte zu verkaufen. Letztlich reagierte er nur auf den Massengeschmack und lieferte den Leuten genau das, was sie wollten. Hätte man versucht ihm zu erklären, dass das, was die Menschen wollten, eine direkte Forderung aufgrund dessen war, was man ihnen bislang geboten hatte und die Steigerung des Präsentierten eine Maßnahme war, die die konkurrierenden Anbieter nutzten, um ihre Auflagen zu erhöhen - er hätte gegrinst, mit den Augen gezwinkert und das Thema gewechselt. Außerdem hatte keiner der Anwesenden bemerkt, dass er die Gunst der Stunde für sich genutzt hatte. Im Moment des Abdrückens hatte er nicht geglaubt, dass er es je würde veröffentlichen können - es war zu intim, zu hart und zu gefährlich für die Schauspielerin. Es war jenseits der Art journalistischen Entertainments, das sein Magazin verkaufte. Mittlerweile wusste er jedoch, dass eine Veröffentlichung unvermeidbar war - so zwangsläufig wie die Todesfotos von Prinzessin Diana, die eines Tages einmal an das Licht der Öffentlichkeit kommen würden, auch wenn es die Gesetze des guten Geschmacks, der Ehre des Menschen und das Recht auf Privatleben und privat sterben - verletzte. Die Ehre reicht nicht weit, wenn Menschen sterben. Der Tod beraubt seit jeher jeden Menschen all seiner Rechte - und manchmal auch die Hinterbliebenen, die Beteiligten, ganz zu schweigen von den Mitverantwortlichen. Seine Gefühle waren gemischt, aber nicht so gemischt, dass er ernsthaft erwogen hätte, seine Informationen für sich zu behalten. Um diese Art von Skrupel hatte man sich bereits im ersten Jahr seiner journalistischen Ausbildung an einer der berühmtesten Schulen Deutschlands gekümmert. In einem Aufsatz sollte er beschreiben, wie er vorgehen würde, wenn er herausfände, dass ein kirchlicher Würdenträger seiner Stadt verdächtigt sei, in
schwulen Kreisen zu verkehren. Er hatte ein frühes Bravourstück seines Könnens vorgelegt, in dem er sich nicht etwa - wie verlangt - mit den moralischen Aspekten der Situation befasste, sondern ein dreiteiliges journalistisches Auswertungskonzept einreichte. Teil eins: Recherchen in der Schwulenszene: Verdacht erhärten. Zeitraum: zwei bis drei Tage. Teil zwei: die Frau (wenn katholisch, alternativ: die Haushälterin) zu Wort kommen lassen, nachdem man sie mit Beweismaterial konfrontiert hat - parallel Stimmungsumfrage unter den Gemeindemitgliedern durchführen. Zeitraum: ein Tag, möglichst Sonntagsausgabe. Teil drei: Paparazzi einsetzen, bis der Geistliche unter dem Leidensdruck zusammenbricht und spricht. Zeitraum: je nach Charakterstärke zwei Tage bis zwei Wochen. Die Fragen, die er sich angesichts der beiden Fotos stellte, hatten nichts mit seiner moralischen Integrität zu tun, sondern waren eher philosophischer Natur. Hätte er die Kamera einen Augenblick früher aus seiner Reverstasche gezogen, dann hätte er den Fahrer des Wagens auf Film gebannt, und es wäre möglicherweise nie so weit gekommen. Er schob den unangenehmen Gedanken beiseite und betrachtete die niedergefahrene Journalistin, das Blut auf dem Bürgersteig; die Handtasche, die aussah, als sei sie geplatzt so wie ihr Schädel. Eine Kollegin, die in Ausführung ihres Amtes gestorben war. Wäre sie Lehrerin geworden oder Ärztin, wie ihre Schwester, dann könnte sie heute noch am Leben sein. Selbst wenn sie sich auf ein anderes Feld spezialisiert hätte und nicht ausgerechnet auf die Medizin und später - wahrscheinlich ungewollt - auf Promiberichterstattung, dann hätte sie verschont bleiben können. Doch an diesem Tag, innerhalb dieser wenigen Stunden waren die beiden Fäden zusammengelaufen, die ihr Schicksal besiegelten. Wusste sie in dem Moment, was mit ihr geschah? Auf den Videobändern hatte sie für ein paar Sekunden unbeholfen gewirkt, war vom Thema ihrer Befragung abgekommen. Dann, so glaubte er, war für einen kurzen Augenblick lang so etwas wie Erkenntnis in ihrem Blick aufgeflackert. Sie hatte es gewusst. Und vielleicht an ihren Freund und seinen mysteriösen Tod gedacht - hatte sie die Gefahr erkannt? Es war ein Teil Scharfsinnigkeit und ein Teil Schicksal gewesen, dass er in seinen Recherchen so weit gekommen war, dass er das Rätsel gelöst hatte. Das Gespräch mit Elke Brenners Schwester war der erste Teil, der zweite Teil war unvorhersehbar gewesen. Ein Gesicht in der Menge. Ein Gesicht, das er auch am Tag der Pressekonferenz gesehen hatte. Ein Gesicht, das ihm sonderbar bekannt vorkam, ohne dass er es verlässlich einordnen konnte. Er schaute auf das zweite Foto. Lilly mit Fassungslosigkeit im Blick, das Oberteil rot wie von Blut. Rita gelähmt, Tim mit offen stehendem Mund. »Jetzt krieg ich dich!«, sprach er vor sich hin und grinste. Dann wiederholte er: »Jetzt krieg ich dich.« Im Gegensatz zu seiner verstorbenen Kollegin hatte Gerd Bartels keinerlei Todesahnung. »Wir können heute Nacht nicht hier bleiben.«
Ein Blick reichte, unsere Gedanken auszutauschen. Wenn Harry annahm, dass zwischen Marco und mir etwas war, dann war Marco möglicherweise in Gefahr. Genau wie ich. Ein Kommissar, ein Expolizist mit fragwürdiger Vergangenheit und eine Pornoproduzentin - wem würde die Öffentlichkeit glauben? »Es ist zu riskant, ich weiß. Was wollen wir tun?« »Jemand sollte sich um Harry kümmern.« »Dann lass uns den Wagen nehmen und ihn beobachten.« »Das übernehme ich. Ich bring dich besser irgendwo anders unter.« »Du meinst, du willst mich allein lassen?« »Nein, Lilly. Ich will dich in Sicherheit bringen.« »Hast du jemals einen Krimi gesehen, Marco? Es ist eine Gesetzmäßigkeit im Thriller, dass die Helden sich nicht trennen sollten. Immer wenn das geschieht, gerät einer der beiden in die Fänge des Killers.« »Ich glaube, es ist jetzt nicht der richtige Zeitpunkt, Krimiforschung zu betreiben. Du weißt selbst, dass Harry dafür sorgen wird, dass uns keiner glaubt, wenn wir einander Alibis geben.« Ich wurde langsam wütend. »Verdammt, Marco - wofür bezahle ich dich denn? Damit du auf mich aufpasst. Und jetzt willst du mich irgendwo abliefern. Habt ihr eine Gewerkschaft, bei der ich mich beschweren kann?« »Security heißt Sicherheit. Nicht Aufpasser. Und ich bringe dich in Sicherheit.« Er stand vor mir wie ein Berg, die Augenbrauen gerunzelt und strahlte ein stoisches Selbstvertrauen aus. »Ich fühle mich aber nicht sicher, wenn du nicht dabei bist.« »Soll ich dich in Schutzhaft geben?« »Ganz tolle Idee. Dann muss ich mir Harry und Schultz vom Leibe halten. Verstehst du denn nicht? Er wird nicht plötzlich auf mich losgehen. Du bist derjenige, der hier in Gefahr ist! Ich will dich nicht allein auf einen Irren loslassen!« Er legte mir die Hand auf die Schulter. »Lilly, ich kenne Harry und ...« »Nein!« Ich unterbrach ihn lautstark und schob seine Hand fort. »Du kennst nur einen Harry. Den braven Kleinstadtbullen. Hättest du ihm zugetraut, dass er mich mit Telefonterror belästigt? Dass er durch die Gegend läuft und Männern die Dinger abschneidet und sie mir dann vor die Füße legt? Marco, der Mann ist ein Schizo!« Er lächelt mich an, wie ein Erwachsener, der über den Wutausbruch eines Kindes belustigt ist. »Ich mache meinen Job nicht erst seit gestern.« »Harry auch nicht!«
»Lass mich ausreden. Wir haben ein Verdachtsmoment, aber vielleicht liegen wir auch falsch. Es bleibt uns nichts anderes übrig - ich bringe dich irgendwo unter und beschatte Harry. Ende der Diskussion. Wo willst du hin?« Ich war beleidigt, aber ich fügte mich. Etwas, das ich nie wieder tun werde. Wenn ich aus diesen hysterischen Tagen etwas gelernt habe, dann, dass es besser ist, meinen Instinkten zu vertrauen. Aber so ist es wohl immer mit zwischenmenschlichen Beziehungen - ein zähes Verhandeln der Instinkte, bei dem eine Seite zu oft auf der Strecke bleibt. »Ich weiß nicht. Zu Rita wahrscheinlich. Anni würde mich nur nervös machen.« Mir kam ein Gedanke, der mich das Schmollen vergessen ließ. »Nein. Bring mich lieber ins Hotel zu Ronny.« Wenn Harry wirklich ein neues Opfer suchte, dann wollte ich sichergehen, dass es nicht Ronny sein würde. Wir fuhren ein paar Minuten lang schweigend durch die Nacht. Draußen war es immer noch heiß und drückend und der abnehmende Mond leuchtete in einem schmutzigen Gelb. Mikey saß vor mir auf dem Boden des Beifahrersitzes und ließ die Zunge heraushängen. Marco schaute konzentriert auf die Straße und ich fragte mich, was er hinter der ruhigen Fassade für Gedanken verbarg. Eigentlich war mir nach Schmollen, aber der Zeitpunkt dafür war schlecht. Zu viele Fragen waren noch offen. »Was glaubst du, warum Harry so etwas tun würde? Er macht ja eigentlich nicht gerade einen durchgeknallten Eindruck.« Marco seufzte. »Das ist genau die Frage, die ich mir auch stelle. Ich wäre nie auf den Gedanken gekommen, dass mit ihm etwas nicht stimmt. Er war immer ein ruhiger Typ. Jemand, der in Krisensituationen cool bleibt, einen klaren Kopf behält.« »Ein stilles Wasser eben.« »So würde ich es gar nicht sagen. Einfach ein ausgeglichener Typ. So wirkte es zumindest.« »Wie sieht es bei ihm aus, was Frauen angeht?« »Er ist seit einem halben Jahr solo. Seine Freundin ist aus beruflichen Gründen nach München gegangen und die Fernbeziehung hat nicht funktioniert. Deshalb haben sie sich getrennt. Freundschaftlich.« »Hört sich nicht dramatisch an.« »So kam es mir auch nicht vor. Es hat ihn nicht kalt gelassen, das nun auch nicht, aber ich hatte nicht den Eindruck, dass auf einmal seine Welt ins Wanken geraten wäre.«
»Was für einen Bezug könnte er zu der Brenner-Geschichte haben? Hast du eine Ahnung, ob er als Kind irgendwann in psychiatrischer Behandlung war?« »Wenn, dann hat er nie davon gesprochen. Das sollte er in seiner Position auch besser vermeiden. Über seine Kindheit weiß ich wenig. Ich habe ihn erst in der Ausbildung kennen gelernt. Dass sein Vater umgebracht wurde, habe ich dir glaube ich schon erzählt.« »Ja, ich erinnere mich.« In Gedanken rief ich alle Klischees ab, die die moderne Psychologie für den gewaltsamen Verlust eines Elternteils bereithielt. »Und in der Ausbildung war er der Prügelknabe für Schultz?« »Ich glaube, das waren wir alle zu irgendeinem Zeitpunkt. Schultz ist ein echtes Arschloch. Ein Macht-Fanatiker. Das wurde alles noch schlimmer, nachdem seine Frau im Rollstuhl gelandet war.« »Ist es abwegig anzunehmen, dass jemand Männer in Frauen verwandelt, weil er auf seinen Vater wütend ist?« Marco blickte skeptisch zu mir herüber und sagte: »Vielleicht ein bisschen weit hergeholt.« »Irgendwo muss man es ja hernehmen. Und die nahe liegenden Antworten haben wir schon alle durch.« Irgendetwas passte nicht - Harry war mir suspekt, alle Telefon-Terroristen sind das, aber ich hatte zu viele Thriller gelesen und Filme gesehen, in denen die Motivation des Mörders glasklar war. Vielleicht lag das aber auch nur daran, dass es sich um Produkte der Fantasie handelte. Und möglicherweise fehlte uns nur ein einziges kleines Puzzle-Stück, das der ganzen Theorie Sinn gab. Während ich nachdachte und durch die Windschutzscheibe hinausstarrte, ging mir ein englischer Satz nicht aus dem Kopf, den ich versuchte zu übersetzen: Some people have killed for less - manche Menschen morden aus belangloseren Gründen. Wer entschied oder was war entscheidend dafür, dass ein Mensch die anerzogene oder angeborene Ehrfurcht vor dem Leben ignorierte und einen anderen Menschen tötete? Wenn Rita oder Anni auf jemanden sauer waren, sagten sie: »Ich würde ihn am liebsten an die Wand klatschen« und meine Formulierung war: »Ich könnte ihn umbringen.« Wir alle redeten so, aber es waren bloß Metaphern. Wir waren keine potenziellen Killer, nur weil wir jemanden sinnbildlich den Tod wünschten. Man hätte genauso gut sagen können: »Ich könnte ihn auf den Mond schießen«, aber in der Branche, in der wir arbeiteten, war der Mond manchmal nicht weit genug entfernt. Welche Art von Mensch setzte diese Wünsche in die Tat um? Gab es ein Persönlichkeitsmuster? Ich stellte es mir vor wie einen Dammbruch. Energie, die sich so lange aufstaut, bis sie sich nicht mehr halten lässt und die ganze Konstruktion des Dammes sprengt. Den meisten Menschen gelang es, den Druck zu regulieren. Für einige wenige blieb als einziger Regulator ein Mord. Danach ging es ihnen wieder etwas besser. Bis sich wieder neuer Druck einstellte - vielleicht sogar durch ein nagendes Schuldgefühl. Wieder musste die Energie reguliert werden, und wenn das Morden einmal Befriedigung verschafft hatte und man ungeschoren davongekommen war - warum es nicht ein weiteres Mal tun? Marco bremste stark. Der Wagen machte einen Satz, als wir über ein Hindernis
fuhren. Der abrupte Halt riss mich nach vorne und drückte mir den Gurt schmerzhaft an die Schulter. Mikey jaulte erschreckt auf, als er im Fußraum gegen die Wand geschleudert wurde. »Was war das?« Marco stellte den Motor ab. »Etwas ist uns in den Wagen gelaufen, wahrscheinlich ein Fuchs. Bleib sitzen - ich schaue nach.« Bei dem Satz, den der Wagen gemacht hatte, als wir über das Hindernis fuhren, musste das ein verdammt großer Fuchs gewesen sein. Ich löste den Gurt und kümmerte mich um den Hund es war ihm offensichtlich nichts passiert. Dann öffnete ich die Tür und wollte auch aussteigen, aber Marco rief mir zu: »Bleib, wo du bist.« Wenn ich jemals in meinem Leben auf diesen Satz gehört hätte, dann wäre ich Kindergärtnerin oder Bäckerin geworden; ich bin einfach nicht der Typ, der bleibt wo er ist. Also stieg ich aus dem Wagen. »Lilly, bleib weg«, rief Marco mir zu, doch ich war nicht aufzuhalten und ging zum Heck, wo mich ein schreckliches Dejà vu erwartete. Ich presste meine Hand gegen den Magen und ging ein paar Schritte rückwärts, stolperte über den Bordstein und fiel auf den Bürgersteig. Es musste Punkt ein Uhr morgens sein, denn in diesem Augenblick erlosch die Straßenbeleuchtung. Zu spät, um mir den Anblick von Gerd Bartels zu ersparen, der mit zerbrochenen Gliedern auf der Straße lag, der Kopf zerschmettert im Rinnstein.
Kapitel 18 »Geh ins Hotel - von hier ist es nicht mehr weit. Die Polizei braucht nicht zu wissen, dass du im Auto warst.« Ich konnte nicht sprechen, mich nicht bewegen. Ich saß stumm und still auf dem Bürgersteig und betrachtete die Überreste von Gerd Bartels. Im gelben Licht des Mondes funkelte das frische Blut schwarz. »Lilly?« »Lilly?« Ich hörte ihn, aber seine Stimme drang nicht weit genug zu mir vor. Erst als Mikey sich vor mich stellte und einmal kurz bellte, konnte ich mich aus dem Schock reißen. »Lilly - du musst hier verschwinden.« »Du meinst doch nicht, dass die glauben, ich hätte ...« »Die Lage ist angespannt genug. Wir wissen nicht, was Harry aus so einer Situation konstruieren würde. Oder Schultz.« Marco stand neben dem Wagen, betrachtete die Leiche und wirkte das erste Mal, seit ich ihn kannte, fassungslos. Seine Arme und Schultern hingen, seine Hände ballten sich zu Fäusten und öffneten sich wieder. Seine Stirn glänzte, als habe er Fieber. Nie zuvor hatte ich ein schlimmeres Beispiel von Ursache und Wirkung erlebt als jetzt - die Erinnerung, wie der Wagen über das Hindernis gefahren war und jetzt der Anblick der Leiche, in meinem Kopf rollte und rollte der Wagen immer wieder über den Mann, mit dem ich noch vor wenigen
Stunden telefoniert hatte und der kurz davor gewesen war, dass Rätsel zu lösen, das Elke Brenner mit den Morden in Goslar verband. Jetzt lag er hier auf dem Asphalt, keine vier Tage nachdem Elke Brenner das gleiche schreckliche Schicksal ereilt hatte. »Gott sei Dank.« »Was?« Ich traute meinen Ohren nicht. »Komm her und schau dir die Leiche an.« »Marco! Bitte! Das ist ein Freund von mir.« »Entschuldige, ich wollte nicht ...« Er stockte. »Ich meine nur - wie er daliegt. Der Schädel ist eingeschlagen, das kann unmöglich beim Unfall passiert sein. So wie er daliegt war er schon tot, als wir ihn überfuhren.« In diesem Moment gab mir das, was später nur ein schwacher Trost sein sollte, den Antrieb, nicht zu resignieren. Ich ging auf wackligen Beinen zum Wagen und schaute mir die Leiche Gerd Bartels' an. Auf dem Bürgersteig oberhalb seines Kopfes waren dunkle Flecken - Schleifspuren, die entstanden sein mussten, als man seinen blutenden Körper auf die Straße zerrte. Ich holte tief Luft und wandte mich ab. »Du kannst von hier aus in zehn Minuten im Hotel sein. Und du hast den Hund dabei.« Ich wusste nicht, was schlimmer war - das Ankommen der Polizei abzuwarten, die ganze Nacht verhört zu werden, am nächsten Tag in der Presse als Beifahrerin im Mörder-Auto bezeichnet zu werden - und so in den Augen der Öffentlichkeit im Kreis der Verdächtigen in die obersten Ränge aufzusteigen, wenn ich mich dort nicht jetzt schon befand. Oder in der schwülen düsteren Nacht durch die leeren Straßen der Vorstadt zu laufen, hinter jedem Strauch, jedem Hauseingang einen Irren vermutend. Wenn jemand bei der Polizei tatsächlich in den Fall verwickelt war, dann hatte ich keine Wahl. Marco musste allein beim Wagen zurückbleiben. Abhauen kam nicht in Frage. Es wäre schäbig gewesen, Gerd Bartels' Leiche auf der Straße liegen zu lassen, und gefährlich. Wir waren sicherlich nicht der einzige Wagen, der in dieser Nacht diese Straße benutzte. Außerdem war es viel zu riskant: Wenn mit meinem Auto jemanden überfahren wurde und der Fahrer Fahrerflucht beging, dann würde das Presse und Polizei auf den Plan rufen. Nach meinen kriminalistischen Recherchen der Vortage war mir klar, dass es ein Leichtes wäre, Spuren des Unfalls an meinem Auto zu identifizieren. Ich fragte mich, wie viel Ruf man eigentlich in vier Tagen verlieren kann. »Lilly, wir können nicht ewig hier stehen bleiben. Früher oder später wird jemand vorbeifahren und dich sehen.« Bevor ich um die Ecke bog, blickte ich noch einmal zurück. Marco lehnte an der Fahrertür und schaute auf seine Armbanduhr. Er hatte das Handy schon in der Hand, mit dem er die Polizei verständigen würde, sobald ich außer Reichweite war. Der Wagen verstellte den Blick auf Gerd Bartels. Während ich den Bürgersteig in
Richtung Innenstadt entlanglief, versuchte ich, mich genau an das Gespräch zu erinnern, das ich mit dem Reporter geführt hatte. Er wollte mit Elke Brenners Schwester sprechen. Es war davon auszugehen, dass sie die Identität des Arztes preisgegeben hatte, mit dem ihre Schwester liiert gewesen war. Angeblich war sie nicht in Deutschland, also war es unwahrscheinlich, dass sie etwas mit Bartels' Tod zu tun hatte. Er hatte ein weiteres Interview für den Abend in Aussicht gehabt und davon geredet, dass er sich in meinem Bekanntenkreis umgehört hatte. War es Harry, mit dem er gesprochen hatte? War Harry wegen des Todes seines Vaters als Jugendlicher in psychiatrischer Behandlung gewesen? Und was hatte diese Behandlung in ihm ausgelöst, wenn sie zu einer Serie von Schreckenstaten führte? Ich näherte mich langsam dem Stadtzentrum. Obwohl es Samstagnacht war, wirkte die Straße wie ausgestorben. Mikey trottete neben mir her und litt unter der Hitze. Auf der ganzen Strecke, die ich bis hierher zurückgelegt hatte, war nicht ein einziges Auto vorbeigefahren und mir kein Passant über den Weg gelaufen. Vielleicht war es die stickige Hitze, die die Leute lahmte und davon abhielt ihre Wohnungen zu verlassen. Als ich von fern das Geräusch einer Polizeisirene hörte, verstecke ich mich hinter einer Litfasssäule, bis der Wagen an mir vorbeigefahren war. Ich wagte nicht einen Blick zu riskieren, um zu sehen, wer darin saß. Ein Gedanke ließ mich nicht los. Wenn jemand gewollt hatte, dass Marco und ich in dieser Nacht getrennt werden, dann war es ihm hervorragend gelungen. Ich war jahrelang nicht mehr so schutzlos gewesen wie in der Viertelstunde, die ich zu Fuß unterwegs war. Ich schaute immer wieder über die Schulter und achtete darauf, wie Mikey sich verhielt. Die abgetrennten Schwänze von Johann und Ingo zu finden, hatte in mir jedes Mal einen Schock ausgelöst, aber die schleichende Angst, die mich befiel, als ich durch die leeren Straßen lief, war genauso schlimm. Ich war Teil eines Plans, den ich nicht aufschlüsseln konnte, und mein Gang durch die ausgestorbene Stadt schien Teil dieses Plans zu sein. Es waren vielleicht noch zweihundert Meter bis zum Hotel, da hörte ich ein Auto kommen. Der Wagen fuhr langsam. Zu langsam. Ich bekam eine Gänsehaut und beschleunigte meinen Schritt. Jetzt konnte ich das Hotel schon sehen, aber das Geräusch des Motors wurde lauter - selbst wenn ich rannte, würde ich es nicht schaffen im Foyer zu sein, bevor der Wagen auf meiner Höhe war. »Nicht umdrehen, nicht umdrehen«, redete ich mir ein. Wenn ich so tat, als wäre der Wagen gar nicht da, dann würde er mich vielleicht auch nicht wahrnehmen - es war ein absurder Gedanke, wie bei einem Kind, das sich die Augen zuhält, und denkt, man könne es nun nicht mehr sehen - genauso hatte ich mich verhalten, als ich vom Park in Richtung Krummes Haus geflüchtet war. Irrational. Noch hundertfünfzig Meter. Ich sah die Lichtkegel der Scheinwerfer auf der Straße. Mittlerweile rannte ich fast. Mikey, der wohl zunächst angenommen hatte, ich würde mit ihm spielen, spürte jetzt meine Unruhe. Sein Körper war angespannt. Es waren noch hundert Meter zum Hotel - ich ließ meinen Blick über den Bürgersteig schweifen, die Häuserwände, die Fußgängerzone, die vor dem Hotel lag. Kein Mensch in Sicht. Der Wagen schien im ersten Gang zu fahren und ohne den Gang zu wechseln zu beschleunigen. Er war jetzt direkt neben mir, und noch immer wagte ich es nicht, einen Blick zu riskieren. Das brauchte ich auch nicht, denn er überholte
mich im Schritttempo, machte eine scharfe Drehung nach rechts und stand schräg vor mir auf dem Bürgersteig. Es war ein Jeep. Auf dem Rücksitz lag etwas, das in der Dunkelheit wie ein Baseball-Schläger aussah. Anstatt schnell um das Heck herumzulaufen und meinen Weg fortzusetzen, blieb ich kurz stehen. Mikeys Nackenhaar standen senkrecht in die Höhe. Die Wagentüren öffneten sich. Zwei Männer - eher Jungs - traten heraus. Ich hatte sie noch nie gesehen. Es waren Skinheads in Jeans, weißen Unterhemden und Springerstiefeln. »Hey Lilly, geile Schnitte. Lust auf 'ne Party?« Ich zog an Mikeys Leine und ging um den Wagen herum in Richtung Hotel. »Na, Süße, willst du mit uns mitfahren?« Ich ignorierte sie bis es nicht mehr ging, sie hatten aufgeholt und gingen nun an meiner Seite, einer rechts, einer links. Nah, viel zu nah. Ich blieb nicht stehen. Wenn ich in Bewegung war, würde es schwieriger sein, mich zu packen. »Jungs - ihr lasst mich besser in Ruhe. Ich hatte einen schlechten Tag, okay?« »Wir können ja was Schönes machen, dann vergisst du deinen schlechten Tag.« »Wenn ihr nicht sofort zu eurem Wagen zurückgeht, lasse ich den Hund auf euch los.« Wie zur Bestätigung fing Mikey an zu knurren. Prompt vergrößerte sich der Abstand zwischen den Nazis und mir. Ich konnte mittlerweile die erleuchtete Halle des Hotels sehen - die Rezeption war nicht besetzt. Eine Hand griff mir grob an den Hintern. Ich machte einen Sprung nach vorn und wägte im Bruchteil einer Sekunde ab, ob ich fliehen oder Widerstand leisten sollte. Da sie zu zweit waren und zweifellos schneller als ich, blieb mir nur die Konfrontation. »Fass mich nicht an!«, brüllte ich. Mikey fing zu bellen an und zerrte an der Leine. Die zwei blieben abrupt stehen und warfen einen ehrfürchtigen Blick auf den Hund. »Kommt bloß nicht auf irgendwelche Gedanken. In dem Moment wo ihr eure mickrigen Dinger auspackt, liegen sie auf dem Bürgersteig, das kann ich euch versprechen.« Das wirkte. Sie schauten sich an. In ihrer Hilflosigkeit sahen sie so debil aus, wie sie wahrscheinlich auch waren. »Is ja gut, Alte.« Der Größere der beiden machte eine beschwichtigende Geste - das war zu viel für Mikey, der lossprang und ihn in die Hand biss. Ich hörte Knochen knirschen, einen Aufschrei und sah, wie dem Mann das Blut aus dem Gesicht wich. »Hol dir besser eine Tetanusspritze. Der Hund ist tollwütig«, war alles, was mir einfiel. Ich ging rückwärts weiter, um zu sehen wie sie sich verhielten.
Der Größere hielt seine Hand und starrte mit schmerzverzerrtem Gesicht auf die blutige Wunde, der Kleinere hatte wie ich ein paar Schritte rückwärts gemacht und zog seinen Kumpel am Hosenbund mit sich. »Die Alte ist ja voll durchgeknallt. Komm, ich fahr dich ins Krankenhaus.« Als sie auf Höhe ihres Wagens waren, setzte ich zum Sprint auf die Hoteltür an. Die Türen schlossen sich gerade hinter mir, als der Wagen kreischend vorbeifuhr und die Schwachköpfe mich mit dem Wort bedachten, das man in Berlin mit »V« schreibt. Ich ging an der leeren Rezeption vorbei und drückte den Fahrstuhlknopf. Vielleicht war es gut, dass mich der Nachtportier nicht sah - wahrscheinlich hätte er mir verboten, den Hund mit auf ein Zimmer zu nehmen. Mit einem sanften »Pling« öffneten sich die Türen des Lifts und von einem Endlos-Band erklang ausgewählte Weichspülmusik. Ricky Martin duettierte mit Madonna und die beiden ermahnten sich gegenseitig, mit dem Herzen des anderen vorsichtig umzugehen, da es sonst so leicht zerbrach. Im Spiegel der Kabinenrückwand sah ich mich und erschrak. Meine weißes T-Shirt war schmutzig, meine Jeans hatte einen Riss von dem Sturz auf den Bürgersteig. Die Haare waren unordentlich, das Gesicht glänzte und zwischen den Augenbrauen verlief eine ausgeprägte Sorgenfalte. Wie lang lief ich jetzt schon mit dieser Miene durch die Gegend? Mit Mikey an der Seite sah ich aus wie ein gefallener Racheengel. Mit einem Mal überkam mich die Sehnsucht nach Ronny wie ein Schock. Ich wollte in seine Arme fallen und darin liegen bleiben, bis der ganze Albtraum vorüber war. An nichts und niemanden mehr denken, keine Angst mehr haben, unter keinem Druck mehr stehen. Einfach nur aufgefangen und gehalten werden und einmal nicht die Frau sein, die alles unter Kontrolle hat, die anderer Leute Probleme effizient analysiert und behebt, sich kümmert und mitdenkt. In Ruhe gelassen werden. Die Knie wurden mir weich, als ich an unsere letzte Umarmung dachte. Auf dem Boden des Lifts stand eine leere Flasche Mineralwasser. Im Spiegel war die Schrift auf dem Etikett verkehrt herum zu lesen. »Naive« stand da. Wieder machte es »pling« und ich trat auf den dezent beleuchteten Hotelflur. Bevor sich die Türen hinter mir schlossen, versetzte ich der Wasserflasche einen Tritt, sodass sie durch die Kabine flog und in der Ecke liegen blieb. Die Anzeige neben dem Lift blinkte in Abwärts-Richtung und die Kabine setzte sich wieder in Bewegung. Unten im Foyer musste jemand die Taste gedrückt haben. Ich konnte noch die erste Zeile des neuen Fahrstuhl-Lieds hören - »Hello darkness, my old friend ...« Simon und Garfunkel hatte ich noch nie leiden können. Während ich noch auf die Anzeigetafel schaute und beobachtete, wie sie von 3 auf 2 schaltete, versuchte ich mich an Ronnys Zimmernummer zu erinnern - wir hatten vier angrenzende Zimmer und zwei Suiten gebucht. Normalerweise brachte ich meine Leute nicht ganz so luxuriös unter, aber wegen einer Tagung war das Hotel fast ausgebucht gewesen. Ronny hatte ich eine der Suiten zugeteilt. Ich erkannte die richtige Tür an den Schuhen, die davorstanden - eher an der Abwesenheit von Schuhen. Simone und Dana teilten sich die größere Suite und zwei Paar Prada-Stiefeletten standen auf der Schwelle und warteten darauf, geputzt und abgeholt zu werden. An der Türklinke der zweiten Suite hing ein »Bitte nicht stören«Schild. Ich ignorierte die Aufforderung und klopfte dreimal schnell hintereinander und
schaute nervös zum Fahrstuhl. Keine Antwort. Ich klopfte erneut. Wieder blieb es ruhig in der Suite. Vorsichtig drückte ich die Türklinke herab - die Tür war verschlossen. Ich klopfte lauter. Nichts. Ich hörte, wie der Fahrstuhl hochfuhr und wurde unruhig. Was wenn jemand mich gesehen hatte - und wer könnte dieser »Jemand« gewesen sein? Keine der möglichen Antworten konnte mich beruhigen. Mit zittrigen Händen zog ich meine Kreditkarte aus dem Portemonnaie und probierte den Trick aus, den ich aus dem Fernsehen kannte - er funktionierte. In dem Augenblick, als der Fahrstuhl im dritten Stock ankam, schlüpfte ich durch die Tür und zog sie leise hinter mir ins Schloss. Im mahagonigetäfelten Vorflur brannte Licht. Die Tür zum Bad stand offen - es war dunkel und leer. Ich öffnete die Tür zum Schlafzimmer und trat ein. Auch hier keine Spur von Ronny. Als ich durch das Zimmer ging, um in den Wohnraum zu gelangen, fiel mein Blick auf den schmalen Schreibtisch, der am Fenster stand. Die Schreibtischleuchte war eingeschaltet, und ich sah etwas, das mich an meine, an unsere Vergangenheit erinnerte - die Skulptur, die ich Ronny vor Jahren geschenkt hatte. Die ich am Tag unserer Trennung wütend an die Wand geschmettert hatte, wo sie sauber in zwei Teile zerbrochen war — in Körper und Phallus. Er hatte sie repariert. Ich nahm sie in die Hand und konnte die dünne glänzende Linie erkennen, an der sie geklebt worden war. Erst als ich sie wieder an ihren Platz zurückstellte, traf mich die Erkenntnis. Er hatte den abgetrennten Penis angeklebt. Abgetrennt. Penis. Noch einen Schlag in die Magengrube. Die abgeschnittenen Schwänze von Johann, Ingo und Hofmeier hatten die mich an diese Figur erinnern sollen, an den Tag, an dem ich Ronny den Laufpass gegeben hatte? Er musste krank sein, irre. Ich hätte ihm sowas nie zugetraut. Nie!! Sollte all das esoterische Gerede nur eine Fassade gewesen sein, hinter der sich ein kaputter Geist versteckte? Und was war nun mit Harry? War dessen einziger krimineller Akt ein obszöner Anruf gewesen? Ich verspürte den Impuls, mich zu setzen, aber ich wusste, dass ich hier raus musste. Als ich mich auf den Weg zur Tür machte, hörte ich, wie sich ein Schlüssel von außen ins Schloss schob. Ich blickte mich um, sah die Tür zum Balkon. Was würde ich mit Mikey machen? Wenn mir kein anderer Weg blieb, als an der Fassade herabzuklettern, dann würde ich meinen Hund zurücklassen müssen. Bei Ronny, der nicht nur meine große Liebe, sondern auch plötzlich in die Reihe der Tatverdächtigen aufgerückt war. Gerade, als ich die Balkontür geöffnet und den Vorhang hinter mir so weit zugezogen hatte, dass ich durch einen Spalt hineinschauen konnte, trat Ronny ins Zimmer, ging zum Schreibtisch und nahm die Skulptur in die Hand. Sorgsam platzierte er sie auf dem Couchtisch und setzte sich davor. Er studierte die Statue, als handele es sich um die Leiche eines Außerirdischen. Dann holte etwas aus seiner Hosentasche - ein Papierbriefchen, so groß wie eine Streichholzschachtel, und legte es daneben. Koks. Das war es also. Die Drogen hatten ihm das Gehirn zerfressen. Vielleicht war er nie clean gewesen, die Geschichte mit der Entzugsklinik eine reine Erfindung. Das hätte mir doch auffallen müssen, war ich wirklich so blind gewesen? Er hatte mich davon überzeugt, dass er es geschafft hatte. Vielleicht, weil ich es unbedingt glauben wollte. Er verließ den Raum in Richtung Bad und ich zog den Vorhang zu. Mikey schaute mich erwartungsvoll an und ich warf
einen Blick über die Balkonbrüstung. Unmöglich. Die Hotelfassade war glatt und schnörkellos, der Innenhof mit Kopfstein gepflastert, das an einigen Stellen mit Blumenrabatten geschmückt war, die vom Hagelsturm arg in Mitleidenschaft gezogen waren. Es war nicht daran zu denken, zu klettern, geschweige denn zu springen. Ich hörte, wie im Zimmer der Fernseher angestellt wurde. Ronny schaute sich irgendeinen beschissenen Krimi an, in dem eine Frau ständig kreischte und ein Mann mit der dämonischen Synchronstimme von Robert de Niro Verwünschungen und Drohungen aussprach. Rosemary's Baby light. Mir versagten langsam die Nerven - ich wagte kaum, mich zu bewegen, aus Angst, er könnte mich hören. Anderthalb Stunden stand ich regungslos und angespannt im Dunkeln. Als er den Fernseher ausstellte und ins Schlafzimmer ging, waren meine Muskeln taub. Auf meiner Armbanduhr war es zwei Uhr vierzig. Ich hatte die qualvolle Zeit genutzt, einen Fluchtplan zu entwickeln. Der angrenzende Balkon lag ungefähr einen Meter entfernt, die Balkontür war einen Spaltbreit geöffnet. Wenn mich mein Orientierungssinn nicht total verlassen hatte, dann war es der Balkon, der zur Suite von Dana und Simone gehörte. Ich hätte natürlich auch durch Ronnys Zimmer pirschen könne - es war wie die Wahl zwischen Pest und Cholera. Wenn Ronny auf Koks war, schlief er vielleicht noch nicht und würde mich erwischen. Also blieb nur eine andere Möglichkeit, die nicht viel ungefährlicher war, aber die, wenn sie misslang, zumindest zu einem schnellen Tod führen würde. Vielleicht waren es die Resultate meines täglichen Schwimmtrainings, vielleicht aber auch nur der Mut der Verzweiflung - irgendwie gelang es mir, Mikey mit seinen fünfundvierzig Pfund Lebendgewicht hochzuheben. Ich fiel unter dem Gewicht fast vornüber, aber der Hund begriff, dass ihm eine Aufgabe bevorstand. Ich lehnte mich so weit es ging nach vorne in Richtung Nachbarbalkon, spürte an seiner Muskelanspannung, dass er sich auf den Satz vorbereitete und raunte ihm ein »Spring!« ins Ohr, während ich ihn gleichzeitig mit all meiner Kraft nach vorn stieß, sodass er genug Schubkraft für den Flug hatte. Er sauste elegant durch die Luft und landete sicher auf allen Vieren. Bei diesem Plan hatte ich eines vergessen. Mikeys Stolz. Kaum war er drüben angekommen, wackelte er freudig mit dem Hintern und bellte mich an, auf Teil zwei des vergnügten Spiels wartend, das ich für ihn geplant hatte. Das war Ansporn genug für mich, schnellstmöglich auf das Geländer zu klettern und loszuspringen, ohne noch einen Blick in die Tiefe zu riskieren. Kaum angekommen 25*0 zischte ich Mikey »Still!« zu und rollte mich und ihn in das Hotelzimmer, wo ich reglos am Boden liegen blieb und lauschte, ob Ronny etwas gehört hatte. Doch nebenan blieb es still. Ich rappelte mich auf und versuchte, in dem dunklen Zimmer die Orientierung zu finden. Aus dem Schlafzimmer kam ein Lichtschein. Ich ging hinein und sah Simone und Dana friedlich schlafend in ihrem Kingsize-Bett liegen. Sie waren nicht allein. In ihrer Mitte lag selig lächelnd Frederic, in der Luft hing der Geruch von Hasch und auf den Nachttischen stand der komplette Satz Minibar-Alkoholika, beziehungsweise die leeren Flaschen. Die drei waren stoned,
betrunken und im Tiefschlaf. Ich rüttelte Dana, doch es war nichts zu machen. Sie öffnete ihre Augen, die sofort wieder zufielen, und war einfach nicht wachzukriegen. Mikey machte einen Satz auf das Bett, kuschelte sich ans Fußende und blickte mich erwartungsvoll an. »Na toll. Und was jetzt?« Ich wünschte, Marco würde sich melden und ein Lebenszeichen von sich geben. Aber er war wahrscheinlich noch auf dem Revier. Schultz würde es sich nicht nehmen lassen, den Vize-Mister Niedersachsens zu drangsalieren und in die Ecke zu treiben. War Harry beim Verhör dabei? Würde Marco von unserem Verdacht erzählen? Langsam machte sich die Erschöpfung breit. Ich war den ganzen Tag auf den Beinen gewesen und die anderthalb Stunden in Hab-Acht-Position auf dem Balkon hatten meinem Körper fast den Rest gegeben. An Schlafen war nicht zu denken, denn die Anspannung war einfach zu groß, als dass ich hätte wegdämmern können. Und angesichts der Umstände könnte es nicht schaden, ein Alibi zu haben. Selbst wenn ich auf dem Zimmer bliebe, könnten die drei später nur aussagen, dass ich da gewesen wäre, als sie aufgewacht sind. Ich nahm mein Handy und rief bei Rita an. Das Telefon klingelte zehnmal, doch der Anrufbeantworter sprang nicht an. Wahrscheinlich war auch sie im Tiefschlaf. Ich probierte es auf ihrem Handy, doch dort hörte ich nur die Ansage der Mailbox. Auch bei Anni hörte ich nur die Ansage auf dem Anrufbeantworter. Sollte ich um drei Uhr morgens an die Rezeption gehen und im Hotel einchecken? Wenn ich Nachtportier wäre, dann würde ich mich fragen - wo kommt die um diese Uhrzeit her? Ich beschloss, das Hotel so zu verlassen, wie ich es betreten hatte - unerkannt - und zu Rita zu gehen. Ihre Wohnung war nicht weit. Ich verließ den Raum mit einem letzten Blick auf die drei friedlich Schlafenden. Mikey war nicht erbaut, seinen bequemen Platz aufgeben zu müssen, fügte sich aber, als ich ihn rief. Wir nahmen diesmal nicht den Lift, sondern die Treppen. Ich bemühte mich, leise zu sein, trotzdem echote das Geräusch meiner Schritte durch das Treppenhaus. Es gibt Nachtstunden, die so leise sind, dass man das Gefühl hat, die Welt hält den Atem an. Auf diese unerträglich ruhigen Momente folgt meist das Pandämonium. In dieser Nacht sollte es nicht anders sein. Es hatte sich etwas verändert, aber ich merkte es erst nach ein paar Minuten draußen. Ein Wind war aufgekommen. Ein unangenehm warmer Luftstrom, der keine Erleichterung brachte, sondern nur die warmen Luftschichten durcheinander wirbelte. Es roch nach Ozon. Ich mied die Lichtkegel der gelb leuchtenden Straßenlaternen und war fast erleichtert, als ich das Stadtzentrum verlassen und die unbeleuchtete Wohngegend erreicht hatte, in der Ritas Wohnung lag. In keinem der Häuser brannte Licht, nur auf einigen Veranden war die Außenbeleuchtung eingeschaltet. Mich trennten noch hundert Meter von Ritas Haus, da erlitt ich beinahe einen Herzstillstand, als mein Handy klingelte. Das Geräusch durchdrang die Stille wie ein Fremdkörper. Wer um Gottes willen rief mich um diese Uhrzeit an? Das Display zeigte eine Hamburger Telefonnummer. Ich nahm den Anruf entgegen und lehnte mich an einen Jägerzaun. »Hier ist Nicolette, ich hoffe ich habe dich nicht geweckt.« »Ich wünschte, du hättest. Was gibt es Neues?«
»Einiges. Es war gar nicht so schwer dranzukommen. Ich bin in die Bildredaktion gegangen und habe die Archive durchforstet. Die haben sich jede Mühe gegeben, den Artikel verschwinden zu lassen, aber keiner hat daran gedacht, die Fotos zu beseitigen. Dem verantwortlichen Redakteur habe ich die Pistole auf die Brust gesetzt und gesagt, dass ich früher oder später doch alles herausfinde und er mir genauso gut die Arbeit abnehmen könnte.« »Und?« Ich verging vor Neugierde. »Er hat sich nicht gerade gefreut, aber er hat klein beigegeben.« »Spann mich bitte nicht auf die Folter.« »Also. Wo fange ich am besten an? Elke Brenner war mit einem Dr.Vogel liiert. Ein Kinderpsychologe, der sich auf Zwillingsforschung und Geschlechtsidentität spezialisiert hatte. Er war ziemlich bekannt, weil er einer der Ersten war, der mit anatomisch korrekten Puppen arbeitete - erst galt er deswegen als fragwürdig, später haben dann seine Kollegen die Methode auch verwendet. Elke Brenner hatte eine ...« »...Zwillingsschwester, die Karin Berger heißt, Märchen schreibt und als Therapeutin arbeitet, ich weiß.« »Du weißt aber nicht, dass die Schwester bei Vogel in Behandlung war, weil der Vater das Gefühl hatte, die Kinder seien in überzogenem Maße voneinander abhängig. Sie haben bis zu ihrem vierten Lebensjahr bei ihrer Mutter gelebt - in einem umgebauten Lastwagen. Der Vater hat das Sorgerecht bekommen, da die Mutter als psychisch krank eingestuft und entmündigt wurde. Sie hat sich '79 das Leben genommen. Feuer gelegt. In der Anstalt, in der sie untergebracht war. Vier Leute sind damals umgekommen.« »Ich hatte mir so etwas gedacht. Es gibt diese eine Erzählung, in der sie ihre Kindheit beschreibt. Erzähl weiter!« »Meinhard - das ist der Redakteur, mit dem ich gesprochen habe - hat mit Elke Brenner schon zusammen studiert. Meinhard sagt, dass sie sich direkt an Vogel herangeschmissen hat. Für die Schwester Karin war es unerträglich - quasi wie Inzest. Vogel war für sie ein Vater-Typ, eine Respektsperson. Und da kommt die Schwester und geht mit ihm ins Bett. Die beiden waren nach der Behandlung eh nicht die besten Freundinnen, aber nachdem Elke mit Vogel zusammen war, kam es zum Bruch.« »Seine Methode scheint funktioniert zu haben.« »Individuationsmaßnahmen. Nicht nur in diesem Fall. Seine Meriten wollte er mit einem anderen Zwillingsfall ernten. Und Elke Brenner war sozusagen seine Hofberichterstatterin. Von 1980 bis 1988 hatte er einen ziemlich spektakulären Fall in Behandlung. Ein Zwillingspärchen. Zu Beginn der Therapie zehn Jahre alt. Junge und Mädchen. Allerdings nicht wirklich. Das Mädchen war eigentlich als Junge geboren.« »Moment - wer macht denn bei einem Kind eine Geschlechtsumwandlung?«
»Im Kindesalter natürlich niemand. Die beiden sollten noch im Säuglingsalter beschnitten werden. Bei einem ging alles gut, beim zweiten gab es ein Problem. Sie haben einen Elektrokauter verwendet - damit verschließt man Blutgefäße. Mit dem Gerät stimmte etwas nicht. Beim ersten und zweiten Versuch funktionierte es gar nicht, beim dritten Versuch war ein Zischen zu hören - es muss einen Stromschlag gegeben haben, jedenfalls wurde dem Kind der Schwanz weggeschmurgelt.« »Oh mein Gott.« »Schlimm. Er war wie ein Stück Holzkohle, und nach ein paar Tagen fiel er ab. Der verantwortliche Stationsarzt hat sich von dem Schock nie richtig erholt. Obwohl es nicht einmal seine Schuld war - er kann ja nicht voraussehen, dass die Technik versagt. Aber immerhin: Er hatte den Eltern empfohlen, das Kind als Mädchen zu erziehen und zum frühestmöglichen Zeitpunkt umoperieren zu lassen. Die Eltern sind von Arzt zu Arzt gepilgert, und fast alle haben empfohlen, eine Hormonbehandlung vorzunehmen und später eine künstliche Vagina zu operieren. Das war damals noch einfacher, als einen Schwanz zu rekonstruieren - das hätte man erst sehr spät machen können. Er wäre also als Junge ohne Penis aufgewachsen. Und angesichts der Tatsache, dass sich Geschwister vergleichen, hätte er mit heftigen Minderwertigkeitsproblemen zu tun gehabt, bis es zu einer rekonstruierenden Operation gekommen wäre. Stell dir mal vor - der Junge immer mit seinem intakten Bruder vor Augen.« »Und einer der Arzte war Vogel?« »Ja, aber der kam erst ins Spiel, als die Hormonbehandlung schon lief und die Sache sich nicht nach Plan entwickelte. Das Mädchen hatte ziemlich schwer wiegende Identitätsprobleme. Mit zwei Jahren wurde ihr Hoden chirurgisch entfernt und mit sieben eine Vagina angelegt. Sie hatte zwar keine Ahnung, dass sie als Junge geboren worden war, aber dass sie außerhalb der Norm war, das begriff sie sehr wohl.« »Natürlich - wenn Heerscharen von Ärzten an einem herumdoktern. All die Jahre von Arzt zu Arzt rennen, die Besorgnis der Eltern - das muss eine schreckliche Kindheit gewesen sein.« »So sieht's aus. Sie litt. Und sie führte sich zu allem Überfluss wie ein Junge auf. Das machte sie nicht gerade beliebt.« »Kinder können grausam sein. Die haben ein viel radikaleres Gespür für >normales< Verhalten.« »Ja, sie sehen nur schwarz/weiß, männlich/weiblich. Und haben überhaupt kein Verständnis dafür, wenn jemand der Rolle nicht entspricht. Also hat das Mädchen nicht nur mit den Ärzten zu kämpfen, sondern auch noch mit der Diskriminierung in der Schule.« »Ich sehe es vor mir.« Bilder aus meiner Kindheit flogen mir zu. Ich behielt sie für mich, denn sie waren nicht sehr charmant.
Ich hatte nie zu den getriezten Kindern gehört, sondern zu denen, die austeilten. Ich war schon immer der Chef-Typ gewesen. »Vogel hat sich regelrecht ausgetobt an den beiden. Fast zehn Jahre lang.« »Bis sie sich wehren konnten.« »Und hat an einem Buch über den Fall gearbeitet. Eine Langzeitdokumentation über Geschlechtsidentität. Elke Brenner wiederum hat über ihn und seine Erfahrungen geschrieben. Sie hat den Fall zwei Jahre lang intensiv beobachtet - sie saß quasi mit im Sprechzimmer. Übrigens sind die beiden getrennt und parallel behandelt worden. Vom zwölften Lebensjahr ab gab es keinerlei Kontakt mehr. Vogel hatte argumentiert, dass die Konfrontation mit dem Bruder eine ständige Konfrontation mit der eigenen Minderwertigkeit sei und dass sie sich erst in ihrer weiblichen Rolle wohl fühlen könne, wenn sie nicht täglich ihren Bruder als Ideal vor Augen hätte.« »Es hört sich nicht total unlogisch an.« »Aber Lilly: Würdest du ein Zwillingspaar trennen?« »Hm. Natürlich nicht. Nein. Definitiv nicht.« »Für mich sieht es aus, als hätte er nur den Geschwisteraspekt analysiert und dann geschlossen, dass die beiden zusammen nicht glücklich werden können. Dabei war das Unglück ganz anderen Ursprungs, und konsequenterweise hätte man den Kleinen in völliger Isolation aufziehen müssen, damit er sich nicht mit >richtigen< Jungs oder Mädchen vergleichen kann.« »Und das wäre keine Behandlung, das wäre Kindesmisshandlung.« »So seh ich das auch.« »Wie geht die Geschichte aus?« »Es ist eine Geschichte ohne Ende. Jedenfalls was die Zwillinge angeht. Die Brenner hat in ihrem Artikel das Trennen der beiden als wagemutige medizinische Revolution gepriesen. Sie hat die beiden zwei Jahre nach der Behandlung aufgesucht und ihre Verhältnisse - sagen wir - etwas idealisiert geschildert, damit Dr. Vogel als Held aus der Geschichte hervorging. Vogel und Brenner beschrieben den Fall als einen Durchbruch in der Erforschung der biologischen und der sozialisationsbedingten Geschlechtsidentität, dabei waren die Resultate nicht nur geschönt, sondern tatsächlich erlogen.« »Beide Zwillinge hatten einen Knacks?« »Ja. Die Eltern der beiden waren bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Alkohol war im Spiel. Die Kinder sind in Pflegefamilien aufgewachsen. Das >Mädchen< hatte die Schule abgebrochen und jobbte in einer Kfz-Werkstatt und der Junge war religiös abgedriftet - Scientology, oder so.« »Gott, das hört sich schlimmer an als Charles Dickens.«
»Ja. Wenn man die Geschichte hört, dann kommt einem die eigene Kindheit vor wie das Paradies. Und meine war das bestimmt nicht - ich hatte eine massive Akne, von elf bis vierundzwanzig.« Ungewollt musste ich lachen. »Wer hat die Veröffentlichung verhindert?« »Die Chefredaktion. In den letzten Recherchegesprächen flog auf, dass die Fakten nicht stimmten. Die Frau, die als Junge geboren war, hat sich telefonisch über Elke Brenner beschwert. Die hatte versprochen, ihr den Artikel vor der Veröffentlichung zukommen zu lassen, damit sie die Fakten überprüfen könnte. Das hat Elke Brenner jedoch nie getan. Aus gutem Grund. Ein kritischer Blick hätte ihr die ganze Geschichte zerstört.« »Was ist aus den Zwillingen geworden?« »Das wüsste ich auch gern, aber ich glaube, die Frage kannst du beantworten. Es scheint ja einen Grund zu haben, dass du auf die Story gestoßen bist.« Mein Akku kündigte mit einem penetranten elektrischen Piep an, dass er in Kürze den Geist aufgeben würde. Ich dankte dem Himmel, dass das nicht schon passiert war, als ich auf dem Balkon vor Ronnys Suite gestanden hatte. »Nicolette - mein Handy seilt sich gerade ab. Tu mir einen Gefallen - schreib alles auf, und wenn du bis morgen Mittag nichts von mir gehört hast, dann mach es öffentlich.« »Aber mir fehlt doch noch die Verbindung zu deinem Fall!« Panik klang in ihrer Stimme - sie hatte Angst, dass ich meinen Teil der Vereinbarung nicht einhalten würde. »Die liefere ich nach, sobald ich sie entdecke.« »Kannst du mir nicht irgendwas sagen - einen kleinen Hinweis?« »So weit bin ich noch nicht.« Vom Tode Gerd Bartels konnte ich ihr nicht erzählen bis ich wusste, was Marco der Polizei erzählt hatte. »Lilly, bitte!« »Die Leichen von Johann und Ingo wurden noch nicht gefunden.« »Was?« »Nur ihre Schwänze sind aufgetaucht. Im Gegensatz zu Peter Hofmeier. Peter Hofmeiers Leiche war geschminkt wie eine Frau und ihm war nicht nur der Schwanz sondern auch die rechte Hand abgeschnitten worden.« Nicolette schluckte. »Na wenn das keine Verbindung ist. Die Schwestern Ich und Du ...«
Er wollte kleine Jungs in kleine Mädchen verwandeln, hatte der Serienmörder Miguel Rivera zu Protokoll gegeben. Wir hatten nicht ausgeschlossen, dass der Mörder ein Problem mit seiner latenten Homosexualität haben könnte. Jetzt schien es, als sei das Problem eher biologischer Natur. Der Mörder lebte im falschen Körper. Hany und Ronny mochten sich verdächtig verhalten haben, aber vom Tatverdacht konnte man sie jetzt wohl ausschließen. »Was willst du jetzt machen, Lilly? Gehst du zur Polizei?« »Nicht mehr heute Nacht. Ich stehe mitten auf der Straße und schlafe gleich im Stehen ein.« »Du bist nicht zu Hause?« Wieder fiepte das Handy, sodass ich es ein Stück vom Ohr weghalten musste. »Nein - das schien mir zu riskant. Ich erzähl dir morgen den Rest.« »Wo bist du denn jetzt, um Gottes willen. Es ist fast drei Uhr morgens!« »Auf dem Weg zu Rita. Ich will heute Nacht nicht allein sein.« Mit einem finalen Piep gab mein Handy den Geschäftsbetrieb auf und ich stand wieder verloren und allein auf der dunklen Straße. Am liebsten hätte ich mich hingesetzt, an Mikey gekuschelt und die Augen zugemacht. Aber das war keine gute Idee. Also setzte ich mich in Bewegung. Dank Nicolette hatte ich jetzt zwar das Motiv des Mörders geklärt, aber ich konnte es nicht mit einer Frau in meiner Umgebung in Verbindung bringen. Vielleicht wollte ich es auch nicht. Mein Gehirn weigerte sich, die logischen Konsequenzen zu ziehen. Alle Frauen, mit denen ich in den letzten Tagen zu tun hatte, zogen wie eine mentale Verbrecherkartei an meinem inneren Auge vorbei, und bei jeder einzelnen verwarf ich den Gedanken, dass sie für die bestialischen Morde verantwortlich sein könnte. Es war jenseits meines Vorstellungsvermögens. Anni, Rita, Dana, Simone, Pamela. Absurd. Anni und Rita konnten es nicht gewesen sein, da Anni nicht in Berlin war, als Elke Brenner ermordet wurde und Rita hatte neben mir gestanden. Meine drei Schauspielerinnen konnte ich mir beim besten Willen nicht als ehemaligen Jungen vorstellen - mochte Danas Stimme auch noch so tief sein. Ich schob die Gedanken weg und konzentrierte mich auf den Weg. Der Wind hatte zugenommen, es war noch dunkler geworden, Wolken hatten sich vor den Mond geschoben und ein Unwetter lag in der Luft. Mikey trottete vor mir her und sein helles Fell war in der Finsternis der einzige Lichtblick. Irgendwo gab es einen Denkfehler in meinem Konstrukt und ich zermarterte mir das Hirn auf der Suche danach. Wenn ich die Frauen in meiner Umgebung ausschloss wer käme noch in Frage? Wieder fiel mir nur eine absurde Lösung ein. Wenn die Mörderin sich in ihrer auferlegten Frauenrolle so unwohl fühlte, bestand die Möglichkeit, dass sie ein Leben als Mann führte? Für so einen Film hatte es in diesem Jahr den Oscar für die beste weibliche Hauptrolle gegeben. Ganz so weit hergeholt
war der Gedanke also nicht. Aber wieder war es unvorstellbar, dass die Männer in meiner Umgebung ein derartiges Täuschungsspiel erfolgreich durchhielten. Meine Darsteller kannte ich nackt und sie waren ganz offensichtlich und eindeutig männlichen Geschlechts. Harry und Marco hatten die Polizeischule absolviert - wie hätten sie in Gemeinschaftsduschen die Tatsache verbergen sollen, dass sie, wenn auch keine biologische, so doch immerhin eine operative Frau waren? Der Vize-Mister Niedersachsen in Wahrheit eine Miss? Unmöglich. Ich stolperte fast über Mikey, der an einer Gartenmauer sein Bein hob, so sehr war ich in Gedanken versunken. Endlich waren wir vor Ritas Haus angekommen. In der Einfahrt stand unser Firmen Pick-up-Truck, den wir ihr geliehen hatten, um darin Dekos für die Produktion ins Krumme Haus zu befördern. Die Ladefläche war voller Kartons und Plastikfolien. Die hölzernen Fensterläden des Hauses waren verschlossen. Ich ging über die Einfahrt zum Haus. Gerade als ich auf der Schwelle angekommen war und den Finger auf die Klingel legen wollte, wurde links von mir in der Küche Licht gemacht. Ein paar dünne Linien zeichneten sich durch die Lamellen der Läden ab und durchdrangen die Dunkelheit. Ich zögerte und meine Hand verharrte wenige Zentimeter von der Türklingel. Die Nachbarschaft war so still, dass ich aus dem Haus Geräusche hören konnte. Etwas Schweres wurde über die Fliesen der Küche gezerrt - das Schleifen und das Anstoßen an den Küchenmöbeln war deutlich zu hören. Was um alles in der Welt machte Rita um diese Uhrzeit arrangierte sie ihre Möbel um? Ich trat erschreckt einen Schritt zurück, als es hinter dem Glas in der Eingangstür plötzlich hell wurde. Ohne nachzudenken stieg ich die Treppe wieder herab, zog Mikey mit mir und kauerte mich hinter den Wagen. Das Licht im Hausflur erlosch wieder, doch Sekunden später öffnete sich die Tür und schemenhaft konnte ich erkennen, wie Rita herausspähte. In der Ferne grummelte der erste Donnerschlag dieser Nacht und ein Regentropfen von der Größe eines Taubeneis klatschte mir in den Nacken. Als der dazugehörige Blitz über den Himmel zuckte und die Nacht in ein grelles Licht tauchte, stand Rita wieder in der Tür, mit dem Rücken zur Treppe und in leicht gebückter Haltung. Sie zog etwas auf den Hausstein, und die zwei Sekunden Helligkeit durch den Blitz waren genug gewesen um zu ahnen, worum es sich dabei handelte. Das Paket hatte nicht nur die Größe eines ausgewachsenen Menschen, sondern auch dessen Silhouette. Ich hätte versuchen können unentdeckt zu entkommen - mich vorsichtig auf die Straße zu schlagen und dort hinter einer Gartenmauer oder einer Hecke zu verstecken. Aber es ging nicht. Ich kauerte hinter dem Wagen und konnte mich nicht bewegen. Starrte wie gebannt auf die schemenhafte Figur, die unter Keuchen und Ächzen etwas über den Gartenweg zerrte, das mehr wog als sie selbst, während überdimensionierte Regentropfen niedergingen - erst nur wenige, in längeren Abständen, dann, als habe sich eine Schleuse geöffnet, ein Sturzbach, der lärmend auf die schlafende schwitzende Stadt herabprasselte, sodass der Asphalt zu dampfen begann. Ein weiterer Donnerschlag, heftig und laut, riss mich aus meiner Starre. Rita hatte den halben Weg zum Wagen zurückgelegt - sie kehrte mir immer noch den Rücken zu. Mikey stand neben mir im Regen und wackelte freudig mit dem Hintern. Es war zu spät, die Flucht zu ergreifen - mir blieb nur eins: mich unter den
Plastiktüten und Pappkartons, die auf der Ladefläche des Wagens lagen, zu verstecken. Die hintere Klappe des Tracks war offen, sodass Mikey problemlos aufspringen konnte. Mit einem Seitenblick auf Rita kroch ich auf die Ladefläche und versuchte so vorsichtig wie möglich unter Pappe und Folie zu verschwinden, ohne dabei das Packmaterial zu sehr in Bewegung zu versetzen. Trotz des kühlenden Regens schwitzte ich. Während ich kopfüber unter dem Schrott und Krempel verschwand und Mikey vor mir herschob, verlor ich Rita aus dem Blickfeld. Ich robbte mich so weit vor, bis ich mit den Händen die Fahrerkabine erfühlen konnte und zog mich dann weiter, bis ich parallel dazu an der Wand lag. Mikey hielt ich mit beiden Armen umschlungen und hoffte und betete, dass er Ruhe geben und sich nicht bewegen würde. Der Regen lief in Rinnsalen in unser Versteck und der Grund, auf dem wir lagen, war schon nass, als mit einem dumpfen Geräusch das Gewicht, das Rita durch den Vorgarten geschleppt hatte, auf den Wagen gehievt wurde. Trotz des Stakkato der trommelnden Regentropfen konnte ich sie schwer atmen hören. Hatte sie mich gesehen? Ich spürte mein Herz rasen. Ich kniff die Augen zu und zählte die Sekunden - eins zwei - drei - vier - fünf - sie zogen sich endlos - bis ich hören konnte, wie Rita die Ladeklappe hochschlug und um den Wagen herum zur Fahrertür ging. Erst als der Wagen sich in Fahrt setzte, öffnete ich die Augen. Eine Sturmbö riss an der Folie, die mich bedeckte. Gerade noch rechtzeitig bekam ich sie zu packen und hielt sie fest. Ein weiterer Blitz zuckte und durch einen Spalt sah ich einen Pappkarton mit dem Lilly-DeLight-Firmenemblem durch die Luft fliegen. Mir fiel ein Bild aus einem Kinderfilm ein - ein Haus, das von einem Tornado durch die Luft getragen wird und in einem Märchenland zu Boden kommt - und dabei eine Hexe erschlägt, von der dann nur noch zwei Füße, gekleidet in rote Glitzerpumps, unter dem Haus rausschauen. Unwillkürlich zog ich meine Beine an und stopfte die Folie fest, an der der Wind riss und zerrte. Ein Regentropfen fiel mir ins Auge, und ich musste mehrmals blinzeln, bis ich wieder sehen konnte. Meine Finger begannen zu schmerzen, so fest hielt ich die Folie, die mich und den Hund bedeckte. Der Wagen begann zu rumpeln -wir rasten mit einem irrsinnigen Tempo über eine unbefestigte Straße. Mikey versuchte sich hochzurappeln, um den Stößen besser ausweichen zu können, doch ich hielt ihn an mich gepresst und wir wurden schmerzhaft durchgeschüttelt. Der Wind riss mehr und mehr an unserem Versteck, und ich konnte hören, wie er in die Kartons fuhr und sie aufstieben ließ wie Papierdrachen. Ich betete - und wusste nicht zu wem - dass er die Ladefläche nicht vollständig abdecken würde. Ich bekam zwei größere Schachteln zu fassen und ließ sie nicht los, um sie über mich zu legen, sobald der Wagen Halt machte. Sie waren schwerer als die anderen und offenbar nicht leer. Ein Donnerschlag und ein Blitz, der keine zwei Sekunden später aufflackerte wir fuhren mitten in das Unwetter hinein. Die Aufschrift auf einem der Kartons wurde erkennbar. Ich sah das Adressfeld, den Namen Hofmeier und die Absenderadresse einer Pharmafirma. Ein Schlagloch - wir flogen ein paar Zentimeter in die Höhe und schlugen dann hart wieder auf, mein ganzer Körper schmerzte und der Hund jaulte kurz auf. Ob sie das bei diesem Lärm hören konnte? Bitte, bitte nicht! Eine Schachtel war beim Aufschlag aufgesprungen und Packungen mit Medikamenten wirbelten heraus.
»L-Polamivet für Tiere: Pferde, Hunde« stand darauf. Ich hatte keine Ahnung, wofür man es verwenden mochte, aber ich steckte eine Schachtel ein. Dann, zeitgleich, ein Quietschen der Bremsen, ein schweres Gewicht, das sich beim Aufprall gegen uns schob und gegen die Fahrerkabine drückte und ein Rumpeln - der Wagen setzte über einen Gegenstand, der auf der Straße lag, kam ins Schlingern, dann hatte Rita wieder Kontrolle über ihn, schaltete einen Gang herunter und fuhr weiter. Vorsichtig begann ich, das Gewicht von mir wegzuschieben. Als meine Hände ertasteten, was sich unter der Folie verbarg, begann ich am ganzen Körper zu zittern. Ich weiß nicht, warum der Schock so groß war - ich hatte längst geahnt, was Rita durch den Garten geschleift hatte - aber den menschlichen Körper mit den eigenen Händen zu berühren, zu spüren, dass er noch warm war, das war zu viel für mich. Es gelang mir noch, ihn außer Reichweite zu schieben, dann presste ich mich so nah wie möglich an die Rückwand der Fahrerkabine und wünschte, ich würde mit dem Metall verschmelzen. Ich weiß nicht wie viel Zeit verging, bis der Wagen zum Halten kam. Es hätten Minuten sein können oder eine halbe Stunde - in diesem Albtraum verlor ich völlig das Zeitgefühl. Als Rita die Ladeklappe öffnete, hielt ich den Atem an. Mikey begriff instinktiv, dass er Ruhe bewahren musste und blieb geduldig neben mir liegen. Für eine Sekunde hob sich die Folie, die mein Gesicht bedeckte, einen Spalt und ich konnte Rita sehen, die mit zusammengekniffenen Lippen und gerunzelter Stirn an der Person zerrte, die wie ein Stück Schlachtvieh neben mir gelegen hatte. Sie zog sie an den Rand der Ladefläche und ließ sie dann auf den Boden fallen. Schwer atmend transportierte sie sie ab. Wohin, das wusste ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Ich wagte nicht, mich zu rühren, und begann, langsam und stumm von eins bis sechzig zu zählen. Erst nachdem ich das zehnmal getan hatte, hob ich die Folie ein Stück weit an, um zu sehen, wo wir uns befanden. Zunächst war ich völlig orientierungslos - wir waren im Wald, soviel war klar. Die Bäume schluckten auch noch den letzten Rest Mondlicht, das durch die Gewitterwolken drang. Erst ein weiterer Blitz erleuchtete das Dunkel: wir befanden uns auf dem Parkplatz, von dem der Waldweg zum Krummen Haus abging. Wie lange würde Rita brauchen, bis sie dort war? Normalerweise war es eine Strecke von zehn Minuten, aber mit einem so schweren Gewicht würde es mindestens doppelt so lange dauern. Der aufgeweichte Boden, Aste, die den Weg versperrten ... Was sollte ich tun - zurück in die Stadt laufen, um Hilfe zu holen? Der Körper war noch warm gewesen. Vielleicht lebte der Mensch im Plastiksack noch, dann wäre es fahrlässig, in die Stadt zurückzukehren. Mir schlug das Herz bis zum Hals und ich war nass bis auf die Haut. Hatte ich gegen eine Verrückte überhaupt eine Chance? Und wenn ich dabei umkäme, hätte keiner was davon. Andererseits ging es wahrscheinlich um Minuten. Wer auch immer in dem Sack steckte, brauchte sofort Hilfe. Und dann war da noch die verdammte Neugier. Sie siegte. Die Entscheidung fiel mir wirklich nicht leicht, und ich dachte laufend ans Umkehren, aber schließlich machte ich mich doch auf den Weg, den auch Rita gegangen war.
Kapitel 19 Sie hatte deutliche Spuren hinterlassen. Es waren Furchen im aufgeweichten Boden zurückgeblieben, in denen sich jetzt das Wasser sammelte. Selbst ohne eine schwere Last war es schwierig, auf dem Weg zu laufen - der morastige Boden saugte förmlich an meinen Schuhen. Nach etwa hundert Metern sahen die Spuren auf einmal anders aus. Es gab keine Furchen mehr, dafür waren die Abdrücke von Ritas Schuhen tiefer und breiter. Ich spürte es, bevor ich es im Licht eines Blitzes sah - ich war in eine ihrer Fußstapfen getreten, gestolpert und fast gefallen und hatte mir das Fußgelenk verstaucht - ausgerechnet der Fuß, den ich mir schon bei der Flucht aus dem Park verletzt hatte. Jeder weitere Schritt war eine Tortur. Obwohl sie nur einen kurzen Vorsprung hatte, holte ich Rita nicht ein. Ich fragte mich, wie sie ein solches Tempo zu Stande brachte — bei diesem Wetter und mit dieser schweren Last. Kurz bevor ich die Lichtung erreichte, verließ ich den Weg. Vom Haus aus hatte man sie immer gut im Blick - ich wollte es nicht riskieren, gesehen zu werden, also schlug ich mich durch die dornigen Büsche am rechten Wegrand, um so weit wie möglich an das Haus heranzukommen und dabei die Lichtung zu vermeiden. Als ich das Haus schließlich sah, entdeckte ich auch Rita wieder. Sie hatte die Person geschultert, ihr Gang war trotz des Gewichts stetig, und während ich mich langsam um die Lichtung herum durch den Wald schlug, schloss sie die Tür zum Krummen Haus auf und trat ein. Ich bleib stehen und wartete. Nichts tat sich im Haus. Sie machte kein Licht an, zog nicht einmal die Tür hinter sich zu. Vielleicht brauchte sie eine Verschnaufpause. Ich gönnte mir auch eine, um meinen schmerzenden Fuß zu schonen und die Lage zu sondieren. Von der östlichen Seite des Hauses zum Waldrand - der kürzesten Verbindung - war eine Strecke von hundert ' Metern zu überbrücken. Unter normalen Umständen wäre ich gesprintet, aber mit meinem schmerzenden Knöchel konnte ich das vergessen. Die Rückseite des Hauses schmiegte sich an den Waldrand, aber der Weg dorthin war durch ein Gatter versperrt. Klettern oder Rennen - es war wieder einmal in dieser Nacht die Wahl zwischen Pest und Cholera. Noch immer gab es im Haus kein Lebenszeichen. Wenn sie wenigstens das Licht angemacht hätte, sodass ich eine Vermutung gehabt hätte, in welchem Raum sie sich aufhielt - aber nichts. Ich beschloss, den Weg über die Lichtung zu nehmen. Gerade, als ich mich aus dem Gebüsch aufmachen wollte, zuckte ein greller Blitz auf und eine Sekunde später erklang ein Donnerschlag so laut, dass ich mir die Ohren zuhielt. Ich hörte ein gigantisches Krachen, und als ich mich umschaute, sah ich, wie eine Fichte aufloderte und wie in Zeitlupe auf den Weg stürzte, den ich vor wenigen Minuten beschriften hatte. So etwas sieht man in Filmen, man liest davon in Büchern - so etwas erlebt man nicht am eigenen Leib. Und wenn es dann geschieht, ist man sprachlos - es war ein Naturschauspiel - das Unwetter, die surrealen Farben durch die Blitze und jetzt das orangerote Flackern, das Wabern der Flammen, die den Baum auffraßen. Trotz des heftigen Regens dauerte es nicht lange, bis die Fichte vollständig in Brand war. Das Knacken und Knistern war über die ganze Lichtung hinweg zu hören. Wenn Rita im vorderen Bereich des Hauses war, dann würde sie
das Feuer wahrnehmen. Ich ergriff meine Chance und hoffte, dass der Brand sie ablenken und sie nicht in Richtung Osten schauen würde, wo ich in gebückter Haltung das schützende Unterholz verließ und auf das Haus zuhumpelte. Dort angekommen, lehnte ich mich mit dem Rücken an die Wand und verlagerte mein Gewicht auf mein heiles Bein. Der Knöchel schmerzte und ich spürte, wie es darin zu pochen begann. Nachdem der schlimmste Schmerz abgeklungen war, tätschelte ich Mikey, der den Ernst der Lage zu begreifen schien und merkte, dass es keine gute Zeit für ein Spiel war. Widerstrebend schaute ich durch das Fenster hinein in den Raum, den wir hauptsächlich als Set nutzten. Da wir die Fenster, die in nördlicher Richtung auf die Lichtung gingen, abgehangen hatten, konnte ich nichts sehen außer tiefstem Schwarz. Es war, als blickte ich in die Seele des Gemäuers. Von unserer Arbeit war keine Spur, und in diesem Augenblick hatte ich das Gefühl, dass ich auf einer Zeitreise war und sich in dem Dunkel nicht ein Filmset verbarg, sondern ein leeres, desolates Ausflugslokal, dessen Ruin den Pächter in den Selbstmord getrieben hatte. Ich bekam eine Gänsehaut, die sich verstärkte, als ich meinen kranken Fuß belastete, um ein Stück um das Haus herumzugehen. Die Vordertür war durch das Feuer beleuchtet - ich wagte es nicht, dorthin zu gehen. Also bahnte ich mir den Weg durch die struppigen Büsche und Sträucher, die früher vielleicht einmal eine bunte Blumenrabatte geschmückt hatten, jetzt jedoch nur gespenstisch und verwildert an der Hausseite wucherten. Dornen verhakten sich in meiner Jeans und ritzten mir die Arme. Mikey bewegte sich eng an der Hauswand, wo der Wildwuchs sich aufgrund der Lichtverhältnisse weniger stark hatte ausbreiten können. Er war schneller als ich und saß brav vor der Hintertür, als ich es endlich um die Ecke geschafft hatte und auf der Rückseite des Hauses angekommen war. Ein Lichtschein fiel aus der Küche in den ehemaligen Terrassengarten, von dem innerhalb der vergangenen Jahrzehnte der Wald Besitz ergriffen hatte. Noch ein paar Jahre mehr, und es würde keinerlei Spur mehr übrig sein von dem aufgeschütteten Kies und den Schiefersteinen, die um die Wege herum aufgeschichtet worden waren und jetzt langsam vom Erdböden zugedeckt wurden. Ich duckte mich, während ich an den Fenstern vorbeiging, und hoffte, dass jemand die Tür geölt hatte, die am ersten Drehtag so laut gequietscht hatte, dass wir eine Szene zweimal abbrechen mussten. Auf mein Team war Verlass - die Tür öffnete sich lautlos, und ich betrat den dunklen Flur. Im Haus herrschte Stille. Das Peitschen des Windes und das Aufschlagen der Regentropfen waren die einzigen Geräusche. Normalerweise beruhigte mich der Klang eines Unwetters, allerdings nur, wenn ich teetrinkend mit einem guten Buch auf meiner Couch lag und meine schützenden vier Wänden mich umgaben. Hier jedoch kam es mir vor wie der Soundtrack eines alten Horrorfilms. Wenn ich je eine Vorliebe für dieses Genre hatte, dann schwand sie in dieser Nacht, als ich mich in einem wiederfand. Mikeys Pfoten schienen sich auf dem steinernen Fußboden in lärmende Pferdehufe verwandelt zu haben. So leise, wie ich nur konnte, tastete ich mich den Gang entlang und überlegte fieberhaft, ob das Telefon in der Küche der einzige Festnetzanschluss war, den wir für die Dreharbeiten reaktiviert hatten. Ich verfluchte mein Handy und das Mobiltelefon an sich - immer wenn man es brauchte, war der Akku leer, immer wenn man es nicht gebrauchen konnte, klingelte es. Dann fiel mir ein, dass das
Küchentelefon tragbar war. Die Basisstation war an die Wand neben der Gefriertruhe montiert, aber das Telefon tauchte ständig irgendwo anders auf. Während ich mich an der Tür zur Küche vorbeidriickte, überlegte ich fieberhaft, wie ich mich im Dunkeln auf dem Set zurechtfinden - und darüber hinaus auch noch ein Telefon von der Größe einer Zigarettenschachtel ausfindig machen sollte. Dies war nun mal meine einzige Hoffnung. Eine schwache Hoffnung, aber nichtsdestotrotz eine Hoffnung. Die Tür zum Set stand offen und Mikey, dem die Dunkelheit weniger Probleme machte als mir, ging voran. Ich tastete mich gerade zur Fensterseite des Raumes vor, als die Sache mit dem Telefon sich von selbst erledigte. Ein schrilles Fiepen ließ mich wie angewurzelt stehen bleiben, und hektisch schaute ich mich um. Ein kleines rotes Licht blinkte auf. Das Haustelefon lag neben der Steadycam und kündigte an, dass es zurück zur Basisstation wollte. Konnte man das Geräusch bis in die Küche hören? Ich machte einen Schritt auf das blinkende Licht zu und stieß dabei gegen ein Kamerastativ, das laut scheppernd umfiel und gegen meinen lädierten Knöchel knallte. Ich hielt die Luft an, unterdrückte einen Schmerzensschrei und sondierte panisch den Raum nach einem möglichen Versteck für Mikey und mich. Doch es blieb ruhig. Wenn Rita etwas gehört hatte, dann brachte es sie nicht aus der Ruhe. Wieder fiepte das Telefon und in dem Moment, als ich meine Hand danach ausstreckte, begann es zu klingeln. Vor Schreck machte ich einen Schritt rückwärts, strauchelte und wäre beinahe hingefallen. Als ich mich wieder gefangen hatte, riss das Klingeln abrupt ab und aus der Küche kamen Geräusche: Fluchen, Scheppern, zersplitterndes Glas. Rita hatte die Kabel aus der Wand gerissen und die Basisstation durch das geschlossene Fenster geschmettert. Meine letzte Chance auf Hilfe von außen war dahin. Ich stand mitten im Raum, als die Küchentür sich öffnete und sie auf den Flur trat. Das wenige Licht, das aus der offenen Tür in den Flur fiel, reichte aus, mich zu blenden, so sehr hatten sich meine Augen an die Finsternis gewöhnt. Ich duckte mich hinter die Kamera und die Weichspülfahrstuhlmusik aus dem Hotel fing an in meinem Kopf zu spielen - »Hello darkness my old friend ...« In dieser Lage war die Dunkelheit tatsächlich meine Rettung. Wenn das Licht mich blendete, dann würde Rita umgekehrt Schwierigkeiten haben, sich in der Dunkelheit zu orientieren. Ich sah, wie ihre Silhouette sich in Richtung der Treppe bewegte, die in die oberen Stockwerke führte. Aber sie ging nicht nach oben. Sie schob eine Tür auf, die mir noch nie vorher aufgefallen war, und erst als ich einen kalten Luftzug verspürte und modriger Geruch mir in die Nase stieg, wurde mir bewusst, dass das Krumme Haus unterkellert war. Langsam bewegte ich mich zurück in den Flur, während ich auf die Geräusche achtete, die dumpf wie ein Echo aus dem Keller drangen. Sie entfernten sich, ich hörte eine schwere Tür in den Angeln kreischen und zuschlagen. Ich überprüfte die Tür, die mir wochenlang nicht aufgefallen war. Eine Tapetentür mit genau der gleichen Holztäfelung wie die restliche Wand. Sie hatte nicht einmal einen Griff- und leider auch kein Schloss. Und sie öffnete sich nach innen - ich hätte sie nicht zustellen können. Dann drehte ich mich um. Das Licht aus der Küche zog mich magisch an. Wie in Trance ging ich darauf zu, ahnend, das ich etwas sehen würde, was ich nicht sehen wollte. Aber nicht ahnend, dass der Anblick, der mir bevorstand, mich derart an den Rand einer Ohnmacht bringen würde, wie nie zuvor in meinem Leben.
Seine Füße waren noch voller Sand, als er die Treppe zum Steg hinaufstieg. Die Sonne brannte ihm in den Nacken, und das erste Mal seit Wochen fühlte er sich frei und entspannt. Er hatte so etwas noch nie getan - Zeit seines Lebens war er der Fels in der Brandung gewesen, absolut verlässlich, ausgeglichen und kopfgesteuert. Als Greta Giehse ihm die Fotos von Lilly und Ronny Sanchez vorgelegt hatte, war er aufgesprungen, als läge eine giftige Schlange vor ihm auf dem Bistrotisch des Flughafenrestaurants. Er konnte Greta nicht ausstehen - schon aus Solidarität zu Lilly, aber was sie ihm da präsentiert hatte, waren eindeutige Beweise von Lillys Untreue. Das Zimmer, in dem die beiden sich aufhielten sah nach einem billigen Motel aus. Sanchez stand hinter Lilly und streifte ihr ein nuttig aussehendes Nachthemd von den Schultern. Im nächsten Bild stand sie schon nackt da, das Nachthemd lag zerknüllt auf dem Teppichboden und Sanchez spielte mit ihren Brüsten. Greta Giehse hatte zu ihm aufgeschaut, den braunen DIN-A 4Umschlag in der Hand, und ihn angelächelt. »Ich hob noch mehr wollen Sie mal sehen?« Ihre Cognacfahne wehte ihm ins. Gesicht. Noch nie zuvor in seinem Leben hatte er den Impuls verspürt, eine Frau zu schlagen, jetzt aber war es so weit, und es kostete ihn eine fast unmenschliche Anstrengung, den Impuls zu unterdrücken. Er nahm ihr den Umschlag aus der Hand. Als er nach seiner Aktentasche griff, stieß er gegen den wackligen Tisch, die Kaffeebecher und der Cognacschwenker fielen um, rollten klackernd über den Tisch. Der Cognakschwenker zerbrach, und die braune Flüssigkeit ergoss sich über die Marmorfläche auf Greta Giehses weißes Lederkostüm. Ohne eine Entschuldigung und ohne einen Blick zurück verließ Max das Restaurant und ging zum nächsten Counter. Er dachte nicht nach, er handelte. Es waren noch Plätze frei. Er zahlte bar. Eine Stunde später war er in Frankfurt, wo er eine Maschine nach Puerto Vallarta über Mexico City bestieg. Er war noch nie in Mexiko gewesen, aber das war nicht entscheidend für seine Wahl. Er hatte die Anzeige »now boarding« gesehen und am Counter war nicht viel los, also stellte er sich an und hatte Glück - die Maschine war nicht ausgebucht. Er war müde, aber er konnte nicht schlafen. Fünfzehn Flugstunden lang sah er vor seinem inneren Auge die Fotos. Kurz nach Mitternacht Ortszeit setzte er sich in Puerto Valerta in einen Bus und wachte erst Stunden später wieder auf. Die Sonne stand schon hoch, es musste Mittag sein. Die Landschaft war karg, jenseits der Küstenstraße funkelte der Pazifik. Der nächste Halt war in einem kleinen Fischerdorf. In einer buntgestrichenen Holzbaracke am Strand nahm er das erste Mal seit zwanzig Stunden Nahrung zu sich und blickte auf das Meer hinaus. Als er die heruntergekommene Segelyacht mietete, wusste er noch nicht, ob er sie je wieder an Land steuern würde, aber nach drei Tagen auf dem Wasser in der brennenden Sonne hatte er sich wieder unter Kontrolle. Oder vielleicht auch nicht. Er hatte viel nachgedacht und war zu dem Schluss gekommen, dass Kontrolle etwas war, was im Übermaß sein Leben regierte. Abhauen und Abtauchen - das Leben an sich vorbeirauschen zu lassen, hatte ihm ein unbeschreibliches Gefühl gegeben: er hatte Mut verspürt, Freiheit. Seit ihrer Hochzeit war dies die längste Zeit, die Max und Lilly getrennt verbracht hatten, und wenn er am ersten Tag auf dem Meer nichts als Wut und Enttäuschung über ihr Verhalten verspürt hatte, so war er am zweiten Tag
gleichmütiger. Die Routinen, die ihm das Boot abverlangte, die Konzentration auf das Meer - er erlebte das Leben auf seine elementarste Art und Weise. Allein im Nirgendwo, wo die Gesetze von Sonne und Wasser regierten und der Kleinstadtalltag plötzlich wie eine absurde Utopie erschien. Max war kein Mann, der sich über Gefühle Gedanken machte. Wenn er Eifersucht verspürte, dann glaubte er, das sei sein gutes Recht. Wenn er mit Lilly stritt, dann fühlte er seinen Standpunkt nur bestätigt. Hier, auf dem Boot, drängte ihn niemand in die Ecke, keiner forderte ihn auf, sich zu äußern, sich zu verteidigen oder jemanden zu beschuldigen. Und ohne das Gegenüber stellte er fest, dass seine Weigerung, Lillys Standpunkt zu akzeptieren, ihr auch nur zuzuhören eine ziemlich kindische Möglichkeit war, den Realitäten aus dem Weg zu gehen, anstatt sich mit den Gegebenheiten auseinander zu setzen und die Probleme, die sie in ihrer Ehe hatten, anzugehen. Selbst seine Flucht nach Mexiko zeugte von Unreife. Dennoch - sie hatte einiges bewirkt: er hatte begriffen, dass es seine Eifersucht war, die die Liebe bedrohte. Mit dieser Eifersucht hatte er Lilly so lange bedrängt, bis sie meinte ausbrechen zu müssen, und da erschien plötzlich Ronny auf der Bildfläche. Das, was Max immer befürchtet hatte, dass Lilly ihm nicht allein gehörte, war wahr geworden. Erst jetzt begriff er, dass es schon immer wahr gewesen war. Lilly gehörte niemandem. Nicht ihm, nicht Ronny, nicht der Öffentlichkeit. Sie war so frei wie er es jetzt war. Das schlimmste Szenario war eingetreten - sie hatte ihn betrogen und plötzlich wurde ihm klar, dass es viel schlimmere Dinge gab. Seine Gefühle für sie hatten sich nicht geändert. Er liebte sie immer noch. Er würde sich diese Liebe von nichts und niemandem zerstören lassen - und schon gar nicht von sich selbst. Braungebrannt und mit einem Dreitagebart saß er in der Holzbaracke, in der er bei seiner Ankunft gegessen hatte und holte den Umschlag aus der Aktentasche. Erst jetzt konnte er sich den Bildern wieder stellen und erst jetzt schaute er sie sich genau an. Erst wurde er bleich, dann stieg ihm die Schamesröte ins Gesicht. Die brisanten Fotos, die Greta Giehse ihm so dringend vorlegen wollte, mussten mehrere Jahre alt sein, denn sie zeigten keine Spur von der Narbe, die Lillys Blinddarmoperation vor zwei Jahren zurückgelassen hatte. Das zweite Mal innerhalb von drei Tagen brachte Max Winter einen Tisch fast zum Umstürzen, als er sich erhob und versuchte, in dem Hundert-Seelen-Dorf ein Telefon ausfindig zu machen. Ich zog die Küchentür hinter mir zu und lehnte sie an. Ich wagte nicht, sie ins Schloss zu ziehen, aus Angst ein Geräusch zu verursachen, das bis in den Keller drang. Mein Blick fiel zunächst auf die Küchenzeile und auf das eingeschlagene Fenster, durch das Regentropfen hereinprasselten, die auf dem Schleifsteinfußboden eine Pfütze gebildet hatten. Eine einzelne Neonröhre warf kaltes bläuliches Licht in den großen Raum und surrte, als ob sie gleich durchbrennen würde.
Mikey stand neben mir in Habtachtstellung, seine Nackenhaare waren gesträubt, aber er verhielt sich ruhig. Ich bewegte mich leise an der Wand entlang, auf den Essbereich zu, der um die Ecke lag. Ein warmer Lichtkegel leuchtete aus dieser Richtung. Obwohl ich wusste, dass Rita nicht im Zimmer war, bewegte ich mich so leise und vorsichtig wie ein Dieb. Als lauere jemand in den Schatten, bereit, mich zu attackieren. Als ich weit genug gegangen war, spähte ich um die Ecke und unterdrückte einen Schrei. Auf dem Esstisch lag Rita - nackt, regungslos, an Armen und Fußknöcheln mit Lederriemen an den Tisch geschnallt. Doch etwas stimmte nicht, konnte nicht stimmen - ich hatte Rita selbst in den Keller gehen sehen. Durch das Fenster blies ein kühler Windzug herein, ließ mich frösteln und ich erwachte aus der Schockstarre. Ich ging auf den Tisch zu. Rechts und links daneben, auf Höhe von Ritas Kopf standen zwei große Kandelaber mit jeweils sieben Kerzen - sie gehörten zur Deko des »Hexen«-Sets. Ich schritt weiter auf den Tisch zu und sah, dass zwischen Ritas Beinen eine blutdurchtränkte Binde klebte. Ein metallischer Geruch lag in der Luft. Die Lichter der Kerzen flackerten im Luftzug und warfen Reflexe auf den leblosen Körper. Ich war abgestoßen von dem Anblick, der sich mir bot, aber gleichzeitig zog mich etwas wie ein Magnet immer näher an den Tisch. Obwohl ich wusste, dass es nicht Rita war, nicht sein konnte, die dort aufgebahrt lag, wollte mein Verstand es nicht akzeptieren. Eine Algebraaufgabe, von der man weiß, dass sie lösbar ist, aber nicht von einem selber, ein Trick, den einem das eigene Gehirn spielt. Der Körper war der eines Mannes und doch war die Ähnlichkeit beängstigend. Statur, Gesichtsschnitt, selbst die kurzen Haare glichen denen Ritas. Vor mir lag Ritas Zwilling, hergerichtet wie sie selbst, verstümmelt wie die Opfer der Mordserie. Das dick aufgetragene Make-up konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Mann Blut verloren hatte - viel Blut, und zwar erst vor kurzem, denn der Körper lag in einer im Kerzenlicht schwarzfunkelnden Lache. Vom Hals ab war er aschfahl. Wenn dies der Körper war, den sie im Wagen hierhergebracht hatte, dann hatte sie die Verstümmelung erst hier im Haus vorgenommen. Ich konnte nicht erkennen, ob sich sein Brustkorb hob und senkte - ob er noch am Leben war oder schon tot. Sein Mund war mit einem schwarzen Streifen Gaffer-Tape zugeklebt. Die Augen waren geschlossen. Während ich wie gelähmt vor dem Tisch stand, spürte ich, wie Mikey an meinen Beinen vorbeischlich und anfangen wollte, das Blut vom Boden zu lecken. Ich rief ihn zurück und erschreckte mich über die Lautstärke meiner eigenen Stimme. Ich sandte ein Stoßgebet - und wusste wieder nicht an wen. Was sich mir hier präsentierte, schien die Möglichkeit auszuschließen, dass es einen Gott gab. Plötzlich kam ein enormer Windzug auf, brachte einen Schwall Regen in den Raum und blies die Kerzen aus. »Da bist du ja endlich«, sagte Rita und schloss die Küchentür hinter sich. Der Windstoß verebbte. »Du hast ziemlich lange gebraucht.« Mikey rannte freudig auf sie zu, sie trat einen Schritt zurück zur Tür, öffnete sie und mit einer eleganten Bewegung hatte sie den Hund, der sie begrüßen wollte, auf den Flur gesperrt. Mit einem Mal wusste ich, wie es sich anfühlt, wenn einem das Blut in den Adern gefriert. Sie hatte die ganze Zeit gewusst, dass ich mich auf der Ladefläche versteckt
hatte. Unwillkürlich wich ich vor Rita zurück und prallte hart mit dem Oberschenkel gegen den Tisch. »Vorsichtig, wir wollen die Kleine doch nicht aufwecken!« Ein kurzer Blick auf Ritas Zwilling zeigte, dass mit seinem Aufwachen nicht zu rechnen wäre. Jetzt nicht und wahrscheinlich nie wieder. »Rita, was ist mit dir los? Was soll das Ganze? Der Mann braucht einen Arzt.« »Das ist kein Junge, das ist ein Mädchen.« Sie sprach mit mir wie ein Kind mit einem Erwachsenen, der seines Erachtens etwas schwer von Begriff ist. »Bitte. Wenn er noch nicht tot ist, dann verblutet er hier. Das kannst du nicht wollen. Er ist doch dein Bruder.« »Jetzt nicht mehr. Jetzt ist er die Schwester.« Sie lächelte mich freudig an und machte einen Schritt auf mich zu. Ich trat hinter den Tisch und schaute mich verzweifelt nach etwas um, womit ich mich verteidigen könnte. »Du hast doch keine Angst vor mir, Lilly?« Auf ihrer Stirn lagen Sorgenfalten. In dem kalten Licht wirkte sie zehn Jahre älter. »Doch, Rita, du machst mir Angst. Bleib stehen wo du bist.« Ich hatte keine Ahnung was ich sagte, wollte nur eines - Zeit schinden und eine Möglichkeit finden, heil aus der Situation herauszukommen. »Wie kannst du so etwas tun? Wir hätten über alles reden können. Wir hätten eine Lösung für dich gefunden.« »Ich habe doch die Lösung.« Die Logik eines Kindes. Sie stand mir gegenüber, zwischen uns der Tisch, auf dem sie ihr kindliches Trauma inszeniert hatte. In der Tat - sie hatte eine Lösung gefunden, mit ihrem Schicksal umzugehen. Eine unorthodoxe, kranke, kriminelle Lösung, aber eine, die für sie funktionierte. Die Puppenspiele, die Verstümmelung - Ritas Therapieverlauf hatte »Fortschritte« gemacht - sie arbeitete am lebenden Objekt. Dr. Vogel hätte stolz auf sich sein können. Sie blickte an sich herab, und ich nutzte den Moment, die Schachtel mit dem Betäubungsmittel aus meiner Hosentasche zu zerren und hinter meinem Rücken die Verpackung zu öffnen und den Inhalt zu ertasten - eine gläserne Ampulle. Rita machte sich am Reißverschluss ihrer Hose zu schaffen. »Schau her!«, sagte sie und zog die Hose herunter. Ihre Unterhose war blutbeschmiert. Rita griff stolz die Wölbung, die sich hinter dem Stoff abzeichnete. 315»Ich hab ihn wieder!« Sie strahlte mich an. »Endlich der Richtige. Und du bist auch da. Grad wo mir die Puppen ausgegangen sind!« In meinem Kopf begann sich alles zu drehen, und für eine Sekunde wurde mir schwarz vor Augen.
»Guck doch mal!« Sie hatte die Unterhose heruntergestreift und hielt mit der rechten Hand den schlaffen blutigen Penis ihres Bruders gegen ihr Schambein. Ich handelte impulsiv - griff die Tischplatte, stemmte mich mit aller Macht dagegen und stürzte den Tisch um. Rita schrie schrill auf, als ihr Bruder auf sie fiel und sie unter dem schlaffen Gewicht zu Boden ging. Ohne einen Blick zurück stürzte ich aus dem Zimmer, knallte die Tür hinter mir zu und brüllte »Mikey«. Anstatt herbeizueilen, reagierte er mit einem Bellen. Das Bellen kam aus dem Keller. Ich fluchte, rief ihn noch einmal, aber wieder kam von ihm nur ein Bellen. Diesmal verfluchte ich mich selbst und meinen Hund - ich konnte ihn hier nicht zurücklassen, also nahm ich zwei Stufen auf einmal die Kellertreppen herab, die Schmerzen ignorierend, die mein verstauchter Fuß bei jedem Auftreten verursachte, atmete die modrige Luft ein, in der noch ein anderer unverwechselbarer Geruch hing, und rannte einen düsteren Flur entlang. Mikey hörte nicht auf zu bellen. Ich folgte dem Geräusch und fand mich in einem fensterlosen Raum wieder, in dem nur eine einzelne nackte Glühbirne brannte. Mikey hockte vor drei Feldbetten, die mitten im Zimmer standen, und eilte auf mich zu, als ich eintrat. Eines der Betten war leer, in den beiden anderen lagen Ingo Jensen und Johann Werner. Wie Ritas Bruder waren sie bizarr geschminkt und lagen nackt und an Fuß- und Handgelenken ans Bett gefesselt regungslos da. Johanns Körper war blau angelaufen, sein Kopf lag auf der Seite, der Mund war geöffnet. Die Sekunden, die ich dort stand und die beiden Männer betrachtete, zogen sich wie eine Stunde - ich war wie gelähmt, fassungslos, eine Marionette, deren Fäden man gekappt hatte. Als durch den Körper Ingos ein Zittern ging und sein rechter Arm hochschnellte, hörte ich einen ohrenbetäubenden Schrei. Und stellte fest, dass er aus meinem eigenen Mund kam. Ich taumelte vorwärts, auf sein Bett zu und sah, wie er versuchte, die Augen zu öffnen. Neben dem Bett auf dem Fußboden lag ein Haufen achtlos hingeworfener Spritzen. Ohne zu überlegen griff ich mir eine, stieß die Nadel in die Ampulle mit Betäubungsmittel und zog sie auf. Als die Ampulle auf den Steinfußboden fiel und in Scherben ging hörte ich Schritte. »Was machst du denn?« Rita stand wütend in der Tür. Sie war über und über mit dem frischen Blut ihres Bruders beschmiert. Ihre Hose stand immer noch offen. »Ich hab doch alles so schön gemacht, da kannst du doch nicht weglaufen.« »Rita. Wir brauchen einen Arzt. Gib mir bitte dein Handy.« »Wozu denn einen Arzt - ich hab doch alles selbst gemacht.« Sie kam langsam auf mich zu. »Reiß dich zusammen - Ingo stirbt, wenn wir nichts unternehmen. Willst du das auch noch verantworten?« Ich brüllte sie an. »Reicht es nicht, was du bisher angerichtet hast?«
Sie blieb stehen, »Den brauchen wir doch gar nicht mehr. Er ist doch nur ein krankes Mädchen.« Sie setzte sich wieder in Bewegung. Ich konnte eine Ader auf ihrer Stirn pochen sehen. »Du kannst dich jetzt ausziehen Lilly. Ich helfe dir.« Sie zog ein Skalpell aus der Hosentasche und kam immer näher auf mich zu. Ich hielt die Spritze hinter dem Rücken und fing an zu zittern. Uns trennten weniger als zwei Meter und ich konnte mich nicht bewegen, stand wie eingefroren. Ich war unfähig, die Spritze nach vorne zu bringen, und wusste, dass es ihr ein Leichtes sein würde, mit dem Skalpell in meinen Arm zu stechen, wenn ich versuchte, ihr den Schuss zu versetzen. Als sie ihren Arm ausstreckte und das Skalpell mein T-Shirt berührte, durch den Halsausschnitt ging wie durch Butter und den Stoff mit einem einzigen Schnitt von oben nach unten teilte, kam Mikey angesprungen und verbiss sich laut knurrend in Ritas Arm - sie schrie auf und taumelte, der Hund hing an ihrem Arm, und sie ließ das Skalpell fallen. Ich drehte mich nach rechts, machte zwei Schritte um sie herum und versenkte die Spritze in ihrer Schulter — sie traf auf Knochen, Ritas Schrei wurde lauter, sie warf ihren Kopf herum und blickte mich mit einem gequälten Ausdruck an, in dem Wut, Enttäuschung und Trauer lagen. Ich drückte ab. Die Spritze zerbrach und die Nadel ragte aus ihrer Schulter heraus. Ich weiß nicht, was mich dazu brachte, aber wie sich später herausstellte, war es genau das Richtige - ich griff in Ritas Hose und zog den Schwanz ihres Bruders heraus - er war kalt und glitschig von Blut. Dann rannte ich los, nach Mikey brüllend. Er schoss an mir vorbei, die Kellertreppen herauf und wartete oben auf dem Flur. Hinter mir hörte ich Ritas Schreie, dann, wie sie sich in Bewegung setzte und die Verfolgung aufnahm. Ich riss die Hintertür auf und rannte hinaus in den Regensturm, Tränen schössen mir in die Augen, liefen mir über die Wangen, als ich meinen kaputten Knöchel überlastete. Sie vermischten sich mit den eisigen Tropfen, die auf mich niederprasselten. Ich schaffte es um das Haus herum auf die Lichtung, hörte Rita hinter mir fluchen und unter Schmerzen stöhnen. Sie holte auf, ihr schweres Atmen kam näher - die Kraft verließ mich, die Schmerzen in meinem Fuß waren unerträglich. In dem Augenblick, als Rita mich an den Haaren packte, lösten sich etwa zwanzig Meter entfernt von mir zwei Gestalten aus dem Dunkel. Ich knallte meinen Ellbogen Rita gegen die Brust, hob meinen Arm und schleuderte den Penis in Richtung Marco Oldenburg, dann wurde ich zu Boden gerissen, hörte einen Schuss durch die Nacht peitschen, spürte das Gewicht von Rita schwer auf mir zusammenbrechen und verlor die Besinnung.
Kapitel 20 DIE LEIDEN DER LILLY DELIGHT Von Nicelette Rubin FAKT-Magazin, Montag, 18. Dezember 2OOO Es erinnert ein wenig an Passionsspiele: Jedes Jahr aufs Neue kürt die oft fälschlich so bezeichnete Sensationspresse einen Menschen des berechtigterweise so genannten öffentlichen Lebens und sorgt dafür, dass dieses Leben nun wirklich und wahrhaftig offen gelegt wird. Spätestens seit dem Jahr 1997 hinterlassen diese Passionsspiele mitunter nicht nur ein dumpfes Schamgefühl bei der Presse selbst und beim Leser, sondern produzieren auch drastische Folgen in Gestalt von Trümmern und Tränen und Hinterbliebenen, die fortan ihre Zeit damit zubringen müssen, sich für Taten zu rechtfertigen, die keine sind und mit denen sie nur am Rande zu tun hatten - »guilty by association« bezeichnet der Engländer diesen Sachverhalt.
Die mediale Hetzjagd auf den Versace-Mörder Andrew Cunanan verunstaltete die Tragödie, die sich auf Cunanans Crosscountry-killing-spree zugetragen hatte, zu einer sensationellen Seifen-Oper. Kein Magazin ohne Beitrag, keine Boulevard-Show ohne düstere Prophezeiungen - selbst die Night-Talker ließen es sich nicht nehmen und knöpften sich die Mordserie vor, als sei sie so harmlos und belustigend wie das schiefe Toupet eines Nachrichtensprechers. Cunanan wurde erst aus der Presse verdrängt, als die Frau, die auf Versaces Beerdigung einen Tränen vergießenden Elton John tröstete, auf ihre letzte Reise ging. Prinzessin Dianas Tod stellte alles in den Schatten, was zuvor (möglich) gewesen war und wurde verheizt als Mahnmal und Warnung, als Ausrufungszeichen, als Sinnbild der Menschenjagd, die in unserer Kultur die Religion und die hohe Kunst abgelöst zu haben scheint. Was damals keiner zu sagen wagte: Endlich konnte sich die Prinzessin nicht mehr wehren, nicht mehr entziehen - im Tode gab es kein Entkommen mehr. Nur eine allerletzte, ultimative edle und anachronistische Geste wurde ihr zuteil: man verzichtete pietätvoll auf die Veröffentlichung der Todesfotos. Einstweilen. Der Sommer 2000 lief für die deutsche Sensationspresse etwas zäh an. Die Protagonisten der ersten Big-Brother-Staffel bemühten sich redlich, ihre fünfzehn Minuten des Ruhms auf sechzehn bis siebzehn Minuten auszudehnen, Jenny Elvers lieferte tatkräftige Unterstützung und gönnte so auch sich selbst einen Aufschub. In Ermangelung von Neuigkeiten real existierender Personen gönnte man sogar dem Romanhelden Harry Potter eine spektakuläre Berichterstattung. Noch Mitte August konnte niemand ahnen, dass ein neues Drama mit Opernqualität kurz bevorstand und an Glitz und Glamour, Sex und Tragik die Bumsereien der medialen Zweitliga weit überbieten und dieselben aus der Yellow Press wegbombardieren würde. Auftritt - Abtritt Lilly DeLight. Ab 30. August 2000 regiert die Porno-Königin. Mit ihrer schockierenden Ankündigung, in das Lager derjenigen hinter der Kamera zu wechseln, blitzt exclusiv und taff die gewiefte Blondine ins sonst nicht sehr spektakuläre Tagesgeschehen. Jenny und Alex haben mal einen Tag Ruhe. Nicht aber Lilly, denn keine Stunde nach Abschluss der Pressekonferenz wird sie Zeugin des Mordes an der Fernsehjournalistin Elke Brenner, die auf offener Straße von einem Auto überfahren wird. Wie sehr Lilly DeLight in den Fall verwickelt ist, steht zu diesem Zeitpunkt noch nicht fest - selbst die Tatsache, dass sie den Mord bezeugt hat, ist noch nicht zur Presse durchgedrungen; trotzdem stürzen sich die Medien auf den Promi-Aspekt des Todesfalls. Der verlöcherte Sommer ist endlich vorbei, und eine .Story, für Fortsetzungen wie geschaffen, wird gesponnen. Das wahrscheinlich erste Mal in ihrem Leben ist Lilly DeLight für Aufmerksamkeit nicht dankbar, denn sie hat zu diesem Zeitpunkt noch ein paar weitere gravierende Probleme. »Nicht mehr zu drehen, das war eine Entscheidung, die ich zu Gunsten von Max getroffen habe. Und ich habe mir die Entscheidung nicht leicht gemacht und zu lange damit gewartet. Als ich die Pressekonferenz gab, da saß Max schon im Flieger nach Mexiko.« Der Immobilienmakler Max Winter, mit dem DeLight seit 1998 verheiratet ist und mit dem sie in der Kleinstadt Goslar lebt, hatte mit der Berufung seiner Gattin zu Deutschlands bekanntester Porno-Diva zunehmend Schwierigkeiten bekommen. Die Entscheidung, seine Frau zu verlassen, beruht jedoch auf einer Intrige, wie sie nur Shakespeares Geist oder vielleicht dem Laptop eines Daily-Soap-Autoren entspringen
könnte. Abtritt/Auftritt Greta Giehse, ihres Zeichens Deutschlands zweitplatzierte Pornokönigin mit Produktions- und Wohnsitz in Peine. Zeitgleich mit dem rasanten Aufstieg der Erzrivalin DeLight war die Nachfrage nach Pornos aus Peine kontinuierlich geschrumpft - eine Entwicklung, die insbesondere in dieser Branche nicht gerne gesehen wird. Während die DeLight GmbH im Eilverfahren auch die neuen Medien eroberte und im Filmsektor auf einen Koproduktionsvertrag mit dem privaten Fernsehsender TV1 hinarbeitete, konzentrierte man sich in Peine auf das, was man bis dato am besten gekonnt hatte: Porno-Videos Marke Eigenbau. Greta Giehses Frustration ob sinkender Absatzzahlen wurde durch den Spott innerhalb der Branche noch geschürt. Vor allem Lilly DeLight wurde nicht müde, sich öffentlich über die schauspielerischen Talente der neunundvierzigjährigen Giehse lustig zu machen. DeLight behauptet jetzt, ihre öffentlichen Attacken seien eine direkte Reaktion auf die wachsenden Aktivitäten im Bereich der Betriebsspionage und Sabotage gewesen und keineswegs das Resultat persönlicher Missgunst. »Der Fall wird im Augenblick verhandelt und ich möchte mich nicht detailliert äußern. Ich kann aber sagen, dass es im Moment so aussieht, als habe Greta Giehse einen meiner engsten Mitarbeiter bezahlt, um die Produktion von Lilly DeLights Hexen lahm zu legen. Schauspielerisch ist sie im Grunde gar nicht so schlecht. Es kann in diesem Geschäft schließlich nicht nur junge Talente geben.« Um wen es sich bei dem Spion handelt, kann man nur mutmaßen - auffällig ist indes, dass DeLight sich von ihrem langjährigen Frisör und Maskenbildner Tim B. getrennt hat. Noch vor Beginn der Dreharbeiten des »Hexen«-Projekts hatte Greta Giehse zu einem Schlag angesetzt, der unumstritten belegbar ist: Während DeLight in Berlin ihren Rücktritt von der Pornoleinwand bekannt machte, präsentierte Giehse am Hannoveraner Flughafen Max Winter getürkte Sex-Fotos seiner Gattin mit einem Exliebhaber, dem attraktiven Ronny Sanchez. »Ja, Max ist eifersüchtig. Aber wir arbeiten an dem Problem.« Der 30. August soll nicht nur in DeLights Erinnerung haften bleiben als der Tag, an dem Winter die Flucht ergreift, Sanchez in Goslar für Dreharbeiten an DeLights erster TV-Produktion eintrifft und Lilly Zeugin des Mordes an Elke Brenner wird - in der Nacht macht sie einen schrecklichen Fund: einen abgetrennten Penis, der in die Vagina einer Gummipuppe eingeführt auf ihrem Pool treibt und den sie als Körperteil des Darstellers Johann Werner identifiziert. Es bleibt nicht bei diesem Einzelfall. Am folgenden Tag fällt ihr Regieassistent Ingo Jensen einem ähnlichen Anschlag zum Opfer, wieder einen Tag später der Tierarzt Peter Hofmeier, dessen Praxis an die Gewerberäume der DeLight GmbH angrenzt. Im Gegensatz zu den Fällen Werner und Jensen wird Hofmeier tot aufgefunden - von den Leichen der beiden anderen Männer fehlt zu diesem Zeitpunkt jegliche Spur. »Stellen Sie sich einmal vor, um Sie herum sterben die Leute und Ihr Mann ist unauffindbar. Ich hatte die ganze Zeit schreckliche Angst um Max. Und Albträume! Es hat ja nicht jeder Mensch eine Gummipuppe von sich selbst, aber ich kann Ihnen sagen, dass man sie nicht in dieser Art und Weise missbraucht sehen möchte - schon gar nicht auf dem eigenen Grund und Boden!« Die Kleinstadt-Polizei reagiert auf die Geschehnisse mit einem archaisch anmutenden Misstrauen. DeLight, die auf große Hindernisse gestoßen war, als sie ihre Produktion in Goslar etablieren wollte und nur langsam in der Stadt Fuß fassen konnte, erlebt
das, was sie gerade parallel für TV und Video inszeniert: eine Hexenjagd. Die Kaiserstadt will keine Porno-Königin. Obwohl keinerlei Anlass zum Tatverdacht besteht, konzentrieren sich die Ermittlungen auf das Umfeld von Lilly DeLight. Und obwohl der Täter in diesen Reihen zu finden ist, werden maßgebliche Untersuchungsergebnisse komplett ignoriert und die Unterstützung der Diva weitestgehend abgelehnt. Kriminalhauptkommissar Schultz, in dessen Verantwortungsbereich die Fälle lagen, hat seinen Posten aufgegeben und verweigert jeglichen Kommentar. Sein Nachfolger Harry Klein räumt ein: »Es wurden in der Tat einige Dinge versäumt und die Ermittlungen durch lange Dienstwege in der bürokratischen Organisation schwer behindert.« So traf zum Beispiel ein Überwachungsvideo des Hannoveraner Flughafens, das Max Winter im Gespräch mit Greta Giehse zeigte, und ein weiteres, das seinen Abflug nach Frankfurt dokumentierte, erst am frühen Morgen des 3. September in Goslar ein. Da dieses Band sowohl belegt, dass Max Winter das Land lebend verlassen hat und somit weder zum Kreis der Opfer noch der Täter gezählt werden kann, als auch dass Greta Giehse sich bemühte, DeLight das Leben zu erschweren, wäre es gut möglich gewesen, dass es nicht zu den schrecklichen Ereignissen gekommen wäre, denen DeLight in den frühen Morgenstunden des 3. September ausgesetzt war und die sie in tödliche Gefahr brachten. Nachdem DeLight sich vergeblich um eine polizeiliche Überwachung bemüht hatte, die mit dem Argument abgelehnt wurde, man könne nichts für sie tun, bis sie sich in akuter Gefahr befände - tatsächlich eine Gesetzeslücke, die vielen Stalking-Opfern zum Verhängnis wird -, kümmert sie sich selbst um Personenschutz und engagiert den ehemaligen Polizisten und selbstständigen Security-Mann Marco Oldenburg. Paparazzi-Fotos geraten in die Presse, die eins und eins zusammenzählt, und, wie so oft, kommt dabei nichts heraus. Die Tatsache, dass Oldenburg ein Bild von einem Mann ist und bei Mister-Wahlen europaweit antritt, ist für die Medien ein zusätzlicher Anreiz. DeLight wird jetzt nicht nur öffentlich kriminalisiert, sondern - für eine Kleinstadt wie Goslar vielleicht noch viel schlimmer - demoralisiert. Es kommt zu Steinwürfen auf ihr Haus, öffentlichen Demütigungen und Telefonterror. Jeder Mensch, der etwas Schlechtes über die Diva zu sagen hat, wird vor eine Fernsehkamera gezerrt. Betrachtet man die Berichte aus der zeitlichen Distanz, so fallen die Auslassungen auf. So mag die Familie des ersten Opfers, Johann Werner, Lilly DeLight laut beschuldigt haben, die Neiderin, Porno-Starlet Pamela Anders den Verdacht geschürt und Rivalin Greta Giehse ihre Konkurrentin als machtgeil und skrupellos porträtiert haben, aber die Angehörigen der Opfer Jensen und Hofmeier waren zu keinem schlechten Urteil zu bewegen. Dies wird durch gefilmtes und nie zur Sendung gekommenes Filmmaterial von mindestens drei selbstständigen TVProduktionen belegt, die sämtlich im Auftrag des Senders Sät 7 arbeiteten. Was nicht ins Bild passte, an dem die Medien gerade bastelten, landete ganz einfach im Archiv. In der Nacht zum 3. September ist DeLight so verunsichert und beunruhigt, dass ihr praktisch jeder in ihrem Umfeld tatverdächtig erscheint. »Es war ziemlich drastisch ich hatte den Überblick verloren. Auf einmal schien jeder einen Grund zu haben, mir eins auswischen zu wollen, und einer davon musste wohl der Mörder sein. Ich hatte kein Vertrauen mehr zur Polizei und sogar mein Security-Mann kam mir suspekt vor. Wissen Sie auf der einen Seite haben wir zusammen Miss Marple gespielt, auf der
anderen war mein ganzes Umfeld von diesen Verleumdungen und Spekulationen selber schon völlig paranoid. Ich wollte nicht allein mit ihm in meinem Haus bleiben. Außerdem hatte die Presse das Gerücht in die Welt gesetzt, dass Marco mein neuer Liebhaber sei. Ein Alibi, das wir uns gegenseitig geben würden, hätte bei der Polizei wahrscheinlich keinen Bestand gehabt.« Als Oldenburg DeLight ins Hotel Kaiserworth bringen will, überfahren die beiden den Reporter Gerd Bartels, einen Vertrauten der Regisseurin. Was sie noch nicht wissen ist, dass Bartels bereits tot war, als er auf die Straße gelegt wurde. »Das war das schrecklichste Dejà vu meines Lebens. Erst zu sehen, wie Elke Brenner niedergefahren wird, dann ein paar Tage später mit dem Wagen Gerd Bartels zu überfahren. Aber es war auch der Moment, wo mir langsam zu dämmern begann, was die beiden Mordserien verband.« DeLight erkennt den Bezug zum Mord an Elke Brenner und einem Fahrerfluchtmord, der schon länger zurückliegt - der Kinderpsychologe und Zwillingsforscher Dr. Bertram Vogel starb auf dieselbe Art und Weise und war nicht nur der Lebenspartner von Elke Brenner gewesen, sondern zuvor auch noch der behandelnde Arzt ihrer Zwillingsschwester. Die bekannte Märchenerzählerin und Psychotherapeutin Karin Berger, Schwester von Elke Brenner und ehemalige Patientin von Dr. Vogel, äußert sich hier zum ersten Mal zum Tod ihrer Schwester und zu den Entwicklungen, die diesen Tod zur Folge hatten. »Elke und ich sind bis zu unserem vierten Lebensjahr bei unserer Mutter aufgewachsen, die als psychisch gestört eingestuft wurde, sodass unserem Vater das alleinige Sorgerecht zugesprochen wurde. Ich kann heute nur noch schwer beurteilen, inwiefern Elke und ich tatsächlich eine geistige Störung hatten - dadurch dass wir von der Außenwelt isoliert aufwuchsen, man kann wohl regelrecht von abgeschüttet sprechen, kam mir eher die normale Welt, in die uns unser Vater brachte, als anormal vor. »Dr. Vogel übernahm damals meine Behandlung - und schaffte es, die Bande zwischen Elke und mir zu kappen. Unser schwesterliches Verhältnis war von da an schlecht, aber wir entwickelten uns ansonsten so, wie man es von normalen Kindern erwartet. Heute halte ich diese Trennungsmethode für äußerst brachial. Vogel hat vieles unwiderrufbar zerstört und nie eingesehen oder eingestanden, dass seine Theorie der Trennung in der Praxis keine Früchte tragen kann. Elke entwickelte Neid und Eifersucht auf mich, da ich in der Klinik behandelt wurde und sie zu Hause blieb und einmal die Woche eine Kinderpsychologin besuchte. Als ich hörte, dass Elke später ein Verhältnis mit Vogel einging, war mir klar, dass das ein reiner Kompensationsakt war. Endlich durfte sie auch zu meinem Doktor.« Mit Hilfe einer Kassette, die der Mörder ihr zuspielte und auf der eine Erzählung von Karin Berger zu hören war, konnte DeLight die Hintergrundfakten so ordnen, dass sie den Schlüssel ergaben zum Rätsel um die Porno-Morde und den Tod von Vogel, Brenner und später Gerd Bartels. Was nun noch fehlte, war eine Information, an die sie nicht selbst herankam: ein journalistischer Skandal, der im März 1990 dazu geführt hatte, dass ein einziges Mal in der Geschichte des Magazins eine FAKTAusgabe mit eintägiger Verspätung auf den Markt kam, da in allerletzter Minute eine Geschichte gekippt werden musste. Es handelte sich um eine Geschichte von Elke Brenner.
Dr. Vogel hatte im Jahr 1980 seinen spektakulärsten Fall gefunden: ein Zwillingspaar, beide Kinder als Jungen geboren, einer jedoch bei einer missglückten Beschneidung derart verstümmelt, dass den Eltern zu einer Geschlechtsumwandlung geraten wurde. Die Eltern vertrauten auf die Einschätzungen der Mediziner und befolgten den Rat. Die als »Hendrik« geborene Rita Weinert erlebte eine Kindheit, die an Grausamkeit das bei weitem überschritt, was »natürliche« Transgender - also Männer oder Frauen, die das Gefühl haben, im falschen Körper geboren worden zu sein und deren größtes Ziel die Geschlechtsumwandlung ist - von ihren frühen Erfahrungen berichten. Hendrik/Rita war nicht im falschen Körper geboren, sondern zum falschen Körper gezwungen worden. Im Alter von zwei Jahren wurden seine Hoden entfernt, im siebten Lebensjahr wurde eine künstliche Vagina angelegt und in unregelmäßigen Abständen musste sich das Kind diversen Operationen und Nachbehandlungen unterziehen. Hendrik/Rita verbrachte einen Großteil seiner Kindheit in Krankenhäusern und Arztpraxen. Doch so sehr man sich auch bemühte, ihm eine weibliche Geschlechtsidentität zuzuweisen - das Kind verweigerte sich, zunächst nicht wissend, dass es als Junge geboren war. Ein Argument, das für die Geschlechtsumwandlung gesprochen und die Eltern überzeugt hatte, war, dass Rita/Hendrik angesichts ihres intakten Bruders Alexander immer Minderwertigkeitsgefühle verspüren würde. Dass die Zuweisung einer falschen Geschlechtsidentität den Terror der Gegenüberstellung in den Schatten stellen würde, hatte keiner der behandelnden Ärzte vorausgesehen. Die ganze Familie litt unter den Anforderungen, die die Behandlungen an sie stellte, und insbesondere an der rebellischen Haltung des Kindes. Rita machte Ärger, wo sie nur konnte, gebärdete sich als der Junge, der sie war und steigerte sich im gleichen Maße mehr in die männliche Rolle, in dem man versuchte, sie zum Mädchen zu machen. Als sie und ihr Bruder zehnjährig in die Behandlung von Dr. Vogel gegeben wurden, war die Familie bereits so zerrüttet, dass der Vater wegen Alkoholismus seinen Arbeitsplatz verloren hatte. Die Mutter, die nie eine Ausbildung gemacht hatte, lebte von Sozialhilfe und stand ob der permanenten Anspannung, die die familiäre Atmosphäre prägte, vor einem Zusammenbruch. Dr. Vogels erste heroische Tat war es, die Mutter auf Kur zu schicken. Zumindest die Eltern hatten nun volles Vertrauen in die Integrität und Fähigkeiten des Mediziners. Nachdem weder die ersten Behandlungsansätze Erfolge zeigten noch der Versuch einer massiven Gehirnwäsche, unterstützt durch Hypnosebehandlungen, Rita von ihrer aufoktroyierten Geschlechtsidentität überzeugen konnte, ging der meritenhungrige Arzt zu experimentelleren Methoden über. Vom zehnten bis zum zwölften Lebensjahr standen so genannte fucking games auf dem Therapieplan. Zunächst wurde anhand von anatomisch korrekten Puppen heterosexuelles Paarungsverhalten veranschaulicht, dann hatte sich der Bruder auf die »Schwester« zu legen und Geschlechtsverkehr zu simulieren. Unvorstellbar, was dieser erzwungene Inzest in den pubertierenden Geschwistern ausgelöst hat. Zweifellos kann festgestellt werden, dass Vogels Behandlung mehr Schaden anrichtete als Hilfe brachte. Nachdem er der Methode zweieinhalb Jahre lang eine Chance gegeben hatte, resignierte der Arzt und besann sich auf ein früheres Experiment der Zwillingstrennung als effektiver Weg einer Individuationsmaßnahme. Nicht genug damit, dass bei einem Autounfall im Jahre 1983 die Eltern der beiden ums Leben
kamen, beschloss der Arzt, die verwaisten Kinder in unterschiedlichen Pflegefamilien unterzubringen und von nun an getrennt zu »therapieren«. Akribisch genau notierte er seine Beobachtungen bereits im Hinblick auf eine mögliche Publikation. Im Jahr 1987 traf er auf Elke Brenner, die sich ihm, so beschreiben es Beobachter, regelrecht »an den Hals warf«. Eine renommierte Journalistin passte Vogel gut ins Konzept, und so wurde Elke Brenner auserkoren, an der Langzeitbehandlung beobachtend teilzunehmen. Am achtzehnten Geburtstag von Rita W. wartete Dr. Vogel vergebens auf seine »Patientin«. Und auch am folgenden Tag, als eine Sitzung mit Alexander auf dem Plan stand, saß er eine Stunde lang allein im Sprechzimmer. Rita sollte er niemals Wiedersehen und Alexander nur ein einziges Mal, und dieses Mal nur kurz und flüchtig - durch die Windschutzscheibe des Mietwagens, der ihn am 20. Februar 2000 im Parkhaus seines Apartmenthauses niederfuhr. Vielleicht war es ein Liebesbeweis, den Elke Brenner Dr. Vogel unterbreiten wollte, vielleicht glaubte sie wirklich an den Erfolg seiner unorthodoxen Therapiemethoden. Zwei Jahre nachdem die Zwillinge die Therapie abgebrochen hatten und kurz bevor der Arzt einen Buchvertrag unterschrieb, machte sich Elke Brenner auf die Suche nach den beiden. Was sie herausfand, trug keineswegs dazu bei, den Ruf ihres Liebhabers zu festigen. Während Alexander in einer Pastorenfamilie in einem Dorf am Ammersee aufgewachsen war, verlebte Rita ihre Jugend in wechselnden Pflegefamilien in und um München. Am Tag ihres achtzehnten Geburtstages zog sie aus und finanzierte sich fast zwei Jahre lang mit Gelegenheitsjobs in KfzWerkstätten. Zweimal taucht sie in Polizeiakten des Jahres 1990 auf: Beide Male hatte sie gegen einen Kollegen Anzeige wegen sexueller Belästigung erhoben, beide Male wurde ihr Recht zugesprochen, beide Male kostete es sie ihren Job. Ihre Attraktivität als Frau machte es ihr unmöglich, in einem klassischen Männerberuf zu arbeiten. Ihrem Bruder Alexander gelang es ebenso wenig, Fuß zu fassen. Zunächst rutschte er ins Münchner Drogenmilieu ab, bis er Zuflucht in der Glaubensgemeinschaft der Erhabenen fand - einer obskuren Sekte, die sich an Scientology orientierte, aber nie deren Breitenwirkung und wirtschaftliche Macht erreichte. Was vielleicht durch die massenuntaugliche Anforderung an die Sektenmitglieder bedingt war, ein zölibatäres Leben zu führen. Die Gehirnwäsche, die jeder Anhänger verabreicht bekam, musste Alexander bekannt vorkommen nach desaströsen Psychotherapien fühlte er sich aufgehoben im Kreis einer Sekte, die mit ähnlichen Mitteln arbeitete. Als sich die Glaubensgemeinschaft der Erhabenen im Oktober 1999 aufgrund polizeilicher Untersuchungen, die mit Unterschlagung, Erpressung und Nötigung zu tun hatten, auflöste und ihre Hauptinitiatoren untertauchten, erlebte Alexander W. einen Nervenzusammenbruch, der zur Einweisung in die Psychiatrie führte. Im Januar 2000 wurde er in die Karl-Bonhoeffer-Nervenklinik in Berlin umverlegt. Am 2. Februar gelang ihm die Flucht. Der Weg seiner »Schwester« scheint auf den ersten Blick weniger homogen. Nach den misslungenen Versuchen, in handwerklichen Berufen tätig zu werden, schloss sie
zunächst ihre abgebrochene Gymnasialbildung ab und bewarb sich an den Schauspielschulen in Hannover, Berlin und München, wurde jedoch nirgends aufgenommen. An der Otto-Falckenberg-Schule in München schafft sie es zwar bis in die letzte Prüfungsrunde, wird am Ende dennoch ausgemustert. Schließlich immatrikuliert sie sich am Institut für Theaterwissenschaften der Freien Universität Berlin. Das Institut lässt seinen Studenten die Wahl zwischen zwei Studienschwerpunkten - Theater und Film. Rita befasst sich hauptsächlich mit Filmthemen. Kommilitonen erinnern sich nicht an die schweigsame, unauffällige Frau. Ihre Professoren attestieren ihr überdurchschnittliche Intelligenz und einen kritischanalytischen Blick, wie er für frühe Semester unüblich ist. Was am Institut niemand vermutet, ist, dass Rita ihr Studium als Verkäuferin in einem Sex-Shop finanziert. Anstatt, wie ihr Zwillingsbruder die traumatischen fucking games durch manisch-religiöse Enthaltsamkeit zu kompensieren, entwickelt Rita eine Faszination für Sex in all seinen Spielarten. Es beschränkt sich allerdings auf ein theoretisches Interesse. Über ein sexuelles oder partnerschaftliches Verhältnis, das Rita in dieser Zeit oder zu einem späteren Zeitpunkt geführt haben könnte, ist nichts bekannt. Der Inhaber des Sex-Shops Gerhard K. beschreibt seine Angestellte als »ruhig, kompetent, fast unscheinbar. So eine fragst du nicht nach ihrem Privatleben. Manchmal dachte ich - das ist ne Lesbe, aber welche Lesbe sucht sich nen Job, wo überall um sie rum Schwänze sind?« Rita Weinert absolviert im Jahr 1992 ihre Zwischenprüfung mit ausgezeichneten Ergebnissen und belegt einen Studiengang für Kulturmanagement. Bereits nach fünf weiteren Semestern schließt sie das Studium als Magister der Künste ab, unternimmt aber keinerlei Anstrengungen, in ihrem Berufsfeld tätig zu werden. Als sie im Winter 1997/98 erfährt, dass in Berlin-Mitte der erste Lilly-Delight-Shop eröffnet wird, bewirbt sie sich um eine Anstellung, wird jedoch als überqualifiziert eingestuft und abgewiesen. Die Ablehnung hält sie nicht davon ab, eine weitere Bewerbung direkt an den Firmenhauptsitz in Goslar abzusenden. Im Februar reist sie für das erste Vorstellungsgespräch in den Harz. »Sie war mir auf Anhieb sympathisch«, sagt Lilly DeLight heute. »Wir hatten einen Draht - sie strahlte eine Ruhe aus, die mich beeindruckte. Sie war gelassen, elegant - jemand, den man einfach gerne um sich hat. Wir wurden sehr schnell Freunde.« Für überqualifiziert hat DeLight ihre neue Assistentin nicht gehalten. »So ein Job kann ein Sprungbrett sein - wenn ich das Gefühl habe, dass einer meiner Angestellten eine Beförderung verdient, dann bekommt er sie auch. Wir bereiteten uns damals gerade auf die neuen Märkte vor, und es war noch nicht abzusehen, wie weit der Sektor ausgebaut werden würde. Nach ein paar Monaten der Zusammenarbeit hatte ich den Eindruck, Rita wäre die Richtige, dieses Aufgabenfeld zu übernehmen.« Aber Rita lehnte das lukrative Angebot ab und bevorzugte es, ihren Posten als persönliche Assistentin und PresseAgentin beizubehalten. »Im Grunde war ich froh darüber - wir verstanden uns hervorragend und es tat mir gut, jemanden an meiner Seite zu haben, der mich so genau kannte.« Wie genau Rita Weinert ihre Arbeitgeberin kannte, kam eine Woche nach dem Ende der Tragödie ans Licht - bei der Räumung ihrer Wohnung. Sie hatte eineinhalb Jahre lang Tagebuchaufzeichnungen geführt, die jeden Schritt, jeden Kommentar der
Porno-Königin dokumentierten. Auf Hunderten von Videokassetten war jeder öffentliche Auftritt der Diva archiviert und selbstverständlich war auch das Filmarchiv lückenlos bestückt. Mit einem komplexen Bewertungssystem, das siebzehn Kategorien umfasste, hatte sie akribisch jeden Auftritt analysiert und eingestuft. Nicht nur über DeLight wurde Buch geführt - auch die Berichterstatter sämtlicher Beiträge wurden von Rita erfasst und einer gnadenlosen Analyse unterzogen. Die Schulhefte, in denen sie ihre Untersuchungen zusammenfasste, lesen sich wie ein bundesdeutsches Medienregister der Jahrtausendwende. Mit der Sammlung konfrontiert überkam Hauptkommissar Klein »noch nachträglich ein schauderhaftes Gefühl«. Was war der Auslöser für die erste Bluttat, der am 31. August 2000 der PornoDarsteller Johann Werner zum Opfer fiel? Unvorbereitet ihren Bruder nach siebzehn Jahren der Trennung als Gast auf der Pressekonferenz im Hotel Astor wiederzusehen, wo Lilly DeLight ihren Abschied von der Porno-Leinwand bekannt gab? Zu erleben wie Elke Brenner von ihm umgebracht wurde und dadurch an die qualvolle Therapie und die Nachforschungen der Journalistin erinnert zu werden? Wir werden es vermutlich nie mehr erfahren. Johann Werner hat zwar die Verstümmelung und die tagelange Folter überlebt, nicht jedoch die letzte Nacht im Mordhaus. Tatsache ist, dass Rita Weinert noch in der Nacht, die auf die Ereignisse in Berlin folgten, den ersten der sensationsgeil so bezeichneten »Porno-Morde« beging. Es ist anzunehmen, dass Werner und Rita Weinert auf dem Firmengelände zusammentrafen. Vielleicht war sie gerade damit beschäftigt, die DeLightGummipuppen, die sie für ihr Ritual benötigte, aus dem Firmenlager zu stehlen. Möglicherweise hatte sie auch der Tierarztpraxis Peter Hofmeier einen Besuch abgestattet und war auf dem Rückweg über das Firmengelände ihrem ersten Opfer begegnet, denn große Mengen des Medikaments Polamivet, ein Methadonpräparat, das zur Betäubung größerer Hunde und Pferde eingesetzt wird, waren im August spurlos verschwunden, wie die Monatsinventur später ergab. Die Obduktion hat erwiesen, dass Johann Werner an den Folgen einer Überdosierung des Medikaments starb. Rita W. muss Werner überzeugt haben, sie zum Drehort - dem besagten »Krummen Haus« zu fahren - einem ehemaligen Waldlokal wenige Kilometer von Firmensitz und Privathaus Lilly DeLights entfernt. Spätestens dort muss sie ihn betäubt und mit einem Skalpell, das ebenfalls aus den Beständen der Tierarztpraxis stammte, verstümmelt, die Wunde provisorisch gereinigt und mit einer Slipeinlage »verbunden« haben. Mit Handschellen, Ledergürteln und Schnüren aus dem SexToy-Repertoire der Firma DeLight fesselt sie den betäubten und verstümmelten Mann an ein Feldbett. Es ist unwahrscheinlich, dass sie ihn schon jetzt schminkt, denn zu ihrem Ritual gehört noch ein weiteres Element: die Präsentation des Gliedes. Und dieser Akt lässt sich zeitlich recht genau einordnen. Mit Johann Werners Penis und einer Lilly-DeLight-Gummipuppe macht sie sich auf den Weg zum Wohnhaus ihrer Chefin. Im Garten arrangiert sie Puppe und Penis auf einer Luftmatratze, die auf dem Pool treibt. Bereits in den frühen Morgenstunden des 31. August 2000 entdeckt Lilly DeLight das bizarre Tableau. Rita befindet sich vermutlich noch in unmittelbarer Nähe des Fundorts, entkommt jedoch unerkannt, bevor sich Kommissar Klein, der in der Nachbarschaft wohnt, alarmiert von Lilly DeLights Schreien einfindet.
Schon am nächsten Vormittag macht Lilly DeLight in einer kleinen Parkanalage unweit ihrer Wohnung den zweiten schrecklichen Fund - keine hundert Meter von ihr entfernt sieht sie eine Gummipuppe, die mit dem Penis des Regieassistenten Ingo Jensen bestückt ist. Lilly erblickt neben dem Arrangement sogar eine Person - wobei es sich ihrer Aussage nach rückblickend sowohl um Rita in Männerkleidung wie auch ihren Zwillingsbruder Alexander gehandelt haben könnte. An diesem Morgen im Park erkennt sie den Täter jedoch noch nicht. Der Regieassistent Ingo Jensen befindet sich noch in postoperativer Behandlung, nachdem ihm ein italienisches Chirurgenteam in einer mehrstündigen Operation den Penis Alexander Weinerts transplantiert hat. Diese Operation, die seit 1998 möglich ist, wurde erst im Jahr 2000 an zwei Männern vor Ingo Jensen durchgeführt. Der Endverlauf der Behandlung ist noch nicht bekannt. Jensen schildert die Vorkommnisse der Nacht, an die er sich jedoch nur noch bruchstückhaft erinnert: »Ich verbrachte die Nacht am Set, weil am nächsten Morgen Drehbeginn sein sollte und das Equipment schon installiert war. Ich weiß nicht wie spät es war, aber in der Nacht wachte ich auf und hörte Geräusche, also schlich ich durchs Erdgeschoss um zu schauen, was da vor sich geht. In der Küche sah ich Rita - sie war über den Esstisch gebeugt, und ich konnte nicht sehen, was sie da macht - es war ziemlich dunkel. Ich erinnere mich noch an einen komischen Geruch, der in der Luft lag, und dass ich ihr etwas zurief. Ich weiß nicht mehr, was ich gesagt habe. Sowas wie, »Was machst denn du hier um die Uhrzeit?«, oder so. Da springt sie mir schon an die Kehle und knallt mir eine Spritze in den Arm. Von da an habe ich kaum noch Erinnerungen. Dass ich versuche aufzuwachen - alles irgendwie neblig ist um mich und dass ich mich nicht bewegen kann. Schmerzen zwischen meinen Beinen. Das müssen die Momente gewesen sein, wo die Drogen, die sie uns spritzte, in ihrer Wirkung nachgelassen haben. Einmal, kann ich mich erinnern, waren die Schmerzen besonders schlimm, ich hatte das Gefühl, sie legte irgendetwas auf mich drauf und drückte es auf meinen Körper. Aber ich kann mich auch irren.« Rita W. inszenierte mit den beiden Männern und unter Verwendung einer LillyDelight-Gummipuppe die Fucking games ihrer Kindheit. Betrachtet man die Umstände der beiden Fälle und zieht man auch den Fall Hofmeier in Betracht, so scheint es, dass die Opfer willkürlich ausgesucht waren. Das Treffen mit Johann Werner war keineswegs geplant und auch Ingo Jensen wurde seine zufällige Anwesenheit im »Krummen Haus« zum Verhängnis. Der Tierarzt Peter Hofmeier ertappte Rita W. vermutlich bei dem Versuch, sich in den Besitz zusätzlichen Polamivets zu bringen - es war die Nacht zum 2. September. Im Gegensatz zu Werner und Jensen, brachte sie Hofmeier noch in derselben Nacht um. Und verstümmelte nicht nur seine Genitalgegend, sondern trennte ihm auch die rechte Hand ab - eine Tat, die auf eine Erzählung der Zwillingsschwester Elke Brenners, Karin Berger, verweist. Das bizarre Make-up, das sie ihren Opfern verpasste, sollte die Geschlechtsumwandlung perfekt machen. Während das Hotel Kaiserworth Anfang September 2000 eine Anzahl ungewöhnlicher Filmstars beherbergt, hat sich in der christlichen Begegnungsstätte Haus Hessenberg ein weiterer Gast einquartiert, der mit dem Fall in Verbindung steht - Alexander Weinert, der Mörder von Dr. Vogel und Elke Brenner. Er ist seiner »Schwester« gefolgt. Dass sein Rechtsempfinden schwer gestört ist, belegen die Notizen, die er
zurückgelassen hat. Ähnlich wie seine Schwester notierte er akribisch genau, was ihn beschäftigte, in DIN-A4-formatigen Schulheften. Mehrere Kladden sind gefüllt mit absurden Theorien über Macht und Sexualität. Drei eng beschriebene Hefte beschreiben die Eindrücke, die er vom neuen Leben seiner »Schwester« hatte. Es sind paranoide Unterstellungen, aus denen die Verzweiflung über den Verlust der Schwester an eine »dunkle, triebhafte Macht« spricht, sowie Pläne, Rita zu retten und zu erlösen. Wann immer sich Rita in der Öffentlichkeit zeigt, ist Alexander nicht fern - zunächst als Beobachter aus der Ferne. Aufgrund der massiven Pressepräsenz fällt das unbekannte Gesicht in der Menge niemandem auf. Fast niemandem. Nach einem Gespräch mit dem SocietyKolumnisten Gerd Bartels, der zu diesem Zeitpunkt als Einziger die Verbindung zwischen den beiden Mordserien hergestellt und in Alexander Weinert den Bruder von Lilly DeLights Assistentin erkannt hat, begeht Weinert einen letzten Fahrerfluchtmord - Gerd Bartels wird jedoch nicht einfach umgefahren und liegen gelassen - wie um ihn doppelt für sein Wissen zu bestrafen, zerrt Weinert die Leiche auf die Straße, wo sie ein zweites Mal, diesmal vom Wagen Lilly DeLights, erfasst wird. Aus Angst, noch mehr in den Fall verwickelt und von Presse und Öffentlichkeit gebrandmarkt zu werden, begeht DeLight einen Tatbestand, der juristisch nicht erfassbar ist: Beifahrerflucht. Auf dem Weg ins Hotel Kaiserworth wird sie von zwei Skinheads, Ralf P. und HansPeter K., belästigt. Dieser Vorfall wird ihr später das Leben retten, denn die Polizei hat keine Informationen über DeLights Aufenthaltsort. »Marco war wegen des Unfalls im Verhör und durfte offiziell nicht wissen, wo ich bin. Ich ging ins Hotel, um nicht allein zu sein. Ich konnte dort nicht bleiben, weil jemand Verdachtsmomente gestreut hat, über die ich nicht reden möchte - jedenfalls fühlte ich mich dort nicht sicher und machte mich auf den Weg zu meiner Assistentin. Die einzigen Leute, die eine Ahnung hatten, wo ich war, waren diese beiden Idioten, die mich bedroht hatten.« Ralf P. wird von Lilly DeLights Hund angegriffen, der seine Besitzerin verteidigt, als die jungen Männer versuchen, sie zu belästigen. DeLight flüchtet zunächst ins Hotel. Die beiden Männer fahren in die Notaufnahme des Krankenhauses, um die Bisswunde behandeln zu lassen. Ralf P. hält Lilly DeLight noch heute für eine »Gefahr für die Menschheit« und hat sie auf einen Schmerzensgeldbetrag in Millionenhöhe verklagt. Der Fall ist noch nicht verhandelt, aber in juristischen Kreisen reagierte man mit großem Amüsement. »Auf dem Weg ins Krankenhaus haben wir uns gesagt - die Alte ist doch nicht normal, läuft mit ihrem Kampfhund rum und schneidet Männern die Dinger ab. Das kannste doch nicht machen! Wir sind echt keine Bullenfreunde, aber als deutscher Staatsbürger hast du doch die Pflicht, einen Verbrecher ins Gefängnis zu bringen. Da sind wir dann zu den Bullen und haben sie angezeigt.« Fünf Minuten Ruhm ... Es ist vier Uhr morgens, als die Polizei Informationen über die nächtlichen Aktivitäten Lilly DeLights erhält. Kommissar Klein begibt sich ins Hotel Kaiserworth, dann zur Wohnung Rita Weinerts.
Anstatt selbst das Wohnhaus zu überprüfen, folgt er einem Instinkt, schickt eine Streife vorbei und macht sich auf den Weg ins »Krumme Haus«. Begleitet wird er von DeLights Bodyguard, dem seit Oktober amtierenden Mister Germany, Marco Oldenburg. »Gerade in dem Moment, wo wir auf der Lichtung ankamen, rannte uns Lilly entgegen, klatschnass, mit einem zerfetzten T-Shirt. Rita war hinter ihr her. Dann warf mir Lilly etwas zu sie hat einen ziemlich kräftigen Wurf - beinahe hätte ich gesagt für ein Mädchen - und wurde von Rita niedergerissen. Klein zielte auf Ritas Arm und erwischte sie, sie ging zu Boden. Ich hatte plötzlich einen Penis in der Hand, an dem noch Blut klebte. Es war schrecklich. Klein fesselte Rita mit Handschellen - sie war bewusstlos - und orderte Verstärkung und einen Krankenwagen und dann ging er ins Haus. Ich kümmerte mich um Lilly.« Klein entdeckt im Erdgeschoss des Hauses die Leiche von Alexander Weinert. Auch er wurde Opfer der bizarren Geschlechtsumwandlung, die seine Schwester ihren Opfern angedeihen ließ. Sein Tod lag kaum eine Stunde zurück. Seinen Aufzeichnungen ist zu entnehmen, dass er in dieser Nacht den ersten Kontakt zu seiner Schwester aufnehmen wollte. Wieder hat Rita Weinert zufällig ein Opfer gefunden - und in diesem Fall eines, das mit ihrem Trauma eng verknüpft ist. Lilly DeLight äußert sich nicht öffentlich zu dem, was zwischen ihr und ihrer Assistentin im Krummen Haus vorgefallen ist. Es liegt jedoch nahe, dass Rita vorgehabt hatte, Lilly DeLight mit dem abgetrennten Penis ihres Zwillingsbruders zu vergewaltigen. Hatte sie den Ritus zuvor mit der Gummipuppe vollzogen, musste ihr die schicksalhafte Fügung der Anwesenheit ihres Bruders und ihrer Obsession in Fleisch und Blut wie eine Bestimmung vorkommen. Im Keller entdeckt Kommissar Klein Johann Werner und den noch lebenden Ingo Jensen. Für Werner kommt jede Hilfe zu spät, doch Jensen wird von den mittlerweile eingetroffenen Sanitätern zunächst ins Städtische Krankenhaus eingeliefert und noch in der selben Nacht nach Rom geflogen, wo am Krankenhaus Umberto l die Vorbereitungen für die weltweit dritte Penistransplantation getroffen werden. Drei Monate später haben sich die Wogen geglättet. Als ich diese Formulierung Lilly DeLight gegenüber fallen lasse, wird sie wütend und ihre Augen beginnen zu funkeln. »Wie kann man denn so etwas sagen? Es sind Menschen gestorben - Menschen, die Familien und Freunde hinterlassen. Erzählen Sie denen mal, die Wogen haben sich geglättet.« Natürlich hat sie Recht. Und natürlich ist auch die gesamtdeutsche Presse wieder auf ihrer Seite und feiert sie als Heldin. »Ich war in einer beschissenen Zeit zur richtigen Zeit am richtigen Ort.« Das ist alles, was sie zu ihrer Funktion in dieser Nacht sagen will. Obwohl die Presse mit ihrer Belagerung der Kaiserin der Kaiserstadt jetzt erst richtig anfängt, werden die Dreharbeiten zu Lilly Delights Hexen in Rekordzeit abgeschlossen. Der Sender, der bereits aus Image-Gründen von der Produktion zurücktreten wollte, reserviert DeLights Regie-Debüt einen traumhaften Sendeplatz.
Die unter ungünstigsten Bedingungen hergestellte Produktion, die am ersten Weihnachtstag auf TV1 ausgestrahlt wird, hat in Pressevoraufführungen Szenenapplaus bekommen. Der Sender rechnet mit einer Sensationsquote. Hauptdarsteller Ronny Sanchez kann sich schon jetzt vor Angeboten nicht retten und auch DeLight-Fans werden auf ihre Kosten kommen. Die Diva tritt in einer kleinen, aber prägnanten Rolle - »ein allerletztes Mal - ich versprech's« - vor die Kamera. Ob Mister Germany Marco Oldenburg seine schauspielerische Karriere fortsetzen wird, ist Lilly DeLight noch nicht bekannt. »Bei seinen offensichtlichen Vorzügen wäre es eine Schande, wenn er's bei diesem einen Film beließe.« Ob Rita Weinerts größter Traum - die Geschlechtsumwandlung - jemals wahr wird, ist stark anzuzweifeln. Voraussetzung dafür wäre ihre vollständige geistige Genesung. Als gesunde Frau wäre sie jedoch auch voll verantwortlich für die Morde, die im September 2000 die Schlagzeilen der deutschen Presse bestimmten. Lilly DeLight hat die besten Ärzte für ihre ehemalige Assistentin gefunden und kommt für die Kosten der Behandlung in einer Privatnervenklinik in einem Dorf nahe Goslar auf. Als ich mich von ihr verabschiede und sie mir mit ihrem Hund Mikey zum Gartenzaun folgt, wo ein halbes Dutzend Fotografen eifrig ihrer beruflichen Verpflichtung nachkommen, sagt sie einen letzten Satz zu mir. »Wenn etwas einen Knacks hat, dann ist es anscheinend viel leichter, es wegzuwerfen, als es zu reparieren. Kaum einer denkt daran, dass man die Möglichkeit der Reparatur hat.« Es ist dieser schnörkellose Pragmatismus, der die Königin des Porno menschlich und beruflich groß gemacht hat und der sie zweifelsohne noch viel weiter bringen wird, als sie sich heute vorstellen kann. Aber wer weiß - vielleicht weiß Lilly DeLight viel mehr, blickt viel weiter, als wir es uns auch nur annähernd vorstellen können.
Kapitel 21 »Er ist größer als mein eigener es war - also hatte das Ganze auch was Gutes.« »Ich bin froh, dass es dir wieder gut geht, Ingo.« »Dank dir, Lilly. Ein paar Stunden später, und es wäre zu spät gewesen. Die Ärzte haben mir gesagt, dass die nächste Spritze die letzte hätte sein können. Sie vermuten, dass Johann so gestorben ist.« »Ist er denn voll funktionstüchtig?« Er zögerte, bevor er antwortete. »Noch nicht so ganz, aber die Ärzte sagen, es wird. Ich bin immer noch in Nachbehandlung diese Operation haben sie vor mir erst bei zwei anderen Patienten vorgenommen. Schon verrückt, was die heute alles machen können.« Ich musste an die Therapiemethoden von Dr. Vogel denken, brachte sie aber nicht ins Gespräch. Wir alle hatten bei den Geschehnissen Anfang September an Glauben und Vertrauen eingebüßt und es war gut, dass wenigstens Ingo in hoffnungsvoller Stimmung und voller Zuversicht auf eine vollständige Genesung war. Es grenzte
immerhin an ein Wunder, dass sein Körper den Penis von Alexander nicht abgestoßen hatte und der Heilungsprozess zufrieden stellend verlief. Während ich mit Ingo telefonierte, schaute ich aus dem Fenster in den Garten. In der Nacht hatte es angefangen zu schneien, und schon jetzt war alles mit einer sauberen weißen Schneeschicht überzogen. Der Pool war mit einer Plane abgedeckt. Max und Ronny zerrten einen gigantischen Weihnachtsbaum über die Wiese und unterhielten sich ernsthaft. Bis Max ins Rutschen kam, mit den Armen ruderte und stürzte. Ronny sprang zu ihm hin, um ihn aufzufangen, aber bei dem Versuch verlor er das Gleichgewicht und landete ebenfalls im Schnee. Die beiden schauten sich an und brachen in schallendes Gelächter aus. Sie schienen sich überhaupt nicht mehr beruhigen zu können. »Ist es wahr, was ich heute in der Zeitung gelesen habe?«, fragte Ingo. Bei der Flut von Artikeln, die auch fast vier Monate nach den Porno-Morden nicht abebben wollte, hatte ich es längst aufgegeben, die Presse zu verfolgen - das erledigte Anni für mich. Was ihr nicht koscher vorkam, reichte sie direkt an meinen Anwalt weiter. Allerdings hatte sich der Ton der Presse um 180 Grad gedreht und plötzlich war Deutschlands Porno-Queen Nummer eins wieder die Heldin. Das stimmte mich ein klitzekleines bisschen zynisch, aber trotzdem war ich natürlich froh, dass man mich mit nur leicht versengten Flügeln wieder vom Scheiterhaufen heruntergelassen hatte. »Ich weiß nicht, was du gelesen hast, aber ich rate dir eins glaub nichts, was in der Zeitung steht. Kauf dir heute den FAKT. Da steht alles drin, was man über den Fall wissen muss. Exklusiv und autorisiert.« »Genau das meine ich. Ich habe gelesen, dass du die Geschichte für hunderttausend an FAKT verkauft hast.« »Bist du wahnsinnig? Für hunderttausend?« Ich musste lachen. Nicolette Rubin und ich hatten uns die Filmrechte gesichert und wären verrückt, sie für hunderttausend zu verschachern, so viel stand fest. »Weißt du was von Rita?« »Sie ist in Behandlung, aber es sieht nicht gut aus.« »Ich wache immer noch nachts auf und sehe sie vor mir - mit diesem irren Blick und der Kinderstimme. Ich hoffe, ich muss sie in meinem Leben nie wieder sehen.« »Da brauchst du dir keine Sorgen machen. Es sei denn, die Psychiatrie macht so sensationelle Fortschritte wie die Organtransplantation. Und damit ist, glaube ich, vorerst nicht zu rechnen.« Ich verschwieg ihm, dass ich versucht hatte, Rita in der Klinik zu besuchen. Man hatte mich nicht zu ihr gelassen, aus Angst, dass mein Anblick einen Rückfall in ihre Obsession auslösen könnte. Noch bestand ihre Therapie aus einem Cocktail Psychopharmaka - die Arzte waren überfragt, wann und wie sie mit einer analytischen Behandlung beginnen könnten. Es war nicht einfach,
jemanden zu therapieren, dessen Psychose so eng mit ärztlicher Versorgung verknüpft war. Alles, was ich jetzt noch tun konnte, war, ihr den Aufenthalt in der besten Klinik zu ermöglichen. »Was machst du an Heiligabend?« »Heiligabend feiern wir im kleinen Kreis. Und am ersten Weihnachtstag kommt die Hexen-Crew - mit einigen Ausnahmen, wie du dir denken kannst - und wir schauen uns zusammen den Film im Fernsehen an. Schade, dass du nicht dabei sein kannst.« »Vielleicht nächstes Jahr. Aber ich hoffe, dass du an mich denkst, wenn die Geschichte verfilmt wird.« »Okay Ingo. Lass es dir gut gehen und erhole dich schnell, ja?« »Mach's gut. Grüß mir alle - auch Mister Germany! Und danke noch mal.« Ich legte den Hörer auf und schaute zu den beiden Männern hinaus, die immer noch mit der Tanne kämpften. Ich hatte einiges erlebt in meinem Leben und noch viel mehr in der kurzen Spanne von vier Tagen im September diesen Jahres. Es gab Nächte, in denen ich schweißgebadet aufwachte, weil meine Träume mich ins Krumme Haus zurückversetzt hatten. In solchen Momenten, wenn ich mich zitternd im Bett aufsetzte und die Nachttischlampe anschaltete, weil ich das Dunkel nicht ertragen konnte, dachte ich an die Hinterbliebenen der Mordfälle, die einen schwereren Kampf zu kämpfen hatten als ich. In ihr Leben war eine unheilbare Wunde gerissen worden, und an dieser Wunde hatte sich die Presse geweidet. Ich hatte Freunde verloren und Angestellte, aber meine Familie war am Leben. Mein Ruf war wiederhergestellt und in mein Leben war wieder so etwas wie Ruhe eingekehrt. Aber die Trauer der Angehörigen würde niemals vorbei sein, sie würde im Lauf der Zeit weniger schmerzen, aber aus der Wunde würde eine Narbe werden, die immer ein wenig wehtun wird. Wenn ich durch die Vorfälle etwas gelernt habe, dann eines: Nichts ist wie es scheint. Für viele Menschen mag das ein Grund zum Verzweifeln sein. Aber wenn ich darüber nachdenke, muss ich sagen - im Grunde ist es auch so etwas wie ein Versprechen. Das Leben hört nie auf, mich zu überraschen. Als ich jetzt auf die beiden Männer im Schnee hinabschaute, schienen jene vier Tage weit zurückzuliegen. Es kam mir fast vor, als habe sie jemand anderer erlebt. Bei all dem Schrecken und all dem Schmerz, der Trauer, der Wut hatten sie doch etwas Gutes bewirkt. Wir, die wir uns liebten, hielten zusammen. Wir passten aufeinander auf. Und etwas, das so wertvoll und manchmal auch so schmerzhaft war wie das Leben selbst, das warfen wir nicht weg, das reparierten wir lieber.
Nachwort Liebe Leserin,
lieber Leser, ich kenne das - man liest einen Thriller, und bei der Auflösung stellt man sich vorsichtig die Frage - ist das nicht ein bisschen weit hergeholt? Was Ritas Geschichte angeht, ist die Antwort ein schlichtes Nein. Das Leben ist oft bizarrer, als man es sich wünschen würde. Die Idee zu Hard Cut kam mir bei der Lektüre eines Spiegel-Artikels. Das Schicksal, das die Rita in meinem Roman erlebt, beruht auf der wahren Geschichte einer ungewollten Geschlechtsumwandlung. Der Originalfall endete natürlich nicht so dramatisch wie die Geschichte, die ich auf den vorhergehenden Seiten erzählt habe. Der Junge, der aufgrund einer verpatzten Beschneidung in ein Mädchen umoperiert wurde, kam zwar Zeit seines Lebens als Frau nicht mit sich selber klar, er wurde jedoch später erfolgreich umoperiert und lebt jetzt wieder als Mann. Sein Fall hat unterdessen Furore gemacht, weil der Psychologe, in dessen Behandlung er war, ein Buch veröffentlichte, in dem er den positiven Ausgang der Therapie beschrieb - wovon jedoch überhaupt keine Rede sein konnte. Diverse Psychologen hatten sich an dem Jungen und seinem Zwillingsbruder mit unterschiedlichen Behandlungsmethoden ausgetobt, die ihm ein Leben als Mädchen verpassen sollten, aber sämtlich fehlschlugen. Dieser Originalfall war die Inspiration für Hard Cut, aber alle Ausführungen und die Handlungen der Figur Rita beruhen auf meiner Fantasie und stehen in keinem Verhältnis zu tatsächlichen Ereignissen oder Erlebnissen lebender oder verstorbener Personen, Beim Schreiben habe ich mich manchmal gefragt, ob Ritas persönlicher Werdegang als Grund für eine so schlimme Psychose ausreicht, die sie dazu bringt, anderen Menschen solchen Schaden zuzufügen. Das Lexikon der Serienmörder (München 2000) hat mich davon überzeugt, dass ihre Geschichte nicht unrealistisch ist - andere Menschen haben schon aus weniger dramatischen Gründen getötet oder irrationale Handlungen begangen. Es ist mir jedoch sehr wichtig festzuhalten, dass natürlich nicht jeder Mensch, der unter einem Schicksal zu leiden hat, wie ich es am Beispiel Ritas schildere, zum Mörder wird. Hard Cut ist ein Thriller, ein Produkt meiner Fantasie. Was die Penistransplantation im letzten Kapitel angeht, so entspringt auch die meiner Fantasie. Meine Recherchen haben ergeben, dass im Jahr 1998 ein italienischer Arzt die Erlaubnis, derartige Operationen durchführen zu können, bei den Gesundheitsbehörden beantragt hat. Ich habe jedoch keine Informationen, die belegen, dass es je zur Durchführung kam. In den Internet-Foren internationaler Urologen finden sich keine Hinweise auf eine derartige Operation. DOLLY BUSTER